Lehren und Lernen mit Tutorials und Erklärvideos [1. Aufl.] 9783407631268, 9783407631770, 9783407632197


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German Pages 190 Year 2020

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Table of contents :
Titel
Impressum
Inhalt
1 Wie verändern Erklärvideos Bildungsprozesse? – Die neue Erklär- und Lernkultur
2 Früher Bildungsfernsehen, heute YouTube? – Erklärvideos als modernes Bildungsformat
3 Informelles Lernen mit Erklärvideos aus wissenschaftlicher Sicht
4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos?
5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis
6 Mehr Zeit für den Unterricht gewinnen? – Videoeinsatz am Beispiel des Flipped-Classroom-Konzepts
7 Wie Erklärvideos und Lehrfilme bereitstellen? – Eine Vorstellung aktueller Angebote
8 Mehr Erklärvideos in die Lehrerbildung!
9 Fazit und zehn bildungspolitische Forderungen
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Lehren und Lernen mit Tutorials und Erklärvideos [1. Aufl.]
 9783407631268, 9783407631770, 9783407632197

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Dorgerloh/Wolf (Hrsg.) · Lehren und Lernen mit Tutorials und Erklärvideos

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Stephan Dorgerloh / Karsten D. Wolf (Hrsg.)

Lehren und Lernen mit Tutorials und Erklärvideos Mit E-Book inside

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Stephan Dorgerloh, Theologe, war Akademiedirektor, Prälat, Kultusminister und Präsident der Kultusministerkonferenz und ist heute Geschäftsführer der Beratungsfirma Wider Sense mit dem Schwerpunkt Bildung und Kultur. Er ist Autor zahlreicher Publikationen. Prof. Dr. Karsten D. Wolf leitet das ZeMKI Lab »Medienbildung | Bildungsmedien« an der Universität Bremen und ist Autor zahlreicher Fachartikel zum Thema. Seit 2007 hat er die Erklärvideogestaltung als Methode in die universitäre Lehrer/innenbildung eingeführt und bietet Lehrer/innen-Fortbildungen zu dem Thema an.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.

Dieses Buch ist erhältlich als: ISBN 978-3-407-63126-8 Print ISBN 978-3-407-63177-0 E-Book (PDF) ISBN 978-3-407-63219-7 E-Book (EPUB) 1. Auflage 2020 © 2020 Beltz in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel Werderstraße 10, 69469 Weinheim Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Christine Wiesenbach Layout/Reihenkonzept: glas ag, Seeheim-Jugenheim Umschlaggestaltung: Michael Matl Umschlagabbildung: © istock/tolgart Herstellung: Victoria Larson Satz: paginamedia, Laudenbach Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Printed in Germany Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de Druck und Bindung: Gesamtherstellung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Printed in Germany Weitere Informationen zu unseren Autor/innen und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

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Inhalt 1 Wie verändern Erklärvideos Bildungsprozesse? – Die neue Erklär- und Lernkultur ......................................................................... 7 2 Früher Bildungsfernsehen, heute YouTube? – Erklärvideos als modernes Bildungsformat .................................................... 12 2.1 Zur Geschichte des Bildungsfernsehens – Entwicklungen, Hoffnungen und Einschätzungen aus heutiger Sicht ............................... 12 2.2 Sind Erklärvideos das bessere Bildungsfernsehen? .................................. 17 2.3 Bildungsfernsehen und Erklärvideos erfolgreich gestalten – Interviews mit den Produzierenden ............................................................ 25 3 Informelles Lernen mit Erklärvideos aus wissenschaftlicher Sicht......... 46 3.1 Erklärvideos als autodidaktische Lernressource ........................................ 46 3.2 Erklärvideos auf YouTube: Was machen die Rezipierenden aus den Videos? ................................................................................................. 49 3.3 Ist YouTube das ideale Werkzeug für interessensbasiertes Lernen? .... 53 3.4 Ist YouTube gut für die Bildung? .................................................................... 56 4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos? ....................................................... 62 4.1 Zur Lernpsychologie von Erklärvideos: Theoretische Grundlagen ........ 63 4.2 Didaktische Kriterien für gute Erklärvideos................................................ 70 4.3 Was macht ein gutes Erklärvideo aus? ......................................................... 75 4.4 Lessons Learned bei der Erstellung von Erklärvideos............................... 80 4.5 Erklärvideos als digitale Vertretungslehrkraft? Lernplattformen müssen mehr als Erklärvideos bieten! ......................... 83 5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis .......................................................... 87 5.1 Erklärvideos in Grundschulen ........................................................................ 88 5.2 Erklärvideos in Sekundarschulen................................................................... 98 5.3 Erklärvideos in der beruflichen Bildung ....................................................... 108 5.4 Einsatz von Erklärvideos in besonderen Schulsettings ............................ 110 5.5 Video kann mehr – weitere unterrichtsbezogene Einsatzmöglichkeiten von Erklärvideos ...................................................... 114

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Inhalt

6 Mehr Zeit für den Unterricht gewinnen? – Videoeinsatz am Beispiel des Flipped-Classroom-Konzepts..................... 117 6.1 Quo Vadis Flipped Classroom? ...................................................................... 118 6.2 Erklärvideos als Vorbereitung für soziale Interaktionen im Klassenraum ................................................................................................. 121 6.3 Aus der Praxis: Beispiele für funktionierendes Flippen mit Erklärvideos................................................................................................. 127 7 Wie Erklärvideos und Lehrfilme bereitstellen? – Eine Vorstellung aktueller Angebote ................................................................ 138 7.1 Zwischen OER-Dienstleister und Bildungs-Netflix: Das Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU) ....................... 139 7.2 Der richtige Film zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Von der Bildstelle zum Medienportal emuTUBE ...................................... 143 7.3 mebis macht Bildung digital ........................................................................... 150 7.4 Andere Länder, andere Formate .................................................................... 157 8 Mehr Erklärvideos in die Lehrerbildung! ......................................................... 161 8.1 Lernen durch Erstellen von Stop-Motion-Videos – Strategien aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht ....................... 163 8.2 Lernvideos in der Lehrerbildung ................................................................... 170 8.3 Videos in der Aus- und Fortbildung von Lateinlehrkräften ..................... 179 8.4 Lehrer/innenfortbildung per Videoplattform – der Teaching Channel....................................................................................... 182 9 Fazit und zehn bildungspolitische Forderungen ........................................... 186

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1 Wie verändern Erklärvideos Bildungsprozesse? – Die neue Erklär- und Lernkultur Stephan Dorgerloh und Karsten D. Wolf

»Books will soon be obsolete in the schools. Scholars will soon be instructed through the eye. It is possible to teach every branch of human knowledge with the motion picture. Our school system will be completely changed in ten years.«1

Dieses Zitat stammt nicht aus den jüngst euphorisch geführten Debatten zur Digitalisierung von Bildung, sondern vom berühmten Erfinder Thomas Edison der schon 1913 an das große Innovationspotenzial des damals neuen Bewegtbildes in Form des (Kino-)Films glaubte. Für ihn war sicher, dass der Film das Lehrbuch ersetzen würde (Zitat aus Dramatic Mirror, 9. Juli 1913 nach Saettler 2004: 98). Dennoch blieb das Lehrbuch auch die nächsten 100 Jahre zentraler Bestandteil der Stoffvermittlung in Schule und Universität. Der (Lehr-)Film war nach wie vor die große Ausnahme. Mit der Entwicklung und Einführung des Bildungsfernsehens in den 1970er-Jahren wurde diese alte Zukunftsvision erneut lebendig. »Wir haben damals daran geglaubt, dass man mit dem Fernsehen die Menschheit bessern kann«, erinnert sich Peter Kölsch – der ›Fernseh-Vater‹ des Pumuckl (vgl. Löhr 2001: o.S.). Aber auch hier blieb der Erfolg der Idee, das Fernsehen für das Massenpublikum auch Bildungsfernsehen werden kann, aus. Während hoch gebildete Zuschauer/innen durchaus ihren Bildungsnutzen aus dem Programm ziehen konnten (Bonfadelli/Saxer 1986), konstatierte Manfred Meyer vom Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) abschließend: »Die Zuschauer wollen nicht belehrt werden!« (Meyer 1997: 20). Wiederholt sich nun das Muster (zu) hohe Erwartung gepaart mit schneller Ernüchterung erneut, wenn es um die stärkere Einbeziehung von Lernvideos in den Schulkontext des 21. Jahrhunderts geht? Oder kann die Kombination aus neuen Technologien, interaktiven Lern-Plattformen, internetaffinen Beteiligten, passenden Übungen und auch unkomplizierten Eigenproduktionen von Videos eine größere Beteiligung, neue Lernchancen und gerechtere Entwicklungsmöglichkeiten bieten?

