Grenzgänge zum Anorganischen bei Rilke und Celan 9783825377397

Paul Celans Werk grenze an eine "Sprache des Leblosen" (Th. W. Adorno), Rainer Maria Rilkes Lyrik feiere das L

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German Pages 461 [474] Year 2018

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Grenzgänge zum Anorganischen bei Rilke und Celan
 9783825377397

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BEITRÄGE ZUR NEUEREN LITERATURGESCHICHTE Band 372

.J-.WU. FRIEDERIKE FELICITAS GÜNTHER

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stalt. Gerade Kristalle signalisieren - nicht erst bei Celan, sondern bereits in der rnmantischen Literatur - die fließende Grenze zwischen Totem und Lebendigem. [...]-injedem Fall erinnert kristalline Materie mit ihren pflanzenoder gar organartigen Strukturen daran, daß es keine definitive Trennung zwi~ sehen Totem und Lebendigem gibt." Dass sich Celan in dieser Absetzungsbewegung auch gegen seine eigenen poetischen Vorlieben richtet, ist in der Forschung zum frühen Celan bereits hervorgehoben worden. Vgl. Jean Firges: Der Tod, die Mitgift des Lebens, in: ders.: Den Acheron durchquert ich. Einführung in die Lyrik Paul Celans, Tübingen 1998, S. 63-176, hier S. 64.

Einleitung

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Der Stein als neue Dichtung dagegen steht bei Celan wehrhaft gegen solche Einhegungen des Todes in die Naturkreisläufe und muss als solcher verteidigt werden. Gleichwohl liest z. B. die Studie von Schellenberger-Diederich in Celans Metaphorik des Gesteins eine „Geopoetik", die sich an die Tradition der Romantik unmittelbar anschließen lasse. 89 Im Wesentlichen sieht sie in der zeitgenössisch kontrovers diskutierten „Geodynamik", also ·der Überzeugung von der inneren Erdbewegung der Gesteinsschichten und der geologischen Vorstellung einer permanenten globalen Umverteilung der Stoffe ein für Celans Dichtung bestimmendes „trostspendendes Prinzip".90 Eines der Beispiele, an denen sie die Bedeutung dieser geologischen Erkenntnisse bei Celan festmacht, ist die in seiner Büchnerpreisrede zentrale Gestalt der Lucile aus Dantons Tod. In der Passage, die sich Celan in seinem Büchner-Exemplar anstreicht,91 sieht man Lucile nach der Ermordung von Camille vor der Guillotine sitzen und sinnieren: Der Strom des Lebens müßte stocken[ ...]. Die Erde müßte eine Wunde bekommen von dem Streich. 1 Es regt sich Alles [...], das Wasser rinnt und so so Alles weiter bis da, dahin, - nein! es darf nicht geschehen, nein

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Schellenberger-Diederich: Geopoetik. Wie zuvor schon Uta Werner nimmt sie Celans nachweisliche intensive Studien der Geologie als Schlüssel der Interpretation seiner poetischen Intention, kommt jedoch zu einem anderen Schluss als Werner. Sie hebt die Relevanz hervor, die erdgeschichtliche Formationen und Bewegungen für Celan in seinen Studien der Geologie hatten, indem sie die von ihm gelesenen Werke und Unterstreichungen berücksichtigt. Dies ergibt einen interessanten Abriss der Geologiegeschichte insbesondere auch in ihrer Entwicklung im 20. Jahrhundert (Schellenberger-Diederich: Geopoetik, S. 319-328). Doch während Werner: Textgräber, ihre Quellenfunde zu Celans geologischen Studien mit detaillierten Interpretationen einzelner seiner Gedichte verbindet und so deren wechselseitige Bezogenheit methodisch überzeugend herausarbeitet, setzt Schellenberger-Diederich die aus der Lektüre Celans gewonnenen Erkenntnisse beispielsweise der geologischen erdgeschichtlichen Bewegung unmittelbar mit dessen poetischen Formationen gleich, ohne dies detailliert am konkreten sprachlichen Erscheinungsbild des jeweiligen Gedichts abzugleichen. Ebd., S. 30 l : ,,Geodynamik als trostspendendes Prinzip". Vgl. den Kommentar in KG 833.

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Grenzgänge zum Anorganischen bei Rilke und Celan - ich will mich auf den Boden setzen und schreien, daß erschrocken Alles stehn bleibt, Alles stockt, sich nichts mehr regt.92

Schellenberger kommt nun zu dem Ergebnis, dass Celan - obwohl er .,wusste, dass die Hoffnung der Lucile [ ... ] ein Wunsch bleiben wird" in seiner Poesie diesen Wunsch Realität werden lasse, indem er die geologisch nachgewiesene ,,harmonische Dynamik" der Erde poetisiere, als arbeite wenigstens diese „sanft an einer Art Wiedergutmachung [des Todes, FFG] in Form des Anlagems neuen Gesteins."93 Daraus ergebe sich „ein im Großen und Ganzen tröstliches Weltbild, in dem die form- und gestaltverändernde Wiederkehr der Dinge Prinzip ist und eine totale Auslöschung und Vernichtung von Materie nicht möglich ist."94 Für diese Umdeutung des Wunsches der Lucile nach einer Reaktion der Natur und des Weltgeschehens auf den Tod Camilles als eine geologisch motivierte Tröstungsvision bei Celan werden keine Belege angeführt - und sie sind auch nicht zu finden. Celan nimmt das bei Büchner artikulierte Erleben einer sehrecklichen Differenz zwischen dem unumkehrbaren Ende eines individuellen Lebens und dem gleichgültigen Weiterlaufen der Welt, zu dem auch die Naturabläufe gehören, sehr ernst. Dem Wunsch Luciles wird schon bei Büchner nicht stattgegeben: ihr Schreien, das alles zum Stocken bringen will, verhallt ohne Wirkung, die Erde bekommt eben keine Wunde und das Erdgeschehen läuft gleichgültig weiter (,,Das hilft nichts, da ist noch Alles wie sonst[ ... ], der Wind geht, die Wolken ziehen. - Wir müssen's wohl leiden"95). 92 93

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Georg Büchner: Dantons Tod, in: ders.: Dichtungen, hg. von Henri Poschmann. Frankfurt a. M. 2006, S. 11-90, hier S. 88. Schellenberger-Diederich: Geopoetik, S. 328. Vgl. ebd., S. 299: ,,Die Grundvorstellung einer sich stetig weiterentwickelnden Erde mit einer sich permanent in großen Umgestaltungen befindlichen Oberfläche bestimmt ein im Großen und Ganzen tröstliches Weltbild, in dem die form- und gestaltverändemde Wiederkehr der Dinge Prinzip ist und eine totale Auslöschung und Vernichtung von Materie nicht möglich ist." Schellenberger-Diederich: Geopoetik, S. 328: In Bezug auf die ,,Menschenvernichtung" der Juden vermittle ihm diese „Betrachtung der stofflichen Vorgänge" der Erde „einen gewissen, allerdings sehr schwachen Trost''. Büchner: Dantons Tod, S. 89. ,,Wir müssen' s wohl leiden" ist ein Vers aus dem Volkslied Ein Erntelied aus Des Knaben Wunderhorn, das mit „Es ist ein

