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German Pages 288 Year 2021
Björn Hayer Utopielyrik
Lettre
Für Hans Lösener
Björn Hayer (PD Dr. phil.) lehrt an der Universität Koblenz-Landau Literatur- und Kulturwissenschaft. Darüber hinaus wirkt er als Literatur-, Theater- und Filmkritiker sowie Essayist für verschiedene Zeitungen, Magazine und Rundfunksender. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Publizistik zählen: Gegenwartsliteratur, Lyrik, klassische Moderne, germanistische Medienwissenschaften, Animal Studies sowie Relationen zwischen Literatur und Ethik.
Björn Hayer
Utopielyrik Möglichkeitsdimensionen im poetischen Werk. Friedrich Hölderlin – Rainer Maria Rilke – Paul Celan
Der vorliegende Band wurde durch die Hans-Böckler-Stiftung gefördert.
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Inhalt
1.
Einleitung........................................................................... 7
2.
Bestimmungsversuche des Utopischen Vom Modell zur Methode ............................................................. 11 Die klassische Gesellschaftsutopie ................................................... 11 Utopie als Bewusstsein und Prozess.................................................. 15 Subjekt, Objekt und Dialektik........................................................ 22 Kunst als utopisches Medium ....................................................... 26 Utopie als Methode .................................................................. 31 Lyrik und Utopie. Vorüberlegungen zu einer Synergie ............................... 36
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Zwischen Dichterasyl und egalitärer Gesellschaft Friedrich Hölderlins poetische Utopien .............................................. 43 Im »freundliche[n] Asyl«: Hölderlins Dichterutopie .................................. 43 Eine Poetik der Gleichheit: Hölderlins Vorstellung einer herrschaftsfreien Gesellschaft ....................................................................... 55 Zwischen Griechenland und moderner Ernüchterung: Hölderlins Sozialutopie als Zeitkritik ................................................ 72 Die unabschließbare Poesie: Offenheit als Möglichkeitsraums ....................... 83 Das Pathos als Medium: Persuasio als Strategie des Utopischen ..................... 90 Performative Utopien Rainer Maria Rilkes Dichtung als Sprachbewegung ................................... 99 Utopien zwischen Dialog und Ansprache: Der alternative Ort im Du und im Ding ...... 99 Motive des Utopischen: Engel, Rosen und Fantasiegestalten ......................... 111 Möglichkeitstopografien: Gärten und Inseln der Erneuerung......................... 123 Die Zukunft folgt aus der Vergangenheit: Erinnerung im Zeichen der Utopie ......... 129 Der utopische Kreateur: Rilkes Orpheus ............................................ 133 Jenseits der gedeuteten Welt: Das Utopische zwischen Vagheit, Antinomien und Gleichnis in den Duineser Elegien ................................... 141
5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Das Leben im Tod finden Zur Poetik utopischer Spuren bei Paul Celan........................................ 165 Die Utopie zwischen Alterität und Verwandlung. Poetologische Grundzüge in Celans Reden ................................................................... 166 Anlagen unter Verschüttetem: Poetische Realisierungspotenziale ................... 171 Tote unter Lebenden: Wahrung und Umkehr des Holocausts .........................179 Ich und Du: Dialogizität im Zeichen des Utopischen ................................. 189 Zuhause im Unbehausten: Sprache als performative Heimatutopie .................. 205
6.
Utopische Tendenzen Möglichkeitsdenken in der zeitgenössischen Lyrik .................................. 223 6.1 Das Jenseits von Traum und Poesie ................................................ 223 6.2 Ursprungs- und Schöpfungsutopien ................................................ 231 6.3 Die Entdeckung des U-topos ....................................................... 245 7.
Zusammenfassung................................................................ 259
8.
Literaturverzeichnis ............................................................. 265
Danksagung ............................................................................ 285
1. Einleitung
Die Utopie genießt gemeinhin nicht erst seit der Postmoderne oder dem Ende des Ost-West-Konflikts 1990 einen schlechten Ruf. Ihr haftet vom Standpunkt der Kritiker aus per se der Makel des Fundamentalen und Ideologischen an. Im Gegensatz zu dieser Skepsis erfüllen Imaginationen alternativer Existenzräume gleichzeitig seit jeher ein elementares Bedürfnis des Menschseins: das Hoffen auf ein besseres Leben,1 das Ausmalen und Ausloten einer »Idee des zukünftig Möglichen«.2 Diese öffnet das Sichtfeld für das Fremde, Ferne und Unbekannte. Denn »Utopien beruhen auf dem Prinzip des Kontrasts«3 und reflektieren die Gegenwart im Lichte einer besseren Zukunft. Auf die Geschichte der Utopie bezogen, fällt zunächst die signifikante Fokussierung auf Sozialutopien auf. Sowohl philosophischen Theoriebildungen von Platon, Machiavelli bis hin zu Hobbes und Fourier als auch literarischen Werken seit Beginn der Neuzeit ist die thematische Konzentration auf ideale Staatskonzepte gemein. Der Nicht-Ort, ein Kompositum aus dem altgriechischen οὐ (nicht) und τόπος (Ort), zielt in diesem Kontext auf Visionen von »Gesellschaften, die nicht die erfahrenen sind. Sie stellen Denkbilder einer besseren Gesellschaft dar«4 und repräsentieren zumeist eine fest gefügte Architektur: »Der utopische Vernunftstaat geht von einer Symmetrie, von einer Übereinstimmung von subjektivem und allgemeinem (gesellschaftlichem) Interesse aus; nur so ist konfliktfreies Miteinanderleben möglich.«5 Da sich diese harmonischen Konstruktionen mit jeweils unterschiedlichen ideologischen Vorzeichen immer wieder dem Vorwurf des Statischen ausgesetzt sahen,6 entwickelten Theoretiker des frühen 20. Jahrhunderts dynamischere Ansätze. Gustav Landauer, Ernst Bloch und Karl Mannheim stehen für eine diskursive Wende des Utopiebegriffs hin zum Ansatz prozessualer Denkbewegungen.7 Als relevant erweist sich, die »Bestimmung des Utopiebegriffs von der Ge1 2 3 4 5 6 7
Vgl. K.-H. Volkmann-Schluck: Wie die Idee zur Utopie wurde, S. 22. P. Faulstich: Reaktivierte utopische Potentiale, S. 300. P. Plener: Wider das Nichts des Spießerglücks, S. 191. H. Kiper: Lehrerinnen- und Lehrerhandeln im Spannungsfeld, S. 111. W. Voßkamp: Narrative Inszenierungen von Bild und Gegenbild, S. 219. Vgl. P. Plener: Wider das Nichts des Spießerglücks, S. 205. Vgl. J. Rohgalf: Jenseits der großen Erzählungen, S. 103.
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Utopielyrik
bundenheit an die gesellschaftliche Sphäre überhaupt zu lösen und das Moment der Antizipation von Zukünftigem an sich zum zentralen Merkmal eines – nun ›wertfreien‹ – Utopiebegriffs zu machen.«8 Diese entwicklungsbezogene Akzentuierung charakterisiert maßgeblich die Auffassungen des Utopischen in der Moderne. Bis hinein in die Utopian Studies der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, verbunden etwa mit Intellektuellen wie Ruth Levitas und Raymond Ruyer, formen sich Vorstellungen vom Utopischen als einer performativen Kategorie respektive eines Bewusstseinsmodus heraus, denen im Rahmen der vorliegenden Studie das vornehmliche Interesse gilt. Während die literaturwissenschaftliche Utopieforschung seit den 1970er Jahren primär die Prosa – vor allem Romane und Novellen – ins Visier genommen hat,9 blieb die Frage nach dem Verhältnis zwischen Lyrik und dem Denken von Möglichkeiten, definiert als »partielles, doch keinesfalls zur Verwirklichung schon ausreichendes Vorhandensein von Bedingungen«,10 eher zweitrangig. Dabei zeigen sich durchaus Merkmale des Utopischen diachron in verschiedenen poetischen Werken. Diese lassen sich zumeist weniger durch die idealen staats- oder systemutopischen als vielmehr mithilfe der performativ-utopischen Ausprägungen der Moderne beschreiben. Die zentrale Ambition der vorliegenden Studie besteht daher darin, Merkmale des Utopischen in lyrischen Werktableaus unterschiedlicher Epochen und Autoren ausfindig zu machen. Untersucht werden soll dabei erstens, inwiefern sich Aspekte des Utopischen auf sprachästhetischer Ebene und im ästhetischen Design von Gedichten niederschlagen. Zweitens gilt es zu eruieren, welche weltanschaulichen, gesellschaftlichen oder politischen Utopien, »Bestehendes zu überwinden«,11 dichterischen Texten innewohnen. Ergibt die problemheuristische Analyse, dass in einem einzelnen Text oder einem ganzen Corpus mehrere distinkte Merkmale des Utopischen, wie sie in den Kapiteln 2.1.-2.5. definiert werden, zu konstatieren sind, so soll von »Utopielyrik« die Rede sein. Eine kriterielle Spezifikation bzw. theoretische Grundlegung des Terminus folgt in Kapitel 2.6. Welche dichterischen Œuvres stehen im Zentrum der Betrachtung? Da sich utopische »Gegenweltlichkeit[en]«12 prinzipiell aus markanten Defizit- und Entfremdungserfahrungen ergeben, stellen die sich im Zuge der Modernisierung offenbarenden Krisen einen wichtigen Referenzpunkt dar. Spätestens mit Beginn des 18. Jahrhunderts treten umfassende soziale, politische, kulturelle und ästhetische Umbrüche verstärkt ins künstlerisch-literarische Bewusstsein. Davon abhängig ergibt sich ebenfalls die Auswahl der zu untersuchenden Texte respektive Autoren.
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A. Neusüss: Schwierigkeiten einer Soziologie des Utopischen, 18f. Vgl. W. Biesterfeld: Einführung in Begriff, Geschichte und Didaktik der Utopie, S. 146. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 33-42), S. 1051. K. Vondung: »Wunschträume und Wunschzeiten«, S. 189. W. Voßkamp: Narrative Inszenierung von Bild und Gegenbild, S. 217.
1. Einleitung
Konkret stehen die poetischen Werke von Friedrich Hölderlin, Rainer Maria Rilke und Paul Celan im Mittelpunkt. Entsprechend orientiert sich die vorliegende Studie an modernen Krisenstationen um 1800, 1900 und nach 1945. Indem diese Poeten in ihren Texten den utopiespezifischen Dreiklang »d[er] Negation, d[er] Antizipation und d[er] Kategorie des Möglichen«13 einsetzen, kreieren sie Reaktionsräume auf sozial- und kulturgeschichtliche Einschnitte. Ihnen sind sowohl analytische Dimensionen im Hinblick auf real empfundene Mangelerscheinungen als auch visionäre Programme, die von der Überwindung der Krisen im Poetischen zeugen, inhärent. Gerade der gemeinsame Anspruch, in der Dichtung prophetische und schöpferische Elemente zu entfalten, zeichnet die Dichter als Teil der von Bertolt Brecht benannten »pontifikalen Linie«14 der deutschsprachigen Lyrik aus. Nachdem zunächst im ersten Teil der vorliegenden Studie eine theoretische Grundlegung des Utopischen vorgenommen wird, die sich schließlich, ausgehend von Bloch, in eine methodologische Konzeption überführen lässt, folgen die Werkanalysen. Den Auftakt macht Friedrich Hölderlins dichterisches Œuvre. Geprägt von den Idealen der Französischen Revolution und enttäuscht von der reaktionären Politik des Ancien Régime, implementiert er seinen Elegien und Oden, unterzieht man sie einer politischen Lektüre, den Wunsch nach einer egalitären, herrschaftsfreien Gesellschaft. Da sich der Autor nicht mit der nüchternen Gegenwart abzufinden bereit ist, rekurriert er in seinen Texten auf antike Motive, Stoffe und Götter, die er jedoch nicht epigonal, mimetisch oder klassizistisch in seinen Gedichten konserviert, sondern in Mischformen neu organisiert. Vergangenheit und Zukunft, das goldene Zeitalter und die aufkommende Moderne treffen aufeinander, wodurch neue, poetisch evozierte Alternativräume entstehen, in denen sich qua der sprachlichen Performativität die Oppositionen zwischen Metaphysik und Physik, Himmlischem und Irdischem auflösen. Auch das dichterische Panorama Rainer Maria Rilkes steht im Zeichen der Transformation gesellschaftlicher Umbrüche in die poetische Form. Er wird 1875 in Prag geboren und wächst in einer Zeit geistiger, ökonomischer und weltanschaulicher Zäsuren auf. Um die Jahrhundertwende sieht sich der Schriftsteller mit einer Vielzahl an Krisenerscheinungen konfrontiert, die von den Folgen der industriellen Revolution, der von Nietzsche und Feuerbach formulierten radikalen Metaphysiknegation bis hin zur Infragestellung des Subjekts (etwa in Charles Darwins Evolutionstheorie oder Sigmund Freuds Psychoanalyse) reichen. Wie die Kapitel zum Symbolisten Rilke darlegen, lässt sich seine Lyrik als eine polyvalente Bewältigungsliteratur begreifen. Auf die Entfremdung und Fragmentierung von Welt und
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M. Alemán: Sprachkrise und Utopieverlust, S. 202. B. Brecht: Werke, S. 416.
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Utopielyrik
Menschenbild reagiert sie mit dem Versuch einer Gegensätze vereinenden, immanent-transzendenten Hoffnungsdichtung. Ein reichhaltiges, utopisch konnotiertes Motivinventar, die Reaktualisierung des Orphischen sowie das von Offenheit und Antizipation geprägte Spätwerk, insbesondere die Duineser Elegien, haben eine weitreichende Daseinserneuerung zum Thema. Nachdem sich Sprache bereits bei Hölderlin und Rilke als Medium des Utopischen offenbart, steht ebenfalls das Gesamtwerk des jüdischen Nachkriegsschriftstellers Paul Celan in dieser vorgezeichneten Linie. Unmittelbar geprägt von der Shoa, spiegeln seine Gedichte das Unsagbare, das Leid und die Finsternis der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts wider. Unter Einbezug der poetologischen Äußerungen des jüdischen Dichters lassen sich allerdings jenseits dieser dunklen Überwölbung utopische Schichten freilegen bzw. utopische Spuren und Hinterräume in seiner Literatur auffinden. Insbesondere die von ihm verhandelte Sprachkrise und die daraus erwachsende Hermetik geben Möglichkeitshorizonte preis, in denen das Unabgegoltene der Vergangenheit eine Aufarbeitung in der Zukunft provoziert, die Grenzen zwischen Dies- und Jenseits instabil werden und die (un-)toten Opfer in den Besitz einer neuen Sprachfähigkeit unter den Lebenden gelangen. Die drei Positionen eint die Auslotung und Entwicklung differenzierter ästhetischer Strategien des Utopischen, die im Nachfolgenden im Einzelnen ausgearbeitet werden. Dass diesem Versuch eine prinzipielle Paradoxie eigen ist, ergibt sich aus der Natur der Sache selbst. Das Utopische kann einerseits nur begrenzt ausformuliert bzw. angedeutet werden, muss hingegen gleichzeitig einer wissenschaftlichen Erfassbarkeit Rechnung tragen. Obwohl die Textauswahl als exemplarisch zu verstehen ist, forciert die vorliegende Studie anhand der behandelten Werkpositionen einen chronologischen Abriss der Utopielyrik in der und als Reaktion auf die Moderne. Abgerundet werden die exegetischen Kapitel mit einem Überblick über die utopielyrische Praxis in der zeitgenössischen Poesie.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen Vom Modell zur Methode
2.1
Die klassische Gesellschaftsutopie Utopien sind in Raum und Zeit unerreichbare Zustände, deren Erreichbarkeit dennoch gedacht werden kann und gedacht werden soll. Sie soll gedacht werden, um innerhalb des Wirklichen den Sinn für das Mögliche zu schärfen […]. Alle Utopien lassen ferne Möglichkeiten absehbar werden, um hier und jetzt ergreifbare Möglichkeiten sichtbar werden zu lassen.1
Seels Definition hebt auf die Möglichkeitsdimension eines jeden Entwurfs einer besseren Welt ab. Worin die inhaltlichen Essenzen der Optionen, deren Auswahl den Weg von der Möglichkeit zur Wirklichkeit in der Zukunft ebnen könnte,2 liegen, wird nicht festgelegt. Den Gegenstandsbereich der Utopie präzise zu beschreiben, bedeutet, wie Paul Ricœur konstatiert, Einschränkungen vorzunehmen, welche gerade den freiheitlichen Grundgedanken der Utopie unterlaufen: »We are faced with a plurality of individual utopias that are very difficult to gather under the utopian name.«3 Statt einer eindeutigen und distinkten Konturierung des Begriffs kristallisieren sich eher spezifische Bestimmungsmerkmale heraus, die bereits in Thomas Morus’ Werk Utopia (1516) angelegt sind. Die in diesem Roman hergestellte Inselutopie zeichnet das Bild eines in sich harmonischen Idealstaats, der sich im Kontrast zur realen, noch mittelalterlich geprägten Gesellschaft des frühen 16. Jahrhunderts konstituiert. Die Erneuerungen dokumentieren einen grundsätzlichen Zug der Systemutopien: »Die Geschichte der Utopie ist eine Geschichte der Defizite und Missstände ihrer Herkunftsgesellschaften.«4 Als maßgeblicher Orientierungspunkt dient aufgrund dessen immer die jeweilige historische Epoche, in welcher die Alternativkonzepte entwickelt werden. »Zukunft bleibt indes stets
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M. Seel: Drei Regeln für Utopisten, S. 753. Vgl. F. Polak: Wandel und bleibende Aufgabe der Utopie, S. 380. P. Ricœur: Lectures on Ideology and Utopia, S. 271. T. Schölderle: Geschichte der Utopie, 7.
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Utopielyrik
auf Gegenwart fixiert […]. Utopien sind deshalb, wie oft und zu Recht betont worden ist, stets hervorragende Indikatoren für das Verständnis jener Gegenwart, die sie hervorbringt.«5 Dabei erweisen sich die traditionellen Utopien in der Realisierung literarischer Staatsordnungen grundsätzlich als ein Medium der Kritik. »Ist die bestehende Wirklichkeit die Negation einer möglichen besseren, so ist die Utopie die Negation der Negation.«6 Die Utopie ist somit ein Abgrenzungsphänomen. Aus dieser Negation können dann in einem zweiten Schritt antizipative Impulse hervorgehen. Es entsteht die Sehnsucht nach einem Ort, der reelle und beste Heimat sein könnte. Zumindest muss der ersehnte Ort nicht notwendigerweise an Raum und Zeit gebunden sein – er kann auch Freiraum für Projektionen sein, Gegenmodell zur vorherrschenden Realität, eine Möglichkeit zur ›Flucht‹ darstellen.7 Dieses Erträumen eines anderen Lebensgebietes schlägt sich entweder in Zukunfts- oder in Raumutopien nieder.8 Letztere, besonders in der frühen Neuzeit en vogue, ermöglichen eine Vogelperspektive auf fiktive Gemeinwesen, erstere, die beispielsweise mit dem Sci-Fi-Genre vor allem in die Literatur des 20. Jahrhunderts Einzug gehalten haben, arbeiten die Kritik an der Gegenwart noch forcierter in einem zeitlichen Abstand heraus. Beide Formen, welche in verschiedener Weise gesellschaftliche, politische und kulturelle Komplexität reduzieren,9 eint die Wirkung der Utopie: Diese führt einen konkurrierenden, unabhängigen Maßstab ein, der die bestehende Gesellschaft in ein anderes Licht taucht und die Täuschung aufhebt. Es ist der Bruch, den das Nirgendwo mit dem Hier und Jetzt vollzieht, der den Blick von außen als systemtranszendente Kritik ermöglicht.10 Erst die Außenperspektive auf ein geschlossenes System vermag eine evolutionäre Erneuerung zu hervorzurufen. Im Rahmen der »Dialektik des Drinnen und Draußen«11 findet ein permanenter Abgleich zwischen Ist- und Soll-Zustand statt. Plener katalogisiert noch weitere Charakteristika, die literarischen Utopien innewohnen und an dieser Stelle kursorisch dargelegt werden sollen. Zu den Merkmalen topografischer Entwürfe gehört, dass, wie bereits angedeutet, bevorzugt insulare Landschaften gewählt werden. Inhärent sind den darauf projizierten Staats-
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W. Voßkamp: Möglichkeitsdenken, S. 15. A. Neusüss: Schwierigkeiten einer Soziologie des Utopischen, S. 33. P. Plener: Wider das Nichts des Spießerglücks, S. 196. Vgl. K. Vondung: Wunschträume und Wunschzeiten, S. 190. Vgl. J. Rohgalf: Jenseits der großen Erzählungen, S. 114. Ebd., S. 112f. P. Plener: Wider das Nichts des Spießerglücks, S. 206.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
gebilden Symmetrie und Konzentrik als Inbegriff eines harmonischen Raumganzen.12 Obgleich dieses als hermetisch erscheint, bleibt meist ein funktionalisierter Kontakt zur Außenwelt, der entweder im Laufe der Zeit abgebrochen bzw. aufgebaut wird, oder beständig eine exakt definierte Funktion hat. Solche Funktionen können beispielsweise im Wunsch des utopischen Machtgefüges nach ›Missionierung‹ umliegender Gebiete […] bestehen.13 Es gibt folglich ein Jenseits des Utopischen, das seiner Integration harrt. Innerhalb des Gebietes der Idealgesellschaft herrscht ein fester sozialer Zusammenhang vor. Diesen begleiten ein gemeinschaftliches Glücksstreben, eine »utopiegerechte Erziehung«,14 die elitäre Auswahl der Mitglieder, eine moralische Überhöhung des öffentlichen Lebens sowie transparente Familienstrukturen.15 Avisiert werden »fiktive, rational nachvollziehbare Gesellschaftsmodelle […], die, das bloß subjektive Wünschen oder Ängste überschreitend, eine Welt bezeichnen, die wir haben oder vermeiden.«16 Um Kohärenz und Funktionalität des Gemeinwesens zu gewährleisten, setzt die traditionelle Staatsutopie ein konstantes, zumeist autoritär bestimmtes Regierungssystem voraus.17 Es verkörpert die Idee der Ordnung und impliziert eine vollkommene Einheit in verschiedenen Spiegelverhältnissen: Der Einzelne repräsentiert das Ganze, die mikrokosmische Zivilisation die Vorstellung einer idealen Natur.18 Solcherlei Systemarchitekturen kommen zusammenfassend durch die Organisation verschiedener Subebenen zustande: Das wird in denjenigen Fällen besonders klar, wo das utopische Denken nach dem konstruktiven Verfahren arbeitet, wo bestimmte Handlungsweisen der Menschen durch bestimmte Maßregeln und Gesetze erzwungen, diese Gesetze wieder durch bestimmte Sanktionen gesichert, diese Sanktionen in bestimmten Motiven verankert, die Motive durch eine bestimmte Erziehung hervorgerufen werden sollen – wo also das Bild des Utopischen synthetisch aus einzelnen, ursächlich miteinander verbundenen Stücken aufgebaut wird.19 Diese Schemata lassen auf fixe Konstituenten des Utopischen schließen. Wie Mannheim akzentuiert, lässt gerade die enge Verwandtschaft zwischen Wunschprojektionen und Gesellschaftsordnungen, wie sie sich etwa in klassischen
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Vgl. ebd., S. 208. Ebd., S. 210. Ebd., S. 208. Vgl. ebd., S. 208ff. R. Saage: Wie zukunftsfähig ist der klassische Utopiebegriff?, S. 622. Vgl. P. Plener: Wider das Nichts des Spießerglücks, S. 211. Vgl. ebd., S. 213. H. Freyer: Die Gesetze des utopischen Denkens, S. 301.
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Staatsromanen niederschlägt, eine Nähe zur Ideologie zu. »Das Gemeinsame und letztlich Entscheidende am Ideologie- und Utopiegedanken ist, dass man an ihm die Möglichkeit des falschen Bewusstseins erlebt.«20 Staats- und Gesellschaftsutopien wohnt, wenn sie denn rigide umgesetzt werden, demnach die Gefahr inne, eine autoritäre Ordnung herbeizuführen. Als ideologisch gelten diese, sobald sie von einem uneingeschränkten programmatischen Geltungsanspruch getragen werden. Die Freiheit wird dann zugunsten einer sich verfestigenden, indoktrinativ wirkenden Konstruktion von Sozialität negiert: Man kann von der Ideologie eines Zeitalters oder einer historisch-sozial konkret bestimmten Gruppe – einer Klasse etwa – in dem Sinne reden, dass man dabei die Eigenart und die Beschaffenheit der totalen Bewusstseinsstruktur dieses Zeitalters bzw. dieser Gruppe meint.21 Während die Ideologie somit an ein totalitäres Regime gekoppelt wird, erweisen sich Utopien Mannheim zufolge als weitaus emanzipativere und beweglichere Modelle. Sie »sind aber nicht Ideologien bzw. sie sind es insofern und in dem Maße nicht, als es ihnen gelingt, die bestehende historische Seinswirklichkeit durch Gegenwirkung in der Richtung der eigenen Vorstellung zu transformieren.«22 Utopien grenzen sich demzufolge von der gegebenen Realität ab, wobei der Prozess eine entscheidende Rolle spielt. »Wirkung« bedeutet Bewegung und nicht exkludierende Deklaration. Utopie stellt für Mannheim keinen festen Zustand, sondern eine Weise des Denkens dar, was er am Beispiel der »Utopie des liberal-humanitären Bewusstseins« zu zeigen versucht: »Nicht die griechisch-platonische Idee in ihrer statisch-plastischen Fülle als Urbild der Dinge, sondern als bloßes ›Regulativ‹ für das diesseitige Werden, als formale, in die unendliche Ferne geschobene, von hier aus uns bewegende Richtungsbestimmtheit«23 macht für ihn den Kern eines Zukunftsinhalts aus. Das Utopische kommt als evolutionärer Prozess zum Ausdruck24 und gibt im Gegensatz zur Ideologie einen weithin offeneren Kurs vor. Als signifikant erweist sich im Kontext dieses Werdens die schöpferische Macht des Menschen, der sich als alleiniger Gestalter neuer Welten begreift. An die Stelle all dessen, was bislang im Dunkeln lag, etwa dem Schicksal, dem Entschluss Gottes oder der moralischen Verkommenheit der Menschen zugeschrieben wurde, oder das durch die Tradition als unumstößlich geadelt wurde, kann
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K. Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 53. Ebd., S. 54. Ebd., S. 172. Ebd., S. 191. Vgl. A. Neupert-Doppler: Utopie, S. 79.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
und soll das rational Nachvollziehbare, das Durchschaubare und Einfache treten.25 Betont werden erstens das Diesseits und zweitens das rationale Denken als Raum der Utopie. Wie Voßkamp feststellt, verfolgen allerdings die literarischen Entwürfe nicht primär ihre reale Umsetzung: »Anstelle des politischen Willens Utopien zu ›verwirklichen‹, geht es in der künstlerischen Produktion um die Form als Ort der Utopie. Gerade darin ist eine Steigerung des utopischen Bewusstseins möglich«.26 Eben jene Auseinandersetzung mit der Form stellt die utopische Praxis aufseiten der Rezeption dar. »Texte lassen sich als Verflechtung von Möglichkeiten verstehen; ihre Wirklichkeit ist die Lektüre, die Spuren verfolgt und Beziehungen herstellt.«27 In der Markierung des Lesens als Akt zur Entschlüsselung von (versteckten) Möglichkeiten wird die besondere Eignung der Literatur als Medium für das Utopische deutlich. Im Akt des Lesens ergeben sich zwischen ProduzentInnen, Texten und RezipientInnen Freiräume, die Vorstellungen alternativer Welten gegenüber der Wirklichkeit im fiktionalen Werk oder der faktischen Wirklichkeit zulassen. Je enger und eindeutiger die utopischen Gebiete umzäunt sind, desto weniger Raum besteht für die Imagination der LeserInnen. Um Utopie, wie schon bei Mannheim angedeutet, eher als Denkprogression mit einem hohen Grad an Offenheit zu begreifen und damit schließlich die LeserInnen in den Rang von MitkreateurInnen utopischer Welten zu erheben, reichen literarische Repräsentationsarchitekturen wie Romane mit einer zumeist bereits gänzlich elaborierten idealen Gesellschaft nicht aus. Im Folgenden sollen daher die modernen Utopieansätze und -modelle im Vordergrund stehen, welche der Idee der Prozesshaftigkeit stärker Rechnung tragen.
2.2
Utopie als Bewusstsein und Prozess Utopisch ist ein Bewusstsein, das sich mit dem es umgebenden ›Sein‹ nicht in Deckung befindet. […] Nur jene ›wirklichkeitstranszendente‹ Orientierung soll von uns als eine utopische angesprochen werden, die, in das Handeln übergehend, die jeweils bestehende Seinsordnung zugleich teilweise oder ganz sprengt.28
Indem Mannheim die Inkongruenz zwischen dem Ist- und dem Soll-Zustand benennt, liefert er zugleich die Voraussetzung für den gedanklichen Brücken-
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J. Rohgalf: Jenseits der großen Erzählungen, S. 123. W. Voßkamp: Möglichkeitsdenken, S. 24. M. Roussel: Möglichkeitsdenken, S. 157. K. Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 169.
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schlag dazwischen. Das dazu nötige Möglichkeitsdenken steht im Zeichen der Überschreitung. Utopien wollen vielmehr die erreichte Seinsstufe ›transzendieren‹, geistig und wohlmöglich auch praktisch überholen. Der Unterschied zwischen Ideologien und Utopien besteht in der zeitlichen Richtungsorientiertheit.29 Die Utopie wendet sich gegen die Zementierung des Jetzt-Zustandes und antizipiert stattdessen eine Harmonisierung mit der Realität, also dem umgebenden Sein, mit dem sich das Bewusstsein, wie es bei Mannheim im ersten Zitat heißt, noch nicht in Deckung befindet. Als »Distanzkategorie zur Wirklichkeit«30 lebt sie von der Bewältigung ihrer eigenen Paradoxie. »Wirklichkeit ist kein abgeschlossenes Ensemble faktischer Gegebenheiten, sondern weist in ihren Latenzen und im Bewusstsein der Menschen über sich selbst hinaus: ein dauernder Übergang in die Zukunft.«31 Ausgehend von dieser Dynamik formuliert Mannheim eine scharfe Kritik an traditionellen Systemutopien, welche ein ideales Gemeinwesen oder einen idealen Zustand festschreiben, und plädiert für ein offenes Verständnis von Utopien im Sinne eines »utopische[n] Bewusstsein[s]«32 . Die topische Vagheit dieses Terminus wird lediglich konkretisiert als »Wunschbilder« mit »umwälzende[r] Funktion«.33 Mannheims Ansatz erweist sich als wegweisend und typbildenden für die Utopietheorien des 20. Jahrhunderts. Während sich die Konzepte perfektionierter Gesellschaften in der Nachfolge von Platons Der Staat oder Morusʼ Utopia auf exakte inhaltliche Ausgestaltungen konzentrieren, verfolgen die modernen TheoretikerInnen offen zu haltende, eben noch nicht gänzlich zu erfassende Zielperspektiven: »Nicht die Form ist utopisch, sondern die Intention. Der Begriff Utopie wird damit entformalisiert und enthistorisiert.«34 Dieser den klassischen Modellen wie dem perfekten Staat oder einer Inselgesellschaft diametral entgegengesetzte Ansatz taucht ausführlich erstmals in Gustav Landauers Differenzierung zwischen Topie und Utopie auf. In einem dialektischen Verhältnis bestimmen die beiden Begriffe die unabschließbare menschliche Geschichte. Während die kanonische, systemorientierte Utopie einen festen, aber mit Stillstand assoziierten Ort in der sozialen Evolution markiert, avisiert Landauer eine »Mentalisierung der Utopie«,35 die sich als Movens eines progressiven, d.h. die gesellschaftlichen Verhältnisse immer weiter verändernden Denkens äußert.
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A. Neusüss: Schwierigkeiten einer Soziologie des Utopischen, S. 25. B. Schmidt: Kritik der reinen Utopie, S. 75. J. Zimmer: Ungleichzeitigkeit und Utopie, S. 25. K. Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 169. Ebd., S. 170. A. Neusüss: Schwierigkeiten einer Soziologie des Utopischen, S. 22. A. Neupert-Doppler: Utopie, S. 53.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
Die Utopie gehört von Haus aus nicht dem Bereiche des Mitlebens, sondern des Individuallebens an. Unter Utopie verstehen wir ein Gemenge individueller Bestrebungen und Willenstendenzen, die immer heterogen und einzeln vorhanden sind, aber in einem Moment der Krise sich durch die Form des begeisterten Rausches zu einer Gesamtheit und zu einer Mitlebensform vereinigen und organisieren: zu der Tendenz nämlich, eine tadellos funktionierende Topie zu gestalten, die keinerlei Schädlichkeiten und Ungerechtigkeiten mehr in sich schließt. Auf die Utopie folgt dann eine Topie, die sich von der früheren Topie in wesentlichen Punkten unterscheidet, aber eben eine Topie ist. Es ergibt sich das erste Gesetz: Auf jede Topie folgt eine Utopie, auf diese wieder eine Topie, und so immer weiter.36 Visionen von einer besseren Welt stellen keine unmittelbare Geburt eines kollektiven Geists dar, sondern: »Utopische Bestrebungen verortet Landauer nicht bei Klassen, sondern bei Einzelnen. Erst in einer Krise könnten sich individuelle Wünsche zur utopischen Tendenz verdichten«.37 Die Ideen des Individuums können sich somit viral weiterverbreiten. Was daraus folgen kann, ist eine Revolution, jedoch nicht gemäß dem herkömmlichen, verengten Begriff. »Er [Landauer] versteht sie nicht als Ereignis, sondern als Epoche, als Übergang zwischen Topien«,38 als Resultat einer Wechselwirkung zwischen dem Ort in der Gegenwart und dem NochNicht-Ort in der Zukunft. Dies besagt das hier zitierte erste Gesetz, welches das Utopische noch vor den DenkerInnen des 20. Jahrhunderts als prozesshafte Kraft identifiziert. Ziel ist jedoch nach einer Übergangsphase, der Revolution, stets die Herstellung eines neuen Gesellschaftszustandes, der, stets von Landauer verstanden als »relative[] Stabilität«,39 jedoch immer nur eine Annäherung an das Ideal sein kann: »Die Utopie ist also die zu ihrer Reinheit destillierte Gesamtheit von Bestrebungen, die in keinem Fall zu ihrem Ziele führen, sondern immer zu einer neuen Topie.«40 Das Utopische erweist sich dabei als der »antreibende[] Geist der Geschichte«.41 Statt um die Darstellung einer klar konturierten System- bzw. Staatsutopie ist Landauer bemüht, das Bewusstsein, die Denkweise, für eine neue Welt zu schaffen. Im Zentrum steht die Utopie als kognitive Praxis. »Utopie bewirkt das Durchbrechen jener Denkhaltung, in der sich vorhandene Ordnung als gegebene Seinsordnung ausdrücken, verherrlichen, rechtfertigen will.«42 Zentral auch für die auf Landauer folgenden Ansätze sind zwei Quellen, aus denen die
36 37 38 39 40 41 42
G. Landauer: Die Revolution, S. 32. A. Neupert-Doppler: Utopie, S. 54. Ebd. G. Landauer: Die Revolution, S. 33. Ebd. A. Neupert-Doppler: Utopie, S. 61. B. Schmidt: Kritik der reinen Utopie, S. 79.
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Utopie hervorgeht: »aus der Reaktion gegen die Topie, aus der sie erwächst, und aus der Erinnerung an sämtliche bekannte frühere Utopien.«43 Kritik und Rekurs auf zurückliegende, noch nicht verwirklichte Antizipationen eines Idealzustandes bilden auch in Ernst Blochs Theorie der Utopie wichtige Konstanten. Ihr zugrunde liegt ein »unabgeschlossenes, offenes, durch keine Antwort stillzustellendes Denken.«44 Ausgangspunkt ist bei ihm das »Dunkel des gelebten Augenblicks«,45 welches sich auf den Moment der Wahrnehmung des Hier und Jetzt bezieht. Denn ungreifbarer als die Zukunft ist das kaum festzuhaltende Gegenwartsereignis. Jenes Dunkel unserer direkten Erfahrung ruft im Subjekt ein Staunen hervor,46 weil dessen »Inhalt wesenhaft unsichtbar«47 ist. Der Augenblick bietet […] eine raum-zeitliche Vermittlungsstruktur in der Vermittlungsgeschichte zwischen Subjekt und Objekt. Er zeigt sich als ein ›Da-Zwischen‹, wie es ja der auf das Auge in der äußersten Momentanität abzielende alltagssprachliche Sinn des Worts meint: das ruhend-hinnehmende Auge als Einlassstelle der Welt wird spontan in den Blick geworfen.48 Es bedarf einer spezifischen Wahrnehmungsweise dieser Interimszone. »Was sehr nah ist, was unmittelbar vor meinem Auge aufragt, kann ich nicht sehen. Es muss ein Abstand da sein. Dann erst kann es gegenständlich sein.«49 Gerade jene fehlende Distanz erschwert die Erkennbarkeit. Das utopische Moment erstreckt sich zunächst auf die Unmittelbarkeit des Erlebens, das weder als Vergangenheit noch Zukunft kategorisierbar wird und als unsicheres Dazwischen an Bedeutung gewinnt. Der Augenblick ist Teil des Stroms des Lebens,50 weswegen das Werden einen zentralen Punkt in Blochs Philosophie ausmacht: Das Wirkliche ist Prozess; dieser ist die weitverzweigte Vermittlung zwischen Gegenwart, unerledigter Vergangenheit und vor allem: möglicher Zukunft. Ja, alles Wirkliche geht an seiner prozessualen Front über ins Mögliche, und möglich ist alles erst Partial-Bedingte, als das noch nicht vollzählig und abgeschlossen Determinierte.51 Levitas, eine Vertreterin der Utopian Studies in der Spätmoderne, gibt jener Prozessbewegung gar den Vorrang gegenüber ihren eigentlichen Inhalten: »Utopia is
43 44 45 46 47 48 49 50 51
G. Landauer: Die Revolution, S. 34. D. Horster: Ernst Bloch, S. 42. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 11. Vgl. W. Jung: Augenblick, Dunkel des gelebten Augenblicks, S. 56. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 338. B. Schmidt: Ernst Bloch, S. 52. E. Bloch: Tendenz-Latenz-Utopie, S. 340. Vgl. E. Bloch: Gibt es Zukunft in der Vergangenheit?, S. 297. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 225.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
important less for what is imagined than for the act of imagination itself, a process which disrupts the closure of the present.«52 Das Imaginieren besitzt somit eine transzendierende Qualität und erstreckt sich, wie die Passage von Bloch belegt, auf zugleich mehrere Zeitebenen. Die Wendung gen Zukunft, die ein Überschreiten des Ist-Zustandes impliziert, resultiert aus der Aufarbeitung eines in der Vergangenheit noch nicht abgeschlossenen Inhalts, dessen Verwirklichung noch bevorsteht. Ob etwas der Vergessenheit anheim gegeben wird oder zur Basis für Erinnerung wird, ist begründet im Verhältnis zur Zukunft. Erinnerung bedarf der Erwartung des Zukünftigen, deshalb verweist sie auf das Unabgegoltene aus der Vergangenheit, dessen Erfüllung noch aussteht.53 Gerade in diesem Punkt wird die Differenz Blochs zur expressionistischen und avantgardistischen Utopievorstellung anschaulich – entsteht doch in diesen Bewegungen »the new […] in all its radical purity only from destruction of the old« und eben nicht, wie bei Bloch oder Levitas aus »continuity and progress«, folglich einem Weiterentwickeln aus der Vergangenheit heraus.54 Die Unwissenheit über die nicht fassbare Jetzterfahrung sowie eine noch unscharfe Zukunft, die erst aus der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit folgt, rufen das »›Sehnen‹, de[n] einzig[] bei allen Menschen ehrliche[n] Zustand«,55 hervor. Dieser knüpft sich an die Hoffnung als Gegenmodell zur Angst,56 die tendenziell zum Rückzug aus der Weltführt. »Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen«.57 Da die Hoffnung als intentionale Phalanx bei Bloch zu einer anthropologischen Grundkonstante avanciert,58 welche das aktive Streben des Menschen provoziert, weist sie über eine rein affektive Bedeutung hinaus. Vidal sieht in ihr »vor allem ein[en] Richtungsakt kognitiver Art«.59 Hoffnung regt zum aktiven Denken an. Um einer wie auch immer gearteten Mangelsituation in der Gegenwart zu entfliehen, kreieren die Menschen Wunschvorstellungen. Auf einer ersten Ebene äußern sie sich noch als Tagträume.60 Deren Inhalte umfassen ein »Noch-Nicht-Bewusstes […] eine Dämmerung nach vorwärts, ins Neue«.61 Dieses »Realgeheimnis«62 zu erforschen und dessen Anlagen zu ent52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
R. Levitas: Utopia as Method, S. 119. F. Vidal: Hoffnung: S. 200. Beide Zitate: D. Ayers/B. Hjartarson: New People of a New Life, S. 3. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 5. Vgl. ebd., S. 83f. Ebd., S. 1. Vgl. J. Rohgalf: Jenseits der großen Erzählungen, S. 557. F. Vidal: Hoffnung, S. 189. Vgl. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 85. Ebd., S. 86. Ebd., S. 12.
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falten, setzt sodann den Übergang vom Wünschen zum Wollen voraus.63 Defizitäre Erfahrungen wie Verlust oder Entfremdung wirken stimulierend auf das Subjekt, die zu überwinden das Projekt für Kommendes darstellt: »Indem Bloch die Anfänge und die jeweils gelebten Augenblicke negativ als Leerstellen bestimmt, geht alle Entwicklung auf den Pol der Antizipation über.« Ein »gärendes Nicht«,64 man könnte ergänzen: ein Noch-Nicht befördert die Imagination einer besseren Welt. Es gilt demzufolge das Credo: »Denken heißt Überschreiten«.65 Bloch betont dabei stets das Generische seines im Gegensatz zu den statischen Sozialutopien zu verortenden Ansatzes: Sein Konzept der Totalität basiert auf einem philosophischen offenen System, bei dem nicht eine immer schon vorhandene Entität wie der absolute Geist oder das Wesen sich durch die eigenen Unterscheidungen hindurchbewegt und wieder bei sich ankommt, was Bloch als bloße ›Anamnesis‹ kritisiert, Wesenheit macht sich dort nur als Ge-Wesenheit kenntlich.66 Sobald eine vermeintlich visionäre, gesellschaftsutopische Ordnung, wie im Falle von Morus, in totum postuliert wird, stellt sie für Bloch bereits eine vergangene, reizlose und damit nicht mehr utopische Idee dar. Stattdessen favorisiert sein Ansatz eine sowohl unabgeschlossene als auch vitale, nicht endende Realisierung des Denkens, die im Kern, wie Freyer argumentiert, überhaupt erst die Voraussetzung zur Elaboration idealgesellschaftlicher Konstruktionen sein muss: Man kann dieses Problem zurückschieben, und viele tun das, indem sie die Utopie bereits als wirklich denken: auf einer fernen Insel oder einem anderen Stern. Dann ist der Weg dorthin zunächst die glückhafte Irrfahrt eines Reisenden. Aber die Frage, wie die Utopie geschaffen oder gegründet worden sei, bleibt bestehen.67 Das Insistieren auf der evolutionären Dimension gründet aus Sicht Blochs, Mannheims und deren NachfolgerInnen auf der Annahme, dass Utopien prinzipiell als Entwicklungsphänomene in Hinblick auf »unconditional futures«68 zu begreifen sind. Die akut empfundene Mangelerfahrung sowie das bereits erwähnte Dunkel des gelebten Augenblicks als Unfassbarkeit des unmittelbar Gegenwärtigen69 setzen anfangs noch keinen gruppendynamischen Prozess frei. Vielmehr geht der Impuls vom Individuum aus: 63 64 65 66 67 68 69
Vgl. ebd., S. 51. Beide Zitate: J. Rehmann: Antizipation, S. 10. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 2. A. Schlemm: Dialektik, S. 80. H. Freyer: Die Gesetze des utopischen Denkens, S. 308. K. Armond: A Paper Paradise, S. 270. Vgl. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 207.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
Der Träger der Tagträume ist erfüllt von dem bewussten, bewusst bleibenden, wenn auch verschiedengradigen Willen zum besseren Leben […]. Das Ego ist hier allemal in erwachsener Kraft, als erwachsene Einheitserfahrung bewusster seelischer Vorgänge erhalten, mehr noch: es ist das Leitbild dessen da, was ein Mensch utopisch sein und werden möchte.70 Für Bloch verbindet sich mit dem Utopischen im Sinne individueller Vorstellungsräume die Selbstfindung und -stabilisierung. »Es ist das utopisch-inhaltliche Ziel, das solcherart belebt; und dieses Ziel im Beisichsein wie im Gemeinsamsein, heißt Lichtung des menschlichen Inkognito, Identifizierung unseres Selbst und Wir.«71 Sowohl das Ich als auch die Gemeinschaft konstituieren sich im Idealfall auf Basis beiderseitiger Wechselwirkungen. Diese Reziprozität steht insofern im Zeichen des Utopischen, als dass eine harmonische Beziehung zwischen Ich und Umwelt ähnlich dem Ansatz Mannheims angestrebt wird: »Dieses Bei-sich-Sein wäre Identität von herausgebrachter Wesenheit und einem Sein, das sich nicht mehr abzustoßen braucht.«72 Das Subjekt muss demnach über sich hinauswachsen, um zu seiner Identität zu gelangen. Es strebt eine Aufhebung der die humane Existenz betreffenden Entfremdung, bei Bloch verstanden als »die Verschlossenheit und Zerrissenheit des Selbst«,73 an. In der Heimat, einer »Utopie […] einer menschen- und naturgerechten Gesellschaft«74 bzw. dem »Gegenteil von Fremdheit«,75 gibt es keinen verborgenen oder unbehaglichen Rest mehr: »Ein Menschsein, das in seinem Daseinskreis mit nichts ihm Fremden mehr behaftet ist, ein Realisierendes, das selber realisiert ist: dieses ist der Grenzbegriff der Verwirklichung als Erfüllung.«76 Wäre jener Endzustand erreicht, in dem kein unabgegoltener Rest aus der Vergangenheit und die Erhellung des Dunkels des gelebten Augenblicks vorlägen, fiele zugleich ein maßgebliches weiteres Merkmal der Bloch’schen Theorie weg: Die Offenheit als Prinzip, überhaupt der Antrieb, das real Mögliche ins Faktische zu überführen: Der Kern des Existierens, wäre er geworden und darin zugleich, als herausgebracht, gutgeworden, so wäre er in dieser Gelungenheit erst recht Exterritorialität zum Tod; denn dieser selbst wäre mit der prozesshaften Unzulänglichkeit, wozu er gehört, abseitig und abgestorben […]. Wo immer Existieren seinem Kern nahe-
70 71 72 73 74 75 76
Ebd., S. 101. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 43-55), S. 1142. H.-E. Schiller/I. Boldyrev: Entfremdung, S. 100. Ebd., S. 84. F. Vidal: Hoffnung, S. 197. A. Schlemm: Subjekt – Objekt, S. 532. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 349.
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kommt, beginnt Dauer, keine erstarrte, sondern eine, die Novum ohne Vergänglichkeit, ohne Korrumpierbarkeit enthält.77 Die permanente Grenzüberschreitung und Weiterentwicklung durch das Vorstellungsvermögen verstehen sich als Bewältigungsstrategie gegenüber der Angst und dem Tod. Das fremde, mitunter unbehagliche Außerhalb der eigenen Existenz setzt Triebkräfte frei. Utopie kommt dabei einer Lebensform bzw. -einstellung gleich, die im Wesentlichen drei Funktionen erfüllt: »Compensation, critique and change«.78 Alle Teilbereiche schlagen sich letztlich in einer intensiven Arbeit am Ich nieder. Während die literarischen Staatsutopien ihr Hauptaugenmerk primär auf das Wohl und Glück eines Kollektivs projizieren, steht bei Bloch folglich »die Utopie der Identität, die Übereinstimmung des Subjekts mit der Welt«,79 im Vordergrund. »Organ des Hoffens«, die dazu nötige Antriebsfeder, »ist die Phantasie«,80 die wiederum eine spezifische Dialektik erfordert, die im Weiteren näher skizziert wird.
2.3
Subjekt, Objekt und Dialektik
Damit die Utopie als Bewegung wirksam bleibt, bedarf sie einer Interpolarität. Der Widerspruch »zeigt sich als Mangel, als Ungenügen, als Differenz zu etwas, das es noch nicht gibt«,81 woraus bei Bloch eine an Hegel orientierte Dialektik folgt. Ihre Grundelemente sind Schlemm zufolge »Bewegungsorientiertheit«, »Widersprüchlichkeit« und »Negativität«.82 Der Impuls zur Überwindung einer als defizitär erachteten Gegenwart ergibt sich aus einem bislang unerreichten Nicht-Zustand. Während das finale Nichts keinerlei Entwicklungsfähigkeit zulässt, ja, »die besiegelte Vereitelung der Utopie«83 impliziert, wohnt dem Nicht das Potenzial zum Werden inne:84 »So eben macht sich das Nicht im Prozeß als aktiv-utopisches Noch-Nicht kenntlich, als utopisch-dialektisch weitertreibende Negation.«85 Das Nicht weist auf den Soll-Zustand hin, der noch nicht erreicht ist und daher aktiv angestrebt werden will. »Das Nicht als prozessuales Noch-Nicht macht so Utopie zum Realzu-
77 78 79 80 81 82 83 84 85
E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 43-55), S. 1391. R. Levitas: Utopia as Method, S. 107. F. Vidal: Hoffnung, S. 198. Ebd., S. 200. A. Schlemm: Dialektik, S. 74. Ebd., S. 70. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 364. Vgl. J. Siebers: Noch – Nicht, S. 410. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 360.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
stand der Unfertigkeit, des ersten fragmenthaften Wesens in allen Objekten.«86 Es beschreibt ein Entwicklungspotenzial. Die Option, seine Umwelt in einer bestimmten Weise zu verändern, ist bei Bloch insbesondere an das Verhältnis von Subjekt und Materie gekoppelt. Von ersterem können Wünsche und Tagträume ausgehen, die sich durch gedankliche Konkretisierung immer weiter zu einem Novum verdichten. Einschränkend sind Positionen, welche die Relevanz der anfänglichen Wunschvorstellungen bezweifeln. So hebt etwa Schwonke hervor: »Seit die Veränderlichkeit der Welt, die Instabilität aller Gegebenheiten hingenommen wird […], ist die Wunschkomponente in ihrer ursprünglichen Form entbehrlich geworden. Die Utopie bedarf dieses Antriebs nicht mehr, sie hält sich offen für viele Möglichkeiten«.87 Obgleich gerade die Moderne zu einer Diversifikation von Handlungsmöglichkeiten führt und dadurch letztlich den Gestaltungsspielraum des überforderten Individuums infragestellt, geht Blochs optimistische Konzeption von einem starken, für verschiedene Optionen offenem Subjekt aus. Es stellt innerhalb des utopischen Prozesses jedoch nur eine Seite dar. Denn es strebt die Realisierung von Möglichkeitsvarianten an, welche die Objektseite, bezogen auf den Stoff bzw. die Materie, gewähren. »Das Eigentliche ist das höchste Gut, es ist die qualifizierteste Daseinsform des der Möglichkeit nach Seienden, also unserer Materie. Das Eigentliche dämmert so im gesamten Potenzial der Materie«.88 Ergänzend sei noch eine zweite Stelle zitiert: Das Eigentliche oder Wesen ist nichts fertig Vorhandenes wie Wasser, wie Luft, wie Feuer, gar wie unsichtbare All-Idee, oder wie immer diese Real-Fixa verabsolutiert oder hypostasiert lauteten. Das Eigentliche oder Wesen ist dasjenige, was noch nicht ist, was im Kern der Dinge nach sich selbst treibt, was in der Tendenz-Latenz des Prozesses seine Genesis erwartet.89 Deutlich wird in diesen Auszügen, dass Bloch auf der Objekthemisphäre einen noch zu entfaltenden, nicht klar konturierten Wesensnukleus, bezeichnet als das Eigentliche, ausmacht. Man könnte auch von einer Anlage sprechen. Angelehnt an Aristotelesʼ für Blochs Konzeption relevante Vorstellung der Entelechie sind in der Materie »die Bedingungen enthalten, die eine weitere Formausprägung möglich machen. Aber die Veränderung der Materie kommt nicht von außen, wird nicht dem Stoff aufgeprägt«,90 sondern ist ihr selbst und dem Menschen, der einst aus ihr hervorging, eigen. Nachdem die Materie »als Träger von Entwicklung und damit als Stoff, aus dem das Neue wird, als Bedingung der Möglichkeit von Utopie«,91 86 87 88 89 90 91
Ebd. M. Schwonke: Vom »Leitbild des Handelns«, S. 261. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 43-55), S. 1601. Ebd., S. 1625. D. Horster: Ernst Bloch, S. 78. P. Zudeick: Materie, S. 265.
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definiert ist, wohnt ihr ein verborgener Zielinhalt, nämlich die Latenz, inne. Auf der Objektseite repräsentiert sie »den Ermöglichungsstatus schlechthin, sie bringt die objektive Tendenz und die subjektive Intention vermittelnd zusammen: Die Potenz des Subjekts und die Potentialität des Objekts, die die Realisierung des Neuen im Weltprozess ermöglichen.«92 Wie Haug zusammenfasst, setzt die Generierung des Eigentlichen aus dem Stoff eine erkennende Instanz, nämlich das Subjekt, voraus: »Die Realisierung der objektiv gegebenen Potenzialitäten ist der menschlichen Potenz anheimgestellt.«93 Der Mensch scheint demzufolge qua seiner Vorstellungskraft und Experimentierfähigkeit dazu in der Lage, einen Stoff entsprechend seiner Eigenschaften zu formen und auszugestalten. Die schon erwähnte Tendenz erweist sich als objektive Kategorie, als eine Triebkraft des Seins, die sich im besonderen Maße mit der nach vorne weisenden Intention des Menschen verbindet. In ihr manifestiert sich »Greifbares, Findbares in und an der Welt […]. Die Bearbeitung des Welthaften (durch den Menschen) ist insofern immer auch eine Ausarbeitung, eine Herausarbeitung des im Inneren als Möglichkeit verborgenen und dort konzentrierten Kerns.«94 Die Tendenz »ist offen, noch nicht entschieden – zu der Realisierung bedarf es des subjektiven Faktors«.95 Dieser »ist Utopiebewusstsein als intentionaler Wille, negierender Blick, motivierende Hoffnung und konkrete Einsicht.«96 Was als Potenzial in der Welt vorhanden ist, kann durch das Subjekt und dessen Willen verwirklicht werden. Die Art und Weise der Umsetzung hängt von dessen genauen Hoffnungen und Zielen ab. Es begibt sich auf den »Weg vom hungernden und darbenden Subjekt hin zur Erfüllung in einer Einheit, in der sich Subjekt und Objekt nicht mehr getrennt und fremd gegenüberstehen«.97 Der Mensch zeigt sich dabei als erkennendes und handelndes Wesen, in dem sich eine antizipatorische Kraft sowie ein Drang zum Streben offenbaren. Es gilt dabei, die Kluft zwischen Ist und Soll zu überwinden. Das Subjekt »greift ins Äußere; was es sucht, ist ihm noch nicht bewusst. Aber indem es sich dem Äußeren zuwendet, mit ihm wechselwirkt, Erfahrungen mit ihm macht, erschließt sich dieses – das Subjektive nimmt Objektives auf, wächst an ihm und verändert sich.«98 Es geht um einen Annäherungs- und Verstehensprozess, eben auf Basis einer motivatorisch wirkenden Spannung. Um in diesem Kontext von einem utopischen Akt zu sprechen, müssen konditionale Hemmnisse überwunden werden.
92 93 94 95 96 97 98
D. Zeilinger: Latenz, S. 240f. D. Zeilinger: Tendenz, S. 563. R. Zimmermann: Substanz, Substanzialität, S. 545. D. Zeilinger: Tendenz, S. 566. A. Neupert-Doppler: Utopie, S. 63. A. Schlemm: Subjekt – Objekt, S. 523. Ebd., S. 538.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
Bei Bloch nun scheint das ›Sachhaft-objektgemäße‹ Mögliche, [sic!] als die bloß partielle Bedingtheit im Gegenstand selber. Die Bedingtheit ist zweifacher Art, es liegen vor eine äußere und eine innere Bedingung. Die äußere Bedingung besteht in der Passivität der Gegenständlichkeit, ihrer Bearbeitbarkeit und der Veränderbarkeit des Außen, zu der die innere Bedingung als das Verändernwollen und Verändernkönnen hinzutreten muss.99 Werden alle Voraussetzungen erfüllt, so »bezeichnet [Bloch] die erreichte Identifizierung von Subjekt und Objekt als positives Utopikum Heimat.«100 Bereits das Streben und Sehnen nach ihr entfaltet eine utopische Zielbewegung,101 welche die Aufhebung der Entfremdung und die Entstehung des Novums gleichermaßen forciert. Der Grundimpetus allen – nicht nur des Bloch’schen – Möglichkeitsdenkens manifestiert sich im »Strom einer geistigen Bewegung, deren Ziel die Befreiung des Menschen ist. Der Mensch soll nicht mehr Objekt sein, er soll selbst handeln, statt dass mit ihm gehandelt wird. Er soll Herr seines Schicksals, Subjekt seiner Geschichte, Schöpfer seiner Welt werden.«102 Für die Emanzipation muss die Synthese zwischen Subjekt und Objekt als Voraussetzung angesehen werden. Je näher sich beide Sphären kommen, desto mehr geht die zu Beginn abstrakte, noch im Nebulösen befindliche Wunschvorstellung in eine sich immer genauer ausformende Utopie, in die Gestaltung von Materie, über. Es soll zu guter Letzt, wenn keine Utopie mehr nötig ist, Sein wie Utopie sein. Der wesentliche Inhalt der Hoffnung ist nicht die Hoffnung, sondern indem er diese nicht zuschanden werden lässt, ist er abstandslos Da-Sein, Präsens.103 Die Gärung des Noch-Nicht-Gewordenen bzw. die stetige Realisierung des Utopischen stehen nicht primär im Dienst einer Zukunft, sondern verhelfen vielmehr zu einer Erhellung des Dunkels des gelebten Augenblicks. »Utopie arbeitet nur um der zu erreichenden Gegenwart willen«,104 in der eben Subjekt und Objekt eine Vereinigung eingehen sollen. Die Bedingungen zur Realisierung des Utopischen äußern sich in der sukzessiven Präzisierung des anfangs vagen Zielinhalts, das heißt der stetigen Annäherung beider Sphären: »Funktion konkreter Utopie ist die subjektive Einsicht in die objektiven Möglichkeiten.«105 Um eine Zielvorstellung letztlich auf ihre Verwirklichung hin anzustreben, ist das Wissen um das Spannungsverhältnis zwischen 99 100 101 102 103 104 105
B. Schmidt: Kritik der reinen Utopie, S. 272. A. Schlemm: Subjekt – Objekt, S. 540. Vgl. B. Schlink: Heimat als Utopie, S. 33. M. Schwonke: Vom »Leitbild des Handelns«, S. 252. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 366. Ebd. A. Neupert-Doppler: Utopie, S. 63.
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Erkennendem und zu Erkennendem von immenser Wichtigkeit. Darauf baut die Prozesslogik als zentrales Merkmal von Blochs Philosophie auf. »Das Oszillieren zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Selbst und Welt, ist für Bloch der die Welt strukturierende dialektische Prozess.«106 Prinzipiell kann dieses Unterfangen auch scheitern. Denn die Hoffnung als Movens »ist das Gegenteil von Sicherheit, das Gegenteil eines naiven Optimismus […]. Hoffnung ist nicht Zuversicht, Hoffnung ist umlagert von Gefahren«.107 Wenn sie aber auf fruchtbaren Boden trifft und Subjekt und Objekt zueinanderfinden, bedeutet dies nicht, dass sie umstandslos ein geschlossenes Ganzes bilden. Vielmehr lässt sich an die Vorstellung eines Wahrnehmungsereignisses denken, das nur aus dem dialektischen Prozess heraufbeschworen werden kann. »Alles Werden hat Sehnsucht nach Manifestation«,108 was sich besonders im künstlerischen Werk abzeichnet und Gegenstand des nächsten Kapitels ist.
2.4
Kunst als utopisches Medium
Überlegungen über den Konnex zwischen Kunst und Utopie anzustellen, bedeutet im Horizont der vorliegenden Studie das Phänomen der Dialektik in den Vordergrund zu rücken. »Dialektik hat einen utopischen Motor«,109 dessen Wert für die Kunst von Adorno hervorgehoben wird. Dessen Aufmerksamkeit richtet sich auf das Verhältnis von ästhetischem Werk zur Wirklichkeit, wobei er davon ausgeht, dass ersteres zunächst als Spiegel der Realität dient. Indem kulturelle Artefakte die Widersprüchlichkeit und fehlende Sinnordnung des Lebens aufgreifen, verobjektivieren sie diese. Bei diesem Zeigen von Zusammenhängen geht es dezidiert nicht um eine Kopie der Realität. Vielmehr greifen künstlerische Werke sie in ihrer Bruchstückhaftigkeit auf. Anschaulich wird in diesem defizitären Momentum eine Negativität, welcher die Kunst zugleich einen anderen Zustand gegenüberstellen kann. Es ist dabei die Rede vom »Nicht-seiende[n]«110 als Kontrapunkt zum bereits Seienden. Aus dieser Interpolarität resultiert eine Dynamik: »Das Kunstwerk ist Prozeß und Augenblick in eins«,111 weil es einerseits ein Stück der echten Welt einfängt und andererseits auf das noch nicht fassbare Andere hinweist, dessen Konkretheit sich erst durch eine Annäherungsbewegung allmählich ergibt. Die Wechselwirkung zwischen Aufklärung und Rätselhaftigkeit, die eine Reflexion auslöst, soll 106 107 108 109 110 111
A. Schlemm: Subjekt – Objekt, S. 514. E. Bloch: »Etwas fehlt«… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht, 367f. P. Zudeick: Materie, S. 273. E. Bloch: Einzige Invariante, S. 261. T. W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 129. Ebd., S. 154.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
nach Auffassung Adornos jedoch nicht nur im Rahmen der Kunst stattfinden. Ferner bekräftigt er die Übertragung auf die Gesellschaft. Gerade das Sich-Entziehen eines künstlerischen Produkts setzt eine auch in das Soziale hineinreichende Motivation frei. Es zeigt sich, »daß Kunst Utopie sein muß und will und zwar desto entschiedener, je mehr der reale Funktionszusammenhang Utopie verbaut ist.«112 Letztlich zielt der Wille, das noch Unklare zu antizipieren, auf eine Bloch’sche Vorstellung: »Ihrer bloßen Form nach verspricht sie [die Kunst], was nicht ist, meldet objektiv und wie immer auch gebrochen den Anspruch an, daß es, weil es erscheint, auch möglich sein muß.«113 Wie setzen Kunst bzw. deren RezipientInnen diese Anlage frei respektive worin wird diese sichtbar? Kunstwerke jedoch, die den Sinn negieren, müssen in ihrer Einheit auch zerrüttet sein; das ist die Funktion der Montage, die ebenso, durch die sich hervorkehrende Disparatheit der Teile, Einheit desavouiert, wie, als Formprinzip, sie auch wieder bewirkt.114 Adorno legt seinen Akzent insbesondere auf Werke der Moderne, die sich durch Fragmentarizität und plurale Erschließungsmöglichkeiten auszeichnen. Um dem im Zitat beschriebenen paradoxen Ineinander von Zerrüttung und Einheit als Signum der Kunst aufseiten der Rezeption Rechnung zu tragen, scheint ein Wechsel zwischen Dekonstruktion und Rekonstruktion geboten. Dieser Strategie der Deutung wohnt eine Unabschließbarkeit inne. Denn Adornos Ansatz geht von einer progressiven Auffassung von Kunst aus: »Der Prozeß, in jedem Kunstwerk geronnen zu einem Gegenständlichen, widersetzt sich seiner Fixierung zum Dies da und zerfließt wiederum dorthin, woher er kam.«115 Das Utopische an dieser Konzeption äußert sich im Spiel zwischen Entstehung und Auflösung ästhetischer Formationen. Das Werk motiviert zur permanenten Auslotung von Möglichkeiten und entzieht sich schlussendlich einer finalen Festschreibung. Auch bei Bloch kommt der Ästhetik ein hoher Stellenwert für das Utopische zu. Die Kunst ist bei ihm gekennzeichnet durch eine antizipatorische Eigenschaft. In ihr manifestiert sich ein »ästhetische[r] Vor-Schein[], womit Wesentliches [bezeichnet ist], das noch nicht hervorgetreten ist, doch, indem es ohne alle Illusion als hervorgetreten und seiend behandelt wird, seinem Geborenwerden und Sein um einen so wichtigen Schritt entgegengebracht wird.«116 Artefakte gewähren einen Ausblick auf Zukünftiges und fordern das Subjekt zu dessen Realisierung heraus. Im »Vor-Schein [der Kunst] spiegeln sich Versprechungen, kommen Zustände der Harmonie und des Glücks, nicht zuletzt eben immer wahrhaft menschliche 112 113 114 115 116
Ebd., S. 148. Ebd., S. 128. Ebd., S. 231f. Ebd., S. 155. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 33-42), S. 951.
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Verhältnisse zum Ausdruck.«117 Die Kunst als Quell für alternative Weltenmodelle bietet einen »utopische[n] Überschuss«, der bewirkt, »dass neben dem falschen Bewusstsein, das das gesellschaftliche Sein nur bestätigt, sich ein Bewusstsein bilden kann, das die jeweilige Zeit utopisch überholt.«118 Dieses zweite Bewusstsein, das zunächst noch im Dämmern liegt und sich folglich erst allmählich im Wahrnehmungskreis des Subjekts ausbildet, steht wiederum im Zeichen einer Harmonisierungsbemühung, die Bloch beispielgebend an gotischen Kathedralen erläutert: »Doch überall, in der gesamten sakralen Bauhütte, ist das Kunstwollen ein Entsprechenwollen, eine ausgeführte Kongruenz mit dem jeweils als vollkommenst imaginierten, utopisierten Raum.«119 In dieser Passage bleibt der Philosoph plastisch und bringt anschaulich auf den Punkt, wie im Vor-Schein »Offenes und Fragmentarisches zum Ganzen des Weltprozesses tendiert.«120 Die motivatorische Tendenz besteht folglich darin, dass der Mensch im Schaffen von Kunst versucht, dem utopischen Novum näher zu kommen und dadurch ästhetische Produkte einen visionären Charakter annehmen. Mehr noch als für die Seite der Produktion erweisen sich die Effekte der Kunst für die Rezeption als relevant für utopisches Denken. Als Voraussetzung sieht Bloch eine Form der Lebendigkeit der Kunst an, wie sie aus seiner Sicht eben exemplarisch im gotischen Stil zum Ausdruck kommt und sich letztlich auch auf andere Arten der Kunst, somit auch auf die Literatur, übertragen lässt: Der Stoff ist gesprengt, das absolut Formmäßige, Konstruktive ist abgesetzt, der tiefste, freilich der tiefste Gegenstand regiert; und wenn man nicht dem Holz und der Holzkonstruktion des gotischen Steins, diesem ganz äußeren, nur erleichternden Vehikel, das nichts als bequem ist und auf dem nicht mehr wie bei der Steinkonstruktion Ägyptens der ganze Astralmythos fährt, eine völlig ungebührliche Bedeutung geben will, noch jenseits der geistreichen, schwierigen, aber durchaus nur heuristischen Anti-Steinlogik der gotischen Konstruktion: so wird nicht nur die stilistische, sondern auch die transzendentale Freude am Werk, an den auch gegenständlich brauchbaren Werkchiffren, als der prästabilierten Harmonie von Erlebnis, Stoff, Form und Dingmaterialität verschwinden müssen.121 Im Stoff ist das Lebendige angelegt, das zugleich über ihn hinausweist. Dazu bedarf es eines Strebens des Subjekts zum »Sehenwollen«.122 Es muss sich in die Kunst vertiefen und empfänglich sein: »Es treibt und gärt hier in den Steinen, mit
117 118 119 120 121 122
W. Jung: Vor-Schein, S. 668. D. Horster: Ernst Bloch, S. 60. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Ka. 33-42), S. 842. F. Vidal: Ästhetik, S. 26. E. Bloch: Geist der Utopie, S. 34. Ebd., S. 41.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
uns zu blühen, unser Leben zu haben.«123 Der Mensch wächst und reift demnach mit der Immersion in die Kunst. In weiten Teilen seiner (nicht als geschlossene Theorie entfalteten) Ästhetik entzieht sich Blochs Vorstellung eines utopischen Vor-Scheins der sprachlichen Vergegenständlichung. Mit der Musik etwa, die in einer verwandtschaftlichen Beziehung zu der Lyrik als Kulminationspunkt zwischen Dichtung und Klang steht, verbinden sich Menschengemachtes sowie »Anderes, Unnennbares«.124 Sie »ist vollste Offenheit, und das Geheimnis, das verständlich-Unverständliche«,125 das gänzlich in den Hörer eindringt. Es entsteht eine Dialektik zwischen Be- und Entzug. Musik ruft eine Naherfahrung hervor und trägt zugleich zum Loslösen, bildlich gesprochen, zum Entschweben bei. Sie »lässt berühren und hebt zugleich das Gegenüber auf, ohne dass das Ich verloren ginge«.126 Gerade die Synthese von Gegensätzen – das Hören einer Melodie einerseits und deren Unfassbarkeit andererseits – weist in besonderer Weise auf den Nukleus von Blochs Utopieverständnis hin, nämlich auf die in der Musik sich äußernde »Verbindung zwischen dem Dunkel des gelebten Augenblicks und dem Erstaunen der unobjektiven Fragen.«127 Als »Erlebniswirklichkeit«128 erfährt das Ich im Fluss der Klänge sein unmittelbares Sein im Augenblick, den es aber nicht festzuhalten oder zu objektivieren vermag. Denn »man erlebt nicht, Erleben ist der schwierigste Horizont des intentionalen Wesens, das Mensch heißt.«129 Der Moment eben dieses Erlebens sprengt »das Kontinuum des Alltags […] und [ist] so stark […], dass sich hier die utopische Sehnsucht als Erlösung eines Glücksversprechens zeigt.«130 Das Jetzt wird als sich immer wieder neu ereignender Weltanfang apostrophiert. »Die Schöpfung […] ist nun nicht Erhaltung im Sinn des Gewordenseins, sondern Erhaltung im Sinn des Werdens«.131 Statt auf der Mimesis, also der bloßen Abbildung der Wirklichkeit, fußt die Bloch’sche Ästhetik auf einer generischen Logik. Im zu bearbeitenden Stoff kann der Künstler das Werden des Lebens – von der Vergangenheit bis in die Zukunft hinein – zum Ausdruck bringen. Daher wird für Bloch »Erben als Auftrag des Künstlers zum Ausdruck für die notwendige Aktualisierung eines unabgegoltenen Anspruchs im Vergangenen.«132 Dass Utopie als Zukunftsorientierung nicht von der Geschichte zu trennen ist, belegt die Prägung des Vor-Scheins durch in der Vergangenheit nicht erfüllte Ziel- und Wunschvorstellungen. Er gibt das, was gärt, zu erkennen 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132
Ebd., S. 40. Ebd., S. 233. Ebd., S. 232. Ebd., S. 371. Ebd. Ebd. B. Schmidt: Ernst Bloch, S. 53. F. Vidal: Ästhetik, S. 37. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 359. F. Vidal: Ästhetik, S. 30.
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und steht als Prozessgestalt durchaus in einer Nähe zu einem zentralen Kernelement der frühromantischen Kunstauffassung: »Ästhetik des Vor-Scheins ist Ästhetik des Fragments auch in dem Sinne, dass die ›vollendeten‹ Werke Fragmente sind«133 und dadurch einen unabschließbaren Deutungsprozess aufseiten der RezipientInnen anregen. Entscheidend ist für Bloch die Realisierbarkeit dessen, was die Fantasie antizipiert und sich letztlich innerhalb des Wechselspiels aus Produktion und Rezeption von Kunst manifestiert. Blindes Wunschdenken wird dem Real-Möglichen dabei nicht gerecht. Artefakte stehen daher grundsätzlich in einem Bezugsfeld zur Realität. Das Kunstwerk erweist sich als realistisch […] in der noch aufgehenden, selbst aus Staub und Zerfall hervorleuchtenden Antizipation einer Realität, die noch nicht ist und je nach erreichter Instanz im historisch-gesellschaftlichen Prozess auf eigene und besondere Weise zum Vorschein gebracht werden muss.134 Ästhetische Gebilde weisen über die Wirklichkeit hinaus und sind gleichzeitig inhärenter Teil derselben. Sie sind durch eine registrierende und gleichsam vorwegnehmende Funktion charakterisiert. Ihr erkenntnisbildendes Vermögen mittels des vom utopischen Potenzial durchsetzten Vorscheins gibt der Hoffnung ein Bild,135 insofern Kunstwerke – ausgehend von einem »Gefühl des Mangels im Gegenwärtigen [–] auf ein harmonische[s] Ganze[s] in [der] Zukunft«136 gerichtet sind. Man könnte daher »von einer durchgängigen ethischen Dimension des Ästhetischen bei Bloch sprechen.«137 Kunst ist aus dessen Perspektive dem Ideal der Verbesserung und Metamorphose des Realen verpflichtet, weswegen der in ihr gezeichnete Vorgriff stets Aktivität aufseiten des Rezipienten freisetzt. Als Korrelat der Hoffnung dienen künstlerische Werke zur Veränderung des Status quo. Das Verbindende ist die Aktivität: »Hoffen zu können, heißt daher nicht, die Welt in Geduld zu ertragen, sondern durch tätiges Handeln in den Prozess einzugreifen.«138 Da Bloch kulturelle Werke zu Trägern des Vor-Scheins und damit zu Initialzündern des Utopischen erklärt, stellt sich die Frage nach der Dechiffrierung des Antizipierbaren. Die in der Kunst sich herausbildenden Zukunftsdimensionen zu verstehen bzw. zugänglich zu machen, ist Teil einer im nachfolgenden Kapitel näher zu erläuternden, spezifischen Methode – handelt es sich doch um »utopische Potenziale, deren Entschlüsselung der philosophischen Deutung anheimgestellt
133 134 135 136 137 138
Ueding: Utopie in dürftiger Zeit (2009), S. 172. Ebd., S. 173. Vgl. F. Vidal: Ästhetik, S. 26. Ebd., S. 28. B. Schmidt: Kritik der reinen Utopie, S. 231. F. Vidal: Hoffnung, S. 205.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
ist.«139 Utopien stellen demnach stets eine Herausforderung für die Entwicklung von Deutungsverfahren dar.
2.5
Utopie als Methode
Da die vorliegende Studie die Frage nach der Anwendbarkeit des utopischen Denkens, bezogen auf die Gattung Lyrik, aufwirft, erfordert die Analyse ein adäquates methodisches Vorgehen – allein um nicht der topischen Vagheit des Begriffs der Utopie zu erliegen. Damit verbunden ist eine Forschungsrichtung, die sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herauskristallisiert hat, nämlich die Utopian Studies.140 Weniger – wie in der Sozial- und Staatsutopien – die Bestimmung dessen, was Möglichkeitswelten im Wesentlichen ausmacht, als vielmehr die Überlegung, wie utopisches Denken konkret und plausibel als Kulturtechnik nutzbar gemacht werden kann, steht im Zentrum dieser neueren Strömung. Dabei lassen sich in der Diskussion um Utopie als Methode grob zwei Zugänge identifizieren: Zum einen jene Richtung, die, hauptsächlich verbunden mit Ruth Levitas, die analytische Perspektive in den Blick nimmt, indem sie Kriterien und Instrumente für eine Bestimmung, Eingrenzung und Klassifikation des Utopischen zu begründen versucht. Zum anderen wird mit Burghard Schmidt ein an Bloch anknüpfendes Utopieverständnis erkennbar, dessen Schwerpunkt auf der Praxis des Möglichkeitsdenkens liegt. Beide Ansätze eint die Elaboration von Optionen, ausgehend von der Untersuchung und Bewertung des Status quo. Soll die Wirklichkeit mit den Möglichkeiten verglichen werden, die sie umgeben, so ist ein vertieftes Verständnis des Wirklichen mittels Abstandnehmen und ›Überschreiten‹ (survol) unbedingt notwendig […]. [Die Utopie] besteht vor allem darin, die gegenwärtige Welt gleichsam von außen her zu betrachten, vom Standpunkt eines Reisenden.141 Die analytische Stärke einer utopischen Methode wird insbesondere von Levitas betont. Ihr soziologisch geprägter Fokus gilt einer hermeneutischen Praxis,142 basierend auf der Erwartung, dass mithilfe sozialer Theorien und Modelle der
139 W. Jung: Vor-Schein, S. 668. 140 Levitas ordnet die Utopian Studies folgendermaßen ein: »From the 1970s utopian studies emerged as a distinct interdisciplinary academic field, but it has until recently been dominated by historical and literary orientations and a tendency to define utopia itself in terms of form, as a literary genre.« R. Levitas: Utopia as Method, S. 103. 141 R. Ruyer: Die utopische Methode, S. 349. 142 Vgl. R. Levitas: Utopia as Method, xiii.
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Zustand der Welt auf Alternativen hin zu befragen sei.143 Der methodische Ansatz »identifies processes that are already entailed in utopian speculation, in utopian scholarship and in transformative politics and indeed in social theory.«144 Die »imaginary Reconstitution of Society as a method« umfasst dabei drei operative Modi: einen »archeological«, einen »ontological« sowie einen »architectural« Aspekt.145 Um Alternativen zur Gegenwart zu entwickeln, gewährleistet das archäologische Teilverfahren eine erste Bestandaufnahme. Es gründet auf einem »piecing together the images of the good society that are embedded in political programmes and social and economic policies.«146 Der seinsbezogene Gesichtspunkt eruiert weniger den makrosystemischen Überbau, sondern die Voraussetzung aufseiten der einzelnen AkteurInnen. Welche Fähigkeiten können und müssen die Mitglieder einer Gesellschaft zu deren Weiterentwicklung mitbringen? Unter welchen Bedingungen sind Menschen zukunftsorientiert und glücklich?147 Solcherlei Fragen zeigen, dass sich die utopische Methode als hermeneutische Praxis nicht allein auf die gesellschaftliche Ebene beschränken kann. Vielmehr scheint es geboten, ebenso das Individuum mit seinen Wünschen und Bedürfnisse ausreichend zu berücksichtigen. »The central point of the ontological mode is that the utopian method necessarily involves claims about who we are and who we might and should be.«148 Aufbauend auf den beiden skizzierten Teilverfahren folgt mit der »architektonischen« und letzten Phase das »imagining a reconstructed world and describing its social institutions.«149 Zuletzt geht es somit um die Kreation, um produktive Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse. Ähnlich wie bei Bloch nimmt in Levitas’ Ansatz der Prozess der gedanklichen Ausgestaltung einen zentralen Stellenwert ein: Utopia […] is best regarded as a method that is both hermeneutic and constitutive. In its hermeneutic mode, it identifies the various and fragmentary expressions of desire. In its constitutive or constructive mode as the Imaginary Reconstruction of Society, it is inherently sociological.150 Die Hermeneutik richtet sich also auf Potenziale der Hoffnung, auf die Identifizierung von Mangelzuständen in der Gegenwart, woraus anschließend die Konstruktion einer besseren Zukunft folgen soll. Da Levitas somit im Gegensatz zur
143 144 145 146 147 148 149 150
Vgl. ebd., S. 104. Ebd., xiv. Ebd., xvii. (Herv. im Original) Ebd., S. 153. Vgl. ebd., S. 175ff. Ebd., S. 196. Ebd., S. 197. Ebd., S. 217.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
klassischen Systemutopie keine Vereindeutigung eines idealen Zustandes propagiert, baut ihr Modell auf einer elementaren Offenheit auf, weswegen sie auch die Entwicklung nebeneinander existierender Entwürfe begrüßt. Gerichtet wird der »Blick auf eine Pluralität von Utopien, die sich weder ablösen noch zerstören müssen, sondern durch intellektuellen Überblick in Relation zueinander gebracht werden sollen.«151 Diese Möglichkeit offeriert Levitas’ dreigliedriges Modell. Obgleich ihr Augenmerk somit primär auf der hermeneutischen Praxis im Hinblick auf das Utopische (als Methode) liegt, sieht sie einen konstitutiven Bedingungszusammenhang zwischen Analyse und Handlungsorientierung: »The risk here is that utopia becomes a vehicle only of critique rather than to transformation. The best work implied a dialectic of openness and closure, transcending that binary through an implicit though not yet conscious treatment of utopia as method.«152 Was in dieser Passage anklingt, ist die Notwendigkeit der Ergänzung der Hermeneutik um einen motivationalen Anteil, wie er in der »architektonischen« Phase schlussendlich noch zum Tragen kommt. An die aktivierende Komponente knüpfen auch Theoriebildung und -fortschreibungen weiterer Autoren aus dem Feld der Utopian Studies an. Die Methode als handlungsorientiertes Konzept wird von Ruyer als »geistiges Experimentieren mit Möglichkeiten«153 definiert. Sie impliziert »eine Übung oder ein Spiel mit den möglichen Erweiterungen der Realität. Der Intellekt äußert sich in der utopischen Denkweise als ›Fähigkeit zu Denkübung am Konkreten‹.«154 Nachdem im ersten Schritt ein besseres Verständnis der Wirklichkeit, wie sie ist, erfolgt, loten die UtopistInnen Veränderungspotenziale aus. Indem dabei Gegebenheiten auf sämtliche Modifizierungsoptionen hin befragt werden,155 findet ein Austesten der Grenzen der Realität statt. Dies bedeutet nicht, dass das Utopische grundsätzlich die faktischen Beschränkungen der Wirklichkeit überschreitet. Vielmehr betont Ruyer die Notwendigkeit der Grenzüberschreitung im Vorstellungsvermögen. Weniger die Wahrheit als vielmehr eine Steigerung des Bewusstseins [werden] angestrebt. Wenn man eine Hypothese entwickelt, die sich nicht nur alternativ zur bestehenden Wirklichkeit, sondern auch ›alternativ zum Wahren‹ verhält – und damit schlechthin falsch ist –, kann man sehr wohl das Bewusstsein vom Ganzen des Systems erweitern und bereichern.156 Während Kompositionen idealstaatlicher Gesellschaften in der Zukunft oder an fernen, isolierten Orten stets auf ihre Wirklichkeitseignung hin geprüft werden 151 152 153 154 155 156
A. Neupert-Doppler : Utopie, S. 82. R. Levitas : Utopia as Method, S. 103. R. Ruyer: Die utopische Methode, S. 339. Ebd. Vgl. ebd., S. 340. Ebd., S. 346.
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und dafür die binäre Logik aus wahr und falsch eine maßgebliche Rolle bei der Bewertung der Utopie spielt, zielt Ruyers Ansatz vielmehr zunächst auf subjektive Erkenntnisweisen. Nicht das Faktische gilt es zu verändern, sondern das Denken über das Faktische und dessen Grenze zum Möglichen. Dazu bedarf es des Übergangs vom »Seinspessimismus zum Willensoptimismus […]. Die Verbreitung einer optimistischen Sicht der Möglichkeit sozialer Neugestaltung nach einem idealen Modell ist ein wesentliches Moment der utopischen Aufgabe.«157 Dieses transzendierende, hoffnungserfüllte Denken, das sich gegen Determinismus wendet,158 steht dabei grundsätzlich in enger Beziehung zur Realität, ohne sich aber von Anfang an deren Gesetzen völlig zu unterwerfen. Der »Übergang vom Zerfall der bestehenden Wirklichkeit zu ihrer Neuformierung«159 resultiert zuerst aus einer Loslösung vom Faktischen, um in einem zweiten Schritt die Realität im Lichte des erweiterten Bewusstseins verändern zu wollen. Damit diese utopische Methode im Sinne eines Spiels mit Möglichkeiten sowie des »Futurischen und Zukunftsoffenen«160 nicht einfach synonymfür eine Form der Intelligenz gehalten wird, müsse Ruyer zufolge als Bestimmungskriterium »eine Gesamtstruktur der Welt, wenigstens auf die Totalität einer humanen und sozialen Welt,«161 erkennbar werden. Das utopische Denken muss demnach die Ambition verfolgen, einen neuen Entwurf der Welt zu etablieren. Die methodische Zweiteilung konkretisiert Polak weiter: »Das utopische Denken ist gekennzeichnet durch Synchronisation und Metamorphose. Es bringt sich in Übereinstimmung mit der stets sich wandelnden Gegenwart und verwandelt die Zukunft.«162 Mit der Terminologie von Mannheim gesprochen, zielt die Umsetzung des Denkbarmöglichen folglich auf eine Deckung mit dem umliegenden Sein, wozu letztlich Verwandlungsprozesse nötig sind. Der Impuls zum Nachdenken über ein besseres Dasein ergibt sich aus der Erkenntnis einer Dissonanz. Das Subjekt empfindet seine Umwelt als defizitär. Damit die Sphären wieder in Einklang zueinander kommen, beginnt es, bessere Verhältnisse zu antizipieren und dafür die nötigen Veränderungen im Sinne von Transformationen einzuleiten. Diese wirken dadurch Entfremdungen entgegen. Die angestrebte Wunschrealität macht sich sowohl auf der sozialen Makro- als auch der individuellen Mikroebene bemerkbar. Denn »die Utopie intendiert die Entfaltung der menschlichen Würde durch die Anstrengung des Menschen selbst.«163
157 158 159 160 161 162 163
F. Polak: Wandel und bleibende Aufgabe der Utopie, S. 375. Vgl. ebd., S. 368. R. Ruyer: Die utopische Methode, S. 350. W. Voßkamp: Emblematik der Zukunft, S. 51. R. Ruyer: Die utopische Methode, S. 352. F. Polak: Wandel und bleibende Aufgabe der Utopie, S. 365. (Herv. im Original) Ebd., S. 369.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
Die zu dieser Umsetzung nötige Motivation wird markant in Schmidts Theorie deutlich, indem er im Gegensatz zu den eng gefassten Vorstellungen optimaler Staats- und Gesellschaftskonstruktionen eine prinzipielle Ausdehnung des definitorischen Rahmens des Utopischen vorsieht: »Eine Erweiterung des Utopiebegriffs dagegen aus seinen ursprünglichen Fassungen heraus über den Wunschaffekt macht möglich, ihn als Grundkategorie der Phantasieproduktion, also auch der literarischen, zu entwickeln.«164 Im Zentrum steht die »Verwirklichungsintention«165 als Dreh- und Angelpunkt. Um den Bedeutungsgehalt dieser Aussage zu erfassen, ist ein genauerer Blick auf die Beziehung zwischen Utopie und Realität bei Schmidt nötig. Während selbst Blochs offenes Verständnis des Noch-NichtGewordenen auf eine sukzessive Konkretion des Novum hinausläuft, das Ziel also nicht dauerhaft abstrakt bleiben darf, sondern schließlich in der Wirklichkeit potenziell umzusetzen sein muss, weicht Schmidt diese Kondition für den utopischen Prozess auf. »Daher geht es dem utopischen Denken weniger um Realisierbarkeit als um die Motivationskraft zum Handeln«.166 Die Bedingung, dass die Imagination von Alternativen letztlich an eine denkbare Realwerdung gebunden sein müsse, tut Schmidt als Verengung des Möglichkeitsspektrums und zugleich Inflation des Utopischen ab: Das würde sie [die utopische Funktion] unter der Hand und im gemeinen Gebrauch reduzieren auf das Schema des zweckrationalen Handelns, das die Ziele selber nicht mehr zum Problem macht, sondern nur noch Realisierungsschritte prüft und schließlich zum Maß erklärt.167 Im Dienst der bloßen Realitätsveränderung hätte sie Schmidt zufolge nur »die Wahl zwischen Ironie und Reform«.168 Die Gesamtdimension der Utopie als Motivationskraft und Prozesskategorie bliebe folglich nicht ausreichend berücksichtigt. Eine potenzielle Manifestierbarkeit der utopischen Idee erweist sich in diesem Ansatz als rein sekundär. Anstelle von Realisierbarkeit spricht Schmidt daher eher vom Realitätsbezug als Kriterium der utopischen Funktion, der sich in vier Momente auseinander[]legen [lässt]: a) historisch-materielle Gründe der Utopie; b) das direkt kritische Verhältnis der Utopie zur Wirklichkeit und die Kritik im Gegen des Gegenbilds; c) das planende Entwerfen jeweils gegenwärtig möglicher Realisationsvorgänge im Sinn des Plans, der in jeder menschlichen Arbeit steckt; d) der Motivationscharakter der hypothetischen Versuchsentwürfe, wodurch sie nicht in Realisation sich erschöpfen, sondern die Veränderungsmacht
164 165 166 167 168
B. Schmidt: Kritik der reinen Methode, S. 2. Ebd., S. 14. Ebd., S. 16. Ebd., S. 37. Ebd., S. 229.
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des Realen befördern, das heißt eben die realen Tendenzen im Ausdruck ihrer Möglichkeiten durch Subjekt hindurch in Gang halten.169 Die Kritik an der Wirklichkeit mündet entsprechend der zitierten Passage in der Erneuerung der Verhältnisse. Die Arbeit als Planung trägt zugleich zur Aufrechterhaltung der Motivation, das Gegebene zu verändern, bei. Diese und andere bisher aufgezeigten Merkmale des Utopischen als Bewusstseinsform und Methode sollen im folgenden Kapitel Ausgangspunkt für die Übertragung der utopietheoretischen Annahmen auf die Gattung Lyrik sein. Der Brückenschlag soll vor allem der Bestimmung von grundlegenden Kriterien und Distinktionsmerkmalen für die Utopielyrik dienlich sein.
2.6
Lyrik und Utopie. Vorüberlegungen zu einer Synergie
Um einen definitorischen Rahmen für die neue Spezifikation »Utopielyrik« ziehen zu können, müssen Merkmale der Dichtung mit jenen des Utopischen, wie es in den vorigen Kapiteln skizziert wurde, verknüpft werden. Was die Lyrik an sich betrifft, so kapriziert sich die vorliegende Studie auf keine eng umschlossene Gattungsbeschreibung. Grundlegend sind zunächst einmal konventionelle Merkmale wie Prägnanz, relative Kürze, konzentrierte Polyvalenz170 im Zuge gesteigerter Zeichenhaftigkeit, die Subjektivität im lyrischen Ausdruck, die »Differenzerfahrung«171 in der Abweichung von der Alltagssprache. Darüber hinaus sei noch auf die konstituierenden Effekte der Sprache im Hinblick auf das lyrische Subjekt hingewiesen: Dieses »drückt sich in Sprache aus. Und nicht nur das, es sammelt sich in Sprache, fasst sich in ihr medial.«172 Im Akt des »Sammelns« rückt ein prozesshaftes Moment in das Zentrum des poetischen Ausdrucks, das in der weiteren Argumentation noch etwas näher beleuchtet werden soll. Denn wenn es darum geht, Anknüpfungspunkte zwischen dem Utopischen, verstanden als Denkbewegung und Bewusstseinserweiterung, und dem Poetischen aufzuzeigen, genügen die erwähnten klassischen Merkmale noch nicht. Vielmehr bedarf es angesichts des Prozesscharakters des Utopischen eines Lyrikverständnisses, das insofern weiter gefasst ist, als dass es die Performativität von Dichtung stärker berücksichtigt. Hierzu sei auf Jacobson und Götze verwiesen. Lyrik stellt ersterem zufolge eine untrennbare Einheit aus Form und Inhalt dar, wodurch zugunsten der Selbstreferenzialität der Rede deren Bezug zur Realwelt in den Hintergrund rückt – weit
169 170 171 172
Ebd., S. 41. Vgl. D. Grünewald: Das kreative Spiel. Lyrik und Illustration, S. 122. G. Waldmann: Produktiver Umgang mit Lyrik, S. 139. P. Rühmkorf/K. Fingergut: Bleib erschütterbar und widersteh, S. 256.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
stärker als dies bei Epik und Dramatik der Fall ist. Dies prägt den Begriff der Poetizität, der eng mit Lyrik verzahnt ist. Ihm liegt zugrunde, dass im poetischen Sprachgebrauch das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausbruch empfunden wird. Dadurch, daß die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbstständigen Wert erlangen.173 Die Loslösung von der Referenzialität sorgt demnach für eine Eigendynamik, eine Sprachbewegung, die das entscheidende Strukturmoment der poetischen Performativität auszeichnet. Dazu hält Götze fest: Performative Techniken hingegen führen im Prinzip zur Abschwächung dieser Referenz. Denn sie bezeichnen solche Darstellungsmittel, die der Tendenz nach den Eindruck erwecken oder bestärken, der Gegenstand der Darstellung würde erst eigentlich im Darstellungsakt geschaffen. Anders gesagt: Wenn sich der Gehalt eines Textes nicht oder kaum noch von den spezifischen Mitteln seiner Darbietung trennen und als außersprachliche Gegebenheit objektivieren lässt, kann man von erhöhter Performanz sprechen. Dieser nachlassende Objektbezug geht mit einer verstärkten Selbstbezüglichkeit der Sprache einher, so dass der Darstellungsakt selbst zum eigentlichen Gegenstand der Darstellung wird. Selbstbezug statt Weltbezug, so lautet hier gewissermaßen die Devise.174 Im Gegensatz zur Mimesis-Theorie175 versteckt sich hinter dem performativen Ansatz eine Strategie der »Verselbstständigung der Rede«.176 Die Poesie äußert sich somit als eine Praxis im Vollzug, was sowohl die Produktionsseite als auch die Rezeptionsseite einschließt. Ergibt sich aus diesem evolutionären Verständnis von Lyrik bereits eine Nähe zur Progressivität des Utopischen, so weist die nachfolgende Fokussierung Götzes eine noch deutlichere Übereinstimmung auf: »Das Gedicht bietet meines Erachtens eine Bewusstseinshaltung dar, die vom Leser in der ästhetischen Erfahrung als eine Möglichkeit seiner selbst, als Möglichkeit des eigenen Bewusstseins, wahrgenommen werden kann«.177 Hervorzuheben sind an dieser Zuschreibung zugleich mehrere Gesichtspunkte. Zunächst lässt sich das Gedicht als ›Bewusstseinshaltung‹ mit der Idee des Utopischen als Bewusstseinserweiterung und Denkhaltung, wie sie etwa bei Ruyer, aber auch Bloch
173 174 175 176 177
R. Jacobson: Was ist Poesie?, S. 79. M. Götze: Das Gedicht als ästhetische Rede, S. 328. Vgl. ebd. Ebd., S. 330. Ebd., S. 333.