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Bücher werden in der Schule bald überflüssig sein. Die Lernenden werden über ihre Augen unterrichtet werden. Es ist möglich, jedes Thema des menschlichen Wissens mit Bewegtbildern zu vermitteln. Unser Schulsystem wird in zehn Jahren (also 1923) vollständig verändert sein. (Eigene Übersetzung)

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1 Wie verändern Erklärvideos Bildungsprozesse? – Die neue Erklär- und Lernkultur

Provokation und Potenzial von Erklärvideos Die Provokation für ein bisher staatlich abgesichertes, aber auch reglementiertes und qualitativ überprüftes Bildungssetting besteht darin, dass heutzutage jede/r – ob Amateur/in oder Profi – eigenproduzierte Videos veröffentlich kann, die ohne redaktionelle Betreuung, ohne staatliche Qualitätskontrolle, ohne obrigkeitlich geprüften Bezug zu Bildungsplänen entstehen. Jede/r darf nach eigenem Gusto und »geprüftem« Können Anderen etwas Erklären – was und wie auch immer. Lernende ihrerseits können sich aus einem fast unüberschaubaren Angebot mehr oder weniger zufällig das heraussuchen, was interessiert oder gefällt. Ist das die passende Ausgangslage für eine neue Lernkultur? Ermächtigen all diese Erklärvideos zum Selbstlernen? Kann das YouTube-Video den erklärenden Vortrag von Lehrenden im Unterricht ersetzen? Ist Unterrichten und Lernen nicht auch unabdingbar ein sozialer Vorgang, der der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden in realen Klassenzimmern bedarf? Welchen Unterschied macht es, wenn die Abiturvorbereitung statt in der Schule auf einer Online-Videoplattform wie sofatutor stattfindet? Wie stark machen Plattformen wie YouTube künftig dem klassischen Schulbuch von Klett, Westermann oder Cornelsen Konkurrenz? Fakt ist: YouTube ist die zweitgrößte Suchmaschine der Welt, nur auf (der Konzernschwester) Google landen weltweit mehr Suchanfragen. YouTube ist mit seinem Angebot die größte audiovisuelle Enzyklopädie der Menschheitsgeschichte – sozusagen ein Video-Alexandria der Neuzeit. Erklärvideos, Tutorials und Lehrfilme finden sich in zunehmendem Maße aber auch auf zahlreichen anderen Videoportalen wie z. B. Mediatheken, Bildungsservern oder in Online-Kursangeboten wie MOOCs oder privaten Videokursplattformen. Unternehmen ersetzen Handbücher im Rahmen der »Customer Education« zunehmend durch Videotutorials: vom Akkuwechsel beim Smartphone bis hin zur Konfiguration von WLAN-Mesh-Netzwerken. Portale wie YouTube bieten ein vielfältiges Erklärvideoangebot. Zu nahezu jedem Thema finden sich nicht nur ein oder einige wenige Videos, sondern oft eine ganze Palette von unterschiedlich gestalteten Produktionen. Genau diese Vielfalt ist ein Potenzial: Komme ich mit einem Erklärstil, mit einer Person, mit den Beispielen, mit dem erforderlichen Vorwissen nicht klar, kann ich als Lernende/r alternative Erklärangebote nutzen. Insbesondere partizipative Erklärportale bieten hier eine maximale Vielfalt. Das scheinbar unkontrollierte Überangebot bietet somit ein adressatengerechtes Bildungsfernsehen, wobei der Faktencheck den Userinnen und Usern bzw. der Usercommunity überlassen ist. Können somit Erklärvideos zur Ermächtigung eines interessengeleiteten Lernens dienen, sodass man alles Lernen kann, was einen interessiert? Hilft es, benachteiligten Lernenden neue Zugänge zu Bildungsressourcen zu erschließen, z. B. als eine Form kostenloser Nachhilfe? Schafft die Partizipationsmöglichkeit einen gemeinsamen Lernraum, in dem auch marginalisierte Gruppen eine Stimme erhalten? Führen Likes und Klicks auf YouTube zu »algorithmisierten« Curricula, welche selbst die neu-

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1 Wie verändern Erklärvideos Bildungsprozesse? – Die neue Erklär- und Lernkultur

esten Themen in kurzer Zeit inhaltlich erschließen und somit strukturiert erlernbar machen?

Kritik an YouTube & Erklärvideos Bei allen Potenzialen muss festgehalten werden: YouTube ist in Bezug auf Inhalt und Themen weitgehend unkontrolliert und stellt sowohl geprüfte Fakten direkt neben Fake News, Aufklärung neben Desinformation, als auch Wissenschaft neben Verschwörungstheorien. Inhaltlich findet man auf YouTube also Informationen zur Quantenmechanik genauso wie zum Bauen von Bomben, zur Friedenspädagogik wie zum Fundamentalismus, zur Nachhaltigkeit wie zu Designerdrogen. Didaktisch ist das im besten Fall überraschend gut und abwechslungsreich gestaltet sowie inhaltlich hoffentlich richtig dargestellt. Das muss aber nicht immer der Fall sein. Fachliche Fehler finden sich genauso wie schlechte Vermittlungskonzepte, umständliche Erklärungsansätze sowie unpassende Metaphern. YouTube ist eben zuallererst ein kommerzielles Unternehmen, welches Videos nicht nach Bildungsaspekten empfiehlt, sondern zur Maximierung der Verweildauer sowie der geschauten Werbung – wofür sich insbesondere Unterhaltung und auch eine Prise Skandalisierung eignen. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass die gezeigten Videos keine offenen Bildungsressourcen (OER) sind, die für weitere Erklärangebote genutzt und remixt werden können. Schließlich ist unklar, ob sich Erklärvideos für die Vermittlung auch von tiefgreifendem Denken und komplexeren Gedankenmodellen eignet, wie die Ideen und Theorien z. B. von Foucault, Boyd oder Heisenberg. Vielleicht vernichten Erklärvideos sogar die Bereitschaft und damit die Fähigkeit einer ganzen Generation, lange und komplexe Texte zu lesen?

Erklärvideos auch in der Schule? Diese skizzenhafte Schilderung macht zwar deutlich, dass Erklärvideos insbesondere in der Lebenswirklichkeit außerhalb der Schule angekommen sind. Wie aber sind Erklärvideos so zu gestalten bzw. auszuwählen, dass sie in den Unterricht eingebunden werden können? Warum könnte das überhaupt sinnvoll sein? Sind Erklärvideos vielleicht sogar ein Schlüsselbaustein für das Lernen und Lehren in einer von Heterogenität und Diversität geprägten Schule? Die Kultusministerkonferenz (KMK) als Ort föderaler Verabredungen und gesamtstaatlicher Standards schreibt dazu im Strategiepapier »Bildung in der digitalen Welt« vom 7.12.2017 folgendes:

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1 Wie verändern Erklärvideos Bildungsprozesse? – Die neue Erklär- und Lernkultur

»Die sinnvolle Einbindung digitaler Lernumgebungen erfordert eine neue Gestaltung der Lehr- und Lernprozesse. Dadurch verändern sich das Lehren und Lernen, aber auch die Spannbreite der Gestaltungsmöglichkeiten im Unterricht. Durch die Digitalisierung entwickelt sich eine neue Kulturtechnik – der kompetente Umgang mit digitalen Medien –, die ihrerseits die traditionellen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen verändert. Die sich ständig erweiternde Verfügbarkeit von digitalen Bildungsinhalten ermöglicht zunehmend auch die Übernahme von Verantwortung zur Planung und Gestaltung der persönlichen Lernziele und Lernwege durch die Lernenden. Dadurch werden grundlegende Kompetenzen entwickelt, die für das an Bedeutung gewinnende lebenslange Lernen erforderlich sind.« (KMK 2017: 13)

Dies erfordert auch von den Lehrkräften eine zunehmende Auseinandersetzung mit digitalen Aspekten sowohl des Unterrichtens als auch in den jeweiligen Fächern. Die Digitalisierung lässt sich weder von Schule aufhalten noch wird sie weiter einen Bogen um Schulen machen. Darum scheint es erfolgversprechend, wenn man – und hier kann man im internationalen Kontext sicherlich nicht mehr von frühzeitig sprechen – die Chancen einer Digitalisierung wahrnimmt und deren Risiken erkennt – nicht zuletzt, weil Schüler/innen eine zeitgemäße und interessant gestaltete Schule erwarten dürfen. Die Kultusministerkonferenz schreibt in ihrer Strategie zur »Bildung in einer digitalen Welt« weiter: »Mit zunehmender Digitalisierung entwickelt sich auch die Rolle der Lehrkräfte weiter. Die lernbegleitenden Funktionen der Lehrkräfte gewinnen an Gewicht. Gerade die zunehmende Heterogenität von Lerngruppen, auch im Hinblick auf die inklusive Bildung, macht es erforderlich, individualisierte Lernarrangements zu entwickeln und verfügbar zu machen. Digitale Lernumgebungen schaffen hier die notwendigen Freiräume; allerdings bedarf es einer Neuausrichtung der bisherigen Unterrichtskonzepte, um die Potenziale digitaler Lernumgebungen wirksam werden zu lassen.« (KMK 2017: 13)

Dieser Ansatz sollte schon im Universitätsstudium für Lehrkräfte so aufgenommen werden, dass auch in der universitären Lehre digitalisierte und individualisierte Lernarrangements didaktisch reflektiert zum Einsatz kommen, sowie ebenfalls in der zweiten Lehrerausbildungsphase, dem Referendariat. Zukünftige Lehrer/innen-Generationen müssen so ausgebildet werden, dass sie wissen, wie ein hilfreicher und motivierender Einsatz digitaler Medien zu gestalten ist. Entgegen einer oberflächlichen und unreflektierten Begeisterung oder einer reflexartigen Ablehnung neuer technischer Entwicklung sollen deren pädagogische und didaktische Möglichkeiten selbst erlebt und weiterentwickelt werden. Last, but not least sollten für die dritte Lehrerbildungsphase, die Fort- und Weiterbildung, entsprechende Angebote verstärkt vorgehalten werden, schließlich sind nahezu 800.000 aktive Lehrende in den deutschen Schulen weitgehend ohne Ausbildungsinhalte zu digitalen Medien und Medienkompetenz