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I 967 betont Celan noch einmal das Ausbleiben einer außennenschlichett (der Natur, Gottes) wie auch einer menschlichen Reaktion (,,die Indiff'e:renz der Geschichte und der Menschen''%) auf den gewaltsamen Tod. In I!Ju liegst im großen Gelausehe heißt es nach der aus der l?erspe!wve-der Mörder geschilderten, roh-gleichgültigen Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg: ,,Nichts I stockt'' (KG 316). Bereits in seiner ßüohneFpreisrede macht Celaa deutlich, dass er sieb in s-einem Schreiben naeh der 'Ermordung von Millionen Opfern des Nationalsozialismus keinesfalls auf ein „trostspendendes Prinzip"97 der Natur berun, das sich schon Lueile nicht zeigen will, vielmehr beruft er sieb mit seinen Gedichten auf den zweiten Schrei der Lucile, den sie ausstößt;, nachdem eine Reakti0n der Außenwelt auf den Tod nach ihrem ersten Schrei ausgeblieben ist: ,,Es lebe der König!"98 Für Celan liegt die Bedeutung dieses Schreis in seiner Eigenschaft als Anrufung eines Gegenübers. Bevor sie ihren Schrei ausstößt, sitzt sie auf den Stufen der Guillotine und spricht diese an {,,Du Totengl0&ke"99 ) - ibli ,absurder' Schrei ,;Es lebe der König!" nimmt keine andere Richtung und hat kein anderes Gegenüber als den T0d. 100 Für Celan ist jedoch die Ausrichtung ihres Schreis das Entscheidende.101 Denn dieser Schrei bewirkt eben jenes ,Stocken', das von der Natur angesichts des Todes nicht zu erwarten ist Luciles Ausruf, der zu Schnitter, der heißt Tod" beginnt, das Lucile gleich daraufanstimmt(vgl. den Kommentar ebd., S. 583() und damit ebenfalls den Tod als die Richtung angibt, auf die das Leben unweigerlich zusteuert. 96 Peter Szondi: Ce/an-Studien, füankfurt a. M. 1972, S. 123. 97 Schellenberger-Diederich: Geopoetik, Kap. ,,Geodynamik. als trostspendendes Prinzip", S. 301 ff. 98 Büchner: Dantons Tod, S. 90, bei Celan: Meridian {GW 3: 189). 99 Büchner: Dantons Tod, S. 90. 100 Ruven Karr hat dies als Möglichkeit gedeutet, den anonymen Tod des Massenmords, auf den Celans Büchnerverweise in Bezug auf den Mord an Camille und den Dantonisten überaus deutlich anspielen, in einen individuellen Tod zu verwandeln und dadurch dem leb wieder eine Stimme zu verleihen. Vgl. dazu Karr: Die Toten im Gespräch, S. 39-47. 101 Celan weist dezidiert daraufhin, dass Sprache für Lucile ,;Richtung" ist (GW 3: 194). Dieselbe ,,Richtung" des individuellen Todes wird Celan in seiner Rede dann auch für Büchners Lenz aufzeigen, wie auch Karr sehr überzeugend argumentiert: ,,Die ,Richtung' sowohl von Lucile als auch :von Lenz ist der Tod." (Karr: Die 71oten im Gespräch, S. 44).

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ihrem Tod führt, ist insofern nicht Hinnahme des Todes, sondern ein Aus:druck des Widerstands {,.das Gegenwort, [ ... ] ein Akt der Freiheir, GW 3: 189) gegen zwei Gewalten, die ein solches Stocken nicht kennen: einerseits die Gewalt des gleichgültigen Laufs der Natur und der Welt und andererseits die Gewalt der dem Tod gegenüber gleichgültigen Rede, mit der Celan die Kunst identifiziert. 102 Wenn man diese Differenz, die Luciles Schrei (und Celans Dichtung) motiviert, durch Einebnung des Todes in geologische Naturabläufe nivelliert, dann verfehlt man die Legitimation der Dichtung Celans als „Gegenwort". 103 Wenn die Geologie in dieser Hinsicht nicht als StichwortgeberfürCelans poetische Intention dienen kann, bleibt die Frage offen, warum er ausgerechnet den Stein als dasjenige bezeichnet, das als Gegenüber Menschlichkeit provoziert. In dem Gedicht Was geschah? ist der aus dem Berg tretende Stein Auslöser der dichterischen Sprache von Du und leb (vgl. Kap. III). In der zweiten Strophe steht die Zweisamkeit von leb und Stein als Zusicherung, dass das Gedicht nicht verstummt: ,,Wohin gings? Gen Unverklungen. 1 Mit dem Stein gings, mit uns zwein" (KG 153). Der Grund für diese Affinität der Dichtung zum Stern lässt sich zwar geologisch deuten, doch in anderer Hinsicht als im Sinne eines „Übergangs" der Dichtung „ins Anorganische". 104 Nicht der Stein als Teil einer gigantischen, unermüdlichen und naturhaften Gesamtbewegung der Erdmassen ist für Celan von Interesse, sondern vielmehr zwei dieser Naturbewegung

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Automat und Medusenhaupt setzt Celan in eins als „Kunst" und „Rede", beispielsweise wenn mit „kunstreiche[n] Worte[n]" der Freunde Dantons ,,vom gemeinsamen In-den-Tod-gehen die Rede ist". Nicht durch diese erstarrte Rede könne man Camilles Tod „als den seinen empfinden", sondern nur eben in Luciles „Es lebe der König!" als Dichtung, in der- anders als der Verlauf der Natur - deF Atem für einen Moment stockt (als „Atemwende", GW 3: 195). Celans Dichtung zielt mit dem „Gegenwort" gerade auf die Einmaligkeit des Todes für das individuelle Leben, wie Ruven Karr: Die Toten im Gespräch, S. 42f., am Beispiel der „Meridian-Poetik" herausarbeitet, und nicht auf eine ,tröstliche' Eingemeindung des Todes in einen allgemeinen Naturzusammenhang. Dagegen meint Schellenberger-Diederich: Geopoetik, S. 321, dass sich anband der Gesteinsmetaphorik Celans „ein unerschütterlich auf Erinnerung und Wiederkehr abzielendes Weltverständnis ablesen" lasse. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 477.

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entgegengesetzte Qualitäten: Zum einen die Fähigkeit des Steins, wie in Was geschah? als einzelner aus dem Gesamtzusammenhang der geologischen Masse herauszutreten, und zum anderen seine Widerstandsfähigkeit gegen die Zeitläufte: Das Gedicht [ ... ] ist Gestalt gewordene Sprache eines Einzelnen, es hat Gegenständlichkeit, Gegenständigkeit, Gegenwärtigkeit, Präsenz. Es steht in die Zeit hinein. 105

Betrachtet man das Gedicht als sprachlich geschaffene Wirklichkeit, dann repräsentiert es als „Sprache eines Einzelnen" auch eine Ästhetik des Widerstands gegen den sich über den Einzelnen hinweg wälzenden Lauf der Zeit und der Dinge. Celan vergleicht daher das Gedicht mit einem verirrten Steinblock, d . h. einem ,erratischen' Stein, der - ganz wie der Grabstein in Rilkes Cimetiere a Flaach (Kap. 11.4.1) - durch erdgeschichtliche Prozesse aus seinem ursprünglichen Zusammenhang gerissen wurde und sich als Fremder von seiner nächsten Umgebung absetzt: ,,die einzige Hoffnung: das Gedicht möchte noch einmal, erratisch, da sein". 106 Ganz ähnlich wie der Stein in Rilkes Cimetiere a Flaach handelt es sich um einen vom Menschen aus seinen Naturkontexten herausgerissenen Stein, der auch in Celans Gedicht Le Menhir als anorganisches Gegenüber auftritt, das sich weder in die Landschaft noch in die Gegenwart einfügen will. l07 Der Stein wird insofern gerade nicht als Naturmaterie aufgefasst, sondern als eine uneingepasste, nicht einzugemeindende Wirklichkeit 108