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angelegt ist, verbinden. Weiterhin ist zu konstatieren, dass Götze darin die Möglichkeit der Selbsterkenntnis und -verortung der RezipientInnen annimmt. Die Suche nach der Identität erinnert ferner an Mannheims Explikation des Utopischen als sukzessive Annäherung zwischen dem inneren und dem äußeren Sein. Nichts anderes verfolgt die Identitätsherstellung, nämlich die Konformisierung zwischen der äußeren und inneren Welt. Damit ist zugleich die Frage nach der Grenze des Bewusstseins und letztlich auch der eigenen Sprache aufgeworfen. So könnte im Fall der Lyrik eine anthropologisch grundlegende und darin generisch konstitutive generelle Funktion in der spezifisch fokussierten Überprüfung und Entwicklung der Möglichkeiten von Sinnbildung durch Sprache gesehen werden: Lyrik erprobt, worüber der Mensch überhaupt sprechen kann und in wie vielen Weisen und Nuancen dies möglich ist. Damit aber werden nicht allein ›Welten‹ erzeugt, sondern vor allem deren Grenzen erfasst.178 Dieser Befund der Poesie als Gattung der sprachlichen und mentalen Grenzauslotung deckt sich letztlich auch mit Levitasʼ Auffassung des Utopischen: »The use of ›otherworldly‹ or utopian metaphors illustrate the limits of language«.179 Sowohl sie als auch Bloch und Landauer avisieren eine »Theorie der Praxis«,180 die eine Transzendierung des Bewusstseins und Veränderung der Realität zum Ziel hat. Zwar gehen die bereits erwähnten Annäherungen an den Begriff des Performativen im Kosmos der poetischen Sprache zunächst von einer Loslösung der Rede von der Realität aus, gleichwohl wirkt diese in einem zweiten Schritt wieder zurück auf die Wirklichkeit. Simon sieht im Performativen, bezogen auf das poetische Verständnis, daher eine Sprachverwendung […], in welcher das Sprechen unmittelbar die Wirklichkeit schafft, die es im Sprechakt aussagt. Viele soziale Praktiken sind vor allem über diese besondere Form des Hervorbringens zu verstehen – also über ein Hervorbringen, in dem eine symbolische Tätigkeit etwas erzeugt, das über die pure Zeichentätigkeit hinausgeht. Man kann mit Worten Tatsachen schaffen, und es lässt sich hier eine vage Analogie zur Dichtung ziehen: Poiesis wird in die Nähe des Performativen gestellt.181 Versteht man Lyrik als performativ, zeichnet diese sich somit als ambivalent aus: Sie vermag einen eigenen sprachlichen, von der faktischen Realität zunächst losgelösten Raum zu konstituieren und davon ausgehend proklamatorisch-evokativ in
178 179 180 181
R. Zymner: Funktionen der Lyrik, S. 113. R. Levitas: Utopia as Method, S. 106. A. Neupert-Doppler: Utopie, S. 74. R. Simon: Poetik und Poetizität, S. 25.
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die Realwelt zurückzuwirken, insofern Sprechen bzw. Aussagen einem wirklichkeitsschaffenden Handlungsakt gleicht. Dichtung steht bei Simon somit grundsätzlich im Zeichen der »permanente[n] Ausweitung des Ästhetischen, als Grenzverschiebung nach außen hin.«182 Nimmt man an, dass die Ausreizung von Grenzen dem Utopischen und der Lyrik gemein sind, soll letztere als methodische Ausgestaltung des Utopischen verstanden werden. »Für Landauer, Bloch und Mannheim führt Utopie zum Handeln«,183 das sich im poetischen Text als ein Sprachhandeln ausdrückt und, wie Bloch in seinen Notaten zur Poesie festhält, eben über den bloßen Text weit hinausreicht: Statt sich zu verkapseln, hatte und hat es die ursprüngliche poetische Anlage doch an sich, eine expandierende zu sein […]. Also liegt im echten poetischen Drang implicite ein Verlangen nach beleuchteter Weite, mehr: nach Karte, Kompaß, Unterweisung, Klarheit.184 Dichtung, so Bloch weiter, »bezieht sich auf das noch nicht Verwirklichte, auf die Tendenz und das real Mögliche in der Wirklichkeit selber«.185 Es wird eine Verbindung zwischen der wirkungsästhetischen Dimension der Gattung Lyrik und der in dieser Studie forcierten Utopiekonzeption erkennbar. Davon ausgehend gilt es nun, definitorische Merkmale für die Spezifikation der Utopielyrik festzulegen. Konstatiert werden muss im Hinblick auf die nachfolgende Liste, dass nicht alle Kriterien in demselben Ausmaß auf jedes der Kategorie zuzuordnende poetische Werk gleichermaßen zutreffen müssen. Vielmehr genügt eine aussagekräftige Kombination. Als Utopielyrik sollen dichterische Zeugnisse gelten, wenn 1. sie im Allgemeinen ein Möglichkeitsdenken vorführen und durch eine hermeneutische Offenheit gekennzeichnet sind; 2. sie Überschreitungen eines als defizitär befundenen Ist-Zustandes hin zu einem Soll-Zustand inhaltlich und sprachlich vollziehen; 3. sie eine Prozesshaftigkeit und Antizipation zu erkennen geben – diese Merkmale können sich auf eine Entwicklung von der Vergangenheit in die Zukunft oder generell auf die Analyse von noch zu realisierenden Anlagen beziehen; 4. sie Leerstellen offenbaren, die motivational zu einem interpretatorischen Ausfüllen bzw. einer Konkretisierung aufseiten der RezipientInnen anregen; 5. dialektische Bewegungen, beispielsweise zwischen Subjekt und Objekt, außen und innen, Vergangenheit und Zukunft zu beobachten sind; damit verbunden
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Ebd., S. 39. A. Neupert-Doppler: Utopie, S. 77. E. Bloch: Naturstimme und Klarheit, S. 173. Ebd., S. 178.
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sind – äquivalent zu Blochs Dunkel des gelebten Augenblicks – Konfigurationen der Mitte, in denen eine Entstehung von Neuem aus der unmittelbaren Gegenwart heraus stattfindet; 6. sich Verwandlungsmomente ereignen und neue Zukunftsentwürfe sichtbar werden. 7. visionäre respektive alternative Gesellschaftskonstruktionen aufgerufen werden. Die Gesamtheit der aufgeführten Punkte dient einer literaturwissenschaftlichen Anwendung utopietheoretischer Grundlagen. Im Groben spiegeln sie Levitasʼ dreiphasige Methode (»archäologisch« – »ontologisch« – »architektonisch«) wider. Der Utopielyrik kommt eine analytische Kompetenz zu, insofern in ihr Beschreibungen und Bewertungen einer vom lyrischen Ich bzw. vom Dichter erfahrenen Gegenwart vorkommen. Ferner fragt sie nach den Bedingungen für die Veränderung bzw. Verwandlung der Welt, wie sie Zimmer unter dem Terminus Ontologie der Möglichkeit [zusammenfasst], von der her sich das geschichtliche Werden als offener Zusammenhang objektiver Bedingungen und subjektiver Verwirklichungsintentionen der in diesen Bedingungen wirkenden Subjekte darstellen lässt […]. Alles Wirkliche enthält in sich objektive Möglichkeiten der Weiterentwicklung. Wirklichkeit wird also als ein unabschließbarer Prozess offener Vermittlungen begreifbar.186 Im dritten, »architektonischen« Teilschritt vermag Utopielyrik experimentelle Vorstellungen über die Zukunft anzuregen. Die fixierten Merkmale fokussieren zwar im Kern die Texte an sich, beziehen aber die Rolle des Rezipienten durchaus ein. Damit sich die Utopielyrik auch unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten entfaltet, bedarf es aktiver LeserInnen, die Impulse der Lektüre wahrnehmen und die Möglichkeitsanlagen des Gedichts zum Weiterdenken nutzen. Die verdichtete Polyvalenz von lyrischen Texten lädt dazu ein, »hermeneutics for interpreting works of art and culture as bearers of a future-oriented ›utopia function‹«187 zu erproben. Der Interpretationsprozess führt zur sukzessiven Konkretisierung dessen, was im Gedicht zumeist auf komprimiertem Raum angedeutet wird, und ist daher durch eine antizipative Ausrichtung gekennzeichnet. Als besonders geeignet können, wie das vierte utopielyrische Merkmal festlegt, Leerstellen gelten. Diese bezeichnen das Offene, Mögliche, nicht Vorhersehbare innerhalb einer Situation. Sie sind prinzipiell in jeder Situation, jedem Satz, jeder Geste vorhanden. Doch wo
186 J. Zimmer: Ungleichzeitigkeit und Utopie, S. 25. 187 D. Ayers/B. Hjartarson: New People of a New Life, S. 6.
2. Bestimmungsversuche des Utopischen
sie plötzlich als Irritation der gewohnten Wahrnehmungs- und Erfahrensweisen aufscheinen, können neue Erfahrungen möglich werden. Sie ermöglichen aber wahrscheinlich nicht zufällig Erfahrungsprozesse, sondern treten in solchen Prozessen in einer Art Fließgleichgewicht zutage, das zwischen dem Subjekt und seiner Biografie einerseits und den sozialen wie sinnlich konkreten Gegenständen andererseits entsteht. In diesem fließenden Gleichgewicht sind Leerstellen als bedeutsame Momente der Einbindung des bis dahin Fremden, so bislang noch nicht der Wahrnehmung Zugänglichen im Rahmen von Erfahrungsprozessen anzusehen. Leerstellen kommen also dort produktiv ins Spiel, wo tatsächlich neue Erfahrungen entstehen und nicht nur die alten und bekannten wiederholt werden.188 Sie fungieren als zentrale Bestandteile einer am Utopischen orientierten Hermeneutik, indem sie zum imaginären Spiel mit unterschiedlichen Optionen inspirieren. Die Vorstellung, dass man »die Wirklichkeit grundsätzlich von ihren Möglichkeitshorizonten her wahrnimmt«,189 erfasst somit das Gedicht als eine eigene Wirklichkeit, deren Offenheit einen experimentellen Raum für eine utopische Praxis im Sinne einer Denkpraxis gewährt. Letztere zu kultivieren, ist die Gattung Lyrik adäquater imstande als die Prosa. Da die historisch insbesondere an den Roman gekoppelte Ausprägung der Utopie als Staats- bzw. Systemutopie zumeist einen geschlossenen Kosmos aus Gesetzen, politischen Institutionen und Lebenspraktiken konturiert, bleibt den LeserInnen weniger Gestaltungsmöglichkeit für die Entwicklung eigener Ideen alternativer Realitäten. Im Gegensatz dazu provoziert bei ihnen die hohe Konzentration an Zeichenhaftigkeit auf der einen und die Offenheit auf der anderen Seite in poetischen Werken beim Leser ein verstärktes Verstehens- und Imaginationsbemühen. Erst aus den Leerstellen heraus ergibt sich die Bedeutsamkeit und Wirksamkeit des Gedichts.190 Die Utopielyrik ist demnach nicht nur durch innertextliche Spannungsverhältnisse bzw. Dialektiken definiert, sondern ebenso in ihrer Beziehung zur Leserin bzw. zum Leser. Indem die Rezipientinnen bzw. der Rezipient sich mit ihrem/seinem Vorwissen und ihrer/seiner Persönlichkeit selbst im Text spiegelt und gleichzeitig auf das Andere einlässt, entsteht in deren/dessen Vorstellung ein Novum. Götze spricht im Hinblick auf dieses von ihm grundsätzlich der Lyrik zugeschriebene Wechselspiel auch von einer »Bewusstseinsdiegese«.191 Sowohl das Selbstbild als auch die eigene Verortung des Lesers in seinem Dasein werden dadurch berührt. Denn »eine solche Darbietung ist prinzipiell in der Lage, einen Welthorizont zu
188 189 190 191
M. Blohm: Leerstellen, S. 16. J. Zimmer: Ungleichzeitigkeit und Utopie, S. 27. Vgl. K. Felsner/H. Helbig: Arbeitsbuch Lyrik, S. 252. M. Götze: Das Gedicht als ästhetische Rede, S. 334.
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eröffnen, sofern Bewusstsein nicht nur in der Welt stattfindet, sondern sich auch immer zur Welt und zu sich selbst verhält.«192 Utopielyrik ergänzt diesen Ansatz noch durch spezifische Grenzerfahrungen. Diese sind, gemäß dem fünften Merkmal, die gesteigerte Aufmerksamkeit für das Dunkel des gelebten Augenblicks und, wie im dritten Punkt erwähnt, die Antizipation. Utopielyrik kann im Sinne Blochs zum Träger des Vor-Scheins werden. Ihre vermittelnde Rolle leistet einen Beitrag zum Herausbilden des Novums aufseiten der RezipientInnen. Nachdem sie die utopischen Anlagen im Gedicht aufdecken, beginnt die Realisierung. Diese baut auf dem Ziel auf, das anfangs Noch-NichtGewordene mehr und mehr auszuformen, d.h. zu erkennen und einen sprachlichen adäquaten Ausdruck dafür zu finden. »Der echte utopische Wille ist durchaus kein unendliches Streben, vielmehr: er will das bloß Unmittelbare und derart so Unbesessene des Sich-Befindens und Da-Seins als endlich vermittelt, erhellt und erfüllt, als glücklich-adäquat erfüllt.«193 Diesem Drang zur Erfassung des nur schwer Erfassbaren folgen auch die poetischen Werke Friedrich Hölderlins. Seine Texte offerieren durch antizipative, dialektische und gesellschaftsvisionäre Elemente genügend Ansatzmöglichkeiten für eine utopielyrische Einordnung. »Während die klassische Dichtung durch eindeutige Positionen gekennzeichnet ist, betont Hölderlin […] das Sowohl/Als-Auch«.194 Diese für die Problemheuristik der vorliegenden Arbeit bestimmende Offenheit näher zu analysieren, ist im Folgenden Gegenstand der ersten Werkanalyse.
192 Ebd., S. 333. (Hervor. im Original) 193 E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 15. 194 I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 102.
3. Zwischen Dichterasyl und egalitärer Gesellschaft Friedrich Hölderlins poetische Utopien
Ästhetik und Ethik stehen in Friedrich Hölderlins literarischem Kosmos in einer so engen wie dynamischen Beziehung zueinander und sind Teil des Verständnisses einer »harmonisch-entgegengesetzten Poesie«.1 Zwar zielt diese, die verschiedene antinomische Kräfte in sich vereinen soll, auf eine Identität von Sprache und Inhalt sowie Kunst und Politik. Gleichwohl garantiert die Aufrechterhaltung von Polaritäten erst die für den Dichter so zentrale Lebendigkeit und Offenheit seiner Texte. Wie die folgenden Analysen verdeutlichen werden, lässt diese Ambition Rückschlüsse auf utopische Denk- und Antizipationsweisen sowohl auf der Ebene des Subjekts als auch auf der Ebene der Gesellschaft zu.
3.1
Im »freundliche[n] Asyl«: Hölderlins Dichterutopie
Hölderlins politische Utopie einer egalitären Gesellschaft, wie sie noch vertiefend in den nachfolgenden Kapiteln skizziert wird, schließt die individuelle Vervollkommnung nicht aus. Die Erfüllung und das Zu-sich-Kommen des Subjekts respektive dessen Selbstbestimmung scheinen ferner eine Grundvoraussetzung für ein gelingendes Einfinden in die Gemeinschaft darzustellen.2 Hölderlins eigene Position erweist sich in diesem Rahmen als ambivalent: Einerseits gilt sein Fokus der Etablierung einer spezifischen Idealform des sozialen Zusammenlebens, andererseits war er Zeit seines Lebens ein kaum anschlussfähiger Außenseiter, der sich weder in der romantischen Literatur noch im Schillerschen Klassizismus beheimatet fühlte.3
1 2 3
Ebd., S. 119. Vgl. M. Vöhler: Frühe Hymnen, S. 306. Hölderlin lehnte Schiller Klassizismus insbesondere ab, weil diese Antike und Moderne auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen wollte. Vgl. P. Szondi: Schriften I., S. 317.
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Jenes eigene Schicksal mag wohl auch der Ausgangspunkt für seine 1799 entstandene alkäische Ode Mein Eigentum4 gewesen sein. Der Text verhandelt die Opposition zwischen dichterischem, instabilem Subjekt und der bürgerlichen Gesellschaft, die Constantia und Ruhe repräsentiert.5 Die erste Strophe ruft die Impression eines Herbstages im Weinberg auf. Die Natur und ihre Früchte werden personifiziert. So »ruhet der Herbsttag« (V. 1) und »geläutert ist die Traub« (V. 2). Es dominiert ein idyllischer Eindruck, der sich im zweiten der insgesamt 13 Quartette fortsetzt. Beschrieben werden die »Zufriedenen« (V. 6), deren »Gut gereift« (V. 7) ist, wodurch sie zu Wohlstand gekommen sind. Das lyrische Ich befindet sich in Opposition zu der bürgerlichen Hemisphäre, die durch »Mühe« und »Reichtum« (V. 8) charakterisiert wird. Obwohl Hölderlin anfangs eine vermeintlich einseitige Positivierung der »Geschäftigen« zuungunsten dieses einsamen Vagabunden vornimmt, trügt dieser Schein. Vom Himmel blicket zu den Geschäftigen Durch ihre Bäume milde das Licht herab, Die Freude teilend, denn es wuchs durch Hände der Menschen allein die Frucht nicht. Und leuchtest du, o Goldnes, auch mir, und wehst Auch du mir wieder Lüftchen, als segnetest Du eine Freude mir, wie einst, und Irrst, wie um Glückliche, mir am Busen. (V. 9-16) Dass den Menschen die Frucht nicht allein durch ihre Hände wuchs, sondern deren Ertrag noch einer anderen Kraft geschuldet ist, bringt die Natur als personifiziertes Drittes und als das entscheidende Movens bzw. dynamische Prinzip der Welt6 ins Spiel. In der direkten Ansprache jener Kraft, die nun metonymisiert im elegisch besungenen »Goldne[n]« (V. 13) zutage tritt, fragt das Textsubjekt, ob es selbst auch in dessen Genuß gelangen könnte. Während in dieser Rede noch der Konjunktiv vorherrscht und sich das lyrische Ich in Orientierungslosigkeit befindet, gewährt die nostalgische Hinwendung zur Vergangenheit einen Blick auf bessere und von Sicherheit geprägte Zeiten. Verschiedene Vergleiche skizzieren die aktuell zerrissene Seelenlandschaft des Subjekts. In den Versen »doch wie Rosen, vergänglich war/Das fromme Leben« (V. 17f.) wird die Flüchtigkeit des Daseins zum Thema. Selbst die Heimat, verbunden mit dem »fromme[n] Weib,/Am eignen Herd« (V. 21f.), erscheint kaum »wie die Pflanze, wurzelt auf eignem Grund/Sie nicht« (V. 4 5 6
F. Hölderlin: Kleine Stuttgarter Ausgabe I., S. 303-305. Im Folgenden wird die Ausgabe durch die Sigle »KSA« abgekürzt. Vgl. H. Kaulen: »Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl«, S. 10. Vgl. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 166.
3. Zwischen Dichterasyl und egalitärer Gesellschaft
25f.). Metaphorisch »verglüht die Seele des Sterblichen« (V. 26) in antithetischer Setzung gegenüber der ewigen, »heilige[n] Erde« (V. 28). Interpolaritäten sind ferner dem gesamten Gedicht inhärent. So ziehen die »himmlischen Höhen« (V. 29) das lyrische Ich »bei Stürmen, am heitern Tag« (V. 30) an, währenddessen es irdisch »stille den trauten Pfad« (V. 33) beschreitet und seinen Erinnerungen nachgeht. Letztere sind wie andere Abstrakta und Erscheinungen personifiziert, wodurch sich die dualistischen Entgegensetzungen verstärken. Erweist sich das Subjekt somit in der realen Welt als in sich uneins, sucht es seinen Halt in der Dichtung selbst. In dieser Betonung des individuellen Schicksals wird Adornos Auffassung von einer gesellschaftlich wirksamen Lyrik offenkundig. In seiner Rede über Lyrik und Gesellschaft hält er fest: Sie empfinden die Lyrik als ein der Gesellschaft Entgegengesetztes, durchaus Individuelles. Ihr Affekt hält daran fest, daß es so bleiben soll, daß der lyrische Ausdruck gegenständlicher Schwere entronnen, das Bild eines Lebens beschwöre, das frei sei vom Zwang der herrschenden Praxis, der Nützlichkeit, vom Druck der sturen Selbsterhaltung. Diese Forderung an die Lyrik jedoch, die des jungfräulichen Wortes, ist in sich selbst gesellschaftlich […]. Sein [des Gedichts] Abstand vom bloßen Dasein wird zum Maß von dessen Falschem und Schlechtem. Im Protest dagegen spricht das Gedicht den Traum einer Welt aus, in der es anders wäre.7 Der vermeintliche Eskapismus eines lyrischen Ich postuliert somit das Unbehagen an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Selbst wenn diese folglich nicht offensiv kritisiert werden, vermag sie der Text indirekt zu problematisieren. Gerade diese Bewegung ist der Orientierung am individuellen Dichterasyl in Hölderlins Poem zu eigen. Der Appell »Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl!« (V. 44) weist auf einen »Ort des Rückzuges und Schutzes«8 hin. Dort sollen die Komplemente aus »Herz« (V. 40) und »Seele« (V. 42) zur Ruhe finden. Motivisch assoziiert wird der Gesang mit dem »Garten« (V. 46) als Ort glücklichen und unentfremdeten Daseins. Die Heimat, verbunden mit »wohnen« (V. 48), im Poetischen auszumachen, bedeutet, sich gleichsam dem wiederum dazu konträren Strom der Zeit, der »Wandelbare[n]« (V. 50), zu entziehen: In sichrer Einfalt wohne, wenn draußen mir Mit ihren Wellen allen die mächtge Zeit, Die Wandelbare, fern rauscht und die Stillere Sonne mein Wirken fördert. (V. 48-51) Mit der erneuten Anrufung der Götter in der letzten Strophe, die das »Eigentum« (V. 53) des nomadischen Poeten, ergo den Gesang, »segne[n]« (V. 52) sollen, artiku7 8
T. W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft, S. 51f. R. Knübel: Hölderlins Leiden, S. 159.
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liert Hölderlin die Macht des Dichterpriestertums. Um den »Traum nicht ende[n]« (V. 54) zu lassen, bittet sein lyrisches Ich um Schutz vor den Schicksalsgöttinnen. Inwiefern lässt sich das Gedicht als Beispiel für eine Dichterutopie deuten? Impliziert werden »Vaterland und Heimat in der Dichtung vor allem als Hoffnung, Sehnsucht und Traum«,9 wobei sie primär noch in der Vergangenheit zu finden sind. Hölderlins poetischer Zugriff auf Zurückliegendes folgt der Idee, dieses weiter zu antizipieren und daraus Vorstellungen für die Zukunft zu generieren, wie Kreuzer betont: »Erinnernd begreifen wir unsere Endlichkeit und transzendieren sie, indem wir auf sie zurückkommen und sie wiederholen.«10 Das Zurückschauen ist bei Hölderlin grundsätzlich positiv konnotiert, weil es das Jetzt in ein produktives Verhältnis zu seinem geschichtlichen Werden setzt. Die Gegenwart des Leidens bildet darin, wie auch in anderen Texten des Poeten, eine nötige Voraussetzung für eine Nivellierung der Weltverhältnisse,11 wozu die Götter als visionäres Element ins Spiel kommen. Sehnt sich das lyrische Ich nach deren Präsenz, so offenbaren sie sich als Erwartung, als eine Größe, die noch im Kommen befindlich ist. Sie stehen für das Potenzial der Entwicklung. Es ist die Wirklichkeit des Übergangs, der für H. ›transcendental‹, d.h. Bedingung der Möglichkeit des ›Seins‹ geschichtlicher Realität ist. ›Transzendental‹ ist dabei präzise in dem Sinn zu verstehen, daß als Bedingung der Möglichkeit etwas wirklich erst dann ist, wenn es zu der Wirkung führt, der gegenüber es als unerschöpfter Möglichkeitsgrund gedacht wird.12 Das in der achten Strophe angedeutete Emporziehen des Subjekts durch die Himmlischen ist noch eher Motivation als Faktum. Mit seinem Appell erscheint der Dichter(priester) als »Sammelpunkt der Kräfte der Welt«.13 Seine Sprache bewirkt eine Transzendierung. Dieser Effekt ist allerdings keineswegs als monodirektional aufzufassen. Vielmehr kommt im »Wechseln« (V. 32) eine gegenseitige Beeinflussung der Sphären der Götter und des Poeten zum Ausdruck. In diesem Verhältnis äußert sich Hölderlins »harmonische Entgegensetzung, die die Dissonanzen aus der und in die allgemeine Einheit fließen lässt.«14 Denn worauf das Poem aufbaut, ist die produktive Spannung zwischen der Artikulation des Ich und dem Alteritären. Diese Wechselbeziehung stellt einerseits eine wesentliche Voraussetzung für die Konstituierung der Identität des Subjekts dar, insofern es
9 10 11 12 13 14
B. Schlink: Heimat als Utopie, S. 26. J. Kreuzer: Zeit, Sprache, Erinnerung, S. 149. Vgl. D. Henrich: Sein oder Nichts, S. 281. J. Kreuzer: Zeit, Sprache, Erinnerung, S. 153. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 168. N. Stefa: Die Entgegensetzung in Hölderlins Poetologie, S. 95.
3. Zwischen Dichterasyl und egalitärer Gesellschaft
sich im Fremden spiegelt,15 andererseits scheint ebenfalls das andere auf die Ausund Ansprache durch den Dichter angewiesen zu sein. Einzig er befindet sich in der Lage, die gegensätzlichen Sphären einer ästhetisierten Natur und der Götter in einer pathetischen Feier zu konservieren. »Das Bleiben richtet sich auf den dichterischen Akt als eine Arbeit gegen die Natur, als eine Erinnerung, die Dauer versprechen kann, weil sie in der ihr eigenen Buchstäblichkeit erst begründet, wovon sie spricht.«16 Woran sich das dichtende Ich erinnert, wird somit Gegenstand einer Poetisierung bzw. des Aufschreibens. Mittels der als Hervorgehensprozess zu verstehenden Erinnerung17 gelingt ihm eine »Integration der erfahrenen Objektwelt ins Subjekt«,18 insofern das Fremde und Äußere Teil einer sprachlichen Aneignung werden. Ferner wird die Brücke zwischen einem Gestern und einem Heute geschlagen. Die mentale Aktualisierung von Vergangenem bildet »jenes Moment, in dem der Übergang sich vollzieht von der unmittelbaren Erfahrung zur vermittelnden Reflexion und damit zum Bewußtsein.«19 Letzteres ist dazu prädestiniert, die Diskrepanz zwischen einem Ist- und einem Soll-Zustand zu erkennen und daraus wiederum Schlüsse für die Überwindung der Distanz dazwischen zu ziehen. Die utopische Zielrichtung forciert die Idee der Heimat als Inbegriff einer unentfremdeten Existenz. Diese versteht sich als eine ›bleibende Stätte‹, Sicherheit, Glück und Erfüllung gibt es für den, der hier schreibt, nur als Utopie. Und dieser [sic!] findet sich nur in der Poesie; sie allein erscheint als Refugium vor den Gefahren einer übermächtigen Außenwelt und als der wahre, die Zeiten möglicherweise überdauernde Besitz des Besitzlosen, sein ›Eigentum‹ eben.20 Gemäß Hölderlins Vorstellung ist das Selbstsein von dem Sein schlechthin getrennt,21 weswegen das Subjekt bemüht ist, »das Leben selbst auf dem Weg hin zur Einigkeit begriffen zu sehen. ›Sein‹ ist nun ein Wort, das der Aussicht darauf, dass dieses Ziel erreicht werden kann, eine einfache, eine letzte und als solche ontologische Deckung zuwachsen lässt.«22 Die erhoffte Konformisierung schlägt sich im »freundlich[en] Asyl« (V. 41) nieder. Als Resultat künstlerischer Imagination ist es an eine ethische Komponente gekoppelt, welche der Dichter auch in anderen poetischen Zusammenhängen
15 16 17 18 19 20 21 22
Vgl. S. Nowotny: Der Fehl der Namen, S. 198. Geisenhanslüke: Nach der Tragödie (2012), S. 155. Vgl. M. Hiller: ›Harmonisch entgegengesetzt‹, S. 106. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 117. Ebd., S. 122. H. Kaulen: »Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl«, S. 11. Vgl. D. Henrich: Sein oder Nichts, S. 250f. Ebd., S. 254.
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elaboriert: »Reife Menschlichkeit aber bedeutet ein heroisches Eremitenleben zu führen, wenn man in einer unmenschlichen Zeit lebt«.23 Das Asyl formiert einen auch politisch zu verstehenden Gegenort zur von Hölderlin als defizitär empfundenen Wirklichkeit. »Die faktische Weltkenntnis ist geradezu Voraussetzung für den Entwurf eines autonomen Möglichkeitsmodells«,24 der im vorliegenden Gedicht mit dem Garten assoziiert ist. Die Sonne soll darin das »Wirken förder[n]«. (V. 48) Während »die mächtge Zeit/Die Wandelbare« (V. 46) die Vanitas zur Begleiterin hat, präsentiert der Garten, ohnehin ein Ort der klassischen Utopie, »immerjunge[]« »Blüten« (V. 44). Diese evokativ geschaffene, zweite, ewige Natur stellt einen neuen Raum zwischen den »Sterblichen« und den »Himmelskräfte[n]« dar. Söring spricht hierbei auch von einem »poetische[n] Jenseits«. Darin verwirklicht sich »Dichtung als Utopie«.25 Das »Ich erscheint sich in der Welt [als] schöpferisches Erscheinen.«26 Ähnlich entfaltet Szondi die Dialektik von Eigenem und Fremdem in H.s Konzeption von Antike und Moderne und polemisiert […] gegen Heideggers Annahme einer ›Heimkehr ins Eigene‹. H. denke vielmehr die Vermittlung der Gegensätze, d.h. die Aneignung des Eigenen eben nicht um den Preis des Verlusts des Fremden.27 Gestalt gewinnt die utopische Vervollkommnung des lyrischen Ich somit in einer aktiv antizipierten Zwischenzone, worin Gegensätze nicht geglättet, sondern in ein stimmiges Verhältnis gesetzt werden. Da eine Konkretisierung des Dichterasyls ausbleibt und somit eine Leerstelle entsteht, lässt es sich als Sinnbild des Bloch’schen Noch-Nicht-Gewordenen bestimmen. Die Dyade aus Dichter und Utopie zieht sich nahezu durch das gesamte Œuvre Hölderlins und wird ebenso in seiner Hymne Der Gott der Jugend28 ersichtlich. Sie besteht aus sieben Oktetten, die im Jambus abgefasst und durch jeweils zwei Kreuzreime strukturiert sind. Nachdem das Gedicht, ein »Lobpreis der Jugend«,29 mit einem Zustand im »Dämmerlichte« (V. 1) beginnt, worin das »liebend Auge« (V. 4) als pars pro toto für das lyrische Ich lediglich vage Bilder aus der Vergangenheit wahrnimmt, steigen »Geister der Titanen/Des Altertums empor« (V. 8). Als empfänglich für sie erweist sich in der zweiten Strophe das personifizierte Herz (Vgl. V. 13) »als Sitz menschlicher Leidenschaft und menschlichen Empfindens«,30 in dem sich die »Verinnerlichung der Erfahrung«31 manifestiert. Das Subjekt be23 24 25 26 27 28 29 30 31
N. Stefa: Die Entgegensetzung in Hölderlins Poetologie, S. 140. H. J. Krysmanski: Die utopische Methode, S. 128. Beide Zitate: J. Söring: Figurationen des Utopischen, S. 396. S. Nowotny: Der Fehl der Namen, S. 200f. M. Janz: Benjamin – Adorno – Szondi, S. 442. KSA I, S. 196-197. S. Doering: Der Trost der Jugend, S. 234. U. Oelmann: Späteste Gedichte, S. 405. S. Doering: Der Trost der Jugend, S. 235.
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findet sich im Zustand von »der Ruhe Vorgefühl« (V. 14), um sogleich in der dritten Versgruppe zum aktiven Genuss aufgerufen zu werden: So such im stillen Tale Den blütenreichsten Hain, Und gieß aus goldner Schale Den frohen Opferwein! Noch lächelt unveraltet Des Herzens Frühling dir, Der Gott der Jugend waltet Noch über dir und mir. (V. 17-24) Der »blütenreichste Hain« verspricht dem lyrischen Ich einen locus amoenus, wo es selbst zu schöpferischer Tätigkeit angeregt wird. Der Appell an das Subjekt »aus goldner Schale/Den frohen Opferwein« (V. 19f.) zu gießen, liest sich als ein Impuls zur gestalterischen Tätigkeit inmitten der Idylle. Die Vergangenheit als Konstruktion des Mythischen steht dabei im Zentrum: Die Stiftung einer kultischen Handlung in Nachahmung des antiken Trankopfers ist für den Sänger der Gegenwart, der sich nicht mehr fraglos in dem selbstverständlichen Zyklus von Altern und Verjüngung aufgehoben weiß, die einzige Möglichkeit der Teilhabe an den beglükkenden (sic!) Erfahrungen der Vergangenheit, die nun allein in seinem Inneren zu neuem Leben erwachen.32 Durch den Hinweis auf der »Seele Saitenspiel« (V. 48) konturiert Hölderlin die Sprecherinstanz erneut als ein dichtendes Ich. Es ist ein Grenzgänger, der gerade in der Stille einen Zugang zum Heiligen und Numinosen und Mythischen finden kann.33 Der »Dichter« (V. 26) befindet sich in der vierten und fünften Strophe in einer Reverie. Anschaulich bedient sich das Poem der rhetorischen Figur des Vergleichs sowie temporal verwandter Wenn-Konjunktionen, die auf die Realität als Kontrast zu den Wunschinhalten hindeuten. Es dominiert daher zunächst das »Noch«, welches »die tröstende Vorstellung einer Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart«34 impliziert. Treffen in der imaginären Versenkung des Subjekts kreuzreimig »Götterträumen« (V. 27) auf »Bäumen« (V. 25) und »Platons Hallen« (V. 33), gemeint ist dessen »Akademie als Ort der Stille und Einkehr«,35 auf »Nachtigallen« (V. 35), so äußert sich darin zugleich die poetologische Utopie Hölderlins. Der Dichter seiner Hymne mag nur auf den ersten Blick von passivem und nostalgischem Gemüt erschei32 33 34 35
Ebd., S. 236. Vgl. H. Singer: Rilke und Hölderlin, S. 124. S. Doering: Der Trost der Jugend, S. 236. Ebd., S. 235.
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nen. Im Kern bringt er die Wirkungsimpulse der Natur mithilfe seiner poetischen Fantasie erst hervor und übersetzt die Vorstellungs- in eine Sprachbewegung. Er überführt sie in eine intersubjektiv verständliche Ordnung: »Durch die Vermittlung der Zeichen wird die Welt dem Bewußtsein erst verfügbar, es tritt ihr als souveränes Subjekt gegenüber.«36 So tritt »das Leben und de[r] Friede[]/Der freundlichen Natur« (V. 43f.), die das »Herz erfuhr« (V. 42), erst durch die Evokation von der Vergangenheit in die Gegenwart als Vergegenwärtigung. Den Impuls, Erfahrenes zu artikulieren und somit strukturgebend in das Zeichensystem der Sprache zu implementieren, kann man als einen utopischen Akt benennen. Ferner birgt die Du-Ansprache in der letzten Strophe eine appellatorische Funktion. Die Aufforderung »Drum such« (V. 49), die lediglich mit einer Abweichung im ersten Wort nochmals die dritte Strophe wiederholt, indiziert, dass ein Prozess mit noch ungewissem Ausgang angestoßen wird. Entsprechend der utopischen Methode ließe sich auch von einem motivatorischen Potenzial sprechen. Das Gegenüber wird ermuntert, den anfangs noch unklaren Vorstellungsinhalt fortzudenken und die Leere zu füllen. Von der friedlichen Natur ausgehend, formiert sich aus dem anfangs noch in einem an Blochs Vor-Schein erinnernden »Vorgefühl« das Ideal einer in der fünften Versgruppe erwähnten, vollkommenen und allumfassenden Liebe und Harmonie als oberstes Prinzip der Tübinger Hymnen.37 In ihr, zentriert im pars pro toto des Herzens, laufen Vergangenheit und Zukunft als Ausblick der letzten Strophe zusammen, wobei erstere ganz im Sinne Blochs im »komplexe[n] Reaktionsraum«38 Gegenwart fortwirkt. Mensch und Natur, die irdische und himmlische Sphäre, stehen (noch) nicht im Gegensatz zueinander. Erinnerung ist im Zugriff auf die mythische Vorzeit der Motor dieser Bewegung und realisiert sich in der Versprachlichung.39 Sie ist mit Beginn der ersten Strophe das Stimulans zur Überwindung von zeitlichen und räumlichen Dichotomien, sodass Hölderlin von ihr ausgehend seine utopische Dialektik entfaltet:40 Wenn die Erinnerung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem verbindet, dann schließt sie mit dieser Verbindung zugleich eine Differenz in sich. Davon geht H. aus. Geschichtlich-real bedeutet diese Differenz Übergang, d.h. die Auflösung einer alten ›Welt und Verbindung der Dinge‹ und die Herstellung einer neuen.41
36 37 38 39 40 41
R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 57. Vgl. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 114. J. Zimmer: Ungleichzeitigkeit und Utopie, S. 20. Vgl. J. Kreuzer: Zeit, Sprache, Erinnerung, S. 157. Vgl. N. Stefa: Die Entgegensetzung in Hölderlins Poetologie, S. 70. Ebd., S. 151.
3. Zwischen Dichterasyl und egalitärer Gesellschaft
Dieser Vorgang vermag zugleich den Einzelnen aus seiner Individuation zu lösen. Damit erfüllt sich Blochs Begriff von Freiheit. Diese »ist das Vermögen und die Möglichkeit, eine objektiv gegebene Situation zu überschreiten, bis die Situation der Intention gemäß geworden ist.«42 Entsprechend gipfelt die avisierte Deckungsgleichheit programmatisch in der dritten und letzten Strophe daher in den Versen »Der Gott der Jugend waltet/Noch über dir und mir.« (V. 23f., 55f.) Die Integration im »dir« schließt sowohl ein imaginäres Gegenüber als auch die Leserin bzw. den Leser ein und bezeichnet den Zustand des »Schöne[n]« (V. 9), welches zu Beginn »das Göttliche verhüllt« (V. 10) und in ethischer Hinsicht das Gute und Wahre umfasst. Dessen Verborgenheit hat einen ambigen Wesenszug. Zwar wird in ihm das Transzendente geheim gehalten, zugleich weiht das Gedicht die Leserin bzw. den Leser aber in das Wissen um dessen Verschlossenheit ein. »›Schönheit‹ schließt für Hölderlin Gegensätzlichkeit und damit ›die Spannung der Vielfalt‹ ein. Sie entsteht daraus, dass alle Teile aus demselben Ursprung des Lebens herrühren und an ihn erinnern. Auf diese Weise wird ›das Schöne‹ zugleich ›das Lebendige‹«.43 Menninghaus ergänzt überdies, dass das Schöne gerade aufgrund seines drohenden Verlusts bzw. seiner Fragilität als dynamische Kraft bei Hölderlin wirken kann. Erst die mögliche Unvollkommenheit vermittelt die Vorstellung eines Idealzustands,44 weswegen das Schöne im Kosmos des Dichters »als Grund der Erkenntnis«45 bezeichnet werden kann. Die anfangs vage Ahnung stimuliert die Freude an der Entdeckung. Sie zielt jedoch nicht auf eine metaphysische Ebene im Sinne einer schlichten Überwindung des Profanen. Ferner wird das Göttliche als eine irdisch-immanente, Entfremdungszustände aufhebende46 Utopie denkbar. Daher spricht der Autor seiner Dichtung »die Fähigkeit zu, ›Geistiges‹ und ›Leben‹ zu versöhnen.«47 Die Verse »Drum such im stillsten Tale/den düftenreichsten Hain« (V. 49f.) sowie »So schön ists noch hienieden« (V. 41) stehen im Zeichen eines diesseitigen Ideals des Schönen, das Hölderlin als Urbild der Schöpfung zur poetischen Nachahmung auserkoren hat48 – und zwar unmittelbar in der erfahrbaren, realen Welt. Getragen vom hymnischen Pathos, der enthusiastischen, vom Verkündigungshabitus geprägten Rede,49 lässt sich das Schöne darin als Medium der Liebe beschreiben. Ihm kommt »eine religiöse Vermittlungs- und Versöhnungsfunktion«50 zu. Erst indem es der Dichter ins Poetische integriert und er dem in der Ode Dichterberuf formulierten 42 43 44 45 46 47 48 49 50
E. Bloch: Einzige Invariante, S. 261. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 91. Vgl. W. Menninghaus: Hälfte des Lebens, S. 64f. und 66f. N. Stefa: Die Entgegensetzung in Hölderlins Poetologie, S. 177. Vgl. D. Henrich: Sein oder Nichts, S. 255. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 95. Vgl. M. Vöhler: Frühe Hymnen, S. 303. Vgl. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 156. W. Menninghaus: Hälfte des Lebens, S. 63.
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Anspruch gerecht wird, die prophetische Stimme eines Gottes bzw. einer höheren Sinninstanz zu sein sowie »Menschen über gemeinschaftliche religiöse Verhältnisse zu vereinigen«,51 dringt das, was es verhüllt, also das Transzendente, in das Bewusstsein der Menschen vor. Gemäß den Utopietheorien genügt es unterdessen nicht, nur passiv Emfangender eines epiphanischen Ausdrucks zu sein, vielmehr muss der Poet als Vorbild »›von dem Seinen‹ hinzutu[n]. Was er vermitteln kann, ist nicht mehr ein monolithisches Bild des Göttlichen, sondern es trägt auch subjektiv gefärbte Züge.«52 Gerade dieser Umstand trägt dazu bei, dass Altes nicht bloß erneuert wird, sondern der weiter zu realisierende Zielinhalt tatsächlich ein Novum darstellen soll. Nicht in allen Texten Hölderlins gibt sich das Ich direkt als dichtendes zu erkennen. Vielmehr tritt es zumeist erst aus spezifischen Konstellationen hervor. Das Gedicht Der Rhein53 erweitert die Sicht auf den Poeten bzw. dessen poetisches Sprechen: Während das Dichterasyl die soziale Distanz und das einsame Außenseitertum des Lyrikers als Voraussetzungen für poetische Existenz deklamiert, vermittelt der Gesang über den deutschen Fluss die Notwendigkeit der Alterität als anwesende Bezugsgröße für die Selbstbehauptung des Ich. Es handelt sich bei dem Text um einen der Vaterländischen Gesänge, bestehend aus fünfzehn Strophen. Den »Efeu« (V. 1) erblickend, deutet das lyrische Ich darin »in der imperfektischen Rückschau seine Situation als dionysische[n] Sänger, dem es darum geht, den Halbgott Rhein zu thematisieren.«54 Von Anfang an repräsentiert der Fluss, der vom Gebirge ins Land strömt, die antike Einheit aus Göttern und Menschen, Himmlischem und Irdischem. »Grundlegend in Hs. Vorstellung des Flusses ist die Bewegung, die Nahes und Fernes verbindet«.55 »Von Treppen des Alpengebirgs« (V. 4) bis hinein ins »Gebirg,/Tief unter den silbernen Gipfeln« (V. 16f.) fließt er, als alle Sphären verbindendes Glied. Obwohl sich der Fluss respektive Halbgott mit seinem Ursprung und Verschwinden in der Erde der Wahrnehmung der Menschen entzieht, vermag das lyrische Ich den »Jüngling« zu hören. Erneut hat es die Leserin bzw. der Leser mit einem prophetischen Dichter zu tun, der über den Zugang zu höheren Instanzen verfügt.56 Er fungiert als Vermittler57 zwischen personifizierten Naturkräften und -erscheinungen, darunter der »Mutter Erd« (V. 25), das »fröhliche[] Grün« (V. 18) oder der »Felsen Häupter« (V. 20). Auch der Rhein an sich trägt zur Verbindung bei, wie Ota mit Blick auf die Bedeutung der Quelle des Rheins festhält: »In Hölderlins poetischer Imagination symbolisiert das Alpengebirge als Geburtsraum des Rheins 51 52 53 54 55 56 57
U. Gaier: Späte Hymnen, Gesänge, Vaterländische Gesänge?, S. 165. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 65. KSA II, S. 149-156. A. Siekmann: »…nemlich zu Hauß ist der Geist Nicht im Anfang, nicht an der Quell«, S. 32. J.-D. Krebs: F. Hölderlin: Der Rhein: eine vaterländische Utopie?, S. 86. Vgl. A. Siekmann: »…nemlich zu Hauß ist der Geist Nicht im Anfang, nicht an der Quell«, S. 33. Vgl. M. Vöhler: Das Hervortreten des Dichters, S. 53.
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eine Schwelle zwischen Himmel und Erde«.58 Darüber hinaus fließt der Strom von Westen nach Osten. Jene Richtung ist deshalb von Bedeutung, weil sich im Südöstlichen die griechische Antike bemerkbar macht, die als konstruierte Erinnerung in dem vorliegenden Text in die Gegenwart hineinragt. Dieses »Was«, das »Reinentsprungene[]« (V. 46), bleibt zunächst ein »Rätsel« (V. 46), das nicht einmal die poetische Sprache aufzulösen vermag: »Der Gesang kaum darf es enthüllen« (V. 47). In der Gestalt des Rheins manifestieren sich, wie die Strophen fünf und sechs dokumentieren, ambivalente Ausdrucksweisen. Sowohl die Impulsivität, welche »die Erde [zu] spalten« (V. 74) imstande ist, als auch das »Stillwandeln[] […] im deutschen Lande« (V. 85) bilden Pole des dialektischen Charakters des Rheins. Obgleich er als Lebensader den Menschen dient und die »liebe[n] Kinder nährt/in Städten, die er gegründet« (V. 88f.), steht er ihnen auch gegenüber. In ihm wohnt der »Ursprung« (V. 94), das Göttliche, wonach die Menschen gemäß der siebten Strophe selbstüberschätzend trachten. Der Ursprung – in profaner wie metaphysischer Hinsicht – setzt Bewegung frei. Judex stellt in diesem Kontext ausführlich die utopische Markierung der Fließund Wassermetaphorik heraus, worin sich Blochs Vorstellung von der Prozesshaftigkeit des Werdens sowie des Dunkels des gelebten Augenblicks kundtun,59 der ja wie das fließende Wasser in keinem Augenblick fassbar wird. So ist der Strom in seiner Symbolik für Hölderlin in erster Linie […]: nicht festzuschreibender Ort kultureller Vermittlung und Transzendenz, Wanderer zwischen den Orten, das heißt, zwischen der Heimat und der griechischen Antike bzw. den fernen Kulturen als eigentlicher Ursprung des Abendlandes und möglicher Erfüllungsort der hesperischen Utopie.60 Als unmittelbar mit dem Changieren verknüpft, erweist sich im Rhein die Sehnsucht nach dem Anfang. »Wie der Strom will der Mensch zu seinem Ursprung zurückehren«,61 wozu er einer Struktur bedarf. Nur weil es Berge und Ufer gibt, vermag der personifizierte Rhein, in dem sich das »Reinentsprungene[]« (V. 46) manifestiert, überhaupt eine Form zu gewinnen. Er firmiert ferner als poetologische Chiffre eines dynamischen Dichtungsverständnisses. Im wellenartigen Fluss versinnbildlicht sich das Schreiben des Lyrikers, der zwischen dem profanen Raum und jenem der Götter eine vermittelnde Rolle einnimmt. Seine Stellung als Medium verdeutlicht folgende Passage: 58 59 60 61
K. Ota: Utopisches Denken in Hölderlins Stromgedichten, S. 373. Vgl. B. Judex: Friedrich Hölderlins Stromdichtungen als utopische Raum-Poetik, S. 237. Ebd., S. 228. Ebd., S. 230.
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Es haben aber an eigner Unsterblichkeit die Götter genug, und bedürfen Die Himmlischen eines Dings, So sinds Heroen und Menschen Und Sterbliche sonst. Denn weil Die Seligsten nichts fühlen von selbst, Muß wohl, wenn solches zu sagen Erlaubt ist, in der Götter Namen Teilnehmend fühlen ein Andrer, Den brauchen sie; (V. 75-84) Die Götter wie auch Künstler und Liebenden bedürfen eines Komplements, eines fühlenden, teilnehmenden Anderen. Insbesondere die Liebenden bezeichnen eine höchst fragile Dyade, die brechen kann: »Wer war es, der zuerst/Die Liebesbande verderbt/Und Stricke von ihnen gemacht hat?«62 (V. 66-68) Jene Verse sprechen »die unvermeidliche, mithin tragische, der Ursünde verwandte Ursprünglichkeit des Liebes-Dilemmas aus. Ohne Vermittlung, ohne – zum Teil – selbstgewählte Heteronomie wäre die Liebe selbstvernichtend«.63 Der utopische Reflex besteht darin, dass das verborgene Fremde mittels poetischer Evokation zugänglich, allerdings nicht gänzlich transparent wird und die Sprache selbst ermöglicht, dass das Subjekt sich im Bezogensein auf die Objektseite konstituiert.64 Als weiteres Merkmal, das den Dichter in Hölderlins Kosmos beschreibt, kommt oftmals dessen dionysisches Wesen hinzu. »Dionysos ist der belebende Gott, er ist ›Gemeingeist‹, der die Menschen verbindet; zugleich ist er der Kulturbringer, der sie Acker- und Weinbau lehrt, aber er ist auch Revolutionär.«65 Diese Figuration projiziert Hölderlin besonders auf den in Der Rhein erwähnten Philosophen Rousseau. Er wird »ausdrücklich als ein mit mythischen dionysischen Zügen versehener hymnischer Sänger apostrophiert, d.h. weniger als Subjekt der Tat denn als hermeneutisches und poetisches Subjekt der Dichtung dargestellt«,66 da ihn allen voran Attribute wie Reden, Hören und – durch den dezidierten Vergleich mit dem Weingott – sinnliche Wahrnehmung auszeichnen (Vgl. V. 91-115). Inwiefern kann der Denker in dem lyrischen Text »zum Wegbereiter einer neuen abendländischen Utopie«67 avancieren? Als einer der ›Söhne der Erde‹ ist Rousseau zwar ein mit dem Ursprung bekannter Halbgott, aber in der Betonung des Irdischen klingt auch das Motiv der Sterblich62 63 64 65 66 67
Ebd. B. Philipsen: Gesänge, S. 360. Vgl. T.W. Adorno: Parataxis, S. 193. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 41. B. Philipsen: Gesänge, S. 361. Ebd., S. 362.
3. Zwischen Dichterasyl und egalitärer Gesellschaft
keit und der (Selbst-)Beschränkung durch […] Das reflexive Moment (›bedenket‹, ›Dann scheint ihm oft das Beste‹) markiert die notwendige selbstvollzogene Distanz des ›sterbenden Mann[es]‹ zu der nicht-evidenten dionysischen Vermittlerrolle, die ihn in die Stelle jenes ›Anderen‹ oder ›Fremden‹ zwang, der ›in der Götter Nahmen teilnehmend fühlen‹ solle.68 Hölderlin literarisiert den Philosophen somit als ambivalente Person. Repräsentiert sie auf der einen Seite eine mit Vergänglichkeit, Erde und Natur verbundene Lebensgestalt, charakterisiert sie auf der anderen eine Halbgöttlichkeit, die das Dichterische mit dem Dionysischen vereint. »Es ist die Spannung zwischen der Tendenz, ins Grenzenlose hinaufgerissen zu werden, und der Notwendigkeit eines Menschenlebens, das in seinen behütenden Grenzen von der Begegnung mit dem Zerstörerisch-Unbegrenzten bewahrt bleibt.«69 Aufgrund dieser Spannung vermag eine ins Mythische gehobene, historische Figur zur Phalanx utopischen, d.h. insbesondere die Grenzen des bloß Realen übersteigenden Möglichkeitsdenkens zu reifen. Hölderlin nutzt den Mythos demnach als Transitorium. Hierin »kommt der Übergang zwischen den Gegensätzen unendlich-endlich, ideal-real zur Ruhe. Der Übergang kann aber wiederaktiviert werden, indem das Mythische selbst übergängig, umwandelbar wird.«70 Nicht zuletzt durch die Zwischenweltlichkeit des Dionysos respektive des symbolisch aufgeladenen Rousseaus vermählen sich die humane und metaphysische Sphäre zu einer »politisch-theologische[n] Gemeinschaftsvision, in deren Mitte die ›Liebenden‹ als Ziel einer umfassenden Einkehr evoziert werden.«71 Der Poet gewinnt an utopischer Bedeutung, weil ihm sein Einsichtsvermögen zur Antizipation des Noch-Nicht-Gewordenen und zur Verallgemeinerung des im Individuellen keimenden utopischen Kerns verhilft.
3.2
Eine Poetik der Gleichheit: Hölderlins Vorstellung einer herrschaftsfreien Gesellschaft
»Der Höchste, der ists, dem wir geeignet sind,/Daß näher, immerneu besungen/Ihn die befreundete Brust vernehme« (V. 14-16) – auch in diesen drei Versen aus Dichterberuf 72 verdeutlicht Hölderlin sein dichterisches Selbstverständnis, das insbesondere einer medialen Funktion dient. Der Dichter verfügt über ein besonderes Sensorium, zeichnet sich mit seiner »befreundete[n] Brust« durch eine Nähe zum Transzendenten aus. »Er erfasst Potenzielles, was noch im Raum der
68 69 70 71 72
Ebd. D. Henrich: Sein oder Nichts, S. 283. N. Stefa: Die Entgegensetzung in Hölderlins Poetologie, S. 206f. B. Philipsen: Gesänge, S. 362. KSA II, S. 47-49.
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›heiligen Dämmerung‹ im Entstehen begriffen ist.«73 Jene Zeichen des Ungefähren erinnern an Blochs Dunkel des gelebten Augenblicks,74 dessen Erhellung mit einer Hervorbringung des Utopischen zusammenfällt, und sind in Hölderlins Poesie mit dem metaphysischen Horizont verbunden. Alludiert wird immer wieder die Sphäre der Götter, die zu eröffnen eines Sprachrohrs und einer geeigneten Vermittlung bedarf. »Die Götter gehören der Natur an, doch aktiviert werden sie durch die Berührung mit der ›Kunst‹, d.h. dem menschlichen Bewusstsein. Es ist der Mensch, der den Göttern Wirkungsmacht verleiht.«75 Worin diese genau besteht, lässt sich insbesondere an den Elegien Stuttgart und Brot und Wein ablesen. Die erste76 setzt mit einer harmonischen Zustandsbeschreibung von Land und Natur ein. Die frühlingshafte Stimmung schlägt sich in einem paradiesisch verklärten Ort, dem titelgebenden Stuttgart, nieder. Im Geist eines republikanisch verfassten Vaterlandes, das gegenüber der unbefriedigenden Realität eines zersplitterten und noch weitestgehend von Fürsten regierten deutschsprachigen Raumes als sozialutopisches Ideal firmiert, stellt es einen Ort der Zusammenkunft, einen Ort des beschworenen »Wir« dar: Eins nur gilt für den Tag, das Vaterland und des Opfers Festlicher Flamme wirft jeder sein Eigenes zu. Darum kränzt der gemeinsame Gott umsäuselnd das Haar uns (V. 29-31) Ausgangspunkt ist hier das sich in die Natur hineinsteigernde, bacchantische,77 wandernde sowie dichtende Individuum. Seine »Vermittlerrolle« verbindet »die Höhen mit den menschlichen Ebenen«.78 Indem jedes sein Eigenes gibt, formt sich eine Gemeinschaft heraus, geeint in einem gemeinsamen Gott. Dieser ist »im Sinne eines Hegelschen Weltgeistes, der als Geschichte sich erst verwirklicht«,79 zu verstehen. Die »geschichtliche Erfahrung« soll »das ›Innigste‹ aber nicht nur abbilden, sondern sprachlich verdichten und verwirklichen.«80 Rühle bringt zum Ausdruck, dass im Text selbst noch eine Entwicklung stattfindet. Diese performative Qualität, die eben über eine bloße Deskription der Verhältnisse hinausgeht, trägt dazu bei, dass der Weltgeist die soziale Vereinigung in der Sprache evoziert und vorantreibt. Konkret forciert der Prozess eine Integration von Vielfalt und Gegensätzen:
73 74 75 76 77 78 79 80
I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 89. Vgl. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 334. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 41. KSA II, S. 90-93. Vgl. A. Thomasberger: Oden, S. 315. Beide Zitate: J.-D. Krebs: F. Hölderlin: Der Rhein. Eine vaterländische Utopie?, S. 94. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 157. V. Rühle: Geschichtserfahrung und poetische Geschichtsschreibung, S. 150.
3. Zwischen Dichterasyl und egalitärer Gesellschaft
Dies bedeutet der Tisch, der geehrte, wenn, wie die Bienen, Rund um den Eichbaum, wir sitzen und singen um ihn, Dies der Pokale Klang, und darum zwinget die wilden Seelen der streitenden Männer zusammen der Chor. (V. 33-36) Im gemeinsamen Stimmenraum des Chors wird ein poetisch hergestellter Möglichkeitsort manifestiert, der Unterschiede, ohne sie zu glätten, in eine versöhnliche, geradezu sozialutopische81 Konstellation überführt. Die »wilden/Seelen der streitenden Männer« schlagen sich anschaulich in der inversiven Satzkonstruktion nieder, die in der vorliegenden Passage keinerlei grammatikalischer Normierung unterzogen wird. Im Chor, wie er hier entworfen wird, bleibt Differenz vorhanden. Bereits in der ersten Versgruppe nimmt diese Zusammenführung von Dissonantem im Rückbezug auf eine natürliche Ursprungsidylle Gestalt an: Offen steht jetzt wieder ein Saal, und gesund ist der Garten, Und von Regen erfrischt rauschet das glänzende Tal, Hoch von Gewächsen, es schwellen die Bäch und alle gebundnen Fittige wagen sich wieder ins Reich des Gesangs. Voll ist die Luft von Fröhlichen jetzt und die Stadt und der Hain ist Rings von zufriedenen Kindern des Himmels erfüllt. (V. 3-8) »Gesund«, »erfrischt« und »glänzend« sind positive Attribute für die verklärte, realweltliche Referenz auf Stuttgart, das sich als eine Art »Musentempel«82 erweist. Die Verwendung des Präsens sowie der Hinweis auf die »Fittige«, welche sich in der Verlaufsform des »wagen« in das »Reich des Gesangs« begeben, belegen das Geschehen im Prozess. Erst das dichterische Hervorbringen bezeugt ein utopisches Geschehen, nämlich das »Umschaffen der Wirklichkeit zum Ideal«83 – oder wie Ott etwas freier schreibt: Die Anrufung von Helden und Göttern gerät zum magischen Akt. Indem er ihre Namen nennt, haucht der Dichter ihnen Leben ein. Aus Wort wird Fleisch, wie es am Anfang des Johannesevangeliums heißt. Dichtung bildet nicht die Wirklichkeit ab, sie erzeugt Wirklichkeit.84 Die Transformation der Stadt in einen imaginären Wunschraum, das den Fremden freundlich empfangende »glückliche[n] Stuttgart« (V. 78) zeichnet das »Dionysische als Zeichen der politischen Utopie«85 aus. Rauschhaft wird ein elysischer Ort beschrieben: 81 82 83 84 85
Vgl. B. Philipsen: Gesänge, S. 354. U. Degner: Bilder im Wechsel der Töne, S. 140. Ebd., S. 143. K.-H. Ott: Hölderlins Geister, S. 29. W. Groddeck: Elegien, S. 332.
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Heilig ist mir der Ort, an beiden Ufern, der Fels auch, Der mit Garten und Haus grün aus den Wellen sich hebt. Dort begegnen wir uns; o gütiges Licht! wo zuerst mich Deiner gefühlteren Strahlen mich einer betraf. Dort begann und beginnt das liebe Leben von neuem; (V. 44-48) Wo die Liebe als verbindende Kraft erscheint, macht sich eine Zwischen- respektive Übergangszone, verbunden mit der »Grenze des Lands« (V. 39), bemerkbar. Um sie zu erreichen, betont das Subjekt mehrfach sein von der Sehnsucht nach »Heimischsein«86 motiviertes Entgegenkommen, derweil von der anderen Seite das »gütige[] Licht« (V. 43) lockt. Hierin spiegelt sich der »vom deutschen Idealismus wiederaufgenommene[] Gedanke[], dass das menschliche Bewusstsein sich erst an den Schranken seines bedingten Wesens entzündet.«87 Dort steht dem humanen Subjekt eine agenzielle Natur gegenüber. »Berge und Pfade sind personifiziert und handeln, der physisch-kausale Zusammenhang ist vergeistigt und macht den unendlicheren Zusammenhang einer verwandelten Welt und Lebenssphäre erfahrbar.«88 Der Dichter gibt der Natur eine sprachliche Gestalt. Im Zuge dessen deutet sich ein dialektisches Verfahren in mehrerlei Hinsicht an: zwischen dem erkennenden Subjekt und der Objektsphäre der Natur und überdies auch zwischen Entstehen und drohendem Verfall. Denn im Angesicht der Feier und des Glücks äußert sich in der dritten Versgruppe auch bereits der mögliche Verlust. So fragt das lyrische Ich: »Aber des Vaters Grab seh ich und weine dir schon?/Wein und halt und habe den Freund und höre das Wort, das/Einst mir in himmlischer Kunst Leiden der Liebe geheilt.« (V. 46-48) Verbunden werden die Gegensätze in der Vorstellung eines von freundschaftlicher Liebe geprägten Begegnungsraums: »Dort begann und beginnt das liebe Leben von neuem« (V. 45). Die für Blochs Philosophie wesentliche Bedeutung des Augenblicks als Entstehungsmoment des utopischen Novum schlägt sich bei Hölderlin stets in einer das Utopische befördernden Aktivität89 nieder. Auf dem Weg durch die Landschaft hält das lyrische Ich fest: »Aber der Meister pflügt die Mitte des Landes« (V. 63). Hinzu kommt die personifizierte Natur als Gestaltungskraft: »Quellen« (V. 61) als Sinnbilder utopischer Realisierung »kommen bei Tag und Nacht nieder und bauen das Land« (V. 62). Stuttgart und das Umland repräsentieren keine festen, statischen Topografien, sondern erweisen sich als dynamische Gebilde einer lyrischen Sprach- und Denkbewegung. Die Entwicklung imaginärer Topografien versteht sich gegenüber der realweltlichen Gegebenheit Stuttgarts letzthin als ein »Abstoßungsphänomen«.90 Die Bewegung 86 87 88 89 90
J. Kreuzer: »Heimath./Und niemand weiß«, S. 76. J.-D. Krebs: F. Hölderlin: Der Rhein. Eine vaterländische Utopie?, S. 95. U. Gaier: Späte Hymnen und Gesänge, S. 168. Vgl. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 81. U. Degner: Bilder im Wechsel der Töne, S. 143.
3. Zwischen Dichterasyl und egalitärer Gesellschaft
der Sprache zeugt deutlich von Performativität: »Groß ist das Werden umher« (V. 59). Was im Entstehen befindlich ist, lässt sich weniger kartografisch fixieren als in einem sich sukzessive fügenden »ahnende[n] Volk« (V. 88). Dessen Hoffnungsperspektive hält das Textsubjekt bewusst im Vagen und äußert sich lediglich in einer noch zu erhellenden »Fülle« (V. 68). Der pathetische Gesang, bestärkt durch die mehrfache Benennung der Freude, erklärt die Stadt zu einem heiligen Ort: Aber indes wir schaun und die mächtige Freude durchwandeln, Fliehet der Weg und der Tag uns, wie den Trunkenen, hin. Denn mit heiligem Laub umkränzt erhebet die Stadt schon, Die gepriesene, dort leuchtend ihr priesterlich Haupt. Herrlich steht sie und hält den Rebenstab und die Tanne Hoch in die seligen purpurnen Wolken empor. Sei uns hold! dem Gast und dem Sohn, o Fürstin der Heimat! (V. 73-79) Indem mit der Ankunft des Sohnes, des Vagabunden, in die Gemeinschaft schließlich das Gott und die Menschen umgreifende Herbstfest – Sinnbild der Heimat – beginnt, findet auch das zwischen »Vergangene[m]« und »Künftige[m]« (V. 53) Gärende seine Vollendung in einer Gesellschaft des Gebens und des Friedens. So ist die Rede von den »freundliche[n] Gaben,/Die wir teilen, sie sind zwischen den Liebenden nur,/Anderes nicht« (V. 103-105). Diesem Ideal wohnt die bedingungslose Bereitschaft zu einem Miteinander im Geiste der Gleichheit inne, frei von jedweder Verzweckmäßigung. Jene für Hölderlins Werk prägnante Konstituierung, eine Verknüpfung »religiöse[n] Patriotismus und politische[r] Forderungen«,91 erfolgt durch einen epiphanischen respektive prophetischen Impuls,92 und erfüllt drei Wesensmerkmale utopischen Denkens: 1. die Negation als Abkehr von einer defizitären Gegenwart, 2. Antizipation als Entwicklung eines neuen, zukünftigen Daseins sowie 3. das Möglichkeitsdenken,93 das sich ganz im Sinne der utopischen Methode als denkende und gleichzeitig dichtende Praxis zu erkennen gibt. Davon zeugt ebenso die Elegie Brot und Wein.94 Nachdem darin die Stadt in einen Dämmer fällt, stellt sich – ähnlich der Grundsituation der »Seelennacht, der Erstarrung vor der Zeit«,95 in der alkäischen Ode An die Hoffnung – die ein wundersames Staunen hervorrufende Nacht ein. Sie bietet die Inspirationszeit des dichtenden Subjekts und »Phase der Vorbereitung auf etwas Neuen [sic!]«.96 Ist das geschäftige Leben des Tags zur Ruhe gekommen, lockt die Ferne mit einer Mixtur
91 92 93 94 95 96
H.-G. Pott: Schiller und Hölderlin, S. 117. Vgl. U. Degner: Bilder im Wechsel der Töne, S. 104. Vgl. W. Voßkamp: Emblematik der Zukunft, S. 65. KSA II, S. 94-99. S. Doering: Es sind auch unsere Erfahrungen, S. 112. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 35.
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wundersamer Eindrücke, einem Gemisch aus Erinnerungen, Klängen, Düften und Vorstellungen: Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vielleicht, daß Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit; und die Brunnen Immerquillend und frisch rauschen an duftendem Beet. Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken, Und der Stunden gedenk rufet ein Wächter die Zahl. Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf, Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond, Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt,' Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns, Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen, Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf. (V. 7-18) Angesprochen ist mit dem »Saitenspiel« die Macht der Dichtung. Das Schöne und Neue spiegelt sich qua poetischer Evokation in einer Wahrnehmungskaskade. In Wendungen wie »Immerquillend und frisch rauschen« drückt sich Bewegung aus, die selbst Paradoxales in einen Strom der Impressionen integriert. So vermag man »still« das »Ertönen geläutete[r] Glocken« zu vernehmen. Die somnambule Atmosphäre befördert das »Schwärmerische« gewissermaßen als Biotop musischer Verzückungen und Gedankenspiele. Die zweite Versgruppe spinnt die zu Beginn aufkommende Polarisierung von Tag und Nacht fort. Gegenüber dem »besonnene[n] Tag« (V. 24) firmiert letztere als Raum der Lust und der Ausschweife, der Feier und Träume: »Ihr Kränze zu weihn und Gesang« (V. 28) ist das Ziel des dichtenden Subjekts, das der Nacht jedoch auch etwas Bedrohliches und Ungewisses attestiert. Denn »niemand/Weiß, von wannen und was einem geschiehet von ihr.« (V. 19f.) Die dritte Versgruppe verbleibt zunächst noch in diesem ambivalenten Zustand der Nacht, wobei der neue Tag schon langsam anbricht. Das lyrische Ich tritt in der Rolle des Motivators auf und beschwört in proklamatorischem Ton den Göttertag herauf: Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht, Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen, Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist. Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Maß, Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden, Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann. (V. 40-46)
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Das Eigene und Gemeine sollen in der exklamativ beschworenen Kollektivbewegung des Aufbruchs zusammenfinden. Die positiv konnotierte Nacht entpuppt sich im gegebenen Poem als Raum für ein Denken gen Zukunft,97 als die Zeit des Aufbruchs wie auch der »Selbstberauschung«,98 die sodann das Wir mitzureißen versucht. Forciert wird im richtungsweisenden Gestus des geminativen »Dort« das »Land des Olymps, dort auf die Höhe Cithärons,/Unter die Fichten dort, unter die Trauben, von wo/Thebe drunten und Ismenos rauscht im Lande des Kadmos,/Dorther kommt und zurück deutet der kommende Gott.« (V. 50-54). Die Figura etymologica des »Kommens« im letzten zitierten Vers unterstreicht die visionäre Fähigkeit des Dichterpropheten, der das Hervortreten des Utopischen begünstigt. Die antithetische Fügung aus »Kommt« und »zurück«, ergo Zukunft und Vergangenheit, dient der Antizipation des untergegangenen Reiches des in den Trauben angedeuteten Dionysos.99 »Der Gott des Weins und der Verwandlung […] gilt als Verkünder eines neuen Daseins.«100 Ergänzen ließe sich an dieser Stelle auch die in Utopietheorien häufig gebrauchte Metapher des Gärens, worin der Wein selbst als Produkt utopischer Prozesse zum Vorschein tritt, wie etwa eine Passage bei Landauer dokumentiert: Jeder Wein erhalte seine Gärung durch Hefe, die wieder aus Wein gewonnen sei und so immer weiter: so wäre dann jede Hefe neu und hätte doch die Wirklichkeit oder die Kraft oder die Erinnerung (das ist alles eins) jeder früheren Hefe in sich: so erwacht die Utopie, obwohl sie immer wieder untergeht, sich auflöst und im fremden [sic!], von ihrer selbst zur Gärung und zur edlen Ruhe gebrachten [sic!] verschwindet, immer wieder alt und neu – so lebt sie auch in der Zeit relativ stabiler Topien unterirdisch weiter und geht dazu über, aus diesem Erinnerungs-, Wollens- und Gefühlkomplex eine Einheit zu machen.101 Repräsentiert er ungezügelte Leidenschaft, Orgiasmus, Genuss, Lust und Rausch, so spiegeln sich diese Merkmale auch in der stilistischen Komposition der Elegie wider. Denn der »Festliche[] Saal« (V. 60), in dessen Zeichen die Renaissance des »selige[n] Griechenland[s]« (V. 58) steht, wird im Ton eines beschwörenden Pathos evoziert.102 Die griechische Kultur als Ideal bildet sich allerdings erst im Kontrast zum Hesperischen aus:
97 98 99 100 101 102
Vgl. B. Böschenstein: Hölderlins Rheinhymne, S. 56f. U. Degner: Bilder im Wechsel der Töne, S. 115. Vgl. W. Groddeck: Elegien, S. 330. B. Judex: Friedrich Hölderlins Stromdichtungen als utopische Raum-Poetik, S. 232. G. Landauer: Die Revolution, S. 36. Vgl. P. Szondi: Schriften I., S. 318.
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Die Griechen gehen aus von aorgischer, ungebundener Unendlichkeit, die ihnen natürlich ist, und schaffen in der Kunst Selbstgestaltung und Selbstbegrenzung, so daß sie sich darin als etwas Bestimmtes erfassen können. Die Hesperier […] gehen aus von künstlich gewordener, unlebendiger Begrenztheit und verfestigter Gesetzlichkeit als ihrem Ursprünglichen; sie streben im Vertrauen auf die Natur oder den ›Naturgang‹ aus der erstarrten Begrenztheit heraus ins aorgische Unendliche.103 Das Griechische repräsentiert demnach einen natürlichen Ursprung, der sich selbst nicht erst rekonstruieren muss. Hölderlins lyrisches Ich sieht sich in seinem anfangs entfremdeten, hesperischen Zustand dazu veranlasst, nach einer harmonischen, jedoch nur imaginativ aufrufbaren Ursprünglichkeit zu streben. Das Griechische und Hesperische sind somit als Pole zu verstehen, die sich wechselseitig bedingen und zwischen denen das Subjekt stets mäandert. Der mit dem Untergang der Antike verbundene Verlust der idealen Einheit, man könnte auch sagen: Deckungsgleichheit zwischen äußerem und innerem Sein sowie die Erkenntnis der daraus entstandenen Vielheit und Uneinigkeit sind diesem vom Dichter betriebenen Auslotungsprozess eingeschrieben, wie Kreuzer konstatiert: Denn dass Vermittlung so gedacht werden muss, dass aus einem UrsprünglichEinen (als Erstem) die Differenz des Verschiedenen (als Zweites) hervorgeht und in der Erkenntnis des Hervorgegangenseins (als Drittem) die Vermittlung des Verschiedenen mit dem Einen besteht und in der Form erkennenden Rückbezugs (der epistrophē) sich vollzieht: darin besteht Übereinkunft.104 Dieses Urpsprünglich-Eine rekrutiert auf mythisches Wissen, das vergegenwärtigt und weiter in die Zukunft gedacht wird.105 In der Projektion tritt das »Haus der Himmlischen alle« (V. 55) poetisch in Erscheinung. In ihm, errichtet auf festem Boden, offenbart sich das Göttliche, das als »ausgeprägte[] vertikale[] Dimension«106 im Profanen vorfindbar wird.107 Als von zentraler Bedeutung muss weiterhin der Vers »Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten« (V. 7) angesehen werden. Mit jenem sich nach dem Semikolon anschließenden »vielleicht« (V. 7) wird eine vage Stimmung der Vorahnung angedeutet. Dass der selige Zustand längst noch nicht erreicht ist, machen die wenig später artikulierten rhetorischen Fragen deutlich: Aber die Thronen, wo? die Tempel, und wo die Gefäße, Wo mit Nectar gefüllt, Götter zu Lust der Gesang? Wo, wo leuchten sie denn, die fernhintreffenden Sprüche? (V. 59-61) 103 104 105 106 107
K. Düsing: Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel (1988), S. 66. J. Kreuzer: »Heimath./Und niemand weiß«, S. 82. Vgl. U. Degner: Bilder im Wechsel der Töne, S. 118. Reitani: Ortserkundungen, Raumverwandlungen (2008), S. 14. Vgl. N. Stefa: Die Entgegensetzung in Hölderlins Poetologie, S. 127.
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Eine ähnliche Desorientierung macht sich in der sechsten und siebten Triade bemerkbar. Die darin enthaltenen rhetorischen Fragen, eingeleitet durch »Aber wo sind sie? wo blühn die Bekannten, die Kronen des Festes?« (V. 104), transportieren das Bewusstsein der Leere und Unerfülltheit, sodass das lyrische Ich resümiert: »wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter,/Aber über dem Haupt droben in anderer Welt.« (V. 115f.) Gerade die augenscheinliche Ferne bildet die Voraussetzung für das Möglichkeitsdenken. Es setzt mit der Erfahrung eines Defizits und Fragen nach Alternativen ein, weswegen Brod und Wein auch erneut den Umschlag ins Positive findet. Aber das Irrsal Hilft, wie Schlummer, und stark machet die Not die Nacht, Biß daß Helden genug in der ehernen Wiege gewachsen, Herzen an Kraft, wie sonst, ähnlich den Himmlischen sind. (V. 121-124) Irrsal und Not stehen den positiven Attributen wie Herz, Kraft und dem Heroischen gegenüber. Gerlach sieht in dieser Polarisierung, die für die Sprachbewegung im Gedicht konstitutiv ist, den Bezugspunkt zu Schiller. Dessen Dualismus von Freude und Trauer kehrt in Hölderlins Elegiendichtung wieder; der zuversichtlichen Hoffnung auf ›Erneuerung der Zeiten‹ steht die fortdauernde Erfahrung der Einsamkeit des Sprechenden gegenüber. Beide Elemente sind dialektisch miteinander verbunden.108 Auf der Seite der Skepsis und Negativität verortet Degner ein zweites Ich, das eben im Wechselspiel mit seinem enthusiastischen Pendant überhaupt erst einen »poetische[n] Reflexionsprozeß [hervorruft], der an seinem Ende zu einem gelingenden künstlerisch-orphischen Sprechen führt.«109 Möglich wäre jedoch auch ein Positionsstreit innerhalb eines Textsubjekts. Deutlich wird jedenfalls ein Dichterarchetypus, ausgestattet mit der Fähigkeit, die Natur zu lenken, zu bezirzen und qua seiner Kunst zu schaffen: »Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen, entstehn.« (V. 90) Diese Gabe, durch Worte Taten zu schaffen, gehört zum Dichter. Aber auch der Mensch muss die Verantwortung für die Natur allein schon aus Dankbarkeit für die einstige Ankunft des Genius, wie sie die achte Versgruppe thematisiert, übernehmen. Dessen Verschwinden macht die irdischen Bewohner zu Erben: Als erschienen zuletzt ein stiller Genius, himmlisch Tröstend, welcher des Tags Ende verkündet’ und schwand, Ließ zum Zeichen, daß einst er da gewesen und wieder Käme, der himmlische Chor einige Gaben zurück, 108 I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 130. 109 U. Degner: Bilder im Wechsel der Töne, S. 135.
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Derer menschlich, wie sonst, wir uns zu freuen vermöchten, Denn zur Freude, mit Geist, wurde das Größre zu groß Unter den Menschen und noch, noch fehlen die Starken zu höchsten Freuden, aber es lebt stille noch einiger Dank. (V. 129-136) Die Gaben verstehen sich als Zeugnisse der Vergangenheit, aus denen ein Novum hervorgehen soll. Da der Genius »schwand«, obliegt es nun dem Menschen, dessen himmlisches Reich auf der Erde zu realisieren. Der Chor als Inbegriff einer in Gleichheit geeinten Gemeinschaft hat einen Vorbildcharakter. Mit diesem Wissen können »Modellbildungen die in der Wirklichkeit angelegten realen Möglichkeiten antizipieren und gestalten.«110 Neben diesem Impuls zur weiteren Ausgestaltung sind die im Poem zu Beginn erwähnten »Gärten« (V. 7) ein weiterer Indikator des Utopischen. Da sie aus dem »Saitenspiel« »tön[en]« (V. 7), erweisen sie sich als Konstruktion innerhalb der sprachlichen Performativität. Die Gärten sind nicht, sie werden geschaffen. Genau in dieser noch fehlenden Herstellung des Ideals liegen der Prozess und die Lebendigkeit des Strebens nach dem Noch-Nicht-Gewordenen begründet. Hierin offenbart sich aus Safranskis Sicht auch die umgekehrte Kraft der Elegie, die im Abwesenden die Hoffnung auf das Neue birgt: Die Elegie indes gibt dem Schmerz und der Trauer Ausdruck, wenn das, was der Hymnus feiert, sich entzieht oder untergeht. Der Hymnus feiert das Anwesende, die Elegie gedenkt des Abwesenden. Wie der Hymnus elegisch wird, wenn ihm das Gefeierte entgleitet, so wird die Elegie hymnisch, wenn ihr die Vergegenwärtigung der Entschwundenen gelingt. Solches geschieht in diesem elegischen Wunderwerk ›Brod und Wein‹.111 Was im Werden befindlich ist, erfordert aktive Gestaltung, beflügelt durch den hymnischen Ton. Nur so wird der Kern der utopischen Methode überhaupt abgrenzbar gegenüber dem bloßen Verlauf der Zeit. Das Humanum erscheint in der Elegie daher als handlungsbestimmtes Wesen. Für Hölderlin gibt es »keine fixe Wesensbestimmung des Menschen, sondern der Mensch ist Produkt seiner eigenen Tätigkeit und Selbstbestimmung.«112 Aus diesem Grund finden sich im Gedicht mehrere Appelle. Auch die Darum-Anaphorik forciert die Tätigkeit der Menschen und allen voran der Sänger bzw. Dichter: Darum denken wir auch dabei der Himmlischen, die sonst Da gewesen und die kehren in richtiger Zeit, Darum singen sie auch mit Ernst, die Sänger, den Weingott Und nicht eitel erdacht tönet dem Alten das Lob. (V. 139-142) 110 111 112
J. Zimmer: Ungleichzeitigkeit und Utopie, S. 24. R. Safranski: Hölderlin, S. 205f. B. Frischmann: Hölderlin und die Frühromantik, S. 115.
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Durch Aktivität soll das Vergangene antizipierbar werden. Verben sind ferner als dominante Wortart im Gedicht vorhanden. Sie geben Aufschluss über Gestaltungsmomente des lyrischen Ichs bzw. Kollektivsingulars, die gerade den utopischen Horizont der Elegie auszeichnen. »Treibet« (V. 42), »suchen« (V. 44), »liebet« (V. 24), »gehet und kommet« (V. 48) sind nur einige solcher Aktivitätsbelege, welche die einschlägigen Bewegungen und Antizipationen kenntlich machen. Diese schaffenden Handlungen sind schon im Titel angelegt: »Sowohl Brot als auch Wein sind immer schon raffinierte Kulturprodukte, und damit nicht einfach ›der Erde Frucht‹, sondern bereits Resultat einer bestimmten Form der Be- und Verarbeitung dieser Früchte.«113 Bliebe der Aspekt der noch offenen Ausgestaltung in dem Gedicht aus, würde es seine utopische Implikation einbüßen: »Der Dauerzustand der Mangellosigkeit schläfert die menschlichen Sinne ein«114 und verhindert jegliche Motivation zur Veränderung des Status quo. Zelebriert wird in Brot und Wein die ersehnte utopische Zusammenkunft der Sphären in Projektionen und Bildern. Im Zuge dessen verschmelzen »Natur und Kultur zu einem Naturbild der Erwartung«.115 Im Zentrum steht der Versuch der Kreation eines dem Irdischen immanenten Himmelsreichs. Der Aufbruch dorthin schlägt sich in mit Handlungsmacht versehenen Naturkräften nieder: »Wehn […] regt die Gipfel des Hains auf« (V. 13). Die Aufgabe des Dichters besteht dabei darin, die unterschiedlichen Kräfte einander anzunähern.116 Er avanciert zum »Statthalter einer allgemeinen Sprache des Friedens«,117 wobei er »nicht auf die Rückkehr der Götter warten [muss], sondern […] diese poetisch herstellen«118 kann. Der Dichter besitzt somit das Vermögen zur Beschwörung des Utopischen: »Die ›Erfüllung‹ des Menschen liegt also in einem Dichtertum, das ›wirklich wirkt‹, indem ein Werk hervorgebracht wird.«119 Die Sänger in der Elegie nutzen den Konjunktiv, um aus »der Alten Gesang« (V. 157) heraus die verschiedenen Kräfte zu einen. Ergänzt wird der Irrealis durch ein implizites Futur. Die beiden Verse »Keines wirket, denn wir sind herzlos, Schatten, bis unser/Vater Aether erkannt jeden und allen gehört« (V. 161f.) sind zwar formal im Präsens gehalten, referieren allerdings auf die zu erwartende Ankunft der Götter auf Erden. Bevor sich die himmlische und irdische Sphäre hybridisieren, baut Hölderlin markant antithetische Spannungen auf, wie sie etwa in der dritten Strophe vorkommen. So stellt der Vers »Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist« (V. 42) den Antagonismus zwischen Eigenem und Fremdem aus. Ferner kommt in der Formulierung »Allen gemein, doch jeglichem 113 114 115 116 117 118 119
U. Degner: Bilder im Wechsel der Töne, S. 141. Ebd., S. 121. W. Groddeck: Elegien, S. 330. Vgl. B. Philipsen: Gesänge, S. 350. W. Groddeck: Elegien, S. 331. U. Degner: Bilder im Wechsel der Töne, S. 135. M. Hiller: ›Harmonisch entgegengesetzt‹, S. 123.
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auch ist eignes beschieden« (V. 45) die Polarität zwischen Individuum und Gemeinschaft zum Ausdruck. Nicht zuletzt ist der Gegensatz zwischen Vergangenheit und Zukunft prägnant: Dort ins Land des Olymps, dort auf die Höhe Cithärons, Unter die Fichten dort, unter die Trauben, von wo Thebe drunten und Ismenos rauscht im Lande des Kadmos, Dorther kommt und zurück deutet der kommende Gott. (V. 51-54) Die vier Verse sind aus stilistischer Sicht relevant für die Erfassung der ästhetischen Komposition des Dichters. Durch die Repetitionen der auch temporal eingesetzten Lokaladverbiale »dort« sowie des Verbs »kommen« antizipiert das lyrische Ich einerseits sehr nachdrücklich die Ankunftsrhetorik. Andererseits deutet »zurück« die Orientierung an Vergangenem an, das, wie bereits erwähnt, in der poetischen Evokation mythologischer Gottheiten wiederaufersteht. Zudem steht die ebenso gehäufte Lokaladverbiale »unten« konträr zum Himmlischen, wodurch insgesamt der Eindruck unklarer Richtungsbestimmungen entsteht. Die Götter, noch nicht greif- und verortbar, stehen eben bezeichnend für etwas Größeres, etwas Unklares, für das »Offene« (V. 41) selbst. In utopischer Hinsicht konkreter mutet die vierte, mit der Apostrophe »Seliges Griechenland!« (V. 55) beginnenden Strophe an. Um die Vereinigung der Sphären zu initiieren, wird eine metaphorische Speisetafel, in der das Meer den Boden und die Berge den Tisch (Vgl. V. 57) versinnbildlichen, entfaltet. Damit verbindet sich zugleich eine dynamische Gemeinschaftsbildung unter den Menschen. Verbreitet wird das Ereignis – hyperbolisch – »von Zunge zu Zunge/Tausendfach, es ertrug keiner das Leben allein« (V. 65f.). Obgleich das Gedicht immer wieder eine Vereinigungssemantik gebraucht und Aufbruchsstimmung erzeugt, schließt die dialektische Gestaltung auch den Vorbehalt ein. Denn »zu blendend [ist] das Glück« (V. 74). In der sechsten Strophe bildet eine Parenthese den Kippmoment ab: Drum in der Gegenwart der Himmlischen würdig zu stehen, Richten in herrlichen Ordnungen Völker sich auf Untereinander und baun die schönen Tempel und Städte Fest und edel, sie gehn über Gestaden empor – (V. 95-98) Auf den Impetus zur Solidarisierung und Humanisierung der Menschen folgt die lakonische Ernüchterung: »Aber Freund! wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter,/Aber über dem Haupt droben in anderer Welt.« (V. 109f.). Grund für die Entfremdung ist die Schwäche der Menschen. Seine Gesellschaftskritik implementiert Hölderlin in die Gefäßmetapher, wonach der Mensch »nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle« (V. 114). Aus ihrer schwachen Mitte ragen lediglich die »Dichter in dürftiger Zeit« (V. 122) hervor, deren hehre Aufgabe in einer rettenden Vermittlungs-
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politik deutlich wird. Als »heilige Priester« (V. 123) fungieren sie als Verbindungsglied zur metaphysischen Sphäre und können als poetische Schöpfer gar selbst neue Räume sprachlich entstehen lassen. Qua dieser Bestimmung verfügt der Poet über kulturgeschichtliches Wissen. So vermag dieser in der achten Strophe noch an jene Zeit zu erinnern, »als der Vater gewandt sein Angesicht von den Menschen« (V. 127). Zurück blieben »Zeichen« (V. 131) wie etwa das titelgebende Brot und der Wein. Indem Hölderlin auf diese Motive zurückgreift, bringt er den griechisch-mythologischen mit dem christlichen Horizont zusammen. Prägnant verweist insbesondere der Wein auf den im Text mehrfach präsenten »Weingott« (V. 141), dessen Rausch wie eine Beflügelung für die feierliche Freude zum Ende des Gedichts hin anmutet. Mit dem exklamativen »Ja!« (V. 144) setzt in der letzten Versgruppe die Feier auf die verbrüdernde Macht des Dionysosʼ ein: sie sagen mit Recht, er söhne den Tag mit der Nacht aus, Führe des Himmels Gestirn ewig hinunter, hinauf, Allzeit froh, wie das Laub der immergrünenden Fichte, Das er liebt, und der Kranz, den er von Efeu gewählt, Weil er bleibet und selbst die Spur der entflohenen Götter Götterlosen hinab unter das Finstere bringt. (V. 144-149) Im dialektischen Prozess führen »des Himmels Gestirn ewig hinunter« und wieder »hinauf«. Die Neuheit dessen, was im Rahmen dieser Wechselbewegung entsteht, findet ihr bildliches Äquivalent in dem Neologismus der »immergrünenden Fichte«. Der Efeu als Rankengewächs sorgt für die Verbindung von Verschiedenem. So rekurriert etwa die Ansprache der Götter (im Plural) auf die polytheistische Antike, wohingegen die Rede vom »Vater« (V. 155) oder »Gott[]« (V. 150) dezidiert auf den monotheistisch-christlichen Hintergrund verweist. Diesen lehnt Hölderlin ab, wenn er allein und mit dem Anspruch der Ausschließlichkeit auftritt. Denn für ihn »kommt das Christentum nicht mehr in Betracht, es hält schon viel zu lange an und ist verantwortlich für das Ersterben der griechischen Welt. Mit seiner Jenseitsorientierung verdunkelt es die Welt.«120 Nur in Kombination mit einem anderen erwächst daraus Produktives und Neues. Deshalb prägen das Ende des Textes auch dialektische Verhältnisse. Der Hinweis auf den Cerberus sowie den von der Erde umarmten Titanen deuten die Pole zwischen Sehen und Schlafen wie zwischen den Menschen und den Wesen der Mythen an. Dieses permanente InBeziehung-Setzen hat seinen Grund: »Für Hölderlin ist der Mensch keine isolierte Entität, sondern Teil der All-Einheit«,121 welche in einen traditionellen Kulturkontext eingebettet ist. »Hölderlins Welt ist noch erfüllt von objektiven Mächtigkei120 K.-H. Ott: Hölderlins Geister, S. 24. 121 I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 16.