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1 Wie verändern Erklärvideos Bildungsprozesse? – Die neue Erklär- und Lernkultur

in den Schuldienst eingetreten. Idealerweise kommen auch hier digitale Medien wie Lern- bzw. Erklärvideos zur Anwendung, sodass Lehrkräfte diese im Kontext digitaler Lehr-Lern-Arrangements, z. B. des Blended Learnings oder Flipped Classrooms, als Lernende selber kennen- und einsetzen lernen. Ausdrücklich verzichten wollen wir in diesem Buch auf ein Extrakapitel zu Medienkompetenz-Grundlagen, wie z. B. dem Datenschutz, dem sicheren Navigieren im Internet oder den ethisch-moralischen Dimensionen, die im Kontext der Digitalisierung von Schule und Bildung gründlich zu beachten sind. Dazu gibt es inzwischen ein umfangreiches Angebot von Ratgebern wie z. B. bei klicksafe.de oder dem Medienpass NRW. Auch sind diese Themen mittlerweile fester Bestandteil der entsprechenden Lehramts-Curricula in allen Bundesländern und müssen hier nicht wiederholt werden. Es sei an dieser Stelle aber ausdrücklich auf den Datenschutz und den Schutz der Persönlichkeitsrechte verwiesen, wenn es z. B. darum geht, Videos auf Videoplattformen wie YouTube hochzuladen, die im Unterricht von Schüler/innen selbst produziert wurden und bei denen möglicherweise die Schüler/innen selbst zu sehen sind. Hinweise zur praktischen Medienarbeit finden sich in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches. Last, but not least ist den vielen Autorinnen und Autoren und Interviewpartnerinnen und -partnern aus dem In- und Ausland zu danken, die bereit waren, ihre Erfahrungen zu teilen2. Ohne ihre Hinweise und Einblicke, Rückfragen und Anmerkungen wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Ihre Beiträge verstehen sich vielfach nicht als Endprodukte, sondern eher als Zwischenstationen oder Wegmarken auf dem weiteren Weg der Nutzung von Lernvideos im Unterricht. Allen gemeinsam ist die Begeisterung für das neue Medium, das ja letztlich so neu gar nicht mehr ist, aber nun im Zuge neuer digitaler Entwicklungen sein Potenzial besser ausspielen kann. Für die Kinder des 21. Jahrhunderts brauchen wir auch eine Schule des 21. Jahrhunderts, in der ihre Motivation und Neugier wach bleibt, die sie auf eine deutlich veränderte Berufs- aber auch Lebenswelt exzellent vorbereitet und die reflektiert die Chancen und Gefahren neuer Entwicklungen im Blick behält. Und dass die Arbeit mit Lernvideos nicht bedeutet, alles, was sich bewährt hat, über Bord zu werfen, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass wir ein Buch herausgeben anstatt ein Erklärvideo zu drehen …

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Alle englischsprachigen Beiträge wurden von den Herausgebern ins Deutsche übersetzt.

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2 Früher Bildungsfernsehen, heute YouTube? – Erklärvideos als modernes Bildungsformat

2 Früher Bildungsfernsehen, heute YouTube? – Erklärvideos als modernes Bildungsformat Lernende und Lehrende haben in den 2010er-Jahren Erklärvideos und Tutorials überraschend schnell in ihre eigenen Medienrepertoires integriert. Werden hier die ursprünglichen Ziele des Bildungsfernsehens eingelöst? Welche Besonderheiten bzgl. des Formates Erklärvideo und der Plattform YouTube gilt es dabei zu berücksichtigen? Im Beitrag von Gerhard Tulodziecki (Kap. 2.1) wird zunächst die geschichtliche Entwicklung des Bildungsfernsehens in Deutschland nachgezeichnet. Karsten D. Wolf analysiert, warum es Erklärvideos besser als traditionellen Formen des Bildungsfernsehens gelingt, eine breite Zielgruppe zu erreichen (Kap 2.2). Abschließend werden in einer Reihe von Interviews (Kap. 2.3) mit zentralen Personen des Bildungsfernsehens (Joachim Bublath) und YouTubern (Derek Muller – Veritasium; Johann Carl Beurich – DorFuchs, Kai Schmidt – LehrerSchmidt; Alex Giesecke – SimpleClub; sowie Nicole Valenzuela – musstewissen) besondere Aspekte der Gestaltung von Erklärvideos im Kontext von YouTube erläutert.

2.1 Zur Geschichte des Bildungsfernsehens – Entwicklungen, Hoffnungen und Einschätzungen aus heutiger Sicht Gerhard Tulodziecki Der emeritierte Professor für Allgemeine Didaktik und Medienpädagogik an der Universität Paderborn, Dr. Gerhard Tulodziecki, ist eine zentrale Gestalt der Medienpädagogik in Deutschland. Aktuell prägt er zusammen mit Bardo Harzig und Silke Grafe die Diskussion um den Begriff der Medienbildung. In den 1980er-Jahren entwickelte er ein Konzept zur handlungs- und entwicklungsorientierten Medienpädagogik für die Schule. In den 1970er-Jahren führte Gerhard Tulodziecki Begleituntersuchungen zu Projekten des öffentlichen Schulfernsehens durch.

Als es 1952 nach vorlaufenden Versuchen sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland zu einem regelmäßig ausgestrahlten Fernsehen kam, galt es als selbstverständlich, dass ihm neben der Informations- und Unterhaltungsfunktion auch kulturelle Aufgaben und ein Bildungsauftrag zukommen. Damit stand das Fernsehen in der Tradition sowohl des Hörfunks als auch des Lehr- oder Unterrichtsfilms, denen schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Bildungsaufgaben zugewiesen worden waren. Mit dem Bildungsauftrag des Fernsehens war zugleich die Hoffnung verbunden, die – nach dem Ende des Naziregimes eingeführten – politischen Strukturen in West- und Ostdeutschland im Bewusstsein der Menschen zu stabilisieren: sei es im Sinne westlicher Demokratien, sei es im Sinne des Sozialismus. Für die Entwicklung in Deutschland war zudem wichtig, dass die Verbreitung des Fernsehens sowohl in westlichen

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2.1 Zur Geschichte des Bildungsfernsehens

Ländern, z. B. Großbritannien und USA, als auch in östlichen Ländern, z. B. in der Sowjetunion, vorangetrieben wurde.

Zur Entwicklung von den 1950er-Jahren bis zum Ende der 1970er-Jahre In den 1950er-Jahren entsprachen sowohl das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Westdeutschland als auch das staatlich gelenkte Fernsehen in der DDR dem Bildungsauftrag vor allem durch Sendungen aus den Bereichen Information (z. B. Berichterstattung und Diskussionen zu wichtigen politischen Ereignissen), Kultur (z. B. Übertragung von Musikereignissen und Theateraufführungen), Wissenschaft (z. B. Naturwissenschaft und Technik) oder Kinder und Jugend (z. B. Zoobesuche und andere Tiersendungen) (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Insofern ging es (noch) nicht um ein zielgerichtetes Bildungsprogramm, sondern um Sendungen, von denen man unterstellte, dass ihre Inhalte (auch) für die Bildung bedeutsam seien – allerdings ohne einen expliziten Bildungsbegriff. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden in West- und Ostdeutschland (allgemeine) Sendungsformate, die man als bildungsrelevant betrachten kann, weiterentwickelt oder neu eingeführt, z. B. politische Magazine, Wissenschaftssendungen, Dokumentationen zu anderen Ländern, Ratgebersendungen, Wirtschaftsmagazine, Sprachkurse sowie Kinder- und Jugendprogramme. In der DDR hatte dabei das Kinderfernsehen einen besonders hohen Stellenwert. Es galt als wichtiger Bestandteil einer Erziehung zur »allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit«. In Westdeutschland konzentrierte man sich beim Kinderfernsehen dagegen auf Programme zur Förderung der sozial-kognitiven Entwicklung von Vorschulkindern, z. B. mit der Sendereihe »Sesamstraße« (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Des Weiteren entstand in Ost und West das Schulfernsehen als zielgerichtetes Bildungsprogramm. So strahlte der Norddeutsche Rundfunk ab 1961 Versuchssendungen aus und ab 1964 gab es ein regelmäßiges Schulfernsehprogramm des Bayerischen Rundfunks. Anfang der 1970er-Jahre konnte in allen westdeutschen Bundesländern auf ein Schulfernsehprogramm zurückgegriffen werden (vgl. z. B. Merkert 1977). Auch in der DDR wurde im Laufe der 1970er-Jahre ein regelmäßiges Schulfernsehprogramm eingerichtet. Zudem etablierte sich mit dem Telekolleg des Bayerischen Rundfunks ab 1967 ein Medienverbund, mit dem Erwachsene die so genannte »Mittlere Reife« und ab 1972 auch die »Fachhochschulreife« erwerben konnten. Als Hintergrund für die Entwicklung zielgerichteter Bildungsprogramme kann u.a. der Wettstreit der politischen Systeme in Ost und West gelten, der zu besonderen Bildungsbemühungen führte – in den westlichen Bundesländern vor allem in der Folge des so genannten »Sputnik-Schocks« von 1957. Außerdem wurden verstärkte Bildungsmaßnahmen durch Gerhard Picht (»Die deutsche Bildungskatastrophe«, 1964) angemahnt. Als günstige Bedingung für Bildungssendungen kam in Westdeutschland hinzu, dass mit der Einrichtung des »Zweiten Deutschen Fernsehens« (1961) den

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2 Früher Bildungsfernsehen, heute YouTube? – Erklärvideos als modernes Bildungsformat

Landesrundfunkanstalten das Recht eingeräumt wurde, Dritte Fernsehprogramme zu betreiben, sodass mehr Sendekapazität für Bildungsprogramme zur Verfügung stand. Erweiterte Möglichkeiten für Bildungsprogramme ergaben sich 1969 durch die Einrichtung eines Zweiten Programms auch für die DDR.