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Die Dichtung Ossip Mandelstamms, TCA/M, S. 215. TCA/M, Nr. 187, S. 97. Vgl. dazu die Einblicke von Helmut Böttiger: Wie man Gedichte und Landschaften Liest. Celan am Meer, Hamburg 2006, S. 37: ,.Der Stein ist[ ...] monumental, ohne weitere Erklärungen. Das Erklärungslose ist es, was einen gefangen hält." Vgl. ebd., S. 40: ,,Dass der künstlich hergerichtete, auf dunkle, vorgeschichtliche Zusammenhänge verweisende Stein als ein menschenähnliches Wesen erscheint, führt in Bereiche, die sich den gewohnten Vorstellungen entziehen." In dieser Hinsicht setzt sich Celans poetologische lnanspruchnahme des Steins von Nelly Sachs ab, wie die Arbeit von Anita Riede: Das „Leid-SteineTrauerspiel". Zum Wortfeld „Stein" im lyrischen Kontext in Nelly Sachs' ,Fahrt ins Staublose' mit einem Exkurs zu Paul Ce/ans ,Engführung', Berlin

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Diese Widerständigkeit sieht Celan auch als rezeptionsästhetische Herausforderung: Wer schon durchschaut hat, ehe er wahrnimmt und anschaut, dem erscheint das Gedicht in seiner ganzen - auch im geologischen Sinne zu verstehenden - Mächtigkeit gegenüber, es füllt sieb mit dem Dunkel des Dagegenstehenden; ein erratischer Sprachblock, schweigt es dich an. &; w-ml: Elir Elein GeFeEle :zuriiolt: eis sieh diF deF Atem wendet [ ...] 109

Der Stein widersteht durch seine Materialität der ,menschlichen' Neigung, sofort alles in gewohnte Muster einzuordnen und es damit nicht als anderes wahrzunehmen, weil das Fremde sofort ins Eigene übersetzt wird. Mit einem Wortspiel entlarvt Celan diesen Automatismus der Wahrnehmung: Das Durchschauen nimmt nicht das Phänomen wahr, sondern schaut durch es hindurch. 110 Der menschlichen W ahrnehmungsforrn eignet - wie der Sprache der Kunst in der Büchnerpreisrede' 11 - etwas Abtötendes, indem sie auf Wiederholung als Bestätigung des immer schon Gewohnten und Gewussten aus ist. Auf diese Parallele zur Büchnerpreisrede

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2001, gezeigt hat. Bei Nelly Sachs wird das Elementare als das Erlösungsbedürftige gelesen (was nicht immer gelingt). ,,Der durch diese Motive [Sand, Staub, Stein und Asche] markierte defizitäre Zustand der reinen Materialität, des Seelen- und Erkenntnislosen bedarf der Erlösung, der Verwandlung in eine seelenvolle, durchgeistigte, die bloße Materie übersteigende Daseinsform [ ... ]. Dies betrifft die Elemente, die ganze Erde mit der lyrischen Bewegungsrichtung auf ein naturmagisch-esoterisches Konzept" ( ebd., S. 59). Gegen solche Einordnungen wendet sich Celans Einforderung eines poetisch provozierten ,Stockens' der gegebenen Kreisläufe und Vorgänge, das die Natur gerade nicht leistet und das nur in der Konfrontation mit dem Gedicht als ,erratischem' Stein entsteht, der sich nicht eingemeinden lässt. TCA/M, Nr. 185, S. 97. Celan hat dagegen in seinen Notizen wiederholt auf die ,,,Opazität' des Phänomenalen" hingewiesen (TCA/M, Nr. 180, S. 96), mit der es seine „Gegenständigkeit" beweist (TCA/M, Nr. 178, S. 96). Dies lässt sich auf sein Gedicht beziehen: ,Jm Radio-Interview mit Amichai sprach Celan davon, daß seine Gedichte etwas von der ,Opazität des Steines' haben", schreibt Israel Chalfen: Paul Ce/an in Jerusalem, in: Ilana ShmueH / Thomas Sparr: Paul Celan - Ilana Shmueli. Briefwechsel, Frankfurt a. M. 2004, S. 149-152, hier S. 150. Meridian (GW 3: 200): ,,Die Kunst, also auch das Medusenhaupt, der Mechanismus, die Automaten[... ] - die Kunst lebt fort."

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weist der durchgestrichene Satz der Notiz hin (Der Sprachblock ,,'N~ dir aeiB Gereee aHiiek''). Das „Gerede" nimmt auf die Unterhaltung der Freunde Dantons vor ihrem Tod Bezug, von der ,,,ein paar Stimmen[ ...] finden, daß das alles ,schon einmal dagewesen und langweilig' sei" (GW 3: 189). Das Gerede weist durch seine Wiederholbarkeit ins Automatische, Anonyme, 112 Lucile dagegen hört keine „Rede" sondern „Sprache"' 13 und ist damit diejenige, die, wie in der Notiz gefordert „wahrnimmt und anschaut" ( ebd., Herv. FFG) und dabei gerade nicht ,.,durchschaut", wie es in der zitierten Notiz heißt. Die Tatsache, dass der Stein nicht durchschaubar ist und undurchdringlich bleibt, führt dazu, dass jene bis zur Unkenntlichkeit eingeschliffenen, durch die Sprache des ,Dritten Reichs' diskreditierten Wahrnehmungsmuster zerbrechen und sich damit allererst die Möglichkeit eröffnet, das Andere überhaupt als anders wahrzunehmen.1 14 Dieser Anspruch lässt sich durchaus mit Rilke in Verbindung bringen, der in seinen poetischen Anstrengungen immerfort die gewohnte Wahrnehmung außer Kraft zu setzen sucht, die auch er als tödlich erkennt. In einem seiner frühesten Gedichte, Ich.fürchte mich so vor der Menschen Wort, bringt er es auf den Punkt: Die Menschen, die „alles so deutlich" aussprechen und in die eigenen Kategorien einordnen, sind zum Fürchten - von ihnen heißt es: ,,Ihr bringt mir alle die Dinge um" (KA l: l 06). Anders als Celan ist Rilke jedoch auf diese andere, von der alltäglich-

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Vgl. Agis Sideras: Paul Ce/an und Gottfried Benn. Zwei Poetologien nach 1945, Würzburg 2005, S. 33, der das „Gerede" mit Bezug aufHeideggers Sein und Zeit(§ 35) bei Celan als eben solches ,Durchschauen' liest: ,,Das Gerede, das jeder aufraffen kann, entbindet nicht nur von der Aufgabe echten Verstehens, sondern bildet eine indifferente Verständlichkeit aus, der nichts mehr verschlossen ist." Lucile ist ,jemand, der hört und lauscht und schaut ... und dann nicht weiß, wovon die Rede war. Der aber den Sprechenden hört, der ihn ,sprechen sieht', der Sprache wahrgenommen hat und Gestalt" (Meridian, GW 3: 188) Marlies Janz hat diese Kapazität des Steinernen, das ,Gerede' auszuhebeln. überaus plausibel mit Celans eingefordertem Respekt vor den durch die Sprache der Nationalsozialisten entmenschlichten „krummnasigen und mauschelnden und kielkröpfigen Toten von Auschwitz und Treblinka" (TCA/M, Nr. 394, S. 127) in Verbindung gebracht. Der Stein provoziere „die kritische Reflexion einer falschen Sprache" (Janz: ,,Judendeutsch", S. 85).