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ten; aus Räumen und Zeiten, Äther und Abgrund, Göttern und Titanen, Natur und Geist fügt sich ein sinndurchwalteter Kosmos, überhöht von mythischen und religiösen Bezügen.«122 Nur innerhalb dieser umfassenden Verbundenheit wird eine die humane Gesellschaft übersteigende Gemeinschaft denkbar, die, einschließlich von Widersprüchen und Dissonanzen, in einem harmonischen Einklang mit dem Kosmos steht. »Das ist die klassische Denkfigur, dass eine ›ursprüngliche Einigkeit aus sich herausgeht, um aus der äußersten Spannung der Entgegensetzung wieder in sich selbst zurückzugehen‹«.123 Hölderlins Ideal ist im Gegensatz zum Individualitätsansatz Schillers das Kollektiv. Es bildet die Voraussetzung für eine auf Egalitarismus und Besitzteilung124 gründende, herrschaftsfreie Gesellschaft.125 Bis ins Spätwerk hinein stellt sie für ihn die zentrale politische Utopie dar.126 Diese geht mit dem Widerspruch gegen die etablierten Institutionen und Denkformen einher: »In der Auflösung aller politisch-philosophischen Form des Absoluten entsteht […] die revolutionäre Utopie, das Neue, das Mögliche.«127 Konsequent bildet der Poet diesen Protest auf formalästhetischer Ebene ab, beispielsweise in einer parataktischen, durch »und«Konjunktionen verknüpften Struktur. Nägele weist in Bezug auf Der Mutter Erde,128 einem der vaterländischen Gesänge, darauf hin, dass die Sätze keiner hierarchischen Anordnung folgen. Vielmehr sind sie als gleichberechtigte Glieder miteinander verbunden. Auch mithilfe der »Vielgestalt«, den zahlreichen Antinomien und Oxymora seiner Texte, »ergreift er [Hölderlin] Partei nicht nur gegen Absolutismus und Monotheismus, sondern auch gegen jede Art von subsumierende[m] Denken.«129 Daher beruht seine Dichtung auf Gleichheit und Pluralismus und versteht sich als geradezu heilende Kraft130 gegenüber der durch die gesellschaftlichen Entwicklungen der Moderne verursachten Schäden und Verheerungen.131 Indem Hölderlin mit seinem sprachlichen Arrangement somit seinen idealen Gesellschaftsentwurf antizipiert, gelingt es ihm, seine politische Konzeption als eine poetologische zu verwirklichen. Die Bewegung, welche die »intensive Intentionalität des Bewußtseins zur Sprache gefunden hat«,132 geht in Der Mutter Erde vom Einzelnen aus und leitet in eine Gemeinschaftsbildung über.
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H. Singer: Rilke und Hölderlin, S. 170. J. Kreuzer: »Heimath./Und niemand weiß«, S. 81. Vgl. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 46. Vgl. ebd., S. 52. Vgl. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 139. N. Stefa: Die Entgegensetzung in Hölderlins Utopie, S. 74. KSA II, S. 127-129. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 28. Vgl. U. Gaier: Poetologische Positionen um 1800, S. 153. Vgl. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 110. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 23.
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Statt offner Gemeine sing ich Gesang. So spielt, von erfreulichen Händen Wie zum Versuche berühret, eine Saite Von Anfang. (V. 1-4) Bezogen auf den utopischen Prozess, könnte die zu Beginn gespielte Saite als Initiationsmoment des Noch-Nicht-Bewussten gedeutet werden, welches insbesondere die späten Hymnen zur Sprache zu bringen versuchen.133 Da die visionäre Gemeinschaft,134 die »offene[] Gemeine«, dafür noch nicht empfänglich ist bzw. der Richtungsinhalt noch nicht kollektiv erfasst ist, erhält der Dichter Unterstützung vom »Meister« (V. 6), dem sich einerseits die Töne – »so viele sie sind« (V. 8) – fügen, der aber andererseits durch sie erst geschaffen wird. Ebenso bringt sich das dichtende Ich im Rahmen eines »Sprachwerdungsprozeß[es]«135 erst hervor. Nachdem diese Konstitution stattgefunden hat, kommt es zum Er-»Wecken[]« (V. 9) der Gesellschaft. Der Gesang des Einzelnen, der zugleich vom Dichter ausgeht, mündet in jenen des Kollektivs. Denn zu »der Harfe Klang« (V. 12) gesellt sich »der Chor des Volks« (V.14). Geschildert wird ein Vergemeinschaftungsprozess in der Sprache, der durchaus politisch zu verstehen ist. Blochs Vokabular ähnelnd, benennt Gerlach diese Genese als »Gärungsprozess«,136 wobei dieser nicht zuungunsten des Einzelnen geht: Der Mensch ist Teil des Ganzen und strebt nach Erweiterung ins Grenzenlose, aber er ist zugleich Einzelwesen und strebt nach der Bewahrung seiner Individualität […]. Der Mensch erfährt sich als Einheitlicher und Nichteinheitlicher in einer Welt, die gleichfalls auf dem Prinzip des Gegensätzlichen und zugleich Einheitlichen beruht.137 Die zweite Strophe bringt im Konditionalsatz »Wenn ein Gesange nicht hätt ein Herz die Gemeinde« (V. 20) zum Ausdruck, dass der »heilige[] Vater« (V. 17) durch das Medium des gemeinsamen Gesangs »unter den Lebenden« (V. 19) sichtbar würde. Weit davor sowie vor den Klängen in der Natur hat der Gott gemäß der dritten Versgruppe das »reine[] Gesetz« (V. 28) und die »reine[n] Laute gegründet« (V. 29). Deutlich wird hierin ein Ursprungsmythos, der sich über die Laute mit dem Poetischen verbindet. Nachdem die Geschichte eine zeitliche Distanz zu jenem rekonstruierten Urzustand geschaffen hat, auf den eben potenziell noch das Dichtertum Zugriff hat, setzt die dritte Strophe mit der Apostrophe »Indessen schon« (V. 30) ein. In der Gegenwart bahnt sich die Sehnsucht des Kollektivsubjekts nach 133 134 135 136 137
Vgl. ebd., S. 165. Vgl. ebd., S. 101. Ebd., S. 352. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 30. Ebd., S. 57.
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»Lieder[n]« (V. 31) Raum. Es folgt die Anrufung des »Mächtige[n]« (V. 30). Die erwünschten Lieder als Gaben an die Irdischen sind zeitlich begrenzt, nämlich »Bis ausgesprochen ist, wie wir/Es meinen, unserer Seele Geheimnis.« (V. 32f.) Worin letzteres genau besteht, lässt das Poem im Unklaren. »Offenkundig kann ein nach gewöhnlichen Maßstäben gewonnener Begriff von Eindeutigkeit der Herausforderung solch komplexer Gebilde nicht gerecht werden, da deren fehlende Eindeutigkeit geradezu poetisches Programm ist.«138 Von entscheidender Relevanz ist weniger dessen Auflösung als der Prozess des Umgangs mit dem Geheimnis der Seele. Im Fokus steht die Selbstvergewisserung: »Sprache als Entsprechung zu begreifen heißt, daß sie kein Produkt des Bewußtseins ist, sondern ein Prozeß, in dem sich Bewußtsein gerade in zeitlicher Hinsicht selbst vorfindet.«139 Sprache bildet Bewusstsein aus. Da das Gedicht auf mehrere Stimmen verteilt ist, zeichnet sich seine Struktur durch Brechungen aus, weswegen die Frage nach der Verbindung von Identität und Sprache in der fünften Versgruppe zunächst nicht weiter verfolgt wird. Beschrieben werden im Weiteren der Krieg, die männliche Virilität und die Hybris. In den Krisenzeiten und »Tagen der Not« (V. 50) stehen »die Tempelsäulen […]/verlassen« (V. 49f.). Ergänzt wird zu den »Hallen« (V. 52): »namlos aber ist/in ihnen der Gott« (V. 56). Die Ferne zu letzterem äußert sich zudem in der »in verschwiegener Erde« (V. 58) liegenden »Schale des Danks«. (V. 56) Die rhetorische Frage der dritten Stimme von Tello »Wer will auch danken, eh er empfängt«? (V. 59) mutet ironisch an. Auf die Leerstelle nach »Ni« (V. 60), die wohl wie das abrupte Ende dem Umstand geschuldet ist, dass es sich bei Der Mutter Erde um ein Fragment handelt, setzt dann doch die Stimme des »Höhere[n]« (V. 60) ein. Er kündet von einem »ander[en] Recht« (V. 62), steht für Ewigkeit – »der endet in Stunden nicht« (V. 63) – und das »Schaffende[]« (V. 64), dessen allumfassende Kraft in einem dialektischen Vergleich zum Ausdruck kommt: »Wie Gebirg,/das hochaufwogend von Meer zu Meer/hinziehet über die Erde« (V. 65-67). Er verbindet das Hohe und Niedere, das Feste und Flüssige und indiziert Hölderlins Pantheismus. Das Göttliche realisiert sich in der immer wieder personifizierten Erde, die im Werk des Dichters grundsätzlich als »raumzeitliche[r] Totalitätsgrund vor der Trennung der Kontinente und der Meere«140 anzusehen ist. Die Dialektik setzt sich im Bildinventar der letzten, unvollendeten Strophe fort. Während das »Wild irrt in den Klüften/und die Horde schweifet über die Höhen« (V. 69f.), blickt der Hirt – antithetisch – zwischen den Höhen und Tiefen, im Zwischenraum des »Abhang[s]« (V. 72) auf »die Gipfel« (V. 73). Er versinnbildlicht den Beschützer und Lenker und steht daher in »heiligem Schatten« (V. 71).
138 J. Schmidt: Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen, S. 9f. 139 J. Kreuzer: Zeit, Sprache, Erinnerung, S. 160. 140 Ebd., S. 101.
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Sowohl die Dreigeteiltheit des Gedichts, das sich mit den Sprechern Ottmar, Hom und Tello in die drei Sphären Natur, Mensch und Metaphysik aufgliedert, als auch die letzte Versgruppe dokumentieren die wechselvolle Bewegung des Bewusstseins innerhalb der poetischen Sprachbewegung. Hölderlins Poetik141 der »Entgegensetzung […] öffnet jeden Bereich zur Mehrdeutigkeit, indem sie die Grenzen des einen gegenüber denen des anderen ans Licht bringt und dabei zu überschreiten veranlasst.«142 Es geht demnach um unabschließbare Transzendierungsprozesse, wodurch die Grenzen zwischen den Sphären wegfallen. Daraus ergibt sich die Offenheit des Textes als zentraler Bestimmungsfaktor des Utopischen. Neben der Prozesshaftigkeit und Dialektik als weitere sich in der Form des Textes manifestierenden Merkmale stellt der Text auch die utopische Dimension in Hölderlins politischem Denken vor. Die Betonung des Chors als einigendes Funktionsglied inmitten eines polyphonen Raums zu Beginn ist dafür signifikant: Die Motivik des Chors und des Gesangs, der Feier und des Festes, die ihnen zugrundegelegte politisch-theologische Gemeinschaftsvision einer herrschaftsfreien, sozial-religiösen Kommunikation (und Kommunion) – der ›offenen Gemein[d]e‹ aus Der Mutter Erde – als einer historischen Utopie: als einer Utopie also nicht vom oder am Ende, sondern der Geschichte selber, die von ihr zwar unterbrochen, aber nicht aufgehoben wird.143 Indem Hölderlin in Der Mutter Erde die unterschiedlichen Sphären aus beispielsweise Dies- und Jenseits, Welt und Kosmos im Gesang vereint, gelingt es ihm performativ, das heißt: im sprachlich-künstlerischen Schaffen, Entfremdungen aufzuheben.144 Statt der Vereinzelung und Individualisierung strebt der Dichter die Konfiguration des Sozialen an, worin einerseits Menschen, andererseits – zumindest im Ideal – die von der Potenzialität zur Präsenz gelangten Götter145 sich zusammenfinden sollen. Das Zustandekommen der Versammlung spiegelt im übertragenen Sinne der »›Chor‹« als »symbolisierte Bildung einer neuen umfassenden nationalen Einheit«146 wider. Die dazu nötige Konkretion und Ausgestaltung durch die Vorstellungskraft verweisen auf Blochs Noch-Nicht-Gewordenes und demnach auf den utopischen Impetus des vorliegenden Poems. So ist am Ende des Textes
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Simon definiert Poetik folgendermaßen: »Der Begriff ›Poetik‹ bezeichnet das Herstellungswissen und die Herstellungsanleitung für poetische Texte, später auch und zunehmend primär das Reflexionswissen über die spezifischen Eigenschaften poetischer Texte.« R. Simon: Poetik und Poetizität, S. 7. 142 N. Stefa: Die Entgegensetzung in Hölderlins Poetologie, S. 95. 143 B. Philipsen: Gesänge, S. 363. 144 Vgl. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 47. 145 Vgl. ebd., S. 42. 146 L. Ryan: ›Was bildet aber, stiften die Dichter‹, S. 47.
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auch von den »Zeiten des Schaffenden« (V. 64) die Rede, womit sich der Bogen zu den »Liedern« zu Beginn schließt. Denn als schaffend erweist sich die aktive Kunstproduktion, das Dichten selbst. Es versteht sich als Praxis des Möglichkeitsdenkens und zielt insbesondere am Ende des fragmentarischen Gedichts auf die wirkungsästhetische Qualität des Offenen.
3.3
Zwischen Griechenland und moderner Ernüchterung: Hölderlins Sozialutopie als Zeitkritik
In seiner Ode An die Deutschen147 kritisiert Hölderlin die »Tatenarm[ut]« (V. 4) der Deutschen und wirft die Frage nach dem Verhältnis von Idee und Umsetzung auf: »Aber kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt,/Aus Gedanken vielleicht, geistig und reif die Tat?« (V. 5f.) Bezogen auf eine utopiegeleitete Perspektivierung wird die Diskrepanz zwischen gedachtem Richtungsinhalt und der Bemühung um dessen Realisierung bereits im ersten Quartett offenkundig. Das fehlende revolutionäre Potenzial des im Zustand des »Schweigen[s]« befindlichen »Volks« (V. 9) schlägt sich auf der Ebene des Textes in Suchbewegungen nieder, die von Hölderlins Ideal eines dem Handeln verpflichteten Dichters zeugen.148 Neben der Dominanz rhetorischer Fragen fällt auf, dass der Autor hierfür – im Gegensatz zu dem in Teilen parataktisch verfassten Spätwerk – lange, hypotaktische Satzstrukturen gebraucht. Um die fehlende Aussicht auf eine Umwälzung der Verhältnisse bzw. den Als-ob-Charakter des Gedichts zu artikulieren, setzt er zudem gehäuft konditionale Konjunktionen (»Wann«) ein. Sich selbst sieht das lyrische Ich als »irr[end] […], dem Laien gleich« (V. 13). Obgleich seine utopische Absicht in dem das Werden und Entstehen akzentuierenden Vers »In des bildenden Geists werdender Werkstatt hier« (V. 14) zum Ausdruck kommt, dokumentiert schon der darauf folgende Parallelismus seine begrenzten Möglichkeiten: »Nur was blühet, erkenn ich,/Was er [der Geist] sinnet, erkenn ich nicht.« (V. 15f.) Das offensichtlich an einer epistemischen Krise leidende Ich vernimmt nur die Ausmaße, nicht die Ursprünge der Veränderungen. Dem Geist steht es ambivalent, nämlich »zweifelnd, immer bewegt« (V. 20), und mit Liebe (Vgl. V. 19) gegenüber. Gewiss ist dem Subjekt lediglich, dass er, »des Lebens/reine Tiefe zu Reife [zu] bring[en]« (V. 24) vermag. Die Strophen acht bis einschließlich zehn feiern die Macht des »Schöpferische[n]«, des »Genius unsers Volks« (V. 25). Beschworen werden erneuerte Städte, die mit kumulierten Attributen »hell und offen und wach« (V. 34) charakterisiert werden. Das Hyperbolische dieser Idealisierung ergibt sich durch die Assoziation 147 KSA II, S. 9-11. 148 Vgl. K. Keller-Loibl: Utopisches Denken in Hölderlins Briefen, S. 207.
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der »Berge des deutschen/Landes« (V. 35f.) mit den griechischen Gebirgen »Pindos und Helikon,/und Parnassos« (V. 36f.). Hölderlin erweitert in mehrfacher Hinsicht den Raum zur Feier – zunächst chronologisch um das landschaftliche Erbe der antiken Gefilde, und schließlich, wie die elfte Versgruppe belegt, um das Kollektiv. Während das Leben der bzw. des Einzelnen durch Vergänglichkeit gekennzeichnet ist, insinuiert die rhetorische Frage »Doch die Jahre der Völker,/sah ein sterbliches Auge sie?« (V. 42f.), dass die Volksgemeinschaft die Zeiten überdauern kann. Das Pars pro toto des personifizierten Auges stellt in diesem Kontext die Begrenztheit der Perspektive des Individuums heraus. Allein der Dichter weiß den Blick für Höheres zu weiten. Mit der Hinwendung zur Antike kommt qua poetischer Evokation Alterität in der idealisierten Vergangenheit, gewissermaßen als Blochsches Unabgegoltenes, zum Tragen. Obgleich die Erneuerung der Welt durch das Herausbilden der »mögliche[n] Zukunft in der Vergangenheit«149 (noch) ausbleibt, vermag Hölderlins Dichtung eine potenzielle Transzendierung über die Gegenwart hinaus zu entwerfen. Die Konkretisierung des Noch-Nicht-Gewordenen ist dabei den titelgebenden Deutschen anheimgestellt. Im Gedicht an sich bleibt die Verwirklichung der retrospektiven Vision aus. Denn die letzten drei Strophen verdeutlichen die Ambivalenz utopischen Denkens: Wovon das lyrische Ich bislang gesprochen hat, ist eine Vision. Das Du, dessen personifizierte »Seele dir auch über die eigne Zeit/sich, die sehnende, schwingt« (V. 43), wird am Ende als »armer Seher« (V. 52) benannt. Die Polarität äußert sich zwischen den »Künftigen« (V. 47), der Antizipation, zu der das Du fähig ist, und der metaphorisch im »kalten Gestade« (V. 45) umschriebenen Gegenwart. Die Unfassbarkeit der Zukunft sowie die Unfähigkeit, aus dem Jetzt ausbrechen zu können, sorgen für die ernüchternde Einsicht am Ende des Poems. Denn »Sehnend verlischt dein Aug/und du schlummerst hinunter/Ohne Namen und unbeweint.« (V. 52-54) Gerade die fehlende Einlösung der Erwartung am Ende dient methodisch der Motivation zum Möglichkeitsdenken. Hölderlins Sozialutopie richtet sich, aus der Begeisterung für die französische Revolution heraus, auf die revolutionsmüden Deutschen, deren Einheit und Gemeinschaft der Dichter ersinnt. Das Gedicht versteht sich diesbezüglich als Appell zur Stimulation utopischen Denkens. Insbesondere die Betonung der Tat in der zweiten Versgruppe verdeutlicht, dass der Text keineswegs eine bloß messianische Erwartungshaltung verkündet, sondern unmittelbar ein wirkungsästhetisches Ansinnen verfolgt. In seinem programmatischen Gesang Germanien150 nimmt Hölderlin eine weitere Instanz zur Motivation hinzu. Es handelt sich um die titelgebende, Antike und Christentum synthetisierende Priesterin,151 die »zu einem diesmal ›offen[en]
149 E. Bloch: Gibt es Zukunft in der Vergangenheit?, S. 294. 150 KSA II, S. 157. 151 Vgl. H.-G. Pott: Schiller und Hölderlin, S. 121.
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Sprechen an der symbolischen Grenze zwischen Nacht und Tag aufruft […]. Dieses offene Nennen soll das Unausgesprochene bezeichnen – die verborgene göttliche Präsenz«.152 Noch stärker als in An die Deutschen durchdringt diesen lyrischen Text die Haltung der »Erwartung« (V. 6). Ein signifikanter Unterschied besteht in der Ambition des Ich, dass sich trotz der »entflohene[n] Götter« (V. 17) vornimmt: »Und rückwärts soll die Seele mir nicht fliehn« (V. 12). Zwar streift das Subjekt noch einmal gedanklich die antiken Gefilde um den »Parnassos« (V. 43). Das eigentliche Interesse gilt jedoch der besagten »Priesterin, d[er] stillste[n] Tochter Gottes« (V. 49). Zu ihr »sandten sie den Boten« (V. 58). Die als Kontrapunkt zum griechischen Polytheismus gesetzte Auserwählte, welcher das Ich einst im Wald begegnete, steht für das Utopische schlechthin. Mehrfach wird sie mit »Fülle« (V. 73) attribuiert. Parallelistisch und paraktaktisch heißt es von ihr: »So ist von Lieben und Leiden/und voll von Ahnungen dir/und voll von Frieden der Busen.« (V. 78-80) Das anfängliche »Staunen« (V. 55), erinnernd an Blochs Tagträume, geht in Germanien mehr und mehr in eine Realisierung über. Die bislang »Verborgene« (V. 77) soll nun am Morgen »offen« (V. 82) werden. Sie soll erscheinen, gegenwärtig werden. Sie verkörpert das Novum, das längst verschollen geglaubte »Wahre[]« (V. 93). Um die wirkungsästhetisch forcierte Motivatorik zu erhalten, schränkt der Text die Offenbarung jedoch zugleich wieder ein. So muß zwischen Tag und Nacht einstmals ein Wahres erscheinen. Dreifach umschreibe es, doch unausgesprochen auch, wie es da ist, Unschuldige, muß es bleiben. (V. 92-96) Neben dieser Dialektik zwischen Erhellung und Dunkelheit, Anwesenheit und Absenz erweist sich weiterhin noch die Konfiguration der Mitte als relevant für eine an utopischen Implikationen orientierte Deutung. So äußert sich Bloch zufolge das Utopische im Dunkel des gelebten Augenblicks, in der momenthaften, noch unvermittelten Mitte zwischen Vergangenheit und Zukunft, wofür die antithetische Spannung aus Tag und Nacht stehen könnte. Da die Unvereinbarkeit nicht aufgehoben wird, bleibt das Gedicht in einer unabschließbaren Denk- und Sprachbewegung, die der potenziellen Herstellung einer »gewünschte[n] Zukunft«153 Rechnung tragen kann. Das Offene und Kommende wird zumindest in Hölderlins frühem Werk noch in der Renaissance des Goldenen Zeitalters gepriesen, wie es beispielsweise auch in
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B. Philipsen: Gesänge, S. 359. A. Bennholdt-Thomsen: Entwürfe, S. 399.
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dem Hexameter-Langgedicht Der Archipelagus154 zum Ausdruck kommt, das Hölderlin bereits in seiner Homburger Zeit zu schreiben beginnt und während seiner produktiven Phase im Hause Landauer vollendet. Die griechischen Inseln der Antike als imaginäre Topografie des Mythos, »von wo die dynamischen Kräfte der Welt ausgehen«,155 entpuppen sich sowohl als räumliche als auch zeitliche Utopie, deren metaphorisch immer wieder im frühlingshaften Blühen beschworener Glanz das lyrische Ich in die Gegenwart zu transferieren bemüht ist. Der Text zeichnet dessen Reise vom griechischen Raum bis nach »Germanien« nach. Die rhetorischen Fragen zu Beginn setzen mit dem Verb »Kehren« (V. 1) ein, worin auch eine Kehrtwende der Zeiten angelegt ist. Am ionischen Ufer feiert das Textsubjekt die Renaissance der Antike: Deiner Inseln ist noch, der blühenden, keine verloren. Kreta steht und Salamis grünt, umdämmert von Lorbeern, Rings von Strahlen umblüht, erhebt zur Stunde des Aufgangs Delos ihr begeistertes Haupt, und Tenos und Chios Haben der purpurnen Früchte genug, von trunkenen Hügeln Quillt der Cypriertrank, und von Kalauria fallen Silberne Bäche, wie einst, in die alten Wasser des Vaters. (V. 12-18) An den wiederkehrenden, hymnisch hypostasierten Frühling koppelt sich die Vorstellung, dass »die erste/Liebe den Menschen erwacht und goldner Zeiten Erinnrung« (V. 6f.) wachgerufen werden. Hölderlin indiziert den Verlust des einstigen Frühlings und zugleich dessen Kompensation mithilfe der umfassenden Kraft der Liebe. Die Erinnerung, ausgehend von der Gegenwart und in die Vergangenheit weisend, »bietet die Grundlage dafür, dass auch und gerade in der als ›Untergang‹ empfundenen Auflösung die Kontinuität des ›Übergangs‹ aufscheint.«156 Besungen wird daher das sich mehrfach wiederholende und gewissermaßen die zeitliche Brücke schlagende »Noch« der Inseln und des »liebliche[n] Land[s]« (V. 11). Es ist die Zeit der Reife, des Aufbruchs, zutage gefördert in ästhetisierten Natureindrücken wie den »purpurnen Früchte[n]« und den »trunkenen Hügeln« (V. 16). Wie Ganter hervorhebt, steht für Hölderlin weniger die reale Inseltopografie im ägäischen Meer im Vordergrund: »Dass die hyperbolische Verdichtung von usuell geographischer und okkasionell übertragener Bedeutung ›Urmeer‹ ein wesentliches Verfahren des Gedichts ist, zeigt unter anderem die sprachliche Darstellung der griechischen Inselwelt«.157 Als Erklärung für das symbolische Verständnis der
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KSA II, S. 107. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 116. L. Ryan: ›Was bildet aber, stiften die Dichter‹, S. 38. F. Ganter: Versus heroicus, S. 102.
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Insel zieht der Interpret vor allem jenen Vers heran: »Alle leben sie noch, die Heroenmütter, die Insel« (V. 19). Die Anrufung der Götter bestimmt den weiteren Verlauf des Textes. Der Blick des lyrischen Ich wendet sich den »Himmlische[n]« (V. 25) zu. Sie sollen »wohnen, wie einst, mit dir« (V. 29). Indem darüber hinaus im Du, »dem trauernden Gott« (V. 39), der »himmlische Glanz« »leuchte[t]« (V. 32), brechen die Grenzen zwischen der himmlischen und profanen Sphäre ein. Mehr noch: Das Wirken der antiken Götter manifestiert sich sowohl in der Natur als auch im Resonanzkörper des Ich.158 Konträr zu diesen feierlichen Impressionen stehen die elegischen Klagen des Textsubjekts, deren Basis in einer defizitären Gegenwart begründet ist. Zwar zeugen noch die »schönen Tempel« von der früheren Blüte der griechischen Hochkultur. Doch die rhetorische Frage »Sage, wo ist Athen?« (V. 62) bringt die Ferne und Verlorenheit jener Epoche und nicht zuletzt die metaphysische Leerstelle in der Gegenwart zum Ausdruck. Dass das Textsubjekt die Welt als eine gebrochene wahrnimmt, spiegelt sich in dem mehrfach wiederholten Motiv des Kranzes (vgl. V. 41, V. 59 und 60) als Sehnsuchtspunkt einer erhofften, aber nicht realisierten Einheit wider. Um den Riss gewissermaßen zu kitten, bedarf es des als Pars pro toto fungierenden »Herz[ens] der fühlenden Menschen« (V. 61.) sowie spezifischer Vermittlerfiguren. Neben dem Dichter gilt die Gunst der Götter im vorliegenden Gedicht ferner dem Kaufmann, der mithilfe seiner Handelsschiffe – oxymorisch – »Fernes [mit] Nahem vereinte« (V. 75). Entsprechend der Hölderlin’schen Dialektik wechselt das mit dem Händler verbundene Hoffnungsmoment im zweiten Teil des Gedichts zu einer langen Schilderung von Kriegsereignissen um die griechischen Inseln herum. »Im Tal ist der Tod« (V. 101), lautet eine Beschreibung des Status quo nach den Verheerungen Athens im Rahmen der Perserkriege. Safranski deutet die Auseinandersetzung als einen Freiheitskrieg: Auf der einen Seite die Kühnheit, die das Eigene verteidigt, auf der anderen Seite der Waffen Menge. Athen behauptet sich, wird dann aber doch zerstört. In der Epoche des Perikles wird es neu und noch schöner aufgebaut. Der griechische Genius gewinnt wieder Blüte und Kraft.159 Das kämpferische Geschehen wird durch Metaphern der Naturgewalt – etwa dem »flammende[n] Bergquell« (V. 96) – chiffriert. Adjektivisch verdichtet bleibt eine Stadt mit Ruinen und personifizierten, »trauernden Gärten« (V. 160) zurück. Zuversicht ergibt sich wiederum aus der Beschwörung des »Bald« (V. 156). Hierin wird die »mit dem Archipelagus symbolisierte Hoffnung eines aus seiner ge-
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Der Mensch ist bei Hölderlin stets Teil der Natur und vermag als solcher auch die Wirksamkeit der göttlichen Kraft in der Natur zu erkennen. Vgl. ebd., S. 14. R. Safranski: Hölderlin, S. 204.
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genwärtigen Entfremdung sprechenden Ichs«160 erkennbar. Unterstützend signalisiert die repetitive Betonung des »Kommen[s]« (V. 137 und V. 143) bzw. »Kommenden« (V. 145 und V. 165) eine Zukunftsgewandtheit. »Liebend zurück zum einsamharrenden Strome/kommt der Athener Volk« (V. 137f.) von den Bergen in die zerstörten Tiefebenen. Die Wiedererrichtung der antiken Polis folgt einem sozialutopischen Impuls: Wo des Portikus Säulen gestürzt und die göttlichen Bilder Liegen, da reicht in der Seele bewegt, und der Treue sich freuend, Jetzt das liebende Volk zum Bunde die Hände sich wieder. (V. 153-155) … Aber Gezelte bauet das Volk, es schließen die alten Nachbarn wieder sich an, und nach des Herzens Gewohnheit Ordnen die luftigen Wohnungen sich umher an den Hügeln. So indessen wohnen sie nun, wie die Freien, die Alten, Die, der Stärke gewiß und dem kommenden Tage vertrauend, Wandernden Vögeln gleich, mit Gesange von Berge zu Berg einst Zogen, die Fürsten des Forsts und des weitumirrenden Stromes. Doch umfängt noch, wie sonst, die Muttererde, die treue, Wieder ihr edel Volk, und unter heiligem Himmel Ruhen sie sanft. (V. 162-169) Treue und Solidarität bestimmen den inneren Kompass der Volksgemeinschaft. Es »grünet der Ölbaum« (V. 177) und in der Aufbruchsstimmung wird die Lust zu »neuen Taten« (V. 173) spürbar. Es ereignet sich die Reinkarnation des alten Griechenlands. »Göttertempel entstehn« (V. 193), »das Olympion [steigt] auf in den Aether« (V. 194). Hervorgegangen ist der Athene »herrlicher Hügel/Stolzer aus der Trauer empor und blühte noch lange« (V. 196). Als von utopischer Relevanz erweist sich zum einen der Fokus auf der bereits benannten Tat, die demonstriert, dass das Gedicht nicht allein von einer passiven Erwartungshaltung geprägt ist, sondern das aktive Gestalten der Menschen einfordert. Zum anderen manifestiert sich der utopische Prozess in der Überwindung der »Trauer«, also einer Mangelerfahrung. Das unverwirklichte Projekt der Vergangenheit dient dabei zur Antizipation einer heilsamen Zukunft. Denn, wie schon Landauer festhält, »die neue Topie tritt ins Leben zur Rettung der Utopie, bedeutet aber ihren Untergang«161 und die Hinwendung zum Neuen. »Das Oben und Unten sind Verdichtungen von Leben und Tod […]. Außerdem ist das Oben mit dem Himmel als Wohnstatt der Götter assoziiert.«162 Daher treibt es das lyrische 160 B. Judex: Friedrich Hölderlins Stromdichtungen als utopische Raum-Poetik, S. 229. 161 G. Landauer: Die Revolution, S. 35. 162 F. Ganter: Versus heroicus, S. 106.
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Ich des Langgedichts zum Parnassos – allerdings rein imaginär. Ausführlich beschreibt es dabei die Divergenz zwischen der irdischen und himmlischen Sphäre, wobei der Gebirgsstock als Konnektiv fungiert. Unten sieht man den »Schutt« (V. 133). »Stumm ist der delphische Gott, und einsam liegen und öde/Längst die Pfade, wo einst, von Hoffnungen leise geleitet,/Fragend der Mann zur Stadt des redlichen Sehers heraufstieg.« (V. 138-140) Obgleich die Entfremdung zwischen den Menschen und Göttern offenkundig erscheint, sind letztere noch immer aktiv. Sie fordern allerdings mit den vom Dichter wiedergegebenen rhetorischen Fragen den Glauben ein: »Aber droben das Licht […]/Ruft es: Denket ihr mein? und die trauernde Woge des Meergotts/Hallt es wider: Gedenket ihr nimmer meiner, wie vormals?« (V. 141-144). Die Kritik des Poeten richtet sich insbesondere an seine Mitmenschen. Hyperbeln und der durchweg pathetische Duktus stellen sein Instrumentarium dar, der an die »fühlenden Herzen« (V. 145) sowie die »begeisternden Kräfte« (V. 146) appelliert. Sobald der Mensch aus seinem Schlaf erwacht, wird die Erfüllung greifbar:
schon hör ich ferne des Festtags Chorgesang auf grünem Gebirg und das Echo der Haine, Wo der Jünglinge Brust sich hebt, wo die Seele des Volks sich Stillvereint im freieren Lied, zur Ehre des Gottes, Dem die Höhe gebührt, doch auch die Tale sind heilig; Denn, wo fröhlich der Strom in wachsender Jugend hinauseilt, Unter Blumen des Lands, und wo auf sonnigen Ebnen Edles Korn und der Obstwald reift, da kränzen am Feste Gerne die Frommen sich auch, und auf dem Hügel der Stadt glänzt, Menschlicher Wohnung gleich, die himmlische Halle der Freude. Denn voll göttlichen Sinns ist alles Leben geworden, Und vollendend, wie sonst, erscheinst du wieder den Kindern Überall, o Natur! und, wie vom Quellengebirg, rinnt Segen von da und dort in die keimende Seele dem Volke. Dann, dann, o ihr Freuden Athens! ihr Taten in Sparta! Köstliche Frühlingszeit im Griechenlande! wenn unser Herbst kömmt, wenn ihr gereift, ihr Geister alle der Vorwelt! Wiederkehret und siehe! des Jahrs Vollendung ist nahe! Dann erhalte das Fest auch euch, vergangene Tage! Hin nach Hellas schaue das Volk, und weinend und dankend Sänftige sich in Erinnerungen der stolze Triumphtag! (V. 167-187)
Die Passage ist in gleich mehrfacher Hinsicht markant für Hölderlins poetische Strategie. Es wird auf stilistischer Ebene zunächst einmal die »parataktische Ten-
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denz«163 erkennbar. Die Hauptsatzreihung bzw. die Dominanz des »Und« sorgen für den Eindruck des Aufstauens, das sich zuletzt im Jubel entlädt. Diese Bewegung fördert das »Antiklassizistische[]«164 von Hölderlins Dichtung zutage. Sie widersetzt sich mimetischen oder festschreibenden Versuchen. »Vollendung ist nahe«, wo Gegensätze – von den »Ebnen« und der »himmlische[n] Halle« – zusammenfinden. Das sozialutopische Modell Hölderlins, das sich etwa in der Hoch-TiefBildsprache spiegelt und auf eine hierarchielose Gemeinschaft verweist, zeigt sich unter Einschluss aller Gegensätze als ein integratives und in sich dynamisches. Im Zentrum dieser Betrachtung steht der erwähnte Chor und dessen Gesang. In ihm deutet sich die Verbindung unterschiedlichster Stimmen an, wie das Oxymoron »Stillvereint im freieren Lied« belegt. Er stiftet eine Gemeinschaft, die durch Krieg und Tod gebrochen wurde. Vereinfacht lässt sich das so ausdrücken, dass auch der Zerfall von Einheit und das Leiden, das mit ihm über den Menschen kommen wird, als Voraussetzungen dafür verstanden werden müssen, dass Einigkeit erstrebt und wiedergewonnen werden kann.165 Die »Lebendigkeit des Einen«,166 gedacht als eine alle verbindende Stimme, wird im Chor avisiert, wobei der vom Subjekt beschworene Gesang zum »Ausdruck und Vollzug der Erfahrung des höheren Zusammenhangs und der Zusammenstimmung in einer gemeinschaftlichen Sphäre«167 wird. Diese bereits angesprochene »Vollendung« ist zwar »nahe«, aber noch nicht geschehen. Ebenso wenig erweist sich der »Triumphtag« als bereits erreicht, zumal er lediglich in den »Erinnerungen« präsent ist. Die Temporalrepetitio »dann« antizipiert die Wiedergeburt Athens in der Metapher eines erneuten Frühlings, der zugleich in Verbindung mit dem Herbst im indoeuropäischen Raum eine dialektische Engführung in des »Jahrs Vollendung« erfährt. In der Sprache ist eine Alleinheit, eine ungebrochene Welt, noch möglich, in der Wirklichkeit hingegen nicht. Daher kehrt Hölderlin den Verlauf der Geschichte um. Sie geht Richtung Vergangenheit. Weil die erdachte, ideale Welt allerdings noch ihrer Ausgestaltung in der Zukunft harrt, erzeugt das Gedicht die für das Utopische bestimmende Spannung zwischen den Zeiten. Entscheidend mutet das im Text selbst erwähnte Prinzip des »Wechseln[s]/und d[es] Werden[s]« (V. 202f.) an. Der Aspekt des Übergangs im Sinne revolutionärer Erneuerung erweist sich auch bei Landauer als bedeutungsvoll für die Entwicklung utopischer Kräfte: »Die Utopie also wird nicht zur äußeren
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Ebd., S. 13. Ebd. D. Henrich: Sein oder Nichts, S. 253. N. Stefa: Die Entgegensetzung in Hölderlins Poetologie, S. 173. U. Gaier: Späte Hymnen, Gesänge, Vaterländische Gesänge?, S. 169.
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Wirklichkeit und die Revolution ist nur das Zeitalter des Übergangs von einer Topie zur anderen, anders gesagt: die Grenze zwischen zwei Topien.«168 Dabei wirkt die Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft hinein. Grundsätzlich sieht Vöhler in Hölderlins Rekurs auf arkadische Idyllen und die Antike als solche, die sich »verschränkt mit der Kategorie des Ursprungs«,169 einen aus der Erfahrung des Mangels heraus begründeten Imperativ zur Aktivität: Um die Defizite der Gegenwart zu bestimmen, entwickelt H. Gegenbilder harmonischen Lebens. Hierbei greift er auf die Vorstellungen vom göttlichen Ursprung der Menschheit, vom Paradies, von der Goldenen Zeit, von Arkadien oder Griechenland zurück und verbindet sie so miteinander, daß sich prägnante Kontraste zur Gegenwart ergeben. Auf dem Hintergrund der Geschichtsentwürfe erfolgt der Appell zur Tat. Die Gegenwartskritik und der revolutionäre Appell stehen somit im Zentrum der Hymnen.170 Diese Dualität aus der Diagnose einer unzulänglichen Gegenwart und einem alternativen Gegenentwurf bringt einen grundlegenden Zug von Hölderlins utopischer Poetik171 auf den Punkt, der ein »triadisches Geschichtsmodell [zugrunde liegt], wonach die Entwicklung ausgehe von einer glücklichen, naturwüchsigen Urzeit, diese dann abgelöst werde durch eine Verfalls- und Entfremdungsepoche und schließlich in ein goldenes Zeitalter münde.«172 Insbesondere die Rede vom »Quellengebirg« und der »keimenden Seele« referieren auf den Bildkomplex aus Geburt, Entstehung und Ursprung. Erneut erweisen sich Hölderlins Werke somit als das Ergebnis jenes dialektischen Prozesses, worin der Dichter faktisch Gegebenes und intellektuell Begriffenes in den ständigen Inmitten-Grund als Harmonische [sic!] Entgegensetzung versenkt, um sie in einer zugleich begeisterten und gesetzlichen Gestalt der Sprache zu gewinnen.173 Diese euphorische Sprachperformanz richtet sich auf eine ersehnte Übereinstimmung von äußerem und innerem Sein, oder – allgemeiner – zwischen dem Ich und seiner Umwelt. Beide Seinssphären sollen jedoch nicht einander gegenüberstehen, sondern nehmen sich bestenfalls gegenseitig auf.174 Gerade »im Archipelagus beschreibt er [Hölderlin] den Augenblick, in dem die sich selbst und der Natur
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G. Landauer: Die Revolution, S. 36. H.-G. Pott: Schiller und Hölderlin, S. 83. M. Vöhler: Frühe Hymnen, S. 290. Vgl. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 113. B. Frischmann: Hölderlin und die Frühromantik, S. 116. N. Stefa: Die Entgegensetzung in Hölderlins Poetologie, S. 184. Vgl. M. Hiller: ›Harmonisch entgegengesetzt‹, S. 114.
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entfremdeten Menschen durch den ›Geist der Natur‹ zurückfinden in die umfassende Gemeinschaftlichkeit«.175 Wandernden Vögeln gleich, mit Gesange von Berge zu Berg einst Zogen, die Fürsten des Forsts und des weitumirrenden Stromes. Doch umfängt noch, wie sonst, die Muttererde, die treue, Wieder ihr edel Volk, und unter heiligem Himmel Ruhen sie sanft (V. 174-178) Wie ein Gärtner pflegt das Textsubjekt die Natur. Sie stellt »für Hölderlin die Identität von Identität und Nicht-Identität dar[].«176 In ihr spiegeln sich die bereits erwähnte Kriegsmetaphorik wie auch der selige Traum von einer Allverbundenheit gleichermaßen. Potenziell können sich in ihr die Lebenden mit Toten vereinen, können Grenzen, die Entfremdung schaffen, wegfallen. Zum Parnassos will ich, und wenn im Dunkel der Eiche Schimmernd, mir Irrenden dort Kastalias Quelle begegnet, Will ich, mit Tränen gemischt, aus blütenumdufteter Schale Dort, auf keimendes Grün, das Wasser gießen, damit doch, O ihr Schlafenden all! ein Totenopfer euch werde. Dort im schweigenden Tal, an Tempes hangenden Felsen, Will ich wohnen mit euch, dort oft, ihr herrlichen Namen! Her euch rufen bei Nacht, und wenn ihr zürnend erscheinet, Weil der Pflug die Gräber entweiht, mit der Stimme des Herzens Will ich, mit frommem Gesang euch sühnen, heilige Schatten! Bis zu leben mit euch, sich ganz die Seele gewöhnet. (V. 210-220) Der retrospektive und räumliche Abstand zur hellenischen Kultur wird mithilfe der Erinnerung, die natürlich auch eine Konstruktion ist, überwunden, insofern diese »dem Bewußtsein verlorene Möglichkeiten zurückbringt«.177 Die Toten als Sinnbild für alles Verlorene werden vergegenwärtigt und ein neuer Raum, der sich nicht mehr in Dies- und Jenseits aufspalten lässt, wird sichtbar. So konstatiert Hausdörfer, dass bei Hölderlin der »Glaube[] an die Notwendigkeit der Erinnerung für die Genese der Utopie«178 entscheidend ist. Er nutzt ein narrativ-poetisches Verfahren zur Hybridisierung der sich wechselseitig entfaltenden Zeitebenen.179 Die Bewegung des Textes folgt einer diachronen, von Verklärung angetriebenen Richtungsbestimmung, an deren historischem Zielpunkt das »Athener Volk und von 175 176 177 178 179
I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 45. Ebd., S. 34. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 115. S. Hausdörfer: Die Sprache ist Delphi, S. 489. Vgl. J. Kreuzer: Zeit, Sprache, Erinnerung, S. 155.
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den Bergen der Heimat/Wogen, freudig gemischt, die glänzenden Scharen herunter/Ins verlassene Tal« (V. 145-147) kommen sollen. Hierin fußt die Idee von Heimat, wo Blumen »von frommen Händen gewartet« (V. 184) werden. Gerade deren Abwesenheit zu Beginn des Textes wirkt motivatorisch, denn die »tatsächliche Unmöglichkeit oder Schwierigkeit, die Heimat zu erreichen und in ihr zu leben, ist nur eine Variante der Unerfülltheit und Unerfüllbarkeit, die den Zauber von Heimat stets ausmacht.«180 Für Hölderlins Heimatbegriff gilt aus Gerlachs Sicht: »Kein Nationalismus im eigentlichen Sinn spricht aus diesen Gedanken, sondern die Erwartung eines nun beginnenden geistigen ›Wachstums‹ der Heimat«. Profiliert wird in dieser Bestimmung die Heimat nicht so sehr als allein geografischer Ort, sondern als eine imaginäre Konstruktion, die zu erreichen steter Annäherung bedarf. Es gibt, wie die nachfolgende Passage belegt, noch den metaphysischen Überbau über der Heimat: Denn es ruhn die Himmlischen gern am fühlenden Herzen; Immer, wie sonst, geleiten sie noch, die begeisternden Kräfte, Gerne den strebenden Mann und über Bergen der Heimat Ruht und waltet und lebt allgegenwärtig der Aether, Daß ein liebendes Volk in des Vaters Armen Menschlich freudig, wie sonst, und Ein Geist allen gemein sei. (V. 235-240) Der Konjunktiv »sei« vermittelt, dass »Hoffnung wie Heimat […] Formen eines Rückbezugs [sind] – freilich des Rückbezugs auf etwas, was noch nicht ist. Sie sind zukunftsorientiert«.181 In dieser Noch-Nicht-Gegenwart der Heimat kommt ein für Adorno funktionales Merkmal einer utopischen Kunst zum Tragen. So konstatiert er, dass ästhetische Gebilde stets »um irgend identisch mit sich selbst zu werden, ihres Nichtidentischen, Heterogenen, nicht bereits Geformten bedürfen.«182 Die vage Heimatvorstellung schlägt sich bei Hölderlin ferner in einer Sprachutopie nieder. Er sucht nach einer Ausdrucksmöglichkeit, die über das rein menschliche Sprechen hinausgeht. Nochmals sei an dieser Stelle auf eine bereits angesprochene Passage hingewiesen: Töne mir in die Seele noch oft, daß über den Wassern Furchtlosrege der Geist, dem Schwimmer gleich, in der Starken Frischem Glücke sich übʼ und die Göttersprache, das Wechseln Und das Werden verstehʼ (V. 301-304)
180 B. Schlink: Heimat als Utopie, S. 27. 181 J. Kreuzer: »Heimath./Und niemand weiß«, S. 63. 182 T. W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 263.
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Das Element Wasser repräsentiert in Hölderlins Dichtung stets das Veränderliche, das zu ewigen Entitäten wie dem Geist als komplementär anzusehen ist.183 Dem Fluiden wohnt die Möglichkeit zur Synthese unterschiedlicher Zeiten, Räume und Sphären inne. So kann sich im Fluss »die zeitliche Aneinanderbindung des mystischen Alten, Tradierten, und des poetischen Neuen, Projektierten, Utopischen […] verdeutlichen«.184 Die Öffnung des Geistes, verglichen mit einem Schwimmer, der sich als Mensch in einem ihm unnatürlichen Lebensraum zu bewähren weiß, für die »Göttersprache« und »das Wechseln und Werden« indiziert die Transzendierung des dichtenden Subjekts und die für Hölderlins Poetologie signifikante enge Verwobenheit der Weltgeschichte mit der Bewusstseinsgenese des Einzelnen.185 Stets geht es um einen harmonischen Wechsel […], aus dem als einer Spannung von Gegensätzen, ja Widersprüchen, der Geist hervorgeht […] als den Geist der Humanität […], wobei zu betonen ist, daß damit nicht ein fader Ausgleich von Gegensätzen (Sinnlichkeit und Ratio/Vernunft) gemeint ist, sondern eine höchste Steigerung beider.186 Die Entwicklung der Menschheit hin zur Utopie einer humanen Gesellschaft beginnt im inneren Kosmos des dichtenden Subjekts. Da das Gedicht sogar mit dem Prädikat »gedenken« (V. 307) schließt, wird das Denken nochmals besonders apostrophiert. Das Ende des Textes ist jedoch nur ein relatives. Sein appellativer Charakter zielt erneut auf das wirkungsästhetische Potenzial aufseiten des Lesers.
3.4
Die unabschließbare Poesie: Offenheit als Möglichkeitsraums
Während Hölderlins Poeme auf der einen Seite präzise ein sozialutopisches Programm ausgestalten, fördern sie auf der anderen eine elementare Offenheit zutage, die den Rezipienten zum aktiven Fort- und Weiterdenken seiner Texte ermuntert. Zu der ambivalenten Struktur gehören überdies spezifische Gedichtformen wie die Ode oder die Hymne, die einen klar umrissenen Ordnungsrahmen ziehen und die Subversion vermeintlicher Geschlossenheit, beispielsweise durch Grenzverwischungen zwischen der hellenischen und hesperischen respektive westlichen Sphäre, betreiben. Dadurch kommt es zu einem Widerstreit differenter Prinzipien: zwischen Formgebung und Formauflösung, zwischen Bezug und Entzug. »Hölderlin lernt
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Vgl. N. Stefa: Die Entgegensetzung in Hölderlins Utopie, S. 103. M. Behre: Hölderlins Stromdichtung, S. 20. N. Stefa: Die Entgegensetzung in Hölderlins Utopie, S. 75. H.-G. Pott: Schiller und Hölderlin, S. 120.
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es, Gegensätzlichkeiten ins Gedicht aufzunehmen. Dadurch vermag es die Totalität des Lebendigen als eine vom Widerstreit geprägte Einheit zu fassen.«187 Vitalität setzt somit Spannung voraus. Das Lebendige lässt sich noch weiter konkretisieren: Es »bedeutet für diesen [Hölderlin]: auf den gemeinsamen Grund alles Lebendigen verweisend. Er erstrebt eine Kunst, deren Aufgabe die Schaffung einer ›Menschheitsharmonie‹ ist.«188 Da die stimmige Vereinigung von Oppositionen allerdings noch Utopie ist, ergibt sich eine produktive, idealerweise zu überwindende Distanz, die Hölderlins Texte problematisieren und reflektieren. In der Ode Ermunterung (erste Fassung, um 1800)189 trauert das Textsubjekt über die Gottesferne. Die ersten beiden Strophen gelten der Anrufung. Das lyrische Ich erwartet elegisch das »Echo des Himmels« (V. 1). Seine Einsamkeit schlägt sich in vier jeweils zwei Verse umfassenden rhetorischen Fragen nieder. Im Sinne des utopischen Vorscheins wirkt trotz dieses depravierenden Befundes die Natur, – hyperbolisch charakterisiert – als die »Alleserheiternde, seelenvolle.« (V. 12) Sie erscheint als die alle Bereiche des Lebens und der Materie durchdringende Energie. So wirkt sie auch im Menschen als Teil der Natur, eben in der angesprochenen Seele. Aufgrund dieser Hybridität lässt sich das Göttliche als weiterer Teil der Natur nicht allein in den »Haine[n]« (V. 13), ergo dem Pantheismus, entdecken, sondern muss sich im Menschen selbst offenbaren. Die Erinnerung, die Thema der fünften Strophe ist, schafft einen »Sakralraum«.190 Darin ergibt sich eine Kontaktmöglichkeit zum Göttlichen. Jene Transzendenz soll im Menschen zur Immanenzerfahrung werden: O Hoffnung! bald, bald singen die Haine nicht Der Götter Lob allein, denn es kommt die Zeit, Daß aus der Menschen Munde sich die Seele, die göttliche, neuverkündet. (V. 13-16) Zum Gesang der Natur soll sich jener des Menschen gesellen, der zum göttlichen Sprachrohr avanciert. Die Gemination »bald, bald« gibt das Projekt als noch zu antizipierendes preis. Neben der Hoffnung als Initiation utopischen Denkens birgt insbesondere die Neuverkündung der Seele einen Möglichkeitsüberschuss. Wie auch in anderen Texten Hölderlins spielen in Ermunterung Spannungen eine große Rolle. Nicht zuletzt der »Othem der Natur« (V. 11), der, so das Oxymoron, »stillebildend wallt« (V. 10), zeugt von einem Widerspruch, der sich in der letzten Strophe deutlich manifestiert:
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I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 13. Ebd., S. 118. KSA II, S. 34. H.-G. Pott: Schiller und Hölderlin, S. 102.
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Und er, der sprachlos waltet, und unbekannt Zukünftiges bereitet, der Gott, der Geist Im Menschenwort, am schönen Tage Wieder mit Namen, wie einst, sich nennet. (V. 25-28) Die Ferne der metaphysischen Instanz äußert sich im »sprachlos[en] […] Gott« (V. 25f.). Präsent werden soll er durch die sprachliche Evokation, was sich in der Paraphrasierung Gottes als »Geist/Im Menschenwort« (V. 26f.) ausdrückt. Der Schlussvers unterstützt die Notwendigkeit der Protestation Gottes durch den Menschen, wobei der konkrete Name eben nicht gesagt wird und dadurch eine Leerstelle zurückbleibt. Vergleicht man die erste mit der zweiten Fassung des Textes,191 fallen spezifische Überarbeitungen auf. Markant tritt eine Modifizierung hin zu einer säkularen, diesseitigen Dimension hervor. Aus »Der Götter Lob« ist etwa »Des Lebens Lob« (V. 14) und aus der »Seele, d[er] göttliche[n]« die »Schönre Seele« (V. 16) geworden. Im Hinblick auf eine utopische Lesart des Textes zeugt die Profanisierung von einer Konzentration auf den Menschen, dessen eigenes Handeln von Hölderlin nunmehr nicht mehr in einer metaphysischen Chiffre verwahrt wird, sondern auf einer Eigeninitiative beruht. Der Mensch kann sich selbst einen Entwurf und eine Zukunftsperspektive verleihen und Dichtung dabei dem Zweck dienen, »Dasein zu offenbaren«.192 Auch der Schluss der zweiten Fassung im Vergleich mit der ersten unterstreicht die antizipative Komponente noch signifikanter. Zwar wird in beiden Fassungen Gott, eine Instanz, die in Hölderlins Werk eher funktional und durch wechselnde Bedeutungen bestimmt ist,193 zunächst als jener bezeichnet, der »Zukünftiges bereitet« (V. 26). In der letzten Ausarbeitung wird die zeitliche Ausrichtung durch die Ergänzung »Kommenden Jahren« (V. 28) hingegen nochmals eindringlicher akzentuiert. In welcher Weise sich der transzendente Überbau »ausspricht« (V. 28), lässt Hölderlin im Vagen. Da das Offene als Kennzeichen des Utopischen am Ende des Gedichts als Leerstelle in die Zukunft weist, ist seine Bestimmung motivierender Natur. Der Leser ist dazu angehalten, die Andeutungen des Textes auf die Zukunft hin imaginär weiter auszugestalten. Die Unbestimmtheit des Textes grenzt den Autor von seinen dichtenden Zeitgenossen ab. Denn »im Unterschied zu den Romantikern erkennt Hölderlins Geschichtsphilosophie keine Teleologie und damit kein Ziel des geschichtlichen Geschehens mehr an.«194 Das Offene garantiert die Möglichkeit unterschiedlicher Entwicklungsrichtungen. In der aus Distichen bestehenden und anlässlich eines
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KSA II, S. 36. D. Henrich: Sein oder Nichts, S. 275. Vgl. M. Janz: Benjamin – Adorno – Szondi, S. 442. A. Geisenhanslüke: Nach der Tragödie, S. 123.
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mit Landauer besuchten Richtfestes entstandenen195 Elegie Der Gang aufs Land196 erweist es sich als das treibende Element des Werdens, das die Dynamik von Dichtung und Landschaft gleichermaßen durchdringt. Bereits das exklamative »Komm!« (V. 1) zu Beginn artikuliert den appellativen Charakter des Poems. Am Anfang steht der Aufbruch des Du, des Freundes. Er soll dem »Offene[n]« (V. 1) zugewandt sein. Obgleich der Tag »trüb« (V. 5) und »leer« (V. 4) erscheint, bahnt sich eine Aktivität Raum. Dem Nichts der »bleiernen Zeit« (V. 6), eine Paraphrasierung für Hölderlins Kritik am politischen Stillstand seiner Epoche, ruft das lyrische Ich einen aufbegehrenden Widerspruch zu: Der Vers »Dennoch gelinget der Wunsch« (V. 7) evoziert den Geist der Hoffnung, die Hölderlin stets aus der Dialektik heraus – im changierenden Abgleich zwischen Ist- und Sollzustand – gewinnt.197 Ihren Wert bemisst das Textsubjekt nicht am Erfolg, sondern am Akt des Hoffens selbst: Nur daß solcher Reden und auch der Schritt’ und der Mühe Wert der Gewinn und ganz wahr das Ergötzliche sei. Darum hoff ich sogar, es werde, wenn das Gewünschte Wir beginnen und erst unsere Zunge gelöst, Und gefunden das Wort, und aufgegangen das Herz ist, Und von trunkener Stirn’ höher Besinnen entspringt, Mit der unsern zugleich des Himmels Blüte beginnen, Und dem offenen Blick offen der Leuchtende sein. (V. 11-18) Indem das »Gewünschte« von einem Kollektivsingular (»wir«) begonnen und allmählich hervorgebracht werden soll, antizipiert das Textsubjekt erneut den Weg zu einer sozialutopischen Gestaltung der Welt. Das Bekenntnis »Zum Leben aber gehört es,/Was wir wollen« (V. 20f.) sowie das in der zweiten Versgruppe akzentuierte »tun« (V. 34) führen vom Wunsch zum Handeln, womit ein grundsätzliches Charakteristikum der Lyrik angesprochen wird, nämlich, wie Lösener/Siebauer konstatieren, Sinn als Aktivität […]. Auch Gedichte lassen sich als Sprachhandlungen verstehen. Die Frage nach dem Sinn zielt dann auf die Sinnaktivität, d.h. auf die Handlungsdimension des Textes: Was macht das Gedicht durch die Art und Weise, wie es sagt, was es sagt?198 Hierbei fällt die häufige Betonung des Offenen ins Auge, das zunächst mit einer epiphanischen Erkenntnis, metaphorisiert im »Leuchtende[n]« (V. 18), einsetzt. Zwar wird diese Unbestimmtheit – allein in der ersten Versgruppe wird »offen« 195 196 197 198
Vgl. R. Safranski: Hölderlin, S. 199. KSA II, S. 88. Vgl. N. Stefa: Die Entgegensetzung in Hölderlins Poetologie, S. 179. H. Lösener/U. Siebauer: hochform@lyrik, S. 20.
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dreimal erwähnt – immer wieder mit dem noch Abstrakt-Göttlichen des ebenso mehrfach angesprochenen Himmels assoziiert. Allerdings adressiert das Offene darüber hinaus ebenfalls den Menschen, der das Potenzial zur Erinnerung und Vergegenwärtigung nutzen soll. Denn »das Gedicht wird der Raum, in dem das Subjekt das Eigene im Offenen findet – wiedergewonnene Leere der Urwelt, in der noch alles möglich war.«199 Safranski sieht die Öffnungsbewegung auch auf der sprachlichen Ebene: »Es ist eine Bewegung des Öffnens, die sich hier vollzieht unter dem Lächeln der Götter, spürbar bis hinein in den Bau der Verse, die zuerst streng und dann beschwingt wirken«.200 Dieses Öffnen ermöglicht den Rekurs auf Vergangenes, hin zu einem Urzustand, in dem die Sphären noch nicht voneinander getrennt sind. Der in der zweiten Versgruppe explizierte Zusammenhang »droben zu weihn bei guter Rede den Boden« (V. 24) weist als Oxymoron auf die Feier, in der sich Irdisches und Überirdisches potenziell verschwistern können. Dazu steigt auch das Wir von unten »heut wünschend den Hügel hinauf« (V. 29). Im Bild der Bewältigung einer unebenen Landschaft tut sich die Möglichkeit zur Transzendierung auf, zum Eintritt in eine andere, zwischen Wirklichkeit und Fantasie befindliche, höhere Sphäre. Der Gang aufs Land fokussiert vor allem ein zukünftiges, noch konjunktives Geschehen, was man an der Wenn-Häufung in der letzten Strophe, die nicht nur konditional, sondern auch temporal zu verstehen ist, ablesen kann. Die Realisierung des Wunschtraumes als utopisches Signum kleidet Hölderlin am Schluss – wie so oft – in eine Frühlingsmetaphorik. Aus dem Nicht-Ort wird der »schön[e] […] Ort« (V. 36). Seine arkadische Originalität gewinnt er in den letzten drei feierlichen Versen: Zahllos, blühend weiß, wallen in wiegender Luft, Aber mit Wölkchen bedeckt an Bergen herunter der Weinstock Dämmert und wächst und erwarmt unter dem sonnigen Duft. (V. 32-35) Die Pflanze sagt etwas über die Qualität des noch zu gestaltenden Ortes aus. Sie referiert auf den Weingott Dionysos und repräsentiert in den noch reifenden Früchten die Grundlage für ein rauschhaftes Dasein. Zudem wird das Offene in der Erwartung des weiteren Wachstums des Weinstocks gen Himmel offenkundig. Das Offene als ein Bestimmungsmoment der Hölderlin’schen Poetik kann sich ferner auch auf die unmittelbare Gegenwart beziehen, wie der vaterländische Gesang Versöhnender, der du nimmergeglaubt (Erste Fassung)201 in seiner ersten Fassung veranschaulicht. Es äußert sich zunächst in der getrübten, noch nicht klaren Wahrnehmung: »Fast wie ein Blinder muß ich/Dich, Himmlischer, fragen, wozu du
199 S. Hausdörfer: Die Sprache ist Delphi, S. 494. 200 R. Safranski: Hölderlin, S. 200. 201 KSA II, S. 134.
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mir,/Woher du seiest, seliger Friede!« (V. 6-8) Beinahe unfähig, die Gegenwart eines Unsterblichen in »Freundesgestalt« (V. 2) erfassen zu können, fühlt sich das Textsubjekt in einen »selige[n] Friede[n]« (V. 8) versetzt. Während das lyrische Ich »heute das Fest« (V. 36) zu feiern vermag, gibt die Vergangenheit, so das Thema der zweiten Strophe, die Genese von einst freudigen Zeiten zur allmählichen Verdunkelung zu erkennen, als sich »über die Augen eine Nacht« (V. 26) legte. »Auffällig ist […], dass Hölderlin den Gang der Geschichte als Zerstörung und Neuerrichtung in die Oxymoron-Struktur des in sich Widersprüchlichen fügt.«202 Angesichts des Bewusstseins, dass das »Himmlische« (V. 46) und Schöne »schnellvergänglich« (V. 46) sind, appelliert das Textsubjekt an einen Jüngling: »Sei gegenwärtig« (V. 42). Aufmerksamkeit für die Gegenwart, lautet daher zunächst die Devise. Das bei Bloch im unmittelbaren Augenblick befindliche Dunkel, »das Jetzt des Existiere [sic!], das alles treibt und worin alles treibt« als das »Unerfahrenste, was es gibt«,203 beschreibt eine utopische Dimension, insofern das gerade zu Erlebende schon im Moment seiner Wahrnehmung entschwindet. Im vorliegenden Gedicht wird die Präsenz Gottes in einem kaum zu erfassenden Augenblick ersichtlich: Des Maßes allzeit kundig rührt mit schonender Hand Die Wohnungen der Menschen Ein Gott an, einen Augenblick nur, Und sie wissen es nicht, doch lange Gedenken sie des, und fragen, wer es gewesen. Wenn aber eine Zeit vorbei ist, kennen sie es. (V. 47-52) Noch ehe die Menschen bemerken, wer ihr Leben, metonymisiert in den »Wohnungen«, »mit schonender Hand« beeinflusst und lenkt, ist die Zeit bereits vorangeschritten, sodass allenfalls noch eine Rekonstruktion möglich ist. Das Göttliche als im Hier und Jetzt wirkendes Abstraktum bildet den Kern einer kaum näher zu bestimmenden und damit utopisch aufgeladenen Vagheit, wobei es bei Hölderlin im Zuge der Säkularisierung seinen ursprünglich religiösen Sinnhorizont tendenziell zugunsten eines ästhetischen aufgibt.204 Das Göttliche steht für eine umfassende Erneuerung von Welt, die sich in einer Ästhetisierung der Welt niederschlägt. Das poetische Sprechen ersetzt im Weiteren daher »das Irrsal« (V. 55) durch den »hohe[n] Strahl« (V. 57), der »durch heilige Wildnis scheine.« (V. 58). Der Vers »Und menschlicher Wohltat folget der Dank« (V. 53) weist zudem darauf hin, dass die metaphysische Intervention nur einen Teil der Erneuerung bedingt. Denn die Wohltat impliziert ferner vor allem humanes Handeln. Die darin enthaltene Tat liest sich als Indikator des Utopischen. Die Dialektik aus göttlicher Zugabe 202 I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 68. 203 E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 341. 204 Vgl. H.-G. Pott: Schiller und Hölderlin, S. 129.
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und menschlicher Aktivität evoziert den Zustand der Ausgeglichenheit, die sich in der Figura etymologica »Versöhnender, nun versöhnt« (V. 61) kundtut. Der sich auf der formästhetischen Seite des Gedichts äußernde Impetus geht zugleich mit einer weiter konkretisierten Sozialutopie einher. Erwähnt werden dazu die »Freunde[]« (V.62). Hölderlins Hoffnung besteht nicht nur in der Herstellung einer anonymen Menschheitsgesellschaft. Vielmehr verfolgt er das Ansinnen einer Gemeinschaft im Geiste freundschaftlicher Verbindung und Treue. Die sich anschließende Strophe expliziert anfangs den Kontrast zur ersehnten Vollkommenheit, spricht sie doch zunächst von einer Zeit der Götterferne. Erlösend wirkt in dieser Phase, in der – statt die Belebung des Gemeinsinns anzustreben – »jeder sich genügt’« (V. 71), der »liebendste« (V. 66) Eingriff des »Vater[s]« (V. 65), der seine Metapher im entzündeten Feuer findet. Erscheint ein Gott, ein Versöhnender in Freundesgestalt, wieder, dann leuchtet eine Klarheit auf, die alles – die Räume der Welt, die Zeiten der Geschichte, die Verfassungen der Völker, die Vorstellungen und Lebensbezüge der Sterblichen vor Gott – in das Licht einer ursprünglichen, seit langem verkürzten Wahrheit taucht.205 Janke wählt eine stark vereindeutigende Interpretation für die zweifelsohne heilsame, metaphysische Intervention. Hölderlins Text lässt jenseits des Hinweises auf die Freundesgemeinschaft den erwünschten Zustand weitestgehend nebulös. Die Proklamation besagt, dass »Neues beginnen« (V. 72) soll und »der Zeiten Vollendung« (V. 74) zu erwarten sei. Dass sich der ideale Zustand noch im Spekulativen befindet und lediglich antizipiert wird, lässt sich durch die temporal verwandte »Wenn«-Konjunktion der letzten Strophe begründen. Diese hebt auf die Ankunft des Gottes ab. Anlässlich dieser Begebenheit ist von mehreren zu feiernden Festen die Rede. Das Gedicht klingt mit einem hoffnungsvollen Entschluss aus: Der Vers Und mögen bleiben wir nun« formuliert den utopischen Versuch, dem Vergänglichen, den Festen, den Entschluss zum beständigen Bleiben an einem Ort entgegenzusetzen. Vom anfänglichen Dunkel geht die Bewegung des fragmentarischen Gedichts hin zum »Sonnenlichte (V. 93). Die Utopie wird als das Helle und Schillernde konnotiert. Die für das Utopische konstitutive Offenheit mag am Ende der ersten Fassung des Textes nur begrenzt erkennbar sein. Noch signifikanter wird sie in der berühmten dritten und letzten Fassung des Poems.206 Auch hier gipfelt die Anrufung in der Begegnung zwischen den Göttern und den Menschen, wobei das Utopische weniger an die pathetisch besungene Ankunft der überirdischen Instanz geknüpft zu 205 W. Janke: Archaischer Gesang, S. 171. 206 KSA II, S. 141f.
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sein scheint. Stattdessen resultiert es aus einem reziproken Wechselverhältnis, endet doch diese Fassung mit den bekannten Versen »Viel hat erfahren der Mensch. Der Himmlischen viele genannt,/Seit ein Gespräch wir sind/Und hören können voneinander.« (V. 49-51) Obgleich dieser Text vollendet ist, lässt er am Schluss eine Offenheit zu. Von besonderer Relevanz ist dabei das »Nennen«. Das Aussprechen stellt bei Hölderlin einen postulierenden Vollzug dar. Die Konjunktion »Seit« expliziert, dass dieses schaffende Moment nicht allein in der dichterischen Setzung zum Ausdruck kommt, sondern aus einem wechselseitigen Zuhören und einer die Sphären verbindenden Kommunikation hervorgeht. Das Gespräch bedeutet eine dynamische Auseinandersetzung mit dem Alteritären. Das dafür notwendige Offene kann überhaupt erst als »die unerlässliche Bedingung für die Verbundenheit mit dem All-Einen«207 angesehen werden. Da der Text somit mit dieser positiven Unbestimmtheit endet, ist ihm im Sinne der utopischen Methode ein motivierendes Potenzial zur weiteren Ausgestaltung eines utopischen Zielinhalts, insbesondere auch aufseiten des Lesers, inhärent.
3.5
Das Pathos als Medium: Persuasio als Strategie des Utopischen Ein Zeichen sind wir, deutungslos Schmerzlos sind wir und haben fast Die Sprache in der Fremde verloren. (V. 1-3)208
Hölderlins Zeitdiagnose geht im Gedicht Mnemosyne (um 1803) von einer fundamentalen Leere und Entfremdung aus.209 Die Schmerzlosigkeit signalisiert eine emotionale Erstarrung, die in einem Sprachverlust bzw. einer -krise210 ihr Pendant findet. Antriebsvermögen und Antizipation setzen hingegen eine Artikulationskompetenz zwingend voraus, weswegen der Dichter nach adäquaten, eben der gesellschaftlichen Erneuerung dienlichen Ausdrucksmöglichkeiten sucht. Es gilt daher, eine Form zu realisieren, die »das Wahre« (V. 17) heraufzubeschwören vermag. Im Zentrum dieses Auslotungsprozesses steht die Frage nach einem echten und unverstellten Pathos, das seit jeher einer Vermittlerfunktion211 Rechnung trägt. »Zwischen erzähltem Ereignis und leiblich verspürter Emotion dient die pathos-
207 208 209 210 211
I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 121. KSA II, S. 202. Vgl. B. Philipsen: Gesänge, S. 376. Vgl. J. Kreuzer: Zeit, Sprache, Erinnerung, S. 147. Vgl. A. Honold: Pathos-Transport um 1800, S. 101.
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geladene Sprache als Medium der Übertragung und der Intensivierung.«212 Während es auf der Produktionsseite einer persuasiven Ambition folgt, insofern durch einen besonderen Modus der Akzentuierung eine Überzeugungskraft transportiert werden soll, macht sich auf der Rezeptionsseite die affektive Dimension bemerkbar. Es »betrifft eben diese Reaktion der Zuschauer: die durch die leidvolle Handlung erzeugten Affekte, insbesondere Furcht beziehungsweise Schrecken (phobos) und Jammer beziehungsweise Mitleid (eleos)«.213 Um die LeserInnen affektiv zu erreichen und sie dadurch zur Reflexion und zum Handeln zu ermutigen, bedient sich Hölderlin zahlreicher rhetorischer Raffinessen: Exklamationen, hyperbolischer Vergleiche, elegischer Interjektionen und nicht zuletzt immer wieder der Aktivierung des eingemeindenden Kollektivsingulars »Wir«. Dieses befördert einen wirkungsvollen Grundton herauf, dessen Intensität unmittelbar der pathetischen Redeweise entstammt. Dabei müssen diese Operationen als Resultat einer ästhetischen Reifung Hölderlins verstanden werden, die letzthin auch eine Veränderung der wirklichen, sozialen Verhältnisse berücksichtigt. »Er muss eine poetische Form finden, die ihm im Dienst der all-einigen Natur das ›heilige Pathos‹ auf eine Weise erlaubt, die nicht ›leer‹«, sondern mit einem Inhalt gefüllt ist. Dieses Problem wird Movens seiner weiteren poetischen Entwicklung«214 und entspringt dem Empfinden des Dichters, in einer wenig erfüllenden Zeit zu leben.215 Ein Bezugspunkt bildet die Geschichte und damit die bereits mehrfach erwähnte griechische Antike. Wenn etwa in dem Gedicht Die Wanderung216 Anrufungen wie »O Land des Homer« (V. 79) oder »o ihr Hallen der Thetis« (V. 89) ertönen, wird die untergegangene Epoche unmittelbar revitalisiert. Allerdings geht dieser Akt über eine epigonale Imitatio hinaus. »Als bloße Nachahmung eines antiken Musters wäre das Kunstwerk ein Totes; gerade damit es, gleich den Werken der Antike, ein lebendiges Verhältniß habe, muß es darauf verzichten, zu sein wie sie. Kraft dieser Dialektik hebt sich für Hölderlin der Klassizismus selber auf«.217 Von einer individuellen und pathetischen Produktivität, die im Gegensatz zur klassizistischen Symmetrie eine fortlaufende Entwicklung auszeichnet, zeugt stattdessen der Modus der Erinnerung. Diese lässt sich in einen sinndeutenden, subjektiven Ordnungsrahmen der Sprache einbetten.218 »Hölderlin zeigt, daß Leben und Gedicht eins werden in der Erinnerung«.219 Sie offenbart ein Leiden
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S. Gödde: Pathos in der griechischen Tragödie, S. 210. Ebd. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 122. Vgl. U. Degner: Bilder im Wechsel der Töne, S. 125. KSA II, S. 144. P. Szondi: Schriften I., S. 330. Vgl. J. Kreuzer: Zeit, Sprache, Erinnerung, S. 150. D. Henrich: Hegel im Kontext, S. 34.
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am und zugleich ein Streben nach dem Nicht-Mehr. Zum Tragen kommt das »gefühlsmäßige Pathos der Einheit (des Ideals) als die illusionäre Kompensation des Leidens an der Uneinigkeit, der Zwietracht, der Teilung, der Verschiedenheit, des Leidens an den anderen und dem anderen«.220 Ferner »gehört [es] zum Zustand der Genesung, daß in Erinnerung und Antizipation, die sich vereinigen in der gegenwärtigen Erfahrung von Schönheit und Natur, die augenblickliche Wirklichkeit der verlorenen Einheit greifbar und sichtbar wird.«221 In Die Wanderung wird die Vergegenwärtigung des Damals im Jetzt wirkungsästhetisch mittels des PathosStils offensichtlich, worin der Gedanke der Vereinigung und Harmonisierung eine bedeutende Rolle spielt. Wie so oft im Werk des Lyrikers nimmt das Gedicht die Erinnerung eines Textsubjekts zum Anlass zu antiken Gefilden zurückzukehren: Dort an den Ufern, unter den Bäumen Ionias, in Ebenen des Kaysters, Wo Kraniche, des Aethers froh, Umschlossen sind von fernhindämmernden Bergen, Dort wart auch ihr, ihr Schönsten! oder pflegtet Der Inseln, die mit Wein bekränzt, Voll tönten von Gesang; noch andere wohnten Am Tayget, am vielgepriesnen Hymettos, Die blühten zuletzt; doch von Parnassos Quell bis zu des Tmolos Goldglänzenden Bächen erklang Ein ewiges Lied; so rauschten Damals die Wälder und all Die Saitenspiele zusamt Von himmlischer Milde gerühret. (V. 64-78) Den Eindruck von Vollkommenheit und Einheit vermitteln Superlative wie »Schönsten« oder Wendungen wie »all/Die Saitenspiele zusamt«. Zudem hebt die Rede vom »Ewige[n] Lied« oder »Parnassos Quell« auf einen gemeinsamen Ursprung ab. Hölderlins Seinsbegriff, »den er unter den Gedanken von Einigkeit und Vereinigung stellt«,222 markiert eine Differenz, die überhaupt erst die Voraussetzung für ein einiges Sein liefert. Dies ist ein erster und bedeutungstragender Schritt zur poetischen Realisierung des Utopischen. »Um die Einheit darzustellen und sie zu steigern, muss sie aufgebrochen, als Einheit zerstört werden, um dann in der Potenzierung ihrer selbst im Geist allererst zu sich zu finden und sie selbst
220 H.-G. Pott: Schiller und Hölderlin, S. 124. 221 Ebd., S. 84f. 222 D. Henrich: Sein oder Nichts, S. 105.
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zu werden.«223 Ähnliches konstatiert Adorno, der gerade das Sich-Entziehen der Kunst und damit ebenfalls die Sprache gegenüber der empirischen Realität als Initiationsmoment beschreibt: »Die Kommunikation der Kunstwerke mit dem Auswendigen jedoch, mit der Welt, vor der sie selig oder unselig sich verschließen, geschieht durch Nicht-Kommunikation; darin eben erweisen sie sich als gebrochen.«224 Angewandt auf das Pathos, macht der Affekt genau jene Disparität gegenüber einem Ursprung, den Hölderlin in verklärender Weise in der antiken Mythenwelt sieht, deutlich, die zu überwinden letztlich die utopische Intention ausmacht. »Doch nicht zu bleiben gedenk ich./Unfreundlich ist und schwer zu gewinnen/Die Verschlossene, der ich entkommen, die Mutter« (V. 91-93), bekennt das lyrische Ich im Gedicht Die Wanderung, das nur durch Sprache, getragen vom genus sublime, den Weg zurück zum Ursprung, dem metaphorischen Schoß der Mutter, zu finden vermag. Das Pathos transportiert das Große der Vergangenheit als Schönheit in die Gegenwart und die himmlischen Götter gleichsam in das irdische Diesseits. Wiedervereint wird die Sphäre des Himmels mit jener der Natur. Denn »so rauschten/Damals die Wälder und all/Die Saitenspiele zusamt/Von himmlischer Milde gerührt« (V. 72-78). Das Pathos dient gewissermaßen als Kompensationsmodus für eine verlorene Mystik. So sieht Pott »im Pathos […] eine Gefühlsform, die unter dem Druck der Säkularisierung als Überlebensform von Traditionsbeständen zur Blüte gekommen ist«.225 Es steht im Zeichen der Rettung und Bewahrung des Alten – allerdings nicht nur um seiner selbst willen. Denn der Leser wird durch die Lektüre der Gedichte Hölderlins und der darin aufgehobenen Vergangenheitsbilder zur Entwicklung einer Imagination durch das Pathos nahezu angetrieben und soll im zweiten Schritt zum »sich in die Zukunft projektierende[n] Mensch[en]«226 werden. Aus der unvollkommenen Geschichte heraus ergibt sich die Möglichkeit, Antizipationen zu denken. In Die Wanderung geht das lyrische Ich daher von der konstruierten Retrospektive allmählich in die Beschauung der Gegenwart bzw. Zukunft über: »doch Menschen/Ist Gegenwärtiges lieb. Drum bin ich/Gekommen, euch, ihr Inseln, zu sehn, und euch,/Ihr Mündungen der Ströme, o ihr Hallen der Thetis,/Ihr Wälder, euch, und euch, ihr Wolken des Ida!« (V. 86-90) Die hier zu beobachtende Zusammenführung der Ebenen Vergangenheit und Zukunft stellt ein utopisches Unterfangen dar, das den Kern der Hölderlin’schen Dialektik aufgreift: Es gilt, im zeitlich Verschiedenen eine Verbindung zu bewahren und zwar nicht durch den Versuch einer Stillstellung des Vorübergehens von Zeit. Eben dies, daß ein Bewußtsein sich in der Verschiedenheit seiner Akte erkennt, ist der zeitliche 223 224 225 226
M. Hiller: ›Harmonisch entgegengesetzt‹, S. 124. T. W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 15. Ebd., S. 134. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 17.
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Sinn der Erinnerung. Die Synthesis, die sie leistet, ist eine Synthesis durch Differenz.227 Erinnerung sorgt somit für die Erfahrung von Differenz. Etwas muss sich von etwas anderem abheben. Die Abgrenzung findet bei Hölderlin über eine sprachlich erzeugte, affektive Ergriffenheit aufseiten des Lesers statt. Aufgrunddessen lässt sich in seinen Texten das für ihn gängige Muster der stilisiert-feierlichen Rede identifizieren, wobei eine klare Zielführung erkennbar wird: »Die Pathosentfaltung wird regelmäßig mit dem Motiv der sehnsüchtig oder frohlockend aufbrechenden Liebe begründet«, weswegen in den Hymnen zumeist der »Enthusiasmus und de[r] Entschluss zum Gesang«228 folgen, um schließlich eine Erneuerung im Verbund bzw. in der Vergemeinschaftung zu evozieren.229 Da die Liebe und der Gesang zur Herstellung eines Kollektivs dienen sollen, leistet das Pathos immer wieder einen Beitrag zur Verwirklichung der bereits mehrfach angesprochenen Sozialutopie Hölderlins. Mittels des Pathos vermag er Extremzustände herzustellen und stilistische Zuspitzungen vorzunehmen. Die feierliche Rede evoziert Begeisterung und kann als »Movens für den Aufbruch der Menschen«230 angesehen werden. Der motivationale Ton der Begeisterung durchdringt ebenso die Christushymne Friedensfeier,231 welche der Schriftsteller anlässlich des von Kaiser Franz II. unterzeichneten Friedensvertrags zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich am 9. Februar 1801 in Lunéville verfasst. Im Zentrum steht das antizipative Versprechen232 auf die Versammlung der Menschen in den himmlischen Gefilden. Hergestellt wird dafür bereits in den ersten Strophentriaden, formal orientiert an pindarischem Muster,233 eine Atmosphäre der Erwartung: Der himmlischen, still wiederklingenden, Der ruhigwandelnden Töne voll, Und gelüftet ist der altgebaute, Seliggewohnte Saal; um grüne Teppiche duftet Die Freudenwolkʼ und weithinglänzend stehn, Gereiftester Früchte voll und goldbekränzter Kelche, Wohlangeordnet, eine prächtige Reihe, Zur Seite da und dort aufsteigend über dem Geebneten Boden die Tische. 227 228 229 230 231 232 233
J. Kreuzer: Zeit, Sprache, Erinnerung, S. 154. Beide Zitate: M. Vöhler: Frühe Hymnen, S. 300. Vgl. ebd., S. 301. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 62. KSA III, S. 430. Vgl. P. Szondi: Hölderlin-Studien, 316f. Vgl. J. Schmidt: Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen, S. 10.
3. Zwischen Dichterasyl und egalitärer Gesellschaft
Denn ferne kommend haben Hierher, zur Abendstunde, Sich liebende Gäste beschieden. (V. 1-12) Die Verse sind attributiv-ornamental aufgeladen, wodurch der hohe und feierliche Ton zustande kommt. Ferner ist der Einstieg abstrakt und paradox zugleich. Denn das Gedicht beginnt mit einem Oxymoron, nämlich mit als »still wiederklingend« apostrophierten Tönen. Neben dieser Spannung fällt zunächst die durchweg positive Grundstimmung ins Auge, die Wendungen wie »Gereiftester Früchte voll und goldbekränzter Kelche« zum Ausdruck bringen. Was kommen wird, dürfte demzufolge ein erfreuliches und hoffnungsstiftendes Ereignis sein: Und dämmernden Auges denkʼ ich schon, Vom ernsten Tagwerk lächelnd, Ihn selbst zu sehn, den Fürsten des Fests. (V. 14-16) Die Leserin bzw. der Leser hat es mit einem lyrischen Ich zu tun, das sich augenscheinlich im Wartezustand befindet. Der »Fürst[] des Festes« könnte für eine auf der Erde in Erscheinung tretende göttliche Instanz stehen. Deutet man ihn nicht konkret als Bonaparte, stünde er auch Safranski zufolge für einen alle Kriege beendenden Gott.234 Denn »Sterbliches bist du nicht« (V. 22), heißt es in der zweiten Versgruppe. Unter Verwendung zahlreicher Antithesen, Antinomien und Oxymora (»Flut noch Flamme« [V. 28], »von Morgen nach Abend« [V. 32], »freundlichernst« [V. 44]) wird sodann dessen Ankunft mit Bildern wie »Denn unermeßlich braust, in der Tiefe verhallend,/Des Donnerers Echo« (V. 33f.) pathetisch beschworen. Diese Epiphanie »einer mit göttlichen Attributen versehenen Gestalt«, die »ins Utopische entrückt«235 zu sein scheint, zeugt nicht von einer in sich geschlossenen Identität. Vielmehr entspricht sie einer »fließende[n] Gestalt«, in der sich das »Prinzip des geschichtlichen Wandels und des historischen Signifikationsprozesses«236 äußern. In ihr vereint sich der Lauf der Geschichte. In dieser eschatologischen Szenerie entfaltet sich die eigentliche Dimension des künftigen Friedens: Er ist nicht nur das Ende der militärischen Auseinandersetzungen, sondern für Hölderlin das Ende der (bisherigen) Geschichte und das Heraufkommen einer neuen Zeit, die für ihn im Zeichen einer Blüte Deutschlands steht.237
234 235 236 237
Vgl. R. Safranski: Hölderlin, S. 228. Beide Zitate: B. Philipsen: Gesänge, S. 368. Ebd. I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 84.
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Jene Evolution, verstanden als visionärer Ausweg aus der Identitätskrise im deutschsprachigen Raum um 1800,238 findet im Rahmen einer spezifischen Form der Kommunikation statt: Viel hat von morgen an, Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang. (V. 98-100) Philipsen sieht in diesen prominenten Versen die Konstituierung einer »Sprachgemeinschaft des Verstehens«239 gegeben, Szondi wiederum die Versöhnung Gottes mit Christus und der befriedeten Welt.240 Grundsätzlich gilt: Wo divergierende Kräfte eine Balance finden, verlieren Hierarchien an Bedeutung. »Da Herrschaft nirgend ist zu sehn bei Geistern und Menschen« (V. 30), werden Gleichheit und anarchistische Herrschaftsfreiheit als utopische Ziele angedeutet. Die auf Respekt und Freundschaftskult aufbauende Gemeinschaft erstreckt sich auf mehrere im vorliegenden Poem hervortretende Figuren. Neben dem Fürst des Festes, dem Geist, den Menschen und dem lyrischen Ich werden auch die »große Mutter Natur als der letzte Grund des sich herstellenden Heils« (V. 106) in der das Gedicht abschließenden Triade erwähnt. Im Ensemble wirken die verschiedenen Kräfte in der achten Strophe als […] Gesang. Und das Zeitbild, das der große Geist entfaltet, Ein Zeichen liegts vor uns, daß zwischen ihm und andern Ein Bündnis zwischen ihm und andern Mächten ist. (V. 98-103) Die Passage mit der Wendung »zwischen ihm und andern« erweist sich als wegweisend für den Utopiegedanken des Poems. Sie forciert das Ideal des Dichters einer organisch gewachsenen Gemeinschaft. Ihr Kitt ist der Dialog. Die Gesprächsform, die Hölderlin als Weise des Umgangs mit seinen Dichtungen mit vor Augen hatte, definiert zugleich die Gruppe der Sprechenden in ihrem menschlichen und gesellschaftlichen Sein; der herrschaftsfreie Dialog, und um genau den handelt es sich bei der Weise des Miteinander-Sprechens, antizipiert im Nachvollzug Hölderlinscher Dichtung selbst ein Stück gesellschaftlicher Zukunft.241 Mit der Zusammenkunft (im und durch das Gespräch) und Befriedung der unterschiedlichen Kräfte manifestiert Hölderlin die Grundgedanken der französischen 238 239 240 241
Vgl. G. Schmidt: Deutsche Europautopien, Kosmopolitismus und Universalismus, S. 50. B. Philipsen: Gesänge, S. 370. Vgl. P. Szondi: Schriften I., S. 313. Ebd., S. 460.
3. Zwischen Dichterasyl und egalitärer Gesellschaft
Revolution von Freiheit, Brüderlichkeit und insbesondere Gleichheit.242 Auf dieser Folie wird die Hoffnung auf die Menschheitserlösung formuliert: »Die Hymnik gerät somit in eine eschatologische Spannung zu dem erwarteten Fest. Ihre Begeisterung resultiert aus der vorweggenommenen Zukunft.«243 Die antizipierte Feier besteht in der Bündelung von Vielheit, welche allerdings erst in der Lektüre stattfindet. Hölderlins »Poetik appelliert an einen aktiven Leser, sich an der Bildungsarbeit der Texte deutend zu beteiligen.«244 Er bzw. die Leserin führt die einzelnen Teilelemente und Figuren imaginär zusammen: In der Konstruktion des ›Gedichteten‹ durch den Rezipienten schließen sich die heterogenen Elemente des einzelnen Gedichts zusammen zur synthetischen Einheit und Geschlossenheit anschaulicher und geistiger Momente […]. Der Verstehensprozeß besteht demzufolge darin, die Gegebenheiten des einzelnen Gedichts zu überschreiten und das ›Gedichtete‹ zu ermitteln als die allgemeine Form der synthetischen Einheit, von der aus wiederum die ›innere Form‹ des einzelnen Gedichts als jeweils besondere Gestalt und semiotische Vielfalt verständlich wird.245 Das Bild des Gesprächs als Daseinsmodus bzw. als Selbstcharakterisierung des chorischen Wir unterstreicht die kollektive Suche nach einer adäquaten Artikulation der Sozialutopie, wozu das Pathos als Mittel der Beschwörung den entscheidenden Impuls gibt. Deie Leserin bzw. der Leser wird mittels des dem Appell dienenden Pathos246 gewissermaßen Teil des mitfühlenden »Wir«. Spätestens hier wird klar, daß die Utopie des Vaterländischen, die sich in der poetischen Feier der Dichtung ereignen bzw. von ihr vorbereitet werden soll, nicht auf ein ›Objekt‹ oder einen ›Inhalt‹ der Gesänge reduziert werden darf. Das Objekt ist das Subjekt der Gesänge, das sich in der Differenz eines realen individuellen und eines in seiner Antizipation erinnerten kollektiven Sprechens zu artikulieren sucht: bald sind wir aber Gesang.247 Diese Sprachutopie ermöglicht den ins Künftige weisenden Übergang zum Kollektiv, dessen Ort eben der Gesang darstellt. Als schöpferische Macht synthetisiert er die vielen Stimmen in einem chorischen Ganzen, ohne die einzelnen Stimmen antinomisch gegeneinander auszuspielen. Vielmehr hat der Dichter eine ausgewogene Komposition gewählt, die auf dem Prinzip der Gleichwertigkeit beruht. Wie auch in anderen späten Texten Hölderlins fällt die Dominanz von oftmals durch 242 243 244 245 246 247
Vgl. A. Esterhammer: The romantic Performative, S. 227. M. Vöhler: Das Hervortreten des Dichters, S. 52. U. Degner: Bilder im Wechsel der Töne, S. 268. M. Janz: Benjamin – Adorno – Szondi, S. 439. Vgl. M. Vöhler: Das Hervortreten des Dichters, S. 56. B. Philipsen: Gesänge, S. 370.
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»und« eingeleitete Parataxen auf (»Und manchen möcht’ ich laden« [V. 43], »Und die lieben Freunde« etc.). Die gleichrangigen Hauptsätze signalisieren eine Egalität, in der die Utopie einer noch zu verwirklichenden, herrschaftsfreien Gemeinschaft aufschimmert. In ihr kommt jeder bzw. jedem Einzelnen derselbe Wert zu.248 Dieses soziale Projekt erweist sich jedoch noch als unvollendet. Denn die Friedensfeier skizziert einen Prozess, in dem temporale Hinweise (z.B. »Viel hat von Morgen an«, »Längst vorbereitend« [V. 32] oder »jetzt erst« [V. 32]) eine strukturierende Funktion einnehmen. Sie zeugen vom Übergang der Vergangenheit in die Zukunft. Die letzten beiden Verse »Denn gerne fühllos ruht,/Bis daß es reift, furchtsamgeschäftiges drunten« (V. 166f.) pointieren exemplarisch die immer wieder beschworenen und zur Reifung respektive – um es mit Bloch zu sagen – zur »Gärung« zu bringenden Anlagen. Dechiffriert könnte die Metapher für Samen »drunten« in der Erde stehen. Sobald sie sich entfalten, wächst die Pflanze dem Licht entgegen. Ins Utopische gewandt, wird in diesem Bild ein Transzendierungsimpuls ersichtlich, der im Pathos seinen Anfang nimmt. Indem Hölderlin den durchweg hohen Ton gebraucht, hebt er die epiphanische Vereinigungsszene in eine ästhetisierte Vorstellungswelt, wodurch es ihm gelingt, das Pathos als schöpferisches Element zu etablieren. Es geht dabei um eine »ästhetisch-literarische[] Utopie, [um] das Drängen auf das politische Handeln als Realisierung des Worts in der Tat«.249 Auf Basis dieser motivierenden Ausrichtung dient das Pathos signifikant der »volkspädagogische[n] Mission«,250 unter deren Vorzeichen das Werk Hölderlins steht.
248 Vgl. S. Hausdörfer: Die Sprache ist Delphi, S. 496. 249 I. Gerlach: »Versöhnung ist mitten im Streit«, S. 53. 250 Ebd.