Zur Entwicklung von den 1980er-Jahren bis heute In den Fernsehprogrammen in Ost und West haben die oben beispielhaft genannten und für Bildung potenziell bedeutsamen Sendungsformate in den Bereichen Information, Kultur, Wissenschaft, Beratung, Kinder und Jugendprogramm auch in den folgenden Jahrzehnten eine wichtige Rolle gespielt und sind bis heute bedeutsam. Dabei waren die äußeren Bedingungen allerdings einem erheblichen Wandel unterworfen. So änderten sich z. B. die technischen Bedingungen durch die Einführung des Farbfernsehens (Ende der 1960er-Jahre) und die verbesserten Möglichkeiten der Magnetbandaufzeichnungen (1970er-Jahre) sowie durch die bis heute zunehmende Digitalisierung. Zudem kam es in Westdeutschland 1984 zur Einführung des Dualen Rundfunksystems mit öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehveranstaltern. Das Duale System wurde nach der Wiedervereinigung auf ganz Deutschland übertragen und prägt auch heute die Fernsehlandschaft (vgl. RStV – Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien 2016). Mit Blick auf das Bildungsfernsehen ist zunächst wichtig, dass im Rundfunkstattsvertrag (RStV) ein Vollprogramm – sei es öffentlich-rechtlicher oder privater Art – definiert ist als »Rundfunkprogramm mit vielfältigen Inhalten, in welchem Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung einen wesentlichen Teil des Gesamtprogramms bilden« (§ 2 Abs. 2). Außerdem wird festgelegt, dass die in der ARD zusammengeschlossenen Landesrundfunkanstalten »das Spartenprogramm ARD-Alpha mit dem Schwerpunkt Bildung vom BR« veranstalten (§ 11 b Abs. 2). Bezüglich des Schulfernsehens haben die Entwicklungen seit der Einführung des Dualen Systems dazu geführt, dass immer mehr Rundfunkanstalten ihr früheres Schulfernsehprogramm zurückgefahren oder ganz eingestellt haben. Dies war zum einen durch die Konkurrenz zum Privatfernsehen bedingt und zum anderen durch die – für ein Massenmedium – relativ geringen Nutzungszahlen. So wird Schulfernsehen heute nur noch vom Bayerischen Rundfunk (ausgestrahlt bei ARD-Alpha) und vom Südwestrundfunk gemeinsam mit dem Westdeutschen Rundfunk produziert (ausgestrahlt unter »Planet Schule«). Mit dem Rückgang des Schulfernsehens war zum Teil die Neukonzeption von spezifischen Wissenssendungen verbunden, z. B. »Alles Wissen« beim Hessischen Rundfunk oder »Planet Wissen« beim Westdeutschen Rundfunk und Südwestrundfunk in Zusammenarbeit mit ARD-Alpha. Zugleich hat die Einführung des Privatfernsehens zu verstärkten Versuchen geführt, Wissens- bzw. Bildungsangebote in unterhaltsamer Weise im Sinne von Info- oder Edutainment zu gestalten und so größere Zielgruppen zu erreichen. Für jüngere Zuschauer/innen

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2.1 Zur Geschichte des Bildungsfernsehens

spiegelt sich diese Entwicklung bis heute z. B. in Sendungen wie »Wissen macht Ah!« oder »Checker Tobi« wider. Viele solcher Sendungen sind auch über die Webseiten der Rundfunkanstalten abrufbar.

Hoffnungen und Einschätzungen aus heutiger Sicht Mit der Entwicklung des Bildungsfernsehens und seiner Ausprägung als Schulfernsehen waren immer wieder Hoffnungen oder Annahmen verbunden, von denen hier nur vier herausgegriffen und in aller Kürze kommentiert werden sollen: • Fernsehen bildet: Mit dieser Annahme wird die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Fernsehen und Bildung aufgeworfen. Dazu wurde schon in den 1960er-Jahren betont, dass Bildung nur durch die geistige Tätigkeit des Subjekts entstehe und das Fernsehen insofern letztlich nicht bilden könne (vgl. z. B. Wasem 1965). Theodor Adorno (1959) geht – mit Blick auf die Entwicklungen in den USA – sogar davon aus, dass durch das Fernsehen als Teil der »Kulturindustrie« keine Bildung, sondern nur eine eher schädliche »Halbbildung« erzeugt werde. In anderer Weise resümiert Helmut Schelsky: »Die Weltkenntnis des normalen Alltagslebens ist die Voraussetzung jeder Bildung eines modernen Menschen; diese Weltkenntnis vermitteln sehr wesentlich die Massenkommunikationsmittel; also: Ohne Massenkommunikationsmitttel keine Bildung!« (1965, S. 64) – womit sich ein »Bogen« zu dem 2009 verabschiedeten und bis heute aktuellen Manifest »Keine Bildung ohne Medien!« ergibt (vgl. Niesyto 2011). • Lehren durch oder mit Fernsehen ist dem herkömmlichen Lehrerunterricht überlegen: Schon frühe Zusammenfassungen empirischer Untersuchungen zum Schulfernsehen zeigen keine generelle Überlegenheit des Fernsehens gegenüber dem herkömmlichen Unterricht, belegen jedoch zugleich, dass man auch mit dem Fernsehen lernen kann (vgl. z. B. Issing 1977; Tulodziecki 1977). Unter Umständen stellen sich beim Lernen mit Fernsehen sogar schlechtere Ergebnisse ein, weil die Lernenden aufgrund visueller Präsentationen glauben, alles zu verstehen, und sich deshalb bei der Rezeption in mentaler Hinsicht weniger anstrengen (vgl. z. B. Weidenmann 1993). Am ehesten führt eine Verbindung zwischen Fernsehen und personal geführtem Unterricht zu besseren Lernergebnissen – im Sinne des so genannten Kontextmodells, verstanden als Fernsehen mit vorbereitendem und nachbereitendem Lehrerunterricht, gegebenenfalls mit weiteren Lernmaterialien. Aber auch in diesen Fällen sind die Lernergebnisse letztlich stärker vom zugrunde liegenden Lehr-LernKonzept als vom Fernsehen als Medium abhängig (vgl. Tulodziecki/Herzig/Grafe 2010). • Das Fernsehen kann Lehrermangel ausgleichen oder fehlende Lehrerqualifikationen ersetzen: Mit dieser Erwartung wurden verschiedene Schulfernsehreihen für Bereiche produziert, in denen keine hinreichende Zahl ausgebildeter Lehrkräfte zur Verfügung stand oder curriculare Neuerungen angestrebt wurden, z. B. Einführung

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der Mengenlehre oder Fremdsprachen. Dazu bedurfte es zunächst allerdings weiterer Materialien, z. B. in Form schriftlicher oder auditiver Texte, gegebenenfalls mit genauen Anleitungen für lehrergeleitete Übungsphasen. Wenn diese Angebote auch zu einzelnen Erfolgen geführt haben (dabei zum Teil eher als Mittel der Lehrerfortbildung, denn als Lernmittel für Schüler/innen), haben sie sich für den Schulbereich letztlich nicht bewährt – u.a. wegen der Vernachlässigung sozialer Bedürfnisse beim Lernen sowie der Schwierigkeit, ein Programm für heterogene Lerngruppen bereitzustellen (vgl. Tulodziecki/Herzig/Grafe 2010). Vergleichbare Produktionen sind insgesamt eher für den Bereich der Erwachsenenbildung als für den Schulbereich geeignet. • Fernsehen führt zu einer Demokratisierung der Bildung: Diese Hoffnung ist u.a. mit den Annahmen verbunden, dass (a) durch Bildungsfernsehen auch sozial oder regional benachteiligte Schichten erreicht werden, (b) sich mithilfe des Fernsehens die Wissenskluft zwischen Privilegierten und Benachteiligten verringern lässt, (c) sich durch das Fernsehen »Bildungsreserven« erschließen lassen. Wenn es bezüglich dieser Annahmen zum Teil auch kleinere Erfolge gibt, z. B. durch das Telekolleg, ist bezogen auf die Breite der Bevölkerung doch eher Skepsis angebracht. Diese hängt damit zusammen, dass (a) ein grundsätzlich förderliches Angebot noch lange nicht dessen Nutzung garantiert, (b) eine bildungsrelevante Rezeption von Sendungen motivationale und kognitive Bedingungen voraussetzt, die gerade bei benachteiligten Bevölkerungsschichten (noch) nicht erwartet werden können, und (c) bei der Erschließung von »Bildungsreserven« durch Fernsehen in der Regel für die Lernenden ein deutlich höherer motivationaler, kognitiver und zeitlicher Aufwand erforderlich ist als unter »normalen« schulischen Bedingungen. Manche der damit angesprochenen Probleme gelten, wenn auch unter veränderten Bedingungen, ebenso für die Bereitstellung von audiovisuellen Lernmaterialien auf Videoplattformen bzw. Webseiten im Internet. Sollen entsprechende Angebote nicht nur einer kurzfristigen klausur- oder prüfungsrelevanten Aneignung von Wissen, sondern der Bildung dienen, müssen sie in die Auseinandersetzung mit Problemlagen, Entscheidungsfällen, Gestaltungsfragen oder Beurteilungsanforderungen eingebunden sein, die für Gegenwart oder Zukunft der Lernenden bedeutsam sind.