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verallgemeinernden unterschiedene Wahmehmung aus, um sie durehllssig für eine außennenschliche Instanz (das Andere, Unsägliche) zu machen. Celan dagegen situiert diese außennenschliche Instanz bereits im Gedicht und seiner Sprache selbst: Gegenständlichkeit, Gegenständigkeit der Gedichte: Anschauung kein Durchschauen-: das Gedicht ist schon das Dahinter' 15

Das Gedicht stellt keine Membran für ein wie auch immer geartetes ,,Dahinter" dar wie oft bei Rilke, sondern es ist selbst schon dieses ,,Dahinter". Die Hoffnung, die Celan antreibt, richtet sich ganz auf eine sprach- und gedichtimmanente, gegenwärtige Präsenz des Anderen, wie sie etwa in Gestalt des schweigenden, erratischen Sprachblocks zum Ausdruck kommt. Der Schockmoment der Konfrontation mit dem ganz Anderen, Inkommensurablen des Steins ist ein Wiederhall des ästhetisch Erhabenen, der aber bei Celan ganz im Zwischenmenschlichen angesiedelt ist: In der Unfähigkeit, den Anderen dem Eigenen zu assimilieren, und dem Willen, sich dieser Erfahrung - auch in Gestalt der Lektüre eines ,hermetischen' Gedichts- auszusetzen (,,Hinwendung zu diesem Anderen"), erhält sich eine letzte Hoffnung auf Menschlichkeit. 116 Eine Bedingung für diesen Respekt vor der Fremdheit des Anderen, des Toten ist, wie gesehen, es wie einen Findling nicht in die vorhandenen organischen oder geologischen Lebenszusammenhänge einbeziehen zu können. Entsprechend lautet die Forderung bereits Mitte der fünfziger Jahre in Celans Flügelnacht, die organischen Konnotationen der Sprache zugunsten einer anorganischen Sprache „unsichtbar" werden zu lassen {Kap. 111.2.1 ). Eine wuchernde und wilde Sprache, die zudem noch viele intertextuelle Anknüpfungspunkte an die poetische Tradition der Naturdichtung enthält wie etwa die Eichendorffs, hat ihre Unschuld verloren (,,braun" ist nicht die Farbe der Erde, sondern auch die Farbe der NaziUniformen); sie wird im Laufe des Gedichts durch Wörter substituiert,

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TCA/M, Nr. 190, S. 97. TCA/M, Nr. 240, S. 104f.: ,,darum ist auch das Gedicht, von seinem Wesen und nicht erst von seiner Thematik her - eine Schule wirklicher Menschlichkeit: es lehrt das Andere als das Andere, d. h. in seinem Anderssein verstehen [ ... ]".

Einleitung

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die dem kargeren Bereich des Anorganischen entnommen sind, 117 indem ,,Kiesel", ,,Kreide", ,,Schnee", und „mehr noch des Weißen" aneinandergereiht werden. Allerdings wird in den hier untersuchten Gedichten Celans offensichtlich, dass das Anorganische als Sprachgestalt nicht auf diese poetologische und rezeptionsästhetische Funktion beschränkt ist, die sich in den Notizen aus der Zeit der Büchnerpreisrede hinsichtlich des Steins abzeichnet. Neben diese Identifikationsmöglichkeit von Stein und Gedicht als „erratische", also individualisierte, in die Zeit stehende leblose Gegeninstanz, die eine individuelle Konfrontation mit dem Toten als dem nicht Kompatiblen provoziert, tritt die weit darüber hinaus gehende Präsenz einer allumfassenden und undifferenzierten Masse des Anorganischen, die der anonymisierten Masse des Toten gleicht.' 18 Diese ist nicht identisch mit dem Gedicht, sondern stellt seinen Zielpunkt dar. Bereits in Am letzten Tor wird der einzelne Stein von einem versteinerten Himmel überwölbt, zu dem er aufsteigt, ebenso die „Kiesel" in Flügelnacht, die dort zudem noch umgeben sind von „mehr noch des Weißen" (Kap. 111.2. l ). Im Lauf des Werks rückt das lebendige, lesende Gegenüber, dessen Wahrnehmung des Anderen das Gedicht provozieren will, immer mehr in den Hintergrund zugunsten eines Gegenübers, das ihm als oben situierte, anorganisch-undifferenzierten Region entgegentritt und dem es sich aussetzt. Diese Region zeigt sich als „Abermals-Helle[s]" in Die hellen Steine (Kap. III.3.1), als kosmische „Blickmasse" in Singbarer Rest (Kap. Ill.3.2), als alles hinauswirbelnde „Höhe" in Wer schlug sich zu dir (Kap. IIl.4.1 ), und schließlich als „Sternhaufen-Blau" in Du gleißende (Kap.

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Schmitz-Emans: Poesie als Dialog, S. 15 u. ö., weist in vielen Beispielen auf die „Versteinerungen und Zersplitterungen des Wortes bei Celan" hin. Beide Erscheinungsformen des Anorganischen als individueller Stein und als Masse lebloser Materie fasst Giuseppe Bevilacqua: Auf der Suche nach dem Atemkristall. Ce/an-Studien, aus dem Italienischen übersetzt von Peter Goßens und Marianne Schneider, München 2004, S. 75, in seiner Interpretation von In den Flüssen (KG 176) zusammen: .,Die ,Schatten' der Verstorbenen [ ... ] sind dasselbe wie die Steine, ,Stein' im Sinne von Grabstein oder träge Materie, taub gegenüber jeder Anrufung oder der Möglichkeit eines Kontaktes, denn sie sind die spurlos verlorenen Toten, die zu etwas nicht differenziertem Unorganischen geworden sind[ ... ]."

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ID.4.2). Diese anorganischen Instanzen unterscheiden sich ganz wesem,. lieh von der in den Notizen formulierten Idee des Gedichts als eines erratischen Steinblocks, weil ihre Gestalt jede individualisierte Form ausschließt. Doch erweist sich der Stein in den meisten der hier analysierten Gedichten als ansprechbares Du, das zwar nicht antwortet und fremd bleibt, aber doch eine Vermittlungsinstanz in Richtung jener anonymen Todesregion darstellt. Celan zielt also mit dem Anorganischen auf eine das Individualmenschliche und seine Formen übersteigende Region. 119 Sie kennzeichnet die Richtung, in die seine poetologisch verstandenen Einzelformationen als Steine, Kiesel oder Trabanten streben. Insofern kann man in der Werkchronologie Celans feststellen, dass sich das Gedicht - als Stein - den zeitlos-anorganischen Regionen des kosmischen Raums annähert (Singbarer Rest, Kap. III.3.2) und schließlich sogar dort ankommt (Du gleißende, Kap. IIl.4.2). Eine ähnliche Bewegung vollzieht das Kunstwerk bei Rilke, wenn seine Gedichte die gelungene Verbindung von Innen- und Außenraum in Bezug auf das Anorganische feiern. Doch macht der Vergleich gerade dieser Gedichte die historisch bedingte Kluft zwischen Rilkes und Celans anorganischen Todesregionen besonders deutlich. I.3