4. Performative Utopien Rainer Maria Rilkes Dichtung als Sprachbewegung
Bislang wurde Rainer Maria Rilkes Werk nicht unter utopiebezogenen Aspekten betrachtet, wofür es möglicherweise zwei Erklärungen gibt: Zum einen betont die einschlägige Forschung immer wieder zurecht dessen performative Ästhetik. Um ihr methodisch gerecht werden zu können, erscheint der klassische, statische Utopiebegriff, der den meisten Interpreten möglicherweise geläufig ist, wenig ergiebig. Zum zweiten lassen sich politische Aussagen Rilkes oftmals nur indirekt aus seinen Texten destillieren, wodurch deren utopischer Gehalt in gesellschaftlichen Belangen auch nicht unmittelbar auf der Hand zu liegen scheint. Vielversprechender sind hingegen die modernen, an Bloch anschließenden Utopietheorien, die einer Lesart von Rilkes Texten unter den Gesichtspunkten von Alterität, Antizipation, offener Prozesslogik und Möglichkeitsdenken mehr Rechnung zu tragen versprechen. Nachdem hier nun zunächst ein kursorischer Überblick über utopische Anlagen und Tendenzen in der frühen und mittleren Werkphase erfolgt, sollen anschließend die von der Forschung stärker berücksichtigten Spätwerke, darunter vor allem Duineser Elegien, im Zentrum stehen.
4.1
Utopien zwischen Dialog und Ansprache: Der alternative Ort im Du und im Ding
Fragt man beim frühen Rilke, dessen Schaffen mit der »modernist crisis of language«1 zusammenfällt, nach alternativen Orts- und Raumbestimmungen, wird man ihrer in verschiedenen Konstruktionen gewahr. So manifestiert sich für das lyrische Ich etwa im »Du« immer wieder der Hoffnungsanker innerhalb einer unheilvollen Moderne, wie sie der Dichter ausführlich in seinem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) beschreibt. Ausgangspunkt ist nicht selten der für das Fin de Siècle bestimmende Ennui, der als Initiation visionären Denkens
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J. Wich-Schwarz: Transformation of Language, S. 5.
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fungieren kann. Am Beginn steht das für das Utopische entscheidende Momentum des Mangels: Die utopische Intention stößt sich an den Verhältnissen der Gegenwart, die dem Menschen ein Leben aufzwingen, das ihm nicht entspricht. Eingedenk dieser Frontstellung gegenüber einem Status quo, der die Tendenz auf ein besseres Leben unterdrückt, steckt in der Utopie ein Wille zur Veränderung, wie implizit und/oder verzerrt er sich auch immer äußern mag.2 Sichtlich gezeichnet fragt das Textsubjekt in einem titellosen Gedicht aus Rilkes Band Advent im ersten Vers: »Bist du so müd?«3 (V. 1) Als defizitär wird die Gegenwart geschildert, die Ahnung gibt von einer entfremdeten Urbanität. Es herrscht ein »Lärm, der längst auch mich verdroß.« (V. 2) Aufbruchartig appelliert das Ich an das offenbar abwesende Gegenüber, das es aus seiner vermutlich depravierenden Realität zu befreien sucht: »Komm du mit mir« (V. 6). Nachdem beide, vereint in einem »Wir« (V. 3), »wund im Zwange dieser Zeiten« (V. 3) geworden sind, verspricht ein besserer Ort am Ende der ersten Versgruppe Zuversicht. Ganz dem Visuellen zugewandt, weist das Ich auf ein klassisches Sehnsuchtsmotiv hin: »Schau, hinterm Wald, in dem wir schauernd schreiten,/harrt schon der Abend wie ein helles Schloß« (V. 4f.). Bezeichnend sind schon in der Stilistik die »ä«- und »ei«Assonanzen sowie die onomatopoetischen Alliterationen, die Rilke als Klangfluß in Opposition zum mit Chaos und Dissonanzen assoziierten Lärm setzt. Während darüber hinaus der Hain als Metapher für ein so unbehagliches wie unübersichtliches Hier und Jetzt steht, repräsentiert das erleuchtete, märchenhaft anmutende Schloss einen utopischen Zielraum, den es imaginativ zu erschließen gilt. Die nötige Bewegung dorthin bleibt allerdings aus. Statt die Antizipation zu realisieren, steht am Ende die Einsicht in die Überlast der Lebensmüdigkeit: »Der Tag hat alle Träume mir zerrissen, –/du, winde wieder einen Kranz daraus.« (V. 9f.) Durch die Personifikation des Tags wird das Ich in eine passive Haltung zurückgeworfen – eine vergebliche Situation, in der es den möglichen Ausweg einzig auf das nicht antwortende Du projiziert. Das Ich ist »nicht als Erlebnisquell, als Gestimmtheit, Ursprung einer Stimmung gefaßt, sondern als ein selbst nur Seiendes, dessen einzige Funktion das Schauen, das Von-sich-wegsehen-ist, das zum Korrelat das Gegenüber hat.«4 Es zeigt sich – durchaus typisch für die Dialogizität in der (Liebes-)Lyrik des Dichters –, »daß die Geliebte gleichermaßen ins Absolute entrückt wird, wie sie dem Irdischen verhaftet bleibt: Als Variante des neuen
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J. Rohgalf: Jenseits der großen Erzählungen, S. 557. R. Rilke: Sämtliche Werke I, S. 127. Fortan wird diese Quelle mit der Sigle »SW« ausgewiesen. K. Hamburger: Rilke, S. 16.
4. Performative Utopien
Gottes ist sie mitten im Leben und gleichzeitig ein transzendentes Prinzip«.5 Sie erlangt im Poetischen Präsenz, ohne aber faktisch nah zu sein. Der Kranz in der Schlusspointe expliziert das zentrale Bild, in dem die Utopie von Heimat und Einheit aufleuchtet. »Utopie ist […] ein Mittel, um Phantasie und Realität zu verbinden und zu betonen, dass etwas sein kann, was noch nicht ist.«6 Die Kreisform suggeriert proleptisch die potenzielle Deckung einer Wunschvorstellung mit der noch unzureichenden Wirklichkeit. Schon in diesem frühen Text bedient sich Rilke eines charakteristischen Stilmittels, das ihm in seinen späten Gedichten zur Vervollkommnung des Utopischen in dialektischer Form dienen wird: dem der Synästhesie. Im Vers »Deiner Schönheit lauscht kein Licht im Haus« (V. 7) kommt auf Seiten des lyrischen Ich eine Bewusstseinserweiterung zum Tragen, die im Kontrast zur Wirklichkeit steht. Signifikant ist die Katachrese. Denn Licht kann nicht hören. Im poetischen Kontext wird die Unmöglichkeit allerdings möglich: Niemand sonst als das lyrische Ich vermag die Schönheit des Du, also eines visuellen Eindrucks, mittels auditiver Rezeption (»lauscht«) wahrzunehmen. Diese spezifische Form der Perzeption über gegebene Beschränkungen hinweg zeugt von Rilkes Versuch, im Gedicht die Ahnung von einer ganzheitlichen, noch ungebrochenen Welt aufzurufen. »Mit allen mich einzureigen/in die einige Harmonie…«7 (V. 8f.), wie es in einem anderen Poem, beginnend mit dem Vers »Das sind die Stunden, da ich mich finde«. heißt, lautet das Ziel. Zu dessen sprachlicher Realisierung bedient er sich in seiner Lyrik häufig diverser Bilder des Wachstums, Werdens und der Bewegung. Prägnant mutet in diesem Zusammenhang ein Gedicht aus seinem Werk Mir zur Feier an: Träume, die in deinen Tiefen wallen, aus dem Dunkel lass sie alle los. Wie Fontänen sind sie, und sie fallen Lichter und in Liederintervallen ihren Schalen wieder in den Schoß. Und ich weiß jetzt: wie die Kinder werde. Alle Angst ist nur ein Anbeginn; aber ohne Ende ist die Erde, und das Bangen ist nur die Gebärde, und die Sehnsucht ist ihr Sinn –8
5 6 7 8
J. Heinz: Die frühen Gedichtsammlungen, S. 202. P. Faulstich: Reaktivierte utopische Potenziale, S. 301. SW I, S. 182. Ebd., S. 155.
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Bereits der einleitende Appell – mithin der erste Vers – erinnert an die utopische Initiation durch Tagträume bei Bloch. Statt diese Wunschinhalte statisch festzuschreiben, was eher dem klassischen Utopieansatz zueigen wäre, sollen sie losgelassen werden. Indem Rilke sie mit in die Höhe steigenden Fontänen vergleicht, deutet sich ein vertikaler Prozess an. Die Richtungsbewegung der sich entfaltenden Träume gleicht einer Transzendierung. Sie überwinden die Schwerkraft und durchlaufen eine spezifische Transformation. Träume nehmen im aufsteigenden Wasser, das gleichsam als Bild künstlerischer Produktivität gesehen werden kann,9 Gestalt an und kommen als »Liederintervalle[]« (V. 4) zu ihrem Ursprung zurück. Die Verbindung von Anfang und Ende der Bewegung realisiert der Dichter zudem über die »i«-Assonanzen sowie die parataktische ›Und‹-Häufung. Die Interpretation des Textes auf utopische Muster hin setzt eine Abstraktion der zumindest zu Beginn noch gegenständlichen Welt des Gedichts voraus. Nimmt man die Bewegung der Fontäne als Bild der Transzendenz an, so lassen sich weitere Bestimmungsmomente des Utopischen identifizieren. Dazu gehört etwa eine Dialektik: Dass »los« (V. 2) reimlich auf »Schoß« (V. 5) referiert, gibt zu erkennen, dass das mit dem Utopischen verknüpfte Novum aus einer Wechselwirkung aus Loslösung und Einbindung im Sinne eines aufnehmenden Schoßes resultiert. Die spannungsvolle Dynamik ist dabei sogar noch doppelter Natur: Vergegenwärtigt man sich das dialogische Arrangement des Textes, so kommt der utopische Prozess erst auf der Projektionsfläche des Du zustande. Por hält generell zur Bedeutung des Anderen in Rilkes Werk fest: Jedes Wesen setzt sich sein Ziel auf eine transzendente wie auch individuelle Art auf der anderen Bild- und Wissensschicht, und jedes Wesen kann zugleich Ziel, teleologische Transzendenz eines Seienden aus dieser anderen Bild- und Wissensschicht sein.10 Im Gegenüber kann sich somit ein zu entfaltendes, höheres Sein kundtun. Die Relation zwischen dem Subjekt und ihm läuft daher auf eine Verhältnisbestimmung vom »Ich […] zur Totalität des Lebens«11 hinaus. Im Du schlägt sich diese in den loszulassenden Träumen nieder. Aufzusteigen vermögen sie jedoch erst in dem vom Ich etablierten poetischen Möglichkeitsraum, in dem das Abstrakte, ergo die Träume, in der Realisierung der Fontäne an Form gewinnt. Das mechanisch nach oben beförderte Wasser besitzt jedoch nie dieselbe Form. Jedes Hochstoßen der Flüssigkeit ist gewissermaßen ein einzigartiges Bild. In der Fontäne als artifizielles Kulturwerk manifestiert sich gerade der mit Offenheit und Polyvalenz verbundene Begriff des modernen Kunstwerks, dem in Rilkes Werk eine
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Vgl. A. Zsellér: Der Gleichmut der Fontäne, S. 136. P. Por: »Der [defigurierten] Figur zu glauben«, S. 234. J. Heinz: Die frühen Gedichtsammlungen, S. 204.
4. Performative Utopien
transzendierende Funktion zukommt. »Die Kunstbedürftigkeit der Moderne betont, […] dass die Produktion und ebenso die Rezeption von Kunst die dringend benötigte Transzendenzerfahrung ermöglicht, ohne die die Welt nicht lebbar erscheint.«12 Symbole stehen daher immer für den Prozess des Bezeichnens. Rilke sprengt deren konventionellen Gebrauch. Denn er »kennt keine festen Bedeutungsverhältnisse, die es erlaubten, wie in einer Allegorie für einen Namen, ein Bild einfach ein Abstraktum einzusetzen, sondern er schafft seine Symbole von Fall zu Fall neu.«13 Zu diesem wandelbaren Symbolinventar zählen auch die Kinder in diesem Gedicht. Ihre Bedeutung, ausgehend vom Vers »Und ich weiß jetzt: wie die Kinder werde« (V. 6), birgt zunächst eine Referenz auf 18,3-514 des Matthäus-Evangeliums. Jesus wird darin von den Jüngern gefragt, wer der »Größte im Himmelsreich sei«. Der Messias ruft daraufhin ein Kind zu sich und sagt: »Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen«. Verdeutlicht werden die Demut und Unschuld im Motiv des Kindes, in dem sich Jesus selbst spiegelt. Denn, so endet die Passage, »wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.« Die Kinder stehen bei Rilke, nicht zuletzt auf der Folie der biblischen Stelle, für ein Entwicklungspotenzial und somit für ein hoffnungsstiftendes Möglichkeitsdenken inmitten der epochalen Schwermut: Das Zentrum aller Versuche, durch eine neue Organisation der Erziehung den neuen Menschen zu schaffen, bildete die utopische Idee des Kindes als des Bannerträgers der besseren Zukunft, die Utopie der Perfektionierung der Gesellschaft durch die Perfektionierung des Menschen im Medium eines Erziehungswesens.15 Die Kinder sind ein symbolisch relevantes Moment einer von Krisen bestimmten Zeit. Setzt im Gedicht der Chiasmus »alle Angst ist nur ein Anbeginn;/aber ohne Ende ist die Erde« (V. 7f.) das Unbehagen über die Gegenwart, womit sogleich das Entstehungsmoment utopischen Denkens benannt wird, an den Anfang, findet sich in der Grenzenlosigkeit der Welt eine hoffnungsvolle Wendung. Scheinbare Begrenzung äußert sich in der Gebärde des Bangens, welche aber nicht in Verzweiflung und Stillstand führt. Die durch die Parenthese ins Offene weisende Sentenz »Die Sehnsucht ist ihr Sinn –« gibt die Sehnsucht zur Überwindung des defizitären Ist-Zustandes als das Utopikum schlechthin an. Nicht der Inhalt, nicht die vollständige Ausmalung einer idealen Welt markiert das Ziel, sondern die im
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Vgl. H. Klima: Rainer Maria Rilkes Kunstmetaphysik, S. 247. H. Singer: Rilke und Hölderlin, S. 132f. Mt 183-5, Die Bibel. K. Neumann: Utopien der Kindheit als Triebfedern pädagogischer Modelle, S. 790.
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zweiten Teil des Gedichts abstrakt umschriebene Denk- und Transzendierungsbewegung an sich. Den Inbegriff dieser Ausrichtung stellt auch bei Rilke immer wieder Gott dar. So beginnt ein titelloses Gedicht aus dem Band Das Stunden-Buch mit dessen Ansprache durch ein lyrisches Ich: Die Dichter haben dich verstreut (es ging ein Sturm durch alles Stammeln), ich aber will dich wieder sammeln in dem Gefäß, das dich erfreut.16 (V. 1-4) Im Gegensatz zu den anderen Poeten, die in diesem Gedicht kollektiv aufgerufen werden, ist das Textsubjekt ein um Sprache ringender »Sucher« (V. 13). Das passende Gefäß metaphorisiert den Ort, wo Gott als das maximal Fremde zur Geltung kommen und in Sprache präsent werden kann. Indem das lyrische Ich ihn, den Zerstreuten, zu »sammeln« beschließt, übernimmt es die schöpferische Aufgabe des Künstlers. Dieser »sucht den Gott, den er persönlich verloren hat, in seiner Kunst wieder zu erschaffen; die ästhetische Erfahrung substituiert die religiöse«.17 Gott, für Rilke somit eine realweltliche Absenz, tritt als poetische Chiffre in Erscheinung, weswegen der Bezug auch eher einseitig ausfällt: »Die Liebe von und für Gott bezieht sich idealerweise auf das liebende Subjekt und nicht auf das Objekt der Liebe«.18 Es ist allen voran die Utopie einer heilsamen Dichtung, mithilfe derer die Überschreitung des Profan-Gegebenen erneut in den Bereich des Möglichen rückt, wobei das Ich Gott als einen gedachten Orientierungspunkt ansieht. Es versucht, in dessen Sphäre vorzudringen. Als wichtig erweist sich in diesem Kontext die starke Betonung des Ich in dem Gedicht, das sein Wirken noch durch das »aber« als Gegensetzung zu den anderen Dichtern besonders akzentuiert und darüber hinaus erst im Suchen nach Gott sich einen Entwurf verleiht. Deutlich wird ein »Monismus – das poetische Über-sich-Hinauswachsen in weitere Räume«,19 die das Ich mit der Gefäßmetapher selbst herstellt. Dieser Umstand kommt Blochs Konzeption entgegen: »›Utopie‹ ist für Bloch schlicht die Selbsttranszendierungsfähigkeit des Menschen in seiner Vorstellungskraft, seine Potenz zur geistigen Überwindung des Gegebenen, des ›Ist‹, in einem ›Noch-Nicht‹«.20 Dazu bedarf das Ich somit des anderen. Es manifestiert sich, wie die zweite Versgruppe belegt. »Was dieses ›ganz Andere‹ sei, hat Rilke«, so Pittrof, »mehrfach unmißverständlich ausgesprochen, nämlich eine Allverbundenheit, ein uni-
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SW I, S. 291. J. Heinz: Die frühen Gedichtsammlungen, S. 193. R. Vilain: Rilkes ›Bezug zu Gott‹, S. 167. F. Günther: Grenzgänge zum Anorganischen bei Rilke und Celan, S. 14. F. Pohlmann: Sind Utopien »emanzipatorisch«?, S. 324.
4. Performative Utopien
versaler Kommunikationszusammenhang alles Seienden«.21 Das lyrische Ich sucht Gott etwa in den »Winde[n]« (V. 5) und erkennt seinen »Sinn« (V. 12) beispielsweise im »Kinde« (V.11). Dieser Gott, als Ausdruck der »preisende[n] Bejahung des Lebens«,22 äußert sich im für Rilke zentralen Begriff des Bezugs. Ich bringe alles was ich finde: als Becher brauchte dich der Blinde, sehr tief verbarg dich das Gesinde, der Bettler aber hielt dich hin; (V. 7-10) Das nicht ausgesprochene Göttliche zeigt sich eben erst im Bezug zu den erwähnten Personen, wobei der Blinde offenbar mit einer besonderen Beziehungsfähigkeit ausgestattet ist. Er nutzt das Göttliche als Überlebensmittel, als Becher, woraus man trinken und mit dem man schöpfen kann. Auch der erwähnte Bettler vermag dessen Wert in der symbolischen Anspielung auf den Gral zu erkennen – hebt Rilke ihn doch im Text als eine besondere Figur hervor: »sehr tief verbarg dich das Gesinde,//der Bettler aber hielt dich hin« (V. 6f.). Die Distinktion wird durch das »aber« akzentuiert. Statt, wie es dem Typus zugeschrieben ist, etwas zu nehmen, besteht die Geste des Bettlers nunmehr in der Gabe. Erst in der Anschauung dieser Formen des Bezugs postuliert das lyrische Ich: »Du siehst, dass ich ein Sucher bin.« (V. 13) Gott wird dabei so wenig vom Blinden wie vom Textsubjekt selbst wirklich gesehen. Das zweifach gebrauchte Verb »verbergen« – einmal in Bezug auf das »Gesinde« (V. 9) und einmal auf das Textsubjekt, das sich in der letzten Versgruppe als »Eine[n]« beschreibt, »der hinter seinen Händen/verborgen geht und wie ein Hirt« – (V. 14f.) unterstreicht das Numinose und Namenlose des Gottes. Er äußert sich in einer potenziellen Wirkung, die wiederum vom Ich sprachlich evoziert wird und bezeichnenderweise als Macht des anderen und Fernen in Klammern gesetzt ist: »(mögst du den Blick der ihn beirrt,/den Blick der Fremden von ihm wenden)«. Es ist der Hirte, das Ich, das aus seiner Entfremdung durch das Göttliche befreit werden soll. Der Bezug erweist sich in diesem Kontext als reziprok: »Einer der träumt, dich zu vollenden/und: daß er sich vollenden wird« (V. 18f.). Mit dieser Gleichung endet das Poem, anschaulich demonstrierend, dass der Prozess des Entstehens und Findens der Identität unmittelbar vom Gegenüber abhängt. Rilkes Texte »form[en] die Außenwelt so lange, bis sie von einer Traumwelt nicht mehr unterscheidbar ist«23 und somit Entfremdungen aufgehoben sind. Er ruft hier einen Gott hervor, der wiederum, in vage Erscheinung getreten, auf das Ich zurückwirkt. Die poetisch erzeugte Vollendung Gottes im gegebenen Gedicht geht konform mit der zugleich stattfindenden Vollendung des Subjekts. Es vollzieht sich 21 22 23
T. Pittrof: Rilkes ›Gott‹ und der Polytheismus der modernen Kultur, S. 406. N. Fischer: ›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes, S. 20. J. Heinz: Die frühen Gedichtsammlungen, S. 197.
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somit Blochs visionäres Ideal der »Aufhebung des Abstands von Subjekt und Objekt, also auch des sich aufhebenden utopischen Abstands selbst.«24 Das Göttliche muss nicht als personale Einheit verstanden werden, es entfaltet sich als schöpferische Kraft zur Vollendung des Ich, das als Hirt auch in einer priesterlichen Vermittlerund Verkünderrolle aufgeht. Erst in der Aussprache konstituieren sich Ich und Du. Signifikant fällt die Begründung des anderen ebenso in dem Gedicht Eingang25 auf, erschienen in Das Buch der Bilder, einem der Hoffnung verschriebenen »Erbauungsbuch […] zur Lebenshilfe«.26 Statt aus einer Beziehung zwischen Ich und Du auf Augenhöhe geht die Erweiterung des Bewusstseins (um utopische Vorstellungsräume) hierin aus einer erhöhenden Ansprache des Göttlichen hervor. Deutlich wird die Differenz zwischen einem Ist- und Wunsch-Zustand markiert. Nachdem das Du anfangs in seiner »Stube, drin du alles weißt« (V. 2), verbleibt, appelliert das Textsubjekt zur Überschreitung der »verbrauchten Schwelle« (V. 6). Weniger physisch als visuellimaginativ lässt sich die Transzendierung beschreiben, welche von den personifizierten Augen als Pars pro toto geleistet werden soll. Bemüht wird dafür eine Figur des Wachstums – sollen doch die Sehorgane einen »schwarzen Baum« »heb[en]« (V. 7) und ihn vor dem Himmel aufrichten. Was in der Realität zum Scheitern verurteilt wäre, insofern Augen nichts halten, geschweige denn aufrichten können, mutet hier in biblischer Parataxe als machbarer Schöpfungsakt an: »Und hast die Welt gemacht. Und sie ist groß/und wie ein Wort, das noch im Schweigen reift.« (V. 9f.) Die Paradoxie des im Schweigen entstehenden Worts impliziert die Entstehung des Materiellen, der Erde, aus dem Immateriellen, dem Nichts. Mit dem Hervorbringen der Welt setzt dabei zugleich, so die Schlusswendung, deren Loslassen ein. Paradoxerweise ist von den Worten die Rede, also dem Mittel der Schöpfung in der Genesis, deren Sinn die Augen »zärtlich« (V. 12) loslassen (vgl. 11f.). Dieses katachretische Bild zeugt signifikant von dem in der Sprache manifestierten utopischen Akt. Was in der Wirklichkeit einer Unmöglichkeit gleichkommt – nämlich ein »Wort, das«, so das Oxymoron, »noch im Schweigen reift« (V. 10), im Sinn zu begreifen und dann durch die Sehorgane freizugeben – wird im poetischen Rahmen verwirklicht. Das Schweigen lässt dabei eine Nähe zum Bloch’schen Gären zu, das zu Bildern führt. Ihre konkrete Gestalt – eben das Wie der neuen Welt – bleibt im Vagen und soll durch die drei Punkte am Ende des letzten Verses auch offen gehalten werden. Insofern ist die Schöpfung nicht abgeschlossen, sondern eröffnet einen Prozess, in dem die LeserInnen aktiv an der weiteren Ausmalung beteiligt werden.
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E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 367. SW I, S. 371. W. Braungart: Das Stunden-Buch, S. 217.
4. Performative Utopien
Die Pflanzung des Baums gleicht im Gedicht einer Geburt, einer Realisierung eines Noch-Nicht, das als »Tendenz im materiellen Prozeß, als des sich herausprozessierenden, zur Manifestierung seines Inhalts tendierenden Ursprungs«,27 durch sprachliche Setzung mehr und mehr erkennbar wird. Dadurch wird auch die benannte Schwelle überschritten, welche die reale Welt von der des schöpferischen Traums abgrenzt. Utopisch ist in diesem Kontext, dass das Denken – im Sinne Schmidts – Handeln gleichkommt, einem Handeln, das, wenn es Bäume versetzen kann, keinerlei Beschränkungen mehr unterliegt. Ergänzt werden die utopischen Konturen des Baummotivs noch, wenn man sich den einleitenden Text aus Die Sonette an Orpheus vergegenwärtigt, der folgendermaßen beginnt: Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung! O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr! Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.28 (V. 1-4) Die Pflanze avanciert im Werk Rilkes zum Inbegriff der Transzendierung. Orpheus, der die Worte dem alltäglichen Gebrauch entnimmt und zu lebendigen Wesen verzaubert,29 demonstriert sein schöpferisches Können im Baum, der seinem Gesang Folge leistet. »Nature in itself is without language; it ›needs‹ the human spirit in order to express itself.«30 Orpheus fungiert als der Sprachgeber. Seine Artikulation setzt, dem antiken Mythos gleich, Metamorphosen in Gang. Die hochcodierte Paradoxie »O hoher Baum im Ohr«, bestehend im Widerspruch zwischen groß und klein wie außen und innen, konkretisiert zugleich die für die Orpheus-Lyrik typische Transformation: Während in den Sonetten die Verwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares dazu führt, die Wertschätzung des Sichtbaren noch zu steigern, weil es als die einzige Form erscheint, in der uns Existenz gegeben ist, figuriert Rilkes Musikästhetik die Überführung des Hörbaren in ein Unhörbares in erster Linie als eine Befreiung von dem Hörbaren, das uns in seiner musikalischen Form überwältigt und bedroht.31 Auch im vorliegenden Poem folgt auf den Ton das Schweigen, in dem ein Anfang begründet liegt, der jene besagte Befreiung bedeuten könnte. Selbst und gerade in der Leere, dem vermeintlichen Nullpunkt, tut sich das Utopische auf, nämlich in der Dreierfigur »Anfang, Wink und Wandlung« (V. 4). Martinec sieht in der Rilke’schen Verwendung des Schweigens die Quelle für die Entstehung des eigent-
27 28 29 30 31
E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 357. SW II, S. 731. Vgl. G. Landgren: Sprachkritik in Rilkes Gedichtsammlung, S. 282. J. Wich-Schwarz: Transformation of Language, S. 86. T. Martinec: »In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch«, S. 161.
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Utopielyrik
lichen, tiefer spürbaren, orphischen Gesangs: »Im Sinne von Rilkes Musikbegriff erscheint sie [die Musikalität] vielmehr als Ausgangspunkt, der in einem Akt der orphischen Wandlung für die Stille geöffnet wird […]; erst da, wo die Sonette nicht mehr hörbar sind, werden sie selbst zu orphischem Gesang.«32 Die wesentliche Verwandlung verlagert sich im Prozess des Hörens ins Innere. In der Vorstellung des Hörens als eines phonographischen Zeichenaktes […] veranschaulicht sich vielmehr das Vermögen der in der Audition selbst angeregten und angerührten Einbildungskraft, die beim Vernehmen eines Geräusches oder einer ›Ton-Folge‹ (KA4, 702) für das – von Rilke in das Ohr selbst verlegte – innere Auge des Hörenden je schon unwillkürlich mehrdimensionale graphisch-abstrakte Formenspiele generiert.33 Das Schweigen schafft somit Raum für Ungesagtes und damit noch Unrealisiertes. Neben der auditiven Wahrnehmung spielt in der Lyrik Rilkes die visuelle eine wichtige Rolle. Hieran koppelt sich die für Rilkes ästhetische Konzeption prägende Grundidee des »Neuen Sehens«. Im »Glaube[n] an eine kulturexterne, äußere wie innere Wirklichkeit, die sich dem Menschen nicht durch rationalen Zugang, sondern nur erlebend und intuitiv erschließt und per se Wirkmacht und Dignität zukommt«,34 richtet es sich auf ein Jenseits des bloß Sichtbaren. Insbesondere in seinem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge macht Rilke deutlich, »dass es sich dabei um einen Aspekt einer Lebenshaltung handelt, die in Intuition und Erleben einen der Ratio mindestens gleichwertigen Weltzugangs-Modus sieht.«35 Das »Neue Sehen« wird äquivalent zum Utopischen zunächst aus einem ersten Erkenntnisschritt heraus initiiert, einschließlich verstandesbezogener und emotionaler Wahrnehmungsfähigkeiten. Gerade die Durchdringung der Oberfläche hin zu einem im Erleben sich offenbarenden Inneren der Dinge lässt sich im Sinne Blochs als utopisches Momentum einordnen. Um die Anlage im Objekt zu entfalten, braucht es dazu die subjektive Sicht des Ich, also den subjektiven Faktor. »Noch-Nicht-Bewußtes kommuniziert und wechselwirkt mit dem Noch-NichtGewordenen«.36 Aus dieser Dynamik, die sich auf das Ich und das Objekt erstreckt, entsteht eine offene Mitte. Diese fordert als Leerstelle mehr und mehr zur Konkretisierung heraus. Der Text ist in dieser rezeptionsästhetischen Dimension stets mehr als eine passive Seite gegenüber dem Leser. Ein spätes Gedicht aus dem zweiten Teil des Zyklus Die Sonette an Orpheus, das Groddeck als Hybrid aus Sonett und äolischer
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Ebd., S. 162. J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 111. D. Lauterbach: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 321. Ebd., S. 323. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 11f.
4. Performative Utopien
Ode bezeichnet,37 erklärt ihn zum Dialogpartner. Zunächst erfolgt vonseiten des lyrischen Ich eine poetologische Ansprache des Gedichts: Atmen, du unsichtbares Gedicht! Immerfort um das eigne Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, in dem ich mich rhythmisch ereigne.38 (V. 1-4) Der poetische »Weltraum« erscheint als nicht sichtbarer und von der faktischen Realität losgelöster Kosmos. Der Begriff »Gegengewicht« erinnert an die Vorstellung einer utopischen Alternativwelt, die im Übrigen anfangs auch nicht visuell zu verbildlichen ist. Vorausgesetzt, man betrachtet das lyrische Kunstwerk als Objektsphäre, trägt der subjektive Faktor dazu bei, dass das Ich sich darin »rhythmisch ereigne[t]« bzw. konstituiert. Dadurch nimmt es – bildhaft gesprochen – den Puls dieses Textorganismus an und geht in eine sprachliche und somit gleichsam utopische Existenzweise über. Indem die die lyrische Ausdrucksstärke metaphorisierende Welle das Ich zu Beginn der zweiten Versgruppe erfasst, geht es selbst ganz in diesen anderen Zustand über: »allmähliches Meer bin ich« (V. 6). Mit dem einen ganzen Vers ausfüllenden »Raumgewinn« (V. 8) des Gedichts erlangt folglich auch das Ich seine Kontur, das am Ende konstatiert: »Du […]/Rundung und Blatt meiner Worte« (V. 13f.). Der Dialog mit dem Artefakt dokumentiert einen Formungsprozess, in dem das anfangs nicht bestimmbare Ich mehr und mehr zu seiner Gestalt im Gegenüber findet. Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung; und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne, das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt. (V. 9-11) Jener Dreizeiler aus dem zwölften Poem des Orpheus-Zyklus, der charakteristisch mit dem lakonischen Appell »Wolle die Wandlung« (V. 1) einsetzt, pointiert den epistemischen Vorgang. Auf den Impuls einer Person, metaphorisiert in der Quelle, folgt geradezu umgekehrt die Erkenntnis durch die Objektseite, wie die Figura etymologica »erkennt die Erkennung« (V. 9) zeigt. Das Erfassen offenbart sogleich das »Geschaffne« (V. 10) innerhalb einer antithetischen Bewegung. Die Oxymora des mit Schließen assoziierten Anfangs und mit dem Ende einsetzenden Beginns zeugen von dem endlosen Prozess des Über- oder – wie es die letzte Versgruppe nennt – »Durchgehn[s]« (V. 13). Obgleich der Zyklus eine geschlossene Kreisstruktur impliziert, findet ein permanenter Transzendierung- und Entgrenzungsprozess statt,39 und zwar innerhalb einer »multidimensionalen Teleologie von unbe37 38 39
Vgl. W. Groddeck: »Heiter und verteilt«, S. 155. SW II, S. 751. Vgl. W. Groddeck: »Heiter und verteilt«, S. 147.
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stimmbar vielen Ausrichtungen«.40 Es gibt utopische Richtungsbestimmung im Sonettzyklus nur im Plural, im Offenen und somit frei von jedweder Festschreibung. Die Beschränkung der Form wird poetisch aufgehoben und dekonstruiert,41 das Unmögliche ermöglicht, sodass sich zeigt: »Utopisch Gewolltes leitet sämtliche Freiheitsbewegungen«.42 Groddeck bezieht die Aufhebung darüber hinaus auf die Kollision von Antike und Barock: Orpheus’ »Gegenwart in der ihm fremden Form des Sonetts verändert diese Form, unterzieht sie einer ›Metamorphose‹.«43 Die Bewegung in der eigentlich statischen Versstruktur stellt ebenso für Klima das zentrale Moment in Rilkes Sonett-Konzeption dar. So wird der architektonische[n] Strenge durch Enjambements Elastizität verliehen und es werden somit fließende Übergänge geschaffen […]. Die polare Spannung der Bauform begünstigt den ›dialektischen Umschlagsprozess‹, der den Gedichten als Strukturmerkmal zugrunde liegt.44 Auf der Ebene der Formästhetik kommt eine utopische Wechselwirkung zwischen Statik und Dynamik zum Tragen: Die Abwandlung der strengen Form setzt deren Fortbestehen voraus; andernfalls müßte man sie zerstören. Und erst durch die Abwandlung der Form kann Stabilität in Freiheit überführt werden. Auf diese Weise wird auch der Umgang mit der Sonettform zu einem Akt der Verwandlung.45 Daraus ergibt sich insbesondere in Rilkes Spätwerk die spezifische Form des Poetischen in der Moderne, welche die Brüche und die Suche nach der Heilung derselben miteinander verbindet. Ganz im Sinne des Offenen der Utopie als Denkweise kann es letztlich keinen Abschluss der poetischen Bewegung geben: Die kritische Instabilität des Poetischen fordert Stabilisierungsversuche auf dem Weg der Formfindung des Artefakts beständig heraus – und lässt sie im gleichen Moment an sich selbst scheitern. Moderne Formgebung bedeutet Kritik der Form, und noch das strengste formale Arrangement muss mit der Möglichkeit seiner kritischen Zersetzung rechnen, einer Zersetzung allerdings, die selbst Form annimmt und stiftet.46
40 41 42 43 44 45 46
P. Por: »Der [defigurierten] Figur zu glauben«, S. 248. Vgl. J. Röhnert: Das Ur-Sonett an Orpheus?, S. 201. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 6. W. Groddeck: »Heiter und verteilt«, S. 148. H. Klima: Rainer Maria Rilkes Kunstmetaphysik, S. 117. T. Martinec: »In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch«, S. 164. K. Birnstiel: Kritik und Poetik, S. 411.
4. Performative Utopien
Die permanente Wechselwirkung wird bei Rilke als eine Chance ersichtlich. Leere und Abgründigkeit bieten dabei geradezu die Voraussetzung für schöpferische Möglichkeiten. Die kühnen Sprachfiguren der Sonette überstehen die Leere, von der sie sich als ihrem Abgrund herschreiben, indem sie sie mit dem Offenen ihrer multiperspektivischen Räume […] beschreiben. Es ist eine elementare Leere, in deren Raum hinein die Schrift ihre Figuren projiziert.47 Die Schrift als Ausdrucksform des Ich trägt somit zur Manifestation der volatilen Objektseite bei und sorgt dafür, dass das Ding »zu sich selbst«48 kommt. Während letzteres austauschbar ist, vermag sich das Ich demgegenüber als das Unverwechselbare zu konstituieren.49 Rilkes lyrische Utopien entstehen somit stets aus einer Relationalität heraus. Dies schließt dialogische und dingbezogene Verhältnisse ein. Hinzu kommen Orte, Motive sowie verschiedenartige Figurationen, die sich als Medien der Verwandlung subsummieren lassen, wie das anschließende Kapitel näher erläutert.
4.2
Motive des Utopischen: Engel, Rosen und Fantasiegestalten
»Jedes Exemplar utopischer Literatur ist als Ergebnis eines jeweils andersartig akzentuierten Zusammenspiels schöpferischen, utopischen Denkens mit der literarischen Phantasie zu sehen.«50 Auch in Rilkes Werk wird diese Kombination – bezogen auf ausgewählte Figuren und Motivträger, die oftmals »die Versöhnung von Gegensätzen und die Erfahrung von Einheit«51 vermitteln – offenkundig. Sie sind Transporteure einer Poetik des Utopischen schlechthin. Wie bereits dargelegt wurde, stehen visionäre Alternativitätsvorstellungen als Kern utopischen Denkens52 bei Rilke im Kontext einer Dialektik zwischen innen und außen. Sie ist geknüpft an den von ihm selbst geprägten Begriff des »Weltinnenraum[s]«.53 (V. 14) Deutlich tritt dieses Ineinander von Opponenten im Motiv der Rose zutage. »Der Rosen-Dichter, der einen ganzen französischen Zyklus von 24 Gedichten dieser einen Blume gewidmet hat, möchte gerade diese Trägerin seiner Poetologie von allem befreien, was eine Verhaftung an die conditio humana verrät.«54 Program-
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J. Röhnert: Das Ur-Sonett an Orpheus?, S. 201. J. Steiner: Das Dinggedicht, S. 190. Vgl. J. Steiner: Zivilisation und Gefahr, S. 97. W. Enninger: Zur Didaktik der literarischen Utopie, S. 187. J. Heinz: Die frühen Gedichtsammlungen, S. 205. Vgl. M. Konopka: Utopisches Denken – notwendiger denn je!, S. 307. SW III, S. 92. B. Böschenstein: Garten und Tod in Gedichten Georges, Trakls und Rilkes, S. 32.
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matisch lässt bereits der Titel Das Rosen-Innere55 aus dem Band Neue Gedichte auf einen geheimnisvoll-verborgenen, eigendynamischen Raum schließen. viele ließen sich überfüllen und fließen über von Innenraum in die Tage, die immer voller und voller sich schließen bis der ganze Sommer ein Zimmer wird, ein Zimmer in einem Traum. (V. 12-18) Die »ie«- und »ü«-Assonanzen sowie die Enjambements untermalen klanglich das angedeutete Aus- und Überfließen aus dem Inneren. Auf der anderen Seite scheint die Außenwelt in das Innere vorzudringen, das sich im Bild eines Zimmers verschließt. Der erwähnte Traum erscheint dabei Voßkamp zufolge als typisches »Trennungsritual[]«56 zwischen Realität und Potenzialität. Unmittelbar wird die Assoziation einer geschlossenen Rosenblume aufgerufen. Worin besteht dieser in zwei Richtungen sich ausbreitende Strom, der sich durch eine permeable Grenze zwischen poetischem Subjekt und der Welt bewegt? Offenbar versteht sich der Fluss als Inbegriff der Poetologie selbst. Der Sprachstrom gleicht einem Imaginationsstrom, dessen Inhalt Rilke auch in anderen thematisch einschlägigen Gedichten wie beispielsweise Die Rosenschale57 offenhält. Die titelgebende Gefäßfigur lenkt den Blick des Rezipienten auf die kaum mehr fassbaren Grenzphänomene der Existenz: Nun aber weißt du, wie sich das vergißt: Denn vor dir steht die volle Rosenschale, die unvergeßlich ist und angefüllt mit jenem Äußersten von Sein und Neigen, Hinhalten, Niemals-Gebenkönnen, Dastehn, das unser sein mag: Äußerstes auch uns. Lautloses Leben, Aufgehn ohne Ende, Raum-brauchen ohne Raum von jenem Raum zu nehmen, den die Dinge rings verringern, fast nicht Umrissen-sein wie Ausgespartes und lauter Inneres, viel seltsam Zartes
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SW II, S. 622. W. Voßkamp: Emblematik der Zukunft, S. 57. SW II, S. 522.
4. Performative Utopien
und Sich-bescheinendes – bis an den Rand: ist irgend etwas uns bekannt wie dies? (V. 9-22) Das Bekenntnis, dass das »Äußerste von Sein und Neigen« (V. 12) bedeutet, »Äußerstes auch uns« (V. 14) zu bleiben, stellt die utopische Grundierung von Rilkes Rosenmotiv, das die »Verwandlung eines Äußeren in ein Inneres«58 repräsentiert, heraus. Die Inhalte der Schale sind sprachlich zwar vage zu benennen und entziehen sich einer genaueren Ausgestaltung. Gerade im Motiv der Schale wird jedoch Blochs Metapher für das im Laufe eines Lebens immer weiter reifende Subjekt als Krug sehr anschaulich: Wohl aber kann ich krugmäßig geformt werden, sehe mir als einem Braunen, sonderbar Gewachsenen, nordisch Amphorenhaften entgegen, und dieses nicht nur nachahmend oder einfach einfühlend, sondern so, daß ich darum als mein Teil reicher, gegenwärtiger werde […]. Alles führt sein eigenes Leben, ragt in ein fremdes, neues Gebiet hinein und kommt mit uns, wie wir lebend nicht sein könnten, geformt zurück.59 Auch zu Mannheims Konzeption lässt sich eine Verbindung herstellen. Vergegenwärtigt man sich dessen Konstituierung des Utopischen aus dem Umstand heraus, dass subjektbezogenes Sein nicht mit dem Äußeren konform ist, so setzt diese Deckungsungleichheit das Bestreben zur Versöhnung von innen und außen frei. Das Bewusstsein, dass die Rosenschale eben bis an den Rand des Wahrnehmbaren führt, wirkt motivierend. In der vorliegenden Gedichtpassage zeigt sich der utopische Versuch, das Unmögliche möglich zu machen, nämlich das »Raum-brauchen ohne Raum von jenem Raum/zu nehmen, den die Dinge verringern« (V. 16f.). Zur Beschreibung gebraucht Rilke unterschiedliche Abstrakta, die allesamt Valenzcharakter aufweisen: »fast nicht Umrissen-sein wie Ausgespartes/und lauter Inneres, viel seltsam Zartes/und Sich-bescheinendes – bis an den Rand« Allein die schwierige Fassbarkeit dieser Grenz- und Randbilder verdeutlicht den komplexen Versuch der Annäherung. Da dieser Vorgang der Konformisierung von innen und außen jenseits des empirisch Erfahrbaren liegt, bemüht sich das lyrische Ich bei Rilke typischerweise um die Suche nach einem Vergleich. Auf die Frage »Ist irgend etwas uns bekannt wie dies?« (V. 21) folgt daher eine Reihe von Gleichsetzungen: Und dann wie dies: daß ein Gefühl entsteht, weil Blütenblätter Blütenblätter rühren? Und dies: daß eins sich aufschlägt wie ein Lid, und drunter liegen lauter Augenlider, 58 59
D. Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 157. E. Bloch: Geist der Utopie, S. 14.
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geschlossene, als ob sie, zehnfach schlafend, zu dämpfen hätten eines Innern Sehkraft. Und dies vor allem: daß durch diese Blätter das Licht hindurch muß. Aus den tausend Himmeln filtern sie langsam jenen Tropfen Dunkel, in dessen Feuerschein das wirre Bündel der Staubgefäße sich erregt und aufbäumt. (V. 22-32) Offensichtlich werden Paraphrasierungen im Modus des Vergleichens. Auffällig ist dabei der Tiefensog. Die Blätter sollen sich wie ein Augenlid aufschlagen und dadurch weitere Innenräume preisgeben. Verborgen liegt dahinter die konjunktivisch angedeutete innere Sehkraft. Die dritte anaphorische Bestimmung erzeugt ein hoch paradoxes Bild: Denn das Licht aus – hyperbolisch – tausend Himmeln soll durch die Blätter abgefangen werden, sodass eine Dunkelheit zurückbleibt, die wiederum einen Feuerschein entfachen soll. Verbunden wird die Dunkelheit mit dem brüchigen Bild des sich erregenden und aufbäumenden »wirre[n] Bündel[s]/der Staubgefäße«. Die Rose besitzt einen geheimnisvollen Innenraum. In ihm finden Veränderungen statt, deren Resultate wieder nach außen transportiert werden. So sei »die Bewegung in den Rosen […] von so kleinem Ausschlagwinkel,/dass sie unsichtbar blieben, liefen ihre/Strahlen nicht auseinander in das Weltall.« (V. 31-34) Die Rose fungiert das Sinnbild von Rilkes poetischer Utopie schlechthin, deren Bewegung vom Unsichtbaren zum Sichtbaren reicht und in die Welt strahlend hineinwirkt. An ihr lässt sich evident begründen, wie »die Sphäre des Sicht- und Greifbaren permanent auf jene des Unsichtbaren hin transzendiert [wird], welche in Rilkes Lyrik als ›Raum‹ beschworen wird.«60 Görner konkretisiert diesen noch weiter: Die Bezugspoetik Rilkes verstand das Gedicht als Resonanzraum, dessen Schwingungen sich idealerweise im universellen Weltraum fortsetzen und umgekehrt: Kosmische Schwingungen gehen auch ins Gedicht ein. Das Rilkesche Gedicht wollte sich ihnen zu öffnen, für sie offen [sic!] zu bleiben [sic!].61 Die rote Blume als Inbegriff der wechselseitigen Transgressivität ist nicht außerhalb von Zeit und Raum zu denken, sondern wirkt als Teil dieses Settings. Sie hat eine über die empirischen Dimensionen hinausweisende Anlage. Ihr »Wesen ist«, analogisiert mit Bloch, »unfertiger Tendenzinhalt: so wird es [das Objekt] nicht geschaut, sondern aus den Tendenzen der Wirklichkeit utopisch erkannt und so auch mitverwirklicht.«62 Das Objekt formt sich im Rahmen der Betrachtung, gewinnt Gestalt in der Wahrnehmung. Das Geheimnis der Blume zu entfalten, erfordert 60 61 62
J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 164. R. Görner: Im Welt-Raum des Gedichts, S. 159. E. Bloch: Einzige Invariante, S. 263.
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daher stete Approximation, den Drang zur Sichtbarmachung des noch nicht vollständig sich Zeigenden. Die dringende Frage nach den Möglichkeiten einer Vermittlung von Sichtbarem und Unsichtbarem ist ein Leitmotiv sowohl in der Dichtung wie der ästhetischen Schriften Rilkes. Anders als die frühe Vorwand-Ästhetik zielt die hier entwickelte Utopie einer plastischen Sicht- und Greifbarkeit des Geistigen an der Oberfläche des Körpers auf die unvermittelte physiognomische Manifestation und den konkreten handgreiflichen Ausdruck des Innern.63 Jede Möglichkeitsvision, die in einem Subjekt keimt, und dann die Richtung zu einer neuen Welt antizipiert, bedarf trotz dieser Tendenz zur Performativität und Immaterialisierung eines Mediums, das schlussendlich Sichtbarkeit gewährt. In Rilkes Ästhetik basiert es auf einer Kombination aus Sprache, Bild und Vorstellung. Alle drei Teilbereiche sind derart offen, dass sich Metamorphosen vielfältig ereignen können. Bezeichnenderweise endet Die Rosenschale mit einem allumfassenden Verwandlungsmoment: »Sich enthalten heißt: Die Welt da draußen […]/bis auf den vagen Einfluss ferner Sterne in eine Hand voll Innres zu verwandeln.//Nun liegt es sorglos in den offenen Rosen.« (V. 65-67) Um den Vorgang der transformativen Internalisierung des Äußeren zu verbildlichen, nutzt der Dichter die Hand und Rose als ambige Motive: Obgleich beide Dinge dazu imstande sind, etwas zu verbergen, liegt das verwandelte Leben nun »offen« in der Blüte. Die Wirklichkeit ist in Imagination übergegangen und wird im Motiv der Rosen zugleich im materiell-Sichtbaren gehalten. Ähnliches gilt auch für ein weiteres Dinggedicht aus dem Band Neue Gedichte, das kanonische Sonett Blaue Hortensie.64 Ausgangspunkt der poetischen Miniatur ist die Beschreibung der Blume, die sich in den ersten drei Versgruppen als welkende zu erkennen gibt, wobei allen voran das fahle, ja, »verweint[e] und ungenau[e] Blau« (V. 5) im Vordergrund steht. Im barocken Impetus schildert die Miniatur die Vanitas von einer Pflanze im Speziellen und der Existenz im Allgemeinen. So »sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,/hinter den Blütendolden, die ein Blau/nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.« (V. 2-4). Um den grundsätzlichen und gleichnisartigen Charakter zu evozieren, wiederholt Rilke zum einen zweimal das »Spiegeln«, das letztlich die symbolistische Doppelebene des Verstehens impliziert, zum anderen gebraucht er verschiedene Vergleiche. Die Komparation »wie in alten blauen Briefpapieren« (V. 7) führt das Gesehene mit einer poetologischen Dimension eng und gibt den Text in seiner Literarizität zu erkennen. Die Analogie zum »Verwaschene[n] wie an einer Kinderschürze« (V. 9) unterstreicht wiederum die Alltäglichkeit des Vergänglichen. 63 64
J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 165f. SW II, S. 519.
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Erst als im zweiten Terzett durch »plötzlich« ein Wendepunkt eingeleitet wird, »scheint das Blau sich zu verneuen« (V. 12). Im Neologismus wird der Leser der Überwindung des herbstlichen Verfalls gewahr. Wie in einem Gemälde des Impressionismus, den Rilke vor allem in seinem Frühwerk adaptiert,65 »sieht/ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.« (V. 13f.) »Sehen heißt für Rilke das eigene Erleben von Wirklichkeit bis zur äußersten Bewusstheit zu steigern und die äußerlich wahrnehmbare Realität in Beziehung zu setzen zu seelischen Vorgängen.«66 Die utopische Umkehrbewegung, die für Rilkes dichterisches Konzept letztlich konstitutive Bejahung des Lebens67 sowie die damit einhergehende Revitalisierung entstehen durch einen Akt, der Sprache als Impuls zur Kreation und grenzenlosen Gestaltungskraft definiert. Das Blaue wird personifiziert, zu einem Handlungsträger, der das Welken aufhebt und in einen Zustand der Selbstnivellierung überführt. Das Spektrum des Möglichen erstreckt sich dabei auf Antinomien und Paradoxien. Im Raum sich widerstrebender Kräfte oder ausschließender Aussagen stehen sich das optional Machbare und das Nicht-Realisierbare gegenüber. Was den Spalt zu überwinden vermag, ist sprachlicher und poetischer Ausdruckswille. »Das Erlebende und das Erlebte sind aufeinander angewiesen. Das lyrische Ich bedarf der vorgängig erlebten Welt zum Sagen, und die Welt kommt erst […] durch dieses Sagen zu sich selbst.«68 Die Pflanze muss also zunächst im Stadium des Vergehens dokumentiert werden, um ihre Belebung schließlich zu begründen. Das Imaginäre gewinnt in Worten an Kontur, die eine neue Welt jenseits des Faktischen umfassen. Hierin trifft der Leser durchaus auch auf fantastische Motivfiguren wie etwa das Einhorn in dem gleichnamigen Gedicht aus dem Band Neue Gedichte: Das Einhorn Der Heilige hob das Haupt, und das Gebet fiel wie ein Helm zurück von seinem Haupte: denn lautlos nahte sich das niegeglaubte, das weiße Tier, das wie eine geraubte ›hülflose Hindin‹ mit den Augen fleht. Der Beine elfenbeinernes Gestell bewegte sich in leichten Gleichgewichten, ein weißer Glanz glitt selig durch das Fell, und auf der Tierstirn, auf der stillen, lichten, stand wie ein Turm im Mond, das Horn so hell, 65 66 67 68
Vgl. J. Heinz: Die frühen Gedichtsammlungen, S. 185. M. Gross: Ich bin auf dem Wege,/ein Arbeiter zu werden…«, S. 54. Vgl. L. Wenzler: Rilkes Wege mit ›Gott‹, S. 460. J. Steiner: Anschauungsformen Rilkes, S. 17.
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und jeder Schritt geschah, es aufzurichten. Das Maul mit seinem rosagrauen Flaum war leicht gerafft, so daß ein wenig Weiß (weißer als alles) von den Zähnen glänzte; die Nüstern nahmen auf und lechzten leis. Doch seine Blicke, die kein Ding begrenzte, warfen sich Bilder in den Raum und schlossen einen blauen Sagenkreis.69 Im Zentrum des Textes steht ein sphärischer Moment, insofern ein Heiliger beim Gebet der Epiphanie des Fabelwesens gewahr wird. Dass mit dem »leis[en]« (V. 15) respektive »lautlos[en]« (V. 3) Auftreten des Tiers eine Schwelle zum Noch-NichtGewordenen übertreten wird, wo nicht mehr die Gesetze von Logik und Realität gelten, vermittelt der prägnante Silbentausch »hülflose Hindin« (V. 5) im letzten Vers des einleitenden Quintetts. Dabei handelt es sich um eine Allusion auf die griechische Mythologie, wonach Artemis fünf Hirschkühe mit goldenen Hufen und goldenem Geweih, auch als Hindinnen benannt, gejagt haben soll. Lediglich eine konnte entkommen und sollte später Herakles bei seiner Jagd ermüden. Indem Rilke die Hindin als Vergleich für das ohnehin imaginäre und im Text durch reichlich Lichtmetaphorik hypostasierte Einhorn nutzt, wird dessen Bedeutung als Fantasiefigur weiter unterstrichen, da es Kühe mit goldenem Geweih einzig als Sagengestalten gibt. Darüber hinaus spielt Rilkes Text mit dem Einhorn auf ein kulturgeschichtlich tief verankertes Motiv an. Bereits im Physiologus findet sich das Grundnarrativ. Demzufolge erscheint das Einhorn im Zeichen der Jagd, das nur mithilfe einer Jungfrau anzulocken ist. Ferner deutet das entsprechende Kapitel auf die Markierung der Fabelgestalt als Christus und der Jungfrau als Maria hin.70 Daran anschließend erweist sich das Tier in der christlichen Tradition immer wieder als »Sinneszeichen des Kreuzes und Christi des Eingeborenen, als Bild für Patriarchen, Propheten, Juden und Christen (Anhänger des einen Gottes), als Sinnbild der Einheit des Glaubens«.71 Mitunter wird das Einhorn – etwa in den Gesta Romanorum – von Maria und Eva gefangen genommen.72 Hervorzuheben ist außerdem die heilsame Wirkung des Horns, wie sie beispielsweise in Wolfram von Eschenbachs Parzival zum Tragen kommt.73 Dass die Sagengestalt somit auf Basis unterschiedlicher Überlieferungen als sakrales, mit Reinheit assoziiertes Wesen zu verstehen ist, dürfte den Beginn von
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SW II, S. 506. Vgl. J. Einhorn: Einhorn, S. 1247. Ebd, S. 1249. Vgl. ebd., S. 1252. Vgl. ebd., S. 1250.
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Rilkes Gedicht nachdrücklich erklären. Selbst der Heilige scheint von dessen singulärer Aura erfasst zu sein, weswegen auch die konventionelle Weltwahrnehmung außer Kraft gesetzt ist. Verspielt werden im Gedicht feste grammatische Strukturen aufgelöst und der Leser durch eine spezifische Blickführung verführt. So pointiert gerade das Pars pro toto des flehenden Auges den hohen Stellenwert der Visualität innerhalb des vorliegenden Poems, das allen voran in mehrfachen Paraphrasierungen den Eindruck des beinah blendenden Weiß betont. Diese geht mit einer rhetorischen Hochcodierung, insbesondere in der zweiten Versgruppe, dem Sextett, einher. Der Vergleich des Horns mit einem Turm im Mond, der alliterativ gleitende Glanz sowie etwa die Figura etymologica der »Beine elfenbeinernes Gestell« (V. 6) lassen das Einhorn als virtuoses Kunstgebilde erscheinen. Indem Rilke wiederum einen stromartigen Sprachfluss, getragen durch die Enjambements und die verwobene Klangstruktur (»leichten Gleichgewicht« [V. 7]), entwirft, baut sich das Bild der Fabelfigur sukzessive mit Spannung auf. Damit korreliert die Zunahme der Verse pro Versgruppe (Quintett, Sextett, Septett). Der Stau entlädt sich am Ende mit den weißen Zähnen, die »weißer als alles« (V. 14) schimmern. Darin wird die Erleuchtung sichtbar. Diese pointiert Rilke mit einer ambivalenten Schlusswendung, markant eingeleitet mithilfe des »Doch« (V. 16) im drittletzten Vers. Während die sich Bilder in den Raum werfenden Blicke »kein Ding begrenzte« (V. 16), schränkt die Anschlussparataxe »und schlossen einen blauen Sagenkreis« (V. 18) die Weite und Unbegrenztheit ein. Wie bei anderen Dinggedichten strahlen die kreativen Impulse vom zentralen Motiv des Textes nach außen. Rilke lässt offen, worin diese Bilder bestehen, die sich die Blicke gegenseitig zu-»werfen« (V. 17). Die Vielfalt von Möglichkeiten und rezeptionsbezogenen Ausfüllungen von Leerstellen bleibt gewahrt und regt eine utopische Ausgestaltung an. Gerade die Offenheit unterläuft dabei den klassischen Utopieansatz, für den Richard Saage argumentiert. Dieser sieht in Blochs und neueren Konzeptionen die unüberbietbare Vielfalt der Gegenstände, in denen das Utopische sich zu manifestieren vermag. Das Utopische hängt mit fast allem und jedem zusammen und entzieht sich, weil seine Gegenstände beliebig austauschbar sind, jeglicher Kategorisierung.74 Faulstich hält klassischen, sozialutopischen Modellen, wofür Saage steht, entgegen: »Es könnte allerdings sein, dass ein solch bereinigter Begriff genau das verliert, was ursprünglich seine Kraft ausmacht: das utopische Potential alternativer Perspektiven.«75 Denn es ist allen voran die Unbestimmtheit neuerer Utopieansätze, welche der Polyvalenz von Rilkes Text besonders Rechnung zu tragen weiß. Einem »blauen Sagenkreis« zugehörig, repräsentiert das Einhorn eine Alterität, die 74 75
R. Saage: Plädoyer für den klassischen Utopiebegriff, S. 292. P. Faulstich: Reaktivierte utopische Potentiale, S. 300.
4. Performative Utopien
nicht im Wirklichen vorzufinden, sondern nur in einer denkerischen Approximation zu begreifen ist. Zwar mag das Tier schon sprachlich sehr plastisch erscheinen. Gleichwohl geben die nicht konkretisierten Bilder Anlass zu weiterer Konzentration und eigenständiger Realisierung potenzieller Anlagen. Ziel ist dabei die innere, von selbst vollzogene Verwandlung, wie auch Por insgesamt für Rilkes Tier- und Fabelwesenmotivik konstatiert: »Jedes Tier in einem neuen Gedicht ›ist‹, indem es in seinem eigenen (poetischen) Raum sich nach seiner eigenen (poetischen) Transzendenz ausrichtet und sich zur Figur ihres eigenen (poetischen) Wesens verwandelt«.76 Das Movens der Poetik der Verwandlung bildet nicht selten das Vergleichsmoment. Rilke setzt fremde, teils einander widersprechende Bilder und Dinge sowie Sichtbares und Unsichtbares in Äquivalenzbeziehungen,77 die der Leser erst in ein kohärentes Sinngebäude überführen muss. »Damit ist die Kluft zwischen Dichter und Volk genau bezeichnet: Während sich ersterer ja ganz bewußt seinen Träumen hingibt, um Lyrik zu produzieren, soll diese beim Volk das genaue Gegenteil erzielen, nämlich Erwachen«,78 ganz im Sinne von Weiterdenken und Dechiffrierung der Bildsprache. Besonders demonstriert wird dieses assoziative Verfahren auch in dem Dinggedicht Die Gazelle,79 welches auf der Folie der bildhaften Annäherung an das Wildtier eine autopoetologische Reflexion betreibt. Die Gazelle Gazella Dorcas Verzauberte: wie kann der Einklang zweier erwählter Worte je den Reim erreichen, der in dir kommt und geht, wie auf ein Zeichen. Aus deiner Stirne steigen Laub und Leier, und alles Deine geht schon im Vergleich durch Liebeslieder, deren Worte, weich wie Rosenblätter, dem, der nicht mehr liest, sich auf die Augen legen, die er schließt: um dich zu sehen: hingetragen, als wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen und schösse nur nicht ab, solang der Hals 76 77 78 79
P. Por: »Der [defigurierten] Figur zu glauben«, S. 239. Vgl. J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 168. J. Heinz: Die frühen Gedichtsammlungen, S. 192. SW II, S. 506.
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das Haupt ins Horchen hält: wie wenn beim Baden im Wald die Badende sich unterbricht: den Waldsee im gewendeten Gesicht. Der Blick des lyrischen Ich basiert auf einem dem neuen Sehen verpflichteten, durchdringenden Wahrnehmungsdispositiv. Bereits das einleitende Partizip »Verzauberte« (V. 1) deutet einen Wandel vom Eigentlichen zum Uneigentlichen, von der realen Gazelle zu einem poetischen Bild an. Das Sonett diskutiert im ersten Quartett seine eigene Form, die seit dem Barock durch ein klares Strukturkorsett bestimmt ist. Die Frage »wie kann der Einklang zweier/erwählter Worte je den Reim erreichen,/der in dir kommt und geht« (V. 1-3) lotet aus, inwiefern sich Unterschiede in ein harmonisches Ganzes fügen lassen. Vermag die menschliche Anschauung ontische Differenzen noch nicht aufzulösen, indem sie, wie die Duineser Elegien scharf kritisieren, beispielsweise noch immer an der Trennung zwischen Dies- und Jenseits festhält, gelingt es hingegen der poetischen Sprache separate Sphären zu vereinen. Unverhofft »steigen Laub und Leier« (V. 4) – ein Hendiadyoin, das auf Apoll, u.a. der Gott der Dichtung mit Lorbeerkranz und Lyra, verweisen könnte – aus der Gazelle hervor: Natur und Dichtung entspringen derselben Quelle. Der erste Vers des zweiten Quartetts referiert im Anschluss daran auf die zentrale ästhetische Schlüsselfunktion des Textes: »und alles deine geht schon im Vergleich/durch Liebeslieder« (V. 5f.). Im Vergleichen ist das Gleichnis angelegt, das in Rilkes Kompositionen stets mit einer heilsamen Wirkung in Verbindung steht. Bei der »gleichnishafte[n] Aufnahme der Welt ins Gedicht, das deren Vollzähligkeit beweist«,80 wird Getrenntes zusammengeführt – ein Gedanke, der mithin in der symbolischen Verortung des Gazellenmotivs offensichtlich wird. Die grazilen Tiere stehen in der israelischen Bildtradition nicht nur für das Wilde und die Begleiter des Kriegsgottes Reschef,81 sondern spielen in der Liebesdichtung Israels eine wichtige Rolle. Im Hohenlied vergleicht die Frau ihren Geliebten mit dem über die Hügel springenden oder fliehenden Hirsch und der Gazelle. Der Mann hingegen beschreibt die hüpfenden Brüste seiner Geliebten als ›Gazellenzwillinge, die unter Lotosblumen wieden‹, wobei der Vergleichspunkt die ›Quicklebendigkeit‹ ist. Diese ist auch der Grund für die sehr alte Verbindung der Gazellen (und Hirschkühe) mit der erotischen syrischen Göttin.82 Die Gazelle stellt somit schon durch diesen Kontext eine Figur der Liebe und Vereinigung dar, wobei Rilke das mit ihr verbundene Bedeutungsspektrum erweitert. Denn das Gleichnis transformiert und nimmt das Tier zum Ausgangspunkt einer 80 81 82
Vgl. H. Klima: Rainer Maria Rilkes Kunstmetaphysik, S. 235. Vgl. S. Schroer: Die Tiere in der Bibel, S. 109. Ebd., S. 110f.
4. Performative Utopien
Sprach- und Bewusstseinsentwicklung. Indem der Leser die Augen schließt, wird er, wie das Oxymoron insinuiert, zum Sehenden. Das Gleiten in den traumerfüllten Schlaf versteht sich als luzider Akt der Metamorphose. Was als natürliche Bewegung der Gazelle aufzufassen ist, gebärdet sich nun als virtuoses Sprachwerk. Das vom Wahrnehmenden subjektivistisch erfasste Tier wirkt wie »hingetragen, als/wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen/und schösse nur nicht ab, solang der Hals//das Haupt ins Horchen hält« (V. 9-13). Die Enjambements zeugen von der Eigendynamisierung der im Sprachfluss gehaltenen Bildsequenz. Hier lässt sich eine Brücke zu Adorno schlagen – spricht dieser doch in Bezug auf die Dichtung auch von dem ihr »immanente[n] Prozeß«, welcher »nach außen als ihr eigenes Tun [tritt], nicht [nur] als das, was Menschen an ihnen getan haben und nicht bloß für die Menschen.«83 Diese allein im Werk entstehende Bewegung ist bezeichnend für den gegebenen, von Fließen und Unstetigkeit bestimmten Text. Der Blick des RezipientInnen geht von den Beinen hin zum Kopf, während sich zugleich die sinnliche Perzeption vom Visuellen ins Auditive verlagert und das sich für Rilkes Werk typische »Wechselspiel der Sinne«84 vollzieht. Das »Horchen« (V. 12) des Tiers mündet vom Vergleich in einen weiteren Vergleich mit einer ebenso wachsam aufschauenden Badenden im Wald, die eine gedankliche Nähe zur beim Baden von dem Jäger Aktaion erwischten Diana zulässt. Dass in dem Sonett fünfmal Doppelpunkte verwendet werden, die auf eine Entsprechung hindeuten, dokumentiert die ästhetische Aussagekraft des Vergleichs als Kipp- und Übergangsmoment. Am Ende dieser Gleichsetzungskette gibt es daher kein Zurück zu einer Essenz mehr. Im Horchen erkennt der Autor das Wesen der Gazelle, das, als die Fähigkeit zur Aufnahme und Verwandlung des Außen in ein Innen, von derselben Art ist wie das Schauen der Badenden. Es ist die Verzauberung durch den ›Einklang‹ von Innen und Außen, der mit dem einem Reim noch überlegenen ›Einklang‹ in der Bewegung des Tiers korrespondiert.85 Die »Vergleiche befremden, weil sie augenscheinlich völlig unvergleichliche Gegenstände und Bedeutungen kühn in eine Beziehung zueinander bringen, so daß ›eines zum Gleichnis des anderen‹ wird.«86 Diese unorthodoxen Verbindungen fördern immer ein Novum zutage und folgen dem Modus eines utopischen, sich ständig evokativ nivellierenden Prozesses. In dem Motivgedicht Die Flamingos87 heißt es über die titelgebenden Vogeltiere in dem letzten Vers: Sie »schreiten einzeln ins Imaginäre« (V. 14) – eine pointierte Zusammenfassung jener spezifischen Verwandlungskunst Rilkes. Wie das Einhorn und die Gazelle stellen ebenso die Fla83 84 85 86 87
T. W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 125. J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 65. D. Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 158. Ebd., S. 159. SW II, S. 629.
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mingos Initiationsfiguren dar, die den Beginn einer Kaskade von Vorstellungsbildern darstellen. Das Utopische schließt mirakulöse wie profane Figuren als Träger eines nach vorn gerichteten Möglichkeitsdenkens ein. Für diese sind in Rilkes Poetik Kinder aufgrund ihres unschuldigen, unbewussten Blicks88 auf das Dasein sowie ihres Einsseins mit der Natur89 von hoher Relevanz. Dazu gehören etwa auch die Mädchengestalten in einem Gedicht aus Mir zur Feier: Alle Straßen führen jetzt grade hinein ins Gold: die Töchter vor den Türen haben das so gewollt. Sie sagen nicht Abschied den Alten, und ist doch: sie wandern weit; wie sie so leicht und befreit anders einander halten, und in anderen Falten um die lichten Gestalten gleitet das Kleid.90 Die Miniatur setzt mit einer bereits in der Vergangenheit realisierten Wunschfantasie ein. Dem offensichtlich durchgesetzten Willen der Töchter beugen sich die realen Verhältnisse derartig, dass »alle Straßen« (V. 1) nun zu einem einzigen Punkt führen. Da er mit dem Attribut »Gold« (V. 2) ausgestattet ist, erinnert er an einen schimmernden Sehnsuchtsort, zu dem in der Gegenwart, wie die zweite Versgruppe schildert, ein Aufbruch stattfindet. Dass dieser eine völlige Loslösung von den Alten und überhaupt allem Alten suggeriert, liest sich auch an der grammatikalischen Konstruktion ab – bleibt doch in der zweiten Teilparataxe im fünften Vers unklar, auf welches Subjekt das Prädikat »ist« (V. 6) referiert. Das Wandern in die Ferne bedeutet einen schon auf syntaktischer Ebene gespiegelten Bruch. Worauf die Mädchen zusteuern, hält der Text im Vagen. Das Sprachspiel »anders einander« (V. 8) sowie die Mehrfachnennung des Wortstammes »ander-« legen nahe, dass ein gänzlich neuer Raum erschlossen wird. Das Motiv der »Falten«, welche eine Interim-Figur zwischen innen und außen darstellen, präzisiert ihn als eine Ausprägung des Weltinnenraums, in dem sich »Rilkes Ideal der poetischen Grenzüberschreitung«91 manifestiert. Er markiert eine durchlässige Barriere 88 89 90 91
Vgl. L. Wenzler: Rilkes Wege mit ›Gott‹, S. 449. Vgl. H. Singer: Rilke und Hölderlin, S. 122. SW I, S. 177. F. Günther: Grenzgänge zum Anorganischen bei Rilke und Celan, S. 13.
4. Performative Utopien
zwischen den geradezu erleuchteten, »lichten Gestalten« (V. 11) und der Welt. Die »ei«-Assonanz wirkt im letzten Vers als Konjunktion, sie verbindet »gleitet« und »Kleid« (V. 12), wodurch eine fließende Bewegung entsteht. Die von Leichtigkeit und Freiheit bestimmte Atmosphäre des Gedichts resultiert dabei aus dem utopischen Impuls zum Aufbruch. Dessen »anderes« Ziel forciert nicht unmittelbar einen geografischen, physischen Punkt. Gerade das Ineinander von innen und außen macht deutlich, dass Rilke einen unbestimmten Ort dazwischen avisiert, der eben allein auf der Ebene sprachlicher Gestaltung angedeutet wird. In summa wohnt Rilkes utopischen Motiven und Figuren ein antizipativer Grundzug inne. Sie tragen Anlagen in sich, deren Realisierung als optionales Zukunftsgeschehen Kontur gewinnt. Da sie zumeist in ungreifbaren Zonen zwischen intern bzw. extern oder geschlossen bzw. offen situiert sind, avancieren sie zu Trägern performativer, den Herausbildungsprozess versinnbildlichender Sprachgenesen innerhalb eines grenzüberschreitenden Möglichkeitsraums. Der Nukleus des Noch-Nicht-Gewordenen bleibt in der Regel unbestimmt und lädt den Rezipienten zum Weiterdenken der utopischen Zielinhalte ein. Damit offenbart sich das Gedicht als ein permeables, fließendes Gebilde, das vor allem eine wirkungsästhetische Komponente einschließt.
4.3
Möglichkeitstopografien: Gärten und Inseln der Erneuerung
Um visionäre Gegenwelten entwerfen, bedient sich Rilke, wie gezeigt wurde, diverser utopisch zu deutender Motive. Einen besonderen Stellenwert räumt er dabei dem Gartenmotiv ein. Im Unterschied zu anderen imaginären Räumen repräsentiert die Kultivierungszone einen real gegebenen, jedoch noch zu verändernden Ort. »Die Konstrukteure von Utopien strebten die Schaffung der Voraussetzung eines ›gelungenen Lebens‹ an, und dies nicht nur in einem ou-topos, an einem Nicht- oder Noch-Nicht-Ort, sondern an einem eu-topos, einem guten und schönen Ort«,92 der im Garten seinen adäquaten Ausdruck findet. Dieser markiert ein kulturgeschichtlich polysem besetztes Areal. Ananieva macht fünf prägende Symbolisierungsbereiche des Gartens aus. Zur Topografie der Liebe und Unschuld gelangt er als Versinnbildlichung des »weiblichen Körpers und der Jungfrau Maria«.93 Dies rührt allen voran von der Vorstellung der Lustgärten in der höfischen Kultur sowie von sakralen Malereien her, die im Garten gemäß der Genesis den Grund der Fruchtbarkeit fokussieren.94 Neben dieser erotischen Komponente, die mit
92 93 94
W. Euchner: Steckt hinter dem Utopiebegriff eine Grundidee, S. 299. A. Ananieva: Verwandlungen zwischen Weltordnung und Poesie, S. 341. Vgl. ebd., S. 341f.
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dem Sündenfall auch negative Konnotationen einschließt,95 tritt damit zugleich das Naturkonzept der schenkenden Mutterschaft zutage.96 Ob als »hortus conclusus […] für geschützte Innenbereiche«97 oder als paradiesisches Gefilde – verbildlicht er grundsätzlich die Architektur der gesamten Schöpfung. Gespiegelt wird diese zweite Dimension – der Garten als »Symbol der Weltordnung, des Wissens und der Erziehung« –98 in streng schematisierten Klostergärten oder dem symmetrischen Design barocker Grünanlagen.99 Ist hingegen vom Landschaftsgarten oder dem empfindsamen Garten die Rede, wo der Natur eine freie Entfaltung zugestanden wird, kommt ihm im Sinne einer »Erziehungslandschaft«100 eine humanisierende Funktion zu.101 Frei nach Rousseaus Ansatz vermag der Mensch im Ensemble der natürlichen Kräfte zu sich zu finden. Im Gegensatz zu dieser profanen Semiotisierung steht die dritte Dimension, nämlich der Garten als »Symbol des glücklichen Jenseits, des verlorenen Paradieses und der Kindheit«.102 Erlässt sich als geheimnisvoll-arkanes103 sowie »versagte[s]«104 Terrain beschreiben. In ihm finden sich Anleihen von der Vorstellung des biblischen Paradieses. Er ist der »jenseitig[e] Ort[], an dem den Frommen die urzeitliche Nähe zu Gott wieder zuteil werden kann.«105 Im Kontrast zu dieser Positivierung äußert sich in der vierten Symbolisierung des Gartens als Areal »der Verwandlung, des Grenzganges zwischen Leben und Tod, der Vergänglichkeit«106 eine Übergangszone zum Totenreich. Zu beobachten ist dieses Verständnis ebenso in der Gartenmotivik der Literatur der Décadence bzw. klassischen Moderne. Die fünfte Markierung des Gartens als »Symbol der Poesie« impliziert, dass er »die selbst geschaffene Welt der Dichter und die Quelle poetischer Inspiration«107 darstellt und somit stets auch eine poetologische Qualität erfüllt. Rilkes Umgang mit dem Motiv erweist sich als vielfältig. Obwohl die Parzellierung den Garten von der übrigen Natur trennt, erscheint er in Rilkes Gedichten zumeist als offenes Gebilde. »Über den übervollen/glänzenden Gärten sind die Himmel weit« (V. 14f.),108 heißt es in einem Text der mittleren Schaffensperiode. Das Motiv wird kontrastiv zu seiner konventionellen Besetzung gebraucht. Denn 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108
Vgl. M. Schifer Ferrari: »Leben in Fülle«, S. 60. Vgl. W. Bauer: Die Gärten der Hexen und weisen Frauen, S. 393. A. Ananieva: Verwandlungen zwischen Weltordnung und Poesie, S. 199. Ebd., S. 345. Vgl. ebd., S. 346f. Ebd., S. 350. Vgl. L. Bluhm: »Und der Garten ist voller Leut«, S. 151. Ebd., S. 352. Vgl. A. Hagemann: Natur bei Rainer Maria Rilke, S. 177. Ebd., S. 161. A. Ananieva: Verwandlungen zwischen Weltordnung und Poesie, S. 252. Ebd., S. 356. Ebd., S. 358. SW I, S. 475.
4. Performative Utopien
während es in der Literaturgeschichte zumeist mit dem klassischen Utopiebegriff im Sinne eines idealen, fixen Ortes verwoben ist, lassen Rilkes Gärten eher auf Übergangsräume schließen. Anschaulich dokumentiert folgender aus zwei Quartetten zusammengesetzte Text aus Mir zur Feier dessen transformative Funktion: Ich will ein Garten sein, an dessen Bronnen die vielen Träume neue Blumen brächen, die einen abgesondert und versonnen, und die geeint in schweigsamen Gesprächen. Und wo sie schreiten, über ihren Häupten will ich mit Worten wie mit Wipfeln rauschen, und wo sie ruhen, will ich den Betäubten mit meinem Schweigen in den Schlummer lauschen.109 Schon die einleitende Willensbekundung beinhaltet einen auf den Garten projizierten Zukunftswunsch. Indem das Textsubjekt in einen anderen Zustand übergeht und sich als Teil der kultivierten Natur auffasst,110 schwinden vorige Gegensätze. Die Welt hat, wie das Oxymoron »geeint in schweigsamen Gesprächen« (V. 4) hervorhebt, ihren Frieden gefunden, weil Vorstellung und Natur nun eine Einheit gebildet haben. Hierin erweist es sich als möglich, dass das »Ich mit Worten wie mit Wipfeln rauschen« (V. 6) kann. Wo essentielle Trennungen zwischen Subjekt und Objekt aufbrechen, Poesie und Landschaft eine Synthese bilden, löst sich auch die Opposition von Produzenten und Rezipienten auf, wodurch »rauschen« (V. 6) und »lauschen« (V. 8) gleichzeitig möglich werden. Die Differenz drückt sich lediglich in einer geringfügig nuancierten Klangänderung aus und ermöglicht diverse Bedeutungszuschreibungen: »In Mir zur Feier webt R. einen besonders dichten Klangteppich, der das Einzelwort geradezu in einer Vielzahl der lautlichen Bezüge […] verschwinden lässt«111 und dadurch neue Erkenntnisse, eben vor allem durch die klangliche Ebene, erst möglich werden: »Nur wenn der Dichter sich der Welt im ›Lauschen‹ und ›Staunen‹ völlig hingibt […], beginnt sie für ihn zu sprechen; nur wenn er nicht nach Erklärungen mit dem Verstand sucht, werden sich die Dinge ihm im Lied offenbaren.«112 Dieser Offenbarungscharakter lässt Rilkes Potenzialitätsraum Garten auch als eine sakrale Topografie in Erscheinung treten. »Unser Garten ist wie ein Altar« (V. 6) und »glänzt/vor lauter Licht« (V. 2f.).113 Helligkeit und Erleuchtung gehen von
109 110 111 112 113
Ebd., S. 147. Vgl. A. Hagemann: Natur bei Rainer Maria Rilke, S. 190. J. Heinz: Die frühen Gedichtsammlungen, S. 206. Ebd., S. 204. SW V, S. 196.
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ihm aus, die in dem hier zitierten Gedicht aus Mir zur Feier beschrieben werden. Die religiös-feierliche Stilisierung jenes irdischen Gestaltungsraums, wie sie Rilke auch verstärkt im Buch der Lieder vornimmt,114 steht bisweilen sogar in direkter Verbindung zu Gott, der in einer lyrischen Abbreviatur mit »Du Garten mit den lebenden Alleen«115 (V. 4) angesprochen wird. Von dem Ort der Blumen und Beete gehen in weiteren Poemen Formen der Initiation aus: Die Reden vom »Garten, wo Gott beginnt«116 (V. 4) oder Teilsätze wie »Eh der Garten ganz beginnt«117 (V. 1) wenden sich gegen die Konzeption eines statischen Areals, vielmehr zeichnen die Texte die Kultivierungszone als Entwicklungsfigur aus. Die Genese birgt für Rilke ein ästhetisches Optimum, für den der »Schönheitsbegriff […] unmittelbar mit demjenigen der Bewegung verknüpft«118 ist. Er wird im Gedicht Die Irren119 als jener beschrieben, »der im Widerschein der fremden Welten/weiterwächst und niemals sich verliert.« (V. 12f.) Wie schon mehrfach belegt, stehen Wachstumsfiguren bei Rilke im Zeichen der Transzendierung. Etwas wird in eine höhere Sphäre gehoben, womit Prozesse der Verwandlung bzw. Erneuerung einhergehen. Das Ferne und Ungreifbare erzeugen dabei stets eine Sogwirkung, die eine Annäherung motiviert. Wie diese mit dem Gartenmotiv verbunden ist, demonstrieren einige Verse eines Textes aus dem späten Zyklus Die Sonette an Orpheus: »Singe die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst;/eingegossene Gärten, klar, unerreichbar.«120 (V. 1) Aus ihnen gehen Bilder- und Fantasieströme hervor. Die Gärten sind […] mit Orpheus eng verbunden, denn in ihnen wachsen die Bäume, die Blumen (besonders die Rose) und die Früchte; sie alle sind Orte der Seinsumkehr. Der Garten ist also nicht nur für die Sinne schön, er ist auch einer der wenigen Orte, wo Orpheus noch unzerrissen leben kann.121 Sie führen in neue, behütete, noch zu erkundende Sphären. Während der Garten den Menschen in einen Bezug setzt, indem er beispielsweise über die Natur näher an Gott gelangt und als dessen Stellvertreter den Garten pflegt und hegt,122 verspricht die Insel als zweites, klassisches Utopiemotiv in Rilkes Werktableau hingegen den Entzug. Imposant setzt das Rollengedicht Der Blinde123 aus Das Buch der Lieder die mit dem Eiland assoziierte Loslösung von allen
114 115 116 117 118 119 120 121 122 123
Vgl. A. Hagemann: Natur bei Rainer Maria Rilke, S. 191. SW II, S. 520. SW I, S. 158. Ebd., S. 176. J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 130. SW II, S. 586. Ebd., S. 765. E. Leisi: Rilkes Sonette an Orpheus, S. 155. Vgl. K. Finsterbusch: Der Garten in Eden, S. 39. SW II, S. 590.
4. Performative Utopien
Dingen und Raum124 in Szene. »Ich bin eine Insel und allein./Ich bin reich. –« (V. 89) Lakonisch liefert die anaphorische Selbstbezeichnung des Textsubjekts als eine Insel die Metapher für das fehlende Augenlicht. Das Blindsein gleicht dem Inseldasein. Begleitet wird das Isolationsbild von zunächst ambivalenten Gefühlen. Im lyrischen Dialog mit dem »Fremde[n]« schildert die Blinde ihre anfängliche Verzweiflung angesichts der »vermauerten Augen, die sich nicht rührten.« (V. 100) Je mehr die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit schwindet, desto eher stellt sich jedoch ein unerwartetes Befriedigungsmoment ein: »Jetzt geht alles in mir umher,/sicher und sorglos; wie Genesende/gehen Gefühle, genießend das Gehen,/durch meines Leibes dunkles Haus.« (V. 108-111) Die personifizierten Emotionen bewohnen den Körper, der trotz der von ihm auferlegten Begrenztheit nicht als Gefängnis erscheint. Stattdessen entpuppt sich die insulare Lage als günstig, um sich die Verlockungen und Verpflichtungen der äußeren Welt fernzuhalten: »Ich muss nichts mehr entbehren jetzt,/alle Farben sind übersetzt/in Geräusch und Geruch.« (V. 123-125) Die Zwangslage bringt neue Erfahrungsmöglichkeiten translativer, verwandelnder Synästhesie mit sich:125 Töne repräsentieren für die Blinde einen totalen Daseinsraum.126 Was vor der Erblindung noch durch die Augen geleistet wurde, kompensieren inzwischen andere Sinnesorgane, die in der poetischen Sprache als eine Gesamteinheit erkennbar werden.127 Indem Rilke den Verlust des Augenlichts nicht als Fluch, sondern als Segen markiert, verkehrt er wiederum die Logik des Erwartbaren. Die vermeintliche Enge erweist sich bei genauerem Hinschauen als Weite, das Begrenzte als Ausgangspunkt einer Utopie: Dass die Gefühle wie Akteure in des »Leibes […] Haus« (V. 111) auftreten und Nerven mit Wegen verglichen werden, setzt den Körper als organische Welt- und Gesellschaftsordnung in Szene. Diese ist zwar von der Wirklichkeit umgeben, besteht aber in einem enklavischen, souveränen Dasein. Wie der antike Theiresias begegnet Rilkes Blinde der Leserin bzw. Leser paradoxerweise als Sehende und Schöpferin. Die Erkrankung hemmt sie keineswegs. Sie gewährt stattdessen einen Schutzmantel: »Und der Tod, der Augen wie Blumen bricht,/findet meine Augen nicht…« (V. 132f.) Die Verschließung gleicht einem Ausbruch aus einseitigen Erfahrungsräumen. Was sich in diesen letzten beiden Versen andeutet, ist nicht mehr und nicht weniger als die Versicherung der Ewigkeit. Der Tod stößt an den erblindeten Augen förmlich an seine Grenzen. Zur Bedeutung der Positivierung der Blindheit in Rilkes Lyrik hält Por fest: »Die Welt soll von dem negativen Ausgangspunkt ihres Verlustes heraus zum Neuen erschaffen werden.«128 124 125 126 127 128
Vgl. P. Por: »Der [defigurierten] Figur zu glauben«, S. 235. Vgl. M. Orosz: »Wann aber sind wir?«, S. 184. Vgl. J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 69. Vgl. ebd., S. 72. P. Por: »Der [defigurierten] Figur zu glauben«, S. 235.
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Dem Mangel inhäriert eine ästhetische Dimension: »Rilke ist der Dichter der Besitzlosigkeit und des Verzichts im poetisch-poetologischen Sinn, weil er aus dem Kreis des Todes, des Verzichts und des Abschieds die unsichtbare, schöpferisch nachgestaltete, ›transfigurierte‹ Welt hervorbringen will«,129 was auf einem genuin utopischen Grundverständnis basiert. Die Insel fungiert vor diesem Hintergrund als Ort der Kreativität, als Gestaltungsraum unabhängig von empirischen Gesetzmäßigkeiten, ohne hingegen von der realen Welt losgelöst zu sein. Denn Ziel von Rilkes Leben-Tod-Holismus ist es im Besonderen, dass »tradierte[] Vorstellungen von äußerlicher (gleich ob göttlicher oder anderer) Transzendenz […] zur selbsttranszendenten Figur verwandelt werden.«130 Die äußere Erweiterung und Übersteigerung werden im Inneren vollzogen. Nicht zuletzt aus diesem Befund heraus generiert das dreiteilige Gedicht Die Insel131 eine Assoziationslinie zur Kindheit als einer Phase mit einer offenen Wahrnehmungsperspektive. Da die »Wohner« (V. 5) eines durch den Untertitel als in der Nordsee befindlichen Eilands »in einen Schlaf/geboren werden, die sie viele Welten/verwechseln« (V. 5-7) lässt, mutet »Angeschwemmtes, Unbekanntes,/das unerklärt zu ihnen kommt und bleibt« (V. 9f.), konkret jeglicher Einfluss der Außenwelt, derartig fremd an, dass alles wie aus Kindesaugen neu wirkt. Charakteristisch für die Fokussierung des Unbekannten und Ungeordneten ist die Inversion, die jedweden Eindruck konventioneller Wahrnehmung konterkariert. Bei dem Angeschwemmten handelt es sich um »nicht auf sie Angewandtes,/zu Großes, Rücksichtsloses, Hergesandtes,/das ihre Einsamkeit noch übertreibt.« (V. 12-14) Die Kumulation der nicht greifbaren Dinge, die für ein »Abstraktwerden des Raumes, der sich in Rilkes Dichtung seit der mittleren Phase abzeichnet«,132 einstehen, unterstreicht wie im Text Der Blinde den Entzugscharakter insularer Existenz, allen voran im dritten Gedicht des poetischen Triptychons: Nah ist nur Innres; alles andre fern. Und dieses Innere gedrängt und täglich mit allem überfüllt und ganz unsäglich. Die Insel ist wie ein zu kleiner Stern welchen der Raum nicht merkt und stumm zerstört in seinem unbewußten Furchtbarsein, so daß er, unerhellt und überhört, allein 129 130 131 132
A. Zsellér: Der Gleichmut der Fontäne, S. 141. P. Por: »Der [defigurierten] Figur zu glauben«, S. 235. SW II, S. 538. M. Orosz: »Wann aber sind wir?«, S. 184.
4. Performative Utopien
damit dies alles doch ein Ende nehme dunkel auf einer selbsterfundnen Bahn versucht zu gehen, blindlings, nicht im Plan der Wandelsterne, Sonnen und Systeme.133 Der lakonische erste Vers verdeutlicht durch die Zäsur in der Mitte die Abgrenzungslogik. Das allem Äußeren Ferne steht dabei im Zeichen des Paradoxen. Einerseits ist es hyperbolisch mit »allem überfüllt« (V. 3), andererseits wird der Vergleich der Insel mit einem »zu kleine[n] Stern« (V. 4) gebraucht, dessen Gestalt in einem hypotaktischen, sich bis zum Ende des Textes erstreckenden Satzgefüge erläutert wird. Verloren im weiten Raum, der gar als zerstörerische Gegenfigur fungiert, heißt es über ihn, dass er »dunkel auf einer selbsterfundnen Bahn/versucht zu gehen, blindlings, nicht im Plan/der Wandelsterne, Sonnen und Systeme.« (V. 10-12) Was den Stern als Symbol der Insel bei Rilke definiert, sind Singularität und Individualität. Hierin gründet gerade die utopische Dimension. Er gibt sich auf seiner »selbsterfundnen Bahn« einen eigenen Entwurf und folgt nicht dem konventionellen »Plan«. Dass Rilke erneut das Motiv der Blindheit (»blindlings«) verwendet, unterstreicht im Übrigen den Möglichkeitsraum. Allem Sichtbaren entzogen, vermag das Blindsein im Kosmos des Dichters alle Potenziale der Vorstellung, jenseits der Begrenzungen von Raum und Zeit, auszuschöpfen.
4.4
Die Zukunft folgt aus der Vergangenheit: Erinnerung im Zeichen der Utopie Bewusstsein zeichnet sich durch Intentionalität, Reflexivität und Distanz aus, derart dass es nicht allein das augenblicklich Gegebene, sondern auch das ›Nichtmehr‹ und das ›Noch-nicht‹, also die Vergangenheit und die Zukunft zu erwägen vermag.134
Obgleich sich die Utopie auf zeitlich Bevorstehendes erstreckt, findet sie in der erweiterten Form als Bewusstsein, das Rophol per se als eine utopische Entität begreift, ihren Ursprung und Bezugspunkt in der Vergangenheit. Bloch spricht vom Unabgegoltenen der Geschichte, das seiner noch ausstehenden Verwirklichung harrt: »Die starren Scheidungen zwischen Zukunft und Vergangenheit stürzen so selber ein, ungewordene Zukunft wird in der Vergangenheit sichtbar, gerächte und beerbte, vermittelte und erfüllte Vergangenheit in der Zukunft.«135 Im Fokus stehen somit zumeist unvollendete Projekte, die antizipiert werden. Wie 133 134 135
SW II, S. 539f. G. Ropohl: Die Wirklichkeit der Utopie, S. 327. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 7.
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bei Hölderlin dringt der Impuls zur Realisierung des Möglichen auch bei Rilke aus dem Gewesenen zunächst in die Gegenwart. Bloch sieht in dieser Zeitstufe den eigentlichen Horizont des Utopischen: »Utopie arbeitet nur um der zu erreichenden Gegenwart willen, und so ist die Gegenwart am Ende, als die schließlich intendierte Abstandslosigkeit, in alle utopischen Abstände eingesprengt.«136 Es geht folglich um die Aufhebung von Entfremdungen im Moment des Erlebens. Das dafür adäquate Mittel ist, wie Rilkes dreiteiliger Zyklus David singt vor Saul137 veranschaulicht, die Dichtung bzw. »Kunst […] als Offenbarungsmedium«.138 In der charakteristischen Du-Ansprache König Sauls, der die Vorstellung von Kunst (Gesang) als »Interaktionsmodell«139 zugrunde liegt, fragt das Sänger-Ich, David: Hörst du, wie mein Saitenspiel Fernen wirft, durch die wir uns bewegen: Sterne treiben uns verwirrt entgegen, und wir fallen endlich wie ein Regen, und es blüht, wo dieser Regen fiel. (V.1-5) Das angesprochene Saitenspiel ruft in den darauffolgenden Versgruppen Erinnerungen wach – an Mädchen, die nun zu Frauen geworden sind, an offensichtlich sexuell erfüllte Nächte, in denen »alle Leiber schön« (V. 15) waren. Es wird gesagt, »dass mein Klang dir alles wiederbrächte« (V. 11). Vor diesem Hintergrund lassen sich die anfangs im Präsens erwähnten »Fernen […], durch die wir uns bewegen«, als Retrospektive identifizieren. Alles Gegenwärtige ist mit Gedächtnis beladen, mit Vergangenheit im Keller des Nicht-Mehr-Bewußten. Man hat nicht entdeckt: es gibt im Gegenwärtigen, ja im Erinnerten selber einen Auftrieb und eine Abgebrochenheit, ein Brüten und eine Vorwegnahme von Noch-Nicht-Gewordenem; und dieses AbgebrochenAbgebrochene geschieht nicht im Keller des Bewußtseins, sondern an seiner Front. So geht es hier um die psychischen Vorgänge des Heraufkommens.140 Die Musik fördert den ungehobenen bzw. unvollendeten Fundus der Vergangenheit in geradezu archäologischer Anstrengung ans Tageslicht des Bewusstseins. Gegenteilig zum Vergangenheitsbezug lässt der Vers »Sterne treiben uns verwirrt entgegen« (V. 3) eher auf ein auf das Subjekt zusteuerndes Zukünftiges schließen, das gemäß Bloch als durch den künstlerischen Gesang antizipierten Vorschein im Sinne einer »Identifizierung und Beförderung des Neuen, Besseren«141 verstanden 136 137 138 139 140 141
G. Ropohl: Die Wirklichkeit der Utopie, S. 366. SW II, S. 488. J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 62. T. Hoffmann: Im Schreiblabor. Zur Poetik von Rilkes »Florenzer Tagebuch«, S. 55. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 10. H. Müller: Utopistik statt Utopie, S. 316.