Literatur Adorno, T. W. (1959): Theorie der Halbbildung. In: Adorno, T. W.: Gesammelte Schriften. Band 8. Soziologische Schriften I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S. 93–121. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2017): Deutsche Fernsehgeschichte in Ost und West. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/gesellschaft/medien-und-sport/deutsche-fernsehgeschichte-in-ost-und-west/ [Letzter Zugriff: 08.06.2018]. Issing, L. J. (1977): Vergleichsuntersuchungen und Untersuchungen über die Wirkung spezieller Variablen. In: Eßer, A. (Hrsg.), Handbuch Schulfernsehen. Ein Kompendium für Studium, Fortbildung und Praxis. Weinheim und Basel: Beltz, S. 123–140.

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2.2 Sind Erklärvideos das bessere Bildungsfernsehen? Merkert, R. (1977): Entstehung und Entwicklung des Schulfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland. In: Eßer, A. (Hrsg.), Handbuch Schulfernsehen. Ein Kompendium für Studium, Fortbildung und Praxis. Weinheim und Basel: Beltz, S. 70–90. Niesyto, H. (Hrsg.) (2011): Keine Bildung ohne Medien! Positionen, Personen, Programm und Perspektiven. München: kopaed. Picht, G. (1964): Die Deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation. Olten und Freiburg: Walter. RStV – Rundfunkstaatsvertrag für Fernsehen und Telemedien (Neunzehnter Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom 1. Oktober 2016). Online verfügbar unter: https://www.rbb-online.de/unternehmen/der_rbb/struktur/grundlagen/rundfunkstaatsvertrag.file.html/170301-Rundfunkstaatsvertrag_in_Kraft_seit_1-10-2016.pdf [Letzter Zugriff: 08.06.2018]. Schelsky, H. (1965): Müssen Massenmedien bilden? In Evangelischer Presseverband für Bayern (Hrsg.), Kann ein Massenmedium bilden? München: Evangelischer Presseverband für Bayern, S. 49–67. Tulodziecki, G. (1977): Schulfernsehen in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Zusammenstellung von Ergebnissen aus Begleituntersuchungen zu Projekten öffentlichen Schulfernsehens. Köln: Verlagsgesellschaft Schulfernsehen. Tulodziecki, G./Herzig, B./Grafe, S. (2010): Medienbildung in Schule und Unterricht. Grundlagen und Beispiele. Bad Heilbrunn: Klinkhardt/UTB. Wasem, E. (1965): Bildungsprogramme im Fernsehen aus der Sicht des Pädagogen. In: Jugend, Film, Fernsehen, 2(9), S. 115–119. Weidenmann, B. (1993): Instruktionsmedien. München: Hochschule der Bundeswehr, Institut für Erziehungswissenschaft und Pädagogische Psychologie.

2.2 Sind Erklärvideos das bessere Bildungsfernsehen? Karsten D. Wolf Lehrfilme, Dokumentarfilme, Erklärvideos, Tutorials – wovon sprechen wir eigentlich?

Sucht man im Internet nach Erklärungen zu beliebigen Themen, bieten die Suchmaschinen nicht nur Texte, sondern häufig auch Videos auf Online-Videoplattformen wie YouTube an. Dabei finden sich vielfache von Amateur/innen bzw. Laien eigenproduzierte Videos, in denen erläutert wird, wie man etwas macht oder wie etwas funktioniert bzw. in denen abstrakte Konzepte und Zusammenhänge erklärt werden. Das sind sogenannte Erklärvideos. Als Spezialfall von Erklärvideos zu verstehen sind die auf Videoplattformen häufig zu findenden Videotutorials, in denen eine beobachtbare Fertigkeit explizit zum Nachahmen durch die Zuschauer vorgemacht wird. Tutorials konzentrieren sich auf das »Wie«, legen aber wenig Gewicht auf die Erklärung des »Warum« oder »Wieso«. Im Kontext von z. B. Mathe-Tutorials wäre das in einem ungünstigen Fall ein Tutorial, in dem lediglich die Lösungsschritte einer Aufgabe vorgerechnet werden. Warum die Rechenschritte zu machen sind, welche Prinzipien dahinterstehen – all dies wird in einem Tutorial nicht erklärt. Es ist leicht einzusehen, dass ein solches Tutorial aus Sicht der Schüler/innen zur Vorbereitung einer Klassenarbeit zielführend erscheinen mag. Das Anschauen solcher »erklärarmen« Tutorials unterstützt aber keine tiefergehenden

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Lernstrategien und fördert somit nicht das Verstehen. Erklärvideos haben hingegen ein Potenzial, Verständnis zu fördern, wenn sie das »Wie« und »Warum« thematisieren. Lehrfilme dagegen sind überwiegend professionell produzierte Filme, die durch eine explizite didaktische und mediale Gestaltung Lern-Prozesse initiieren oder unterstützen sollen. Denkbar ist dabei das bloße Abfilmen eines didaktisch ausgearbeiteten Lehrvortrages bis hin zu medial aufwendig gestalteten Produktionen, in denen z. B. animierte Visualisierungen eingesetzt werden. Aktuelle Beispiele sind z. B. Instructional Videos auf DVD, Blu-Ray oder Streaming-Plattformen, die es zu den verschiedensten Themen- und Lerngebieten gibt, oder speziell für Online-Lernangebote wie z. B. für MOOCs produzierte Lehrfilme. Reine Lehrveranstaltungsaufzeichnungen, wie sie häufig im universitären Kontext zu finden sind, sind nur eingeschränkt als Lehrfilme einzuordnen, da sie weder didaktisch noch mediengestalterisch als Lehrfilm konzipiert sind, sondern nur eine Videoaufzeichnung einer Präsenzlehrveranstaltung sind. Dokumentarfilme schließlich sind Filme, die tatsächliches oder erfundenes Geschehen in einer eigenen Erzählstruktur festhalten und zeigen. So kann z. B. von einer strikt chronologischen Reihenfolge abgewichen werden, es können Ereignisse ausgelassen oder besonders betont werden. Dokumentarfilme sind allerdings nicht zwingend erklärend oder gar instruierend. Überwiegend im Auftrag staatlicher Institutionen produzierte Bildungsfilme mit dem Ziel der Erklärung oder Aufklärung können als Kulturfilme bezeichnet werden (z. B. die Tierfilme von Bernhard Grzimek). Filme zur gezielten, politisch motivierten Manipulation sind Propagandafilme (welche allerdings sowohl die Form des Dokumentarfilmes als auch die des Spielfilmes nutzen). Alle drei Formen sind nicht immer trennscharf voneinander abzugrenzen (zu weiteren Details siehe Wolf 2015a).

Was kann man aus der geschichtlichen Entwicklung von Lehrfilmen und Bildungsfernsehen lernen? Der Beitrag von Gerhard Tulodziecki in diesem Kapitel widmet sich der Frage, was die Verheißungen und Erwartungen des Bildungsfernsehens waren und inwieweit sich diese erfüllt haben. Die teilweise ernüchternden Ergebnisse erzwingen einen kritischen Blick auf die aktuelle Debatte zu den Potenzialen von Erklärvideos und digitalen Medien im Allgemeinen. Was unterscheidet überhaupt Erklärvideos auf partizipativen Videoplattformen vom Bildungsfernsehen? Welche Potenziale haben diese, die ursprünglichen Ziele des Bildungsfernsehens ggf. doch umzusetzen? Elke Schlote (2008) unterscheidet zwischen Bildungsfernsehen im engeren Sinne – curriculare Programme, die dem Lehrplan der Schule folgen und didaktische Elemente enthalten, also z. B. Sendereihen zum Selbststudium wie das Telekolleg, und Bildungsfernsehen im weiteren Sinne, dazu gehören Programme und Sendereihen ohne klare Lerneinheiten, deren bildende Inhalte ein möglichst großes Publikum erreichen sollen, wie z. B. natur- oder kulturwissenschaftliche Magazin- und Reportage-

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2.2 Sind Erklärvideos das bessere Bildungsfernsehen?

formate. Hierzu gehören auch Sendungen des Kinderfernsehens wie z. B. Die Sendung mit der Maus. Werner Reuss (2004) kategorisiert analog in Lernprogramme, Bildungsund Wissensprogramme und darüber hinaus Programme mit bildendem Charakter. Erklärvideos und insbesondere Videotutorials sind als Bildungsfernsehen im engeren Sinne bzw. als Lernprogramme zu verstehen. Sie sind zielgerichtet auf das Erlernen einer Fertigkeit ausgerichtet. An der Grenze zur Unterhaltung finden sich Formate äquivalent zum Bildungsfernsehen im weiteren Sinne bzw. zu Bildungs- und Wissensprogrammen: auf YouTube-Channels wie VSauce, SciShow, Smarter Every Day oder Veritasium (Kap. 2.3) werden unter dem Primat der Unterhaltung spannende Fragen (z. B. »Ist das Universum ein Hologramm?«) besprochen; gemeinsam ist ihnen eine sehr informelle Ansprache des Publikums. Politisch wenig korrekt geht es schließlich in eigenen YouTube-Formaten wie z. B. »Epic Rap Battle of History« zu: absurde Vergleiche von Personen aus der Populär- bzw. U-Kultur (z. B. dem Dubstep-Produzent Skrillex) mit Personen der Hoch- bzw. E-Kultur (z. B. mit Wolfgang Amadeus Mozart) lassen eher inzidentelle Bildungswirkungen erwarten.