Kunstmetaphysik versus Anthropologie des Steinernen

In Einmal noch (Kap. 11.3.2) erprobt Rilke erneut die äußerste Annäherung eines Ich an das Außermenschliche im Inneren ( als Versteinerung) und Äußeren (als kosmische Leere). Zunächst erlebt das Ich sein steinernes Inneres als Abschnüren des Lebensatems, und diese innere Verfassung spiegelt sich in einem von allem Menschlichen entleerten, dem organisch blühenden Tal gegenübergestellten, ,,ausgestürzt[en]" Himmel (K.A 2: 117), den man beinahe schon als ,,Abgrund" wie in Celans Büchnerpreisrede wahrnehmen kann (GW 3: 195). Doch wandelt sich diese äußerste Grenzerfahrung des eigenen „steinigen Gebiete[s]" und der damit korrespondierenden kosmischen Leere in den letzten Versen in fließende Tränen, in ein „weinendes Gesicht". Dadurch wird eine Sprache möglich, die selbst das überindividuelle kosmische Geschehen, die Bewegung der 119

So denkt Celan in einer Notiz darilber nach, künstlerische Formen eine ,,Huldigung an die Eigengesetzlichkeit des Anorganischen" zu nennen und bezeichnet „das Kristalline" als ,.Ausbruch aus der Kontingenz" {TCAIM, Nr. 205, s. 100).

Einleitung

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Sterne aufnehmen kann. Damit ist der Weg zu den Duineser Elegien vorgezeichnet, die mit ihrer tragenden, das Individuum übersteigenden Be;. wegung des Schwingens und Strömens die Grenze zwischen Diesseitigem und Jenseitigem porös machen. Rilke hat die beiden Pole des Strömens und des Steinernen am Ende der Zweiten Elegie benannt. Böhme bezeichnet sie als ,,zwei Weisen des Erhabenen", denen ,,nicht zu entkommen" sei: ,,dem Steinernen und dem Meerischen", 120 die allerdings hier eine ähnliche Funktion erfüllen. Fänden auch wir ein reines, verhaltenes, schmales Menschliches, einen unseren Streifen Fruehtlands zwischen Strom und Gestein. Denn das eigene Herz übersteigt uns noch immer[ ... ]. (iKA 2: 207~

Rilke ver01tet „Strom und Gestein" jenseits des Menschlichen, doch stellt das „eigene Herz" hier wie in Heim'kehr, wohin (Kap. ll.3.l) ein poetisches Einfallstor für dieses Außennenschliche dar und ermöglicht eine Verbindung zwischen Innen und Außen. Charakteristisch für die Intention der Duineser E,fegien ist, dass er hier nicht zwisehen den beiden elementaFen Aggregatzuständen - strömend und steinern - unterscheidet. Einer mystisch-monistischen Vision der Vereinigung mit dem Außermenschlich.en kann schließlich sowohl das Ozeanische als auch das Anorganische dienen, s0fern man das !Problem des sterbliehen Ich außer Acht lässt. Dies lässt sich bereits in denjenigen der Neuen Gedichte beobachten, die das Steineme nicht im Erileben eines kh nachvo11ziehen wie [j)er Gefangene, sondern steinerne Kunstwerlce feiern, die unabhängig von der zeitlichen Gebundenheit des Menschen in Kontakt mit dem uQendlichen Raum treten wollen. 'F>ieser Aspekt der Neigung Rilkes rum Anorganischen schließt an Irunstmetaphysische Visionen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts an. IDie .Affinität zwischen den sehepfer;ischen PE0dukten des Menschen und der, von ewigen Gesetzmäßigkeiten bestimmten Sphäre des Anorganischen ist der Ausgangspunkt einer apollinisch-kristallinen Ästhetik, der

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Böhme: Das Steinerne, S. 141.

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sich noch Gottfried Benn in seinen späten Gedichten verpflichtet weiß}21 Hugo Friedrich bezeichnet als einen „Grundzug" der modernen Lyrik die „immer entschiedener werdende Trennung vom natürlichen Leben".122 Auch die philosophische Anthropologie bescheinigt dem Menschen eine ,,exzentrische Positionsform", ein „Stehen im Nirgendwo", außerhalb der Einbindung in natürliche Kreisläufe. 123 Neben die Faszination des Organischen als „Kategorie der Modeme", 124 die sich in Anlmüpfung an Nietzsche und Schopenhauer als „ozeanische" Sehnsucht nach All-Einheit in der Literatur der Jahrhundertwende äußert, 125 tritt der Konterpart des Organischen, das Anorganische, als Indiz und Medium für den um 1900 zu konstatierenden „Paradigmawechsel der literariischen Anthropologie".126 Walter Benjamin stellt die ,,Einfühlung in das Anorganis©he" als zentrale Inspirationsquelle der modernen Lyrik bei Baudelaire heraus. 127 Im Gegensatz zu einer am Organischen orientierten Anthropologie, die den Menschen in ein mystisch-monistisches Ganzes einbettet - ,,On, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären. 1 Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor", wie Gottfried Benn formuliert 128 - steht der „avantgardistische Habitus der ,Kälte"'und Abstraktion. 129 Losgelöst von der Nachahmungs-

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Vgl. Wolfgang Riedel: Wandlungen und Symbole des Todestriebs. Benns Lyrik im Kontext eines metapsychologischen Gedankens. in: ders.: Nach der Achsendrehung. Literarische Anthropologie im 20. Jahrhunder,t, S. 266-283. Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik, S. 109. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/ New York 1975, u. a. S. 346. Hartmut Eggert u. a. (Hg.): Faszination des Organischen. Konjunkturen einer Kategorie der Modeme, München 1995. Vgl. Fick: Sinnenwelt und Weltseele; Riedel: Homo Natura. Ebd., S. 9. Walter Benjamin: Charles Baudelaire. 'Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von RolfTiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.2, Frankfurt a. M. 1974, S. 509-604, hier s. 558. Gottfried Benn: Gesänge/, in: ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, in Verbindung mit Ilse Benn hg. von Gerhard Schuster, Bd. 1: Gedichte 1, S. 23„ Vgl. Helmut Lethen: Verhaltens/ehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994. Daran anknüpfend untersucht Gregor

Einleitung

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und Einfühlungsästhetik steckt die Avantgarde in Anlehnung an das Anorgarusche kristalliner Formen und kosmischer Dimensionen künstlerische Räume einer eigengesetzlichen, ins Geistige verlagerten Freiheit ab. Doch teilen das Streben zum Organischen und zum Anorganischen miteinander einen metaphysischen Totalitätsanspruch, der - ungeachtet der Beschränkungen, mit denen sich der Mensch durch seine Endlichkeit konfrontiert sieht - über den Umweg der Kunst den Zugang zu einem Bereich ewigen Fließens (organischer Zyklus) oder ewiger Gesetzmäßigkeiten (anorganische Notwendigkeit) eröffnet. Dass Rilke eine Affinität zu dieser kunstmetaphysischen Faszination des Anorganischen zeigt, wird schon in einer viel zitierten Briefpassage aus dem Jahr 1903 deutlich. ,,Das Kunst-Ding muß [ ... ] von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben" sein, wodurch es „fähig zur Ewigkeit" werde. 130 In den Neuen Gedichten wird das Gedicht weitgehend dem Steinernen und Teilnahmslosen angenähert, indem es selbst gewissermaßen in seiner anorganischen Konsistenz reflektiert und mit steinernen Kunstwerken wie Kathedralen, Statuen oder ägyptischen Bauten und Schmuckstücken gleichgesetzt wird Rilke nutzt hier - in Anlehnung an Rodin - die Materialität des Anorganischen, um die subjektive Innerlichkeit seiner frühesten Ge-