4. Performative Utopien
werden könnte. Auch das mit dem fallenden Regen assoziierte Wir steht im Zeichen von zeitlichen Spannungen. Der Niederschlag findet in der Gegenwart statt, zugleich erklärt der vergangene Regen erst das jetzige Blühen. So fördert das Gedicht Vergangenes zutage, transferiert es in die Gegenwart, um von dort aus eine Idee der Zukunft zu entwickeln, was sich im Bild des Erblühens infolge des Regens bzw. der entgegenleuchtenden Sterne manifestiert. »Dein Erinnern glaub ich zu begleiten,/weil ich ahne« (V. 16f.), so David, der hiermit Retro- und Prospektive in einen kausalen Zusammenhang stellt. Verstärkt wird die Koppelung von Erinnerung und Vorausschau im zweiten Text des Zyklus.142 Die Harfe, die darin zu Beginn von den hedonistischen Freuden Sauls Kunde gibt, verbindet das Ich mit dem bereits bekannten, utopisch besetzten Motiv des Baums. Wird dieser aus seiner Verwurzelung gerissen, so erblickt der Betrachter durch dessen laub- und fruchtlose Zweige – ähnlich dem Freiraum zwischen den Saiten des Instruments – »eine Tiefe wie von Tagen/welche kommen –, und ich kenn sie kaum.« (V. 8f.) Die Verwandtschaft zwischen der Lyra und den Pflanzen liegt bei Rilke in der Erschließungsfähigkeit einer noch offenen Zukunft und gibt eine »Ästhetik [zu erkennen], die Form und Gestalt jeweils von einer inneren Dynamik generiert, aufdeckt und deren Bewegungsspuren an der materiellen Oberfläche«143 in noch nicht greifbaren Verwirklichungen auszumachen sind. Obgleich des Dichters Instrument die Erinnerung aktualisiert, zielt es paradoxerweise auf ein noch ungewisses Morgen. Als würde David sich davor fürchten, bittet er Saul, die Lyra zu zerbrechen und ihn von ihr zu befreien. Der dritte Teil des Zyklus144 verstärkt die Einheit der Widersprüche. Bittet David noch im zweiten Text seinen König darum, »nicht mehr bei der Harfe schlafen« (V. 10) zu müssen, wodurch er sich in die Position des Unterlegenen versetzt, erklärt er schlussendlich »ich hab dich doch in der Gewalt./Sieh, mein festes Lied ist nicht gerissen« (V. 2f.). Die Poesie scheint damit über allem erhaben zu sein. Sie stellt ein unzerstörbares Band zwischen den Zeiten dar, der zugleich die Kraft der Veränderung inhärent ist. Mein verwaistes Herz und dein verworrnes hängen in den Wolken deines Zornes, wütend ineinander eingebissen und zu einem einzigen verkrallt. (V. 5-8) Die Verse referieren auf den biblischen Mythos, demzufolge Saul seinen erfolgreichen Heeresführer David aus Eifersucht mehrfach zu töten versucht. Bei Rilke
142 SW II, S. 489. 143 J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 132. 144 SW II, S. 489f.
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Utopielyrik
deutet sich eine Kehrtwende bzw. Wandlung der Beziehung an. Statt des trennenden Zorns zu Beginn, der das »verwaiste[]« und »verworrne[]« Herz bedingt, bestimmt im weiteren Verlauf des Gedichts das Gemeinsame die beiden Figuren. David spricht von einem »Umgestalten« (V. 9) als Prozess der Erleichterung und Entkörperlichung: König, König, das Gewicht wird Geist. Wenn wir uns nur aneinander halten, du am Jungen, König, ich am Alten, sind wir fast wie ein Gestirn das kreist. (V. 10-13) Indem David und Saul buchstäblich ihre Gewichte ablegen und sich aus der biblischen Verankerung lösen, ist eine Umschreibung des Mythos als Teil eines kollektiven Gedächtnisses möglich. Die Vereinigung von Kontrahenten, nochmals ausgedrückt im parallelistischen Gegensatz der unterschiedlichen Orientierung am »Jungen« und »Alten« (V. 12), im Vergleich mit dem »Gestirn das kreist« (V. 13), lässt eine Restspannung erkennen. Die ruhelosen Sternenkörper zirkulieren zwischen den Zeiten, zwischen Vergangenheit und einer in die Ferne projizierten Zukunft. Es geht um Annäherung, ohne dass die Pole ganz ihre Eigenständigkeit verlieren. So verhält es sich ebenfalls mit Subjekt und Objekt. Beide streben in diesem Zyklus sukzessive aufeinander zu, ohne ganz ihre Differenz aufzugeben. Dieses Prinzip der Approximation bei voriger Offenbarung der Differenz bildet die Grundbewegung des Textes. Denn nur indem Rilke anfangs einen Erinnerungsraum aufspannt, worin Teile der eigentlichen Bibelgeschichte aufschimmern, kann er den Punkt der Verwandlung, die Wende zur Zukunft innerhalb seines lyrischen Kosmos, aufzeigen. Das memorabile Bewusstsein vermittelt einen Eindruck der Alterität. Dieser Gegenzustand impliziert nicht selten einen noch auszugleichenden Mangel, wie eine Passage aus der 8. Duineser Elegie145 andeutet. Darin ist die Rede von der Erinnerung, als sei schon einmal das, wonach man drängt, näher gewesen, treuer und sein Anschluß unendlich zärtlich. Hier ist alles Abstand, und dort wars Atem. Nach der ersten Heimat ist ihm die zweite zwitterig und windig. (V. 46-51) Das Vergleichsmoment – »als sei« (V. 47) – hält das, was Erinnerung sein soll, im Konjunktiv. Jener als hyperbolisch »unendlich zärtlich« (V. 49) und »treuer« (V. 48) beschriebene Urgrund des Gedächtnisses formiert die selige Alternative zu einer 145
SW II, S. 714-716.
4. Performative Utopien
offenbar unerfüllten Gegenwart. Was Erinnerung beschreiben kann, ist der »Abstand« (V. 49), der wie ein utopisches Stimulans wirkt. Im Gegensatz zur Distanz firmiert der »Atem« (V. 50) als Metapher der verlorenen Einheit und Abstandslosigkeit. Der Atem zeigt sich so als ontopoetisches Modell – im leiblichen Austausch mit dem Sprechenden führt er den Weltraum und dessen Naturgeschichte mit sich. Der Atem trägt ein Wissen in sich – als fortbestehend seit Urzeiten – und wird als sichtbarer im Gedicht stets wieder aktualisiert.146 Ähnlich der Bloch’schen Vorstellung, wonach das Utopische aus der zurückliegenden Zeit bzw. aus einem diachronen Kontinuum hervorgeht, entstehen auch Rilkes poetische Ausprägungen des Novum aus Bildern der Vergangenheit. Erinnerung bedeutet dabei stets Produktivität, Transformation dessen, was geschaut und letztlich im Inneren wieder wachgerufen wird: »Der Vorgang des Schauens, der Erfahrung der äußeren Welt, ist von Mal zu Mal notwendig. Der Weltinnenraum setzt die Welt im Weltraum voraus, damit sie er-innert, d.h. ins schöpferische Innere hineingenommen wird.«147 Während Bloch darin jedoch das Fragmentarische und noch zu Vollendende avisiert, erscheint dem Dichter Rilke das Zurückliegende als idealisierter Heimattopos. Die vollkommene Zukunft kann nur erschlossen werden, indem sie wieder den Kreis zur Vergangenheit schließt.
4.5
Der utopische Kreateur: Rilkes Orpheus
»Indem sein Wort das Hiersein übertrifft,//ist er schon dort, wohin ihrs nicht begleitet« (V. 11f.) –148 die beiden Verse aus Rilkes Die Sonette an Orpheus sind von außerordentlicher Relevanz im Hinblick auf das darin experimentell erprobte Möglichkeitsdenken. Es nimmt seinen Anfang im Wort, in der festen Form. Gleichzeitig weist dessen Gebrauch von Orpheus, dem Archetypus des Dichters, zudem immer über sich selbst hinaus. Ferner unterstreicht das vorliegende Enjambement die Entgrenzungsbewegung. Indem die Verse über die Strophengrenze hinausgehen, erweist sich die Sprache als Transzendierungsmittel, wodurch sich in ihr Schwellen zu anderen Räumen überwinden lassen. Dass diese zunächst einmal immaterieller, imaginärer Natur und somit im Bereich des Noch-Nicht-Gewordenen zu suchen sind, akzentuiert die Gleichung »Gesang ist Dasein«149 (V. 77). Der Dichter muss die bei Rilke stets den Tod und das Leben einschließende Existenz in ein poetisches
146 147 148 149
P. Weber: Sternische Verbindungen, S. 208. J. Steiner: Anschauungsformen Rilkes, S. 9. SW II, S. 733f. Ebd., S. 732.
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Dasein überführen,150 ohne das Diesseits zu verlassen. Er »operiert dabei mittels einer Logik, welche Unendlichkeit als Ganzheit bzw. Unversehrtheit (›heile Welt‹) versteht, und die lyrische Poesie als einzig adäquate (weil einzig ›freie‹) Erkundung und von innen hervorbrechende Erhellung dieser Ganzheit«.151 Die Utopie ist bei Rilke immer weltlich zu denken, gewissermaßen im paradoxen Sinne einer immanenten Transzendenz. Der Dichter stellt dafür die notwendige, bewegliche Grenzfigur dar. »Es zeigt sich […] das Bestreben, alles Gewicht auf Tun und Wesen des Dichters zu legen. Er ist für Rilke das allein Wichtige, die Mitte, um die sich die ohne ihn dahinschwindenden Dinge scharen, ihre Hoffnung und Rettung«.152 Orpheus begegnet den LeserInnen als eine transitorische Figur zwischen den Welten. Er, der gemäß der Sage in Ovids Metamorphosen seiner Geliebten Eurydike in das Totenreich nachfolgt, um sie wieder in das Leben zurückzuholen, wird beschrieben als »einer der bleibenden Boten,/der noch weit in die Türen der Toten/Schalen mit rühmlichen Früchten hält.« (V. 12-14)153 Die »ü«-Assonanz schlägt auf klanglicher Ebene eine Brücke zwischen Dies- und Jenseits. Wird Orpheus hierin als ein »bleibende[s]« Medium charakterisiert, das letztlich den christlichen Dualismus im Mythos aufhebt und Rilkes subversiv verkehrenden Umgang mit der christlichen Tradition im Allgemeinen bestätigt,154 scheint sein Status in anderen Texten des Zyklus nicht derart eindeutig: »Ist er ein Hiesiger? Nein, aus beiden/Reichen erwuchs seine weite Natur.« (V. 1f.)155 Zwar wird der Sänger auch in diesen beiden Versen beiden Sphären zugeordnet. Die einleitende Frage lässt allerdings vermuten, dass er schwer zu verorten ist als Grenzgänger fungiert. Da Rilkes Orpheus augenscheinlich zwischen der physischen und metaphysischen Welt vagabundiert und in beiden gleichermaßen zuhause ist,156 beherrscht er die Kunst des Wandelns und somit der Verwandlung. Sein Gesang steht im Zeichen utopischer Transformation: Nie versagt ihm die Stimme am Staube, wenn ihn das göttliche Beispiel ergreift. Alles wird Weinberg, alles wird Traube, in seinem fühlenden Süden gereift. (V. 5-8)157
150 151 152 153 154 155 156 157
Vgl. M. Orosz: »Wann aber sind wir?«, S. 180. J. Urbich: Rilkes Poesie des Grundes in den Duineser Elegien, S. 262. H. Singer: Rilke und Hölderlin, S. 152. SW II, S. 735. Vgl. A. Stahl: Rilkes andauernde Arbeit am Mythos, S. 56 und 59. SW II, S. 734. Vgl. K. Bischof: Fortschrittskritik oder Reflexion über Dichtung, S. 213. SW II, S. 735.
4. Performative Utopien
Anknüpfend an Ovid, stattet auch der Dichter der Jahrhundertwende den Sänger – als Inbegriff einer »Schöpfer- und Ordnungskraft«158 – mit der göttlichen Macht aus, sich die Natur gefügig zu machen. Die sakrale bzw. mit Gott verbundene Dimension des Motivs des Weinbergs lässt sich ebenfalls biblisch herleiten. So setzt sich Jesus im Johannesevangelium selbst mit einem Weinstock gleich. Während Gott als der »Weingärtner« in Erscheinung tritt, sind die Gläubigen Teil des Rebstockes und damit des Leibs Christi: »Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.«159 Rilke deutet Jesus zu Orpheus um. Dieser verzaubert »alles« (V. 7) in einen Weinberg. »In seinem fühlenden Süden« avanciert Orpheus zum Erneuerer. Mit ihm gemeinsam sieht sich das lyrische Ich im sechzehnten Text des Zyklus’160 zu großer Schaffenskraft bewogen: »Wir machen mit Worten und Fingerzeigen/uns allmählich die Welt zu eigen« (V. 2f.). Der Raum wird erschlossen und erobert, um ihn evokativ im Hiersein neu zu gestalten: Die Metamorphose […] funktioniert […] als Setzung: aus den ›vielen Fernen‹ (und dem vermehrten Raum) führt eine räumlich wie gedankliche Bewegung, in einer Art Eingrenzung, zum Irdischen weiter; diese Eingrenzung ist aber nicht als Verengung, sonder [sic!] als vertiefte Fokussierung auf menschliches Sein interpretierbar.161 Orpheus ist dazu imstande, Divergenzen aufzuheben und den Menschen qua seines Sprechens Zuversicht zu geben. Rilke wird die Antithese von Nähe und Ferne, Besitzergreifung und Grenzwahrung, mithin von (dionysischer) Transgression und (apollinischer) Individuation, in seiner späten Lyrik vermitteln: durch die Konzeption des orphischen Gesangs, der in die Körper der Hörenden eindringt, ohne deren Grenzen zu verletzen, und ihnen die Weite des Raumes zur Anwandlung einträgt.162 Orpheus stellt Verbindungen her und eröffnet im Hörenden (und letztlich der Leserin bzw. dem Leser) weite, zum utopischen Denken geeignete Räume. Als Hoffnungsträger, der sich durch Glauben bewährt, besingt er im zwölften Text des Zyklus die Gegensätze aufhebende Kraft: Heil dem Geist, der uns verbinden mag; denn wir leben wahrhaft in Figuren. 158 159 160 161 162
J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 112. Joh 15, 1-5, Die Bibel (2017) SW II, S. 741. M. Orosz: »Wann aber sind wir?«, S. 185. J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 136.
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Und mit kleinen Schritten gehen die Uhren neben unserm eigentlichen Tag. Ohne unsern wahren Platz zu kennen, handeln wir aus wirklichem Bezug. Die Antennen fühlen die Antennen, und die leere Ferne trug … Reine Spannung. O Musik der Kräfte! Ist nicht durch die läßlichen Geschäfte jede Störung von dir abgelenkt? Selbst wenn sich der Bauer sorgt und handelt, wo die Saat in Sommer sich verwandelt, reicht er niemals hin. Die Erde schenkt.163 Die ersten beiden Verse des Sonetts heben auf die verbindende Gabe des Poeta laureatus ab. Statt sich diesem passiv hinzugeben, lässt sich das Wir des Textes durch ihn in Aktivität versetzen – ist doch im zweiten Quartett die Rede vom »Handeln […] aus wirklichem Bezug« (V. 6). Die Akzentuierung des »Wirklichen« (V. 6) offenbart den Rahmen des Agierens. Obgleich die »leere Ferne« (V. 8), die als noch nicht konkretisierte Zukunftsutopie gedeutet werden kann, »trug« (V. 8) und somit die Richtung vorgibt, bleibt das Feld des Agierens auf die Realität beschränkt. Die Entfaltung des Utopischen als anzustrebende Aufhebung der Entfremdung, etwa zwischen Dies- und Jenseits, bedarf der Präzisierung in der Wirklichkeit. Dort ist der Ort ihrer Umsetzung. Dort ist nach Bloch der Ort des zu realisierenden »Alles«. Dieses ist »selber nichts als Identität des zu sich gekommenen Menschen mit seiner für ihn gelungenen Welt.«164 Dazu braucht es mehr als bloße Motivationsbemühung seitens des Subjekts. Denn wie das letzte Terzett demonstriert, gibt es auch auf der Objektseite nötige Impulse. Die Latenz äußert sich im letzten Satz nach der Zäsur: »Die Erde schenkt.« (V. 14) Dass sich nur aus einem Zusammenwirken zwischen Subjekt und Objekt ein Novum konstituieren kann, wird aus der Bezugnahme auf die Ellipse »Reine Spannung« (V. 9) ersichtlich. Diese referiert auf die feierlich besungene »Musik der Kräfte« (V. 9). Virtuos inszeniert Rilke die autopoetologische Dimension seiner lyrischen Utopie. Erst die Poesie im Spiegel eines ihrer zentralen Merkmale, der Musikalität, wirkt als Realisator. Sie ermöglicht die Herstellung von Bezügen, verknüpft Getrenntes oder Gebrochenes und nimmt der Welt jene Schwere: »Durch ihre eigene Musikalität ist diese lyrische Form [das Sonett] am besten geeignet,
163 SW II, S. 738. 164 E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 364.
4. Performative Utopien
Existenzbejahung und neu gewonnene Leichtigkeit in der Beziehung zum Leben zu bringen.«165 Dies stellt die Voraussetzung für utopischen Wandel im Rahmen des irdischen Daseins dar. Indem Orpheus den Status quo zu revidieren und zu nivellieren vermag, reicht sein Blick in die Zukunft. Wer das zweite Quartett des neunzehnten Sonetts166 liest, erkennt möglicherweise die antizipatorische Fähigkeit der Kunst in Blochs Philosophie wieder: Über dem Wandel und Gang, weiter und freier, währt noch dein Vor-Gesang, Gott mit der Leier. (V. 5-8) Wiederum bezieht sich die Ansprache auf den zur Erweckung befähigten Dichter.167 Was den Wandel der Welt bestimmt und dem Dichter dabei paradoxerweise geradezu entzogen scheint, ist der »Vor-Gesang«, eine Ausdrucksform des Vorgriffs respektive des Vor-Scheins, der im Rahmen der Kunst ein Bild des Kommenden vermittelt und das Hiersein transzendiert.168 Der spezifische Vor-Schein, den Kunst zeigt, gleicht einem Laboratorium, worin Vorgänge, Figuren und Charaktere bis zu ihrem typisch-charakteristischen Ende getrieben werden […] dieses jedem Kunstwerk eingeschriebene Wesentlichsehen von Charakteren und Situationen […] setzt die Möglichkeit über der bereits vorhandenen Wirklichkeit voraus.169 Demzufolge wird die musikalische Dichtung mit ihrem prospektiven Impetus am Ende des Gedichts sublimiert: »Einzig das Lied überm Land/heiligt und feiert« (V. 13f.). Es wirkt, obwohl es prozesshaft ins Morgen weist, zugleich als der einzige Stabilisator in einem unklaren Dasein, in welchem, wie der Text weiterhin darlegt, noch nichts über Schmerz erkannt, über Liebe gelernt oder vom Tod entschleiert wurde. Betrachtet man diese Befunde in einem größeren Kontext des Zyklus Die Sonette an Orpheus, kann eine über das progressive Verständnis hinausragende bzw. dieses komplettierende Utopie expliziert werden. Sie steht im Zeichen des Dunkels des gelebten Augenblicks, weil sie weniger auf die Zukunft als auf die Gegenwart gerichtet ist und statt Bewegung einen in sich gefestigten Ruhepol avisiert. Das »Lied« ist »über[]« allem als das große Kontinuum, als der übergreifende
165 166 167 168 169
E. Potthoff: Ein orphischer Gesang zur Überwindung der Vergänglichkeit, S. 165. SW II, S. 743. Vgl. P. Weber: Sternische Verbindungen, S. 209. Vgl. J. Wöhrmann: Ein für alle Male ists Orpheus, wenn es singt, S. 35. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 14.
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Zusammenhang. Besonders anschaulich wird diese Erweiterung des performativen Ansatzes Rilkes im zweiundzwanzigsten Gedicht,170 das mit folgenden Versen beginnt: Wir sind die Treibenden. Aber den Schritt der Zeit, nehmt ihn als Kleinigkeit im immer Bleibenden. (V. 1-4) Das Wir wird in seiner Augenblicklichkeit erfasst. Indem sich dieses Kollektivsubjekt dem Wandel oder dem, wie das zweite Quartett es nennt, »Eilende[n]« (V. 5) entzieht, strebt es das Erleben des ruhevollen Stillstandes an: »denn das Verweilende/erst weiht uns ein.« (V. 7f.) Allein die Wortwahl aus dem semantischen Feld der Religion (»weiht«, V. 8) lässt auf eine Sakralisierung des Sich-außerhalbder-Zeit-Befindens schließen. Darin eingeschlossen ist die hypothetische Fähigkeit, das Hier und Jetzt unmittelbar wahrzunehmen und zu begreifen: »Man erlebt nicht, Erleben ist der schwierigste Horizont des intentionalen Wesens, das Mensch heißt.«171 Bei Bloch ist das reflexive Wahrnehmen des Augenblicks (und der Stillstand steht für eine völlige Gegenwärtigkeit) daher als Utopikum zu denken: Das utopische Bewußtsein will weit hinausgehen, aber letzthin nur doch nur dazu, um das ganz nahe Dunkel des gerade gelebten Augenblicks zu durchdringen, worin alles Seiende so treibt wie sich verborgen ist. Mit anderen Worten: man braucht das stärkste Fernrohr, das des geschliffenen utopischen Bewußtseins, um gerade die nächste Nähe zu durchdringen.172 Das paradoxale Bild beschreibt die Unmöglichkeit, das gerade Seiende zu erfassen, da es sich immerzu verflüchtigt. Das Wir des Sonetts ist hingegen buchstäblich dazu imstande, die Zeit festzuhalten und der utopischen Erleuchtung des Dunkels des »Augenblicks: als eines transitorischen […] mitten im unsichtigen Jetzt«173 nahezukommen. Gelingt dies, stellt sich eine vollkommene Harmonie ein: »Alles ist ausgeruht:/Dunkel und Helligkeit,/Blume und Buch.« (V. 12-14) Bezogen auf die späteren Duineser Elegien, aber durchaus generalisierbar für Rilkes Gesamtwerk, spricht Wich-Schwarz von einer »utopian hope – if they were no longer geared towards the future, all our senses would become aware of the present moment […] to entering a state of timelessness, where past, present and future are ultimately gathered in a fulfilled moment.«174 Dichotome Kräfte sind in diesem zeit-
170 171 172 173 174
SW II, S. 745. B. Schmidt: Ernst Bloch, S. 53. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 11. Ebd., S. 342. J. Wich-Schwarz: Transformation of Language, S. 89.
4. Performative Utopien
losen Raum befriedet. Wie die letzte Miniatur des ersten Teils der Sonette an Orpheus prononciert, besteht das Utopische ferner in der Persistenz der im Lied erfahrbaren Momenthaftigkeit. Obwohl Orpheus zuletzt vom rachsüchtigen »Schwarm der verschmähten Mänaden«175 (V. 2) getötet wird, ist zu vernehmen, dass »dein Klang noch in Löwen und Felsen verweilte« (V. 11). Die überdauernde Dichtung ist über allem erhaben und wirkt als Stimulans auf die Hinterbliebenen: O du verlorener Gott! Du unendliche Spur! Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft verteilte, sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur. (V. 12-14) Nachdem der Gesang in den »Hörenden« fortwirkt, werden diese nun selbst – als Pars pro toto der Natur – zu ProduzentInnen der Poesie. Der »Mund der Natur«, der für Orpheus als Stimme der Natur steht, überträgt dessen utopische Fähigkeiten somit auf das Wir und damit potenziell auch auf die RezipientInnen. Die von Orpheus bewohnten »Zwischenräume«176 sind synästhetisch beschrieben. Dadurch soll eine ganzheitliche Erfahrung ermöglicht werden: »In der Begegnung der Sinne also, ihrer unbewussten Verschaltung und damit einhergehenden wechselseitigen Potenzierung liegt ihr verborgener Sinn oder Zweck – adressiert ist damit die ›Zauberkraft‹ einer kosmischen Erfahrung.«177 Indem Rilke Trennungen etwa zwischen akustischer und visueller Perzeption aufhebt, entsteht ein organischer, alle Sinnebenen integrierender Klang- und Resonanzraum, ein »Möglichkeits- oder Weltinnenraum, welcher hinter den Phänomenen aufgeht«.178 Angestrebt und antizipiert wird eine Konformität zwischen innen und außen: »Utopie ist in ihrer konkreten Gestalt der geprüfte Wille zum Sein des Alles […]. In Wahrheit ist das Alles selber nichts als Identität des zu sich gekommenen Menschen mit seiner für ihn gelungenen Welt.«179 Man wird in Rilkes Gedicht des »Utopos des Orphischen gewahr, welches in dem transgressiven Modus der Audition Nähe und Ferne, Sichtbares und Unsichtbares sowie die Liebenden und Toten miteinander verbindet«180 und Identität als utopischen Zielpunkt fokussiert. Die Objektsphäre erscheint darin wie ein sich verselbstständigender, gänzlich vom Vorschein durchdrungener Resonanzraum: 175 176 177 178 179 180
SW II, S. 747. Ebd., S. 752. P. Weber: Sternische Verbindungen, S. 210. Ebd. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 364. J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 112f.
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…Unabgeschmackt scheint dir das Kommende. Jenes so oft dir schon Gekommene scheint dir zu kommen wieder wie Neues. Immer erhofft, nahmst du es niemals. Es hat dich genommen. (V. 4-8)181 Nachdem die Ovidsche Sagengestalt anfangs noch den Raum unterwirft, wirkt dieser nun agenziell bzw. aus sich heraus auf das Subjekt. Es ist die Rede von der Figura etymologica von »kommen«, das als in der Vergangenheit »Gekommene[s]« nun nochmals als zukünftiges Geschehen bevorstehen soll. Im Wortspiel mit »genommen« wird deutlich, dass von dem »es« eine Handlungsmacht ausgeht und sich Subjekt und Objekt hier vertauschen. Dabei wird das Kommende nicht als Ende gedacht: »Immer erhofft,/nahmst du es niemals.« (V. 7f.) Das Hoffen versteht sich als Annäherung an die Wunschvorstellung, als Bewegung ins Offene. »Primär lebt der Mensch, indem er strebt […]. Das Zukünftige enthält das Gefürchtete oder das Erhoffte; der menschlichen Intention nach, also ohne Vereitlung, enthält es nur das Erhoffte.«182 Es konkretisiert sich sukzessive im Erkennenden. So wird der orphische Kosmos in einer Dialektik gehalten, deren sinnstiftende Spannung sich im letzten parallelistisch dargebotenen Bild des Zyklus äußert: Und wenn dich das Irdische vergaß, zu der stillen Erde sag: Ich rinne. Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin. (V. 12-14)183 Gegenüber der Stille bekennt sich das Ich als rinnend, gegenüber dem flüssigen Element des Wassers als gefasst. Die Identität manifestiert sich im Wechselspiel aus Statik und Dynamik gerade im Nicht-Fixierbaren. Rilkes utopisches Ideal besteht in diesem Fall im Ineinander von Paradoxität und der Möglichkeit des Unmöglichen. Da die Poesie dafür als Realisator dient, lässt sich schließlich die Grundsatzfrage anschließen, ob antizipative Potenzialität und Alternativität überhaupt von einer Sprache getragen werden können, die Teil einer immanenten, kommunikativen Wirklichkeit ist. In einem Terzett im 20. Sonett184 stößt das Textsubjekt diese Überlegung in einem Gedankenexperiment selbst an: 181 182 183 184
SW II, S. 767. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 33-42), S. 2. SW II, S. 771. Ebd., S. 765.
4. Performative Utopien
Fische sind stumm…, meinte man einmal. Wer weiß? Aber ist nicht am Ende ein Ort, wo man das, was der Fische Sprache wäre, ohne sie spricht? (V. 12-14) Ob es eine Möglichkeit gibt, die unbekannte Sprache der Fische von diesen abzulösen und sie in einem anderen Kommunikationsmedium zu vergegenwärtigen, lässt der Text offen. Wo verlaufen die Grenzen des Übertrag- und Translatierbaren? Und gibt es eine Sprachexistenz jenseits des Sprechers? Und wenn ja, wo ist diese utopische Sprache, die einen eigenen Ort besitzt, zu finden? Was diese drei Verse implizieren, ist die metaphysische Qualität, die Rilke dem poetischen Medium zuschreibt und in seinen in zeitlicher und inhaltlicher Nähe zu den Orpheus-Sonetten entstandenen185 Duineser Elegien vollends entfaltet.
4.6
Jenseits der gedeuteten Welt: Das Utopische zwischen Vagheit, Antinomien und Gleichnis in den Duineser Elegien
Rilkes spätem Zyklus Duineser Elegien liegt kein einheitliches Thema zugrunde. Vielmehr greifen die zehn Gedichte in umfassender Weise existenzielle Fragen der Condition humaine sowie zum »rechten Verhältnis zur Transzendenz, zur Welt, zum Menschen selbst«186 auf. In Auseinandersetzungen mit Motiven wie etwa Tod, Liebe, Leiden, Gott und Vergänglichkeit spiegelt sich die menschliche Sinnsuche, die sich nicht mit den Grenzen der empirischen Welt abfindet. »Engel nicht, Menschen nicht,/und die findigen Tiere merken es schon,/daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind/in der gedeuteten Welt.« (V. 10-13)187 Was das zu Beginn bereits vereinsamte, orientierungslose und im Konjunktiv sprechende Ich188 mit der »gedeuteten Welt« meint, ist die rational erfasste Daseinsrealität. Sie markiert zum einen eine Grenzziehung, eben zwischen der gedeuteten« und »nicht-gedeuteten« Welt. Es ließe sich auch reden von den »gegeneinander blinden Sphären der Wirklichkeit, innerhalb derer sich die Menschen fragmentieren und verlieren (Leben – Tod, Diesseits – Jenseits, Bejahung – Verneinung, Zeitlichkeit – Zeitlosigkeit, Endlich – Unendlich, Großartig – Schrecklich)«.189 »Gedeutet« hebt zum anderen auch auf eine wissenschaftlich vermessene und geordnete Realität ab, wodurch die Wendung ebenso als »Kritik der modernen wissenschaftlich-technischen Totalobjektivierung der Natur«190 zu verstehen ist. Alles ist benannt, analytisch zergliedert und
185 186 187 188 189 190
Vgl. M. Orosz: »Wann aber sind wir?«, S. 177. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 267. SW II, S. 685. Vgl. J. Schuster: »Umkehr der Räume« (2011), S. 162. J. Urbich: Rilkes Poesie des Grundes in den Duineser Elegien, S. 265. M. Koch: Poetik um 1900: George, Hofmannsthal, Rilke, S. 216f.
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erfasst. Visionäre, über das bloß Gegebene hinausragende Denkweisen herrschen in dieser Realität nicht vor. Der Mangel an utopischem Bewusstsein repräsentiert Stillstand und Perspektivlosigkeit.191 Um sich nicht mit diesem Raum der reinen Sichtbarkeit abzufinden, sucht das lyrische Ich in seinen Trauerklagen kontrastiv und dialektisch192 ein metaphysisches Dahinter, dem feste Konturen fehlen. »Es ist […] eine bestimmte Form des Denkens gefordert, die dem Charakter des Geheimnisses, des nicht Ergreifbaren, des sich ständig Entziehenden gerecht wird.«193 Offensichtlich wird in Rilkes Konzeption eine Paradoxie, worin das Intransparente einerseits bewahrt werden soll, andererseits aber auch eine stetige Approximation in der Sprache provoziert. »Transzendenzsuche und poetische Sprachsuche sind so unauflösbar miteinander verschränkt.«194 Identität und Alterität sind dadurch wechselseitig aufeinander bezogen und bedingen einander. »Solche ›Suche‹ ist Aufgabe von ›Subjekten‹. In ihr konstituieren sie sich am ›ganz Anderen‹, und zwar in der suchenden Hinsprache, also performativ, im kommunikativen Prozess.«195 Dieses Suchen expliziert das Ringen um eine adäquate Form, die eine Bewältigung der Sprachkrise leisten soll. Aus diesem Grund ist die These Wich-Schwarzes plausibel, »that Elegies invite a reading that resolves the language crisis depicted in Malte novel.«196 Dieses Ausloten schlägt sich in transgressiven Zuständen und Topografien nieder: Vom »Fruchtland[]/zwischen Strom und Gestein« (V. 75f.),197 vom »Künftige[n]«198 oder »zahllos Brauende[n]« .199 (V. 69f.) Solcherlei Wendungen suggerieren Überschreitungsszenarien. Besonders bedient sich Rilke dafür auch Bilder der Vertikalen: »Wie Tau von dem Frühgras/hebt sich das Unsre von uns, wie die Hitze von einem/heißen Gericht.«200 (V. 25-27) Die Vergleiche insinuieren ein »Als-ob« und zeigen das Möglichkeitsspektrum zwischen Ist- und Soll-Zustand an. Zwischen diesen Polen schwankend, erweist sich die humane Existenz als unsteter Prozess, als Seiltänzerschaft: »Du,/immerfort anders auf alle des Gleichgewichts schwankende Waagen«201 (V. 69f.) – so spricht das lyrische Ich in der fünften Elegie ein nicht näher greifbares Gegenüber an. Jenseits der nicht hergestellten Balance wird die Zerrissenheit des Menschen sowie dessen tristes Dasein auch mit anderen Motiven der Haltlosigkeit verglichen: »Wir sind nicht einig. Sind nicht wie 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201
Vgl. K. Hilpert: Die orientierende Kraft imaginierter Gegen-Welten, S. 303. Vgl. H. Klima: Rainer Maria Rilkes Kunstmetaphysik, S. 248. L. Wenzler: Rilkes Wege mit ›Gott‹, S. 447. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 277. Ebd., S. 259. J. Wich-Schwarz: Transformation of Language, S. 84. SW II, S. 692. Ebd., S. 718. Ebd., S. 695. Ebd., S. 690. Ebd., S. 704.
4. Performative Utopien
Zug-/vögel verständigt. Überholt und spät,/so drängen wir uns plötzlich Winden auf/und fallen ein auf teilnahmslosen Teich.«202 (V. 2-5) Mangel als Voraussetzung für Utopie und Antizipation203 initiiert die für die Elegien konstitutive Spannung. Dem dramatisch formulierten Ableben eines Seienden […] steht die Rückkehr in einen Ursprung gegenüber, welche – in entgegengesetzter ontologischer Zielrichtung zum Untergang – das Seiende vollendet, bewahrt und mit sich zusammenschließt. Es scheint fast so, als konserviere der Ausdruck in nuce […] das maximale und zugleich auf seine einfachste Grundform heruntergebrochene utopische Programm von hoffnungsbegabten und damit auch vernunftbegabten Lebewesen.204 Die Synchronität des Elegischen und (utopisch) Einheitsstiftenden wirkt damit unmittelbar auf die Konstituierung des Subjekts, das sich als modern zerrissenes erst wiederfinden muss. Diese reziproke Figur lässt übrigens eine Nähe zu Hölderlin und dessen Vorstellung vom »Harmonisch-Entgegengesetzten« zu: Dieses Ineins von Rühmen und Klagen kennen wir wiederum von Hölderlin, auf den sich Rilke intensiv bezieht. […] Dieses grundlegende, doppelte Modus des poetischen Sprechens der Elegien ist Vollzug des grundlegenden doppelten, dialektisch verschränkten Modus des Subjekt-Seins, das sich in der Annahme des Herausgefordert-Seins durch die Transzendenz selbst begreift.205 Es gibt keinen festen Standpunkt und erst recht keine Eindeutigkeit in den polysemen Elegien. Die Unverfügbarkeit eines fixen Orts, einer Heimat, mündet in einer zentralen Frage, auf die eine klare Antwort folgt: »Wo, o wo ist der Ort – ich trag ihn im Herzen –«,206 folglich zu dem Ort und Organ, in welchem das ›Sichtbare[] und Greifbare[]‹ er-innert und zugleich ›in die unsichtbare Schwingung und Erregtheit unserer Natur‹ (B 898) überführt und verwandelt werde, erhebt die am 11. Februar vollende, in den Utopos des orphischen ›Totsein[s]‹ (DE I, 78) einführende Elegie das Ohr.207 Typischerweise verbleibt das Ich in seiner monologischen Struktur, die Engel der Elegien sind machtlose Wesen und funktional als Gegenüber angelegt, das dem Subjekt als Reflexionsfläche dient.208 Als einziger Ankerpunkt wird ein zu füllender, bei Schuster besonders akustisch akzentuierter Weltinnenraum deutlich, 202 203 204 205 206 207 208
Ebd., S. 697. Vgl. B. Schmidt: Ernst Bloch, S. 99. J. Urbich: Rilkes Poesie des Grundes in den Duineser Elegien, S. 261. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 278. SW II, S. 704. J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 119. Vgl. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 269.
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dessen Inneres etwa durch das Verwandlungsorgan des Herzens metaphorisiert wird,209 oder auch erneut im durch permeable Außengrenzen gekennzeichneten Rosenmotiv aufschimmert. Dieses erscheint als harmonisches Zeichen im Dazwischen, entschlüsselbar nur durch die Kraft eines neuen, durchdringenden Sehens: »Ach und um diese/Mitte, die Rose des Zuschauens:/blüht und entblättert.«210 (V. 18-20) Indem Entstehen und Vergehen sich in der Blume äußern,211 wird die Transformation, der permanente Wandel sichtbar.212 Mehrfach finden sich Sentenzen wie »Denn Bleiben ist nirgends«213 (V. 52) oder Begriffe wie die »Schwelle«.214 (V. 39) Die Sprache als einziger Konstituierungsraum des Ich vermittelt immer wieder Bilder der Alterität durch Grenzübertretungen. Pointiert endet beispielsweise die sechste Elegie, ein Text, in dem sich im Helden Simon Tod und Geburt verschränken,215 auf dem durch eine Parenthese vom übrigen Text abgegrenzten Wort »anders.«216 (V. 43) Indem das Andere auf das Subjekt wirkt, bleibt im gesamten Zyklus eine produktive Spannung zwischen einem holistischen und fragmentiert-dezentrierten Seinsentwurf aufrechterhalten. Uns aber, wo wir Eines meinen, ganz ist schon des andern Aufwand fühlbar. Feindschaft ist uns das Nächste. Treten Liebende nicht immerfort an Ränder, eins im andern, die sich versprachen Weite, Jagd und Heimat.217 (V. 9-13) Wo der Eindruck hybrider Verschmelzung entsteht, macht sich sogleich »des andern Aufwand« bemerkbar. Rilke entwirft in den Duineser Elegien die Vorstellung einer unsteten Existenzweise. Bereits die bekannte Paradoxie aus dem ersten Text »Denn das Schöne ist nichts/als des Schrecklichen Anfang«218 (V. 4f.) führt ins Bewusstsein, dass jeder Positivität immer ihre Negativität eingeschrieben ist. Entstehung und Zerfall bilden die Pole, innerhalb derer sich die Trauerklagen »in ihrer Prozeßhaftigkeit, in ihrer Sprach- und Suchbewegung, in ihrer Grundspannung von Hymnischem und Elegischem«219 äußern. Scheinbar passiv kann der Mensch nur konstatieren: 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219
Vgl. H. Singer: Rilke und Hölderlin, S. 126. SW II, S. 701. Vgl. D. Liguori: Rosen in Florenz, S. 111. Vgl. B. Hayer: Filmpoetische Verwandlungen, S. 228. SW II, S. 687. Ebd., S. 718. Vgl. P. Por: »Der [defigurierten] Figur zu glauben«, S. 230. SW II, S. 708. Ebd., S. 697. Ebd., S. 785. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 266.
4. Performative Utopien
Und wir: Zuschauer, immer, überall, dem allen zugewandt und nie hinaus! Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst. (V. 66-69)220 Obgleich das Textsubjekt verschiedener Gedichte stets seine Zerrissenheit, ja, sein Unbehagen an den Widersprüchen der Welt kundtut, vermag gerade die Ästhetik des Zyklus die Dualitäten aufzuheben und darin die ethische Dimension von Rilkes Poetik offenzulegen. Antithesen wie »Blühn und verdorrn ist uns zugleich bewusst«221 (V. 6) oder Antinomien wie – bezogen auf die kurz aufschimmernde Heldenfigur – »selbst der Untergang war ihm/nur ein Vorwand, zu sein: seine letzte Geburt«222 (V. 41) und paradoxe Genesen à la »Nachricht, die aus Stille sich bildet«223 (V. 60), konturieren ein dialektisches, sich in der Sprache realisierendes Denken. Die pathetischen Verneinungen sind immer umgeben vom Glanz ihrer möglichen Widerlegung. Dem ›nicht einmal‹, mit dem die Elegien enden, folgt daher ein ›Aber‹, ein ›vielleicht‹ und eine konjunktivische Trias: ›erweckten‹, ›zeigten‹, ›meinten‹.224 Das Mäandern über dem Abgrund dient letztlich dazu, »den Schmerz zu verwandeln, indem man ihn ›fruchtbar und groß‹ macht«225 und gerade dadurch das elegische Potenzial ausnutzt. Hinzu kommen teils bewusst schiefe oder kaum auflösbare, übercodierte Metaphern: So heißt es etwa über die Faszinationskraft der Sphinx im finalen Text der Duineser Elegien: »Und sie staunen dem krönlichen Haupt, das für immer/schweigend, der Menschen Gesicht/auf die Waage der Sterne gelegt.«226 (V. 79) Was versteht man unter der Waage der Sterne und wie kann darauf ein menschliches Gesicht gelegt werden? Indem Rilke im vorliegenden Beispiel dissonantes Sprachmaterial miteinander montiert, setzt er seine Dichtung von empirischen Gesetzmäßigkeiten ab, die dadurch für sich einen neuen poetischen Raum beansprucht. Die Sphinx selbst stellt in diesem Kontext eine Übergangsfigur zur Realisierung des Utopischen im Sinne eines Unmöglichen dar. So »hebt die Sphinx die Vergänglichkeit der menschlichen Kreatur selbst in den Rang des Ewigen.«227 Das Monumentale und Überzeitliche wird mit dem Menschlichen verwoben. Dass Rilke hierbei und im Hinblick auf den gesamten Zyklus um 220 221 222 223 224 225 226 227
SW II, S. 716. Ebd., S. 697. Ebd., S. 686. Ebd. N. Fischer: ›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes, S. 26. Liguori, Rosen in Florenz (2016), S. 114. SW II, S. 724. J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 108.
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die Aufhebung von Fremdheit bedacht ist, hebt insbesondere ein zentrales Wort seiner Sprachutopie hervor, das in den letzten Versen Erwähnung findet: Das »Gleichnis«.228 (V. 106) Die Praxis des Vergleichens, der Herstellung von Bezügen jenseits realer Beschränkungen vermittelt die Option der Harmonisierung von Ungleichem. Während »alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden«229 (V. 81), begehen, folglich in einem dichotomen Weltbild verharren, indem sie zwischen Dies- und Jenseits differenzieren, zielt allen voran das lyrische Spätwerk Rilkes auf die Beseitigung dualistischer Ansätze. Der Rekurs der letzten Elegie auf die altägyptische Kultur spielt auf ein kosmologisches Weltbild an, in dem Leben und Tod nicht mehr unüberwindbar voneinander getrennt sind.230 »Rilke plädiert leidenschaftlich dafür, das Leben zu lieben, aber den Tod als Partner des Lebens mindestens anzunehmen. […] Rilke will geradezu seherisch Zeugnis ablegen für die Einheit von Leben und Tod«.231 Es gibt in dieser Ethik, die sich in der Ästhetik der Grenzauflösung niederschlägt, keine Trennung beider Sphären. »Der Tod erscheint […] nicht in sukzessiver Ordnung zum Leben als dessen Ende, sondern er wird vielmehr als eine spezifische Seite des Lebens selbst aufgefaßt«.232 So endet die vierte Elegie mit der Vorstellung, dass der Tod im Leben bereits bekannt (und durchdrungen) ist: »Aber dies: den Tod,/den ganzen Tod, noch vor dem Leben so/sanft zu enthalten und nicht bös zu sein,/ist unbeschreiblich« (V. 9-12)233 – man könnte auch äquivalent dazu sagen: ist utopisch. Um diese Entwicklung vom Endlichen zum Ewigen234 zu verbildlichen, dokumentiert die zehnte Elegie einen mehrere Stationen streifenden Wahrnehmungsvorgang. Gezeigt wird »eine Folge imaginärer Räume mittels der Bewegung von Figuren«.235 Von der einem urbanen Jahrmarkt ähnelnden »LeidStadt«,236 (V. 16) die – Kippenberger sieht in ihr eine »Proletariervorstadt« –237 auch als eine Farce auf einen penetrierenden Kapitalismus gelesen werden kann, geht der Blick weiter in ein Land, in dem das Leid zuhause ist und die Klagen. Dort läßt der Dichter den jungen Toten eintreten als in ein Zwischenreich, in dem sie, die noch nicht in ihren
228 229 230 231 232 233 234 235 236 237
SW II, S. 726. Ebd., S. 688. Vgl. H. Klima: Rainer Maria Rilkes Kunstmetaphysik, S. 228f. L. Wenzler: Rilkes Wege mit ›Gott‹, S. 468. T. Martinec: »In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch«, S. 162. SW II, S. 699f. Vgl. L. Wenzler: Rilkes Wege mit ›Gott‹, S. 469. A. Stephens: Duineser Elegien, S. 381. SW II, S. 721. K. Kippenberg: Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien, S. 116.
4. Performative Utopien
neuen Zustand eingewöhnt sind, gleichsam Atem schöpfen können und auf das überwundene Leben zurückblicken.238 Wie in einem Sog »leitet [die Klage] ihn [einen jungen Toten] durch die weite Landschaft der Klagen,/zeigt ihm die Säulen der Tempel oder die Trümmer/jener Burgen, von wo Klage-Fürsten das Land/einstens weise beherrscht« (V. 60-63), bis man bei Nacht erblickt »das Grab-Mal. Brüderlich jenem am Nil,/der erhabene Sphinx« (V. 74f.). Weiterhin gelangt der Tote förmlich auf die Welt zurück, sobald er in die »Talschlucht« (V. 97) gelangt und von der Klage umarmt wird, um zuletzt »in die Berge des Ur-Leids« (V. 104) aufzusteigen. Bereits diese Tour d’horizon mit ihren höchst unterschiedlichen Stationen mutet utopisch an, zumal sie allein in einem poetischen Vorstellungsraum, wo Tote lebendig werden, erfolgen kann. Es geht in »Rilkes Werk um Tod und Sterben als angestrebte Erweiterung der Lebensperspektive«,239 wodurch sprachliche Grenzbezirke entstehen. Jene »Zwischenreiche entsprechen dem entwicklungshaften Charakter des Menschen, der in einen neuen Zustand übergehend, zögernd zurückschaut und innerlich weder ihm noch dem alten angehört.«240 Die Aufmerksamkeit für die Vergangenheit ist jedoch nicht nostalgischer Natur. Vielmehr erweist sie sich als Teil eines visionären Ganzen, worin die christliche Trennung zwischen dem Reich der Lebenden und Toten aufgehoben scheint. Der Sinn dieses Vorgangs liegt […] darin, daß die Bedeutung des Evozierten doch letztlich ›Gleichnis‹ bleibt und als solches – vielleicht auch mit umgekehrten Vorzeichen – auf das Bewußtsein des Lesers zu wirken vermag. Denn mehr als Gleichnisse können auch die größten Leistungen der modernen Dichtung nicht vermitteln.241 Rilke hebt in seinen eigenwilligen Gleichnissen die Disparitäten der Welt ästhetisch auf. Das Gedicht »enthält das Versprechen, die anthropologisch gegebenen Grenzen im Raum des Gedichts zu überschreiten und den Kreislauf des organischen Lebens räumlich und zeitlich so zu weiten«.242 Besonders augenscheinlich wird dies in der zehnten Elegie. Einsam steigt er dahin, in die Berge des Ur-Leids. Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem tonlosen Los. Aber erweckten sie uns, die unendlich Toten, ein Gleichnis, siehe, sie zeigten vielleicht auf die Kätzchen der leeren 238 239 240 241 242
Ebd. F. Günther: Grenzgänge zum Anorganischen bei Rilke und Celan, S. 24. K. Kippenberg: Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien, S. 116f. Ebd. F. Günther: Grenzgänge zum Anorganischen bei Rilke und Celan, S. 431.
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Hasel, die hängenden, oder meinten den Regen, der fällt auf dunkles Erdreich im Frühjahr. – (V. 104-109) Hierin ist die Rede vom Toten, der mit den »Berge[n] des Ur-Leids« (V. 104) eine stille und trostlose Topografie durchquert. Den möglichen Ausweg kündigt das »Aber« (V. 106) an. Erwecken die Toten ein Gleichnis, um es mit Rilkes Worten auszudrücken, so bedeutet dies die Reversibilität von Entfremdung durch das poetische Schreiben. Deutlich wird ein »Schreiben in räumlich definierten Hybriden, das nicht nur in Bewegung bleibt [sic!] sondern lyrische Bewegung ist.«243 Dadurch verbinden sich getrennte Bildbereiche. So verknüpft die Figura etymologica »tonlosen Los« das Schicksal mit der Stille. Noch offensichtlicher fällt die Wirkung des »Gleichnis[ses]« aus, sobald auf den Rilke’schen Imperativ des »Siehe« konventionelle Sichtweisen auf visuell erfassbare Phänomene unterlaufen werden. Die Toten zeigen auf »Hasel« und die »Kätzchen«, obgleich sie damit möglicherweise den »Regen« »meinten«. Alles ist gleichwertig in dieser Aufzählung und zu einem gewissen Grad ununterscheidbar geworden. Was dem vorausgeht, ist die dauerhafte Permutation des Lebens. Es gilt das übergeordnete Credo: »Unser/Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer/schwindet das Außen. Wo einmal ein dauerndes Haus war,/schlägt sich erdachtes Gebild vor«.244 (V. 51-54) Das klar Umrissene der klassischen Utopie löst sich zugunsten einer vagen Zielrichtung und Verwirklichungsintention auf. Das reale Haus verschwindet zugunsten des »erdachte[n] Gebild[s]«. Entfremdung und Leid werden aufgehoben in einem metaphysisch-holistischen Komplex, worin sich Tote wie die »frühe Hinüberbestimmten«245 und Lebende vermischen. Auch die Verse »Hier ist alles Abstand,/und dort wars Atem«246 (V. 48), deuten im Atem die – im Zuge der Modernisierung scheinbar verloren gegangene – Möglichkeit einer Erneuerung an: Der Atem symbolisiert Leben, einen Austausch zwischen innen und außen und stellt ein Medium dar, in dem sich unterschiedliche immaterielle Stoffe vermischen können. Von ihm geht der Impuls für Vitalität und Erneuerung aus. Gleichzeitig erweist er sich als utopisch relevante Größe, insofern er sich dem Sichtbaren entzieht und Verbildlichung bzw. Imagination erfordert. Er entspricht dem Bloch’schen ›Nicht‹, das als noch nicht verwirklichtes Etwas das Potenzial zur Realisierung in sich trägt. Der oft konstatierte Sigularitätsstatus von Rilkes Lyrik wird durch die ästhetische Strategie, Abwesendes anwesend werden zu lassen,247 bekräftigt. Dies trifft in besonderem Maße für die Omnipräsenz des Todes und Toter im diesseitigen Raum seiner Texte zu. »Das unendlich Ganze hat die vollständige Geschlossenheit 243 244 245 246 247
R. Görner: Im Welt-Raum des Gedichts, S. 154. SW II, S. 711. Ebd., S. 706. Ebd., S. 715. Vgl. A. Stahl: Rilkes andauernde Arbeit am Mythos, S. 44.
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des Seins dergestalt verwirklicht, dass nichts mehr aus dieser herausfällt, ausgeschlossen wird oder sich in einem Jenseits dieses bestimmbaren Zusammenhangs verliert.«248 Dass die Duineser Elegien im Zeichen der »Aussöhnung mit Tod und Vergänglichkeit«249 sowie der Dekonstruktion der christlichen Dualität stehen, demonstrieren mehrere Stellen. Bereits im einleitenden Gedicht tritt die Hybridität offen zutage: »Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter/Lebenden gehen oder Toten.«250 (V. 81f.) Offensichtlich sind die Räume der Gedichte derart durchlässig, dass die konventionellen Wahrnehmungsweisen nicht mehr genügen, um das Ganze zu erfassen. Selbst die »Figurationen der Transzendenz«,251 die Engel, die bei Rilke ohnehin eher als Beobachter denn als Akteure auftreten, vermögen nicht, Unterscheidungen vorzunehmen. Zudem lassen sie sich schwer in eine Opposition zum Menschen setzen, weil sie durchaus als »an extension of human consciousness«252 anzusehen sind. Die Verbindung differenter Sphären, welche »die Grenze zwischen Diesseitigem und Jenseitigem porös mach[t]«,253 innerhalb eines Sprach- und Bewusstseinsraums erwirkt Rilke mithilfe von Konjunktionen, Vergleichen sowie der Herstellung von Analogien. Hierbei spielt die Subjekt-Objekt-Annäherung, wie sie Bloch immer wieder als Voraussetzung utopischen Werdens beschreibt, eine wichtige Rolle. Zueinander finden innere Bilder aus Wünschen und Hoffnungen und die sich im Objekt äußernden Anlagen. In der Mitte ergibt sich der Initiationspunkt für die Entstehung des Novum. Übertragen auf den Zyklus könnte der subjektive Faktor im Textsubjekt und dem Motiv des Herzens gesehen werden. »Überzähliges Dasein/entspringt mir im Herzen«.254 Was als Anlage einer Welt im Inneren des lyrischen Ich vorhanden ist und nach außen strebt, bedarf eines Pendants in der Objektwelt. Dass Rilkes Vorstellungen von Materie – ähnlich der aristotelischen Entelechie – im Sinne einer »Möglichkeit zum Wesen«255 kein statisches Verständnis zugrunde liegt, sondern von Dynamik geprägt ist, demonstriert eine Passage aus der neunten Elegie: Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat. Sprich und bekenn. Mehr als je fallen die Dinge dahin, die erlebbaren, denn, was sie verdrängend ersetzt, ist ein Tun ohne Bild. 248 249 250 251 252 253 254 255
J. Urbich: Rilkes Poesie des Grundes in den Duineser Elegien, S. 263. A. Stahl: Rilkes andauernde Arbeit am Mythos, S. 60. SW II, S. 688. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 267. J. Wich-Schwarz: Transformation of Language, S. 82. F. Günther: Grenzgänge zum Anorganischen bei Rilke und Celan, S. 37. SW II, S. 720. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 33-42), S. 6.
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Tun unter Krusten, die willig zerspringen, sobald innen das Handeln entwächst und sich anders begrenzt.256 (V. 41-46) Indem »innen das Handeln entwächst« und gen Externalität drängt, werden die Dinge buchstäblich entwurzelt und lassen das Potenzial zur Verwandlung zu. Deren Substituierung durch ein »Tun ohne Bild« könnte, wie die Stelle paraphrasiert, als Bewegung auf der Objektseite zu verstehen sein. Dass dieses Agieren noch keinem konkreten Zielinhalt folgt, zeigt an, dass erst eine weitere Instanz, die des erkennenden Subjekts, zu einer Ausgestaltung beitragen kann, wie Klima konstatiert: In der neunten Elegie wird das Bewusstsein somit gar als Voraussetzung für die Verwandlung erkannt: Das Gegenüber-Sein lässt das Ich erst die Objekte und ihren Wert erkennen und in der Folge deren jeweiliges Wesen ergründen und in Sprache übersetzen. Die ästhetische Form, die das Vergängliche überbietet, entsteht aus der Fusion von Bewusstsein und Objekt.257 Erst die Approximation beider Sphären bedingt eine Präzisierung der noch abstrakten Idee zu einer greifbar werdenden Utopie. Noch ein weiterer Gesichtspunkt ist in der von Rilke zitierten Passage von Interesse. Der Parallelismus »Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat« assoziiert Sprache bzw. das »Sägliche[]« mit Heimat. Lässt sie sich als Inbegriff der utopischen Aufhebung einer Entfremdung zwischen Ich und Welt deuten, ist die Analogie zulässig, auch den Prozess zu jenem imaginären Endpunkt als von einem sprachlichen Movens getragenen zu definieren. Jene »Sprachbewegung ist eine fortwährende, auch in den Elegien nicht wirklich zum Abschluß kommende Suchbewegung«.258 Urbich sieht darin die »rückwärtsgewandte Utopie der Ursprungshoffnung«.259 Allerdings ist dieser eben offene Strom keineswegs monodirektionaler oder einsträngiger Natur. Zu dessen Komplexität gehören Polyphonie und Multiperspektivität, wodurch auch mehrere Zeitrichtungen innerhalb der Elegien denkbar werden. Die konstitutive Unklarheit und Hermetik des Zyklus verweigern sich einer Festschreibung. Die elliptische Gemination »Stimmen, Stimmen«260 (V. 53) in der ersten Elegie verdeutlicht allein das schwierig zu umreißende Feld, in dem das Sprechen in den Duineser Elegien zu verorten ist. Aufgrund der häufig assoziativen Sprünge, der Wechsel der Pronomina (Ich – Wir) können Perspektivierungen nicht fix zugeordnet werden. Stattdessen entwickelt der Dichter einen
256 257 258 259 260
SW II, S. 718f. H. Klima: Rainer Maria Rilkes Kunstmetaphysik, S. 258. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 275. J. Urbich: Rilkes Poesie des Grundes in den Duineser Elegien, S. 262. SW II, S. 687.
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vielstimmigen, lyrischen Klangkörper und Resonanzraum, der spezifische Anforderungen an die RezipientInnen stellt. Um die fehlende Orientierung im Text in eine Sinnkonstruktion zu überführen, bedarf es erheblicher Deutungsbemühungen. Die Unklarheiten und Leerstellen in Bezug auf Zuordnungen dokumentieren die Multipotenzialität des Zyklus, dessen utopische Anlagen aus rezeptionsästhetischer Sicht im Rahmen einer hermeneutischen Annäherung realisiert werden können. Verschiedene Passagen provozieren auf Seiten der LeserInnen ein vertiefendes Weiterdenken des offenen Arrangements. Exemplarisch sei auf zwei Stellen in der ersten Elegie verwiesen. Die erste formuliert einen Appell: »Wirf aus den Armen die Leere/zu den Bäumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel/die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.«261 (V. 23-25) Es handelt sich hierbei um eine Katachrese. Indem die Arme etwas nicht Greifbares an ein materielles Ding koppeln, erschließt die Leere, also das Nichts, den Raum. »Genau diese Räume, die durch den leeren Wurf etwas hinzugefügt bekommen und so reicher werden, sollen wir verinnerlichen.«262 Deutlich wird damit »Rilkes Konzeption des unsichtbarspürbaren ›Raumes‹ als eines Zeitraumes amorpher, aber hochgradig energetischer Kräftespiele«.263 Aus dieser »konstruktiv-abstrakte[n] Poetik der späteren Werkphase«264 ergibt sich ein offenes Feld, in dem Neues aus der Mixtur von Sichtbarem und Unsichtbarem sowie aus Strömungen und Energien entstehen kann. Die metaphorische Referenz auf die die »erweiterte Luft fühl[enden]« Vögel gibt die Leere als Basis der Freiheit zu erkennen. Markant ist darüber hinaus erneut die antinomische265 respektive katachretische Konstruktion an sich, was zum einen das Werfen der Leere, zum anderen die zu atmenden Bäume betrifft. Es zeigt sich, dass die poetische Evokation an keinerlei Faktizität gebunden ist und die Leere dem Möglichkeitsdenken Vorschub leistet. Einzig eine Wechselwirkung scheint für sie konstitutiv: So funktioniert die in den Elegien offenbarte »Schöpfung der Welt nach dem Gesetz des elegischen Bezugs vom Wort zum Dasein und vom Dasein zum Wort.«266 Sprache schafft Wirklichkeit und diese wiederum die Sprache. Auch die zweite Stelle, die letzten Verse der ersten Elegie, worin dargelegt wird, dass die »Leere in jene/Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft« (V. 94). dokumentiert die empirisch unmögliche Kausalbeziehung zwischen Physik und Metaphysik. Eine Leere kann nicht in Schwingung versetzt werden, einzig als imaginiertes Bild scheint dieser Akt möglich. 261 262 263 264 265 266
Ebd., S. 685f. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 289. J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 144. Ebd., S. 144. Vgl. Hayer: Filmpoetische Verwandlungen, S. 228. P. Por: »Der [defigurierten] Figur zu glauben«, S. 244.
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Da er im Rahmen des poetischen Bewusstseins verwirklicht wird und aus dem Nichts eine Bewegung hervorgeht, stellt sich zuletzt ein therapeutischer Effekt ein. Was Rilke in der Leere verhandelt, ist der Ausgangspunkt für eine Zukunftsgestaltung. So sind die Elegien bestimmt durch einen »anticipatory status: the poems are in a place that I have not reached yet.«267 Hierin äußert sich der anfangs noch vage Bewusstseinsinhalt des Noch-Nicht-Gewordenen in Richtung sukzessiver Konkretisierung, die aufgrund der ausufernden Architektur des Zyklus nie ganz zu erreichen ist. Die Elegien bilden eine ästhetische Gesamtgestalt, einen Zyklus. Ja, sie sind wirklich einer. Sie konstituieren damit eine poetisch-ästhetische Ordnung, eine Gestalt dort, wo das Problembewußtsein einen Abschluß nicht mehr möglich erscheinen läßt […]. Das heißt: Die ästhetische Form ist die moderne Loslösung für eine Aufgabe, die größer nicht sein könnte und sich nicht mehr lösen läßt.268 Um sich dem Numinosen und Unsichtbaren dennoch anzunähern, also Utopie gen Verwirklichung zu führen, bildet das neue Sehen eine wichtige Voraussetzung. Immer wieder finden sich Imperative wie »Sieh« oder Einladungen zum »Zuschaun«.269 (V. 35) Ganze Wahrnehmungssequenzen entwerfen eine utopische Prozessualität des Sehens und Hörens, welche exemplarisch den Wandel der Jahreszeiten, beschrieben in der siebten Elegie als eine »Bejahung des Lebens […] und […] ein Preislied auf die Erde«270 belegt: O und der Frühling begriffe –, da ist keine Stelle, die nicht trüge den Ton der Verkündigung. Erst jenen kleinen fragenden Auflaut, den, mit steigernder Stille, weithin umschweigt ein reiner bejahender Tag. Dann die Stufen hinan, Ruf-Stufen hinan, zum geträumten Tempel der Zukunft –; dann den Triller, Fontäne, die zu dem drängenden Strahl schon das Fallen zuvornimmt im versprechlichen Spiel . . . . Und vor sich, den Sommer.271 (V. 10-17) Die Passage integriert synästhetisch akustische und visuelle Elemente. Das Bewusstsein setzt beim utopisch klingenden »Ton der Verkündigung« (V. 11) an, der paradoxerweise in einer »steigende[n] Stille« zu vernehmen ist. Die Intensität der Stille wird durch ihre scheinbare, aber bildlich schiefe Steigerung sowie die tautologische Präzisierung »umschweigt« (V. 13) verdeutlicht. Daraufhin wendet sich
267 268 269 270 271
J. Wich-Schwarz: Transformation of Language, S. 77. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 273. SW II, S. 698. K. Kippenberg: Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien, S. 63. Ebd., S. 709.
4. Performative Utopien
die Aufmerksamkeit auf die, möglicherweise noch immer auf den Ton bezogene Fallbewegung zum »Tempel der Zukunft«, eine weitere Chimäre der Antizipation. Der Mensch muss ihn gedanklich errichten: »Human language which is capable of creating ›the imagined temple of future‹ is no longer in need of angelic support; the elegy proclaims the autonomy of the human sphere.«272 Ort dieses Ereignisses ist das Ich. Erst »die Öffnung des Bewusstseins des Ichs erlaubt ein epiphanes Erlebnis, einen starken Augenblick der Affirmation der Existenz, weil der isolierte und entfremdete Zustand des Individuums in der Welt aufgehoben wird.«273 Auf diese Bekundung der menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung folgt der Aufwärtsimpuls im Bild der Fontäne. Hier ist der Primat eines Hörens aufgestellt, welches zugleich als ein phonographischer Akt definiert wird: Die Darstellung einer jeden Idee ›in klanglichen Aequivalenten‹ folgt nicht erst, sondern vollzieht sich je schon als deren Projektion auf die Gehörfläche: Die Akustik wird hier als genuin imaginativer Modus, die Audition als eine entsprechend imaginative Leistung vorgestellt. Der Klang ruft in Rilkes Wahrnehmung(-slehre) demnach je schon sein optisches Äquivalent auf und umgekehrt.274 Bezogen auf das vorliegende Gedicht lässt sich von einer vereinigenden Blickführung sprechen, die antinomisch etwas Immaterielles, nämlich die Tonspur, fokussiert. Schuster spricht auch von einer »Verwandlung ins Ohr«,275 um die akustische Qualität des Übergangs kenntlich zu machen. Die poetische Bewegung skizziert eine Evolution über Jahreszeiten hinweg und geht mit dem Ausklang der Versgruppe in den Sommer über. Die weiteren Versgruppen stehen im Zeichen der Freude über das Dasein. Siehe, da rief ich die Liebende. Aber nicht sie nur käme . . . Es kämen aus schwächlichen Gräbern Mädchen und ständen . . . Denn wie beschränk ich, wie, den gerufenen Ruf? Die Versunkenen suchen immer noch Erde. – Ihr Kinder, ein hiesig einmal ergriffenes Ding gälte für viele. Glaubt nicht, Schicksal sei mehr, als das Dichte der Kindheit; wie überholtet ihr oft den Geliebten, atmend, atmend nach seligem Lauf, auf nichts zu, ins Freie. 272 273 274 275
J. Wich-Schwarz: Transformation of Language, S. 95. Vgl. H. Klima: Rainer Maria Rilkes Kunstmetaphysik, S. 251. J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 110. Ebd., S. 116.
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Hiersein ist herrlich. Ihr wußtet es, Mädchen, ihr auch, die ihr scheinbar entbehrtet, versankt –, ihr, in den ärgsten Gassen der Städte, Schwärende, oder dem Abfall Offene. Denn eine Stunde war jeder, vielleicht nicht ganz eine Stunde, ein mit den Maßen der Zeit kaum Meßliches zwischen zwei Weilen –, da sie ein Dasein hatte. Alles. Die Adern voll Dasein. Nur, wir vergessen so leicht, was der lachende Nachbar uns nicht bestätigt oder beneidet. Sichtbar wollen wirs heben, wo doch das sichtbarste Glück uns erst zu erkennen sich giebt, wenn wir es innen verwandeln. Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen. Unser Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer schwindet das Außen. Wo einmal ein dauerndes Haus war, schlägt sich erdachtes Gebild vor, quer, zu Erdenklichem völlig gehörig, als ständ es noch ganz im Gehirne.276 (V. 30-54) Die verschiedenen Personengruppen in den gegebenen Zitaten sind allesamt im Zentrum der poetischen Ansprache, wie Kippenberg treffend zusammenfasst: Da ruft er [der Dichter] die Liebenden zu einer Art von irdischem Jüngsten Gericht zusammen, und auch Mädchen erscheinen, welche die Erde schon verlassen haben und sich doch noch zu ihr zurücksehnen. Die Gerufenen kommen in Scharen. Der Dichter möchte ihnen allen vom Glück des Daseins künden, das anfängt in der Kindheit, die das künftige Schicksal in verhüllter Gestalt schon vorbildet.277 Das Dasein wird affimativ gepriesen, weil es verwandelbar ist und die sichtbare Welt in eine innere transformiert werden kann.278 Utopisch mutet das Produkt an, dem Kippenberger im vorliegenden Zitat einen antizipativen Charakter zuschreibt: »Und immer geringer/schwindet das Außen. Wo einmal ein dauerndes Haus war,/schlägt sich erdachtes Gebild vor« (V. 51-53). Die Imagination bzw. Vision schiebt sich förmlich vor das Reale und lässt eine diesseitige Zukunftsvorstellung erahnen, ohne hingegen darüber hinweg[zu]täuschen, daß hier – ›Und immer geringer schwindet das Außen‹ (KA 2, 221) – einer vor-modernen Welt nachgetrauert wird […]. Allein schon die in den Elegien so präsente altägyptische Kunst und Kultur macht evident, daß
276 Ebd., S. 710. 277 K. Kippenberg: Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien, S. 65. 278 Vgl. ebd., S. 67.
4. Performative Utopien
die Vergangenheit zwar noch intensiv erlebt zu werden vermag, aber dennoch unwiederbringlich ist.279 Vergegenwärtigt man sich die Spannung zwischen Zukunft und Geschichte, umreißt allein die siebte Elegie ein zeitliches Kontinuum, das ganz im Sinne des Bloch’schen Utopischen das Unabgegoltene der Vergangenheit ins Visionäre und noch zu Realisierende hebt. Diese Praxis erfolgt dezidiert, wie der Imperativ »Siehe« signalisiert, über das Sehen. Das neue bzw. »fühlende Sehen«280 steht im Zeichen eines Schaffensprozesses, der unterschiedliche Sinne integriert und dadurch über das rein Visuelle hinausweist. Die Schrift dient dabei der konkretisierenden Vermittlung der sich im Inneren ereignenden Verwandlung: Die durch den phonographischen Kode der Dichtung selbst betriebene ›Verwandlung‹ (DE VII, 70) der Welt versteht sich schließlich als eine sinnliche Abstraktion, die in dem auditiven Medium des Wortlautes und in der optischen Gestalt des Schriftbilds zwischen der unanschaulichen virtuellen Sphäre des ›Erdenkliche[n]‹ (DE VII, 53) und den sicht- und greifbaren Dingen vermittelt.281 Gemeint ist hiermit nicht, dass das Sichtbare außer Acht gelassen wird. Schließlich empfiehlt das lyrische Ich in der neunten Elegie, die empirisch erfahrbare und diesseitige Realität zu würdigen: Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem; im Weltall, wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig ihm das Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet, als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick.282 (V. 51-55) Dass der Zyklus keineswegs allein um Anschluss an eine metaphysische Sinnkonstruktion ringt, sondern auf den profanen Existenzraum zielt, den das Bekenntnis »Erde, du liebe, ich will« (V. 70) bejaht und feiert, zeugt vom lebensweltlichen Bezug von Rilkes Poetik des Utopischen. Indem das Subjekt dabei immer auch für das Metaphysische, das Rilke in einen immanenten Transzendenzraum implementiert, empfänglich bleibt, vermag es potenziell zu seiner Identität zu finden: »Mit der Kraft des Subjekts, das Höchste, Heilige in seiner unüberbrückbaren Differenz zu erkennen, kommt auch das Subjekt in seiner Subjektivität wirklich zu sich selbst, findet sich, begreift sich, erkennt sich, erkennt sich selbst an.«283 Das 279 280 281 282 283
A. Stephens: Duineser Elegien, S. 380. Ebd., S. 111. Ebd., S. 117. SW II, S. 719. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 270.
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Sehen als Modus des Erkennens ist dabei doppelter Natur: Es schließt die faktische Wirklichkeit wie die Möglichkeiten des Werdens sowie die Verborgenheit der Dinge gleichermaßen ein. Sind jene Dimensionen miteinander verwoben, ist ein permanenter Annäherungs- und Entwicklungsprozess zu konstatieren, der unterschiedliche Pole verbindet. Man darf allerdings nicht von einer schlichten Aufhebung aller Gegensätze sprechen. Vielmehr bleiben die Positionen und Schwankungen im Rahmen dieses Welt- und Ich-Erkennungsprozesses gewahrt. Es gibt »nur die Bewegung, der Prozeß der Subjektivität selbst in ihrem existenziellen Rhythmus von Hymne und Klage. Das bestimmt auch den hermeneutischen Nachvollzug, der sich, wie gesagt, nicht harmonisch auflöst«,284 so Braungart. »Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar in uns erstehn?« (V. 66), fragt das Textsubjekt die personifizierte Welt, die sich nicht mit ihrer physischen Gestalt abfinden soll. Ihre potenzielle Anlage ergibt sich aus dem Unsichtbarwerden, aus dem Übergang vom materiellen, in einen immateriellen Zustand, kurzum: im Aufgehen im Inneren des Ich. Im Invisiblen als »a sphere of permanence«285 ist die Vergänglichkeit aufgehoben und die Voraussetzung für dauerhaftes Entstehen und Mutation gegeben. Im Hinblick auf das Unsichtbare steht das »Naming […] at the end of this process and becomes a mode of preservation. In other words, the renewal of language coincides with a restoration of what is in danger lost.«286 Erst indem durch die Unsichtbarmachung die Eindeutigkeit schwindet, manifestiert sich im Subjektivitätsraum eine zur Überwindung der modernen Sprachkrise denkbare Poetik der Offenheit, die sich gegen die voreilig ›gedeutete[] Welt‹ richtet und stattdessen das Potenzielle in den Blick nimmt. Das Statische gilt es in einen transitorischen Raum zu überführen,287 wobei die Priorität eines sehr weiten Utopiebegriffs, wie ihn beispielsweise Schmidt vertritt, eben nicht auf einer direkten Umsetzung eines Ideals, sondern in dessen Erwartung liegt. Zielführend sind demnach »auch ganz und gar unrealisierbare Utopien«,288 sofern sie eine Bewusstseinsbewegung initiieren. Der vorwärtsgerichtete Impuls ist entscheidend. »Für die Utopie steht fest: Sie ist ein ausschweifendes Prinzip der Produktivität«.289 Rilke spiegelt diese in Bildern des Überflusses wider: »Weder Kindheit noch Zukunft/werden weniger…. Überzähliges Dasein/entspringt mir im Herzen.« (V. 83-85) Das Wechselspiel zwischen Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn führt zu einem »überzählige[n]« Optionenpluralismus und setzt Verwirklichungsintentionen frei. Das Leben im Lichte der offenen Zukunft und der Kindheit als »grenzenlose[r] Einheitserfahrung«290 wird 284 285 286 287 288 289 290
Ebd., S. 284. J. Wich-Schwarz: Transformation of Language, S. 83. Ebd., S. 97. Vgl. R. Görner: Im Welt-Raum des Gedichts, S. 151. B. Schmidt: Engagement für Utopie als Denk- und Vorstellungsweise, S. 332. B. Schmidt: Ernst Bloch, S. 110. Vgl. H. Klima: Rainer Maria Rilkes Kunstmetaphysik, S. 250.
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als zu Gestaltendes begriffen, wofür das neue Sehen die unbedingte Voraussetzung darstellt. Diese Perzeptionsgabe wird in den Duineser Elegien verschiedenen paradigmatischen Motivfiguren zugeschrieben, die mit einem speziellen Sensorium ausgestattet sind. Nachdem in der zweiten Elegie etwa die Liebenden einander in höchster Intensität wahrnehmen, gehen sie im utopischen Ort des Gartens in eine Metamorphose über: »ein Mal durch den Garten: Liebende, seid ihrs dann noch? Wenn ihr einer dem andern/euch an den Mund hebt und ansetzt –: Getränk an Getränk«291 Das durchdringende Schauen äußert sich in der Dyade der Liebenden und aufseiten der Beobachter des amourösen Spiels, wie das Ende der fünften Elegie zum Ausdruck bringt: Engel!: Es wäre ein Platz, den wir nicht wissen, und dorten, auf unsäglichem Teppich, zeigten die Liebenden, die’s hier bis zum Können nie bringen, ihre kühnen hohen Figuren des Herzschwungs, ihre Türme aus Lust, ihre längst, wo Boden nie war, nur an einander lehnenden Leitern, bebend, – und könntens, vor den Zuschauern rings, unzähligen lautlosen Toten: Würfen die dann ihre letzten, immer ersparten, immer verborgenen, die wir nicht kennen, ewig gültigen Münzen des Glücks vor das endlich wahrhaft lächelnde Paar auf gestilltem Teppich?292 (V. 94-106) Mit der Exklamation »Engel!« gerät die Frage in den Vordergrund, wer überhaupt den Engel anspricht und in welcher Position sich das lyrische Ich gegenüber dem himmlischen Boten befindet. Selbstbewusst bekennt das Textsubjekt wenige Verse vor der hier zitierten Passage: »Glaub nicht, daß ich werbe./Engel, und würb ich dich auch! Du kommst nicht. Denn mein/Anruf ist immer voll Hinweg; wider so starke Strömung kannst du nicht schreiten.«293 (V. 86-88) Der Vergleich »Wie ein Arm gestreckter ist mein Rufen. Und seine zum Greifen/oben offene Hand bleibt vor dir/offen, wie Abwehr und Warnung,/Unfaßlicher, weitauf« (V. 89-92) begründet die souveräne Haltung, dass »im großen Weltall noch viel Zeit und viel Raum für neue Bekundungen der Seele übrig [ist], der unausgefüllt blieb, wie der Dichter meint, und von dem ein zukunftsfroher Glaube hofft, daß die Seele fähig sei,
291 SW II, S. 691. 292 Ebd., S. 705. 293 SW II, S. 713.
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sich in immer neuer Fülle in ihn zu ergießen.«294 Dieses Plädoyer – für eine im Irdischen zu verwirklichende Utopie – insinuiert, dass die Engel, denen die stete Preisung gilt,295 möglicherweise eher einen Projektionscharakter aufweisen und weniger als intrinsisch motivierte Figuren zu begreifen sind. Auch Singer argumentiert ähnlich, indem er die himmlischen Boten bei Rilke als »Objektivationen der eigenen schöpferischen Kräfte«296 ansieht. Die mehrfach genannten Liebenden verkörpern die schaffende Energie. Gleich einer Zirkus- oder Theatersituation werden sie »vor den Zuschauern rings« (V. 101) mit Trapezkünstlern analogisiert, die eine paradoxe, unmögliche Situation zu bewältigen versuchen. Sie präsentieren ihre »hohen Figuren des Herzschwungs« (V. 97) auf nur aneinander gestellten Leitern, die sich gegenseitig stützen, ohne dass ein Boden ihnen Stabilität bieten würde. Obgleich sie es »bis zum Können nie bringen« (V. 96) werden, birgt der kursivierte Konjunktiv »könntens« (V. 100) eine Möglichkeitsvorstellung utopischer Provenienz. Bloch spricht diesbezüglich auch von einem produktiv zu verstehenden Widersinn. Dieser ist zum Unterschied vom bloß sagbaren Unsinn durchaus ein Denkmögliches, ein formales Kannsein; denn denkmöglich ist alles, was überhaupt als in Beziehung stehend gedacht werden kann. Ja, selbst Beziehungen, deren Glieder sich nicht nur absurd, sondern völlig disparat zueinander verhalten, jedoch als disparate immer noch eine formal notierbare Beziehung darstellen, nämlich eben eine disparate, gehören zum Denkmöglichen.297 Bloch unterstreicht die Notwendigkeit von Gegensätzen. Erst indem diese zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, entsteht eine Denkbewegung. Dies gilt auch für das Wirkliche und Mögliche in Rilkes Zyklus. Bekräftigt wird darin das nicht realisierte Denkmögliche durch den »Platz, den wir noch nicht wissen, und dorten,/auf unsäglichem Teppich« (V. 94f.). Der Dichter tariert erneut Antinomien aus, welche die Spannung zwischen dem Wirklichen und Möglichen umfassen. So wird der Ort noch nicht erkannt und doch als ein wiederum »unsägliche[r]« (V. 95), folglich nicht faktisch fassbarer Teppich benannt. Dasselbe trifft für die eigentlich nicht zu verwirklichende Bewegung des Paars an sich zu: Stuft das Textsubjekt diese als nicht realisierbar ein, wird sie jedoch in der Aussage vorstellbar. Das Sehen der ZuschauerInnen, die mit dem RezipientInnen des Gedichts zusammenfallen, geht somit über die Grenzen des Faktischen hinaus und erstreckt sich auf einen imaginären Raum, den der Fantasie, wo gleichsam mit einer immateriellen
294 295 296 297
K. Kippenberg: Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien, S. 69. Vgl. Vgl. H. Klima: Rainer Maria Rilkes Kunstmetaphysik, S. 245. H. Singer: Rilke und Hölderlin, S. 139. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 259.
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Währung gehandelt wird. So fragt das lyrische Ich, ob, gesetzt den Fall der utopischen Umsetzung der Akrobatik, das Publikum seine »ewig gültigen Münzen des Glücks vor das endlich/wahrhaft lächelnde Paar auf gestilltem Teppich« (V. 104f.). Indem die ZuschauerInnen qua einer das Reale durchdringenden Sehkraft zum Utopischen des Paares einen Zugang erhalten, werden sie Teil dieser optionalen und vieldeutigen Welt des Poetischen. Es zeigt sich darin erneut, dass das bereits in den Dialogformaten der frühen Lyrik Rilkes sich manifestierende Alteritäre bestimmend für das utopische Element in den Duineser Elegien ist. »Das poetische Subjekt sucht in Rilkes Elegien nach einem gültigen Bezug, nach dem ›Andern‹ der Subjektivität«.298 Mitunter steht Gott, der im Werk des Autors als einer im Werden zu verstehen ist,299 generalisierend für das Andere, das als das Fremde im Zusammenspiel mit dem Ich überhaupt erst eine Utopie hervorbringen kann. Es ist nun eine große Leistung von Rilkes poetischem Werk, […] in der prinzipiell unendlichen, unendlich schwierigen, kreisenden, um Sprache ringenden Hinsprache auf den ›ganz Anderen‹ zu, die religiöse Frage zugleich eben als genuin moderne Frage formuliert zu haben, nämlich als die Frage nach dem Subjekt, das sich selbst in seinem Selbst- und seinem Weltverhältnis immer sucht und nie stabil hat.300 Die Suche nach dem metaphysischen Überbau repräsentiert somit jene nach der Identität des Subjekts. Das utopische Movens zur Überwindung der Entfremdung resultiert dabei aus der Sprache selbst. Unabschließbar verhandelt sie das Wechselspiel aus Ich und Metaphysik: Rilke hält die Spannung zwischen Subjekt und Transzendenz, Trans-Subjektivität, durch die Elegien immer offen und damit die spannungsreiche, aber poetisch gerade so produktive Sprachbewegung in ihrer unabschließbaren, modernen, man könnte auch sagen: ›romantischen Progressivität‹.301 Eine utopische Funktion kommt in den Duineser Elegien daher besonders jenen Figuren zu, die sich als Grenzgänger charakterisieren lassen. Neben den Liebenden verkörpert ebenfalls der Heros einen solchen Typus, der im Zentrum des sechsten Textes des Zyklus steht: »Wunderlich nah ist der Held doch den jugendlich Toten […]. Sein Aufgang ist Dasein; beständig/nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild/seiner steten Gefahr.«302 (V. 20-23) Indem er sich permanent neuen, bedrohlichen Situationen stellt, erweist er sich als Seiltänzer zwischen Leben und
298 299 300 301 302
W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 275. Vgl. L. Wenzler: Rilkes Wege mit ›Gott‹, S. 453. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 272f. Ebd., S. 283. SW II, S. 706f.
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Tod, weswegen er sich in einer besonderen Beziehung zu den Verstorbenen befindet. Die Gleichung »Sein Aufgang ist Dasein« (V. 21) hebt auf die in ihm vollzogene Vereinigung von Gegensätzen ab. Er schließt als ›Aufsteigerfigur‹ einen Riss zwischen der metaphysischen und der profanen Ebene und demonstriert, »that his [Rilkes] work has a tendency to impart a therapeutic-healing effect«.303 Während Aufgang einen Prozess impliziert, repräsentiert Dasein einen mit Statik assoziierbaren Zustand. Die Interpolarität auszuhalten und aufrecht zu erhalten, setzt eine hohe, eben heldische Bereitschaft zur Aktivität voraus. »Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns,/daß sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens« (V. 11f.). Jene in der Temperaturmetaphorik konzentrierte Leidenschaft kann den »Helden vielleicht« (V. 15) zugeschrieben werden. Alle Figuren des Zyklus – ob die Verstorbenen, die Helden oder Liebenden – tauchen sowohl in den finsteren und resignativen als auch feierlich-hymnischen Passagen der zehn Texte auf. Sie kennen Leid und Größe der menschlichen Existenz und stehen – selbst auf der Seite des Todes – letztlich für die Bejahung des Lebens ein: »Hiersein ist herrlich«.304 (V. 38) Dass diese Gleichung gilt, verdankt sich den poetischen Gestaltungsmöglichkeiten. Statt die Begrenzungen der Realität zu verabsolutieren, wird die Vereinigung von Disparatem oder die Verwirklichung von faktisch Unmöglichem nur über eine immer wieder beschworene elementare Multiperspektivität erzielt. Sie äußert sich dort am stärksten, wo Rationalisierung und Normierung gerade nicht besonders wirksam sind. »Mit allen Augen sieht die Kreatur/das Offene«,305 (V. 1f.) so lautet der Beginn der achten Elegie, die das Tier der menschlichen Perspektive gegenüber stellt. Doch sein Sein ist ihm unendlich, ungefaßt und ohne Blick auf seinen Zustand, rein, so wie sein Ausblick. Und wo wir Zukunft sehn, dort sieht es Alles und sich in Allem und geheilt für immer. (V. 38-42) Da ihm die Autoreflexivität fehlt (bzw. von Rilke abgesprochen wird), versteht sich sein »Sein« (V. 38) nicht als denkendes und damit Kategorien bildendes Bewusstsein. Aufgrund der mangelnden Fähigkeit zur zeitlichen Differenzierung existiert das Tier im ungeteilten Offenen. Die tautologische Wendung »dort sieht es Alles/und sich in Allem und geheilt für immer« (V. 41f.) postuliert innerhalb eines die Ganzheitlichkeit der Welt forcierenden Modells einen Gegenpol zur Trennung von Gegenwart und Zukunft. Der Mensch, gefangen in seiner empirischen Wahrnehmungsweise, unterliegt hingegen seiner Entfremdung: 303 J. Wich-Schwarz: Transformation of Language, S. 81. 304 SW II, S. 710. 305 Ebd., S. 714.
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Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag, den reinen Raum vor uns, in den die Blumen unendlich aufgehn. Immer ist es Welt und niemals Nirgends ohne Nicht: das Reine, Unüberwachte, das man atmet und unendlich weiß und nicht begehrt. Als Kind verliert sich eins im Stilln an dies und wird gerüttelt. (V. 14-21) Der gemeine Blick ist verstellt, sodass er, wie die dreifache Verneinung »niemals Nirgends ohne Nicht« (V. 17) dokumentiert, kaum zum Wesen der Dinge, gedacht als einen »erweiterte[n] […] Welt-Horizont«,306 vordringt. Selbst die Erziehung führt zur Desensibilisierung der eigentlich unschuldigen Wahrnehmung des Kindes, das sich zwar noch ludisch verliert, aber bald schon von der Wirklichkeit der sichtbaren Welt »gerüttelt« (V. 21) wird. So scheinen »in der Achten [Elegie]wieder einmal alle Nöte der Gefangenschaft in den Erkenntnisweisen der ›gedeuteten Welt‹ heraufbeschworen«.307 In »stillem Mollklang«308 gibt sie, kontrastierend zur Kreatur, von fundamentalen Entfremdungserfahrungen des Menschseins kund: »Wir spalten uns fortwährend in Welt und Individuum, in Ich und Du, in Fühlen und Denken (wie der Philosoph sagen würde: in Subjekt und Objekt) und werden feindlich aus der Einheit zu einem Gegenüber gelockt«.309 Urbich macht dafür die Hybris des Menschen verantwortlich, so handele es sich um die »Strafe für die Schuld der Erhebung über die bloße Endlichkeit und das Ausgerichtetsein auf das Zusammenfügen der endlichen und unendlichen Sphäre«.310 Und wir: Zuschauer, immer, überall, dem allen zugewandt und nie hinaus! Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst. (V. 66-69) Hierin äußert sich erneut das Gefängnis der ›gedeuteten Welt‹ sowie die vermeintliche Unmöglichkeit, daraus auszubrechen. Hoffnung spendet die Perspektive der Liebenden und des Kindes, dem das (utopische, Blochsche) Denken ins Offene zueigen ist.311 Nicht zu vergessen sei auch der Dichter selbst. »Auch in seinen letzten Bestimmungen hat Rilke vom Offenen gesprochen, dem seine Natur zustrebe, und
306 307 308 309 310 311
R. Görner: Im Welt-Raum des Gedichts, S. 153. A. Stephens: Duineser Elegien, S. 380. K. Kippenberg: Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien, S. 70. Ebd., S. 72. J. Urbich: Rilkes Poesie des Grundes in den Duineser Elegien, S. 271. Vgl. U. Sommer: Utopiebegriff und Utopiekritik, S. 337.
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damit unmißverständlich die größere Teilnahme am Kosmos, die Durchbrechung der Enge und Geschlossenheit der irdischen Kreise gemeint.«312 Obgleich die achte Elegie eine düstere Grundierung ausmacht, fügt sie sich in der Spannung etwa zu den bejahenden Poemen wie dem siebten in ein offenes Gesamtarrangement ein. Es braucht geradezu die Entfremdung als Realitätszustand, um utopische Kontrastierungen zu entwerfen. Denn Rilke kann nicht die Wirklichkeit der ›gedeuteten Welt‹ durch ideale Gegenbilder in Frage stellen, was eine Grundabsicht der Duineser Elegien darstellt, ohne gleichzeitig zuzugeben, daß diese positiven ›Verwandlungen‹ dennoch die Alltagserfahrung als Bewusstseinsbasis voraussetzen.313 Mit Termini der Utopieforschung ließe sich konstatieren, dass überhaupt erst der Mangel das Bedürfnis nach Transformation und Transzendenz bedingt.314 Hinzu kommt die zentrale Beobachtung Stephens’, dass Rilkes Poetik nicht in einem genuin christlichen Weltbild auf einen außerweltlichen Raum gerichtet ist, sondern der Fokus auf dem Diesseits liegt, das es zu erneuern gilt. Nur die Wechselwirkung zwischen dem Defizit des Hier und Jetzt und dessen zu antizipierender Behebung garantiert einen vitalen Fortschritt, weswegen es in den Duineser Elegien nie einen Stillstand gibt, sondern ein Changieren zwischen hymnischen und elegischen Artikulationsweisen.315 Sprache und das, was sie transportiert, ist in einem andauernden Übergang, einer »Ästhetik des ›Transitorischen, Flüchtigen und Kontingenten‹«,316 begriffen. Sie zielt mithin auf die utopische Endvorstellung einer geschlossenen Seinsharmonie, die, charakterisiert als Aufhebung der Entfremdung zwischen Subjekt- und Objektsphäre,317 eine Folgeerscheinung antizipativen Denkens und Handelns darstellt. Angestrebt wird ein Verständnis vom Kosmos als einer Einheit, die der Dichter »sich als U-topisches und U-chronisches ›Ganze[s]‹ überzähliger und gleichwertiger Ausrichtungen vorgestellt hatte«.318 Die humane Evolution resultiert aus der Erkenntnis, um es in der Terminologie Mannheims zu sagen, dass das Bewusstsein nicht mit dem umgebenden Sein konform geht. Die Dialektik formuliert überhaupt erst den Anspruch und die Notwendigkeit zur Überschreitung,319 wobei die eigentliche Leistung vom suchenden, strebenden Ich erbracht werden muss: »Subjektivität richtet sich […] aus, sie transzendiert sich.«320 Das Gebrochene und Fragile vermittelt das Bewusstsein 312 313 314 315 316 317 318 319 320
K. Kippenberg: Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien, S. 74. A. Stephens: Duineser Elegien, S. 380. Vgl. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 45. K. Kippenberg: Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien, S. 79. J. Schuster: »Umkehr der Räume«, S. 116. Vgl. J. Wich-Schwarz: Transformation of Language, S. 91. P. Por: »Der [defigurierten] Figur zu glauben«, S. 226. Vgl. J. Urbich: Rilkes Poesie des Grundes in den Duineser Elegien, S. 266. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 259.