Wie unterscheidet sich der Produktionskontext von Erklärvideos? Beliebte Genres von Erklärvideos orientieren sich überwiegend an den Interessen der insbesondere jugendlichen Nutzer/innen wie Sport, Musizieren, Styling und Mode, Nutzung technischer Geräte wie Computer und Smartphones, Computerspiele, Kochen, Basteln und Reparieren, aber auch aktuelle Schulthemen, insbesondere in nachhilfeintensiven Fächern wie Mathematik (Rummler/Wolf 2012). Dabei unterscheiden sich die Produktionskontexte von (Amateur-)Erklärvideos stark von denen traditioneller Angebote des Bildungsfernsehens. So gibt es bei Erklärvideos keinerlei redaktionelle Vorgaben für die Themen, die Gestaltungsformen oder die Zielgruppe. Die Inhalte legen somit überwiegend keinen Fokus auf die »Hochkultur« oder einen »Bildungskanon«, sondern auf die Populärkultur, Lebenspraxis bzw. Handlungsfelder der Zuschauer/innen bzw. der Produzent/innen. Durch die Fokussierung auf die eigenen Interessen der Produzierenden entsteht eine große Bandbreite von Inhalten und Gestaltungsideen, so werden auch für hochspezialisierte Nischenthemen Very Special Interest Videos produziert. Da man mit Erklärvideos nicht die notwendigen hohen Klick- und Abozahlen der YouTube-Stars3 wie Julien Bam, Gronkh oder Bibis Beauty Palace erreicht, stehen für ihre Produktion kein oder nur ein minimales Budget zur Verfügung. Bei den jugendlichen Erklärvideo-Produzierenden besteht deshalb auch nur selten ein ernsthaft kommerzielles Interesse. Durch das unmittelbare Ansprechen der Zuschauenden in den Videos und dem Rückkanal der Kommentarfunktion ergibt

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Julien Bam: https://www.youtube.com/user/JulienBam – Gronkh: https://www.youtube.com/ user/Gronkh – BibisBeautyPalace: https://www.youtube.com/user/BibisBeautyPalace

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sich eine direkte Kommunikation mit den Rezipient/innen und anderen Produzierenden.

Was machen Erklärvideos anders als klassische Lehrfilme? Kennzeichnend für die Gestaltung von Erklärvideos sind vier Merkmale (Wolf 2015b): (1) Thematische Vielfalt: Während sich professionelle Lehrfilmproduktionen auf zentrale Themenfelder fokussieren, die für eine große Anzahl von Personen relevant sind (hohe Zuschauer/innenzahlen, gute Vermarktbarkeit), können Erklärvideos sowohl in der Breite der Themenvielfalt als auch in der Tiefe/Spezialisierung der Themen weiter gehen. So finden sich dann auch Erklärvideos zu Themen, die professionell produziert keine Chance auf Wirtschaftlichkeit hätten. Diese hochspezialisierten Inhalte (Very Special Interest) sind zunächst einmal nur für ihre Produzent/innen sowie einige wenige Nutzer/innen von Interesse. (2) Gestalterische Vielfalt: Der Expert/innenstatus von Erklärvideoproduzent/innen reicht von Inhaltslaien bis hin zu Inhaltsexpert/innen. Auch gibt es eine breite Varianz bei den didaktischen und mediengestalterischen Kompetenzen. Trotz geringer bis fehlender Produktionsbudgets reicht der Gestaltungsaufwand von improvisierten Ad-hoc-Produktionen bis hin zu semi-professionellen, aufwendig gestalteten Videos; er reicht von kurzen Erklärungen mit einer Dauer von weniger als zwei Minuten bis hin zu halbstündigen Produktionen oder ganzen Erklär-Reihen mit einer Vielzahl von aufeinander aufbauenden Erklärvideos. So spannt sich der Autor/innenkreis von Lehrenden in formalen Kontexten an Schulen und Universitäten über non-formale Lehrprofis wie z. B. Instrumentallehrer/innen oder Sporttrainer/innen bis hin zu Lernenden auf. Dabei übernehmen die Lernenden als »Laiendidaktiker/innen« Erklärskripte aus Erklärkontexten wie der Schule oder dem Fernsehen und formen eine Proto-Didaktik bzw. »Folk-Didaktik« aus (Wolf/Kratzer 2015). Interessant ist dabei zu beobachten, wie nicht-traditionelle Erklärende als gestaltungsoriginelle Laiendidaktiker/innen neue Formen der Gestaltung von Erklärvideos entwickeln, die in hohem Maße innovativ sind. Dass dabei im Kontext eigenproduzierter Inhalte (User-generated Content) bei vielen der Filme keine für ein größeres Publikum verwertbaren Videos entstehen, ist nicht als grundsätzliches Problem zu verstehen. Über Mechanismen der sozialen Sichtung (Social Filtering) werden die guten Produktionen auffindbar gemacht und gleichzeitig bleibt eine Vielfalt erhalten. (3) Informeller Kommunikationsstil: Allgemein hat sich auf YouTube ein eher informeller Kommunikationsstil durchgesetzt, der sich auch bei der Gestaltung von Erklärvideos wiederfindet. Es wird fast ausschließlich geduzt, wenig hierarchisch und von oben herab kommuniziert. Häufig wird Humor in den Erklärungen eingesetzt, auch setzen sich die Erklärenden humorvoll mit dem eigenen Nicht-Können am Anfang oder bei Problemen beim Lernprozess auseinander. Das Gelingen des Erlernens und Verstehens wird dem Üben bzw. dem Ausprobieren und darüber Nachdenken

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zugeschrieben und nicht der individuellen Begabung. So wird die Schwierigkeit häufig zunächst anerkannt (»das schaut zunächst schwierig aus«, »am Anfang ist es nicht so leicht«, »ich habe es überhaupt nicht verstanden«, »ich konnte es überhaupt nicht«), aber gleichzeitig für alle Nutzer/innen offene Wege zum Können und Verstehen aufgezeigt (»mit dieser Übung wird es leichter«, »nach einiger Zeit seht ihr, dass es viel besser klappt«, »ich habe ziemlich lange gebraucht, jetzt kann ich es aber«). Insgesamt entsteht so eine nicht-bedrohliche, fehlertolerante, positive Lernatmosphäre in den Videos, wie sie auch von Fachleuten gefordert wird (Oser/Spychiger 2005). (4) Diversität in der Autor/innenschaft: Je mehr Angebote es zu einem Erklärthema gibt, desto vielfältiger sind Bildungsbiographie und -habitus der Produzierenden. So finden sich z. B. zum Thema »Macarons backen« eine große Anzahl an Erklärenden mit offensichtlich unterschiedlichen Verständnissen nicht nur von der Erklärung und medialen Gestaltung her, sondern auch bezogen auf die Lernkontexte und das Kommunikationsverhalten. Wenn eine auf ein junges Publikum zielende YouTuberin Kaddy a.k.a. »The Sunray Girl« das französische Wort »Macarons« englisch und nicht französisch ausspricht, da sie sich nur englischsprachige Videos zur Vorbereitung ihres eigenen Videos angeschaut hat, deutet dies auf eine Brückenfunktion des Erklärvideos hin: Sie hat am Anfang des Macaron-Hypes die US-amerikanischen Macaron-Tutorials gesichtet und nicht nur in das Deutsche übersetzt, sondern auch aus den US-amerikanischen professionellen und hoch ästhetisierten Produktionssettings in das Setting einer durchschnittlichen Mietwohnungs-Küche übertragen. Dies erschließt das Thema für eine neue Zielgruppe, welche die englischen Videos sowohl wegen der Sprachbarriere als auch dem offensichtlichen Kontrast zwischen eigener Lebenswirklichkeit und dargestellten Luxus-Umgebungen nicht rezipieren. Kommentare wie »Sorry Leute, die (Macarons) sehen aus wie die Burger in Sponge Bob« sind weitere Zeichen für eine kulturelle Diversität der Erklärenden und höhere lebensweltliche Nähe als dies die überwiegend bildungsbürgerlich geprägten Lehrkräfte in Schulen bieten können und wollen. In einem Forschungsprojekt mit Studierenden an der Universität Bremen analysierten wir für zehn Schulfächer, wie viele deutschsprachige Erklärvideos es für einzelne, zufällig aus den Bildungsplänen der Sekundarstufe I (5.–10. Klasse) ausgewählte Themen gibt. Unabhängig vom Schulfach fanden sich dabei selbst für anspruchsvolle Themen immer mindestens 20 verschiedene Videos. Die Anzahl der gefundenen alternativen Erklärvideos variiert innerhalb und zwischen den Fächern. So fanden sich z. B. im Fach Geschichte zum Thema »Römer und Germanen« ca. 40 Videos, aber ca. 140 Videos zum Thema »Absolutismus«. In Deutsch wird das Thema »Satzgefüge und Satzglieder« in ca. 310 Videos erklärt, »Wiedergabe von Sachverhalten, Inhalten und Prozessen« dagegen in ca. 110 Videos. Die Aufrufzahlen einzelner Videos reichen von niedrigen Tausenderzahlen bis hin zu fünfstelligen Aufrufen, selten auch sechsstelligen Aufrufen. Bei ca. 8,25 Mio. Schülerinnen und Schülern in Deutschland ergeben sich pro Schuljahr inhaltsspezifische Zielgruppen von ca. 750.000 Schülerinnen und