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Streim: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950, Berlin/ New York 2008, die „existenzialanthropologische" Perspektive, die „Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio" angesiedelt wird und sich damit ei:ner Ästhetik des Anorganischen nähert, wie sie z. B. auch Lethen an „Jüngers Fall ins Kristall" demonstriert {Lethen: Verhaltens/ehren der Kälte, S. 187ff.). Den Anspruch der abstrakten Kunst entfaltet Jutta Müller-Tamm: Abstraktion als Einfiihlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Modeme, Freiburg i. Br. 2005, u. a. am Beispiel von Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfiihlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. Leipzig 1919, der die Modeme mit „primitiven" Zeitaltern gleichsetzt, die sich durch eine radikal amimetische, antinatürliche Kunst klarer geometrischer Rormen vor der Unheimlichkeit einer undurchschaubaren und willkürlichen Natur schützen. Vgl. Vassilij Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (verfasst 1910-1912), Berlin 1952. Aus einem Brief Rilkes vom 8.8.1903 an Andreas-Salome (LAS 94). Vgl. dazu Kap. ll.2.1).

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Grenzgänge zum Anorganischen bei Rilke und Celan

dicbt.e hinter sich zu lassen und Räume jenseits des Menschen zu erschließen.131 Mit einem „Gesicht aus Stein" (KA 1: 581) verkörpert das Gedicht dann wie in Der Einsame ein menschengeschaffenes und zugleich menschenfremdes Gebilde (Kap. 11.2.1). Dieser ästhetische Übergang des Kunstwerk ins Anorganische :fülu:t notgedrungen zu einer Marginalisierung des menschlichen Ich zugunsten des künstlerischen Bauwerks, das Ich wird im wahrsten Sinne des Wortes „an seinen Rand gestellt" (KAI: 580). Der erhabene Schrecken angesichts des Anorganischen verschwindet dann folglich ebenso aus dem Gedient wie auch das numinose Andere als Gegenüber. An dessen Stelle tritt ein Einschwingen des Gedichts in die übergeordnete Gesetze und die Zeitgestalt des Anorganischen wie in Der Käferstein (Kap. II.2.1 ), während die existenzielle Spannung zwj. sehen Leben und Leblosem verschwindet und von der m0nistischen Vision einer Vereinigung des Kunstwerks mit dem Weltall eingenommen wird, wobei menschliche Lebensäußerungen schlicht nicht mehr vorkommen. Als steinerner Sphinx wie in der Zehnten Elegie kann das Kunstwerk zwar mit dem Weltraum in Austausch treten und sich so in Verbindung mit den kosmischen Gesetzen wissen, die - hier in Gestalt der Schwerkraft - auch die physische Welt bestimmen. Doch ist zu bedenken, dass der Sphinx bezeichnenderweise ein Grabmal darstellt und damit der beblosigkeit ein Denkmal setzt. Die Verabsolutierung des Kunstwerks zum ebenbürtigen Partner der anorganischen Räume macht die Existenz eines lebendigen Ich im Gedicht überflüssig (Kap. U.2.2). Die Fühlungnahme mit dem Leblosen, die in Gedichten Rilkes und Celans mit unterschiedlicher Motivation gesucht und ger;adezu her,ausgefordert wird, ist insofern zwar zweifellos einer der zentralen Konvergenzpunkte zwischen ihren Werken. Doch unterscheidet sich Celans Gedieht von Rilkes kunstmetaphysischen Momenten des Höhenflugs dadurch, dass es den Bezug auf den Menschen nicht vedier;en will: Das Gedicht nimmt immer, auch da, wo es ins Außermenschliche tritt, den Menschen mit. 132 131

132

Rilke wendet sich entsprechend in dieser Zeit explizit gegen individuelle Gefühlsoffenbarungen im Gedicht, es gelte vielmehr,, wie im Requiem far Wolf Graf von Kalckreuth von 1908 (KA J: 425), ,,hart sich in die Worte zu verwandeln, 1 wie sich der Steinmetz einer Kathedrale I verbissen umsetzt in des Steines Gleichmut." TCA/M, Nr. 131, S. 89.

Einleitung

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Weder das Gedicht als Stein noch die fernen anorganischen Regionen des Außennenschlichen, auf die es zustrebt, sind in Celans Gedichten unabhängig vom Menschen zu denken. Dass sein Gedicht ein individuelles Ausscheren aus der natur- und menschengegebenen OleichgQltigkeit und der Zeit initiieren will, zeigte der Vergleich mit dem erratischen „Gegenwolit" Luciles. Wie ihr „Es lebe der König" ist auch das erratische Sprechen im Gedicht auf das Tote hin ausgerichtet. In Die Halde (Kap. IIl.2.2) befinden sich zwei Liebende inmitten einer Geröllhalde, deren eingefallene „Wange" sie als rollende Steine hinabkullem. Im Unterschied zu Rilkes steinernem Kunstwerk des Sphinx in der Zehnten Elegie, dessen runde „Wange" eine Einschreibung noch ins jenseitige Totengehör provoziert (KA 2: 233), ermöglicht die Halde in Celans Gedicht durch ihre Neigung das einzige in ihrer Gegenwart noch mögliche Leben und Lieben. 133 Die Annäherung der Liebenden an das Leblose geht in Die Halde so weit, dass ihre Lebendigkeit sich überhaupt nur noch als Bewegung „abgrundhin" rollender Steine äußert, die von der Neigung der Halde bestimmt ist. Gerade weil sich das verbliebene Leben ganz an die leblose Region der Halde und ihr Gezeichnetsein vom Tod anpasst, ist dieses Leben reduziert auf seine Existenz als gemeinsam kullernde Steine. ln Schneebett (Kap. IJI.2.3) spitzt sich die Situation des sprechenden Ich zu. Jetzt ist es allein, ohne Leidens- und Liebespartner, es rollt nicht in Anpassung an die Umgebung steinern umher, sondern klettert als lebendiges Ich in lebensbedrohlicher Lage eine Steilwand hinab, blind, in den Felsen verkrallt, und erblickt in der Spiegelwand des Felsens sein eigenes Totengesicht. ,,Gedichte machen einem das hippokratische Gesicht", wird sich Celan später notieren. 134 Und an anderer Stelle bezeichnet er das Gedicht „als das sich 133

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Hahn: Ethopoetik des Elementaren, S. 3 l 7f., weist zu Recht darauf hin, dass das Anorganische nicht das Ziel der Celanschen Sprachlandschaften darstellt, wie etwa Adornos Aussagen über Celan zu verstehen sind (Adorno: Ästhetisehe Theorie, S. 477, schreibt, dass „Celan die Entgegenständlichung der Landschaft, die sie Anorganischem nähert, in sprachliche Vorgänge" transponiere). Vielmehr zielen sie auf die noch vorhandene Lebensbewegung inmitten des Leblosen. Darin unterscheiden sich „Celans lyrische Landschaften von der bloßen Vermessung real vernichteter Territorien" (Hahn: Ethopoetik des Elementaren, S. 321) als eine „Lyrik, die sich sowohl der leblosen Materie als auch dem kreatürlichen Leben verpflichtet weiß" (ebd., S. 324). TCA/M, Nr. 25, S. 60.