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für eine noch ausstehende Idealität. So steht auch die letzte Versgruppe der Duineser Elegien im Zeichen einer zerbrechlichen Vollkommenheit: Und wir, die an steigendes Glück denken, empfänden die Rührung, die uns beinah bestürzt, wenn ein Glückliches fällt.321 (V. 109-113) Die Antithetik zwischen steigendem Glück und fallendem Glücklichen, die entweder Hoffnung oder Rührung auslöst, umfasst in summa jene Bewegung in Widersprüchen zwischen »(Selbst-)Schöpfung und (Selbst-)Vernichtung […] in Einem«,322 die Rilkes lyrische Kosmologie in einem vitalen Prozess des Werdens hält. »Darum sind die Elegien auch als hermeneutische Poesie verstehbar. Das betrifft ihre poietische Sprachbewegung selbst genauso wie die verstehend-imaginative Leistung des hermeneutischen Subjekts, die sie von ihm verlangen.«323 Aus dem Verstehen der antinomischen Grundstruktur der Duineser Elegien heraus weitet sich der Horizont des RezipientInnen. Indem Rilkes Elegien sich somit ebenso als eine Anleitung zu einer hermeneutischen Lesart der Welt erweisen, können sie als literarische Performanz der von Levitas entwickelten utopischen Methode angesehen werden. Mit ihren Begriffen »archeological« und »architectural«324 erfasst sie den Prozess der Analyse und zugleich des Umbaus der Gesellschaft. Sowohl die Diagnose seiner Gegenwart als auch die kosmologischen Grenzüberschreitungen, die mitunter Leben und Tod in eins führen, ermöglichen Rilke das Utopische im Poetischen zu entdecken.
321 322 323 324
SW II, S. 726. Por, Rilkes letztes Wort: »Verzicht«, S. 190. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 259. R. Levitas: Utopia as Method, S. xvii.
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5. Das Leben im Tod finden Zur Poetik utopischer Spuren bei Paul Celan
Mit Paul Celans Œuvre verbinden sich unmittelbar die Schrecken der Shoa sowie die von Adorno formulierte Aussage, dass »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben […], barbarisch«1 sei. Sowohl bei dem Kulturtheoretiker als auch dem Dichter stellt sich daher die Erkenntnis ein: »Die historische Krise wird gleichzeitig zur Sprachkrise«.2 Ausgehend von dieser Grundüberlegung zielt die Dichtung des in der Bukowina geborenen Autors auf eine Poetologie im Zeichen der Erinnerung, die jedoch nicht als statisches Verdikt einer zurückliegenden Epoche zu verstehen ist, sondern von Anfang an für Gegenwart und Zukunft Geltung beansprucht, kurzum: ein Novum zu generieren sucht. Wie schon bei Hölderlin und Rilke fungiert die Sprache auch bei Celan als Medium zur Realisierung utopischer Alternativität. Allerdings mit anderen, weitaus radikaleren Instrumenten: »Aus der Negation aller Kunstmittel, der Absage an die reine Kunst und der Umdeutung von Sinnbildern versucht der Autor aus der Dichtung etwas Lebendiges zu schöpfen.«3 Da Celans Gedichte mehr noch als die Hölderlins und Rilkes von Dunkelheit, Trauer, Pessimismus, einem gänzlich »verwundete[n] Sprechen«4 durchdrungen sind, erweist sich gerade die Analyse utopischer Momente als eine herausfordernde Spurensuche und offenbart zugleich die Leistungsfähigkeit der lyrischen Konzeption. »Die Dichtung kann den vergangenen Mord nicht vergegenwärtigen, aber sie kann in der Sprache die Brüche und Grenzen des Sagbaren deutlich machen.«5 Sie »hat ihren Widerstandscharakter gegenüber Macht und Tod gezeigt und ist somit fähig, wenn auch nicht Antwort zu geben, so doch eine Literatur der Frage zu ermöglichen, der Frage nach den Möglichkeiten der Wirklichkeit.«6 Diese Ausführungen weisen signifikante Parallelen 1 2 3 4 5 6
T. W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 30. Adorno wird diese Aussage aufgrund von Celans Lyrik später wieder zurücknehmen. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 57. M. Fisch: »Wer wusste je das Leben recht zu fassen«, S. 75. Ebd., S. 77. A. Lemke: »Seit ein Gespräch wir sind, an dem wir würgen«, S. 126. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 58.
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zu Adorno auf: »Je totaler die Gesellschaft, je vollständiger sie zum einstimmigen System sich zusammenzieht, desto mehr werden die Werke, welche die Erfahrung jenes Prozesses aufspeichern, zu ihrem Anderen.«7 Als Leser gilt es, dieses Fremde zwischen Sprachtrümmern aufzuspüren, um daraufhin von der Dekonstruktion jener Poeme zu einer Rekonstruktion und mitunter Neuschöpfung zu gelangen – oder wie Schößler/Tunkel konstatieren: »Utopie und Zerstörung verschmelzen zu einem einzigen Ereignis, als das sich das Gedicht präsentiert.«8
5.1
Die Utopie zwischen Alterität und Verwandlung. Poetologische Grundzüge in Celans Reden
In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Georg Büchner-Preises, Der Meridian, pointiert Celan von Beginn an die Möglichkeit, durch Kunst und Dichtung, das Andere und Fremde erschließen zu können. Das Erste »schafft Ich-Ferne. Kunst fordert hier in einer bestimmten Richtung eine bestimmte Distanz, einen bestimmten Weg.«9 Die Distanz birgt einen neuen Blick auf das Selbst und öffnet das Bewusstsein für das Unnahbare. Nachdem diese Entfernung erfolgt ist, »hält [das Gedicht] unentwegt auf jenes ›Andere‹ zu, das es sich als erreichbar, als freizusetzen, als vakant vielleicht […] denkt.«10 Die Personifizierung des Poems indiziert bereits einen grundlegenden Zug, der für die utopische Prägung von Celans Lyrik von zentraler Bedeutung ist: Ihr inhärieren Aktivität und Progressivität, sie funktioniert als Bewegung mit noch unbestimmtem Ziel. Aufgrunddessen hebt der Dichter ebenfalls hervor, dass es »wohl nur ein Sprechen sein [kann]. Also nicht Sprache schlechthin und vermutlich auch nicht erst vom Wort ›Entsprechung‹.« Statt in einer Gleichung oder in einer Mimesis findet das Gedicht seinen Ausdruck im performativen, kreatürlichen Akt,11 als »aktualisierte Sprache«.12 Da diese eben nicht fixer Natur ist, zeigt sie sich als evolutionär und ringt förmlich um ihre eigene Existenz: »Das Gedicht behauptet sich am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schonnicht-mehr in sein Immer-noch zurück.«13 Oder noch klarer ausgedrückt: »Statt eines festgelegten Ortes wählt C. die Ortlosigkeit, die ›U-topie‹«14 als Ortsbeschreibung für das Gedicht selbst. Die Nähe zur Bloch’schen Theorie klingt hier bereits in
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T. W. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 53. F. Schößler/T. Tunkel: Utopie und Katastrophe, S. 129. P. Celan: Der Meridian, S. 6. Ebd., S. 8. Vgl. P. Goßens: Das Frühwerk, S. 43. Beide Zitate: P. Celan: Der Meridian, S. 9. Ebd. B. Böschenstein: Der Meridian, S. 172.
5. Das Leben im Tod finden
den an das Noch-Nicht-Gewordene oder Noch-Nicht-Bewusste erinnernden Formulierungen an, lässt sich aber auch inhaltlich legitimieren. Neben der Prozesshaftigkeit nimmt in Celans Denk- und Werkhorizont insbesondere das Liminale eine entscheidende Rolle ein. Utopie als Nicht-Ort muss per se als Grenzbezirk erschlossen werden. In jener transitorischen Zone öffnet sich die »Sprache eines Einzelnen« für das »Geheimnis der Begegnung«.15 Mehrfach weist der Dichter daher auf die Notwendigkeit der Dialogizität hin,16 womit er sich etwa von der Vorstellung des poetischen Textes in monologischer Ausprägung, wie sie von Benn prononciert wird, scharf abzusetzen weiß.17 »Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere«,18 und strebt als personifiziertes Sprachgebilde aktiv zu einem Du, in dem sich das lyrische Ich zu spiegeln und zu vergegenwärtigen sucht.19 Einerseits bezieht diese Forcierung ein konkretes Gegenüber im Text selbst ein, andererseits aber auch die Leserin bzw. den Leser als als Rezipientin bzw. Rezipienten. Indem dieser zum »Wahrnehmenden, dem Erscheinenden Zugewandten«20 avanciert, entsteht das Neue gerade aus dem Zwiegespräch heraus. Das Gedicht birgt eine Anlage oder, wie Celan schreibt, eine »ins Offene und Leere und Freie weisende Frage«,21 deren Beantwortung sich zukünftig erst aus dem Zusammenspiel ergeben kann. Es »gibt nur eine Richtung an, enthält künftige, andere Wirklichkeit als Potentialis«.22 Dass der Autor für diese Praxis Begriffe wie das »Offene« respektive »Erscheinende[]« verwendet, lässt erneut Bezugspunkte zu Bloch erkennen. Jenseits des von ihm benannten Offenen erweist sich der Vor-Schein als ein weiteres Strukturmerkmal des Utopischen. Ganz in diesem Sinne dürften dann Celans Texte, insofern sie dem poetologischen Maßstab seiner Rede Der Meridian gerecht werden, als antizipative Kunstwerke gelten. Der Dichter bestätigt diese Annahme der letzthin utopischen Grundierung sogar selbst in einer ganz konkreten Weise, indem er das Gedicht zu einem »Ort« deklariert, wo »Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen«,23 wo also Verschiebungen und Neuverfugungen zwingend stattfinden: Toposforschung? Gewiß! Aber im Lichte des zu Erforschenden: im Lichte der U-topie. 15 16 17 18 19 20 21 22 23
P. Celan: Der Meridian, S. 9. Vgl. M. May: Atemwende, S. 96. Vgl. Olschner: Gottfried Benn, S. 329. P. Celan: Der Meridian, S. 9. Vgl. May: Weltliteratur , S. 343. P. Celan: Der Meridian, S. 9. Ebd., S. 199. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 166. P. Celan: Der Meridian, S. 10.
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Und der Mensch? und die Kreatur? In diesem Licht.24 Der Suche nach dem richtigen Ort entspricht die Suche nach neuen Bildern wie nach dem neuen Menschen gleichermaßen. Das Licht als Signal der Erkenntnis versteht sich als den Schein des Kommenden und zu Realisierenden, das seinen Platz im Poetischen selbst hat. Gerade im Spätwerk Celans gewinnt die Lichtmetaphorik sichtlich an (utopischer) Bedeutung. Von der »schimmernden Weisung« (V. 14f.) im Gedicht Bedenkenlos25 oder vom »helle[n],/hallende[m] Tag« (V. 3) im Text Nach dem Lichtverzehr 26 ist beispielsweise die Rede, wenn es um einen Vorschein des Zukünftigen geht. Bezogen auf die vorliegende Rede ist für die »Toposforschung«, die im Zeichen des Entdeckens steht, die Literatur(wissenschaft) prädestiniert. Erst im Vollzug der Suche verwirklicht sich dann der Mensch. Somit ist das Werk im dauerhaften Schaffen und Werden begründet. Die Aufgabe des Dichters besteht im evokativen Akt der Schaffung von Wirklichkeit. Sie ist insofern zweideutig, als er [der Begriff ›Wirklichkeit‹] einerseits sich auf die außerdichterische Wirklichkeit, die Erfahrungswirklichkeit des Autors bzw. des Lesers, bezieht und andererseits die poetische Gegenstandswelt, die das Gedicht evoziert, selbst entwirft.27 Je näher ihr der Poet im Modus eines utopischen Hervorbringens kommt respektive je mehr er sie realisiert, desto mehr schließt sich der Kreis im Bild des Meridians.28 Gleichzeitig befindet sich der Meridian in einer paradoxen Spannung zum die Utopie begünstigenden Offenen.29 Was Einheit und Harmonie forciert, kann nicht zugleich unabgeschlossen und offen bleiben. Jener Widerspruch steht im Gesamtwerk wie in der Rede Der Meridian für eine poetologische Signatur des Autors. Auch die Definition von Dichtung als »Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit«30 dokumentiert im Oxymoron die fundamentale Interpolarität, die Celan der Poesie grundsätzlich zuweist. Von besonderer Bedeutung sind dabei zunächst die Freilegung sowie Erneuerung der Sprache. Diese »meint zweierlei: zum einen die deutsche Sprache nach
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Ebd. P. Celan: Historisch-kritische Ausgabe 11, S. 75. Im Weiteren wird für die Ausgabe die Sigle HKA verwandt. Ebd., S. 76. G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 205. Vgl. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 178. Vgl. B. Böschenstein: Der Meridian, S. 172. P. Celan: Der Meridian, S. 11.
5. Das Leben im Tod finden
dem Nationalsozialismus, zum anderen offenbar auch die Auffassung, daß die lyrische Sprache sich von der allgemeinen, allen verfügbaren nicht prinzipiell unterscheide.«31 Sie greift stofflich auf das Reale und Vergängliche zurück und weitet es aus, sodass aus Wirklichkeit Möglichkeit resultieren kann. Sprache muss, da es kein Außerhalb ihrer geschichtlichen Prägung gibt, stets im Lichte ihrer Gebrochenheit gesehen werden.32 Mit der Sprache und der Utopie ist gleichermaßen die Idee verbunden, durch sie Nähe zu erzeugen und Entfremdungen aufzuheben. »In die Nähe der Utopie«33 gelangt der Mensch durch wahre Kunst, indem sie ihn zum Weg zum Du und zur »Heimkehr«34 motiviert, ohne eines von beiden dezidiert auszusprechen oder als Absolutes vorzugeben. Der Prozess kommt einem »Sichvorausschicken zu sich selbst«,35 demzufolge einer Antizipation des Ich als ein Zukünftiges, gleich. Die utopische Praxis versteht sich folglich als Bewusstseinsarbeit und -bewegung, als Transzendierung der eigenen Gegenwart. Da Celans Poetik Entgrenzung, Freisetzung36 und Annäherung als Elemente einer utopischen Poesie definiert, stellen seine Gedichte eine transitorische Zone dar. Selbst der Topos wird letztlich nur erwähnt, um seine Konturen und seine Situiertheit zugunsten einer »Ortlosigkeit«37 wieder zu relativieren. »Keiner dieser Orte ist zu finden, es gibt sie nicht, aber ich weiß, wo es sie, zumal jetzt, geben müßte, und … ich finde etwas!«38 Worin besteht dieses vage Etwas? Die Schlusspassage der Rede gibt Aufschluss darüber: Meine Damen und Herren, ich finde etwas, das mich auch ein wenig darüber hinwegtröstet, in Ihrer Gegenwart diesen unmöglichen Weg, diesen Weg des Unmöglichen gegangen zu sein. Ich finde das Verbindende und wie das Gedicht zur Begegnung Führende. Ich finde etwas – wie die Sprache – Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über beide Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei – heitererweise – sogar die Tropen Durchkreuzendes –: ich finde… einen Meridian.39 In der Metapher des Meridians konturiert Celan seine ästhetische Konzeption. Indem seine poetischen Strategien eine Verknüpfung von Gegensätzlichem, Dissonantem und auf den ersten Blick einander widerstrebenden Elementen (terrestrisch – kreisförmig) avisieren, wird das Inkonforme und Inkompatible in eine
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G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 161. Vgl. ebd. P. Celan: Der Meridian, S. 11. Ebd. Ebd. Vgl. M. May: Atemwende, S. 95. B. B. Böschenstein: Der Meridian, S. 172. P. Celan: Der Meridian, S. 12. Ebd.
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Form der Verbundenheit überführt. Oder anders gesagt: »Die Welt kann ins Reine und Wahre daher nur durch eine solche Sprache gehoben werden, die ihre eigene Unreinheit mit bedenkt.«40 Sie bezieht den Tod und die Toten in das Leben ein. Celans stete Rekursivität auf die Vergangenheit »dient ihm zur Bezeichnung der Einkehr in den Anfang, dem sich seine Dichtung verdankt«,41 um zuletzt daraus wieder eine Antizipation zu ermöglichen: »In other words, futurity is the capacity of literature to rethink past events […] in a way that opens up new possibilities tot hink the future.«42 Die Gestorbenen repräsentieren sowohl das Ende als auch den Anfang, sie leben fort im Gedächtnis und wirken in die Gegenwart hinein. Sich ihnen anzunähern, stellt für Celan eine Rekonstruktion des Ursprungs als einer ganz eigenen utopischen Wendung dar, die im Rahmen der weiteren Werkanalyse noch darzulegen sein wird. Schlägt der Autor einen Bogen vom Dies- zum Jenseits, bildet die Metapher des »Meridian[s] die Verbindungslinie zwischen Orten der Begegnung Zusammengehöriger«43 und skizziert damit zugleich eine konstruktivistische Versuchsanordnung für seine Lyrik. Im Gegensatz etwa zu Gottfried Benn strebt er indes keine finale Sprachzertrümmerung an, sondern beabsichtigt eine neue Zusammensetzung des verschütteten Wortmaterials als Folge von Krieg und Gewalt im 20. Jahrhundert.44 Vor allem die Sprache als Realisierungsmedium hält für Celan trotz ihrer historischen Belastung durch die Faschismuspropaganda noch immer auch eine schaffende sowie stabilisierende Funktion bereit: Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache […]. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ›angereichert‹ von all dem.45 Wenn der Dichter in seiner Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen von einer »angereichert[en]«46 Sprache berichtet, dann zeigt sich diese nicht nur als verletzt oder kontaminiert durch die nationalsozialistische Propaganda,47 sondern zudem als gestärkt und erfahrungsreich. Die Bremer Rede ist Selbstdarstellung und poetologischer Essay, Bekenntnis und Programmschrift. Sie verschränkt die Erinnerung an die jüngste Geschichte und an 40 41 42 43 44 45 46 47
W. Amthor: Schneepart, S. 119. B. Böschenstein: Der Meridian, S. 172. A. Engel: Renewal in the Shadow of the Catastrophe, S. 299. B. Böschenstein: Der Meridian, S. 172. Vgl. B. Böschenstein: Friedrich Hölderlin, S. 309. Celan: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen, S. 185f. Ebd. Vgl. M. Fisch: »Wer wusste je das Leben recht zu fassen«, S. 67.
5. Das Leben im Tod finden
die davon geprägte eigene Entwicklung mit sprach- und dichtungstheoretischer Reflexion, verweist in diesem Zusammenhang auf eine aus dieser Geschichte resultierende, die eigene Dichtung bestimmende Sprachproblematik.48 Dem lyrischen Kunstwerk ist dabei eine diachrone Ausrichtung zu eigen. »Denn das Gedicht ist nicht zeitlos. Gewiß, es erhebt einen Unendlichkeitsanspruch, es sucht, durch die Zeit hindurchzugreifen«.49 Es ringt um das Unabgegoltene und mithin Verdrängte aus der Vergangenheit im Drängen zur Zukunft.50 Wie seine Reden belegen, lässt sich Celans poetologische Ambition kaum von einer visionären Richtungsbestimmtheit trennen. Im Gegenteil: Sie bedingen einander geradezu. Mithin sind seine Texte durch »die dialogische Struktur, die Offenheit, den Entwurfscharakter, das intentionale Gerichtetsein, die utopische Komponente, die Mühen des Aufschließens und die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten«51 charakterisiert. Nur aus dem Zusammenspiel dieser Faktoren heraus erklärt sich die performative Machart der Gedichte des jüdischen Autors, deren utopischen Kern es im Folgenden zu elaborieren gilt.
5.2
Anlagen unter Verschüttetem: Poetische Realisierungspotenziale
Celans Gedichte weisen nicht selten mehrere Folien und Ebenen auf, woraus sich komplexe Schichtstrukturen ergeben. Begründet wird dieses Verfahren insbesondere durch die historischen Ablagerungen des Nationalsozialismus sowie der Shoa in Sprache und Bewusstsein. Die Geschichte verliert aufgrund der historischen Kontamination ihre Reinheit,52 weswegen die Gedichte Celans so beharrlich um das unmögliche Auffinden eines Ursprungs ringen. In seinen Werken nach utopischen Elementen und Spuren zu suchen, bedeutet zunächst einmal, textarchäologisch zu operieren. Das Mögliche, verstanden als der »Keim, worin das Kommende angelegt ist«,53 liegt oftmals verborgen und bedarf entsprechend der utopischen Methode nach Levitas einer hermeneutischen Ausgrabung bzw. Freilegung.54 Man durchbricht in den Texten des jüdischen Autors die textliche Oberfläche: »Celans Utopismus […] trägt auf seiner Rückseite ein katastrophisches Bewusstsein, das ganz offensichtlich vom Historisch-Konkreten gezeichnet ist.«55 Dessen metaphorisches Äquivalent stellen häufig finstere Szenerien wie die Nacht dar. 48 49 50 51 52 53 54 55
J. Lehmann: Die Bremer Rede, S. 161. Ebd., S. 186. Vgl. E. Bloch: Gibt es Zukunft in der Vergangenheit?, S. 297. J. Lehmann: Die Bremer Rede, S. 163. Vgl. G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 31. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 274. Vgl. R. Levitas: Utopia as Method, xvii. F. Schößler/T. Tunkel: Utopie und Katastrophe, S. 133.
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In einem Poem seines Bandes Mohn und Gedächtnis56 erlebt ein Liebespaar nachts die Rückkehr des Vergangenen und vermeintlich Verlorenen. Aus fernem, aus traumgeschwärztem Hain weht uns an das Verhauchte, und das Versäumte geht um, groß wie die Schemen der Zukunft. (V.6-8) Zunächst ist zu konstatieren, dass in der vorliegenden, in der Mitte des Textes situierten Versgruppe eine Subjekt-Objekt-Konstellation vorliegt. Es gibt ein Wir und ein Gegenüber in der Natur. Neben dem Verhauchten, das die Dyade der Liebenden anweht, taucht das aus dem finsteren Wald hervortretende Abstraktum »Versäumte« (V. 8) auf. Da es personifiziert ist, verfügt es über eine Agency. Es »geht um« (V. 8) und erinnert, um es mit Bloch’schen Terminologien zu erfassen, an eine Latenz. Zugleich steht das Vergangene in einem engen Konnex zur Zukunft, mit deren Schemen es verglichen wird. Als noch Unabgegoltenes wird es somit ins Futur projiziert und in einen Realisierungsplan transferiert. »Utopian […] expresses a possibility that is always present but not always recognised«.57 Der Erkenntnisvorgang ist durch eine sukzessive Einsicht definiert. Schulz hebt in diesem Kontext vor allem auf die defizitäre Geschichtsaufarbeitung, ja, den nicht verwundenen Tod der Nazi-Opfer, in der Nachkriegs-BRD ab: Was aus dem Dunkel des Unbewußten (›traumgeschwärzt‹) hier heraufkommt, ist dem Tod verbunden (›das Verhauchte‹), und es ist, auf das Ich bezogen, verfehlte, vielleicht schuldhaft unverwirklichte Möglichkeit (›das Versäumte‹), etwas endgültig Vergangenes, das nun dennoch wiederkehrt, als ein Neues und in Maßen (›groß‹), die dem Zukünftigen zukommen.58 Der Tod bzw. die damit einhergehende Schuld erscheinen geradezu als Voraussetzung für die Erschließung eines Novums. Diesen Übergang markiert Celan als einen kaum merklichen Prozess, als eine für seine Poetik zentrale »Denkbewegung«.59 Allmählich »küßt es [das Vergrabene] die Zeit auf den Mund« (V. 12). Was noch unbewältigt ist, wird, wie die Begegnungsmetapher des Kusses zeigt, vom Lauf der Zeit mitgetragen. Das Gedicht verhandelt ganz im Sinne Blochs den Wandel zum Möglichen hin, wobei gilt: »Das Wirkliche ist Prozeß: dieser ist die weitverzweigte Vermittlung zwischen Gegenwart, unerledigter Vergangenheit und vor allem: möglicher Zukunft. Ja, alles Wirkliche geht an seiner prozessualen Front über ins Mögliche.«60 Dass im Rahmen dieses diachronen Prozesses im vorlie-
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HKA 2-3.1, S. 117. E. Bachman: Utopian Failure and Function, S. 95. G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 33. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 9. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 225.
5. Das Leben im Tod finden
genden Gedicht eine zeitliche Kategorie mit einer räumlichen, nämlich dem »Vergrabenen« (V. 10), verknüpft wird, demonstriert schließlich den utopischen Gehalt des Gedichts. Es durchbricht konventionelle Dimensionen der Wahrnehmung und transformiert das Unmögliche ins Mögliche. Die Katachrese »blind wie der Blick, den wir tauschen« (V. 11) pointiert vor diesem Hintergrund eben kein Unvermögen, sondern verweist auf einen imaginären Raum, in dem selbst Blindheit ein gegenseitiges Sehen und ein damit verbundenes Eintauchen in die Seele des Anderen, wo das Vergrabene seiner Entdeckung harrt, zulässt. Jener noch zu öffnende Untergrund referiert auf die Erinnerung. Diese begreift Celan nicht als eine abgeschlossene Tatsache. Vielmehr laufen seine Texte auf deren Fortspinnen hinaus. In Heute und Morgen61 aus dem Band Sprachgitter ist von einer »Stelle […] Dahinter« (V. 10-12) die Rede. Erwähnt wird eine Aussparung in der Wand, eine »Stufe,/drauf das Erinnerte hockt.« (V. 14f.)62 Die letzte Versgruppe kann als Präzisierung der Entstehung der Erinnerung gelesen werden: Hierher sickert, von Nächten beschenkt, eine Stimme, aus der du den Trunk schöpfst. (V. 16-19) Indem das lyrische Ich das Artikulationsorgan in den Gedächtnisraum verlagert, wird Erinnerung mit dem Ausdrucksvermögen assoziiert. Celans »Dichtung ist Suchen und Ringen um das Menschliche in einer entfremdeten Sprache.«63 Sie versucht – als eine »Denk- und Anschauungsform«64 – eine neue, unverbrauchte, von ideologischen Resten befreite Sprache zu finden. In ihr, die sich gegen die »ungeheuerlichen Verkehrungen, Verdrehungen, Lügen, mit welcher das Dritte Reich die Sprache ›angereichert‹ hat«,65 wendet, soll Erinnerung eine Ordnung erhalten, indem sie in ein sprachliches Codesystem überführt wird.66 Gelingt dieses Unterfangen, so werden Gedächtnisbestände antizipierbar. Die Stimme, die in Heute und Morgen »[herabge]sickert« (V. 17) ist, ermöglicht dann eine Transformation. Denn aus ihr vermag ein Du einen »Trunk« zu »schöpf[en]« (V. 19). Die Erinnerung
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HKA 5.1, S. 22. Möglicherweise ist diese Stelle auch eine Anspielung auf den Roman »Malina«, in dem Ingeborg Bachmann, das Schicksal einer Frau und Dichterin inmitten einer patriarchalen Gesellschaft verarbeitet. Ihr Tod wird im Text durch das Verschwinden in einer Hauswand beschrieben. An das Leben der Verstorbenen kann somit allein die hier angesprochene Erinnerung anknüpfen, durch die Celan sowohl seine Geliebte als auch deren Figuren im Gedächtnis behält. I. Bark: Dichtung des Anderen, S. 8. M. Ostrowski: Utopie bei Paul Celan, S. 188. H. Graubner: »Unter dem Neigungswinkel«, S. 23f. Vgl. J. Lehmann: Sprachgitter, S. 74.
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zu vergegenwärtigen, stellt somit eine Basis für Erneuerung her. Im engeren Sinne bedeutet dies: Die Toten der Shoa erhalten eine Stimme, gewinnen, vermittelt durch die Dichtung, ihre Sprache zurück.67 Im Weiteren zeugt das Poem von einer grundsätzlichen Suche nach der Möglichkeit einer lyrischen Selbst- und Weltkonstitution, die eine eigene Wirklichkeit im Gedicht behauptet.68 Dabei ist der Schuld als zentralem Strukturmoment dieser Bewusstseinsinhalte eine motivierende Komponente inhärent. So heißt es im mythologisch grundierten Gedicht Deukalion und Pyrrha:69 »Es komme die Schuld über uns aller warnenden Zeichen« (V. 22). Als Zeus die Menschen aufgrund ihrer Gottesferne mit einer Sintflut bestraft, erweisen sich der ehrfürchtige Sohn des Prometheus sowie dessen Frau als die letzten Hinterbliebenen. Ihnen steht im Wissen um die vorige Schuld der Menschheit bei Celan eine große Herausforderung bevor: »Wir tuen ein Werk, das man gern seinem Stern überläßt.« (V. 3) Statt sich auf das Schicksal verlassen zu können, müssen die beiden selbst als handelnde Subjekte auftreten. »In diesem Entwurf wird der Mensch, der der sich ereignenden Geschichte ausgeliefert ist, aktiv, Wirklichkeit erhält da die Bedeutung von Potentialität: sie ist nicht gegeben, sie ist aufgegeben, sie ist zu gestalten.«70 Sie zielt auf die Aufhebung der in der historischen Wirklichkeit vorherrschenden, modernen Entfremdung,71 die sich dann nach 1945 bei Celan und anderen als Sprachkrise niederschlägt.72 Die Verse »Wir schwören bei Christus dem Neuen, den Staub zu vermählen dem Staube,/die Vögel dem wandernden Schuh« (V. 6f.) konkretisieren die Nivellierung, die mit Hinweis auf den neuen Christus eine erlösende Postapokalyptik insinuiert. Nachdem sich Himmel und Erde durch Zeusʼ Gewaltakt immer weiter entfernten, soll nun der Vogel mit dem Schuh, also etwas Irdischem, verbunden werden. Der Tod wird indessen seiner brachialen Endlichkeit entledigt: »Ihr mahlt in den Mühlen des Todes das weiße Mehl der Verheißung« (V. 16). In allem wirkt somit die Metamorphose, »der geharnischte Windstoß der Umkehr« (V. 24), der schließlich nach der Versündigung und Schuld eine utopische Wende hervorrufen soll: »es komme, was niemals noch war!« (V. 26) Ferner geht, wie Goßens nahelegt, vom letzten Vers des Gedichts, »Es komme der Mensch mit der Nelke«, noch ein politischer Impuls aus: So weist er [Celan] deutlich auf seinen Beitrag zur (bildenden) surrealistischen Kunst hin, den er im März des Jahres auf der Wiener Surrealistenausstellung ausgestellt hatte: Seine Montage bestand aus einer roten Nelke auf weißem Grund. Die
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Vgl. F. Lampart : Paul Celans »Grabschrift für François«, S. 308. Vgl. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 70. HKA 2-3.1, S. 58f. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 71f. Vgl. ebd., S. 263. Vgl. M. Alemán: Sprachkrise und Utopieverlust, S. 206.
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surrealistische Bildästhetik verbindet sich hier mit einem Symbol revolutionären Kampfes und zeugt somit von C.s durchaus politisch ambitionierten Bemühungen um eine neue Kunst.73 Die Erinnerung als Voraussetzung für Antizipation lässt sich auf einer diachronen, vertikalen Achse lokalisieren. Celans Gedichte erstecken sich darüber hinaus noch auf eine horizontale, synchrone Achse. Auf beiden Ebenen finden sich zu entfaltende Anlagen. Vor allem dingliche Motive wie das Auge oder der Stein evozieren Effekte im Jetzt. So etwa im Text Schlaflied,74 wo ein Stern die Funktion eines Stimulans innehat und das Ich transzendiert: »Über die Ferne der finsteren Fluren/hebt mich mein Stern in dein schwärmendes Blut« (V. 1f.). Er hebt die Grenzen zwischen Körpern auf und überführt das Textsubjekt und sein Gegenüber in einen geruhsamen Zustand der Schmerz- und Leidensfreiheit. Die Tragweite des dadurch sich konstituierenden Möglichkeitsraums reicht so weit, dass Gegensätze sich komplett auflösen, wie ein markantes Paradoxon dokumentiert: »Nirgends, wo Traum ist und Liebende liegen,/hat je ein Schweigen so seltsam getönt.« (V. 7f.) Schulz stellt fest, dass das Schweigen im Werk des jüdischen Dichters »eben nicht den Abbruch einer zwischenmenschlichen Kommunikation meinte, sondern gerade deren Bekräftigung.«75 Es signalisiert einen inneren Zusammenhalt, eine Gemeinschaft in und mit der Stille. Der Traum wird als in einem Nirgends befindlich, also in einem U-Topos verortet. Potenziell lässt sich dort das Schweigen hören. Die Verschriftlichung des Schweigens, die Tatsache, dass Celan dem Schweigen einen eindeutigen Signifikant zuschreibt, ist wiederum ein Aspekt seiner Produktiven [sic!] Sprachkrise. Geschriebenes Schweigen stellt die Betonung des Schweigens dar, ein nicht verstummen wollender Widerstand gegen das, was geschah.76 Schweigen, verstanden als »Bedeutungsträger«,77 etabliert sich als Widerstand und impliziert Noch-Nicht-Ausgesagtes und -Ausgesprochenes. Die Artikulation im Sinne eines perfomativen Aktes der Sprache steht noch aus. »Das Schweigen […] ist dem Sprechen des Gedichts nicht unmittelbar zugänglich, sondern nur über das ›Wort‹, das zu ihm in eine Beziehung tritt, es ist als aufgehoben gedacht
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P. Goßens: Das Frühwerk, S. 51f. HKA 2-3.1, S. 13. Dass bereits die Gattung des Lieds als Ausweis des Utopischen gelten kann, wird von Finckh betont: »Aufgrund ihres prinzipiell nicht-referentiellen Charakters ist Musik nicht eigentlich ›bedeutend‹, sondern unmittelbarer Ausdruck. So kann ihr aus poetologischer Sicht der utopische Charakter einer ›Seelensprache‹ (Herder) bzw. einer ›begriffslosen Sprache‹ (Adorno) zuwachsen. J. Finckh: Musik, S. 287. G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 41. A. Bánffi-Benedek: »durch die tausend Finsternisse todbringender Rede…«, S. 108. G.-M. Schulz: Nagativität in der Dichtung Paul Celans, S. 14.
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im Entwurf einer utopischen Sprache.«78 Celan »realisiert damit Sprache als Bewegung und Unterwegssein, als Prozess, der […] Wirklichkeit entwirft.«79 An diesem nicht fixierbaren Ort der Stille treffen die Liebenden wieder aufeinander. Er ist Ausdruck einer utopischen Denkform, die Schulz für Celan wie folgt charakterisiert: »Das Vorfindliche und Faktische, Erscheinende und Wahrnehmbare so anschauen, dass dabei das an ihm jeweils nicht Fixierte, das Offene in den Blick kommt; es bedeutet, das Wirkliche auf seine Möglichkeit hin denken.«80 Wie schon bei Rilke bilden diese beiden Pole auch bei Celan eine utopisch aufgeladene Konstellation. Indem die Geliebte die Augen schließen soll, wird sie des »Leben[s] der Dunkelheit« (V. 10) gewahr. Finsternis impliziert bei Celan sowohl Fremde als auch eine besondere Tiefenerfahrung in der Welt.81 Das Subjekt erschließt sich gegenüber dem Du einen neuen Kosmos auf der Folie des »schimmernde[n] Mund[s]« (V. 12) der Geliebten. Er repräsentiert das gänzlich Andere, das wiederum das Potenzial zu einer Neubetrachtung der Realität in sich birgt. »Die Konfrontation mit der Fremdheit der Wirklichkeit als eigener Wirklichkeit wird dann zum Anfang der Möglichkeit, in ein Verhältnis zur Wirklichkeit zu treten, sie zu gewinnen.«82 »Nichts mehr sei Welt als« (V. 12) die Öffnung, die zur Vereinigung einlädt. Auf der Basis von Anlagen sind in mehrfacher Weise die aktiven Objekte von Interesse für eine utopische Lesart. Der Stern oder der Mund stehen für motivierende Elemente, die als Vor-Schein auf das lyrische Ich einwirken und die Entdeckung einer alternativen Welt provozieren. Ernst Bloch greift übrigens auch den Stern direkt motivisch auf, in dem letzthin die Möglichkeit zu einem anderen, echten, unentfremdeten Sein offensichtlich wird: So sehr auch das menschliche Ich selber ermattet ist, so lebt doch in ihm, in dem ihm noch verbleibenden Denken der Seele, des utopischen Überschusses noch der Funke, der über diese äußere und obere Leere hinaus schlägt, hinüber schlagen kann. Das Intendieren auf den Stern, auf eine Freude, auf eine Wahrheit hinter, gegen die Welt ist die einzige Rettung, noch Wahrheit zu finden.83 Die Frage nach Verschüttetem, insbesondere Wahrem, kann an die Suche nach Spuren gekoppelt sein, die auch Thema des Gedichts Engführung,84 publiziert in Sprachgitter, ist. Bereits in den ersten Versen des komplexen Langgedichts findet sich die Rede von der »untrüglichen Spur« (V. 3). Von ihr geht ein Impuls zum aktiven Verfolgen aus: »Lies nicht mehr – schau!/Schau nicht mehr – geh!« (V. 6f.) 78 79 80 81 82 83 84
Ebd., S. 65. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 59. G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 85. Vgl. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 30. Ebd., S. 123. E. Bloch: Über motorisch-mystische Intention in der Erkenntnis, S. 111. HKA 5.1, S. 61-68.
5. Das Leben im Tod finden
Die zunächst negativ konnotierte, refrainartig sich wiederholende Wendung, »nirgends/fragt es nach dir« (V. 16f.) indiziert aufseiten des Du eine Aktivität, die von der Objektsphäre, also jenem nicht näher konturierten Ort ausgeht. Dass das Poem einen Shoa-Kontext alludiert und gerade in der Spur »das ›tote‹ Zeichen lebt«,85 bringen die Verse »Der Ort, wo sie lagen, er hat/einen Namen – er hat/keinen« (V. 18-20) zum Ausdruck. Das lyrische Ich spricht von den Opfern der Konzentrationslager. Sowohl diese als auch der Ort bleiben anonym. Wie die Antithese nahelegt, hat letzterer einerseits einen Namen, denn das Schicksal der dort zu Opfer gewordenen Menschen lässt sich nicht verschweigen. Zugleich vermag Sprache die an ihnen begangene Gräuel nicht adäquat zu erfassen, weswegen die Todestopografie im Gedicht wiederum auch keinen Namen besitzt. Piszczatowski sieht aus der Erkenntnis dieses paradoxalen Ineinanders heraus im Namen eine Leerstelle, die unmittelbar mit den Toten verbunden ist: Celans Gedichte gehen den Weg einer Atemwende, einer Umkehr, um in der einen Unmöglichkeit nicht zu ersticken und durch die Subversion aller Regeln der Syntax, der Morphologie und der Wortsemantik einen sprachlichen Raum zu erschaffen, in dem eine performative Setzung des Namens möglich sein wird, freilich aber nicht mehr in der Form eines Zeichens der Präsenz, sondern in der eines apopathischen Signums des permanenten Mangels […]. Es gibt keine Namen, die von der Einäscherung hätten Zeugnis ablegen können. Es muss daher ein Name sich konstituieren, der eine Spur markieren wird.86 Die Benennung stellt als Sprachvollzug einen utopischen Schaffensakt dar, der Abwesendes als Anwesendes zeigt. Noch immer befinden sich die Opfer allerdings in einer Art Winterschlaf, das kollektive Vergessen droht sich gleich einem Schleier über sie zu legen. Indem sich das Textsubjekt in der sechsten Versgruppe in die Lage versetzt, sich anaphorisch als Ich auszuweisen, unternimmt es den Versuch, die eigene Identität und Würde durch das Sagen wieder zu konstituieren. Die Beschreibung »ich war/offen« (V. 32f.) gibt derweil einen Zustand der Verwundung preis. Die Dichotomie zwischen Sein und Nicht-Sein, zwischen Ermächtigung und Ohnmacht spiegelt sich im Verlauf des gesamten Poems. Die visionäre Helligkeit – »Kam ein Wort […]/wollt leuchten, wollte leuchten« (V. 48ff.) – steht in Kontrast zur alliterativen Betonung der »Nacht« (V. 53f.). In der romantischen Tradition, »einst magischer Ort der Begeisterung und der Offenbarung«, wird letztere in Celans Werk »zur Finsternis des Grauens, ihr Zauber zum Unheil, ihre Träume zu verwundeten Illusionen.«87 Das lyrische Ich ringt verzweifelt um die Herstellung seiner Identität, die sich ganz im Sich-selbst-Aussagen, ergo einer poe-
85 86 87
B. Paha: Die »Spur« im Werk Paul Celans, S. 95. P. Piszczatowski: Celans Theopoetologie des Schoah-Gedenkens, S. 204. V. Liska: Die Nacht der Hymnen, S. 139.
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tischen Evokation, äußert, andererseits erzählt das Gedicht eben von Schlaf und dem Schweigen, worin eine gesellschaftliche Verdrängung zum Ausdruck kommt. Die Vergangenheit schafft sich Raum und drängt vom Präteritum ins Präsens. Der Modus des mehrfachen »Kam« (V. 111) mündet in der Erkenntnis: Welt setzt ihr Innerstes ein im Spiel mit den neuen Stunden. – Kreise, rot oder schwarz, helle Quadrate, kein Flugschatten, kein Meßtisch, keine Rauchseele steigt und spielt mit. (V. 120-128) Das Innerste dürfte konkret die in der Erde Begrabenen bezeichnen, die nun in die Gegenwart, die »neuen Stunden« (V. 121f.), vordringen. »In die Tiefe graben ist daher bei C. immer auch ein Graben nach der Vergangenheit«,88 die hier in schimärenartigen Formen zutage tritt, in Kreisen und Quadraten. Die refrainartigen Wiederholungen wie »Steigt und/spielt mit« (V. 133f.) erinnern weiterhin an Echos oder die Machart eines Rondos. Die zirkuläre Struktur wird motivisch darüber hinaus durch die Erwähnung der »Psalmen« (V. 147) unterstrichen. Dass die Kreisfigur keine Gefangenschaft, sondern die Hoffnung einer vitalisierenden Vergegenwärtigung und Antizipation signalisiert, deutet sich in einer der letzten Versgruppen an: Also stehen noch Tempel. Ein Stern hat wohl noch Licht. Nichts, nichts ist verloren. (V. 149ff.) Statt Rückbesinnung forciert der pathetische Text, angereichert mit religiöser Heilsmetaphorik wie dem Licht oder dem noch bestehenden Tempel als Haus Gottes, einen Transit durch die Geschichte in die Zukunft. Verdeutlichen lässt sich hieran die Aufgabenbestimmung, die Celan für die Poesie vorsieht: »Dichten wird damit beschrieben als eine Handlung auf Hoffnung hin«89 – und zwar bezogen
88 89
W. Amthor: Schneepart, S. 121. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 67.
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auf eine »zukünftige menschenwürdigere Realität, welche die Voraussetzung für jeglichen Utopie-Entwurf darstellt.«90 Das anaphorische »Nichts« stellt eine Leerstelle dar, die zur imaginären Ausgestaltung provoziert und Sprache überhaupt erst zum Gegenständlichen drängt.91 Es markiert keine finale Fixierung, sondern eine Initiation. Artikuliert wird die Bedeutung des Übergangs ebenso in dem Freudenruf Hosianna, der mehrfach als Enjambement mit Bindungsstrich vorkommt und die von Zuversicht bestimmte Versgruppe umrahmt. Zeigt sich vermeintlich abgeschlossene Historie folglich als offen und nivellierbar, so gilt es gleichsam, einen neuen Ort, einen U-topos, zu erschließen. Dazu ist die Aussage bestimmend: »Ortssuche im Lichte des Ortlosen bedeutet – in einem nicht wertenden Sinne – das Positive im Licht des Negativen: ›Negativität‹ wird zum Prinzip.«92 Insofern bedarf Utopie, die Bloch mit Hoffnung gleichsetzt, der Negation als eines sprachlichen Mittels. Dem zu findenden Ort ist in poetologischer Hinsicht eine »untrügliche[]/Spur« (V. 167) eingeschrieben. Sie zu verfolgen, bildet das Stimulans der Lektüre. Sich in Celans Topografie vorzubewegen, heißt, wie die letzten drei Verse festhalten, das Gras beiseitezuschieben, um den Grund darunter zu erkennen, heißt, sich selbst in und mittels der Schrift einen Zugang zum Verschütteten zu verschaffen. Das Gras ist »auseinandergeschrieben« (V. 170).
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Tote unter Lebenden: Wahrung und Umkehr des Holocausts
»Schimmelgrün ist das Haus des Vergessens« (V. 1), schreibt Celan in seinem Poem Der Sand aus den Urnen.93 Diesem Zustand des toxischen Verrottens setzt er eine Lyrik der Aufarbeitung und Konfrontation entgegen. Historische Kontexte und Gegenstände, allen voran der Holocaust, erscheinen im Zeichen der Verdrängung. Aufgrund fehlender gesellschafts- und erinnerungspolitischer Aufarbeitung des Genozids an den JudInnen gilt in seinen Texten »Wirklichkeit als defizient«.94 Was der Autor als noch Unabgegoltenes der Vergangenheit zu heben versucht, um es im Sinne Blochs in die Zukunft zu projizieren,95 kann weiter präzisiert werden. Seine Lyrik wurde in der Forschung vor allem im Lichte eines Erinnerungsdiskurses rezipiert. Im Zentrum stand dabei stets die Bewahrung der Erinnerung an die Gräuel der Nationalsozialisten und die Verbrechen am jüdischen Volk. Hierbei kommt der Hermetik, die dem Poeten oftmals die Kritik einbrachte, er würde an-
90 91 92 93 94 95
M. Alemán: Sprachkrise und Utopieverlust, S. 210. Vgl. G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 137. Vgl. E. Bloch: Über Tod, Unsterblichkeit, Fortdauer, S. 318. HKA 2-3.1, S. 46. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 124. Vgl. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 115.
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gesichts dieser verheerenden Realität zu stilisierend bzw. manieriert schreiben,96 eine entscheidende Bedeutung zu, weil sie einen Gegenpunkt bietet zur Intoleranz gegenüber komplexen, vieldeutigen Phänomenen – ein Kennzeichen aller totalitären Regimes und autoritären Persönlichkeiten […]. Celan tritt diesen Tendenzen entgegen, wenn er für Hörerbereitschaft plädiert, für die Dialektik von Dunkelheit und Begegnung.97 Die Finsternis repräsentiert zumeist das Fehlen eines Gegenübers,98 die Helligkeit hingegen die ersehnte Anwesenheit eines Du. Aktualisierung von Geschichte geht dabei einher mit der Revitalisierung von Getöteten, die jedoch ihr Totsein in den Gedichten nicht verschweigen. »Wir schaufeln ein Grab in den Lüften, da liegt man nicht eng« (V. 4), heißt es in seiner Todesfuge.99 Die Metapher beschreibt einen Akt der Unmöglichkeit. Einerseits impliziert sie die faktische Verendung der Jüdinnen und Juden in den Öfen der Konzentrationslager, die in Rauch aufgingen. Andererseits macht sie das Potenzial dichterischer Sprache deutlich. Denn eine Ruhestätte in die Luft zu bauen, wird allein als imaginative, poetische Handlung denkbar. Die Toten werden zu sprechenden Subjekten und betonen durch die »Verlagerung« (V. 24) nicht nur lebendig, sondern auch Teil des kollektiven Gedächtnisses zu sein. Entscheidend ist, dass deren Präsenz auf den Raum des Gedichts beschränkt bleibt. So vollzieht sich in Celans Werken stets »die dialogische Atemwende zu dem Anderen, das nirgends sonst existiert als in dem Gedicht selbst, kraft seiner prosopopöischen Performativität«.100 Die Poesie mutet wie ein Atem an, der dem Leblosen für die Dauer des Worts eingehaucht wird. Wenn Celan in seinem Widmungsgedicht für Edgar Jené, Erinnerung an Frankreich,101 schreibt »Wir waren tot und konnten atmen« (V. 9), dann setzt dieses Paradoxon des Lebens im Gestorbensein ein spezifisches ästhetisches Verfahren der Umkehr voraus.102 Indem sich der Autor dabei immer wieder auf den orphischen Gesang – in seinem Sinne als Ausweis »dichterische[r] Wahrhaftigkeit« –103 beruft, definiert er Dichten selbst als wesentlichen Vermittlungsmodus zwischen Oppositionen. Zwischen historischer Altlast, der »Wirklichkeit als Geschichte von Krieg und Lüge«,104 und Suche nach einer neuen Heimat »treffen [wir bei Celan] auf Sprachskepsis und Sprachutopie. Sprache wird also erst einmal als Potentialität verstan-
96 97 98 99 100 101 102 103 104
Vgl. D. Lamping: Paul Celan – ein moderner Klassiker?, S. 32. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 220. Vgl. G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 124. HKA 2-3.1, S. 101f. P. Pisczcatowski: Prosopopöischer Dialog, S. 260. HKA 2-3.1, S. 53. Vgl. B. Böschenstein: Der Meridian, S. 172. J. Finckh: Musik, S. 288. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 264.
5. Das Leben im Tod finden
den.«105 Motivisch wird deren schöpferische Fähigkeit oftmals beispielsweise mit dem Wasser in Verbindung gebracht, wie das Poem Brandung106 dokumentiert. »Wo Wasser ist, kann man noch einmal leben,/noch einmal mit dem Tod im Chor die Welt herübersingen,/noch einmal aus dem Hohlweg rufen: Seht, wir sind geborgen« (V. 5-8). Da das Wasser als Phänomen des Übergangs angeführt wird, ermöglicht es als fließendes Medium, »mit dem Tod« noch einmal zur diesseitigen Welt zu gelangen. Das »Herübersingen« referiert auf den orphischen Gesang, mittels dessen die Toten offenbar wieder zu sprechen vermögen. Sie selbst, gelandet im Niemandsland des »Hohlweg[s]«, geben sich als Geborgene zu erkennen, tragen ihr Vergangensein mit sich und sind zugleich in der Gegenwart angekommen. Celans ästhetisches und – bezogen auf das gesellschaftliche Trauma des Genozids – sprachtherapeutisches Programm hat folglich eine spezifische Ausprägung der Verwandlung zum Gegenstand. Mithin ist ebenso die Rede von der »Dynamik des Transitorischen, Pro- und Transgressiven in C.s poetischer Programmatik«.107 Wie schon bei Rilke dienen die evokativen Metamorphosen zur Umgestaltung einer als defizitär erfahrenen Wirklichkeit.108 Lehmann präzisiert diesen Umstand und geht von einer »Konstituierung von Wirklichkeit im Suchen von Wirklichkeit«109 aus. Rilke wie Celan begreifen »Wirklichkeitssuche«110 als performativen Prozess, geprägt von Antinomien, die ein ständiges Wechseln zwischen Präsenz und Absenz der Realität indizieren. Kohler-Luginbühl betont in diesem Kontext den sich daraus ergebenden Möglichkeitshorizont: »Das Paradox trägt die Struktur der abwesenden Anwesenheit und anwesenden Abwesenheit des Utopischen. Es bietet die beste Möglichkeit zur Anschauung des Unsagbaren des Utopischen«,111 womit der Tod und die Toten in besonderer Weise zum Inbegriff und Zentrum von Celans visionärer Poetik avancieren. Diese Bemerkung steht konträr zu Barkes auf Blanchot gestützte Annahme, dass Celans »Sprache als Negation, die das, was sie zu fassen sucht, bezeichnet und damit in Abwesenheit drängt.«112 Markant invertiert das Poem Einmal113 Zerstörung in einen Akt der Neuschöpfung. Wie so oft in Celans Werken »entsteht [das Gedicht] aus der Verwundung«114 heraus. Nachdem Gott – in der ersten Versgruppe kumulativ »ungesehn, nacht-
105 106 107 108 109 110 111 112 113 114
Ebd., S. 186. HKA 2-3.1, S. 129. M. May: Von Schwelle zu Schwelle, S. 64. Vgl. J. Lehmann: Die Dichtung Ossip Mandelstamms, S. 166. J. Lehmann: Einleitung: »Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird«, S. 34. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 61. Ebd., S. 231. I. Bark: Dichtung des Anderen, S. 121. HKA 7.1, S. 107. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 64.
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lang,/wirklich« (V. 4f.) – die Welt mit einer Sintflut zu reinigen scheint,115 entsteht ein widersprüchlicher Zustand: Eins und Unendlich, vernichtet, ichten. Licht war. Rettung. (V. 6-9) Hier »wird die ›Vernichtung‹ quasi zum Ausgangspunkt des ›Ich-Sagens‹. ›Ichten‹ selbst markiert den Umschlagpunkt, die ›Atemwende‹ hin zu dem emphatischen Schluss ›Licht war. Rettung‹.«116 Der Neologismus des »ichten[s]« definiert ferner die Selbstfindung als Resultat der vorigen Depravierung. Erst die Neubegründung sorgt für die Möglichkeit, zuletzt die Dunkelheit durchdringen zu können. Die elliptische Pointe transportiert ein lakonisches Pathos, das dem eschatologischen Motiv des Lichts als Erlösungsmoment Raum verleiht. Die zuvor in der ersten Versgruppe genannte »Waschung« der Welt signalisiert die für Celan relevante Bedeutung des Wassers, das dem Leser ebenso in dem Band Halme der Nacht wiederbegegnet. Geschildert wird im darin publizierten Gedicht Wasser und Feuer 117 eine erleuchtete Nacht, in der das lyrische Ich die ihm Angetraute in einen Turm bringt. Der weitere Verlauf des Poems erstreckt sich auf die eigenartige Wirkung der Natur. Sie erhellt das Meerwasser oder füllt in Form des Windes die Becher auf dem Tisch. Sein »Wog[en]« (V. 15) wird sodann assoziiert und parataktisch verbunden mit der Kriegserfahrung: »und mir fluten die Fahnen der Völker,/und neben mir rudern die Menschen die Särge an Land,/und unter mir himmelts und sternts wie daheim um Johanni!« (V. 16-18) Die Passage sorgt in mehrerlei Hinsicht für Irritation. Zum einen spielt zuvor der historischgesellschaftliche Horizont keine Rolle, zum Zweiten besteht – auch unter Einbeziehung des ersten Verses der letzten Versgruppe, worin das lyrische Ich zum Du »hinüber« (V. 19) schaut – Unklarheit über den Standpunkt des Textsubjekts. Befindet es sich auch im Turm oder auf dem Wasser? Die Neologismen »himmelts« und »sternts« »unter mir« (V. 18) verstärken zudem den Eindruck der Delokalisierung. Dass die Liebesbeziehung zwischen den beiden offenbar schon vergangen ist, vermittelt der letzte Passus des Gedichts, worin der anaphorische Appell »Denk« (V. 21. u.a.) zur Vergegenwärtigung der gemeinsamen Zeit ermuntert. Ferner nimmt der Ausklang des Textes das bereits zu Beginn erwähnte Feuermotiv auf. Springt anfangs eine Flamme aus dem »Wort zu den Eiben,/draus […] dein Brautkleid« (V. 1f.) hervorgeht, ist schließlich die Rede vom »Wort, zu dem du herabbrennst.« (V. 115 116 117
Vgl. M. Janz: Vom Engagement absoluter Poesie, S. 179. M. May: Atemwende, S. 97. Beide Zitate: HKA 2-3.1, S. 136.
5. Das Leben im Tod finden
26) Wie der Kommentar preisgibt, referiert Celan metaphorisch auf Alf Sjöbergs Film »Fräulein Julie«, in dessen Zentrum die Johannisnacht, demnach jener Nacht, die dem 24. Juni als dem Tag der Geburt Johannes des Täufers vorausgeht, sowie eine letztlich scheiternde Liebe steht. Zudem gehört das Gedicht zu den Ingeborg Bachmann gewidmeten Werken.118 Welche Bewandtnis hat es nun mit dem Wasser und worin äußert sich die utopische Dimension? Das Meer fungiert in dem Poem als Ort der Veränderung. Besonders fallen die für Celans utopische Poetik relevanten Um- oder Verkehrungsfiguren auf. Neben der Proklamation »Hell ist die Nacht« (V. 3) findet sich auch Materie, gemäß Bloch »die reale Möglichkeit zu all den Gestalten, die in ihrem Schoß latent sind«,119 mithilfe des dichterischen Appells zum Leben erweckt: »Totes Silber, leb auf« (V. 9), vernimmt die Leserin bzw. der Leser, in deren bzw. dessen Bewusstsein die Holocaust-Opfer revitalisiert werden. Noch die unwirtlichste Topografie, wie hier das offene Meer, hält die Option erneuter Entstehung bereit. Zu konstatieren ist ein regressive[r] Prozess der Dekonstruktion der Geschichte, den sie andererseits zugleich auch auslöst. Er [Celan] leuchtet den tiefsten Grund der Historie aus, während diese auch immer mit der Gegenwart des Dichters, von der her er spricht, behaftet bleibt, so dass sich die regressive Bewegung unmittelbar in eine Progression wendet und C.s Sprechen als ein neues Setzen und damit als Beginn einer neuen Geschichte anschaulich wird.120 Die Wechselwirkung aus vor und zurück ist ähnlich schon im Titel in der Dialektik »Wasser und Feuer« angelegt. Paare wie »stundauf und stundab« (V. 10) oder »nachtaus und nachtein« generieren den dynamischen Prozess, der Erinnerung (an die Liebe) an die defizitäre Gegenwart des Krieges koppelt. Das Ich in der Selbstbeschreibung als »Meister der Kerker und Türme« (V. 24) könnte in diesem Arrangement als eine Art Schutzfigur gedeutet werden. Obgleich das Einsperren des Du als Gewaltakt anmutet, lässt sich die Gefangennahme als Versuch deuten, die Geliebte vor den virulenten Verheerungen der Welt zu schützen und im Turm einen utopischen Gegenort inmitten des unwägbaren Meeres zu sehen. Die ansonsten vorherrschende topografische Vagheit erweist sich als konstitutiv für die von Offenheit bestimmten utopielyrischen Arbeiten Celans. Oftmals sind sie an Wortneuschöpfungen wie etwa im Titel Inselhin geknüpft. Derartige Kreationen rekurrieren auf eine literarästhetische Strategie, die Celan aus Sicht Engels aus seiner Auseinandersetzung mit Rilke gewonnen haben könnte:
118 Vgl. B. Wiedemann: Kommentar, S. 702f. 119 E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 271. 120 S. Bogumil-Notz: Lichtzwang, S. 111.
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Obwohl die Verselbstständigung des Sprachmaterials deutlich weiter vorangetrieben wird als bei Rilke, sind diese Sprachräume nach sehr ähnlichen Verfahrensweisen konstruiert: Bewusstseinsinhalte, -zustände, ganz allgemein Abstrakta aus dem menschlich-geistigen Bereich werden unmittelbar mit Dinglich-Konkretem verknüpft – am einfachsten in Kompositabildungen wie ›Atemseil‹ […] – und in einen mehr oder minder ausgeprägten quasi-topographischen, oft auch temporalen Konnex gestellt. So entstehen Sprachwelten, die keinerlei Mimesisbezug haben.121 Das klar konturierte Bild einer Insel verbindet sich im konkreten Fall mit der rätselhaften Richtungsbestimmung »hin«. Dadurch entsteht eine Spannung, die einen festen Raum zugleich als flexibles, bewegliches Gebilde offenbart. Celans Werk zielt auf sphärenübergreifende Durchbrechung der Barriere zwischen Dies- und Jenseits. Das Tote wird im Leben wiederhergestellt oder wiedergefunden. Häufig trifft man daher auf Grenzgängerfiguren wie in der Miniatur Die Silbe Schmerz.122 Diese erzählt von einem sichtlich verlorenen Du, dem als »todlos« (V. 2) scheinbar ein Wiedergängerstatus zukommt. Dessen Hingabe an das Ich, womit wiederum sein Zu-sich-Kommen einhergeht, ist charakteristisch für das gesamte Poem. Im Mittelpunkt stehen sich »rings« (V.4) um die Dyade abspielende Vermischungen. Zum einen sind diese durch Spannungselemente gekennzeichnet (»gemischt/und entmischt«, V. 5f.), zum anderen durch katachretische Konstruktionen, wenn beispielsweise die Rede von »Zahlen« ist, die »mitverwoben in das/Unzählbare sind« (V. 10f.). Denn wie kann in letzteres, einem Abstraktum, etwas Konkretes (mit-)verwoben sein? Diese Unmöglichkeit zu ermöglichen, verdankt sich dem Umstand, dass das nicht näher definierte, also offen gehaltene »es« (V. 13) sich dauerhaft »rück- und fort-/verwandelt in/keimendes Niemals« (V. 15-17). Sowohl das »Niemals« als auch die worttrennenden Enjambements verdeutlichen einen Prozess ad infinitum, der eben nicht mit dem Versende zusammenfällt. Es geht demnach um Realisierungspotenziale (»keimendes«), die im Sinne des Utopischen diachron aus einem Zusammenwirken von Vergangenheit und Zukunft hervorgehen: Eine Diagnose der Gegenwart ist nur dann möglich, wenn es dem erkenntnisbemühten Subjekt gelingt, diese immanent zu transzendieren, und zwar temporal in zwei Richtungen: durch die Erkenntnis der Vergangenheit der Gegenwart und analog dazu durch eine Demonstration von Potentialen einer vernünftigen Zukunft, die ex negativo, per bestimmter Negation, bestimmbar ist.123
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M. Engel: Rainer Maria Rilke, S. 316. HKA 6.1, S. 82. M. Blumentritt: Prinzip Hoffnung, S. 29.
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Die vermeintliche Positivität wird in der dritten Versgruppe gebrochen. Die Personifikation »Vergessenes griff/nach Zu-Vergessendem« (V. 18f.) verweist auf die Dynamik der Verdrängung, die eine Art Sogwirkung entfaltet und »Erdteile« und »Herzteile« (V. 19) mit sich zieht. Der Verdrängung vermag nur ein externer Handlungswillen entgegenzuwirken. Der Hinweis auf »Kolumbus« (V. 21) liefert die dafür nötige Bereitschaft des Erkunders. frei, entdeckerisch, blühte die Windrose ab, blätterte ab, ein Weltmeer blühte zuhauf und zutag, im Schwarzlicht der Wildsteuerstriche. In Särgen, Urnen, Kanopen erwachten die Kindlein Jaspsis, Achat, Amethyst […] (V. 26-34) Während die Windrose vergeht, erblüht das Weltmeer. Diese Antithetik steht im Zusammenhang mit der paradoxen Fügung, dass nicht die Sonne, sondern das »Schwarzlicht« (V. 30) die Toten revitalisiert. Es kommt zu der für Celans Lyrik bezeichnenden »unmögliche[n] Anwesenheit der Ermordeten.«124 Man kann auch von einer Prosopopöie, der »Trope der Verlebendigung«, sprechen, »sie gibt Dingen, verstorbenen Personen oder abstrakten Wesenheiten eine Stimme, sie ist die Stimmverleiherin.«125 Das Licht repräsentiert dabei einerseits ein gängiges Erlösungsmotiv,126 andererseits steht das Schwarz im Kompositum für Finsternis, Annihilierung und zugleich für den Zustand im Vorfeld der Schöpfung, auf welche die Proklamation »Es sei« (V. 36) anspielt. Offenbar setzt sich Celan über Paradoxien und Brüche hinweg, indem er die konventionelle Semantik der Einzelbestandteile der Wörter zugunsten eines gänzlich neuen, referenziell losgelösten Bedeutungsraums auflöst. Engel beschreibt diesen an Rilkes Poetik orientierten Verschiebevorgang folgendermaßen: Deutlich wird die Absage an Mimesis wie Alltagssprache, der Glaube an die kommunikative Funktion der Dichtung trotz ihrer Dunkelheit, an die innere Notwendigkeit ihrer formalen Gestaltung, vor allem aber die Überzeugung von der ›u-topischen‹ Dignität poetischer Rede, die Mitteilungsgrenzen überschreiten und Kontingenz wie raum-zeitliche Begrenzungen der Empirie transzendieren.127 124 125 126 127
I.-K. Patrut: Im »Wundenspiegel«, S. 167. R. Simon: Poetik und Poetizität, S. 53. Vgl. K. Fischer: Fadensonnen, S. 103. M. Engel: Rainer Maria Rilke, S. 317.
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Die Überwindung der hier benannten Mitteilungsgrenze kann als utopischer Impetus des Gedichts angesehen werden. So heben sich in dem gegebenen Poem starre Binaritäten auf. Evoziert wird dazu die Konfiguration des »Knoten« (V. 40), in dem sich Ungleiches zueinander fügt. Sprachlich spiegelt Celan diese Vermengung in einer erheblichen Konzentration übercodierter Metaphern und Bilder wie der »fastnachtsäugige[n] Brut/der Mardersterne im Abgrund« (V. 43f.) wider, die für den utopischen Gehalt des Textes von Belang sind: »Metaphern können durchaus in der Weise dialektisch sein, dass sie Wirklichkeit abbilden und zugleich das Kontinuum der Rede unterbrechen und so Raum für ein mögliches Anderes schaffen.«128 Dass gerade die poetische Gestaltung besonders dazu in der Lage scheint, Dissonantes jenseits realer Konventionen in einer Versgruppe zu vereinen, hebt die repetitive Schlusspointe hervor: Die Brut »buch-, buch-, buch-/stabierte, stabierte« (V. 45f.). Buchstabieren steht für eine Ausformulierung, für ein Aussprechen. Das Medium der Schrift bzw. Sprache wird somit als Medium der Aktion akzentuiert. Sprache »wird zum Ort der Utopie für den der Wirklichkeit entfremdeten, von der Wirklichkeit verletzten Menschen, der die zu erfahrende andere Wirklichkeit sucht, die – vielleicht – Heimat sein könnte.«129 Dieser andere, mit Identität verbundene Ort der Existenz liegt einer von konventionellen Gegebenheiten losgelösten Sprache zugrunde. Sie ist nicht auf Kommunikation oder unmittelbar intersubjektive Verständlichmachung ausgerichtet. Alemáns Beobachtung, dass die moderne Lyrik eine »Subjekt-Objekt-Spaltung, die Erkenntnismöglichkeit der ›Dinge an sich‹, der ›Wahrheit der Dinge‹ infrage stellt«,130 aufweise, trifft somit für Celans Entwurf in besonderer Weise zu. Die damit einhergehenden Auflösungstendenzen stehen im vorliegenden Gedicht übrigens unter Vorbehalt. So impliziert der Verbstamm »stabierte« auch Stabilisierung. Was also durch Verknotung von vormals Getrenntem entsteht, wird anschließend gefestigt. Das Celan’sche Möglichkeitsdenken unterläuft die Vorstellung fester, unabänderlicher Zustände, was zugleich dem Bloch’schen Begriff vom in alle zeitlichen Dimensionen ausgreifenden Denken ähnlich ist: »Wahres Denken bildet ab, was außer ihm geworden ist und wird. Was […] Im Begriff ist zu geschehen.«131 Auch Celans poetische Denkweise steht im Zeichen der Vorausschau wie der Rückschau, wobei der Tod nie ein abgeschlossenes Ende darstellt. Er bezeichnet stattdessen einen Durchgangsraum, wie etwa ein prägnanter Vers im Liebesgedicht Nachtstrahl132 nahelegt: »ein schöner Kahn ist der Sarg, geschnitzt im Gehölz der Gefühle« (V. 8). Das Behältnis steht darin nicht für das Ende, sondern stellt auch ein an den Charon-Mythos anknüpfendes Vehikel dar, mit dessen Hilfe der Eintritt in 128 129 130 131 132
D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 192. Ebd., S. 56. M. Alemán: Sprachkrise und Utopieverlust, S. 204. E. Bloch: Erkenntnis als Schlüssel und Hebel des Wirklichen, S. 118. HKA 2-3.1, S. 54.
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eine neue Sphäre ermöglicht wird. Das Leben geht im Sinne einer Freisetzung133 lediglich in einen anderen, noch weiter zu bestimmenden Zustand über, der nicht mit gängigen Etiketten wie Tod oder Jenseits zu definieren ist. Celan nimmt dem Tod somit seine allgültige Macht und ermächtigt die Poesie zu dessen Umcodierung. Beispielgebend dafür ist auch sein in dem Band Fadensonnen abgedruckter Text Die freigeblasene Leuchtsaat,134 der eine zu entfaltende Anlage inmitten einer von Mangel bestimmten Gegenwart, nämlich die »Leuchtsaat/in den unter Weltblut stehenden Furchen« (V. 1f.), zum Thema hat. Umschrieben wird der Holocaust, dem mit der »Leuchtsaat« die Anlage zur Entstehung von etwas Neuem entgegengesetzt wird. Dieses Andersdenken des Todes überlässt diesen nicht den Nationalsozialisten, sondern gibt ihn frei. Die Verschränkung von vermeintlicher Finalität und Potenzialität setzt eine dialektische Bewegung in Gang, wie sie mit Adorno zu erklären ist: »In der Utopie ihrer Form beugt Kunst sich der lastenden Schwere der Empirie, von der sie als Kunst wegtritt.«135 Celan greift die historische Wirklichkeit nationalsozialistischer Gräuel auf und ermöglicht eine Transformation im künstlerischen Medium. Es ist zu konstatieren, »dass das Gedichtgeschehen eine zweite Wirklichkeit [begründet], sei es als alternativer Entwurf, als Gegenwirklichkeit oder schlicht als in sich gültige Gedichtwirklichkeit«.136 Dementsprechend hebt die zweite Versgruppe auf einen ursprünglichen Zustand ab, der hinter einer Schwelle zu entdecken ist: Eine Hand mit dem Schimmer des Urlichts wildert jenseits der farnigen Dämme (V. 4-6) Sowohl die Lokaladverbiale »jenseits« als auch die »Dämme« zeugen von einem utopischen Raum, der noch nicht materiell fassbar ist. Zudem verleiht ihm die Lichtmetaphorik eine abstrakte, geradezu nebulöse Gestalt. Celan schafft einen Ort, der der Realität dadurch enthoben ist, dass er sich außerhalb der Koordinaten von Raum und Zeit befindet. Der kruden Wirklichkeit immer nur vorbehaltlich bis kraß antipathisch verbunden, und gleich misstrauisch gegenüber den Bewegungen der Geschichte wie der Veränderlichkeit der Natur, räumt Celan sich im Gedicht einen Ort ein, wo die Zeit zum Stillstand gebracht wird.137
133 134 135 136 137
Vgl. B. Böschenstein: Der Meridian, S. 171. HKA 8.1, S. 95. T. W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 161. M. Hurna: Einführung in die Lyrik und Poetik Paul Celans, S. 81. P. Rühmkorf: Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen, S. 30.
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Die Zeit ist jedoch nicht als ahistorisch zu verstehen, sondern gewährt einen neuen Blick auf die Vergangenheit, die jenseits der geschichtlichen Belastung auch die Idee einer einstigen, mithin konstruierten, idealen Ur-Zeit zulässt. Sprache vermag in der Celan’schen Dichtung, die gemeinhin »als Totengedenken«138 gelesen wird, die »Beschwörung der Vergangenheit als Widerstand gegen das Vergessen«139 zu leisten. Dass das vermeintlich Verlorengegangene nicht schlichtweg nacherzählt wird, sondern mittels einer neuartigen, subjektiven Perspektive erschlossen wird, offenbart das Ende des zweiten Terzetts, wo sich ein Novum – im Bloch’schen Terminus – aus einem noch unabgegoltenen Rest andeutet: als hungerte noch irgendein Magen als flügelte noch irgendein zu befruchtendes Aug. (V. 7-11) Der Hunger sowie das rätselhafte und hochcodierte Pars pro toto-Bildarrangement des noch zu befruchtenden Auges indizieren die Erwartungshaltung und Utopiebedürftigkeit des Jetzt-Zustandes. Zweimal wird durch das »als« der konjunktivische Charakter hervorgehoben, aus dem heraus ein utopischer Impuls hervorgehen könnte. Insbesondere die Katachrese des Auges, das noch befruchtet werden kann, woraus wiederum potenziell Neues erwachsen würde, verweist auf den Grund des Möglichkeitsdenkens. Prägnant forciert die als-Präposition die Hoffnung, die der indikativ markierten Anwesenheit des Weltbluts als Indiz des Morbiden gegenübersteht. Der Zustand wird dabei in der Schwebe gehalten. Denn das Schauen auf eine verheißungsvolle Ferne schlägt im Text nicht in eine Handlungsoption um. Fasst man Celans poetischen Umgang mit dem Holocaust zusammen, ergibt sich eine Ambivalenz: Einerseits ruft er assoziativ unentwegt den Holocaust und seine Folgen auf, andererseits offenbaren zahlreiche Texte, wie gezeigt wurde, eine potenzielle Sphäre jenseits einer bloß rekonstruktiven Aufarbeitung der realen Vergangenheit. Denn »hinter dem ersten, dem alltäglichen Wort tritt eine zweite, übersinnliche Realität an das Ich heran.«140 Die damit einhergehende Erweiterung von Deutungsmöglichkeiten in Bezug auf diesen utopischen Raum regt zugleich eine breitere literarturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Poemen des Autors an, wofür Goßens optiert.141 Die weiteren Kapitel werden veranschaulichen, dass dadurch performative Gesichtspunkte in den Vordergrund geraten. 138 139 140 141
V. Liska: Die Nacht der Hymnen, S. 142. Ebd., S. 139. C. Göpfert: »Zwischen den Zeilen das Unsagbare sagen«, S. 27. Vgl. P. Goßens: Arbeitsweisen: Wirklichkeitssuche und Materialität, S. 370.
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Ich und Du: Dialogizität im Zeichen des Utopischen
Bislang wurde mehrfach dokumentiert, dass Ambi- und Polyvalenzen sowie dialektischen Relationen eine motivierende Funktion zukommen kann. Dichotomien fordern eine Bewegung zu einem Ausgleich hin. Vorrang kommt im Kontext der modernen Utopietheorien somit der Entwicklung gegenüber der Festschreibung von Idealen zu. Eine utopisch orientierte Poesie bedarf daher spezifischer Beziehungskonstellationen, zwischen Subjekt und Objekt oder zwischen Ich und Du. Die letztgenannte Dyade scheint in Celans Œuvre von einer existenziellen Bedeutung zu sein. Zwei Verse aus dem Gedicht Sie kämmt ihr Haar,142 publiziert im Band Halme der Nacht, belegen paradigmatisch die lebensstiftende Interdependenz: »Sie mischt ihr Lächeln in den Becher Wein: du mußt ihn trinken, in der Welt zu sein.« (V. 5) Stabilität und überhaupt ein In-der-Welt-Sein basieren in der Dichtung Celans auf interpersonalen Verhältnissen. Erst die gegenseitige Wahrnehmung und Ansprache konstituieren eine Existenz und erlauben Entwicklungspotenzial: »Nur das Ich-Du-Verhältnis ist Beziehung, die immer Gegenseitigkeit voraussetzt. Nur im Ich-Du-Verhältnis […] wird somit eine Begegnung möglich. Wahre Begegnung bedeutet insofern immer Berührung und Veränderung für das Ich und sein Gegenüber.«143 So spricht auch Olschner mit Bezug auf die zitierten Verse zu Recht von einer »Poetik der Hoffnung allein durch das Ausgerichtetsein auf die Zukunft.«144 Die utopische Poetik hinter Celans Dialogfeldern schließt verschiedene Schwellenübertretungen ein, welche sich – vereinfacht – auf folgende Bereiche erstrecken: jene 1. zwischen Leben und Tod, 2. zwischen verschiedenen Körpern sowie 3. zwischen Realität und Traum. Zunächst zu ersteren, die im bekannten Text Grabschrift für François145 zum Tragen kommt. Das Gedicht beginnt mit den Versen: »Die beiden Türen der Welt/stehen offen:/geöffnet von dir/in der Zwienacht.« (V. 1-4) Das Gegenüber signalisiert durch das Polyptoton »offen:/geöffnet« die Durchlässigkeit zwischen der Sphäre der Welt und einer anderen, nicht benannten. Das Rätselhafte der letztgenannten Sphäre, die sich als utopischer Raum deuten lässt, wird durch den Neologismus »Zwienacht« als Temporalbeschreibung noch weiter bestärkt. Mit dem Eintritt in den unbekannten Bezirk geht die Verschwisterung zum »Wir« einher. Das Gemeinsame wird in Parallelismen und Parataxen beschworen, wobei die Gemination von »schlagen« als geteilte Hörerfahrung mehrfach codiert ist. Was sich am offensichtlichsten aufdrängt, ist das Zuschlagen der Türen. Gemeint könnten aber auch der Pulsschlag der Herzen oder das Aushalten von Schlägen sein – zwei Vorgänge, die möglicherweise einen Hinweis auf die Erfahrungen im Lager
142 HKA 2-3.1, S. 132. 143 I. Bark: Dichtung des Anderen, S. 37. 144 L. Olschner: Im Abgrund Zeit, S. 94. 145 HKA 4.1, S. 33.
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geben. Für die erste Variante spricht das Setting des Gedichts als Widmung an den nur einen Tag nach Abfassung des Gedichts gestorbenen Sohn Celans. Die Türen repräsentieren die Schwelle zum Jenseits, in dessen Angesicht das Wir »das Ungewisse« »tr[ä]g[t]« (V. 6). Ihm haftet jedoch nichts Bedrohliches an. Im Gegenteil: Durch die Schlusspointe, wonach das Wir »das Grün in dein Immer« (V. 7) bringt, gewinnt es paradiesische Züge. »In nuce entwirft er [Celan] […] das in der Sprache des Gedichts zum Vorschein kommende Intentionale«.146 Diese Beobachtung deckt sich mit dem Realisierungspotenzial des »Grün[s]«. Denn als Inbegriff des Vitalen sowie »Bild lebendiger Erinnerung«147 vermag es – paradoxerweise – im ewigen Totenreich für ein Blühen und Werden zu sorgen. Ferner bildet die Substantivierung des »Immer« die utopische Neubestimmung des Totenreiches in der Sprache selbst ab. Die Ambition des Gedichts Sprich auch du148 reicht noch weiter, da hierin die beiden gegensätzlichen Sphären gänzlich aufgelöst werden. Die erste Versgruppe setzt zu Beginn mit einem dreifachen Appell an ein Gegenüber ein: Sprich auch du, sprich als letzter, sag deinen Spruch. (V. 1-3) Nachdem daraufhin die Figura etymologica im »Sprich –« (V. 4) wiederaufgegriffen wird, deutet sich die Unmöglichkeit der zu tätigenden Aussage an: »Doch scheide das Nein nicht vom Ja« (V. 5). Ziel ist es, »nicht angesichts des Positiven, vielleicht hier noch angesichts des ästhetisch Schönen, das Negative zu vergessen.«149 Letztlich wird Sprache von ihrer mimetischen Funktion entkoppelt. Sie »ist […] nicht nur Material eines Wirklichkeitsentwurfs, sondern sie ist selbst Wirklichkeit […]. Auf diese Weise dient Sprache der Konstituierung einer neuen Wirklichkeit aus Sprache.«150 In ihrer nivellierten Gestalt als poetische Sprache sind Affirmation und Negation eins. Die Vorstellung, dass Sein und Nichts nicht voneinander zu trennen sind, knüpft an eine Beobachtung Kohler-Luginbühls an. Ihr zufolge forciere Celan stets die »Aufhebung dieser Defizienz [der Wirklichkeit] […]. Utopie wird selber zu einer Richtung, einer Blickrichtung oder Perspektive: Betrachtung der Wirklichkeit im Licht ihrer Möglichkeit.«151 Es ist ferner zu konstatieren, dass sich bei ihm »das Gegenwärtige nicht als eine endgültige, sondern als eine offene Erscheinung«152 defi146 147 148 149 150 151 152
C. Grube: Philosophie, S. 267. F. Lampart: Paul Celans »Grabschrift für François«, S. 312. HKA 4.1, S. 63. F. Lampart: Paul Celans »Grabschrift für François«, S. 314. W. Amthor: Schneepart, S. 118. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 266. M. Ostrowski: Utopie bei Paul Celan, S, 187.
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nieren lässt, wobei gerade das Paradox (»Ja« und »Nein«) eine erkenntnisstiftende Wirkung entfaltet.153 Nicht nur der Schatten, der dem Spruch als sinnstützendes Element beigegeben sein soll (Vgl. V. 5f.), als Konfiguration zwischen Materialität und Immaterialität, sondern ebenso ein abstrakter Zeithinweis rückt die utopische Interimszone (auch graphisch) in das Zentrum des Gedichts. So ist in der dritten Versgruppe die Rede davon, dass das Du ihm – entweder dem Schatten oder dem Spruch – so viel geben soll, »als du um dich verteilt weißt zwischen/Mitternacht und Mittag und Mitternacht.« (V. 10f.) In Bezug auf die Hell-Dunkel-Verhältnisse zeigt sich durch das Einschließen des Mittags durch die Mitternacht, in der überdies die »Mitte« enthalten ist, eine Konstellation des Mäanderns: Verwiesen wird auf die Dunkelheit, die den Sprecher umgibt, auf die Todeserfahrung, die nun seine Wahrnehmung so stark beherrscht, dass der Tageslauf nicht mehr vom Morgen zum Abend reicht, sondern […] von der tiefsten Dunkelheit über das Licht zurück in die Dunkelheit.154 Lampart nimmt offenbar an, dass das Ich sich in einer Finsternis befindet. Hoffnung soll hingegen das Du spenden, das die Rolle des Gebenden besetzen soll. Konstitutiv sind die Unbestimmtheit der Umgebung sowie der Bezugspunkt des Personalpronomens »es«. Näheres über die Umgebung erfährt der Rezipient in der vierten Versgruppe: Blicke umher: Sieh, wie’s lebendig wird rings – Beim Tode! Lebendig! Wahr spricht, wer Schatten spricht. (V. 12-15) Die Parenthese markiert eine Leerstelle, da sie die Konkretisierung dessen, was »lebendig wird«, ausspart. Prinzipiell, so lässt sich mit Meinecke argumentieren, repräsentiert das Ungesagte und Offene das Utopische.155 Es äußert sich ferner in einer paradoxen Verschränkung aus Leben und Tod. Denn beim »Tode!« findet sich das »Lebendig[e]!« Celan strebt eine Harmonisierung von solcherlei Dualismen an, wobei das Neue dieser Vereinigung stets die Reste des Wirklichen in sich trägt. Daraus entsteht die Hoffnung auf den Gewinn einer Sprache, die dieses unsagbare Unmittelbare dennoch aussprechen, dennoch es vermitteln könnte. Indem das Gedicht solche Versöhnung von Differenz schlechthin als utopischen Stand von Sprache entwirft, beharrt es zugleich auf seinem Status als eines Gedichts, und es
153 154 155
Vgl. G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 167. F. Lampart: Paul Celans »Grabschrift für François«, S. 314. Vgl. D. Meinecke: Wort und Name bei Paul Celan, S. 232.
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tut dies auch in einer anderen Hinsicht, indem es nämlich in seinem konkreten Sprachvollzug seine Wirklichkeit als sprachlich konstituiert zeigt.156 Die offensichtliche Gemachtheit steht in einem Spannungsverhältnis zum postulierten Wahrheitsanspruch. Dieser tut sich in der Gleichung »Wahr ist, wer Schatten spricht« (V. 15) kund. Wahr ist demnach nur, wer Schatten, interpretiert als Teil des Schattenreiches, ausspricht und damit anerkennt. Analogisiert man die Attribute »Wahr« und »Lebendig«, erscheint die Anwesenheit des Todes (durch die präpositionale Ortsbestimmung »beim«) als Voraussetzung für ein Vorhanden-, Sichtbar- und Vitalsein. Der Autor spart wiederum eine Benennung der Holocaustopfer aus, obgleich sie indirekt bezeichnet werden. Die Opfer erweisen sich als anwesend in und durch die Sprache, obgleich sie physisch abwesend sind. Genau in dieser Interpolarität bewegt sich Celans dynamische Konzeption der Erinnerung, die Projektion, damit auch Antizipatives, und Fehlendes ständig neu in Beziehung setzt. Diese Wechselbeziehung von Utopie und Katastrophe […] wird für Celan zum Modell einer Erinnerungstheorie. Nur der erinnernde Rückgang zu dem Ort, an dem das Menschliche aufs Tiefste erniedrigt wurde, kann eine Utopie entstehen lassen, die sich dem Menschlichen verpflichtet.157 Die konstitutive Relevanz der Negativität in und für Celans Werk hat etwa Schulz ausführlich dargelegt. Gerade aufgrund ihrer dauerhaften Präsenz stellt sich das Utopische in Opposition zur unvollkommenen Realität überhaupt erst heraus: Wenn in der konkreten Entlarvung real produzierter Entstellung das erlittene Negative sich zugleich als im Gedicht Reflektiertes und bewußt Gesetztes zeigt, dann rückt es indessen zuletzt in die Nähe desjenigen Negativen, dem vom Gedicht her – im Sinne der Utopie als Denk- und Anschauungsform – die Aufgabe zufällt, das Gegenständlich-Faktische im Lichte seiner Möglichkeiten zu deuten. Utopie im Sinne der kontrafaktischen Optik und Zeitkritik liegen nebeneinander.158 Das Wechselspiel zwischen Faktischem und Potenziellem im vorliegenden Gedicht betrifft die Lebenden und Toten wie gleichsam das Ich und das Du. Die Möglichkeitsdimension des Textes wird in der letzten und größten Versgruppe kontrastiert durch den schrumpfenden Raum, »wo du stehst« (V. 16). Darüber hinaus wird das Du als »Schattenentblößter« (V. 17) in offensichtlichen Orientierungsnöten beschrieben. Des Schattens verlustig geworden, scheint es in eine Identitätsverunsicherung geraten zu sein. Aus dieser erst späten Beschreibung des Gegenübers des Ich erklärt sich der hehre Imperativ zum Aussprechen, der am Anfang des 156 157 158
G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 147. F. Schößler/T. Tunkel: Utopie und Katastrophe, S. 134. G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 277.
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Textes zu vernehmen ist. Die poetische Sprache nimmt dabei einen evokativen, schöpferischen Duktus an,159 vermag die Realität offensichtlich zu verändern. Sie kann daher auch die defizitäre Situation des Du – als Voraussetzung des Utopischen –160 einer Transformation unterziehen. Genauer wird die Herstellung eines Schattens als Möglichkeit artikuliert. Die Jetztzeit ist wie in Celans gesamtem Werktableau stets auf ihre Zukünftigkeit hin zu lesen.161 Der elliptische Appell des Subjekts »Steige. Taste empor.« (V. 18) animiert dazu, aus der unbefriedigenden, schwindenden Horizontalen in die Vertikale zu gehen. Der Vers liest sich als eine Chiffre für die anzustrebende Transzendenz. Das Du wird »unkenntlicher, feiner« (V. 19) und schließlich zu einem »Faden,/an dem er herabwill, der Stern« (V. 20f.). Dass der Stern, leuchtendes Signum des Neuen, nicht unmittelbar, als nachgestellte Apposition benannt wird, demonstriert die Sukzessivität und Progressivität der poetischen Sprache. Die denkbare Ankunft des Sterns auf der Erde, ermöglicht durch das Du als Medium und Brückenbauer, hat eine Harmonisierung zweier Sphären zur Folge. Zugespitzt lässt sich mit Bielik-Robson festhalten: »Celans Gott ist die fundamentale Du-heit.«162 Denn als Faden dient es der Verwebung, zwischen oben und unten, und – bezogen auf das zuvor erwähnte Ineinander von Tod und Leben – möglicherweise Dies- und Jenseits, Wirklichkeit und Möglichkeit. Bei genauer Betrachtung gerät zuletzt gerade das Unmögliche in den Fokus. Denn der personifizierte Himmelskörper intendiert lediglich, über den Faden in den irdischen Raum zu sinken, wobei er gleichzeitig seine ursprüngliche Fixierung nicht aufzugeben scheint. Um die Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit noch deutlicher zu evozieren, nutzt Celan zuletzt eine katachretische Bildkomposition. Einerseits avisiert der personifizierte Stern mit seinem Spiegelbild bzw. seinem Abbild, im Wasser zu »schwimmen« (V. 22). Andererseits manifestiert sich dieser Vorgang in der »Dünung« (V. 22), einem sandigen, trockenen Gebiet. Da der Doppelpunkt eine Gleichung suggeriert, finden hier keine parallelen Vorgänge statt. Die Sternspiegelung äußert sich auf dem Wasser und Land gleichermaßen. Sie ist im poetischen Rahmen dasselbe. Das »Schimmern« (V. 23) innerhalb des Bildbruchs untermalt die utopische Grundierung des Textes, weil es sich jenseits des Wassers in einem eigentlich inadäquaten Medium zeigt. Der Neologismus »Dünung« avanciert zum Inbegriff gesteigerter Potenzialität. Gemeinsam mit den Wortumbildungen und Wortneuschöpfungen stellen die Umkehrungen einen Ort sprachlicher Konzentration dar; wo indessen die Neuschöpfungen implizit das Ausdrucksvermögen der zur Verfügung stehenden 159 160 161 162
Vgl. O. Pöggeler: Spur des Worts, S. 350. Vgl. W. Voßkamp: Emblematik der Zukunft, S. 5. Vgl. F. Schößler/T. Tunkel: Utopie und Katastrophe, S. 133. A. Bielik-Robos: Nach dem Bilde des Schweigens, S. 176.
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Sprache diskreditieren, dort vollzieht sich in den Umkehrungen ganz offen eine Gegenbewegung gegen erstarrte Formen der Sprache selbst, gegen fixierte, im Gebrauch normierte Redeweisen.163 Der Hinweis auf die personifizierten, »wandernde[n] Worte« (V. 23) unterstreicht zum einen Dynamik, ergo das allmähliche Sich-Formen des Noch-NichtGewordenen, zum anderen wiederum die poetologische Gesamtdimension des Textes, wie sie schon zu Beginn in der Referenz auf die Sprache als »Realitätsentwurf«164 zum Ausdruck kommt. Die Schaffung des Unmöglichen wird somit als poetischer Akt erkennbar. Neben der ersten Schwellenübertretung zwischen Leben und Tod äußert sich die zweite auf der Ebene der Körper, beispielsweise in dem von Celan dezidiert als Liebesgedicht angelegten Text165 Mit allen Gedanken ging ich.166 Der Text handelt von einem Subjekt, das »hinaus aus der Welt« (V. 2) »geht« und dort auf sein Gegenüber, bezeichnet als »meine Offne« (V. 3), trifft. Charakteristisch für die Poetik des Autors steht die Beziehung zwischen dem »uns«, das sich aus dem Ich und dem Du zusammensetzt. Letzteres könnte eventuell auf die zur Entstehungszeit in einer Klinik befindliche Nelly Sachs verweisen.167 Das Verhältnis zwischen Ich und Du steht im Gedicht Zeichen der Paradoxien: Wer sagt, daß uns alles erstarb, da uns das Aug brach? Alles erwachte, alles hob an. (V. 5-8) Das Du befindet sich im Jenseits. Obgleich »das Aug brach«, der Blickkontakt verschwand, liegt dem Parallelismus im vierten Vers des Quartetts eine positive Stimmung zugrunde. Das Sterben steht dem Erwachen gegenüber. Die darauffolgende Versgruppe unterstützt den Eindruck durch das Bild einer von der Sonne herkommenden Helligkeit. Indem ihr »gebieterisch« (V. 11) »Seele und Seele entgegen[stehen]« (V. 10), werden Assoziationen zur heidnischen Sonnenanbetung aufgerufen. Deutlich kommt hierbei der Einfluss der beiden in der Metonymie der Seele angelegten Personen auf das kosmische Ganze zum Ausdruck, da sie dem Gestirn die »Bahn« (V. 12) vorgeben. Die Wirkungsmacht von Ich und Du thematisiert ferner die vierte Versgruppe. Nachdem diese die Begegnung der beiden als sexuelle Vereinigung preisgibt, wird
163 164 165 166 167
G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 233. A. Bánffi-Benedek: »durch die tausend Finsternisse todbringender Rede…«, S. 105. Vgl. B. Wiedemann: Kommentar, S. 789. HKA 6.1, S. 23. B. Wiedemann: Kommentar, S. 789.