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Schülern in der Sekundarstufe. Bei einer aktuellen regelmäßigen Nutzungsrate von Erklärvideos durch 20% (mind. mehrmals pro Woche; JIM-Studie 2018, Feierabend et al. 2018: 49) eines Altersjahrganges ergeben sich hier teilweise recht hohe Reichweiten. Wenn z. B. ein Erklärvideo »Satzglieder (Subjekt, Prädikat, Objekte und adverbiale Bestimmungen)« von Andreas Zeis fünf Jahre nach der Veröffentlichung ca. 185.000 Aufrufe seit dem Hochladedatum am 23.05.2013 hatte, erfolgten durchschnittlich pro Jahr 37.000 Aufrufe, was bereits ca. 5% des gesamten Jahrgangs darstellt. Umgerechnet auf die Schüler/innen, die regelmäßig Erklärvideos nutzen, stellt diese Nutzungsquote eine Reichweite von einem Viertel (25%) der aktuellen Benutzer/innen dar, für die das Thema gerade relevant ist. Wieso finden sich aber auf YouTube auch für weniger populäre Videos noch tausende Zuschauer/innen? Die hier vertretene Hypothese ist die einer selbstselektierenden Adressat/innenschaft (Wolf 2015). Gerade die Heterogenität in Bildungshintergrund, Milieu, Vorwissen, Sprache und anderen für die Gestaltung relevanter Eigenschaften der YouTube-Erklärer/innen schafft eine Vielfalt im Angebot, aus der sich die Rezipient/innen passende Erklärer/innen aussuchen können. Hier gilt anzumerken, dass wir in der oben genannten Studie im Vergleich mit anderen durchgeführten Analysen erkennen mussten, dass die Autor/innenschaft schulbezogener Erklärvideos weniger heterogen ist als in außerschulischen Themen. Die Selbstselektion passender Erklärvideos geschieht zumeist blitzschnell. In eigenen explorativen Beobachtungen der YouTube-Mediennutzung von Jugendlichen im Kontext von Workshops und studentischen Forschungsarbeiten selektieren diese die Videos zumeist in wenigen Sekunden. Intuitiv wird bezogen auf die Sprache, das Aussehen und die mediale Gestaltung der ersten wenigen Sekunden eines YouTubeFilms über die Passung zum eigenen Vorwissen und Erklärpräferenzen geschlossen – und ggf. zum nächsten Video weitergeklickt. Das wichtigste K.O.-Kriterium ist eine schlechte Tonqualität. Während also beim klassischen Erklären von Angesicht zu Angesicht gute Erklärende zunächst das Vorwissen des Lernenden erkunden bzw. sich vergewissern, dass die eigene Erklärung auch tatsächlich verstanden wird, wählen die YouTube-Nutzer/innen das für sie passende Video selbst aus. Erklärvideos funktionieren hier also durch Selbstgestaltung durch die Autor/innen und Selbstauswahl auf Seite der Rezipient/innen. In Anbetracht der weiter fortschreitenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft ermöglicht die Gesamtheit der Erklärvideos zu einem Thema ein adressat/innengerechtes Bildungsfernsehen zu realisieren, obwohl die einzelnen Videos nur für jeweils wenige Adressat/innen passen. Insgesamt entsteht also durch die zunächst überflüssig erscheinende Parallelproduktion überhaupt erst die individuelle Zugänglichkeit für breitere Bildungsschichten. Dies könnte ein Desiderat von Kersten Reich umsetzen, der 2008 in einem Interview in Bezug auf die Frage, wie bildungsferne Jugendliche durch Bildungsfernsehen zu erreichen seien, forderte, »dass es hier besonders auf die Vielfalt der Zugänge ankommt« (Reich/Scholte 2008: 10).

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2.2 Sind Erklärvideos das bessere Bildungsfernsehen?

Können die das eigentlich? Eigene Erklärstrukturen vs. Übernahme von Bekanntem Schaut man sich die Produktionen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen bezüglich ihrer Erklärstrukturen an, stellt sich die Frage, welche der folgenden Muster genutzt werden (Wolf/Kratzer 2015): • schulische Vermittlungsmuster wie Lehrerzentrierung, Lehrvortrag, Fachsprache, begleitende Visualisierung an einer Tafel, Nutzung didaktischer Elemente • informelle Erklärstile aus dem Familien-, Freizeit- und Hobbybereich wie direkte Ansprache, Ad-hoc-Erklärungen, gegeben in einem informellen und unterhaltsamen Sprachstil, mit direktem Lebensweltbezug und vielen praktischen Beispielen mit wenig aufwendiger Gestaltung • massenmediale Präsentationsgestaltung wie in Wissenssendungen mit hohem Anteil an Visualisierungen, vorgeschriebenen (gescripteten) und leicht verständlichen Texten, Einsatz von Geschichten und aufwendigen Gedichten Requisiten, wechselnden Drehorten, Kameraeinstellungen sowie Schnittbearbeitung In einer eigenen Untersuchung zur Erklärvideogestaltung von Kindern gab es jeweils themenspezifische Bezüge (Wolf/Kratzer 2015): schulische Inhalte wie z. B. aus der Mathematik wurden überwiegend mit schulischen Vermittlungsmustern erklärt, Sport-Tricks im Hobbykontext dagegen sehr informell wie im alltäglichen Leben vermittelt. Bei dem allgemeinbildenden Thema Umweltschutz übernahmen die Kinder massenmediale Muster aus populären Wissenssendungen. Vergleicht man diese Ergebnisse mit der Erklärvideoproduktion von Jugendlichen, fällt auf, dass diese nicht nur eine höhere mediale Gestaltungskompetenz mitbringen – die Videos also aufwendiger gestaltet sind –, sondern sie auch stärker didaktische Gestaltungsmittel einsetzen. Schließlich transferieren Jugendliche und insbesondere junge Erwachsene auch mehr Formate zwischen den Themenbereichen bzw. betreiben echte Formatinnovationen: wenn ein YouTuber die Prinzipien der Vektorrechnung als Rap vorträgt, während die Illustrationen scheinbar im Wald schweben4; wenn Jugendliche sich für die Durchführung eines Parcour-Tricks sechs Vorübungen zum schrittweisen Erlernen ausdenken und im Lebensraum Spielplatz in der Neubausiedlung detailliert vormachen und Ratschläge zur Selbstkontrolle geben5; wenn Studierende sich für die Erläuterung von Brettspielregeln als lebende Spielfiguren verkleiden; oder wenn das Higgs-Feld durch eine Videomontage von Skifahrerinnen und Skifahrern und Wandernden im Tiefschnee veranschaulicht wird6. Diese Beispiele zeugen von einer großen didaktischen und gestalterischen Kreativität, die durch das soziale Filtermedium YouTube kollektiv entdeckt wird. Auch wenn die Amateurproduktionen 4 5 6

DorFuchs: Der Vektorensong https://www.youtube.com/watch?v=TzaYsyNvvZA WoodyWlan: Wallspin Tutorial https://www.youtube.com/watch?v=dGO9-CYsiCQ BestOfScience: What ist he Higgs Boson? https://www.youtube.com/watch?v=V9m7k_vXfFQ

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nicht immer alle Elemente guter Erklärungen beinhalten, wie sie Christoph Kulgemeyer in seinem Beitrag zum Erklären im MINT-Bereich (Kap. 4.2) vorstellt, ergibt sich ein großes Potenzial an adressatengerechten und innovativen Erklärangeboten, deren Möglichkeiten im folgenden Kapitel 2.3 weiter vorgestellt und mit Expertinnen und Experten des audiovisuellen Erklärens diskutiert werden sollen.

Literatur Feierabend, S./Rathgeb, T./Reutter, T. (2018): JIM 2018. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Stuttgart: mpfs. Oser, F./Spychiger, M. (2005): Lernen ist schmerzhaft. Weinheim und Basel: Beltz. Reich, K./Scholte, E. (2008): Vom Schauen in die Interaktion. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Kersten Reich. In: TELEVIZION, 21(2), S. 10–12. Reuss, W. (2004): Ausbildung zum Fachmann – Bildung zum Menschen. BR-alpha – Lernen mit dem Fernsehen. In: TelevIZIon, 17(1), S. 57–60. Rummler, Klaus/Wolf, Karsten D. (2012): Lernen mit geteilten Videos: aktuelle Ergebnisse zur Nutzung, Produktion und Publikation von online-Videos durch Jugendliche. In: Sützl, W./Stalder, F./Maier, R./Hug, T. (Hrsg.): Media, Knowledge and Education: Cultures and Ethics of Sharing/ Medien – Wissen – Bildung: Kulturen und Ethiken des Teilens. Innsbruck university press, S. 253–266. Schlote, E. (2008): Im Auftrag der Bildung. Ein Überblick zum Bildungsfernsehen. In: TELEVIZION 21(2), S. 4–9. Wolf, K. D. (2015a): Video-Tutorials und Erklärvideos als Gegenstand, Methode und Ziel der Medien- und Filmbildung. In: Hartung, A./Ballhausen, T./Trültzsch-Wijnen, C./Barberi, A./KaiserMüller, K. (Hrsg.): Filmbildung im Wandel. Wien: New Academic Press (Mediale Impulse 2), S. 121–131. Wolf, K. D. (2015b): Bildungspotenziale von Erklärvideos und Tutorials auf YouTube: Audio-Visuelle Enzyklopädie, adressatengerechtes Bildungsfernsehen, Lehr-Lern-Strategie oder partizipative Peer Education? [Educational potentials of explanatory videos and tutorials on YouTube]. In: merz, 59(1), S. 30–36. Wolf, K. D./Kratzer, V. (2015): Erklärstrukturen in selbsterstellten Erklärvideos von Kindern [Structures of explaining in children’s explanatory videos]. In: Hugger, K./Tillmann, A./Iske, S./Fromme, J./Grell, P./Hug, T. (Hrsg.): Jahrbuch Medienpädagogik 12 [Yearbook media education 12]. Wiesbaden: Springer VS, S. 29–44.