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Grenzgänge zum Anorganischen bei Rilke und Celan

buchstäblich zu Tode Sprechende". 135 Das Ich und damit auch das Gedicht hält auf den Tod zu, im wahrsten Sinne des Wortes, doch ist dieser Tod keine jenseitige metaphysische Instanz, sondern das Außermenscbliche ist das Ergebnis des Unmenschlichen, es steht für das Totsein der anonymen Masse der Ermordeten. Insofern ist auch das ,,Außermenschliche" bei Celan nicht unabhängig vom Menschen gedacht wie bei Rilke. Keine der anorganischen Regionen in Celans Gedichtlandschaften ist ahistorisch zu verstehen. Als Totenregionen vergegenwärtigen sie die Resultate eines gewaltsamen Geschehens der Vergangenheit. 1.4

Das Tote als Menschenwerk

Am Beispiel von Die Halde wird deutlich, dass Celan sich gegen kunstmetaphysische Tendenzen stellt, die das steinerne Kunstwerk in einen anorganischen Kosmos eingebunden wissen wollen wie Rilkes Sphinx (Kap. 11.2.2) und zu diesem Zweck die Gleichgültigkeit des Anorganischen gegenüber dem Menschen ins Herz des Kunstwerks einholen wie in Rilkes Heimkehr, wohin (Kap. II.3.1). Doch wäre es eine Verkürzung der anthropologischen Einsichten Celans, wenn man seine anorganischen Landschaften dagegen nur als historisch gezeichnete Opferlandschaften und sein Gedicht nur als wehrhaftes „Gegenwort" liest. Nicht umsonst hat das als widerständiger Stein verstandene Gedicht dieselbe anorganische Konsistenz wie die anorganischen Regionen, die ihn zugleich anziehen wie auslöschen. Ruven Karr hat nachdrücklich auf die ,trialogische' Struktur in Celans Büchnerpreisrede aufmerksam gemacht und sich damit gegen eine dualistische Auffassung der ,Meridian-Poetik' gestellt, die das Gedicht als reines Gegenmodell zur lebensabtötenden Kunst verstehen will. Das Gegenmodell zur Kunst ist in Celans Rede eine durchweg utopische Dichtung, sein konkretes Gedicht aber teilt das lebensabtötende Streben mit der Kunst. 136 Eine entlastende Identifikation mit einer reinen Opferperspektive gestattet Celan seinem Gedicht ebensowenig wie seinen Lesern. 135

136

TCA/M, Nr. 304, S. 113. Ruven Karr: Die Toten im Gespräch. Trialogische Strukturen in der Dichtung Paul Ce/ans, Hannover 2016, S. 27-36 (,,Die Meridian-Poetik"). Vgl. die ausgesprochene Frage in Celans Büchnerpreisrede (GW 3: 193): ,,Und Dichtung? Dichtung, die doch den Weg der Kunst zu gehen hat? Dann wäre hier, ja wirklich der Weg zu Medusenhaupt und Automat gegeben! "

Einleitung

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Was sich bei Rilke in Gedichten wie Der Gefangene oder Cimetiere a Flaach andeutet, wird bei Celan bewusst reflektiert: Der allen menschlichen Konstruktionen innewohnende Hang zum Leblosen als Sehnsucht nach Bestand und Dauer führt aus Sicht des einzelnen menschlichen Daseins nicht allein ins Außermenschliche als ewig Gesetzmäßiges, sondern vielmehr ins Unmenschliche. Dieses Unmenschliche, das „Medusenhaupt" a'ls Domäne des Menschen und nicht der Natur bezeichnet Celan in seiner Büehnerpreisrede konsequent als Streben der Kunst, die alles in Stein verwandeln will, was sie erblickt. Diesem künstlerischen Hang zum Anorganischen liegt die menschl'iche Sehnsucht zugrunde, das Vergängliche zu verewigen und seine Sterblichkeit auszuklammern. Celan zitiert aus Büchners Lenz den künstlerischen Impuls des Dichters, der die von ihm erblickte Schönheit einer Gruppe Mädchen sofort dauerhaft festhalten will: Man möchte manchmal ein Medusenhaupt sein und diese Gruppe in Stein verwandeln [ ... ]" .' 37

Wie die Büchnerpreisrede deutlich macht, kann auch das Gedicht nicht umhin, diesen lebensfeindlichen Impuls der Kunst immer wieder zu aktualisieren (,,Dann wäre die Kunst der von der Dichtung zurückzulegende Weg - nicht weniger, nicht mehr", GW 3: 194). 138 Es scheint also, als ob auch das Gedicht dieses anorganisch-tödliche Potenzial in sich trüge, 137

138

Meridian (GW 3: 191 f.), vgl. das Originalzitat bei Georg Büchner: Lenz, in: ders.: Dichtungen, hg. von Heori Poschmann, Frankfurt a. M. 2006, S. 2232§0, hier S. 234. Büchner stellt neben diesen von Celan zitierten Ewigkeitsanspruch durch Versteinerung gleich darauf die Vorstellung eines ewigen Fließens der Schönheit - Lenz artikuliert hier insofern sowohl eine anorganische als auch eine organische l gleitet von zerstörten Worten (,,geborsten") und gebrochener Stimmhaftigkeit (,,Kehliges"). Vgl. ebd. zum „Geleucht"; zum Mondlicht (V. 4) vgl.: ,,Narbiger Silberball im Zenith, wolkenumflossen" (ebd., S. 3 I ). Auf die Parallelitlt der SpiegelSzenen in Gadir und Schneebett wird weiter unten noch e i n ~ Schmidt: Leviathan, S. 40.

Celan: Anthropologie vom Tode her

dDrcb den Nachsatz als Charons Fähre, blind geworden wie die im erstem Vers von Schneebett geforderten weltblinden Augen und inmitten der Nacht, die auch in der letzten Strophe von Schneebett dominiert (V. 17), sttuert Schmidts schreibendes Ich auf den Tod zu. 44 Schmidt stellt die hinterlassene Schriftsprache als Totenzeugnis dem tatslchlichen, als Befreiung erlebten Schreiben des Gefangenen gegenüber. Dieser Gegensatz von Totenschrift und dem gegenwärtigen, lebendigen Prozess des Schreibens oder Sprechens findet sich auch bei Celan. In Yielen seiner Notizen betont er das Auseinanderklaffen von Sprache und Sprechen, etwa am 19. August 1959: ,,Doppeltes Relationsgefüge des Gedichts: das der Sprache, das des sprechenden Ich". 45 Als er einige Monate später Freuds Das Unbehagen in der Kultur liest, unterstreicht er sich die dort getroffene Bestimmung der „Schrift als Sprache des Abwesenden" und überträgt sie auf das Gedicht. 46 Die Schriftsprache und die gesprochene Sprache werden voneinander getrennt und semantisch aufgeladen: Die Schriftsprache in Gestalt zeitbeständiger, aber lebloser Sprachzeichen auf dem Papier werden zum Signum des ,,Abwesenden", zum Verweis auf die Leerstelle der Toten, zum Zeichen ihres Totseins wie die schriftliche Hinterlassenschaft.in Schmidts Gadir. Die gesprochene Sprache dagegen ist momenthaft und steht dadurch immer schon im Zeichen der Endlichkeit, was im Gedicht Schneebett zusätzlich dadurch forciert wird, ilass sich das aktuell sprechende Ich in Todesgefahr befindet. Sein Schreiben ist wie ein vielleicht letztes Lebenszeichen wie das Schreiben des Gefangenen in Gadir. Mit Blut, mit Atem und mit verkrallten Fingern tiifcbilet sich das Ich in Schneebett in die Steilwand ein. Es ist gerade die Binmaligkeitund damit die Endlichkeit, die dieses existenzielle Sprechen auszeichnen: Die Worte im Gedicht, in ein einmaliges Geschehen gestellt, halten auf ihr Ende zu (Letztlichkeit)47

iathan, S. 39. lithen, Nr. 263.4, S. 147. Gedicht ist, als Schrift, ,Sprache eines Abwesenden' ( ... ]" (TCA/M, , S. 136). Dort findet sich auch der Nachweis bei Sigmund Freud: Das l1n In der Kultur, Wien 1931 (2. Auflage), S. 49 - diese Ausgabe Vgl. zu dieser Freudaneignung Celans Kap. Ill.3.2.

r. 334, S. 117.