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die Zeugung als thematisches Zentrum des Gedichts erschlossen, wobei Körper und Geist, Physik und Metaphysik gleitend ineinander übergehen: Leicht tat sich dein Schoß auf, still stieg ein Hauch in den Äther und was sich wölkte, wars nicht, wars nicht Gestalt und von uns her, wars nicht so gut wie ein Name? (V. 13-19) Der Hauch des Schoßes führt in das himmlische Gefilde, den archaistisch bezeichneten Äther, und nimmt, wie die rhetorische Frage insinuiert, »Gestalt« (V. 17) an. Aus dem Immateriellen geht somit allmählich eine Gegenständlichkeit hervor. Die Umschreibung für die Kindszeugung endet mit der Frage nach einem Namen. Die Suche nach einer adäquaten sprachlichen Repräsentation bzw. Identifikation spielt zugleich auf die ästhetische und poetologische Dimension des Gedichts an. Im Fokus steht erneut der für Celans Werk typische Herausbildungsprozess durch Sprache,168 die wiederum als Medium der Erkenntnisstiftung in utopischer Hinsicht fungiert. Man darf dazu besonders die Leerstellen des Poems in Anschlag bringen, die als Anlage einer weiteren Konkretisierung und Entfaltung bedürfen. Zu erwähnen ist etwa das geminative »alles« (V. 6) sowie das Offene im Du, für dessen Absenz in der Lebenswelt keine Gründe genannt werden. Die Frage nach dem Namen lässt sich als Höhepunkt des Ringens um eine sprachliche Bewusstwerdung dessen verstehen, was aus der Zeugung zwischen Ich und Du heraus noch im Entstehen befindlich ist. Die Fragilisierung der Körpergrenze berührt auch den Komplex von Wunde und Schutz. Im Poem Ein Körnchen Sands169 fungiert ein Baum als Schutzraum für das Gegenüber des Ich. Nachdem dieses das Du zunächst als Stein »schnitzt« (V. 1), genau in jenem Moment, »als die Nacht ihre Wälder verheerte« (V. 2), demnach ein Unheil über die Welt hereinbricht, heißt es: »ich schnitzt dich als Baum/und hüllt dich ins Braun meines leisesten Spruchs/wie in Borke – » (V. 3-5). Der Baum garantiert einen festen Rahmen, die Borke eine starke Hülle. Überdies stellt der Spruch das zentrale Element dar, das Geborgenheit gewährt. Die Sprache als Medium der Wunde und Verletzung, wie sie der Leserin bzw. dem Leser so oft bei Celan begegnet, besitzt offenbar auch das Potenzial, etwas zu verschließen und zu behüten. Die offene Stelle zwischen Körper und Raum ist als Gestaltungsform der Poesie, mithin als Gedicht, aufzufassen:
168 Vgl. P. Goßens: Arbeitsweisen: Wirklichkeitssuche und Materialität, S. 368. 169 HKA 4.1, S. 19.
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Herausgefallen aus der Zeit, existiert das Gedicht nunmehr als Wunde, in der Verletztes und Verletzendes enggeführt werden. In der Wunde erscheint das Paradox als konstitutive Voraussetzung der Celanschen Dichtung […]. Celans paradoxe Figuren […] sind der Ort, an dem die Hoffnung zum Ausdruck kommt, die Logik des Sprechens könne für den Anspruch eines Anderen geöffnet werden.170 Selbst wenn Wunden, die sich abseits der rein körperlichen Versehrung auch in der Sprache abzeichnen,171 zunächst als Störungen begriffen werden, eröffnen sie das Potenzial zum Austausch zwischen innen und außen. Sie markiert einen durch Gewalt entstandenen Einschnitt wie auch eine Zone der Begegnung: Die zeichenhaft gespeicherte Erinnerung an Gewalt und Ermordung durchkreuzt jedoch das Identisch-Werden in der Wunde. Die ›Erinnerungs-Wunde‹ ist immer unzugänglich, immer geht es ihr auch um ein Nicht-ganz-bei-den-Toten-Sein. Die Durchlässigkeit der Wunde eröffnet einen Möglichkeitsraum der Begegnung.172 Wunden bilden das eigentlich dynamische Element in Celans Poesie und geben eine signifikante Analogie zur dialektischen Bewegung in der Bloch’schen Theorie zu erkennen. Im vorliegenden Gedicht mäandert die Bewegung zwischen den Polen Verletzlichkeit und Festigkeit. Das Du als Baum birgt Unterschlupf für den in der dritten Versgruppe benannten Vogel, der allerdings »der rundesten Träne entschlüpft« (V. 7) ist. Gesteigert wird die die Pflanze umgebende Trübnis noch durch die Präsenz des Todes, der den Boden zum Glühen bringt. (vgl. V. 15) Aus der depravierenden Umgebung weist nur der Ich-Du-Dialog einen Weg. Die Hoffnung der beiden kapriziert sich auf das titelgebende Sandkorn. »Bis unter allen den Augen ein Sandkorn dir aufglimmt« (V. 10), soll der Baum warten. Indessen verrät das lyrische Ich dem Du, dass es einstmals einen Schlüssel hatte, um zu ihm zu gelangen, insofern es »mir träumen half,/als ich niedertaucht, dich zu finden –« (V. 13). Die Parenthese markiert eine Leerstelle. Wahrscheinlich impliziert sie das in der letzten Versgruppe angesprochene Wurzelreich. Während das Ich durch das Sandkorn in die Tiefe gelangt ist, drängt es die Wurzeln des Du zur Oberfläche des Grunds. Die Gegenwart des Todes, die den Naturraum zur Hölle kippen lässt, motiviert die beiden zur Transzendierung. »Du reckst dich empor« (V. 15), sagt das Textsubjekt zu seinem Gegenüber. Das vertikale Wachstum kann als Moment der utopischen Überschreitung der bedrohlichen Gegenwart betrachtet werden. Damit die Bewegung nicht ziellos verläuft, sieht sich das Ich in einer aktiven, gestalerischen Rolle. An die poetisch evozierte Verwandlung des Du in einen Baum koppelt sich dessen eigene Metamorphose in ein Blatt. Es gibt die Richtung an und »schweb[t] dir voraus« (V. 17). Nur die dialogische Beziehung macht es möglich, sich gegenseitig zu 170 F. Schößler/T. Tunkel: Utopie und Katastrophe, S. 122. 171 Vgl. I.-K. Patrut: Im »Wundenspiegel«, S. 178. 172 Ebd., S. 179.
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emanzipieren. Für »Celan ist die Sprache nicht primär im Gespräch mit sich selbst begriffen, sondern sie zielt auf Ansprache,«173 auf Veränderung und Motivation des anderen. Gipfelpunkt des gemeinsamen Aufbruchs aus der zerstörerischen Atmosphäre bilden in der Schlusspointe die sich öffnenden Tore, referierend auf einen noch unbekannten, zu entdeckenden Ort. Verwurzelung und Entwurzelung stellen in dem Gedicht die Pole einer dialektischen Spannung dar. Erst diese Inkongruenz aus Ist- und Soll-Zustand befördert die utopische Antizipation im Bild eines sich befreienden, in die Natur projizierenden und aufbrechenden Paares. Jenseits der skizzierten Überschreitung der Grenzen zwischen den Körpern kommt auch jene zwischen Realität und Traum vor. In dem nachgelassenen Gedicht Die Pole174 sehen sich Ich und Du zunächst »im Wachen« (V. 4) mit »unübersteigbar[en]« (V. 3) Widerständen konfrontiert, welche sich in dem titelgebenden Gegensatzpaar manifestieren. Sie äußern sich nicht außerhalb, sondern innerhalb des Duos (vgl. V. 2). Aufgrund dessen lassen sich beide auf einen anderen Zustand ein: »wir schlafen hinüber, vors Tor/des Erbarmens« (V. 5f.). Sobald die Schwelle,175 benannt in der Apposition, überschritten ist, ergibt sich für das lyrische Ich die Option, durch Sprache eine eigene Wirklichkeit zu evozieren, wozu es auf sein Gegenüber angewiesen scheint. So fordert dieses auf: sag, daß Jerusalem ist, sags, als wäre ich dieses dein Weiß, als wärst du meins, als könnten wir ohne uns wir sein (V. 9-14) Bereits durch den Hinweis auf das »Tor/des Erbarmens« (V. 5f.), möglicherweise eine Allusion auf Celans »Besuch an dem zugemauerten Tor, durch das vor der Zerstörung des Tempels der ›Sündenbock‹ getrieben wurde,«176 wird eine religiöse Bedeutungsebene offensichtlich. Das Aussprechen von Jerusalem als Sprachakt präzisiert den Ort hinter der zu überwindenden Grenze. Es könnte dem in der 173 174 175
176
D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 54. HKA 14, S. 319. Inspiration für das Gedicht war ein Brief von Shumeli an Celan, in dem er von einer möglichen Rückkehr nach Jerusalem spricht. Vgl. B. Wiedemann: Kommentar, S. 1236. Die Schwelle stellt für Celan ein zentrales Moment seines Denkens und Dichtens dar. »Als liminaler Ort markiert sie Zwischenzustände und -positionen: zwischen Leben und Tod, zwischen Wachen und Schlaf bzw. Traum, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwischen Ost und West, zwischen Menschen, zwischen Sprache und Schweigen, Verstummen, Verstummtsein.« M. May: Von Schwelle zu Schwelle, S. 65. B. Wiedemann: Kommentar, S. 1236.
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Diaspora befindlichen jüdischen Volk als Heimstätte dienen. Die Verwendung des Konjunktivs expliziert hingegen die damit einhergehende utopische Dimension. Es liegt angesichts des Irrealis nahe, das Jerusalem, das sein soll, unabhängig von seiner echten Gegebenheit in der Welt, als eine poetische Chiffre zu interpretieren. In Israel und speziell in Jerusalem trifft C. auf den festen Grund seiner Dichtung und seines Daseins: die einigende Versammlung alles Getrennten. Es ist die Erfahrung des Gedichts und des Lebens als Moment der Atemwende, in der die Zeit still steht und die Gegenwärtigkeit des Anderen als eine unerschütterliche Dauer hervortritt.177 Die Zeit bleibt bei Celan in Bezug auf Israel stehen, wodurch er einen Zustand zwischen Vergangenheit und Zukunft avisiert. Dieser unmögliche Stillstand erinnert an Blochs Dunkel des gelebten Augenblicks. »Es [das Dunkel] bleibt in seiner Schlafkammer; aktuelles Bewußtsein ist gerade nur in bezug auf ein eben vergangenes oder für ein erwartet anrückendes Erlebnis und seinen Inhalt da.«178 Es kommt daher einem nicht zu realisierenden Versuch gleich, die Gegenwart jenseits unmittelbarer Verlusterfahrung wahrzunehmen. Dass die Stadt im Zuge dessen neu imaginiert bzw. be- oder überschreibbar wird, legitimiert die sich an den Einzelvers »als könnten wir ohne uns wir sein« (V. 14) anschließende Versgruppe. Sie geht von der allgemein-religiösen Ebene zur individuellen des Ich und Du. Die Beschreibung »ich blättre dich auf« (V. 15) rekurriert auf die zuvor erwähnte Möglichkeit, das »Weiß« für das Du zu sein. Diese Anspielung auf die literarische Praxis, die Seiten zu füllen, hebt auf einen Schaffensprozess, ausgehend von der dialogischen Beziehung, ab: Zum einen könnte er die konkrete Ausgestaltung der Beziehung beider zueinander berücksichtigen, zum anderen sich auf ein neues Jerusalem beziehen. Somit gleichen sich Sozialund Individualutopie an. Bogumil-Notz sieht in diesem Moment der umfassenden Aufhebung von Grenzen das Potenzial zur Überwindung einer rein körperlichen und realen Existenz: Das Gedicht Die Pole baut auf dieser Ausschaltung der chronologischen Zeit, damit aber dem Heraustreten aus der Geschichte und schließlich aus der habituellen Semantik der Sprache auf, um das nunc stans der Atemwende zu feiern. Der »Lichtton« der absoluten Identität deutet sich an, in dem die »Pole« von Ich und Du, von Leben, Sprechen und Schweigen überwunden sind, Schein zum Sein wird, beten, betten und blättern sich entsprechen. C. ist in der »neue[n] Welt des Geistes« […] angekommen.179
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S. Bogumil-Notz: Zeitgehöft, S. 129. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 338. Ebd., S. 130.
5. Das Leben im Tod finden
Diese Erschließung auf der Projektionsfläche des Du, die im Aufblättern metaphorisiert wird, stellt jedoch nur einen Teil eines das Gedicht abschließenden dialektischen Prozesses dar. Das Komplement bzw. der Gegenpol wird postuliert im Akt des »Bette[ns]« (V. 16), aktiv vorgenommen vom Du. Das Zudecken ist kein unveränderlicher Zustand, sondern lässt Veränderung zu und wird bildlich gebrochen. Das Betten ist dabei in eine neologistische Wendung implementiert: »Du bettest/uns frei.« (V. 16f.) Öffnen und Schließen, Auf- und Zudecken repräsentieren zuletzt eine Wechselbewegung, die im Gegensatz zur Festlegung auf ein reines Zu- oder Aufdecken ein potenzielles Novum aus der Dynamik generiert.180 Gerade die Verwendung von Wortneuschöpfungen folgt einem emanzipativen Impuls. Denn Celan richtet sich gegen eine durch die Vergangenheit belastete und durch Automatisierung leer gewordene Sprache. Die Infragestellung der literarischen Bilder in Form von Metaphern und Vergleichen dient dazu, dem Wort selbst seinen Wert zurückzugeben, es von den festgelegten, automatisierten Beziehungen – grammatischen und semantischen – zu befreien.181 Celan sucht nach einer verlorenen Sprache und strebt zugleich danach, mit dem gefundenen und vorhandenen Sprachmaterial eine neue Weise des Ausdrucks zu kreieren. Nur so vermag er der gewissermaßen infizierten Sprache der Zerstörung eine widerständige und schöpferische Haltung entgegenzusetzen. Er schreibt sich frei, ohne den Halt in der Erinnerung an eine ›vergangene‹ und noch nachwirkende Sprache zu verlieren. »Das Poem ist eine Hymne auf die große Geborgenheit in der absoluten Freiheit«,182 die wiederum einen Kern in Celans utopischer Poetik darstellt.183 Aufgeladen wird die visionäre Pointe zudem durch die bereits erwähnte religiöse Konnotation. Das parallelistische Sprachspiel »du betest, du bettest« (V. 16) verknüpft den Übergang in das Reich des Träumens (»Betten«) mit dem Beten, das eine metaphysische Sphäre adressiert. Um den utopischen Wirkungsgrad der Ich-Du-Beziehungen noch umfassender auszuführen, soll die Analyse durch einen genaueren Blick auf Liebesgedichte komplettiert werden. Diese betreffen allen voran jene, die Celan Ingeborg Bachmann zueignete. Zu ihnen zählt beispielsweise Der Tauben weißeste184 aus dem Band Gegenlicht. Ort der Liebe ist ein Nicht-Raum, den das zweite Quartett konturiert: 180 181 182 183 184
Vgl. ebd. M. Pufal: Paul Celans Gedichtband Sprachgitter, S. 234. S. Bogumil-Notz: Zeitgehöft, S. 130. Vgl. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 37. Ebd., S. 121.
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Aus meiner Hand nimmst du die große Blume: sie ist nicht weiß, nicht rot, nicht blau – doch nimmst du sie. Wo sie nie war, da wird sie immer bleiben. Wir waren nie, so bleiben wir bei ihr. (V. 5-9) Alludierend auf Rilkes den Weltinnenraum beschreibende Rosenkonzeption, versteht sich Celans Blume als ein Verschmelzungspunkt, der bezüglich der konkreten Beschreibung im Vagen liegt. Denn die Blume, farblich nicht markiert und daher ungegenständlich,185 lokalisiert sich, »wo sie nie war« (V. 7) – in den Händen des Du. Dagegen spricht jedoch der letzte Vers. Wenn das Wir nie gewesen ist, wie soll es dann über Materie verfügen, bei der es zu bleiben gewillt ist? Celans Text formuliert doppelte Verneinungen und überführt ein gegenständliches Setting – das Geschenk einer Blume – in einen abstrakten Potenzialitätsraum, der Sein und Nicht-Sein integriert. Da die parallelistische Dreierfigur auf die Farben der französischen Fahne verweist, wird Paris als Celans später Wohnsitz, weit entfernt von der in Österreich lebenden Bachmann einerseits assoziativ aufgegriffen, andererseits verweist die Negation der charakteristischen Kolorierung auf einen neuen Raum. Er ist bereits in der ersten Versgruppe der beiden Quartette angedeutet. Skizziert wird eine gleich mehrfach als »leise« (V. 2) und »stille« (V. 3) beschriebene Landhausszenerie. Das Auffliegen einer weißen Taube – als Hochzeitsmotiv – motiviert das lyrische Ich zum Bekenntnis: »ich darf dich lieben!« (V. 1) Daraufhin tritt ein »Baum« in die »Stube« (V. 3), woraus es schließt: »Du bist so nah, als weiltest du nicht hier.« (V. 4) Bezeichnenderweise belässt Celan das einleitende Quartett im Gegensatz zum abschließenden im Präteritum. Bereits in der Vergangenheit wird die Natur für beide zum Projektionsraum ihrer Liebe, der scheinbar Unmögliches vollbringt. Indem der personifizierte Baum sich offensichtlich von seinen Wurzeln löst und somit als Inbegriff der Überschreitung physikalischer Gesetzmäßigkeiten zu verstehen ist, wird die Beziehung in einen imaginären Raum gerückt. Dass er unter den Vorzeichen des Utopischen steht, vermittelt die paradoxe und für die Gesamtgestaltung des Gedichts prägende Fügung im vierten Vers. Die konjunktivische Wendung »als weiltest du nicht hier« kontrastiert die sich einstellende Naherfahrung. Die utopische Dimension des Werks eröffnet sich gerade in diesem Ineinander sich eigentlich ausschließender Begebenheiten. Die dialogische Konstellation aus Ich und Du stellt es her, indem beide die geografische und natürliche Distanz zu überwinden versuchen, ohne die Differenz jedoch je ganz auflösen zu können. Ist- und Soll-Zustand stehen daher in einem dynamischen Verhältnis zueinander. 185
Bedeutungsoffenheit wird hier auch durch die Negation der mit symbolischen Codierungen einhergehenden Farben der Blumen erzeugt. Celan subvertiert Gleichsetzungen wie rot als Ausdruck der Liebe bzw. Blau als Anspielung auf die Poesie. Die Vermeidung der Zuschreibung schafft Raum für eine noch nicht vordefinierte Blume.
5. Das Leben im Tod finden
Auch im ebenfalls Ingeborg Bachmann zugeeigneten Poem Lob der Ferne,186 publiziert im Band Mohn und Gedächtnis, wird die naturgegebene Trennung der Körper von Ich und Du zum Thema. Sie bildet den Ausgangspunkt von Umkehrungen. Schon mit dem Titel weist C. zudem auf den von ihm formulierten Anspruch hin, aus dem ›Gedächtnis‹ heraus Neues zu schaffen […]. Das Wortpaar weist auf das […] Spannungsverhältnis zwischen Traum und Rausch auf der einen sowie Realität und Erinnerung auf der anderen Seite voraus.187 Wie dem Widmungsgedicht Der Tauben weißeste scheint die im Hintergrund des Textes firmierende Liebe zwischen Celan und Bachmann erneut einen Zwischenraum zu begründen. Dieser tritt im refrainartigen Vers »Im Quell[] deiner Augen« (V. 1, 3, 11, 15) zutage, in dem die physikalischen Gesetze der Wirklichkeit an Geltung verlieren und Tote zu sprechen vermögen. Das lyrische Ich scheint sich im Pars pro toto des Herzens als bereits gestorben wahrzunehmen: »Hier werf ich,/ein Herz, das geweilt unter Menschen,/die Kleider von mir« (V. 5f.). Es begibt sich in das im Leitmotiv der Augen eingefasste Meer und liefert sich aus: »Schwärzer im Schwarz, bin ich nackter« (V. 8). Obgleich gerade die Dopplung des Schwarzen, die Nacktheit und nicht zuletzt der Tod des Subjekts eine Verlorenheit insinuieren, verspricht das bereits in der ersten Versgruppe aufkommende Motiv des »Garn[s]« ein Momentum der Zuversicht. Die Netze erweisen sich als mehrfach codiert. Sie stehen für das Einfangen des oder der Geliebten wie gleichsam dessen oder deren Halt. Um diese Spannung auszudrücken, verwendet Celan mehrere Oxymora wie »wir scheiden umschlungen« (V. 14) und »Abtrünnig erst bin ich treu« (V. 9). Die Pole sind präsent und konturiert und finden sich doch in einem Ineinander wieder. Bezieht man die Ferne im Titel und die Widmung an Bachmann ein, liegt der Gedanke nahe, von einer realen Distanz zwischen Ich und Du auszugehen. Celans sprachliche Komposition steht im Zeichen von erhoffter Nähe und dem Bewusstsein der Differenz. Letztere scheint sich allein im Poetischen aufzuheben. Jene utopische Möglichkeit ist geknüpft an eine spezifische Form der Selbstwahrnehmung. Denn der zentrale Vers »Ich bin du, wenn ich ich bin« (V. 10) impliziert, dass sich Hybridität unter einer Bedingung durchaus herstellen lässt, nämlich sobald das Subjekt zu seiner Identität, also dem utopischen Zustand der Überwindung der Entfremdung, gelangt. »Konkret gewordene Utopie gibt den Schlüssel dazu, zur unentfremdeten Ordnung in der besten aller möglichen Gesellschaften.«188 Die Anwesenheit des Komplements zum Ich ist dafür zwingend notwendig, da die Realisierung nur im
186 HKA 2-3.1, S. 56. 187 J. Seng: Mohn und Gedächtnis, S. 59. 188 E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 33-42), S. 728.
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Quell der Augen, als Ort lebensschenkender Energie, erfolgen kann. Die Todesmotivik in der katachretischen Schlusspointe »Im Quell deiner Augen/erwürgt ein Gehenkter den Strang« (V. 16) offenbart trotz der finsteren Konnotation den Höhepunkt der utopischen Praxis des Gedichts. Nachdem die Ferne zur Nähe verkehrt wird und Ich und Du in gewisser Weise ineinanderfallen, wird schließlich der Tod überwunden. Genauer kann konstatiert werden, dass der Akt der Tötung reversibel wird und der revitalisierte Gehenkte nun das Mittel seiner Hinrichtung eliminiert. Dieser Umcodierung ist die utopische Wendung inhärent, die Sphäre des Todes zu jener des Lebens zu verwandeln. Erst die dialogische Anlage des Gedichts eröffnet damit das Potenzial, die Grenze zum Jenseits zu durchbrechen. In dieser Zukunftsorientierung besteht nach Bloch der alle künstlerischen Produkte verbindende »Vor-Schein«.189 Das Du bildet dabei eine Chiffre der Hoffnung und wird funktional in dem Motiv des Ankers verwandt. »Wo du bist – utopisch, plötzlich, anarchistisch, jenseits von Recht und jedem Kalkül der Erwartung – dort kann auch Ich sein […]. Eine Relation erweist sich als die ›Erlösung‹ des traumatisierten Subjekts.«190 Dieser Grundzug zeigt sich etwa in dem Poem Wirfst du,191 das 1966 in der psychiatrischen Klinik in Paris entstand.192 Mit der rhetorischen Frage an das Du, ob es den »beschrifteten/Anker« (V. 2f.) auswerfen könne, wird im Dialog zwischen dem Textsubjekt und seinem Gegenüber schon zu Beginn ein poetologisches Anliegen offensichtlich. Im Gegensatz zur erhofften Verankerung bekundet der sich daran anschließende Einzelvers »Mich hält hier nichts« (V. 4) die Delokalisierung des Ich. Die Opposition zwischen Heimatsehnsucht und -verlust ist tragend für das Schaffen Celans und ordnet das Gedicht in den Gedankenhorizont der Meridian-Rede ein: Immer wieder kreisen Splitter der Poetik um das Woher und das Wohin, Verbindungen und einen Meridian suchend. Ein Meridian dieser Art ist es, der den Heimkehrenden mit seinem Anfang, die Heimkehr mit der Herkunft verbindet, wenngleich die Herkunft als Heimat unerreichbar ist, weil es sie nicht (mehr) gibt.193 Die fundamentale Erfahrung der Fremdheit wirkt im vorliegenden Text zugleich als Initiationsmoment für einen intendierten Aufbruch, der sich in dem dreifachen, anaphorischen Parallelismus 189 190 191 192 193
Vgl. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 198. A. Bielik-Robson: Nach dem Bilde des Schweigens, S. 175. HKA 11, S. 80. Vgl. B. Wiedemann: Kommentar, S. 973. L. Olschner: Im Abgrund Zeit, S. 53.
5. Das Leben im Tod finden
nicht die Nacht der Lebendige, nicht die Nacht der Unbändigen, nicht die Nacht der Wendigen (V. 5-7) mit einer Abkehr verbindet. Das Andere und Utopische im Sinne des Noch-NichtGewordenen deutet sich allenfalls ex negativo an: »Aus der Negation […] und der Umdeutung […] versucht der Autor aus der Dichtung etwas Lebendiges zu schöpfen.«194 Daher mündet die Ortlosigkeit bezeichnenderweise nicht in einer banalen Ausformulierung einer präzisen, bekannten Lokalität. Dafür spricht der mehrfache Ausschluss, der im Übrigen mit der Distanzierung von den »Lebendigen« (V. 5) auch einen Hinweis auf die Toten, die Holocaust-Opfer, enthält. Statt mit dem Anker an einer Stelle auszuharren, soll das Du, welches bei Celan immer auch mit dem Fernen und dem Futur assoziiert wird,195 das Textsubjekt anderswohin begleiten, wie der abschließende Imperativ »Komm« (V. 8) signalisiert. Hierin äußert sich die für dessen Lyrik allgemein konstitutive »ethische Dimension, in der es um die Verpflichtung durch den Anderen […], um Liebe und Solidarität geht.«196 Neues Terrain, das vage bestimmte »Unbezwungene Zelt« (V.9), steht dabei im Zentrum der Erschließung sowie des von Göpfert benannten »Bewusstseinsaufbruch[s] in eine spirituelle Dimension«.197 Sie wird mit einem Ort verknüpft. Allerdings lässt sich dieser nicht materiell fassen, sondern verbleibt im Bereich einer unscharfen Imagination. Man könnte ihn, wie Ostrowski vorschlägt, auch als das Poem selbst bezeichnen: »Im Kunstbereich erhofft sich also Celan, ein Gebiet zu erschaffen, dies zeigt sich auch im einzelnen Gedicht, das einem Utopie-Ort entspricht.«198 Entscheidend ist, dass weder das Ich noch das Du allein dazu in der Lage sind, sich Zugang zur visionären Topografie zu verschaffen. Zum Betreten sollen beide das schwer Bewegliche mobilisieren, indem sie den »Türstein« (V. 8), eine Korrespondenz zum fixierenden »Ankerstein« (V. 3), eben vor die Stoffbehausung »wälz[en]« (V. 8). Mit einem Kraftakt betreiben sie ein Nach-vorne-Streben und dringen so in eine unbekannte Zone vor, die genauer sich vorzustellen letztlich der Anstrengung des Rezipienten obliegt. Zum Ich-Du-Verhältnis zählt in einem umfassenderen Sinne auch die generelle Einbeziehung der RezipientInnen bzw. Rezipienten. Dieser ist immanenter Teil der wirkungsästhetischen Grundausrichtung von Celans Lyrik. Exemplarisch vermittelt diese Dimension der Text Was näht 199 aus dem Band Schneepart. Er zeichnet
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M. Fisch: »Wer wusste je das Leben recht zu fassen«, S. 75. Vgl. F. Schößler/T. Tunkel: Utopie und Katastrophe, S. 130. O. Pöggeler: Spur des Worts, S. 334. C. Göpfert: »Zwischen den Zeilen das Unsagbare sagen«, S. 26. M. Ostrowski: Utopie bei Paul Celan, S. 186. HKA 10.1, S. 18f.
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sich sowohl durch die Ansprache eines Du als auch durch den »performative[n] Gebrauch der Leerstelle, des leeren Raums«200 aus, wodurch der Leser spezifischen Deutungs- und Vorstellungsherausforderungen ausgesetzt wird. Der Text setzt mit den rhetorischen Fragen »Was näht/an dieser Stimme? Woran/näht diese/Stimme/diesseits, jenseits?« (V. 1-5) ein. Das Nähen signalisiert den Versuch des Verbindens der hier angesprochenen antithetischen Sphären und wird an die Stimme gekoppelt. Der Hinweis auf die »Abgründe« (V. 6), die »eingeschworen auf Weiß« (V. 7) sind, hebt auf das zu füllende Papier ab, dessen Beschriftung eben die Kluft zwischen zwei Welten schwinden lässt. Auch weitere paradoxale Sprachspiele wie »Ankunft,/Abkunft« (V. 26f.) deuten eine zu überwindende Distanz an, für die die zu Beginn erwähnte Stimme als Brückenbauerin dienen kann. Angesprochen wird dafür das Du, das eine »Schneenadel« (V. 9), offenbar auf eine Nadel aus der Bronzezeit verweisend,201 schlucken soll. Sie gehört zu den diversen Leerstellen des Textes, die spezifische, hermeneutische Anstrengungen vom Leser einfordern, zumal Celans »Sprache als Gespräch«202 angelegt ist. An das außertextliche Gegenüber bindet sich, wie der Vers »Du ordnest die Welt« (V. 11) dokumentiert, ergo die Hoffnung einer Bewältigung des Chaos. Dessen neologistisch beschriebene Handlung »Du/hügelst hinweg« (V. 16f.) lässt sich als mögliche imaginäre Überwindung des Todes interpretieren, zumal es sich auf die »Tumuli« (V. 15), im Kommentar als »Hügelgräber«203 gedeutet, bezieht. Die Attribuierung »lebendig« zeigt an, dass das Du, verstanden als Rezipient, im Diesseits verortet ist, aber der »Abgründe« oder des »Jenseits« durchaus gewahr werden kann. Fortan forcieren die weiteren Versgruppen verschiedenartige Hybridisierungen. Die Verse »Ein Käfer erkennt dich,/ihr steht euch/bevor,/Raupen/spinnen euch ein« (V. 28-32) zeugen von einer Verschmelzung des Du mit der Natur, der selbst wiederum im Pars pro toto ein Akteurstatus zukommt: »Knüpft das Blatt seine Ader an deine« (V. 37). Der Natur ist eine an Hölderlin erinnernde, unmittelbar an den Sprachfluss gekoppelte Dynamik eingeschrieben, die mithin dem utopischen Prozess, der vom Noch-Nicht-Gewordenen ausgeht, Rechnung trägt: »Das Gedicht versteht sich nicht als Realisierung der Utopie, sondern als Bewegung darauf hin. Es antizipiert Mögliches insofern als in einer Bewegung auf ein Ziel hin dieses schon mit anwesend ist, z.B. in der Gestalt der Hoffnung.«204 Diese sowie die Genese offenbaren sich allen voran in der poetologischen Dreierfigur »ein Wort, mit all seinem Grün,/geht in sich, verpflanzt sich,//folg ihm« (V. 43-45). Der Neologismus des Sich-Verpflanzens evoziert die utopische Wendung, antizipiert es doch ein inneres, zu findendes Paradies. Folgt die Rezipientin bzw. der Rezipient dem Appell 200 201 202 203 204
W. Amthor: Schneepart, S. 117. Vgl. B. Wiedemann: Paul Celan, S. 1137. H. Graubner: »Unter dem Neigungswinkel«, S. 21. Vgl. B. Wiedemann: Paul Celan, S. 1137. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 229.
5. Das Leben im Tod finden
des In-Sich-Gehens, erweist sie bzw. er sich als Erkunderin bzw. Erkunder einer Vorstellungswelt. Dass es sich hierbei auch um eine zu füllende Leerstelle handelt, vermittelt nicht zuletzt das Fehlen eines Punktes am Schluss des Gedichts. Es bleibt die Unbestimmtheit. Diese steht dem Akt des mehrfach im Text angeführten Zählens (vgl. V. 12 und V. 42) entgegen. Die Offenheit ergibt sich demnach erst aus ihrem Kontrast zur Festlegung und Erfassbarkeit der realen Welt.
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Zuhause im Unbehausten: Sprache als performative Heimatutopie
Indem Celan im Laufe seines lyrischen Schaffens verschiedene Motive immer wieder neu kombiniert, entsteht ein dichtes Geflecht aus Verzweigungen und Querverweisen innerhalb wie außerhalb seines Gesamtwerkes. So repräsentiert beispielsweise der Stein aus Sicht der Forschung mehrere Dimensionen. Mitunter soll er im Werk des jüdischen Dichters die »Erinnerung und die damit verbundene Melancholie und Trauer […] akzentuier[en]«,205 oder als unzerstörbares Element des Diachronen gelten, insofern er »eine seit Novalis andauernde Tradition gesteinsmetaphorischer Bildersprache aus über zwei Jahrhunderten fortsetzt«.206 Barke zufolge steht er »stets in Analogie zur Sprache«.207 Ähnliche Polyvalenzen ergeben sich bei weiteren Motiven wie dem Auge und dem gerade für das DiasporaJudentum zentralen Bild der Heimat. Da sich Celans Lyrik in summa statischer Fixierungen verweigert, gilt dies insbesondere auch für topografische Bestimmungen. Orte, die potenziell die U-Topie als Idealkonstruktion anstreben, sind in unterschiedlichen Konstellationen vorzufinden. Sie treten als das Ferne und Nebulöse oder als Interimsphären in Erscheinung. Möglichkeit des Nebulösen taucht in dem Gedicht Kermorvan208 auf, das im Titel auf ein bretonisches Schloss verweist, in dem sich Celan seit 1952 mehrmals aufgehalten hat. Es spielt auf verschiedene Lektüren von Heine und Hebel an –209 gerade was den Heimatbegriff anbelangt. Dessen romantische Sehnsuchtscodierung spiegelt Celan in paradoxen Konstellationen wider. Landschaftliche Attribute wie in der dreifachen Du-Adressierung »du Buche, du Erle, du Farn« (V. 2) vermitteln eine Nähe zum Ort des Aufwachsens, werden aber zugleich wieder entrückt. So bekennt das lyrische Ich: »mit euch Nahen geh ich ins Ferne,/Wir gehen dir, Heimat, ins Garn« (V. 4). In das Unbehauste und Weite auszuziehen, heißt hier paradoxerweise, die Heimat zu erreichen. Auch die unreine Reimfügung aus »Sternchen« (V. 1) und »Ferne« (V. 3) impliziert eine Inkongruenz. Die Eintrübung 205 206 207 208 209
J. Lehmann: Die Niemandsrose, S. 85. E. Schellenberger-Diederich: Geologie und Astronomie, S. 295. I. Bark: Dichtung des Anderen, S. 34. HKA 6.1, S. 65. Vgl. B. Wiedemann: Kommentar, S. 818.
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der Heimat steht überdies im Zentrum der zweiten Versgruppe, worin die Schwärze der »Kirschlorbeertraube« (V. 5) und das Klaffen der Steindattel (vgl. V. 8) einen Schatten auf die eigentlich positiv besetzte Szenerie werfen. Unterstrichen wird die Dissonanz noch durch die Umkehrung der im Korintherbrief auftretenden Formel »Glaube, Hoffnung, Liebe«,210 die im Gedicht kursiv wie folgt lautet: »Ich liebe, ich hoffe, ich glaube, –« (V. 7). Da Heimat für Celan nach den Erfahrungen des Holocaust eine schwierige Kategorie zwischen Sehnsucht und Ab- bzw. Eingrenzung darstellt, mag dessen Rekurs gerade auf Heines Angelique V 211 sehr plausibel erscheinen, zumal der Dichter als Grenzgänger zwischen Romantik und Vormärz häufig romantische Attribute umcodiert oder ins Negative kippen lässt. Dies betrifft im Prätext zuvorderst die Problematisierung des Begriffs »Deutschland«: Wenn ich, beseligt von schönen Küssen, In deinen Armen mich wohl befinde, Dann mußt du mir nie von Deutschland reden; – Ich kanns nicht vertragen – es hat seine Gründe. Ich bitte dich, laß mich mit Deutschland in Frieden! Du mußt mich nicht plagen mit ewigen Fragen Nach Heimat, Sippschaft und Lebensverhältnis; – Es hat seine Gründe – ich kanns nicht vertragen. (V. 1-8) Mehrfach verhandeln die beiden ersten von drei Quartetten die Distanzierung von »Deutschland«. Wie Celan bedient sich auch Heine spezifischer Leerstellen: zum einen in der vagen Deklaration »es hat seine Gründe«, zum anderen in den Parenthesen. Durch die Wiederholung verschiedener Wendungen erhält der Text zudem eine selbstzirkuläre Struktur, die nicht über sich selbst hinausweist. Paradox mutet dabei an, dass, obwohl sich das lyrische Ich von »Deutschland« abzusetzen bemüht, es sich gleichzeitig nicht davon lösen kann. Es will sich seinen Gefühlen hingeben, sehnt sich nach Geborgenheit und wird unterdessen von »Deutschland«, das u.a. mit »Heimat« korreliert, immer wieder eingeholt. Bezieht man einen breiteren Kontext um Heines Schaffen ein, so wird das Negativbild etwa in seinem Werk Deutschland. Ein Wintermärchen präfiguriert. Hierin wirft Heine seinem Volk vor allem Passivität, politische Ignoranz und eskapistisches Biedermeiertum vor. Heines Ambivalenz zwischen träumerisch-wehmutiger Hinwendung und kritischer Distanz bietet für Celan, dessen Verhältnis zum Nachkriegsdeutschland ein zutiefst gebrochenes ist, die Grundlage für eine dialektische Ausgestaltung des Heimatmotivs in Kermorvan. Offensichtlich ist die Überschattung der Heimat gar 210 Vgl. ebd. sowie Kor. 13,13, Die Bibel. 211 H. Heine: Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe, S. 39.
5. Das Leben im Tod finden
die Bedingung, um »fort aus Kannitverstan« (V. 12), das Land des Kann-NichtVerstehens, zu gelangen. Die von der Negativität herrührende Motivation bildet aus Sicht Lehmanns die Signatur des gesamten Bandes Die Niemandsrose, in dem das Poem erschienen ist: Die »Spannung zwischen einem auf das Dunkel der Vergangenheit bezogenen Erinnerns und einer das Helle des Morgens antizipierenden Erwartung artikulieren eine Vielzahl der Gedichte in Die Niemandsrose«.212 Um sich der Heimat imaginär anzunähern, bringt Celan die Sprache und die Frage nach deren Verständlichkeit ins Spiel. Die Figura etymologica im Vers »Ein Spruch spricht – zu wem? Zu sich selber« weist auf eine babylonische Sprachverwirrung hin, die im daran anschließenden Vers durch den im Französischen ausgeschriebenen »Wappenspruch der Herren von Kermorvan«213 nochmals gesteigert wird. Bekennt das lyrische Ich zuletzt anaphorisch »Ich kann/ihn lesen, ich kann, es wird heller,/fort aus Kannitverstan«, wird das Lesen zum Potenzial der Entschlüsselung deklariert. Das Land des Nicht-Verstehens lässt sich nur auf dem Wege der lesend betriebenen Übersetzung und Dechiffrierung verlassen. Das Gegenteil ist dann die einstige Heimat, der bekannte Raum. Dieser wird nicht statisch inszeniert, sondern tritt im Rahmen eines Prozesses wieder hervor. Er setzt unmittelbar an dem Wort »Kannitverstan« (V. 12) an, dessen Bedeutung sich aus dem Wissen um den intertextuellen Verweis auf die gleichnamige Kalendergeschichte Johann Peter Hebels ergibt. Darin »interpretiert ein des Niederländischen nicht mächtiger Amsterdam-Reisender den Ausdruck des Unverständnisses als Eigennamen.«214 Celans Text lässt sich durch die Kenntnis der Referenzquelle erschließen. Dieser Erkenntnisweg bringt letztlich den Versuch des Wiederfindens der Heimat zum Ausdruck – durch Lesen, Interpretieren und die Offenlegung von Tiefgründen. Der Ursprung, nämlich der Text Hebels, gleicht damit der Herkunft als Ursprung, dem utopischen Zielpunkt des Gedichts. Bezeichnet wird somit »eine selbstreflexive Suchbewegung in seiner [Celans] Dichtung, die die Worte bis hin zu ihren ›Ursprüngen‹ verfolgt, bis zu dem Moment also, in dem die Dinge aus ihrer Unmittelbarkeit gerissen […] werden.«215 Die hermeneutische Anstrengung, Celans Gedicht zu deuten, die als Prozess per se in die Zukunft reicht, setzt demnach zunächst eine kulturgeschichtliche Retrospektive voraus. Jene Rückbezüglichkeit gleicht dem Stadium der archäologischen Suche in Levitas’ utopischer Methode, insofern erst die Vergangenheit aufgedeckt bzw. erforscht sein muss, um daraus Potenziale für das Kommende zu generieren. Es gilt im Kontext der Offenlegung bei Celan auch hinter das Trauma des Holocausts zu blicken. Obwohl es seinen Werken als unauslöschliche Grunderfah-
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J. Lehmann: Die Niemandsrose, S. 85. B. Wiedemann: Kommentar, S. 818. Ebd., S. 818f. I. Bark: Dichtung des Anderen, S. 126.
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rung eingeschrieben ist, geben sie stets visionäre Momente der Überwindung von Krise und Tod preis, die sich insbesondere auf der Ebene der Sprachästhetik oder der Assoziationen manifestieren. Wird »die produktive Krise […] zum Movens seines dichterischen Handelns«,216 erweist sich somit die Untergangsstimmung als strukturell relevante Voraussetzung für utopisches Denken. Exemplarisch lässt sich dieser Zusammenhang am Gedicht Denk dir,217 einem hoffnungsvollen Text218 aus dem Band Fadensonnen, nachvollziehen. Der titelgebende Imperativ kommt als vierfach wiederholte Versgruppeneinleitung vor. Bereits dieser appellativen Formel wohnt ein Grundelement des Utopischen inne, insofern etwas nicht Vorhandenes durch Imaginationskraft ins Bewusstsein gerufen und letztlich geschaffen werden soll. Verwirklichung setzt bei Bloch in der Regel mit einem Unabgegoltenen in der Vergangenheit ein. Seine Theorie der Ungleichzeitigkeit artikuliert den Umstand, dass sich im geschichtlichen Fortschritt Rudimente vergangener Daseinsweisen durch diesen Bruch mit der Vergangenheit in diskontinuierlicher Kontinuität erhalten und in einer fremd gewordenen Gegenwart fortwirken.219 Jene entstandene Diskontinuität aufzuheben, ist Ambition der Antizipation, welche die Identität, also eine Deckungsgleichheit von innen und außen, forciert. Ist im zweiten Vers von der Vorstellung des »Moorsoldate[n] von Massada«220 (V. 2) die Rede, wird genau diese eben noch nicht aufgearbeitete Hinterliegenschaft apostrophiert. Aus diesem Defizit heraus folgt eine auf die Zukunft bezogene diachrone Wirksamkeit. Denn für Celan ist das Gedicht »sowohl vergangenheits- als auch zukunftsbezogen, Geschichte verarbeitend, aber zugleich über sie hinausgehend […] offen, beweglich, unterwegs.«221 Das gegebene Poem referiert zunächst auf mehrere geschichtliche Ereignisse. Zunächst ruft der Begriff des Moorsoldaten ein von Häftlingen des Konzentrationslagers Börgermoor bei Papenburg geschriebenes Lied auf. Diese vornehmlich politischen Dissidenten und Oppositionellen, die ein Moor ausheben mussten, trugen das Lied 1933 im Rahmen einer Veranstaltung vor. Zwei Jahre darauf wurde das Liedgut von Hanns Eisler entdeckt und für Ernst Busch neu arrangiert. Da sich der Sänger gegen den spanischen Putschisten Franco engagierte, wurde der Text einerseits zu einem Werk des Widerstands, anderseits zu einem Mahnmal gegen
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A. Bánffi-Benedek: »durch die tausend Finsternisse todbringender Rede…«, S. 103. HKA 8.1, S. 125. Vgl. K. Fischer: Fadensonnen, S. 103. J. Zimmer: Ungleichzeitigkeit und Utopie, S. 19. Die Formulierung geht auf ein Lied von ›Schutzhäftlingen‹ im KZ Börgermoor zurück, das Celan in Kogons Buch Der SS-Staat entdeckte., Vgl. B. Wiedemann: Kommentar, S. 967. J. Lehmann: Die Bremer Rede, S. 163.
5. Das Leben im Tod finden
Unterdrückung. Der Begriff Massada verweist auf eine jüdische Verteidigungsbastion im Kampf gegen die Römer im Jahr 73 nach Christus. In der antiken Felsenfestung Massada oberhalb des Toten Meeres hatten einst jüdische Zeloten der römischen Belagerung getrotzt und sich endlich lieber selbst entleibt als zu kapitulieren. Celans Gedicht verknüpft die Geschichte eines Widerstandes mit seinem eigenen Bedürfnis nach Heimat.222 Indem er die historische Anlage als Kontrafaktur »wider« »alle[m] Dorn im Draht« (V. 6) positioniert, wird eine Bewährungshaltung des jüdischen Volkes deutlich, die von der Frühgeschichte bis hin zum Holocaust und den Stacheldrähten der Konzentrationslager reicht. Markant fällt in der ersten Versgruppe die auf den Soldaten bezogene Wendung »bringt sich Heimat bei« (V. 3) ins Auge. Diese eigenständige Verwirklichung wird entgegen der geschichtlichen Tatsache der Diaspora als »unauslöschlich[]« (V. 4) beschrieben. Es findet demzufolge eine Umkehr des Faktischen statt. Das reale Fehlen von Heimat birgt zugleich das alternative Potenzial: »Die literarische Utopie steht im Zeichen der Möglichkeit utopischer Gegenentwürfe, die in ihrer Differenz zum Bestehenden stets als ein zu Realisierendes aufgefaßt werden.«223 Dualismen, die eine Dynamik zur Aufhebung von Gegensätzen initiieren, prägen auch die nachfolgenden Versgruppen, wobei immer wieder ähnliche Realisierungen unmöglicher Vorgänge zu beobachten sind. »Augenlose[] ohne Gestalt« sollen etwa ein Du »frei durchs Gewühl« (V. 8f.) führen. Jemanden oder etwas, dem die Physiognomie und zudem das Augenlicht fehlt, kann nur in einem Vorstellungsraum eine lenkende Handlungsmacht zukommen. Auch die neologistische, mithin katachretische Partizipialkonstruktion von der »Hand«, die »dies wieder/ins Leben empor-/gelittene Stück/bewohnbarer Erde/gehalten« (V. 13-19) hat, wirkt als Pars pro toto in ihrer bzw. seiner Abstraktheit nur schwer auflösbar. Dieses hermeneutische Problem ist der sich ständig erneuernde[n] Erfahrung im Umgang mit Celans Spätwerk geschuldet, daß die Verständnisschwierigkeiten häufig weit mehr in der Undurchsichtigkeit des Zusammenhangs der von einem Gedicht genannten Elemente liegen als in der Unzugänglichkeit dieser Einzelmomente selbst. Das heißt: die jeweils einzelnen Aspekte scheinen sich nicht mehr ohne weiteres zu der wie auch immer komplexen Einheit eines Gesamtsinns zusammenzuschließen.224 Erst die Verbindung einzelner Elemente stellt die interpretatorische Herausforderung dar. Das »empor-/gelittene/Stück« ist im Kontrast zur »bewohnbare[n] Erde«
222 J. Felstiner: Paul Celan. Eine Biographie, S. 310. 223 M. Alemán: Sprachkrise und Utopieverlust, S. 203. 224 G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 222.
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negativ konnotiert. Begriffe wie Heimat und Hand signalisieren ferner eine diesseitige Sphäre, wohingegen »Augenlos[] ohne Gestalt« (V. 8) an Untote und Geister erinnern. Dass diese Gegenüberstellung von sinnstiftender Bedeutung sein kann, wird offensichtlich, wenn man den Text als utopische Wiederkehr der jüdischen Opfer von Krieg und Vertreibung sowie als Beispiel für Celans typische Umkehrund Wendefiguren liest.225 »Emporleiden« bezeichnet dann das Auf- oder Aussteigen der Gestorbenen aus den Gräbern. Um ein Gedicht »als Dialog mit den Toten zu verstehen«,226 bedarf es eines ausgeprägten Möglichkeitssinns als dialektisches Pendant zum Realitätssinn. »Als das zu Entwerfende und zu Gewinnende, als das, was (noch) ›nicht ist‹, muß hier Wirklichkeit das Offene, Nicht-Determinierte, das schlechthin Unbestimmte oder das allenfalls im Sinne des ›Möglichen‹ Bestimmte sein.«227 Celan etabliert dazu ebenso im gegebenen Gedicht einen Zwischenraum, der Veränderungspotenzial zulässt. Aufgrund der viermaligen Figur des »Denk dir« wird eine Diskrepanz zwischen Ist- und Soll-Zustand offensichtlich. Die angestrebte Überwindung findet statt »unter der Perspektive der Utopie, sie setzt Utopie als Denk- und Anschauungsform voraus.«228 Diese Denkform rührt vom Unabgegoltenen der Vergangenheit her, das auch antizipiert wird. Der Vorschein, bei Bloch die »ästhetische[] Verallgemeinerung und Darstellung von Möglichkeiten«,229 strahlt dem lyrischen Ich entgegen: »das kam auf mich zu […]/für immer, vom Unbestattbaren her«. Was als gestorben erachtet wurde, wirkt nun paradoxerweise von der Zukunft her. Die Wendung richtet sich gegen die Verdrängung der Schuld und der Opfer. Das darin zum Ausdruck gebrachte Wiedergängertum liest sich als Mahnung zur Aufarbeitung der gesellschaftlichen Traumata der Vergangenheit. Gleichzeitig äußert sich eine Subjekt-Objekt-Relation, der die Tendenz zur Annäherung, zu einem harmonischen Einswerden, zugrunde liegt. Das Zurückliegende soll mit der Gegenwart und Zukunft befriedet werden. Celans Hermetik,230 »radikale[r] Subjektivismus«,231 und »Dekompositionsverfahren«232 zwingen dazu, das zu Beginn Noch-Nicht-Bewusste, die noch zu »bring[ende] Heimat« am Schluss zu entwerfen. Diese versteht sich nicht als fester Ort. Statt einer festen Lokalisierung ist am Ende die Rede von einem nicht näher definierten »das«, welches auf das Textsubjekt zukommt. Lediglich die Komposita »namenwach, handwach« attribuieren es näher, wobei die Bestimmung als Ganzes
225 226 227 228 229 230 231 232
Vgl. M. Fisch: »Wer wusste je das Leben recht zu fassen«, S. 75. H. Graubner: »Unter dem Neigungswinkel«, S. 26. G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 207. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 230. J. Zimmer: Ungleichzeitigkeit und Utopie, S. 25. Vgl. M. Fisch: »Wer wusste je das Leben recht zu fassen«, S. 68. D. Lamping: Paul Celan – ein moderner Klassiker?, S. 34. J. Lehmann: »Gegenwort« und »Daseinsentwurf«, S. 461.
5. Das Leben im Tod finden
im Unklaren bleibt. »Das scheinbare Paradox einer gleichzeitig dialogischen und hermetischen Dichtung – die eine mitteilend, die andere verhüllend – bestimmt die spezifische Form dieser Suche im Celan’schen Werk.«233 Eben jene Durchkreuzung der Mitteilungsfunktion vermittelt das für das Gedicht konstitutive Unbekannte der Herkunft. Mit ihr verbunden ist das »Unbestattbare[]«. Das Etwas ist unbestattbar, weil dessen Ort nicht benennbar ist respektive erst noch zu finden sein wird. Jene Sperrigkeit offenbart den Ursprung und die Heimat als etwas gewissermaßen Entrücktes. Dieser hermetische Zug setzt die utopische Motivation frei und hält die RezipientInnen zur konkreten Imagination an. Da diese im Kosmos des Gedichts in die Vergangenheit zurückreicht, führt Celan eine spezifische Praxis der Erinnerungs- und Gedenkkultur vor Augen, die nicht einfach im Aufrufen altbekannter Bilder besteht, sondern immer wieder erneuter Deutungsanstrengung bedarf. Obgleich sich der Poet zumeist der Kritik ausgesetzt sieht, seine Texte würden sich dem Verstehen des Lesers entziehen, bestärkt er sein Ansinnen, seine Gedichte im Sinne einer vitalen Erinnerungskultur interpretatorisch offen zu halten: An dieser Hoffnung hat er auch festgehalten, wenn ihm undemokratisch dunkles Dichten vorgeworfen wurde, wusste er doch, dass eine Veränderung der Kunst in Richtung Monovalenz der Strukturen nicht demokratisch, sondern erst eigentlich autoritär wäre, da solche Texte eine eindimensionale Deutung aufdrängen und ein vereinfachtes Bild der Wirklichkeit vorstellen […]. Das Gedicht verstehen, heißt dann, bei dessen Wirklichkeitssuche, diese zu Ende zu denken, damit der Prozess des Gedichts zum Ziel kommt: Wirklichkeit auszuloten, zu kritisieren, zu transzendieren und eine andere, utopische Wirklichkeit zu antizipieren.234 Heimat erweist sich somit als ein in der Zeit verschollenes, erst wieder zu entdeckendes Phänomen. Die Retrospektion als Mittel zu deren versuchter Rückgewinnung spielt ebenfalls im Poem Soviel Gestirne235 aus dem Band Die Niemandsrose eine Rolle. Das Textsubjekt setzt darin mit einer Erinnerung an eine gemeinsam mit einem Du erlebte Vergangenheit ein. Zu dem Zeitpunkt, an dem sich beide ansehen, befindet sich das Ich »draußen bei/den andern Welten«. Diese abseitige Position verknüpft Celan mit einem elegisch besungenen Verlorenheitsgefühl »galaktisch[en]« (V. 6) Ausmaßes. Der Ort zwischen beiden entspricht einem Nicht-Ort: »blind nur ein Atem zwischen/Dort und Nicht-da und Zuweilen« (V. 12). Dieses Sein im Ungefähren,
233 V. Liska: Die Nacht der Hymnen, S. 141. 234 D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 68f. 235 HKA 6.1, S. 19.
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das sich in Celans ungegenständlichem, typischem Atemmotiv236 niederschlägt, wird verstärkt durch die Postulierung, dass beide nicht »lebten« (V. 11). Mehrere Aspekte erweisen sich gerade im Hinblick auf die Volatilität für eine utopiegeleitete Interpretation als fruchtbar. Beschreibt das Gedicht zunächst eine für den gesamten Band Die Niemandsrose charakteristische Interimszone,237 wird darin eine Nähe zum Dunkel des gelebten Augenblicks erkennbar. Es ist genau die nicht näher definierbare Mitte des unmittelbaren Erlebens, wo der Atem zwischen Du und Ich sich zu treffen und potenziell etwas Neues aus vorher Differentem hervorzubringen vermag. Gleichzeitig geht der Text nicht dazu über, dieses NochNicht-Gewordene weiter zu verwirklichen. Stattdessen wahrt er den Charakter der topischen Vagheit und löst vermeintlich stabile Verhältnisse auf. Die beiden Verse »kometenhaft schwirrte ein Aug/auf Erloschenes zu« (V. 14f.) zeugen von einer fundamentalen Orientierungslosigkeit und einer depravierten Umgebung. Das Sehorgan »verglühte« (V. 16) gar dort, wo sich »zitzenprächtig die Zeit« (V. 17) als Personifikation der Vergänglichkeit befindet. In der metaphorischen Beschreibung, dass an ihr »schon empor- und hinab-/und hinwegwuchs, was/ist oder war oder sein wird«, deutet sich an, dass die Zeit zur raumgreifenden Komponente wird.238 Der Gegensatz zwischen ihrer Ungreifbarkeit und ihrer zugleich raumgreifenden Wirkung deutet sich in der paradoxen, anaphorischen und ontologischen Selbstversicherung des Ich und Du in der letzten Versgruppe an: ich weiß, ich weiß und du weißt, wir wußten, wir wußten nicht, wir waren ja da und nicht dort, und zuweilen, wenn nur das Nichts zwischen uns stand, fanden wir ganz zueinander. (V. 21-27) Selbst wenn der Schluss des Textes wohl primär als eine liebeslyrische Aussage zu werten ist, verhandelt er auch die Frage nach der Heimat zweier Menschen. Dass diese weniger physisch erfahrbar ist, vermittelt die parallelistische Reihung zum Wissen beider. Jener Ort wird gewusst, kann aber nicht besiedelt werden. »Wenn/nur das Nichts zwischen uns stand, fanden wir ganz zueinander« (V. 25-27) – das Textsubjekt beraubt das Nichts seiner Finsternis und verleiht ihm eine positive Konnotation. Das Oxymoron ermöglicht die Umcodierung: Das Nichts, unklar und unfixierbar, »stand« (V. 16) genauso wie die nicht minder zu umreißende Zeit. Da es als ein Aufenthaltsort des Paares in Erscheinung tritt, wird die Analogie 236 Vgl. G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 172. 237 Vgl. J. Lehmann: Die Niemandsrose, S. 82. 238 Vgl. ebd., S. 83.
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zur Heimatutopie offensichtlich. Allerdings liegt dieser Projektion eben kein idyllischer oder romantischer Raum zugrunde. Das Nichts, eigentlich der Null-Punkt der Existenz, erfordert im Sinne eines Utopiestimulans239 den Mut zu einem Gestaltungsentwurf und bedarf des Offenen. Denn »das die Niemandsrose thematisch und strukturell prägende Prinzip der Negation ist also immer auch Voraussetzung eines neu zu Gewinnenden«.240 Celan positiviert das Nichts, weil es eine Freiheit von ideologischen und historischen Rückständen zulässt.241 Das imaginäre Gelände ist weder beschmutzt noch verbrannt. Vielmehr birgt seine Abstraktheit das Potenzial zur Umsetzung des Noch-Nicht-Gewordenen. Die Utopie dieser eigentlich einen Widerspruch in sich darstellenden, transitorisch zu verstehenden Heimat besteht gerade darin, dass Celan, dessen Texte aus geschichtspolitischen Gründen ansonsten stets historische Ablagerungen der Wirklichkeit enthalten und als Verwundungen ausstellen,242 diesem Poem die für ihn unmögliche Vorstellung eines reinen, ursprünglichen, nicht entfremdeten Orts einzuschreiben vermag. Heimat als eine prozesshaft zu rekonstruierende Größe gleicht bei ihm einer Suche nach Namen und Begriffen, die einen Raum jenseits der konkreten Alltagswelt repräsentieren.243 Das Gedicht À la Pointe acérée244 beschreibt die »Wege dorthin« (V. 14), zu einem »schwärzlich[]/Offen[en]« (V. 20f.), als Reise »der Erinnerung und Spurensuche«.245 Dabei geht es auch um die Überwindung der Einsamkeit, die bei Celan »durch die Wiedergewinnung des […] eigenen Ortes in der Welt: in der Sprache, in der Dichtung«246 vollzogen wird. Diese bezieht sich in der ersten Versgruppe noch auf einen abstrakten Raum: Es liegen die Erze bloβ, die Kristalle, die Drusen. Ungeschriebenes, zu Sprache verhärtet, legt einen Himmel frei. (V. 1-5) Neben Materiellem liegt offenbar auch »Ungeschriebenes« frei, das seine Gestalt in der Sprache erhält. Deutet man das »Ungeschriebene[]« als äquivalent zum NochNicht-Bewussten, erweist sich das Vorstadium des Schreibens auch als Vorstufe des Novums. Beschrieben wird
239 240 241 242 243 244 245 246
Vgl. D. Meinecke: Wort und Name bei Paul Celan, S. 240. J. Lehmann: Die Niemandsrose, S. 84. Vgl. ebd., S. 87. Vgl. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 247. Vgl. P. Goßens: Arbeitsweisen: Wirklichkeitssuche und Materialität, S. 368. HKA 6.1, S. 53f. J. Lehmann: Die Niemandsrose, S. 83. K. Bojarska: Leiterinnen auf dem Weg zum Zeugnis, S. 213.
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eine schicksalhafte Umwälzung auf der Erdoberfläche im Ganzen. In dieser Umwälzung legt das Ungeschriebene, das dennoch Sprache ist, einen Himmel frei, so daß die Erde für das Leben auf ihr neu zur Stätte einer Offenheit werden kann. Nicht vom Himmel überhaupt ist die Rede, sondern von ›einem‹ Himmel, nämlich einem neuen Himmel und damit auch einem neuen Leben und Wohnen auf der Erde.247 Der Himmel trägt einerseits somit ein antizipatives Potenzial in sich, kann aber andererseits auch als durch die Vergangenheit bestimmt aufgefasst werden. So eröffnet er ein Jenseits, in dem sich die Opfer des Holocaust befinden, die im Leben und damit bei Celan in der Sprache stets präsent sind.248 Die in Klammern gefassten Versgruppen zwei und drei weisen paraphrasierend auf sie hin. Dass die Trennungen zwischen Diesseits und dem Reich der Toten sowie zwischen dem Ich und den Toten nicht scharf auszumachen sind, verdeutlichen die topografischen und syntaktischen Schiefebenen. Die Verse »Nach oben verworfen, zutage,/überquer, so/liegen auch wir« (V. 6-8) dokumentieren eine übercodierte, katachretische Beschreibung, die schwer zu entschlüsseln ist. Was bedeutet etwa der Neologismus »überquer«? Und warum ist von »verworfen« die Rede? Celan ist sichtlich um ein Irritationsmoment bemüht, das die Desorientierung des Lesers im Raum mit der Delokalisierung der Opfer des Holocausts, jenen, die den »getöteten/Kreidestern« (V. 11) trugen, verbindet. Gängig ist bei Celan das ebenso hier zu beobachtende rhetorische Mittel der Inversion, die als Indikator der Krise des Sprechens, gerade über individuelle und kollektive Traumata, zu verstehen ist.249 Besonders sei in der vorliegenden Passage auf die Auflösung der sprachlichen und deiktischen Einheit in der Wendung »Tür du davor einst« (V. 9) aufmerksam gemacht, einem anschaulichen Exemplum für die Sprachkrise des Dichters infolge der faschistischen Gräuel. Die vierte und größte Versgruppe greift die räumliche Dimension erneut auf und führt in einen Wald. Die »blubbernde[n] Wege dorthin« (V. 29) könnten auf das Blut der Opfer referieren, lassen aber entgegen dieser deutlich finsteren Deutung auch eine poetologische und weniger dramatische Interpretation zu. Demnach dürften sie als Ausdruck der sich Gestalt gebenden Sprache im Gedicht selbst anzusehen sein. Worte fungieren diesbezüglich als Realisierungspotenzial, wie Simon festhält: »Der performative Sprechakt tut aber genau dies, er schafft unmittelbar Tatsachen.«250 Dieser manifestierende Effekt schlägt sich in der kohärenzbildenden Prozesshaftigkeit des Textes nieder. So akzentuiert Pöggeler vor allem die Zeilenumbrüche sowie die signifikanten Konsonanten- und Vokalwechsel (»t« – 247 248 249 250
O. Pöggeler: Spur des Worts, S. 322. Vgl. O. Pöggeler: Spur des Worts, S. 331. Vgl. A. Bielik-Robson: Nach dem Bilde des Schweigens, S. 152. R. Simon: Poetik und Poetizität, S. 46.
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»Tür« und »Tafel«; »w« – »Wege« und »Waldstunde«),251 die ein Fließen der Sprache ermöglichen. Lehmann betont in diesem Kontext, dass »das die Niemandsrose bestimmende Sprechen auf ein noch zu Erschaffendes, Offenes, Erwartbares bezogen [sei], auf das es sich permanent zubewegt, korrespondierend zu der in der Meridian-Rede formulierten Definition des Gedichts als Bewegung und Begegnung«.252 Das Offene wird in À la Pointe acérée sogar explizit, allerdings mehrdeutig codiert, genannt, nämlich im Sinne einer Wunde, die assoziativ die »klaffende/Buchecker« ins Spiel bringt. Das »schwärzlich[]/Offene« impliziert zum einen eine Gegenwart, die alles in sich zu verschlingen droht, zum anderen birgt es eine Verbindung zu den Toten. Das mit den Opfern verwobene Gesellschaftstrauma ist eine einzigartige Zäsur in der modernen Geschichte, welche Celan in der fünften Versgruppe aufgreift: Nach Dem Unwiederholbaren, nach Ihm, nach Allem. (V. 25-29) Trennt das anaphorische »Nach« (ab V. 6) das Gestern vom Heute, stellt sich die Frage nach der Ausgestaltung der Zukunft. »Das ›Unwiederholbare‹ ist das, was nicht wiedergeholt, zurückgebracht werden kann, das für immer Verlorene, das Tote, das auch sprachlich nicht Einholbare.«253 Dennoch erlangt es Präsenz durch die und in der Sprache. Die in einem Einzelvers nochmals benannten »Blubbernden Wege dorthin« (V. 29) indizieren die Richtung gen Vergangenheit. Den Opfern zu begegnen, bedeutet, die Vergangenheit in die Zukunft als noch oder wieder zu findende zu verlagern, wodurch das Offene auch auf die zeitliche Dimension utopischer Antizipation Bezug nimmt. Der vermeintliche Ankunftspunkt jener Suche wird in einem beweglichen Bild gehalten: »Etwas, das gehen kann, grußlos/wie Herzgewordenes,/kommt« (V. 30-32). Während im Herzgewordenen eine klare Form sich herausbildet, deutet das Prädikat »kommt« eine noch nicht vollendete Zukunft an. Paradox mutet ferner die Kombination aus der Grußlosigkeit als Inbegriff der Fremden mit dem die Innigkeit repräsentierenden »Herzgewordenen« an. Nähe und Distanz werden dadurch enggeführt.254 Statt auf eine Festlegung eines idealen Raumes zielt der Text auf eine visionäre Genese der noch nicht gelungenen Annäherung über eine ferne, temporale Distanz hinweg. Mit dieser Progessivität, die mithin eine Verantwortung aus der Geschichte ableitet, verortet sich der Autor in einer utopischen Traditionslinie: 251 252 253 254
Vgl. O. Pöggeler: Spur des Worts, S. 329. J. Lehmann: Die Niemandsrose, S. 85f. O. Pöggeler: Spur des Worts, S. 212. Vgl. O. Pöggeler: Spur des Worts, S. 332.
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Der Anspruch des »Utopischen« als einer – der – humanen Perspektive, den C. für die Dichtung in seiner Rede vom Meridian reklamiert und entwirft, prägt auch seine politische Gesinnung – nicht umsonst spricht C. im Meridian von sich als ›einem auch mit den Schriften Peter Kropotkins und Gustav Landauers Aufgewachsenen‹ und stellt sich somit in eine revolutionäre Tradition, die dem utopischen Anarchismus verpflichtet ist. Gerade diese utopische Perspektive, die auch die Spuren eines säkularisierten jüdischen Messianismus trägt, verbindet die Wahrnehmung der Gegenwart in intrikater Weise mit der Erinnerung und der Zukunft und ist mit dem Ethos des Einzelnen verknüpft.255 Es ist das Landauer’sche dialektische Denken zwischen Topos und U-Topos; die nicht in eine statische Ordnung zu überführende Wechselwirkung, die auch das vorliegende Gedicht mit seiner antithetischen Struktur prägt. Hierin äußert sich das angesprochene revolutionäre Potenzial. Während etwa der Faschismus sein Weltbild auf festen Dichotomien wie innen und außen, Nation und Fremdes errichtet hat, setzt Celans Werk auf ein permanentes Mäandern zwischen Polen und richtet sich auf eine offene Zukunft. Voraussetzung für sie bildet die »Erinnerungsfähigkeit von Kunst«.256 Diese macht sich ferner in der Verwendung spezifischer Symbole bemerkbar. Wenn vom »Kreidestern« (V. 11) die Rede ist, dann insinuiert dies das Zusammentreffen von Ursprung und Geschichte. Er rekurriert sowohl auf das frühe Judentum als auch auf dessen Stigmatisierung in Form des Davidsterns durch die Nationalsozialisten. Die Vision des Neuen basiert auf einem Entwurf, der Erinnerung einbezieht und aus ihr Antworten für das Kommende gewinnt. Letzthin vollbringt das Gedicht daher eine Umkehrbewegung, indem das Unwiederbringliche mithilfe poetischer Evokation erneut ins Bewusstsein gerückt wird. Bestimmend ist dabei ebenso die bildliche Abstraktion des Textes, der zahlreiche Leerstellen bereithält. Gerade das am Schluss angeführte »Etwas« (V. 30), lediglich durch das »Herzgewordene[]« attribuiert, signalisiert eine Unbestimmtheit, die schließlich über den Text hinausweist und einen utopischen Denkprozess hin zur imaginären Verwirklichung des Noch-Nicht-Gewordenen initiiert. Heimat, bei Bloch Inbegriff des Utopischen und Unentfremdeten schlechthin, ist in diesem Kontext als geschichtlicher Terminus aufzufassen, als wiederzufindender Ursprung. Ihr Ort ist noch nicht erreicht, lediglich der Entschluss zur Suche und zum Aufbruch wird in dem Poem als das kleine, aber wirksame »hin« vernehmbar. Als schwer fassbare und innere Topografie steht die Heimat in Celans Werk oftmals für eine Deterritorialität zwischen motivischen Polen, wie auch ein fokussierter Blick auf mehrere Einzeltexte belegt. So kreiert das Langgedicht Und mit
255 M. May: Geschichte, S. 250. 256 M. Stern: »Wege dorthin«, S. 465.
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dem Buch aus Tarussa257 etwa einen Nicht-Ort »in der Luft./Wo sich das Irdische ballt, erdig,/Atem-und-Lehm« (V. 2-4). Das Feste wie auch Ungegenständliche, der Atem als ein Sinnbild des »lebensnotwendige[n] kreatürliche[n] Akt[s]«,258 finden im Schwebezustand zusammen. Hierin »entwirft C. nun ein kosmisches Raummodell, dessen Konstituenten die Grundelemente, vor allem aber die Relation Erde – Luft sind.«259 Das Gedicht Anabasis,260 welches Gniosdorsch in den Horizont einer christologischen Transzendierung rückt,261 hebt in diesem Kontext das Schreiben als Balance- und Ausgleichsakt zwischen Gegensätzen markant hervor. Dieses schmal zwischen Mauern geschriebne unwegsam-wahre Hinauf und Zurück in die herzhelle Zukunft. (V. 1-5) Die zitierte und erste Versgruppe fokussiert mit dem Partizip »geschriebne« (V. 2) die Praxis poetischer Formgebung. Das »zwischen« gibt dabei eine Mitte (zwischen Mauern) preis, in der eine (schiefe) Antithetik austariert wird. Sie verbindet die räumliche Vertikale (»Hinauf«) mit der zeitlichen Horizontalen (»Zurück«). Gesteigert wird die für den Band Die Niemandsrose typische Verknüpfung vermeintlich dissonanter Pole262 durch die metaphorisch komplexe und positiv konnotierte Zustandsbeschreibung »herzhell[]« (V. 5), worin materielle (Herz) und immaterielle (Helle/Licht) Momente zusammenfinden. Die Ambivalenzen lassen sich möglicherweise auch durch Celans biografische Zerrissenheit erklären. Er »war vor allem Dichter – notgedrungen und aus freier Wahl ein jüdischer Dichter: das heißt, ein Dichter und ein Jude seiner Zeit. Beide Identitäten durchdrangen einander in einem Ausmaß, daß jede andere Definition wie Stückwerk erscheint.«263 In seinen Texten formiert sich, nimmt man sie als ein Geflecht von Querverweisen und subtilen Verknotungen, jedoch trotz aller Fragmentarizität ein Zusammenhang. So eint die differenten Teilbereiche in Und mit dem Buch aus Tarussa die gemeinsame Richtungsbestimmung auf die Zukunft hin. Die Antizipation wird durch die elliptische Waise »Dort.« (V. 6) wiederum räumlich situiert. Wie Treibgut muten die Versatzstücke der dritten Versgruppe an: 257 258 259 260 261 262 263
HKA 6.1, S. 89-93. M. May: Atemwende, S. 90. J. Lehmann: Die Niemandsrose, S. 86. HKA 6.1, S. 58f. Vgl. I. Gniosdorsch: Die Grenzen des Sagbaren, S. 118. Vgl. J. Lehmann: Die Niemandsrose, S. 84. J. Felstiner: Paul Celan, S. 19.
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Silbenmole, meerfarben, weit ins Unbefahrne hinaus. (V. 7-10) Die abstrakten Komposita, die sich einer konkreten Referenzialisierung entziehen, verdeutlichen, dass es sich um eine rein sprachliche Landschaft handelt, die noch keinen genauen Zielpunkt in der Weite zu erkennen gibt. Um sie im Nebulösen und Ungegenständlichen zu belassen und damit das hermeneutische Potenzial polyvalenter Erschließungswege aufrechtzuhalten, nutzt Celan im Weiteren verschiedene Katachresen wie: Kummerbojen-Spalier mit den sekundenschön hüpfenden Atemreflexen –: Leuchtglockentöne (V. 13-17) Indem der Text von hüpfenden Atemreflexen spricht und farbliche und akustische Elemente verschränkt (»Leucht-/glockentönen« [V. 16f.]), stellt er das »Dort.« (V. 6) als utopischen, eben nicht realisierten Raum dar. Entwickelt wird zu ihm »eine Sprachbewegung, deren eigentlicher Einsatz mittels des Enjambements zurückgehalten wird, so daß das gleichsam angestaute Sprechen eine Intensivierung erfährt.«264 Das »Dort«, referierend auf Vergangenes wie Zukünftiges265 gleichermaßen, entfaltet eine Spannungsdramaturgie. Wird dieses zunächst binär zwischen »aus-/gelöst, ein-/gelöst« (V. 21-23) und zuletzt »Sichtbare[m]« und »Hörbare[m]« (V. 24) als Areal konträrer Punkte deklariert, vereint das »frei-/werdende Zeltwort://Mitsammen«266 (V. 25-27) augenscheinlich die einander widerstrebenden Tendenzen. »Das Zeltwort in der Analogie zu ›Himmelszelt‹ […] meint Versöhnung schlechthin; seine unbeschränkte Gültigkeit tritt noch darin hervor, daß es auf keine Einzelheit des Gedichts streng beziehbar ist.«267 Das Zelt bildet ein umschließendes, befriedendes Ganzes, das metaphysischer Natur ist. Passend zur Hinwendung zur göttlichen Sphäre ist auch Celans frühe Übersetzung des Wortes »Anabasis« als »Hinaufmarsch«.268 264 G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 86f. 265 Vgl. ebd., S. 92. 266 Das »Zeltwort« könnte auf Paulus hinweisen, den zwar dieselbe Profession als Zeltmacher mit dem Juden Aquila verbindet, aber sich bald vom jüdischen Glauben distanziert, weil er Jesus als Christus bezeichnet. Vgl. Apostelgeschichte 18,3-18,17, Die Bibel. Diese Referenz könnte als Verstärkung der benannten Gegensätze in Celans Gedicht angesehen werden. 267 Ebd., S. 94. 268 Vgl. B. Wiedemann: Kommentar, S. 812.
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Mit dem Neologismus »Mitsammen« (V. 27) fördert der Dichter zudem eine weitere Facette seiner Heimatutopie zutage. Denkbar wird ein Idealzustand der Einigkeit, ein Wunschtraum aus dem Bewusstsein der Diaspora heraus, welcher Vereinzelungen und Dissonanzen jedoch nicht glättet, sondern eben als integrativen Teil eines Findungsprozesses geradezu voraussetzt. Die Niemandsrose ist also ein Sprachkosmos, der Erinnerung, Standortbestimmung, Sprachschöpfung und Bekenntnis zum widerständigen Handeln miteinander verschränkt, als Entwurf aber die Offenheit und Beweglichkeit dieser Dichtung, ihr Unterwegssein, ebenso betont wie ihr utopisches Potential.269 Die angestrebte Aufhebung von Entfremdung, worin sich Heimat äußert, ist somit durch eine Dynamik und Unabschließbarkeit gekennzeichnet. Die Realisierung gründet dabei niemals auf einer futuristischen, einzig nach vorne gerichteten Denkweise. Gerade das permanente Insistieren auf der historischen Rückschau zeigt die noch ausstehende Befriedung in der Vergangenheit an, aus der heraus ein Projekt der Zukunft entstehen kann. Erinnerung, eng verknüpft mit dem bereits thematisierten Motiv der Wunde, bedeutet in diesem Kontext: »Heilung aus und in der Verletzung.«270 Im Motiv der Heilung forciert Celan immer wieder die Suche nach Identität im Sinne einer Übereinstimmung von innen und außen. Nicht selten koppelt sie sich an messianische Erlösungsfantasien. So entwickelt das Poem Flügelrauschen271 die Utopie einer zukünftig zu findenden Heimat im Zeichen einer eschatologischen Erneuerung. Mit Begriffen wie »Lager« (V. 9) und »Heer« (V. 10) weckt Celan hierin Assoziationen zum Krieg. Bereits die erste Versgruppe beschreibt Akte der Gewalt, ausgehend von einem »Vogel«, der »über deine Hüften finster[t]« (V. 2). Wie Wiedemann erläutert, bezieht sich die Wendung auf »Jakobs Kampf, der häufig als Kampf mit einem Engel dargestellt wird«.272 Dem Mythos zufolge ist dieser im sinnbildlichen Ringen mit Gott nicht besiegt und von letzterem mit dem Namen »Israel« bezeichnet worden. Mit der Allusion auf den jüdischen Staat ruft Celan erneut den Topos der Heimatsuche des in der Diaspora befindlichen Volkes auf. Ergänzt wird der biblische Kontext durch die weitere Charakterisierung des zu Beginn erwähnten Vogels: »Zwar kennt er Schmerz und holt ihn bei den Ginstern,/doch seine Schwinge ist nicht hier und unsichtbar gehißt.« (V. 5f.) Der Ginster verbildlicht die Sündhaftigkeit des Menschen, die gerade in der Verknüpfung mit einem weiteren anzitierten Narrativ, der Arche Noah bzw. Sintflut-Geschichte, sinnfällig wird. Deutet die zweite Versgruppe zunächst noch im symbolischen Raub des Ölzweigs
269 270 271 272
J. Lehmann: Die Niemandsrose, S. 87. F. Schößler/T. Tunkel: Utopie und Katastrophe, S. 123. Ebd., S. 23. B. Wiedemann: Kommentar, S. 663.
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durch die sich auf »säbeln« (V. 11) reimenden »Adlerschnäbel[]« (V. 8) den Krieg an, vermag der mehrfach im Gedicht repetierte und refrainartige Vers »Die Taube aber säumt in Avalun« (V. 1, 7, 18) bereits prophetisch auf einen Zustand der Liebe und Erlösung hinzuweisen. Als die Sinnflut zuende gewesen sein soll, erschien gemäß der biblischen Überlieferung die Taube als Bote einer neuen Zeit. Ferner referiert der Ort Avalun auf die mythische Insel, auf der König Artus nach seinen Verletzungen Zuflucht und Genesung gefunden haben soll. Obgleich der Ton des Textes messianische Züge trägt, beschwört er keineswegs eine Rettung durch Gottes Hand oder das Fatum herauf. Vielmehr macht das lyrische Ich von der Kraft poetischer Evokation Gebrauch, um die Entstehung des Friedensreiches in der dritten Versgruppe zu befördern. Das ist: ich hob, als sie gewaltig fochten, den Scherben über sie, ließ alle Rosen fallen und rief, als mancher sie ins Haar geflochten, den Vogel an, ein Werk des Trosts zu tun. Er malt dir in das Aug die Schattenkrallen. Ich aber seh die Taube kommen, weiß, aus Avalun. (V. 13-18) Schauplatz ist zunächst noch der Kampf jener, die »den Kranz des Himmels säbeln.« (V. 11) Die metaphorisierte Sünde und Dekadenz auf der Erde werden konterkariert durch die Statuierung »Das ist« (V. 13). Die Deklaration hebt den archaischen Konfliktzustand im Präteritum in einem Akt der Verkündigung auf. Mit dem Vogel verbindet sich zum einen das »Werk des Trosts« (V. 16), zum anderen utopischer Frieden. Dieser steht jedoch unter Vorbehalt, da er, der Vogel, dem »Du« des Poems »in das Aug die Schattenkralle malt«, die möglicherweise als dem Körper eingeschriebenes Mahnmal der Opfer bzw. als Kriegstrauma und -wunde interpretiert werden kann. The speaker is justified in pronouncing the closing strophe: with hope still alive despite everything, he has a vision of the dove winging in, but the peace it brings may be that of death. The death to another, from Avalun to the speaker’s location. It is only in this sense […] a poem of ›Erfüllung‹.273 Die Taube repräsentiert somit genauer eine zukünftige Wirklichkeit, deren Frieden lediglich als Potenzial möglich ist. Diese wird bei Celan durch Sprache konstituiert.274 »Sie ist auf der einen Seite das Gegebene und Faktische und auf der anderen das Nicht-Seiende, das Mögliche und erst zu Entwerfende«.275 Dieses ergibt sich 273 Bekker, Paul Celan, S. 88. 274 Vgl. D. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie, S. 74. 275 G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 207.
5. Das Leben im Tod finden
hier vor allem aus dem spezifischen Motivkomplex heraus. Über die Kämpfenden hält das Subjekt den Scherben und lässt die Rosen fallen, welche die Kämpfenden als Zeichen der Befriedigung aufnehmen. Wie bei Rilke sind die roten Blüten auch bei Celan als Träger eines utopischen Sinns zu verstehen. In dem Gedicht Das einzige Licht 276 spricht er gar von einem »Rosengeschlecht;/als Arche« (V. 8f.). Rosen dienen als Bewahrer und – mit Bezug auf Rilkes Weltinnenraum – als Schwelle zu einer neuen Welt, wie die mehrfach aufschimmernde Analogie zur Arche impliziert. Flügelrauschen nutzt das Motiv daher für das Bild einer Erneuerung bringenden Ankunft. »Solche Ankunft bedeutet zuletzt – nach Ernst Bloch – auch den Gewinn von Identität«277 und – es ließe sich ergänzen – Heimat als unentfremdeten Zustand. Dass die Taube ihr »Werk des Trosts« (V. 16) unter besagtem Vorbehalt vollbringen wird, postuliert der letzte, verwaiste Vers als ein Wissen. Somit ermöglicht die lyrische Setzung des Ich einen utopischen Übertritt des Friedenstiers vom mythischen in den realen Raum. Indem die Sprache als postulierendes, performatives Instrument fungiert, ändert sich der Zustand der Verschließung »in Avalun« (V. 7) zu einem der Öffnung und Befreiung »aus Avalun« (V. 18).
276 HKA 2-3.1, S. 42. 277 G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 268.
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6. Utopische Tendenzen Möglichkeitsdenken in der zeitgenössischen Lyrik
Kirchhöfer stellt der Gegenwart, was ihr Verhältnis zum Utopischen anbetrifft, ein negatives Zeugnis aus: »Die Postmoderne hat das Ende der großen Erzählungen verkündet und verdächtigt alle diejenigen, die an das Prinzip Hoffnung glauben als Ideologen. Die Optimierung des Gegebenen und nicht die Projektion des Zukünftigen ist gefragt.«1 Nicht zuletzt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion bzw. dem Fall des »Eisernen Vorhangs« 1989 lässt sich in den öffentlichen und politischen Diskursen eine verbreitete Utopieskepsis beobachten. Insbesondere liberale Demokratien favorisieren die Idee eines Mit- und Nebeneinanders pluraler Lebensentwürfe, weswegen in einer hoch individualisierten Gesellschaft übergreifende, einheitliche und umfassende, ideale Gesellschaftsmodelle keine Konjunktur haben. Eine pragmatische Ausgestaltung des Hier und Heute genießt bis in die 2010er Jahre hinein deutlichen Vorrang gegenüber dem Nachdenken über das Dasein in der Zukunft. Die zeitgenössische Lyrik steht in einer markanten Opposition zu jener Fokussierung auf die bloße Gegenwart. Wie im Folgenden überblicksartig und mit Blick auf einen segmentierten und diversen Markt lyrischer Produktionen ohne Anspruch auf Vollständigkeit dargelegt wird, zeichnen sich vor allem drei übergeordnete Tendenzen ab, die jedoch nicht scharf voneinander zu trennen sind: 1. Der Traum und das dichterische Schreiben als Träger des Utopischen, 2. Ursprungsund Schöpfungsutopien und 3. Aufbrüche zu und die Imagination von unbekannten Orten.
6.1
Das Jenseits von Traum und Poesie
Der Modus des Träumens ist Initiation für utopische Impulse, wie sie Bloch bereits mit den sogenannten Tagträumen assoziiert. Der Schlaf ermöglicht in jüngeren Texten des Dichters Durs Grünbein eine Entdeckungsreise zu noch unbekannten 1
D. Kirchhöfer: Utopie und Nostalgie, S. 37.
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Utopielyrik
Topografien. Beleg dafür ist das Poem Orontius2 aus dem Band Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond. Orontius Der See des Schlafs war so ein Ort. Kein Atlas Verzeichnet ihn, ein Sonnenpfad führt zu ihm hin. Es gibt ihn wie den Weißen Nil, den Biwa-See. Sein Rascheln schläfert ein. Es ist Musik, Die über Schläfen streicht – als Sommerwind. Die Augen werden schmal dort. In den Ohren Fängt sich Geruch, verwirrt den Sinn Für jedes weitere Utopia. Derselbe Blick Erfaßt den Wüstensand und sieht schon Ninive. Im Zentrum der aus drei Terzetten bestehenden Miniatur steht der »See des Schlafes« (V. 1), dessen reales Vorhandensein durch den Vergleich mit dem »Weißen Nil« und dem japanischen »Biwa-See« (V. 3) einerseits postuliert und andererseits durch folgende Verse infrage gestellt wird: »Kein Atlas/Verzeichnet ihn, ein Sonnenpfad führt zu ihm.« (V. 1f.) Der Parallelismus umfasst einen Nicht-Ort, den zu finden nur ein unklarer Weg, nämlich der Sonnenpfad, ermöglichen soll. Dass hier die Rede von einem erträumten Raum ist, legen innerhalb dieses Spannungsgefüges aus wirklichen und unwirklichen Topografien ferner die zweite und dritte Versgruppe nahe. Analogisiert wird er, welcher eine einschläfernde Wirkung hat (Vgl. V. 4), mit der »Musik« (V. 4) und dem »Sommerwind« (V. 5). Ferner heben die Verse »In den Ohren//Fängt sich Geruch« (V. 6f.) hervor, dass dem Eintritt in »Utopia« (V. 8) eine synästhetische Verzauberung vorausgeht. Er »verwirrt den Sinn« (V. 7) und sprengt die Grenzen zwischen akustischer, visueller und taktiler Wahrnehmung. Um in den unbekannten Kosmos zu gelangen, braucht es zuerst die Fantasie, die Abwesendes bzw. Verlorenes wieder ins Bewusstsein rücken kann. So genügt bereits das »Erfaß[en] de[s] Wüstensand[s]« (V. 9), damit die untergegangene, antike Stadt »Ninive« (V. 9) vor dem geistigen Auge entstehen kann. Die Welt der Objekte gibt Impulse, die im Inneren des Subjekts Effekte evozieren. Besonders signifikant fällt diese Wechselwirkung ebenso in Anja Kampmanns IM WINTER UNSERS MISSVERGNÜGENS,3 erschienen im Band Proben von Stein und Licht, aus.
2 3
D. Grünbein: Cyrano oder Die Rückkehr des Mondes, S. 48. A. Kampmann: Proben aus Licht und Stein, S. 23.
6. Utopische Tendenzen
IM WINTER UNSERS MISSVERGNÜGENS Das kleine ferne Haus eingerollte reglose Igel in denen es glüht Er sitzt am Feuer mit seinen empfindlichen Knochen aus Glas die er sich neu formt, neu. Im Winter unsers Missvergnügens Figuren. Die leergeschriebenen Gläser seiner Tinte voller Gesichte Quarzsand und Kalk Du siehst den Hungerstaub der Galaxien sich dehnen vor diesem Ofenlicht bleibst du allein Ein Lichtschein bei fast geschlossenem Auge der von der Abendsonne spricht über Bäumen Tiere, das alte Glas nicht berechenbar was sich zeigt. Dann eine zärtliche Suche nach Kartons und Papieren als wüsste er nicht was es heisst dass diese Hälse brechen ein alter weicher Stoff etwas wie Glauben für den Transport was er meint. Das Glas von all den leergeschriebenen Stunden Abends am Feuer schaffte er das KEHREN DIE STIMMEN ZURÜCK ZU IHREM TRÄUMER KOMMEN HEIM. In dem Poem ist die Rede von einem »Er« (V. 3), den die LeserInnen aufgrund der Tatsache der »leergeschriebenen Gläser seiner Tinte« (V. 6) als Schriftsteller zu identifizieren dürften. Darüber hinaus erfährt man über ihn, dass er aus Glasknochen besteht und sich offensichtlich vor einem Kamin in einem abgelegenen Haus (vgl. V. 1) befindet. Dass die reale Welt jedoch von Anfang an sekundär ist, verdeutlicht der zweite Vers über die »eingerollte[n] reglose[n] Igel in denen es glüht« (V. 2). Man kann die sich zusammenrollenden Vierbeiner als Chiffren des Rückzugs, ja, der Weltabstinenz interpretieren. Bezogen auf den Dichter lässt sich dadurch auf ein eremitisches Leben an einem Ort jenseits der Zivilisation schließen. Spinnt man den Faden der Analogie noch weiter, so könnte man die im Inneren glühenden Igel als Versinnbildlichung poetischer Schaffenskraft im Allgemeinen auffassen. Genau dort scheint sich der Ort des Utopischen zu offenbaren, von wo aus sich Materielles und Immaterielles in Bewegung versetzen lassen. »Die Utopie ist an sich nichts als ein Wunschtraumgebilde, abstrakt von Haus aus, ein Sich-
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Ausdenken-Wollen von glücklichen Tagträumen«,4 in denen Unmögliches möglich wird. So weiß der verletzliche Schriftsteller seine eigenen, fragilen Knochen »neu [zu] form[en]« (V. 4). Im weiteren Verlauf verlagert sich der Fokus des Gedichts vom Mann auf die Dynamik im Raum. So ist vom sich ausdehnenden »Hungerstaub der Galaxien« (V. 9) vor dem Ofen und dem personifizierten »Lichtsschein« (V. 11), »der von der Abendsonne spricht« (V. 12), die Rede. Das mehrfach in der poetischen Miniatur vorkommende Glas, das sowohl für Zerbrechlichkeit als auch vermeintliche Transparenz steht, nimmt in der zweiten Hälfte inhaltlich kaum mehr Bezug auf das Material der Knochen, sondern erinnert an eine Wahrsagerkugel. So heißt es im dreizehnten Vers: »das alte Glas/nicht berechenbar was sich zeigt« (V. 13f.). In ihm – ein Pronomen, das sich außerdem auf das Kaminfenster und das Tintenglas gleichermaßen beziehen lässt – kommen die Volatilität und Offenheit zum Ausdruck, die das Gedicht in einen utopisch-träumerischen Horizont rücken. Auf der Ebene der Form spiegeln die im letzten Drittel des Gedichts vorkommenden Spatien in den Versen die imaginativen Leerstellen wider. Auf das abstrakte Spiel aus Licht und Staub folgt die »Suche nach Kartons und Papieren« (V. 15), ergo nach Gegenständlichem. Trotzdem vermag der Poet nichts, wie die Verwendung des Konjunktivs zeigt – »als wüsste er nicht was es heisst dass diese Hälse brechen« –, zu greifen. Physisches und Nicht-Physisches sind kaum zu trennen. Demgemäß erscheint »ein alter weicher Stoff« als »etwas wie Glauben« (V. 17f.). Letzterer sei weiterhin »für den Transport« (V. 19) vorgesehen. Zu der unmöglichen Operation, nämlich den immateriellen Glauben zu wie ein konkretes Ding zu versetzen, ist nur das poetische Schreiben als utopische Praxis in der Lage. Die vorletzten, im Präteritum gehaltenen Verse dokumentieren den Prozess des Niederschreibens als Schaffensprozess: »Das Glas von all den leergeschriebenen Stunden/Abends am Feuer schaffte er das« (V. 20f.) – was das wenig elegant wirkende Demonstrativpronomen genau ausweist, bleibt als Leerstelle unklar. Obgleich der erwartbare Doppelpunkt fehlt, ist es plausibel, die in Majuskeln gehaltenen Schlussverse als das Resultat der Produktion anzusehen, wobei sie zugleich das Gedicht als Ganzes erhellen. Sie lauten: »KEHREN DIE STIMMEN ZURÜCK ZU IHREM TRÄUMER/KOMMEN HEIM« (V. 22f.). Bevor die personifizierten Stimmen heimkommen, womit wiederum ein utopisches Motiv im Sinne der Aufhebung von Entfremdung angesprochen wird, müssen sie ausgezogen sein. Die unterschiedlichen Elemente des Poems, die zunächst scheinbar zusammenhangslos vorliegen, können vor diesem Hintergrund als Erweiterung und Ausdehnung des Geistes in den Raum gedeutet werden. Die isoliert stehenden »Figuren« (V. 6) wie Staub, Licht etc. repräsentieren die Imaginationen, die aus dem subjektiven Inneren des Traums hinausdrängen. Ihre Rückkehr bzw. Wiederankunft erfolgt schließlich durch das (Leer-)Schreiben.