Schneebett

Immer wieder wird Celan in seinen poetologischen Äußerungen und No,. tizen betonen, dass es sich bei dem Sprechen im Gedicht als Lebensluhrung um Momente in Todesnähe, um Momente in äußerster Lebensgefahr handelt. 48 Dies hebt noch einmal die zentrale Stellung hervor, die dem aktuellen, todesnahen Sprechen des Ich gegenüber der anorganischen Totenlandschaft, in die es nicht nur in Schneebett gestellt ist. zukommt. Umso mehr scheint eine Lesart des Gedichts legitimiert. die den Schwerpunkt auf eben dieses noch vorhandene, sprechende Ich legt. das sich in eine gegenwärtige Totenlandschaft begibt und weniger auf das Gedicht als einen Erinnerungsprozess an vergangenes Sterben. Diese Deutungsverschiebung gegenüber den bisherigen Interpretationen von Schneebett mit Blick auf den „Übergang ins Anorganische", den Adorno in Celans Gedichten hervorgehoben hat, wird vielleicht am deutlichsten bei der Lektüre der Verszeile 6

Wölkende Seele, noch einmal gestaltnah.

Wie eingangs bereits gesagt, werden die eingeklammerten Verse 0/. 5-7) vornehmlich als Vergegenwärtigung vergangenen Sterbens (Blut. verkrallte Finger) gelesen, so dass die Toten, die sich in Rauch aufge!Ost haben (als wölkende Seelen), nun „noch einmal gestaltnah" erscheinen, der Horror ihres Sterbens aktualisiert und ihnen dadurch ein ,Textgrab' im Gedicht gewährt wird. 49 Die Nähe zur Todesfuge liegt auf der Hand (,,dann steigt ihr als Rauch in die Luft I dann habt ihr ein Grab in den Wolken", KG 40); zweifellos haben die in Rauch aufgelösten Toten in Celans Gedichten eine konstante Präsenz.so Doch spricht in Schneebett 48

So stellt Celan in seinen Notizen etwa die letzten Laute, die Büchnerauf seinem Sterbebett geäußert haben könnte, als Inbegriff eines solchen Sprechens dar: ,, ... letzte Worte Büchners auf dem Sterbebett[ ...] - es ist die ROckkebr in das eben noch Stimmhafte, [ ...] - es ist Sprache als Involution, Sinnentfaltung in der einen, wortfremden Silbe-: es ist die im durchrOchelten Stammeln erkennbare ,Stammsilbe', Sprache als das in den Keim zurückgekehrte-der Bedeutungsträger ist der sterbliche Mund, dessen Lippen sich nicht mehr rOnden" (TCA/M, Nr. 375, S. 123f.). 49 Vgl. Werner: Textgräber, S. I 10. so Schulz: Kommentar zu , Schneebett', S. 229, weist zudem auf die Verhiochmg zu Engfuhrung hin (,,keine I Rauchseele steigt", KG 117) und Mu aJ/p Gedanken (,,was sich wölkte, [ ... ] 1 wars nicht Gestalt und von uosherl[...J'l", KG 131).

Celan: Anthropologie vom Tode her

dlliges dafür, die .,[w]ölkende Seele" nicht primär auf die Toten (die aJs leblose Landschaft stets anwesend sind), sondern auf das lebende, die Sbfilwand hinabklettemde Ich zu beziehen, das sich dadurch dem Leblosett annlhert. Nicht zuletzt wäre in Bezug auf die Masse der Toten der Plli.ral ,Seelen' plausibler, während der Singular die Seele eher mit dem Ich als dem einzigen isolierten Lebewesen im Gedicht verbindet. Wie bereits erwllhnt, lässt sich ,wölken' als Begriff aus der Kristallbildung mit dem auf das Ich bezogenen „Hartwuchs" zusammenbringen, das - zumindest in Bezug auf Schmidt - auch das letzte noch mögliche organiscbe Leben am Übergang zum Anorganischen kennzeichnet. Es bleibt allerdings die Frage, wie sich das „noch einmal gestaltnah„ 0{. 6) auf das lebende, kletternde und im Gedicht sprechende Ich beziehen soll. ,,[N]och einmal" lässt sich zeitlich in zweifacher Bedeutung lesen: Es kann sich auf die Vergangenheit beziehen, wenn die Toten auf der Steilwand ,,noch einmal gestaltnah" werden, wie die bisherigen Deutungen des Gedichts nahe legen. Der Ausdruck ,,noch einmal gestaltnah" kann sich aber ebenso auf die Zukunft des Ich beziehen, indem es - im Sinne von ,noch ein letztes Mal gestaltnah' - auf dessen Todesnähe wllhJ;lIDd seiner Kletteraktion ins Sterbegeklüft verweist. 51 Damit wären die vjelen, in der zweiten Strophe bereits gesammelten Hinweise auf einen ~eg des Ich als Grenzgang zum eigenen Tod noch einmal bestätigt. Sein im ersten Vers erhaltener und angenommener Auftrag (,,Ich kommj f.WCkt es auf seinen letzten Gang. ~ ist aber auch eine dritte Deutung von „noch einmal gestaltnah" ~glicJi, die ebenfalls auf das Ich bezogen werden kann. Nimmt man das J.Motiv des Spiegels ernst, das mit „Mondspiegel Steilwand" in der zweiten S~he eingeführt wird (V. 4), so wäre „noch einmal gestaltnah" auch als !1J:des Blicks in diesen Spiegel zu verstehen. Auf der einen Seite er1Mamit wäre eine M allgemeine Entlastung von Kummer und von der Schwierigkeit, das :Namenlose 8USZUSI?rechen gemeint. Diese Option ist aber weder hier noeh in einer~ Vorstufen angedeutet. Nimmt man das Relativpronomen ernst, dann~s auch der Bezug auf das ,,Abermals-Helle" ernst genommen werden und die Verse sagen: ,niemand braucht das Abermals~Helle zu weinen und niemand braucht es zu nennen'. Die Konstruktionen ,Das

Die hellen Steine

Helle weinen' und ,das Helle nennen' lassen sich noch als: verstehen, das Abermals-Helle durch Tr:Anen oder Wane denen hier eine Absage erteilt wird. Warum aber diese konstruktion mit ,brauchen'? Wenn man es nicht allein als steht, bedeutet das Verb auch ,Gebrauch machen von', also in Kontextbezüge und Lebenszusammenhänge, die im Btreich