4
E. Bloch: Utopische Funktion im Materialismus, S. 277.
6. Utopische Tendenzen
Dieses ist utopisch markiert, weil es selbst den Modus offenbart, in dem die Heimkunft als Thema des Textes im Prozess ermöglicht wird. Eine ähnlich poetologische Dimension wird man auch in einem RêverieGedicht von Nico Bleutge gewahr, der sie an ein für die Gegenwartslyrik markant utopisches Motiv bindet, nämlich das der Pflanze bzw. des Pflanzenwachstums. Im Zentrum des titellosen Textes5 steht ein Kautschukbaum. mit blütensaft und braunen samen mit spritzern von grün und wasserfäden können die blätter des kautschukbaums, die sich selber zurückziehen, wege wie luft in den raum zeichnen wenn du hingehst und einen schnitt setzt tritt an der rinde milchsaft aus und die mulde vertieft sich solange das wachs seinen duft herübersendet. wollgras gewächse. was du siehst, sind die weißen tropfen und ein mann, der den saft mit schwefel anreichert hebt den schmelzpunkt ein wenig. die verwandlung durchspüren so wie die stollen sich im hintergrund zusammenschließen zellgang bindet sich an zellgang, graphitreiche zonen im innern der luft. und die tiere graben sich einwärts, verstehen wie sie die winterblauen stoffe tauschen, flußspat, gewölle magnetische staus, ihr schwanken verdecken, ihre feinkristalline struktur, in die gänge eintragen holz greifen, ein paar mürbe fäden was sich mischt, sind die plastikschaufeln. erdwachse driftende schuhe, farbstoffe, die nach pflanzen riechen die manganlinien sind den schelfen voraus und die mondblume, die man sich als kind in mumbai vorstellt oder in manaus, schlägt von unten weiter. hol das land ein nimm eines der röhrchen, und wenn du an wörter wie schneeberg denkst oder schlema, ziehst du langsam den rauch ein und läßt die erinnerungen wachsen Obgleich sich dessen Blätter zu Beginn zurückziehen, sind sie doch dazu imstande, »wege wie luft in den raum [zu] zeichnen« (V. 4). Bezeichnet wird damit der Duft des »milchsaft[s]« (V. 6), welcher durch einen vom Du verursachten Rindenschnitt austritt. Die »weiße[n] tropfen« (V. 8) werden daraufhin von einem nicht näher
5
N. Bleutge: nachts leuchten die schiffe, S. 13.
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benannten »mann« (V. 9) mit Schwefel vermischt. Jene Bearbeitung am »schmelzpunkt« (V. 10) löst eine Kettenreaktion aus, die dann zu einer Veränderung, ähnlich der Metamorphose in Rilkes Dichtung, des Stoffes führt: die verwandlung durchspüren so wie die stollen sich im hintergrund zusammenschließen zellgang bindet sich an zellgang, graphitreiche zonen im innern der luft (V. 10-13) Die Verwandlung der Materie setzt mit dem Hinweis auf die »graphitreiche[n] zonen« poetische Effekte frei. Die anfänglich gegenständliche Ebene der Beschreibung geht im Rahmen des Dichtens sukzessive in abstrakte Bildfrequenzen über: und die tiere graben sich einwärts, verstehen wie sie die winterblauen stoffe tauschen, flußspat, gewölle magnetische staus, ihr schwanken verdecken, ihre feinkristalline struktur, in die gänge eintragen (V. 13-16) Geschildert wird in der vorliegenden Passage ein kaum analytisch zu zerlegendes Ineinander mehrerer Aspekte. Welche Tiere sind gemeint? In welche Gänge sollen sie sich »eintragen«? Wie trägt man sich in Gänge ein? Und worauf beziehen sich die »magnetischen staus«? Die Übercodierung in Kombination mit der Dekontextualisierung trägt zu einer inhaltlichen Offenheit bei. Die zweite Versgruppe verstärkt zunächst diesen Eindruck des Diffusen: »was sich mischt, sind die plastikschaufeln. erdwachse/driftende schuhe, farbstoffe, die nach pflanzen riechen« (V. 18f.). Zur Vermengung der Produkte der Kautschukverarbeitung kommen das chemische Element Mangan sowie »die mondblume, die man sich als kind in mumbai vorstellt« (V. 13), hinzu. Da sich deren Blüten bei Nacht öffnen, wird durch sie die Zeit des Traums eingeleitet. Ferner versteht sich die Pflanze als Symbol für den Drogenrausch, dessen Wirkung der Text mittels seiner Verbindung von Materiellem und Immateriellem, kurzum: den zahlreichen Grenzüberschreitungen widerspiegelt. Dieses Strukturmoment des Gedichts unterstützend, hebt das Prädikat »vorstellt« auf die Fantasie ab, welche in einem engen Zusammenhang mit der Erinnerung steht, wie der Schluss des Gedichts dokumentiert: »hol das land ein/nimm eines der röhrchen, und wenn du an wörter wie schneeberg/denkst oder schlema, ziehst du langsam den rauch ein und läßt die erinnerungen wachsen« (V. 22-25). Utopische Relevanz erlangen die letzten rätselhaften Verse bereits durch den Appell, das Land einzuholen. Da dieses dem Leser unbekannt ist, lässt er sich als ein U-Topos beschreiben. Bedeutsam sind die Gesamtentwicklung und Performativität der poetischen Miniatur, die ein gleitendes Übergehen vom Dinghaften zum Immateriellen skizziert und dadurch einen Überschuss an bedeutungsoffenen Bildern bzw. Leerstel-
6. Utopische Tendenzen
len zu erkennen gibt. Dass es zu deren Füllung eines utopischen Bewusstseins bedarf, legt das Prädikat »denkst« nahe, das mit dem »schlema« verknüpft ist. Dieses sowie »schneeberg« verweisen auf Orte im sächsischen Erzgebirge. Mitunter fanden hier über achtzig KZ-Häftlinge sowie mehrere Zwangsarbeiter der Rüstungsindustrie den Tod. Das im Text angesprochene Denken ist offensichtlich mit einem die geschichtlichen Aspekte einbeziehenden Neuverständnis der belasteten Städte verbunden. Die Benebelung der Sinne stellt ein Übergangsstadium dar. Durch ein Röhrchen, mit dessen Hilfe der Rauch, gemeint ist jener, der bei der Verarbeitung des Kautschuks entsteht, eingesogen werden soll, wird eine Atmosphäre hervorgerufen, die dem High-Zustand infolge der Einnahme einschlägiger Betäubungssubstanzen gleicht. Die daraus resultierende gedankliche Freiheit befördert das Heraufkommen des Utopischen nicht aus der reinen Gegenwart heraus. Vielmehr offenbart sich das zu Antizipierende sich bildlich im Wachstum niederschlagenden Erinnerungen. Es ist somit das Unabgegoltene der Vergangenheit, das seine Wirkung entfaltet, indem es die Basis für die Vorstellungen des Zukünftigen legt. Um Antizipation zu ermöglichen, setzen Gegenwartsdichter auf eine elementare Vagheit. Auch Marion Poschmanns lyrisches Œuvre fußt auf dem Grundgedanken, aus dem Unbestimmten heraus das Potenzial für die Ausgestaltung des Noch-Nicht-Gewordenen zu generieren. Ihr Gedicht Päonienschnee,6 erschienen im Band Geliehene Landschaften, thematisiert Leere und Traum als utopische Initiationsmomente, die eine Nähe zur Objektmeditation zu erkennen geben. Päonienschnee Den Blick halten, nicht mehr zurücknehmen. Bäume behaupten, daß sie sich ausschließlich aus meinen Träumen ergeben. Du wartest vor leider geschlossenen scenic spots, vor tiefschwarzen Kalligraphien, vor Busch und Tal. Sapporo. Sendai. Noboribetsu. Langsam erreichst du das Pflanzenmaximum deines Schlafs, Tuscheflecken, die sich im Wind immer mehr vergrößern. Beinah-Gestalten umwehen die Lagerhallen. Geräusche von Grauguß-Bremssohlen 6
M. Poschmann: Geliehene Landschaften, S. 80.
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härten noch über der Landschaft nach. Du stehst auf der Brücke auf rutschigen Harschkrusten, wartest auf jene Belebung des Dunkels, die sonst nur Fernsehgeräten zukommt, den grauen Begleitern in leergeregneten Städten. Füllest wieder Füllest du Fülle doch Die Teeschalen tragen in diesem Land eigene Namen. Hier wachsen Kiefern aus Mondschein, aus Schnee. Der Text beginnt mit den Worten: »Den Blick halten, nicht mehr zurücknehmen. Bäume behaupten,/daß sie sich ausschließlich aus reinen Träumen ergeben« (V. 1f.). Paraphrasiert laden die ersten beiden Verse dazu ein, sich auf die Imagination der Pflanze festzulegen und den Traumzustand dadurch im Sinne eines mentalen Heraustretens aus der empirischen Realität zunächst bewusst zu evozieren. Wie andere Texte im vorliegenden Band liefert auch dieser verschiedene Referenzen auf den asiatischen Raum. Städte wie »Sapporo« und »Sendai« (V. 5) werden genauso genannt wie die fernöstliche Schreibkunst der »tiefschwarzen Kalligraphien« (V. 4). Jene Allusionen auf die fernöstliche Kultur markieren in dem Text das Andere und Fremde, das zu erreichen sich im Wachstum der Pflanze versinnbildlicht. Indem sich mit dem »Pflanzenmaximum deines Schlafes« (V. 6) ferner die »Tuscheflecken« vergrößern, parallelisiert Poschmann den poetischen mit dem imaginativen Prozess. Der Traum als Möglichkeitsmodus erschließt im Weiteren einen Zwischenraum, wo neben Resten des realen Raums, eben mitunter den erwähnten Orten, noch konturlose »Beinah-Gestalten« (V. 8) und eine »Brücke« (V. 11) zu finden sind. Solche Phänomene implizieren den Übergang zu einer neuen Welt. Wichtig ist hierbei der Konnex zwischen den Sphären des Faktischen und Vorgestellten, die sich aus utopietheoretischer Sicht einander bedingen: »Der Berührungspunkt zwischen Traum und Leben […] ist gegeben in der auf die Füße gestellten utopischen Kapazität, die mit dem Real-Möglichen verbunden ist.«7 Es braucht demnach die Wirklichkeit, um aus dem Traum das Utopische zu entwickeln. Im vorliegenden Gedicht gilt es, die »Belebung des Dunkels« (V.12), erinnernd an Blochs Dunkel des gelebten Augenblicks, zu ermöglichen. Dieser Vorgang weist auf das Anliegen einer Hoffnung hin, die Leere, welche bildlich in den »leergeregneten Städten« (V. 13) zum Ausdruck kommt, utopisch auszugestalten. Die geminative Dreierfigur »Füllest wieder/Füllest du/Fülle doch« (V. 14-16) könnte 7
E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 165.
6. Utopische Tendenzen
eine intertextuelle Referenz auf Goethes Gedicht An den Mond sein, in dem das lyrische Ich sein Inneres in einer nächtlichen Seelenlandschaft spiegelt. Poschmanns Verse lesen sich als ein Appell, der noch im Konjunktiv beginnt und im Indikativ zum tätigen Vorstellungsvermögen anregt, das nicht zuletzt auch im Text Goethes angelegt ist. Den konkreten Bezugspunkt des zu Füllenden stellen bei Poschmann »die Teeschalen« (V. 17) dar. Sie »tragen in diesem Land eigene Namen« (V. 17). Sie formuliert es nicht aus. Wie bei Celan sind die Namen als Inbegriff einer sprachlichen Schöpfung zu verstehen. Indem deren Zielinhalt offen gehalten wird, ergibt sich die utopische Motivation hin zur weiteren sukzessiven Konkretisierung. Die Teeschalen sind dabei als poetische Gefäße aufzufassen. Losgelöst von den Gesetzmäßigkeiten von Physik und Wirklichkeit, bilden sie die Basis für einen noch unerschlossenen Raum, in dem Unmögliches möglich werden und Materielles aus Immateriellem hervorgehen kann, denn »hier wachsen Kiefern aus Mondschein, aus Schnee« (V. 18). Die utopische Zielbestimmung kann sich in der zeitgenössischen Lyrik in zwei Richtungen äußern, zum einen vorwärtsgewandt, zum anderen rückwärtsgewandt. Die retrospektive Variante knüpft an Blochs Begriff des »Gärens« bzw. des Unabgegoltenen in der Vergangenheit an. Diese überzeitliche Dimension, die an Sehnsüchte nach einem Wiederfinden des Ursprungs gekoppelt ist, soll an dieser Stelle näher in den Blick genommen werden. Was zumeist als verloren gilt, sind archetypische Landschaften und Idyllen. Silke Scheuermann und Marion Poschmann rufen, wie im Weiteren zu analysieren sein wird, motivisch das utopisch markierte Paradies auf.
6.2
Ursprungs- und Schöpfungsutopien
Silke Scheuermann verhilft in ihrem Band Skizzen vom Gras ausgestorbenen Arten und der verlorenen Natur zur Wiedergeburt – nicht ohne jedoch zuvor kulturkritisch den negativen Einflussfaktor Mensch als eine »geophysikalische[n] Kraft«8 zu thematisieren. In ihrem gleichnamigen Gedicht9 berichtet sie mit dystopischem Impetus von einer »Zeit der Auflösung« (V. 23). Skizze vom Gras Es war das Jahr, in dem sie das Ministerium für Pflanzen auflösten, da die Erde nicht mehr genug Arten beherbergte, für die der Aufwand sich gelohnt hätte. Der Minister und seine Mitarbeiter 8 9
G. Dürbeck: Das Anthropozän als geistes- und kulturwissenschaftlicher Reflexionsbegriff, S. 115. S. Scheuermann: Skizzen vom Gras, S. 95-97.
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wurden Verkehr und Technologie zugeschlagen, der Abteilung, die schneller wuchs als Organisches. Die letzten wirklichen Gärten waren die vertikalen. Sie erforderten sorgfältige Konstruktion und sehr viel Pflege, ein kostspieliges Hobby, das sich die wenigsten leisten konnten. Zum Glück blieben sie lange in Mode, und als sie es dann plötzlich nicht mehr waren, praktisch über Nacht, hofften die Architekten auf ein Comeback. Wenn etwas Gras über alles gewachsen ist, behaupteten sie, sagen wir in zehn Jahren, maximal in einer Generation, werden alle wieder danach schreien. Sie gaben ihre Pläne an die Kinder weiter mit dem Hinweis, man müsse nicht immer ganz von vorne anfangen, »wir kamen aus dem Nichts«, sagten sie, »aber ihr habt uns«. Die Kinder schüttelten die Köpfe und wandten sich wieder ihren Bildschirmen zu. Es war überhaupt eine Zeit der Auflösung. Gras war das Stichwort, das einzige, was wirklich noch wuchs, war ein spezielles Gras mit unaussprechlichem Namen, daher einfach »das Gras« genannt; die Architekten vergötterten es. Ihr Leben drehte sich um Gras, die Bauherren waren nur Geldgeber, wenngleich manche verstanden, was vor sich ging. Die Kindheit der Männer war mit dem Geruch nach Gras verbunden gewesen. Alles Gute schien einmal darin gelegen zu haben, Osternester, Ausflugsdecken, Jungfrauen, spätere Mütter, deren Gesichter vor Erwartung weiß schimmerten. Zuhause hatten wir die große Reproduktion einer Wiese an der Wand hängen. Henry Dargers Mädchen laufen durch das Gras einer Illustrierten, nackte, bewaffnete Kinder, Zwitterwesen. Sie sehen nicht unglücklich aus. Ich stand so oft staunend vor dem Bild,
6. Utopische Tendenzen
als ich ein Mädchen war. Leben ist Verwundung. Jeder Körper wird früher oder später mit Material in Berührung geraten, das ihn altern lässt: Liebe, Sonne, Zeit. Trotzdem will er mit den Jahren immer mehr, ein kompliziertes Muster aus Sehnsucht und Befriedigung beginnt sich zu bilden, ein kleiner Dschungel aus allem, was Natur ausheckt, gestaltet und wachsen lässt. Ab und zu durchquert ihn ein zynischer Eingeborener, den du von irgendwoher kennst. Ab und zu lässt du einen Touristen rein, das ist aber auch alles. Das reicht. Ich bin die Tochter des Architekten. Auch über meinem Schreibtisch hängen Stickereien mit Sprüchen wie »Gras ist die sanfteste Habe«, »Büschel das schönste Wort«. Ich gebe zu, ich glaube das. Gras ist ein ehrliches Gewächs, außerstande, ein Leben in anderen Breiten zu führen. Gras schätzt den Raum, den wir ihm geben. Diese Dankbarkeit ist stumm, aber nicht wortlos; sie findet Wirte. Manche Dichter sprechen in ihrem Namen wahre Dinge leise und schön aus; wie das Gesumme der Bienen in einem Dickinsongedicht erfüllt es die Himmel unserer Phantasie. Ich bin die Tochter des Architekten. Ich sehe den Zufall, und ich stelle mir vor, wie der Zufall mich sieht und über mein gelblich gefärbtes Haar lacht. Darüber, dass mir keine Farbe außerhalb der bekannten Palette einfällt. Rot, Blond, Violett. Rosa wäre auch möglich. Grün. Und dann? Alles hat Grenzen. Der Bruch der Konvention findet innerhalb der Konvention statt, Auseinandersetzungen über den Realismus sind obsolet geworden, weil wir alle Wirklichkeiten
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gleich behandeln, gleich schlecht. Erstaunlicherweise ist Gras nicht nachtragend. Grün ist Wärme. Jeder Halm wird früher oder später umgetreten und erhebt sich wieder. Beweise liegen im Gras, können aufgehoben und näher betrachtet werden. Das Picknick etwa hinterließ Spuren; außer Eiresten auch Plastiktüten und Alufolie. All das hatte Platz, wurde abgebaut, überwachsen. Das Gras blieb eine Zeit lang flach, wo die Decke lag, alle vierblättrigen Kleeblätter waren ausgerupft worden. Es ist die Zeit nach den vertikalen Gärten. Hoffnung erstreckt sich ins Horizontale. Das Gras weiß, dass grün die Farbe des Schmerzes ist. Angespielt wird in dem Gedicht auf eine Zukunft, in der das »Ministerium für Pflanzen auf[ge]löst[]« wurde, weil die Erde kaum noch über genügend Arten von ihnen verfügt. Stattdessen ist ironisch die Rede von der Abteilung für »Verkehr und Technologie« (V. 4), »die schneller wuchs als Organisches« (V. 5). Erinnernd an Baudrillards Simulakrum,10 hat der wissenschaftliche Fortschritt die Realität der Natur durch ihre Kopie ersetzt: »Zuhause hatten wir die große Reproduktion/einer Wiese an der Wand hängen« (V. 35). Indem sich der Mensch zum Schöpfer auserkoren hat, wurde die Referenz auf das Göttliche überflüssig. Bildlich heißt es in der zweiten Versgruppe: »Die letzten Gärten waren die vertikalen./Sie erforderten sorgfältige Konstruktion und/sehr viel Pflege« (V. 6-8). Im märchenhaft-legendarischen Ton erzählt das Langgedicht von einer Transparenzgesellschaft, als deren Signaturen Byung-Chul Han Fläche und Glätte (insbesondere der auch im Gedicht allpräsenten Bildschirme) identifiziert.11 Wenn Scheuermanns lyrisches Ich daher lakonisch postuliert »Leben ist Verwundung« (V. 42), formuliert es ein Bekenntnis zum Echten und Nicht-Virtuellen, ja, zum Körperlichen selbst. Das Künstliche steht dabei dem Authentischen gegenüber. Nachdem sich die Majorität der Gesellschaft in Skizzen im Gras ersterem zugewandt hat, treten die Poeten als Korrektiv und überzeitliche Bewahrer des Natürlichen auf. 10 11
Vgl. J. Baudrillard: Agonie des Realen, S. 9. Vgl. B.-C. Han: Im Schwarm, S. 56.
6. Utopische Tendenzen
Manche Dichter sprechen in ihrem Namen wahre Ding leise und schön aus; wie das Gesumme der Bienen in einem Dickinsongedicht erfüllt es die Himmel unserer Phantasie. (V. 63-67) In die Tradition der pontifikalen Linie,12 in der nach Brecht Hölderlin und George für einen prophetischen Entwurf von Dichtung einstehen, scheint sich auch diese lyrische Komposition einzureihen. Gegen die »Architekten« (V. 68) der simulierten Welt steht die beharrliche Natur, die gerade in der Verdichtung durch das Textsubjekt wieder zur Blüte gelangen kann. Denn »erstaunlicherweise ist Gras nicht nachtragend.//Grün ist Wärme. Jeder Halm wird früher oder später/umgetreten und erhebt sich wieder.« (V. 79-81) Proklamatorisch lauten die letzten drei Verse: »Es ist die Zeit nach den vertikalen Gärten./Hoffnung erstreckt sich ins Horizontale//Das Gras weiß, dass grün die Farbe des Schmerzes ist.« (V. 88-90) In gleich mehrerer Hinsicht sind diese Aussagen bedeutsam. Offensichtlich wird das Heil nicht mehr auf eine metaphysische Instanz bezogen. Da sich die »Hoffnung« eigendynamisch über die Landschaft ausbreitet und das Horizontale – antithetisch zur Vertikalen, die auf Versuche menschlicher Selbsttranszendenz verweist – bestärkt wird, zeigt sich das Utopische als irdisches Projekt. Die poetische Evokation verleiht der Natur, die zuletzt personifiziert und mit Handlungsmacht ausgestattet wird, eine Stimme. »Grün«, gemeinhin die Farbe der Hoffnung, taucht für den Leser nach dieser positiven Schlusswendung unerwarteterweise im Kontext mit dem Schmerz auf. Da das lyrische Ich zuvor Vitalität mit der Wunde assoziiert, dürfte der Schmerz als Signal für Lebendigkeit zu deuten sein. Er bildet damit die Kontrastfigur zur morbid-reinen Oberflächenästhetik der skizzierten Zukunftsgesellschaft. Silke Scheuermanns Öko-Utopie basiert auf der Erkenntnis, dass, wie sie im Gedicht Floras Lied13 zum Ausdruck bringt, »kein Glück im Schattenrisse der/Katastrophe« (V. 31f.) entstehen kann. Gemeint ist »die Hybris einer die natürlichen Ressourcen ausbeutenden Menschheit.«14 Floras Lied Nicht die ganze Welt, aber alles, was blüht, Bäume, Sträucher, Kräuter, wird von mir verkörpert, einer einzigen Frau. Ich zeige mich blühend, Sinnbild 12 13 14
B. Brecht: Arbeitsjournal, S. 124. Scheuermann: Skizzen vom Gras, S. 43f. Hayer: Heilsame Schwermut, S. 163.
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des Schönen, andere Frauen beneiden mich. Und doch: Mir ist diese Schwäche für Schutzräume eigen, Rückzüge, Gärten, begrenzte, doch gierige Körper, Körper, die ihren Charakter als Zufluchtsort kennen, strategisch bepflanzt für Lesende, Liebende, all jene, denen die Möglichkeiten innerhalb Mauern unendlich erscheinen. Vielleicht nur dort. Ihr habt alles verlassen, was euch nicht genügte. Das Paradies, vor allem, war unzureichend. Grenzenlose, fehlerfreie Weite. Der Regen gab seine Regenshow perfekt ab: absolut winterlich alles, Schnee stäubte Oberflächen ein – Doch nichts trug sich auf dem Rücken des andern zu. Genome wurden nicht entschlüsselt, wozu auch, Krankheiten kamen nicht vor, die Strahlen: keine Belastung. Kein Glück im Schattenriss der Katastrophe, kein Glück. Versteht mich nicht falsch, nicht dass ich euch Kriege wünschte, Flutwellen, Seuchen, nichts von all dem sollt ihr erfahren – doch erzählt euch, bitte, davon, wisst es. Genießt eure Welt, unsicher, wie sie bestellt ist, doch tut es mit Vorsicht, trefft Vorbereitungen für ernste Fälle.
6. Utopische Tendenzen
Alles ist besser als dieses pelzige Nichtstun, das nichtsnutzige Vegetieren, wofür überhaupt? Es galt im Paradies ein Nichtsterben und Nichtwerden, schieres Dasein ohne Sorge, Nichtsein. Die Zweige ragten ewig fruchtbeladen in den satten Himmel. Lebten nicht. Verwunschener Ort? Möglich, doch er lebte nicht. Ihr hattet keinen Hunger, nie – Ich plädiere für Gärten, zieht in Gärten, lebt dort, Gärten als Gegenform des Paradieses, Gärten, eurer immerwährenden Sorge überantwortet, pflegenden Händen, solche, die aus Liebe und andere, die aus Trauer pflegen, beschäftigte Hände, ähnlich Odysseus’ Händen, unerbittlich und hartnäckig, keine noch so perfekte Insel konnte dagegen ankommen, keine Nymphe Kalypso ihn einlullen, nehmt dies, bescheiden, als Trost, dass ihr loslassen müsst, im Leeren den Sinn selbst erschaffen. Zunächst setzt der Text mit dem Fortschrittseifer ein, den die titelgebende Naturgöttin als lyrisches Ich moniert. Über die Mitglieder der humanen Spezies sagt sie: »Ihr habt alles verlassen, was euch/nicht genügte. Das Paradies,/vor allem, war unzureichend./Grenzenlose, fehlerhafte/Weite.« (V. 18-21) Durch die Ellipse wird der Blick auf den Ursprung im Zeichen eines behaupteten Mangelbewusstseins gerichtet.15 Da die Menschen nichts zufriedenstellte und die daraus resultierende Überwindung der Natur schwere Folgen nach sich zog, geriert sich Flora als Mahnerin: Versteht mich nicht falsch, nicht dass ich euch Kriege wünschte, Flutwellen, Seuchen, nichts von all dem sollt ihr erfahren – doch erzählt euch, bitte, davon, wisst es. Genießt eure Welt, unsicher, wie sie bestellt ist, doch tut es mit Vorsicht, trefft Vorbereitungen für ernste Fälle. (V. 33-39)
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Vgl. ebd., S. 165.
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Eine Rückkehr zum Paradies erweist sich aus Sicht des Textsubjekts weder als möglich, noch als wünschenswert. »Es galt im Paradies ein Nichtsterben und/Nichtwerden, schieres Dasein ohne Sorge,/Nichtsein.« (V. 41-43) Gerade die Nicht-Gemination dokumentiert Leere und Stillstand gleichermaßen. Jener Paradiesvorstellung, die mit der Idee klassischer und damit statischer Systemund Sozialutopien assoziiert werden kann, steht das Prinzip der dynamischen Gestaltungskraft, mithin des Werdens, gegenüber. Floras Fürsprache am Ende zeugt von der utopischen Wende: »Ich plädiere für Gärten, zieht in Gärten, lebt dort,/Gärten als Gegenform des Paradieses,/Gärten eurer immerwährenden Sorge überantwortet« (V. 47-49). Die Alternativität, manifestiert im traditionell utopischen Motiv des Gartens,16 ergibt sich aus der Distanz zum Ist-Zustand und zielt auf einen sorgenden, verantwortungsbewussten und zeitlich unbegrenzten Prozess der Arbeit mit und an der Natur. Wie Bluhm betont, handelt es sich beim Garten stets um einen polyvalenten Symbolraum, nämlich als Raum von Mehrdeutigkeiten und Konflikten. Lebensnah ausgestaltet oder topisch aufgerufen, eröffnete er in Summa ein Gegen-, Neben-, Mit- und Ineinander von Liebe, Verführung und Betrug, von Intimität und Entäußerung, Wahrheit und Täuschung, Glück und Verzweiflung, Ernsthaftigkeit und Spott.17 Der Garten lässt auch bei Scheuermann mehrere erwähnte Potenziale zur Deutung zu – allein, weil seine Bestimmung offen gehalten bleibt. Die Aktivität, so die oxymorontische Schlusspointe, richtet sich auf die existenzialistisch geprägte Notwendigkeit, »im Leeren/den Sinn selbst [zu] erschaffen.« (V. 57f.) Die Leere wird als Potenzial gesehen, was durchaus auf die Verwendung durch Friedrich Nietzsche in seinem Werk Also sprach Zarathustra zurückgehen könnte. Bereits in der Vorrede des titelgebenden Protagonisten taucht die Leere als Initiation für eine neue Menschwerdung auf: Segne den Becher, welche überfliessen will, dass das Wasser golden aus ihm fliesse und überallhin den Abglanz deiner Wonne trage! Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden.18 Der Mensch muss sich bei Scheuermann im Zusammenspiel mit der Natur einen eigenen Entwurf geben sowie »die Tristesse und die Klage« in »eine Bejahung des Daseins«19 verkehren. Dass Scheuermanns visionäre Poetik die Utopie als progres16 17 18 19
Vgl. ebd. L. Bluhm: »Und der Garten ist voller Leut«, S. 172. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 7f. Hayer: Heilsame Schwermut, S. 165.
6. Utopische Tendenzen
sives Bewusstsein im Sinne der Levitasschen utopischen Methode ausweist, welches das generische Werden forciert, macht sich auch in anderen ihrer Texte bemerkbar. In ihrem Gedicht Efeu20 finden sich die Verse »Doch erst, wenn ihr aufhört, das Ende/zu denken, seid ihr geheilt.« (V. 16f.) Avisiert wird eben nicht ein vorgezeichneter, schon bis zum Stillstand vollendeter Idealzustand, sondern stets ein Weiterentwickeln, ein zukunftsgerichtetes Handeln. Dass die Tat für Scheuermann mitunter auch negative Folgen zeitigen kann, belegt das zweite Gedicht des Bandes Skizzen im Gras, nämlich Zweite Schöpfung.21 Zweite Schöpfung Wie wir es schaffen, hat keine Bedeutung. Wir hatten seit letztem Sommer schon dicht am Ziel geforscht. Nur der letzte Schritt fehlte. Ich zitterte, als ich sagte: Ein Zwergmammut wird unseren Sohn herumtragen, Sibirische Tiger unsere Töchter beschützen. Ein Tag wird wie der andere sein, wenn wir die Hirne der Großsäuger knacken: ekstatisch, verträumt, voller Verluste. Zweihundert Milliarden Nervenzellen, aufgelöst, ineinander vertäut wie Boote im offenen Meer. Gehirn, Seele und Sinne fahren zusammen hinaus, eine Flotte in Formation. Nenn es Krieg, nenn es Wahnsinn: Dies ist die Freiheit der Liebe: neue Wesen zu schaffen, sie uns zur Seite zu stellen. Dies ist die Freiheit unserer Art, neue, andere Arten zu machen. Gott hat uns mit einem Bausatz beschenkt. Statt von der göttlichen erzählt es von der humanen Freiheit, wobei die technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten dazu insgesamt eine ambivalente Bewertung erfahren. Aufschlussreich sind die letzten fünf Verse: Nenn es Krieg, nenn es Wahnsinn: Dies ist die Freiheit der Liebe: neue Wesen zu schaffen, sie uns zur Seite zu stellen. Dies ist die Freiheit unserer Art, neue, andere Arten zu machen. Gott hat uns mit einem Bausatz beschenkt. (V. 12-16) Der Parallelismus zu Beginn des hier zitierten Abschnitts lässt mit den Hinweisen auf »Krieg« und »Wahnsinn« zunächst eine negative Markierung erkennen. Die 20 21
Scheuermann: Skizzen vom Gras, S. 49. Ebd., S. 11.
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Ironie im Hinblick auf den menschlichen Fortschritt liest sich weiterhin an dem wenig eleganten und banal anmutenden Prädikat »machen« sowie dem »Bausatz« ab. Es wird deutlich, dass, so der herauszulesende Vorwurf, die Tat der Reflexion vorausgeht und die erste Schöpfung wohl nur als Grundlage für die anthropozentrische Unterwerfung derselben gedient hat. Die zweite Schöpfung stellt sowohl Fluch als auch Segen dar. Während ein ungebremster Fortschritt auf der einen Seite ein Leben allein auf die Frage nach seiner technischen Reproduzierbarkeit reduziert, lässt er auf der anderen Seite die Option zu, Verlorenes wieder zu erschaffen, was etwa Gegenstand von Poemen über die ausgestorbenen Arten Wandertaube22 und Dodo23 ist. Letzterer wird als verträumter Vogel geschildert. Dodo Es ist wahr, man kann zu verträumt sein zum Überleben. Neben dir spazierten immer mehrere Himmel einher. Ausschließlich freundliche andere Arten. Nun ja – bis wir kamen. Gott hat uns Wut geschenkt, dieses starke Gefühl ohne Richtung und Nutzen, und Appetit. Du, Dodo, bist dann rasch verschwunden, in diese andere Welt, in der Alice ewig versucht, von dir Wunderland-Spiele zu lernen. Aber uns reicht das nicht, wir wollen dich wieder. Niedlich, naiv, mit deinen treudoofen Nestern am Boden. Als harmlosen Kameraden für unsere Kinder denken wir dich. Glaub mir: Wir sind fast so weit. Dodo, du wirst wiedergeboren wie am Tag das Sonnenlicht. Ich verspreche es dir: Du wirst unter den ersten sein, die wir machen. Nachdem der Dodo aus der realen Welt verschwunden ist, hat er in Scheuermanns Text Eingang in jene von Alices Wunderland gefunden (vgl. V. 8). Angesichts dieses Verlustes in der Wirklichkeit sichert der die Menschheit verkörpernde Kollektivsingular dem ausgestorbenen Tier zu: »Glaub mir: Wir sind fast so weit./Dodo, du wirst wiedergeboren wie am Tage/das Sonnenlicht. Ich verspreche es dir:/Du wirst unter den ersten sein, die wir machen.« (V. 12-15) Erneut sorgt das abschließende Prädikat für einen Stilbruch inmitten des eher hymnisch-feierlich gehaltenen Tons. Die dadurch erzeugte ironische Colorierung am Schluss kontrastiert der vorige Vergleich der Inkarnation mit der morgendlich aufgehenden Sonne. Der 22 23
Ebd., S. 12. Ebd., S. 13.
6. Utopische Tendenzen
utopische Impuls in Scheuermanns Dichtung, der von der Rekreation eines vermeintlichen Ursprungszustandes ausgeht, steht demnach prinzipiell im Zeichen des Vorbehalts. Gemein ist den Möglichkeitsdimensionen in Scheuermanns Poemen, allen voran Floras Lied, mit Zeugnissen anderer Gegenwartsdichter die Fokussierung auf den Garten als Biotop eines vom Menschen selbst auszugestaltenden Paradieses. Dabei geht es zumeist um die Suche nach einer stabilitätsversprechenden »Form«,24 die zugleich Titel eines Gedichts von Uwe Kolbe ist. Form Nähme dir ich etwas von der Schwere ab auf jene eigne, die, mein Erbe, Vers nur werden kann, zugleich gelindert da, wo auszusprechen friedlich und auch klar, nicht auszubrechen in den schwarzen Hall. Nähme dir ich etwas von der Schwere ab, ich düngte damit unsern Garten, den wir hegten hinter unserm eigenen Haus, die Pappeln und Lupinen, Neuland. Alles ginge, Möglichkeitsform, alles. Hierin avanciert der Garten zum rettenden Ort. Der Text besteht aus zwei Quintetten, jeweils beginnend mit demselben konjunktivischen Refrain »Nähme dir ich etwas von der Schwere ab« (V. 1 u. 6). Der Irrealis drückt das zu realisierende Potenzial aus, mit dem das lyrische Ich das offenbar von Melancholie gezeichnete Du zu befreien versucht. Zunächst offeriert ersteres, dessen Schwere »auf jene eigne« (V. 2) zu nehmen, indem diese »Vers/nur werden kann« (V. 2f.). Die poetologische Wendung lässt allerdings nicht nur zu, den Schmerz in den Text zu verlagern. Vielmehr wird er – typisch für die Melancholiedichtung – durch die Übertragung »zugleich gelindert« (V. 3). Anstatt eskapistisch »auszubrechen in den schwarzen Hall« (V. 5), gilt es dem Ich, die Schwere »auszusprechen« (V. 4) und sie dadurch in eine codifizierte Ordnung zu überführen. Das zweite Quintett gibt noch eine weitere Option preis. Die Schwere dient nunmehr als Dünger für jenen »Garten, »den/wir hegten hinter unserm eigenen Haus,/die Pappeln und Lupinen, Neuland./Alles ginge, Möglichkeitsform, alles.« (V. 7-10) Sowohl das »Neuland« als auch die vom »alles« umgebene »Möglichkeitsform« signalisieren den utopischen Tenor des Textes.
24
U. Kolbe: Gegenreden, S. 26.
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Die Krise des Du erscheint als die für die Entstehung des Utopischen anfangs notwendige Mangelsituation, der Garten als Raum, in dem Gestaltungskraft die titelgebende Form annehmen kann. Er wirkt als Ort der Verwandlung, wo die Schwere als Dünger zum Wachstum von Neuem dient. Dem menschlichen Gärtner kommt in der Gegenwartslyrik immer wieder die Stellung eines Schöpfers zu. Die poetische Evokation ermöglicht, entweder das Vage respektive Chaotische in Konturen zu fassen oder wie in Marion Poschmanns Gartenplan25 aus dem Nichts ein Novum hervorgehen zu lassen. Gartenplan Aus einer geschützten Ecke heraus läßt du den Raum entstehen. Frag jetzt nicht, wo die Ecke herkommt, sie war bereits da. Du erschaffst die Stimmung von Bambuslaub, ein enthusiastisches Zittern im Nichts. Drei einzelne Bambusstengel, niemals zur Gänze zu sehen, ein Teich, eine Jahreszeit: Du läßt den Raum entstehen samt einer geschützten Ecke, aus der heraus du im weiteren operierst. Der Wasserspiegel des Teiches steigt auf, Bilder von Bambusblättern fallen durch seine Oberfläche hinein in die Tiefe. Du hast alles richtig gemacht, ein paar Wolken gebannt, etwas Glanz verteilt. Du stellst einzelne Steine auf und klebst ihnen Gesichter an, Ahnen. Nun iß die gesalzenen Pflaumen, iß den gesamten Schauapparat der im Tee wieder aufgegangenen Chrysanthemen. Fotografiere die Kinder in Blütenhaltung, ihre Hände als Hüllblätter unter dem Kinn. Komponiere die steinigen Massen am Eingang, vervollständige deine Anlage mit einer Geisterwand. 25
M. Poschmann: Geliehene Landschaften, S. 83.
6. Utopische Tendenzen
Du hast den Nachmittag mit der Suche nach schönen Gelehrtensteinen für deinen Schreibtisch verbracht. Wirf abends den einzig geeigneten Stein in den See, merk dir die Stelle, wo er versinkt, und warte ein paar hundert Jahre. Bereits die erste Versgruppe bestimmt den utopischen Charakter des Textes. Mit der Ansprache des Du wird sogleich ein motivatorischer Appell nicht nur an das Du, sondern – mit ihm gleichgesetzt – an den Leser ersichtlich, dessen Imaginationsvermögen dazu angeregt wird, die »Stimmung von Bambuslaub« (V. 5) vor dem inneren Horizont entstehen zu lassen. Typisch für Poschmanns Dichtung macht sich die Uneindeutigkeit der Bildsprache bemerkbar. Gegenständliches wie die kaum visuell wahrzunehmenden Bambusstengel entzieht sich der visuellen Wahrnehmung und fordert umso mehr die utopische Praxis der Konkretisierung und denkerischen Ausgestaltung der Andeutungen ein. Auch birgt ein signifikantes Paradox in den ersten beiden Versen einen utopischen Gehalt: Soll das Du einerseits aus einer »geschützten Ecke« (V. 1) heraus, den Raum kreieren, ist andererseits ist jene Ecke schon als Teil des zuvor anscheinend noch nicht gegebenen Raums vorhanden. Das »enthusiatische[] Zittern im Nichts« (V. 6) beschreibt angesichts dieser Unklarheit die Erwartungshaltung des Du im Vorfeld eines Schöpfungsaktes. Die zweite Versgruppe liefert die später als solche auch benannte »Anlage« (V. 24). Dabei handelt es sich um eine erdachte Landschaft, die, besser zu fassen, ein Hinweis auf Blochs Verständnis der Materie hilft. Die Materie selber ist unabgeschlossen, also ist sie Materie nach vorwärts, ist offen, hat eine unabsehbare Karriere vor sich, in die wir Menschen mit eingeschlossen sind. Sie ist die Substanz der Welt. Die Welt ist ein Experiment, das diese Materie durch uns mit sich selber anstellt. Also die wichtigste Bestimmung der Materie bei Aristoteles ist bezeichnet durch den Ausdruck ›dynamei on‹, das ›InMöglichkeit-Sein‹.26 Dieses Entwicklungspotenzial ist kennzeichnend für Poschmanns gegenständliche Objektwelt. Im Mittelpunkt stehen dabei die »Bilder von Bambusblättern« (V. 12). Gerade der Hinweis auf die Bilder hebt die Machtart des Textes hervor, der auf Bildmedien wie die Malerei oder die Fotografie verweist. Die Blätter »fallen durch seine [des Teiches] Oberfläche hinein in die Tiefe.« (V.13) Offenbar referiert das Possessivpronomen auf den Teich, der einerseits als Teil der neuen Welt zu verstehen sein mag, andererseits sie aber wieder unter seiner Oberfläche verschwinden lassen kann. Dieses paradoxe Arrangement prägt auch den Beginn der zweiten 26
E. Bloch: Utopische Funktion im Materialismus, S. 281.
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Versgruppe. Nachdem anfangs noch die Rede von einer (oxymorontisch) bereits bestehenden Ecke ist, wird dieser Umstand revidiert: »Du läßt den Raum entstehen/samt seiner geschützten Ecke, aus der heraus/du im weiteren operierst.« (V. 9-11) Nunmehr wird die Nische als Produkt der Kreation hergestellt. Nimmt man diese Wendung ernst, so kann das implizite schaffende Ich nicht verortet werden. Von wo aus agiert es, wenn es zuvor keinen Raum gab? Diese an dem letzten Urgrund des Seins rührende Frage sorgt für das für das Gedicht konstitutive Arkanum. Gesteigert wird dieses noch durch die vom Du aufzustellenden Steine mit Gesichtern, die, gemäß der die Versgruppe abschließenden Apposition, als Sinnbild der »Ahnen« (V. 17) zu deuten sind. Diese Annahme unterstreichend, nehmen die Steinlaternen mit ihrer Pagodenform in fernöstlichen Gärten die Funktion ein, die Ahnen zu verehren. Sollte es jedoch vor dem hier skizzierten Schöpfungsakt nur das Nichts gegeben haben, ist daraus zu schließen, dass es auch keine Vorfahren gegeben haben darf. Das Spiel mit Widersprüchen lässt sich mit Grundeigenschaften des Utopischen erklären. Die Antinomien befördern einen offenen, von Spannungen geprägten Erschließungsprozess, aus dem heraus sich antizipatives Denken entwickeln kann. Es vermag Aktivitäten der Aneignung zu initiieren, wie sie die vierte Versgruppe in Form von Imperativen an das Du auflistet: Nun iß die gesalzenen Pflaumen,27 iß den gesamten Schauapparat der im Tee wieder aufgegangenen Chrysanthemen. Fotografiere die Kinder in Blütenhaltung, ihre Hände als Hüllblätter unter dem Kinn. (V. 18-22) Neben den erwähnten Spannungen ist ebenso das Wechselspiel aus Kreieren (1.-3. Versgruppe) und Aufnehmen (4. Versgruppe), von Produktion und Rezeption, zu konstatieren. All dies zusammengenommen, begründet den Appell zum »Komponiere[n]« (V. 24), auf den der Zukunftsausblick im abschließenden Sextett folgt: Du hast den Nachmittag mit der Suche nach schönen Gelehrtensteinen für deinen Schreibtisch verbracht. Wirf abends den einzigen geeigneten Stein in den See, merk dir die Stelle, wo er versinkt, und warte ein paar hundert Jahre. (V. 20-25) Die sich auf Jahrhunderte erstreckende Antizipation ist an den in den See zu werfenden Gelehrtenstein gekoppelt. Dieser ist wiederrum ein Teil der erdgeschicht27
Gemeint ist hiermit eine japanische Süßigkeit, die den Namen »Umeboshi« trägt.
6. Utopische Tendenzen
lichen Evolution und kann mithilfe des utopietheoretischen Vokabulars als etwas Unabgegoltenes definiert werden. Die Suche erstreckt sich nicht nur auf die Gegenwart, sondern reicht somit in die Vergangenheit zurück – bis hin zur urchinesischen Kultur. Sowohl die angesprochenen Steine, die als meditative Objekte dienten, als auch der Bambus und die an Lotus erinnernden »Kinder in Blütenhaltung« (V. 21) mit den zu »Hüllblätter[n]« (V. 22) geformten Händen orientieren sich an ikonografischen Zeichen des Buddhismus. Die Blüte repräsentiert beispielsweise die Reinheit und Schönheit. Die Beständigkeit von Bambus und den Steinen deutet ferner eine überzeitliche Dauer an, wie sie im Buddhismus selbst angelegt ist. Weder kennt diese Denkrichtung einen Anfang noch ein Ende, alles ist in einem ewigen Kreislauf gehalten. In der Kontinuität wird überdies das Prozesshafte des Utopischen erkennbar, mitunter befördert durch Anliegen früherer Epochen. So schreibt Bloch bildlich: »Der Strom fällt ab nach der Vergangenheit und steigt auf und schäumt gegen das Kommende, gegen die Zukunft.«28 Da die Steine die Erdgeschichte in sich tragen und für kommende Zeiten in das Gewässer geworfen werden, geht der Ursprung nicht verloren. Vielmehr verschränken sich in der Suche nach ihm das Gestern und Heute zur Zukunft.
6.3
Die Entdeckung des U-topos
Der benannten antizipativen Tendenz entsprechend, machen verschiedene poetische Miniaturen der Spätmoderne den Aufbruch zu unbekannten Orten zum Thema. Hierbei stehen demnach die Motivatorik und die davon ausgehende Bewegung gen Zukunft im Vordergrund. So etwa in Esther Kinskys Aufbruch nach Patagonien29 in dem gleichnamigen Band. Aufbruch nach patagonien. man verspricht sich leeres land feuer in großen abständen brennende büsche stille lachen alternder glut und rauch richtung meer auch noch ein glimmen in andere richtung wo es dunkler ist.
28 29
E. Bloch: Gibt es Zukunft in der Vergangenheit?, S. 288. E. Kinsky: Aufbruch nach Patagonien, S. 43f.
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das wird ein aufbruch! die füße sind wund schon vom gehen auf diesem einen fleck brechen wir auf brechen wir auf in das land von dem es heißt es sei fern. lernen wir segel zu setzen an einer küste zwischen dunklen fischern und ihrem gerät seite an seite mit ihrer verrichtung seile zu zurren wundhändig und lichtblind bald mit dem rücken zu obdach und land. lesen wir in den sternen der dünnen schrift des horizonts den wolken den patagonischen herden am himmel nehmen wir uns die zeit zu herzen. aufbruch nach patagonien das wird die losung sein sogar im schlaf wenn das meer mit dem scharren der hilflosen kiesel unter der brandung die feuer verdeckt die erträumten. aufbruch stehend am bug die hand an die stirn gelegt zum kühlen schatten über den augen
6. Utopische Tendenzen
in erwartung von gleißen nur den wind den einen den günstigen wind im sinn. Noch warten von dämmer zu dämmer manchmal die hände am ruder am segel am tau im schlaf öffnen und schließen der finger um diese starren mittler des abschieds ein schmerz im krümmen und strecken der glieder im dunkeln ein blasses bild von schwindendem land unterm lid. Wie der Titel verrät, handelt es sich bei der Topografie zwar um eine realweltliche, gleichwohl ist sie von Erwartungen und Zuschreibungen derart überlagert, dass sie zu einem imaginären Raum umgedeutet wird. Aus der geografischen Beschreibung im Gedicht geht hervor, dass es sich um ein »leeres« (V. 3) Land handelt, von dem »es heißt es sei fern« (V. 18). Zudem ist in der ersten Versgruppe die Rede vom »feuer in großen/abständen« (V. 4f.), das die Landschaft mithin zu einem unbewohnbaren, unwirtlichen Ort deklariert. Umso mehr scheint die weitaus positivere Projektion der Grund für den in der zweiten Versgruppe zu vernehmenden, exklamativen Appell zum Reisebeginn zu sein (vgl. V. 12). Um in die südlichen Gefilde zu gelangen, orientiert sich der Kollektivsingular »wir« an den Fischern bzw. Seglern. Diese brechen »mit dem rücken zu/obdach und land« (V. 29) auf. Das Hendiadyoin impliziert eine zurückzulassende Heimat. Dort mag zwar eine Sicherheit vorherrschen, allerdings bekundet die Gruppe der Aufbrechenden auch einen Unmut über den Stillstand in den Gefilden ihrer Herkunft. Denn »die füße sind wund schon/vom gehen/auf diesem einen fleck.« (V. 13-15) Vor diesem Hintergrund könnte das mit Patagonien assoziierte Feuer auch anders als das reale Element verstanden werden. Metaphorisch interpretiert, steht es für Leidenschaft und Aktivität als Gegenpol zur beschriebenen Tristesse in der Heimat. Angesichts der utopischen Aufbrüche in der Gegenwart, ausgehend von einem empfundenen
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Utopielyrik
Mangel,30 steht die dritte Versgruppe im Zeichen des Ungewissen, in das es sich aufzumachen gilt. Die Begriffe »schlaf« (V. 39) und »erträumten« (V. 44) sind ein weiteres Indiz für eine Lesart Patagoniens weniger als die wirkliche als vielmehr eine erdachte, fast schon ins Surreale entrückte Region. Die vierte Versgruppe definiert die Reise daher auch als eine poetologische: lesen wir in den sternen der dünnen schrift des horizonts den wolken den patagonischen herden am himmel nehmen wir uns die zeit zu herzen. (V. 30-36) Sich bei der Navigation an den Sternen zu orientieren, bedeutet deren Konstellation zu »lesen«. Im Pars pro toto und Symbol des Herzens schwingt ferner eine Konzentration auf das Innere mit. Dort entsteht die Entschlusskraft. Die vierte Versgruppe beginnt daher mit einem Postulat und zugleich einer Repetition des ersten Verses: »aufbruch nach patagonien/das wird die losung sein.« Der Begriff »losung« (V. 38) steht für ein Motto und für kleinere Texte, die von Gläubigen in Andachtsbüchern gesammelt und zwecks religiöser Wegweisung gelesen wurden. Hierin tritt ein signifikanter Gegensatz zutage – zwischen aktiver Beeinflussung und passivem Verlass auf das Kommende. Auch die Wendung »aufbruch/stehend« (V. 45f.) zu Beginn des fünften Teils des Gedichts dokumentiert eine Antinomie. Jenseits dieser Spannung bildet ebenso die imaginäre Überwindung der Realität ein utopisches Moment. Wird noch in der vierten Versgruppe ein physischer Aufbruch suggeriert, kennzeichnet ihn die darauf folgende als einen erträumten: sogar im schlaf wenn das meer mit dem scharren der hilflosen kiesel unter der brandung die feuer verdeckt erträumten (V. 39-44) Allein die Vorstellung des Feuers als Signum des Novum des anderen Landes triumphiert über dessen denkbare Löschung durch das Wasser. Wach- und Schlafzustand gehen ineinander über, wodurch die Ängste und Bedenken in der Wirklichkeit trotz der inneren Aufbruchsstimmung noch immer präsent sind. Der Zustand des »warten[s]« (V. 53), das Thema des Schlusses des Poems, ist gekennzeichnet 30
Vgl. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 85.
6. Utopische Tendenzen
durch eine Differenz zwischen innen und außen. Diese kommt im Bild der sich öffnenden und schließenden »finger« (V. 60) als »mittler« (V. 62) zum Ausdruck. Es dominiert am Ende der »schmerz« (V. 63) über den »abschied« (V. 62) und die Ungewissheit. Nachdem zunächst die Entdeckung des U-topos als Stimulans wirkt, offenbart sich in den letzten Versen »ein blasses Bild/von schwindendem land/unterm lid« (V. 66-68). Noch einmal weist Kinsky das Setting als eine Rêverie aus, da es unter dem »lid«, denkbarerweise im Schlaf stattfindet. Überdies ist eine genauere Ausmalung des erdachten Patagoniens schließlich nicht festzustellen, wodurch die utopische Dimension des Noch-Nicht-Gewordenen bzw. Offenen erhalten bleibt. Jenes Zusammenfallen von realweltlichen Spuren und der gedanklichen Konstruktion eines Novum prägt auch weitere Texte der zeitgenössischen Dichtung. Sowohl Nico Bleutge als auch Lea Schneider erschließen den U-topos aus einer Summierung bzw. Vernetzung von bereits bekannten Beobachtungen, Dingen und Zeichen. Die Lyrikerin spiegelt den utopischen Denkprozess in einem titellosen Gedicht31 in der autopoetologischen Struktur wider. Die ersten drei Verse können als Verfahrensschritte des Schreibens verstanden werden: ich wiederhole mich. irgendwo weiter vorn, wo sich der archetyp-modus eingeschaltet hat: weben, auftrennen, tausendundeine korrektur. zeit gewinnen, in der ich fäden lösen kann, die legosteine, plattenbauten, stück für stück auseinanderrupfen,die burg schleifen, abtragen bis zur hartplastik-basis, auf der sie steht, und dort ein schutzgebiet einrichten, standheizung inklusive.sofern meine sicherheit das braucht: wärmezufuhr. ein mittel zur fixierung, wie prittstift oder redundanz. die schachtelgeschichten bis auf schulterhöhe stapeln, dann sofort wieder rückgängig machen, unerfüllbarkeit als erweitertes kriterium ihres gelingens. worauf es ankommt: kein ende zu finden, sondern fehler im plot, die ich ausbauen kann. ein versteck im cliffhanger, im ständigen verweisen, vor und zurück. Der im Blocksatz gehaltene Text ohne Absätze und Einrückungen erinnert mit dem Hinweis auf »tausendundeine« Nacht zunächst an einen narrativen Aufbau. Die Dominanz von Verben wie »weben« und »auftrennen« signalisieren die vom Ich ausgehende Aktivität. Es beschäftigt sich mit sich wiederholenden Operationen 31
L. Schneider: Invasion rückwärts, S. 37 – im Original ist das Gedicht auch rechts im strengen Blocksatz gehalten. Der entsprechende Zeilenumbruch wurde übernommen.
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des Verknüpfens und Lösens und gibt von einer Bewegung nach »irgendwo weiter vorn« kund. Dabei verweist die Handlung des Webens in Kombination mit dem »archetyp-modus« auf die mythologische Figur der Penelope, die der Geschichte nach während der Abwesenheit ihres späteren Gatten Odysseus Freier durch die Ausrede abhielt, sich dem Weben eines Totentuchs für ihren Schwiegervater Laërtes zu widmen. Diese subtil im Text implementierte Retrospektive auf antikes Erzählgut verbindet sich mit der Antizipation. Der Mittelteil des Gedichts geht von der noch abstrakten in eine gegenständliche Ebene über. »Legosteine« und »plattenbauten« (V. 5) tauchen genauso wie Praxisbeschreibungen des »auseinanderrupfen[s]« und »schleifen[s]« einer »burg« (V. 6) auf. Entworfen wird das Innere eines Kinderzimmers, eines Horts der Fantasie. Die besagte Kumulation erweckt dabei nicht den Eindruck eines linearen und stringenten Bauprozesses. Stattdessen forciert das Ich eine dialektisch-offene Praxis: »die schachtelgeschichten bis/auf schulterhöhe stapeln, dann sofort wieder/rückgängig machen« (V. 11-13). Da auf diese Weise nichts dauerhaft bestehen kann, gilt, so das Textsubjekt weiterhin, die »unerfülltheit als erweitertes/kriterium ihres gelingens« (V. 13f.). Nicht nur stellt der unklare Bezug des Possessivpronomens »ihres« eine produktive Leerstelle dar, deren Offenheit als Merkmal des Utopischen gedeutet werden kann. Ferner spielt die oxymorontische Verschränkung aus »unerfülltheit« und »gelingen[]« auf die Frage nach der (Un-)Realisierbarkeit der Utopie an. Deren Potenzial liegt gerade darin, »kein ende zu finden« (V. 15), weiter nach ihr zu suchen –»im ständigen verweisen, vor und zurück« (V. 17). Avisiert wird im Sinne Blochs der Prozeß, der seinen immanentesten Was-Inhalt noch nicht herausgegeben hat, der aber immer noch im Gang steht. Der folglich selber in Hoffnung steht und in objekthafter Ahnung des Noch-Nicht-Gewordenen als einem Noch-NichtGutgewordenen. Bewußtsein der Front gibt dafür das beste Licht, utopische Funktion als begriffene Tätigkeit des Erwartungseffekts, der Hoffnungs-Ahnung hält die Allianz mit allem noch Morgendlichen in der Welt. Utopische Funktion versteht so das Sprengende.32 Schneiders zu Beginn beschriebene gegenständliche Vorgänge bilden die Voraussetzung, um prozesshaft das Noch-Nicht-Gutgewordene zu verwirklichen. Der utopische Ort formt sich im Rahmen einer infiniten, dialektischen Bewegung, aus einem dauerhaften Wechsel aus Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion, was letztlich als Ausdruck der bei Bloch erwähnten »Tätigkeit des Erwartungseffekts« und der von Levitas auf Progressivität ausgerichteten Methode33 zu bewerten ist.
32 33
E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 166. Vgl. R. Levitas: Looking for the Blue, S. 300.
6. Utopische Tendenzen
Von der sukzessiven und spannungsreichen Herausbildung eines Ortes zeugt auch ein weiteres titelloses Gedicht34 von Nico Bleutge. Es beginnt mit einem motivatorischen Imperativ: öffne die tür, mit ihrem mürben klingen sieh dir den innendunst an ein raum wie ausgemalt von ideen der himmel nach oben geträumte tiefe (V. 1-4) Das Eintreten bzw. Überschreiten der Schwelle führt zu einem unbekannten Raum, dessen Inneres als nebulös geschildert wird. Weil der visuelle Eindruck noch nicht konkretisierbar ist und – auf Basis Blochscher Termini – mit dem Noch-NichtGewordenen analogisierbar ist, nutzt das lyrische Ich den Vergleich »wie ausgemalt von ideen«. Wie in anderen zeitgenössischen Werken der Poesie vermittelt sich hierin eine schiefe und schwer zu dechiffrierende Bildsprache. Der Norm entsprechend würde man bei dem Verb »ausmalen« die Präposition »mit« erwarten. Obwohl ferner »ideen« eine abstrakte Größe darstellen, werden sie katachretisch an den gegenständlichen Vorgang des Ausmalens gebunden. Verstärkt wird der Gesamteindruck der Rätselhaftigkeit durch den »himmel«, der, geht man in dem elliptischen (es fehlt das Prädikat), vierten Vers von einer Gleichsetzung aus, als »nach oben geträumte tiefe« zu verstehen ist. »Tiefe« und »oben« sowie die Verengung und Weitung bilden ein paradoxales Ineinander, in dem von Anfang an die Grenzen zwischen Materiellem und Immateriellem fragil sind. Dieses Unterlaufen logischer Konventionen hat mitunter auch schon bei Celan Methode: »Der fehlende syntaktische Verbund ist jedoch kein Mangel, sondern eine die poetologische Ordnung der Wörter herstellende notwendige Zerstörung der Alltagslogik.«35 Aus dieser spezifischen Form der Dekonstruktion, die Bleutge dem jüdischen Autor entlehnt, folgt Neues, das sich im weiteren Verlauf des Textes in verschiedenen »ahnung[en]«, etwa »von grundlawinen« (V. 5) und »von muskelschichten« (V. 17), niederschlägt. Die nötige Vorstellungsfähigkeit wird durch die mehrfachen »denk«Aufforderungen wie »denk an den landweg« (V. 7) oder »denk wie der tonsand« (V. 16f.) hervorgehoben. Sie unterstreichen den motivationalen Grundimpetus des Textes, der die Rezipientin bzw. den Rezipienten an die Grenze ihrer bzw. seiner gewohnten Wahrnehmungsweise führt. Das angesprochene Du muss sich demnach transzendieren, hin zu einem anderen. Aus dem Einzelnen, gegeben in den den Partes pro toto, soll es mittels der Vorstellung einen ganzen, buchstäblich organischen Ort formen: »denk wie muskel und kalk, zelle und zelle/baute sich an, traum von geweben, häuten, wo du hinein-/gehst, siehst du nicht mehr hinaus.«
34 35
B. Bleutge: nachts leuchten die schiffe, S. 8. K. Fischer: Lichtzwang, S. 109.
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(V. 18-20) Gekoppelt an diese Vorgänge des Bildens und Erfahrens, die – wiederum als Oxymoron – Materielles mit Immateriellem (Traum – Gewebe) verbinden, werden poetologisch relevante Begriffe. Zentral sind die in Variationen vorkommenden Verben »wachsen und schichten« (V. 6). Wie eine Wucherung erweitert der Text sein Bildrepertoire Vers um Vers, ohne an einen Endpunkt zu gelangen, dessen Ausbleiben sich am Schluss des Gedichts in einem fehlenden Punkt niederschlägt. Während Wucherungen sich aus Verwebungen ergeben, suggerieren Schichten ein Übereinanderlegen von Folien. Letztere äußern sich im Text in Form semantischer Bedeutungsschichten, darunter aus den Bereichen der Technik wie »schaltkreise, schleusen« (V. 9), aus Naturphänomenen wie die »grundlawinen« (V. 5) sowie aus dem bereits thematisierten Feld des Körpers. Sie bilden ein Palimpsest. Dass dieses ästhetische Modell neben jenem der rhizomatischen Wucherung steht und sich beide funktional unterscheiden, deutet den Möglichkeitsraum an, den Bleutge in der sprachlichen Form ausmacht. Die Spannung begünstigt die Offenheit, in welcher der vage Ort diverse Ausprägungen annehmen kann. Um diese Potenzialität zu steigern, dominiert der Konjunktiv das Gedicht. Da der »wachsende[n] stoff« (V. 9) zum Ende hin keine genaue Anschauungsform erhält, umkreist ihn das Textsubjekt mit Vergleichen, wobei die Referenz des Personalpronomens (3. Pers., Sg., neutr.) nicht eindeutig festzumachen ist: »als wäre es sand, als würde das licht sich/verstärken, wege wie luft in den raum zeichnen« (V. 24f.). Sichtlich bricht der Dichter in seinen kettenartigen Reihungen von Bildern die realweltliche und sprachliche Ordnung auf, sodass sich keine direkten Zusammenhänge mehr erschließen lassen. Bleutge liquidiert die auf die empirisch-physikalische Wirklichkeit Bezug nehmende Referenzebene des Textes, wodurch Bindungen allein innertextuell hergestellt werden, und zwar so, »als wäre alles mit allem/verbunden« (V. 20f.). Indem erst mittels der poetischen Evokation loses Wortmaterial miteinander verschmilzt, entsteht ein hybrides Gebilde, das sich noch im letzten Vers einer Vergegenständlichung entzieht und dadurch seinen vollen utopischen Sinnüberschuss bewahrt. Dieser Umstand ergibt sich insbesondere aus der nicht aufgelösten Katachrese: Zunächst verwebt der Vergleich »wege« als visuelle Gegebenheit mit der nicht sichtbaren »luft«. Als wäre das nicht genug der Abstraktion, sollen überdies die ins Ungreifbare enthobenen Wege in den »raum [ge]zeichne[t]« werden. Sie deuten indessen eine nicht genauer bezeichnete Zielbestimmung an. Luft und Raum geben zugleich die Weite des Horizonts zu erkennen und verbildlichen den Möglichkeitsraum des Textes. Gerade die zu Beginn erwähnten Ideen bedürfen dieses Biotops zur Reifung und antizipativen Ausgestaltung, woraus ein noch unbekannter Ort entstehen soll. Auch im Werk Marion Poschmanns herrschen unter Utopiegesichtspunkten Zwischenräume statt fest umrissener Topografien vor. Zumeist treffen in ihren
6. Utopische Tendenzen
Poemen kulturelle bzw. zivilisatorische und natürliche Elemente aufeinander. In ihrem Text 7 Fragmente36 wird diese Verzahnung offensichtlich. 7 Fragmente Mir gebrach es an Schlaf. Ich hatte die Polsterheimat lange verlassen. Ich wollte ins Graue zurück, in lauernde Ausschnitte aus einem Traum. Ölkörper harrten in Transitzonen, Brutbecher wiederholten sich, Resignation. Ich war tagelang wach mit der Vorstellung eines schwarzen Gartens. Dämmerungsbrocken beobachteten, was ich tat. Ich lag in der Kiefernschonung und dachte in Blättern, folioser Wahn. Ich dachte in Wuchsformen alter Meister, dachte in Waldlabyrinthen, die blind an der Rinde endeten. Hatte ich nicht bei akribischen Zweigvergleichen Einschlafhilfe gesucht. Hatte ich nicht die einzige Einschlafhilfe, die Liebe, lange verlassen. Hypnum, Schlafmoos. Hypnotisches Moos. Ich war vollgesogen mit Visionen, ein Kissen, auf welches der Wald sich bettete. Ein Zustand zwischen Schlaf und Wachsein erweist sich als Initiation zur Transzendierung eines Ich, das »ins Graue […], in lauernde/Ausschnitte aus einem Traum« (V. 4f.) zurück möchte. Die Inhalte von letzterem werden in den nachfolgenden Versgruppen erläutert. Die damit einhergehende Atmosphäre des
36
M. Poschmann: Geliehene Landschaften, S. 107.
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Ungefähren umfasst der Begriff der »Transitzonen« (V. 6), die als Passagen an die Prozesshaftigkeit und die Unbestimmtheit des Noch-Nicht-Gewordenen denken lassen. Die Volatilität gewinnt an Intensität durch die Selbstbeschreibung des lyrischen Ich: »Ich war tagelang wach« (V. 9). Die Statuierung erscheint insofern von Relevanz, als dass die Zuverlässigkeit des ohnehin nur vage konturierten Textsubjekts, das sich zwischen Tag und Traum befindet, als fraglich gelten muss. Dessen Instabilität bildet von Anfang das Zentrum des Gedichts. Sowohl der Titel als auch der erste Vers »Mir gebrach es an Schlaf«, dessen markante Qualität in dem Gebrauch einer Passivform für das Aktiv liegt, indizieren den nebulösfiebrigen Bewusstseinszustand des lyrischen Ich, das sich entgegen und inmitten der topischen Unbestimmtheit nach Festigkeit und Heimat sehnt. Poschmanns utopischer Ort äußert sich schließlich in der Natur. Statt ihn im Bild des Paradieses zu einer Renaissance zu verhelfen, geht das Textsubjekt einen Schritt weiter, indem es sich in ihn hineinimaginiert: Ich lag in der Kiefernschonung und dachte in Blättern, folioser Wahn. Ich dachte in Wuchsformen alter Meister, dachte in Waldlabyrinthen, die blind an der Rinde endeten. (V. 12-16) Denken, deutlich ausgehend vom anaphorisch sich selbst vergewissernden Ich, gleicht in der zitierten Passage dem utopischen Bewusstseinszustand. Das lyrische Ich entgrenzt sich im Übergang in das pflanzliche Dasein, gibt seinen anthropozentrischen Standpunkt auf, ohne jedoch sein humanes Vorstellungsvermögen zu verlieren – so zu beobachten im abschließenden Terzett: Hypnum, Schlafmoos. Hypnotisches Moos. Ich war vollgesogen mit Visionen, ein Kissen, auf welches der Wald sich bettete. (V. 21-23) Der kumulativ-elliptische Vers zu Beginn der Versgruppe forciert tautologisch die im Mittelalter als Kissenfüllung genutzten Moose. Indem es sich in sie verwandelt, hat sich das Ich »vollgesogen mit Visionen«. Es behält in diesem Zustand des Andersseins seine Eindrücke und seherische Fähigkeit und generiert gleichsam zum Ruheort: für sich selbst und gleichsam den Wald, der »sich bettete«. Natur, Kultur und Ich bilden in 7 Fragmente letztlich eine Einheit. Noch deutlicher als in diesem Poem tritt das Utopische im siebten Text37 von Poschmanns Zyklus Kindergarten Lichtenberg, ein Lehrgedicht zutage.
37
Ebd., S. 27.
6. Utopische Tendenzen
Denke dich als den Traum eines Baums, jenes nichtigen aus den Rissen im Putz, die sich weiter verzweigen. Als ein gezähntes, sagen wir, hellblaues Blatt, das diffus durch die Straßen trudelt, eventuell traurig, verschaukelt zwischen Paradeseligkeit, Einheitsbrei. Du gehst im Sportfell, sterilisierst die real existierenden Paradiese des Stils, denk dich ein Alibi haben und gleichzeitig keins. Erweise dich leichthin als beides, sei Humus, gib aber auch harte Signale wie Marder, die Kabel zerbeißen. Mit gleichem Nachdruck Betonkopf und Blatt aus dem Garten des Volkseigentums, mit dem gleichen Nachdruck, das heißt: sei der Traum und die Realität, sei utopisches Potential, sei Gartengerät. Ähnlich Celans Text Denk dir wird das Noch-Nicht-Gewordene in diesem spätmodernen Poem aus einem Appell zur Imagination heraus – »Denk dich als den Traum eines Baumes« (V. 1) – entfaltet. Gegeben ist der einzunehmende Standpunkt einer Pflanze, der nicht statischer Natur ist. Denn von Beginn an ist dem Poem die Bewegung zueigen. So wächst der Baum »aus den Rissen im Putz, die sich weiter verzweigen« (V. 2). Jenes Ausbreiten stellt zugleich das Programm des Textes dar, insofern sich im Medium des Traumes mehrere Transformationen ergeben. In ihm ist Bloch zufolge ein Werden angelegt. So »ist der Traum nach vorwärts disponiert, damit ist Noch-Nicht-Bewußtes als Bewußtseinsweise eines Anrückenden geladen; das Subjekt wittert hier keinen Kellergeruch, sondern Morgenluft.«38 Die antizipative Bewegung äußert sich in mehreren Verwandlungen. Bereits im dritten Vers wechselt die Perspektive hin zu einem subjektivierten Blatt, dem die Eigenschaft »eventuell traurig« (V. 4) zugeschrieben wird. Es »trudelt« (V. 4) dialektisch zwischen Bekanntem und Neuem, nämlich »zwischen Paradiesseligkeit, Einheitsbrei« (V. 5). Nachdem das Du anschließend offensichtlich wieder menschliche Züge annimmt und die Immersion in die Flora scheinbar endet, handelt es gegen die Natur und stellt einen künstlichen Raum her. Denn »Du gehst im/Sportfell, sterilisierst die real existierenden/Paradiese des Stils« (V. 6f.). Was die utopische Grundierung des Gedichts besonders untermauert, sind zum einen die angeführten Metamorphosen, zum anderen die dazu im Widerspruch stehende Synchronität von verschiedenartigen, in sich paradoxen Zuständen, wie sie ab dem siebten Vers zu verzeichnen sind: denk dich ein Alibi haben und gleichzeitig keins. Erweise dich leichthin als beides, sei
38
E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 132.
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Humus, gib aber auch harte Signale wie Marder, die Kabel zerbeißen. (V. 7-10) Die elliptische Inversion in Bezug auf das Alibi offenbart die Unmöglichkeit, die im Poetischen jedoch aussagbar und damit möglich wird. So wie man es besitzen und gleichzeitig nicht besitzen kann, so wenig schließt es sich in diesem Raum reinen Sprachseins aus, weicher Humus und »harte Signale wie Marder« zum selben Zeitpunkt zu sein. Auch »Betonkopf und Blatt/aus dem Garten des Volkseigentums« (V. 10f.) zu sein, erweist sich als realisierbar. Das Ineinander von sich objektiv ausschließenden Gegebenheiten, ähnlich der Idee des Hölderlin’schen »harmonisch Entgegengesetzten«, wird zur Potenz des Machbaren. Dadurch entsteht überhaupt erst die Wirkungsmacht des Vorgangs, wie sich mit Bloch erklären lässt: »Keine Größe kann ohne Unterscheidung gedacht werden, d.h. ohne darin befindliche Unterschiede – jede Größe ist vieles Eins.«39 Besonders ostentativ heben die letzten beiden Verse den nicht näher bestimmbaren utopischen Ort in einem hybriden, Gegensätze vereinigenden Moment hervor: »Sei der Traum und die Realität/sei utopisches Potenzial.« (V. 12f.) Indem der anaphorische Imperativ das Du als den Träger für das Gleichzeitigsein von Bewusstsein und Unbewusstsein in den Fokus nimmt, wird die innere Vorstellungswelt als Basis für das zuletzt dezidiert benannte »utopische[] Potenzial« festgelegt. Versteht man die Ansprache der zweiten Person Singular nicht nur als Aufforderung eines unbestimmten Du im Text, sondern darüber hinaus als unmittelbare Adressierung der LeserInnen, lässt sich Poschmanns Gedicht als eine Anleitung für die utopische Methode schlechthin interpretieren, die ihren Anfang in dem motivationalen Impuls des repetitiv vorkommenden »Denk dich als« nimmt und Bewusstsein als Ort sich ständig erweiternder Möglichkeiten begreift. Welche grundsätzlichen Tendenzen fallen im Spiel mit dem Utopischen in der Gegenwartslyrik auf? Unterschiedliche Elemente kommen als bestimmende Faktoren zum Tragen: Zunächst sind die häufig motivatorischen Appelle zu verzeichnen. Immer wieder wird ein Du oder die Rezipientin bzw. der Rezipient direkt angesprochen. Die davon ausgehende Aktivität verfolgt die Intention, oftmals vage Andeutungen und abstrakte Bilder zu entwerfen und sie anschließend zu konkretisieren oder fortzuspinnen. Dadurch sollen Entfremdungen aufgehoben respektive Ist- und Soll-Zustände einander angenähert werden. Denn »es soll zu guter Letzt, wenn keine Utopie mehr nötig ist, Sein wie Utopie sein. Der wesentliche Inhalt der Hoffnung ist nicht die Hoffnung, sondern indem er eben diese nicht zuschanden werden läßt, ist er abstandslos Da-Sein, Präsens«. In der Realisierung dieser »intendierte[n] Abstandslosigkeit«40 und Harmonisierung von Gegensätzen sind
39 40
E. Bloch: Extensive und intensive Grösse, S. 134. Beide Zitate: E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 366.
6. Utopische Tendenzen
neben von Oxymora geprägten oder katachretischen Wendungen ebenfalls dialektische Prozesse charakteristisch, deren Spannungen Dynamiken in Gang setzen, welche die Progressivität und Transformativität utopischen Denkens widerspiegeln. Ziel ist immer die Erzeugung eines Novums als Folge einer Schwellenüberschreitung.
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7. Zusammenfassung
Ohne eine größere Linie nachzuzeichnen, deutet die Forschungsliteratur immer wieder vereinzelt die literarische Verwandtschaft zwischen Hölderlin, Rilke und Celan an.1 Obgleich die Kontext- und Produktionsbedingungen der drei Dichter als höchst unterschiedlich zu bezeichnen sind, eint sie basal ihr Krisenbewusstsein. Sie werden in Umbruchsphasen geboren, mit diversen Entfremdungserscheinungen der frühen, mittleren bzw. späten Moderne konfrontiert und verfolgen in ihrer Poesie, davon ausgehend, die Entwicklung von Strategien zur utopischen Entgegensetzung Der Impuls, Alternativität und Potenzialität auszuloten, geht stets aus einer Abgrenzung hervor. Denn »Utopie selber, die von Möglichkeiten spricht, ist erst eine Möglichkeit, die Utopiehaltigkeit des Nicht-Utopischen zu fördern, sie stellt dem leichten Sinn der Tagträumerei, wo er unbelehrbar wird, die Aufgabe der Kritik entgegen.«2 Treten die Aussagen der utopisch grundierten Texte in Distanz zur jeweiligen Gegenwart3 ihrer Niederschrift, verorten sie sich zugleich in einem linear-zeitlichen Kontinuum. Was Bloch als utopisch begreift, ist das Unabgegoltene aus der Vergangenheit, das seiner Realisierung in der Zukunft harrt. Ebenso weist Rohgalf auf die Bedeutung des Zurückliegenden für die Antizipation hin: »Das Neue, das imaginiert wird, ist dabei stets historisch. Nicht nur sein konkreter Inhalt, auch die soziale Trägerschicht unterliegt dem Wandel der Zeit. Auch der Zukunftsbegriff selbst ist veränderlich.«4 Bei Hölderlin stellt der kulturelle Fundus einer konstruierten Antike den Quell für zukünftige Verwirklichungen dar. Sie dient ihm als sozialutopischer Idealfall. Als charakteristisch für seine Poeme erweist sich der Modus eines imaginären Erinnerns, das eben nicht auf Faktisches referiert, sondern Vorstellungs- als Gedächtnisinhalte vermittelt. Diese Wendung lässt sich mit Ropohl einordnen: »Wenn bessere Umstände in der beobachteten Wirklichkeit nirgendwo zu finden sind, beginnt das Bewusstsein fiktive Umstände zu ersinnen, in denen die erkannten 1 2 3 4
Vgl. D. Lamping: Paul Celan – ein Klassiker der Moderne?, S. 33. B. Schmidt: Ernst Bloch, S. 108. Vgl. P. Plener: Wider das Nichts des Spießerglücks, S. 193f. J. Rohgalf: Jenseits der großen Erzählungen, S. 557.
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Utopielyrik
Defizite nicht mehr auftreten würden.«5 Mehr noch als beispielsweise Rilke forciert Hölderlin in seinen poetischen Rückbezügen eine dezidiert politische Absicht, nämlich im Hinblick auf die Etablierung einer egalitären und herrschaftsfreien Gesellschaft, wie sie zum Beispiel in seiner Verarbeitung des antiken Chors als Modellformation für ein neues, gesellschaftliches Wir begründet wird. Dieser soziale Raum im Geiste des Austausches und des Friedens wird bestärkt durch die Hybridisierung der göttlichen und irdischen Sphäre. Da Hölderlins poetisches Wirken den Anspruch auf Veränderung der realen Verhältnisse erhebt, verfolgen seine künstlerischen Werke eine dezidiert pädagogisch-aufklärerischen Absicht: Nicht revolutionäres Handeln, sondern Erziehung des Volks lautet die Devise, die er mit Herder und Schiller teilt. An die Stelle des Erziehungsprojekts tritt im Spätwerk der vaterländische Gesang. In ihm kommen Antike und Abendland (Christentum) auf eigentümliche Art und Weise zusammen – säkulare Religion, nicht geoffenbarte Religion, Kunst-Religion.6 Seine poetischen Verfahren zeugen von »eine[r] Form sozialethisch-praktischen Denkens und Argumentierens«,7 die den Rückgriff nutzen, um einen Vor-Schein im Sinne Blochs zu entwickeln. Hölderlin ist nicht bemüht, die Antike zu imitieren, sondern sucht sie vor dem Hintergrund der Entwicklung der Moderne poetisch neu zu denken und zu modifizieren. Auch Rilke bezieht sich mitunter auf Vorbilder, also kulturelle Anlagen, die ihm als Basis seiner sprachästhetisch ausgestalteten Bewegungen gen Zukunft dienen. Spezifische Motivstrukturen oder der bedeutungskonstitutive Rekurs auf Orpheus zählen zu dieser überzeitlichen, futurisch ausgerichteten Erinnerungsarbeit, die – dem Hölderlin’schen Ansatz nicht allzu weit entfernt – die Idee einer neuen Gemeinschaft birgt. Bezogen auf die ausführlich untersuchten Duineser Elegien gilt: »Grundlegender Modus dieser reflexiven Suche ist die Sprachbewegung, in der sie sich artikuliert und in der sie kommunizierbar, also ganz wörtlich: gemeinschaftsstiftend wird und insofern teilbar. Eine solche Sprache muss aber selbst ständig errungen werden«8 und steht, wie mehrfach belegt wurde, im Zeichen ständiger »Progression und Regression«.9 Jene Dynamik schließt aber – und hierin offenbart sich die Differenz zu Hölderlins Hypostasierung des Wir sowie des öffentlichen Gemeinsinns – einen inwendigen, unteilbaren und insbesondere individualistischen Raum ein.
5 6 7 8 9
G. Ropohl: Die Wirklichkeit der Utopie, S. 328. H.-G. Pott: Schiller und Hölderlin, S. 118f. K. Hilpert: Die orientierende Kraft imaginierter Gegen-Welten, S. 303. W. Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts, S. 258. H. Klima: Rainer Maria Rilkes Kunstmetaphysik, S. 261.
7. Zusammenfassung
Alles, was Hölderlin noch, vielleicht eben noch mit halber Überzeugung, als wirklich und objektiv daseiend glaubt, entkleidet er [Rilke] rücksichtslos seiner Wirklichkeit und Substanzialität und nimmt seine Bedeutungsfülle ins Innere der eigenen Seele auf, zentriert es auf die selbstgesetzte Mitte und macht die wirklichen Mächte zu Bildern seiner alles umfassenden Wirklichkeit.10 Ganz im Sinne dieser privaten, inneren Dimension notiert Görner: »Rilke dürfte aufgefallen sein, dass Hölderlin eines nahezu fremd war: Selbstbezug und Selbstbeobachtung, jene für den Dichter der literarischen Moderne so charakteristische Haltung.«11 Obgleich beide Dichter unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich des Individuums oder des Kollektivs vertreten, stehen sie unterdessen für einen aufgewerteten Begriff des Dichtens und des Dichters. Letzteren zeichnet ein Charisma aus. Deshalb findet sich bei Rilke etwa häufig das Prädikat »künden«, das auf eine visionäre Begabung, geradezu eine schöpferische Kraft hinweist. Dem Künden bzw. Verkünden inhäriert die Möglichkeit der Evokation neuer Welten. Es sind Welten, die das Ideal einer ungebrochenen Ordnung formulieren, Welten, in denen Transzendenz in der Immanenz denkbar wird, Welten, die keine Entfremdungen mehr kennzeichnen. Im Gegensatz dazu ist im Œuvre Paul Celans der Riss durch die Wirklichkeit auf den ersten Blick kaum noch heilbar. Wiederum spielen Subjekt und Gemeinschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ersteres findet seine Bestätigung insbesondere in dialogischen Strukturen, in der Auseinandersetzung mit dem alteritären Du. Von herausragender utopischer Strahlkraft mutet jene Kollektivierungstendenz an, die Lebende und Tote zu verbinden sucht. Der Autor weiß: »Eine Utopie übersteigt stets das nur Subjektive und ist auf überindividuelle Interaktionszusammenhänge einer idealen oder negativ akzentuierten Solidargemeinschaft gerichtet, selbst wenn sie ein anarchistisches Gemeinwesen imaginiert.«12 Aus den historischen Erfahrungen des Holocaust heraus verleiht Celans Poetik den unerlösten Opfern eine Stimme, wodurch die unaufgearbeitete Vergangenheit in einen neuen Entwurf, der die Beschränkungen des Faktischen überwindet, überführt wird. Utopie ist ja inhaltlich nur faßbar im Bild, das Bild ist immer Gegenbild gegen das Faktische und Gegebene, es bleibt diesem verpflichtet; im Utopischen ist der Hinweis auf die Unversöhntheit, Ungelöstheit des Hier und Heute enthalten […]. Dem Ausgriff auf utopische Bilder liegt indessen, wie die Interpretation bestimmter Aspekte der Büchner-Rede zeigen sollte, eine ›Gegenperspektive‹ zugrunde, eine Denk- und Anschauungsform, die das Gegebene und Faktische im Lichte des
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H. Singer: Rilke und Hölderlin, S. 143. R. Görner: Im Welt-Raum des Gedichts, S. 160. M. Konopka: Utopisches Denken – notwendiger denn je!, S. 307.
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Möglichen zu sehen, das Gegenständliche auf das ihm selbst jeweils zugehörige Nicht-Gegenständliche hin zu denken versucht.13 Obgleich man die Gedichte des jüdischen Schriftstellers vornehmlich unter den Vorzeichen der Verdunkelung und Hoffnungslosigkeit lesen kann, wohnt ihnen gerade in ihrer »Gegenperspektive« ein visionäres Moment inne, zielend auf eine Welt, welche die starre Grenze zwischen Leben und Tod auflöst und eine historische Gerechtigkeit im Sinne einer Reinkarnation der Opfer in den Bereich des Möglichen rückt. Ohne diese genauer auszugestalten, belassen Celan wie Rilke und Hölderlin diese »Hinterwelten« auf einer Ebene der Andeutungen. Ihre Texte sind von der Ambition geprägt, dass sich das ihnen eingeschriebene utopische Bewusstsein vor allem in einer sprachästhetischen bzw. poetischen Performanz ausdrückt und im Zuge dessen über den Text hinausreicht. Prozesshaftigkeit, Antizipation sowie dialektische Grundmuster fungieren als Träger eines von Offenheit bestimmten Werdens, wie es etwa die utopische Methode vorsieht. Diese Unbestimmtheitsmomente gewähren Raum für das Noch-Nicht-Bewusste, indem sie aufseiten der RezipientInnen Deutungs- und Imaginationsbemühungen herausfordern. Hieran gekoppelt ist unmittelbar die wirkungsästhetisch evozierte Arbeit am Selbst als Zukunftsprojekt: »Was dem Selbsterweiterungstrieb nach vorwärts vorschwebt, ist vielmehr […] ein Noch-Nicht-Bewußtes, ein in der Vergangenheit nie bewußt und nie vorhanden Gewesenes, mithin selber eine Dämmerung nach vorwärts, ins Neue.«14 Der utopielyrische Text enthält ein Potenzial zur gedanklichen Ausmalung seiner vagen Bildsprache, was eng mit dessen Zwitterstellung zwischen Wirklichkeitsdistanz und Wirkungsästhetik zusammenhängt. Das Gedicht folgt keiner Mimesis und braucht eine Anbindung an das Reale, auf das es zurückwirkt. Im übertragenen Sinne »ist [es] Anlage zur Verwirklichung, im Stoff steckt eine Vielfalt von Möglichkeiten, die verwirklicht werden können.«15 Die Annäherung an die Poeme setzt demnach eine Dynamik der Ausdifferenzierung und Vertiefung voraus. Für Hölderlin, Rilke und Celan gilt daher aus Günthers Sicht: »Rezeptionsästhetisch steckt darin [im Weg des Gedichts] die Aufforderung zum Nachvollzug dieses Prozesses als ästhetische Erfahrung, deren Leitlinien und Grenzen durch die Strukturvorgaben des Gedichts bestimmt sind.«16 Diesem Gedanken werden auch verschiedene poetische Miniaturen der zeitgenössischen Gedichte gerecht. Was nahezu alle Positionen – von Poschmann bis Bletutge – verbindet, sind Aspekte wie Prozesshaftigkeit, Antizipation und Offenheit
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G.-M. Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans, S. 275. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Kap. 1-32), S. 86. P. Zudeick: Materie, S. 271. F. Günther: Grenzgänge zum Anorganischen bei Rilke und Celan, S. 8.
7. Zusammenfassung
als zentrale Merkmale der Utopielyrik. Dabei werden ebenfalls traditionelle Motivkomplexe wie der Garten, das Paradies oder die Schöpfung aufgegriffen und mitunter, etwa bei Scheuermann, in den Kontext einer spätmodernen Fortschrittskritik gerückt. Häufig werden auch neue, noch unbekannte Topografien angedeutet, deren konkrete Gestalt jedoch zumeist im Nebulösen verbleibt. Signifikant fällt in diesem Zusammenhang die immer wieder zu beobachtende Tendenz zur Abstraktion auf. Statt Bilder sprachlich auszumalen, unterlaufen die Gedichte jedweden Eindruck gegenständlicher Fixierung. Desto mehr Anstrengung zur Imagination wird aufseiten der Rezeption eingefordert. Poesie stellt aufseiten der LeserInnen einen polyvalenten Experimentierraum her, in dem Überlegungen zu alternativen Existenzweisen stattfinden können. Söring betrachtet das »Utopische[] mithin als transgredierender Wesensvollzug der Dichtung«.17 Ebenso Nägeles Auffassung von Literatur im Allgemeinen »1) als produktive Tätigkeit überhaupt, 2) als Sprache und durch Sprache geschaffene Bewußtseinserweiterung, 3) als Schein und VorSchein«18 scheint sich in den exemplarischen Analysen der dichterischen Werke zu bestätigen. Um den Terminus Utopielyrik ferner von konventionellen lyriktheoretischen Definitionen abzugrenzen, bedarf es spezifischer Merkmale. Über die bekannten Distinktionselemente der Dichtung wie Kürze, Selbstreflexivität, Unmittelbarkeit, Sang- oder Liedhaftigkeit19 sowie Subjektivität20 hinaus, sind folgende Strukturmomente bestimmend: Der Konnex zwischen Gegenwartskritik und Antizipation, eine signifikante Komplexität aufgrund einer hohen Dichte an Leerstellen und allen voran die Performativität, die Elemente des Prozesshaften und Motivationalen. Utopielyrische Werke weisen in ihrer sprachlichen Gestalt über sich selbst hinaus und fordern von RezipientInnen ein hohes Maß an Interpretations- und Vorstellungsvermögen ein. Dies beinhaltet stets eine ethische Komponente, welche die Frage nach einer potenziellen Verbesserung der Welt aufwirft. Ihr utopischer Überschuss verleiht dabei einem der wohl wichtigsten anthropologischen Grundbedürfnisse Ausdruck: der Hoffnung.
17 18 19 20
J. Söring: Figurationen des Utopischen, S. 378. R. Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, S. 53. Vgl. P. Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, S. 21. Vgl. ebenfalls F.-J. Payrhuber: Gedichte entdecken, S. 1. Vgl. C. Kammler: Lyrik verstehen – Lyrik unterrichten, S. 5.
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8. Literaturverzeichnis
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Danksagung
Wie vor jeder größeren Arbeit ging auch dieser ein Funkenschlag voraus. Gezündet wurde er von Hans Lösener, dem ich als Freund, intellektuellem Kompagnon und wissenschaftlichem Inspirationsgeber meinen großen Dank ausspreche. Und wie jede anfängliche Idee brauchte auch jene zu der vorliegenden Arbeit einen langen Atem und viel Durchhaltevermögen. Lothar Bluhm und Gabriela Scherer, die das Habilitationsprojekt von Anfang an begleiteten, haben nicht nur viel Geduld bewiesen, sondern standen mir mit geballtem Sachverstand, viel Empathie, kritischem Geist und motivierender Freude bei, wofür ihnen meine tiefste und aufrichtige Verbundenheit gilt. Danke, dass ihr stets ansprechbar und für mich da wart! Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle das Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau am Campus Landau bleiben, wo ich von allen Seiten immer wieder auch Unterstützung erfahren habe. Da ein wissenschaftlicher Weg immer auch Förderer auf lange Sicht bedarf, danke ich auf diesem Wege auch der Hans-Böckler-Stiftung, die einen ganz erheblichen Anteil am Gelingen meines Studiums und meiner Promotion hat und damit nicht zuletzt auch den Weg für die Habilitation ebnete. Doch damit endete nicht deren Großzügigkeit. Denn auch der vorliegende Band wurde von der Stiftung gefördert. Vielen Dank für eure Treue in all den vergangenen Jahren!
Literaturwissenschaft Werner Sollors
Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., Dispersionsbindung, 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1
Achim Geisenhanslüke
Der feste Buchstabe Studien zur Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur Januar 2021, 238 S., kart. 38,00 € (DE), 978-3-8376-5506-3 E-Book: PDF: 37,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5506-7
Ulfried Reichardt, Regina Schober (eds.)
Laboring Bodies and the Quantified Self 2020, 246 p., pb. 40,00 € (DE), 978-3-8376-4921-5 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4921-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Renata Cornejo, Gesine Lenore Schiewer, Manfred Weinberg (Hg.)
Konzepte der Interkulturalität in der Germanistik weltweit 2020, 432 S., kart., Dispersionsbindung, 6 SW-Abbildungen 50,00 € (DE), 978-3-8376-5041-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5041-3
Claudia Öhlschläger (Hg.)
Urbane Kulturen und Räume intermedial Zur Lesbarkeit der Stadt in interdisziplinärer Perspektive 2020, 258 S., kart., 10 SW-Abbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-4884-3 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4884-7
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11. Jahrgang, 2020, Heft 2: Das Meer als Raum transkultureller Erinnerungen Januar 2021, 258 S., kart., Dispersionsbindung, 25 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4945-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4945-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de