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2.3 Bildungsfernsehen und Erklärvideos erfolgreich gestalten

2.3 Bildungsfernsehen und Erklärvideos erfolgreich gestalten – Interviews mit den Produzierenden Mit Wissenschaft ins Hauptprogramm Joachim Bublath (JB) im Gespräch mit Karsten D. Wolf (KDW) über Wissenschaftsfernsehen Der promovierte Physiker Joachim Bublath ist eine der zentralen Gestalten des Wissenschaftsfernsehens in der Geschichte des westdeutschen Fernsehens. Seit Anfang der 1980er-Jahre gelang es ihm, wissenschaftliche Themen auch im Hauptprogramm zu präsentieren. Er konzipierte und moderierte Sendungen wie »Aus Forschung und Technik« (ZDF, 1981–1987), »Abenteuer Forschung« (ZDF, ab 1988) und die »Knoff-Hoff-Show« (1986–1999). YouTube ist für ihn kein Ersatz für Sendeplätze im Hauptprogramm des Fernsehens.

KDW: Herr Bublath, Sie sind der Experte für Wissenschaftsfernsehen, der wie kein anderer in Deutschland das Fernsehprogramm für die Vermittlung von hochkomplexer Wissenschaft »geöffnet« hat. Was macht aus Ihrer Sicht und Erfahrung eine gute Erklärung im Fernsehen aus? JB: Das Credo für die Wissenschaftsvermittlung via Fernsehen ist, dass im Vergleich zu anderen Medien das Fernsehen einen enormen Reichweitenvorteil hat. Prinzipiell können so Menschen direkt in ihren Wohnzimmern erreicht werden, die sonst mit Wissenschaft kaum in Berührung kommen. Um diese Möglichkeit zu nutzen, das heißt die potenziellen Zuschauer/innen überhaupt dafür zu interessieren und darüber hinaus auch zu halten, müssen die Beiträge mit allen dramaturgischen und optischen Mitteln der aktuellen Fernsehkunst gestaltet werden. Mit Dozieren, Gesprächen, Grafikproduktionen etc. gewinnt man keine neuen Wissenschaftsinteressierte und erreicht bestenfalls die Leute, die schon vorinformiert bzw. interessiert sind und sich deshalb aktiv in anderen Medien bedienen können. Es geht hier um das Fernseh-Hauptprogramm und das Erreichen eines großen Zuschauerkreises – nicht um Spartenprogramme. Ziel ist es ja, in unserer technisch-wissenschaftlich bestimmten Welt möglichst vielen Menschen ein Grundverständnis auf diesem Gebiet zu vermitteln. Dafür ist unabdingbar, dass die entsprechenden Sendetermine für diese Programme in der Kernzeit (19:30 bis 21:30 Uhr) des Hauptprogramms der großen Sender liegen. Nur so erreicht man eine große Zielgruppe. Nachttermine – wie heute üblich – dienen höchstens der Weiterbildung einiger Weniger, die sich auch anders zu helfen wissen. Diese Forderung heißt allerdings, in Konkurrenz mit den parallellaufenden »Consumer-Programmen« zu stehen. Deshalb sind die oben erwähnten Qualitätsansprüche an die Produktion wichtig. Die »Knoff-Hoff-Show« sollte genau dieser Motivation eines breiten Zuschauerkreises für Naturwissenschaften dienen. Die Machart: erstaunliche Experimente – nicht nur Puff-Paff, sondern immer nur als Einstieg gedacht – mit sinnvollem Bezug zu neuen Technologien, das alles gemischt mit Unterhaltungselementen. Die Hoffnung war, die neugewonnenen Zuschauer/innen auch bei den sachlich tiefergehenden Serien: »Abenteuer Forschung«, »Geheimnis-

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se unseres Universums«, »Faszination Erde«, »Joachim Bublath« etc. wiederzufinden. Das ist auch ganz gut gelungen. KDW: Wo liegen die Grenzen der Erklärbarkeit von Wissenschaft im Fernsehen? JB: Fernsehen ist nur als Appetitmacher für Wissenschaft zu verstehen. Tiefergehende Informationen werden von anderen Medien besser bedient. Schon die Visualisierung ist problematisch. Im Trickfilm wird alles so klar und deutlich dargestellt und funktioniert auch so. Die Realität im Labor sieht oft anders aus. Der Zuschauerin/dem Zuschauer wird eine andere Welt vorgegaukelt, um ein Basisverständnis zu erreichen. Schon das Atommodell mit den kugeligen Elektronen, die planetenartig um den Kern herumschwirren, ist eine äußerst einfache Verständnishilfe. Quantenmechanisch sind die Elektronen statistisch verschmiert, unterliegen einer bestimmten Aufenthaltswahrscheinlichkeit, die nur noch mit mathematischen Formeln darzustellen ist. Und da kommen natürlich Bedenken auf, wenn im Fernsehen der Eindruck erweckt wird, dass in der Wissenschaft alles so einfach wäre und sich visualisieren ließe. Ab einer bestimmten Verständnisstufe ist das Abstraktionsvermögen des Einzelnen gefragt. Locken wir mit den Einfachdarstellungen etwa auch die in die Wissenschaft, denen das abstrakte Denken schwerfällt? KDW: Kann man denn überhaupt fortgeschrittene wissenschaftliche Konzepte nur über das Fernsehen vermitteln? JB: Ich habe in den 1970er-Jahren mit der Produktion von Universitätsfernsehen begonnen, um die lästigen Anfängervorlesungen zu entlasten. Das hatte damals letztendlich Visualisierungsprobleme, denn bei der Produktion z. B. der Mathematikkurse wurden lediglich Grafiktafeln mit Formeln geschoben, eine weitere Visualisierung erfolgte nicht. Zudem musste man Mathematik zielgruppenspezifisch für Physiker/ innen, Mathematiker/innen, Mediziner/innen usw. konzipieren, eine mengenmäßig nicht zu bewältigende und finanzierbare Aufgabe. Die Open University von der BBC zeigt das Visualisierungsproblem bei tiefer gehender Information: nur 5% beträgt der Fernsehanteil, 95% steht in den Begleitbüchern.

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Veritasium: eine neue Generation des Wissenschaftsfernsehens auf YouTube Derek Muller (DM) im Gespräch mit Karsten D. Wolf (KDW). Derek Alexander Muller produziert auf YouTube seit 2011 den erfolgreichen Wissenschaftskanal Veritasium7, der inzwischen über 6,5 Millionen Abonnent/innen zählt. Seine Dissertation schrieb er zum Thema »Designing Effective Multimedia for Physics Education« an der University of Sydney. In dem Interview skizziert Derek Muller, wie Wissenschaftsfernsehen heute auf YouTube funktioniert, warum er YouTube nicht für Netflix aufgeben würde und dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Erstellung guter Erklärvideos (siehe auch den Beitrag von Florian Schmidt-Borcherding in Kap. 4.1) auch auf YouTube gelten.

KDW: Warum stellen Sie Ihre Videos auf Ihrem YouTube Kanal Veritasium ein und arbeiten nicht mit dem Fernsehen zusammen? Könnten Sie das, was Sie auf YouTube machen, nicht z. B. auch für die BBC oder mit Netflix machen? DM: Es gibt einen einfachen Grund, es auf YouTube zu platzieren: weil es der einfachste Weg ist, es dort zu tun. Ich begann 2011 mit Veritasium auf YouTube. Damals gab es nichts Vergleichbares in irgendeinem TV-Format. Außerdem war ich damals relativ unbekannt und muss selbstkritisch hinzufügen, auch nicht besonders gut im Produzieren von Videos. YouTube ist einfach die Standardplattform für alle, die selbst etwas veröffentlichen wollen. Niemand sagt einem dort, was man zu tun oder was man zu lassen hat. Und deswegen kann man dort alle möglichen Dinge tun. Mittlerweile produziere ich auch für das Fernsehen bzw. Streamingdienste. Aber ich sehe bei der Fernseharbeit doch große Kompromisse, die ich nicht immer machen möchte. Die BBCs und Netflixes dieser Welt haben natürlich mehr Geld zu Verfügung und können die Sachen schöner und glänzender produzieren, aber sie wollen selten so ins Details gehen, wie man das eben auf YouTube kann. Auf YouTube ist alles ein wenig ungeschliffener, ursprünglicher, man will den Leuten zeigen, wie die Dinge wirklich sind. Ich denke also, dass die Echtheit und Erklärtiefe von YouTube auf Netflix oder in einer TV-Show nicht erreicht werden kann. Und dann bleibt trotz der größeren Budgets beim Fernsehen am Ende doch nur ein kleinerer Teil für einen selbst übrig, weil man bei Fernsehproduktionen mit deutlich größeren Teams arbeitet. Online hat man seine eigene direkte Verbindung mit seinen Zuschauern. Und Sponsoren zahlen gerade wegen dieser Zuschauerbindung. Unter finanziellen Gesichtspunkten kann sich YouTube also mehr lohnen als eine TV-Show in der BBC oder bei Netflix. KDW: Mussten Sie jemals Kompromisse in Ihrer Show aufgrund der Rahmenbedingungen von YouTube machen?

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Veritasium: https://www.youtube.com/user/1veritasium

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DM: YouTube war von Beginn an der perfekte Ort für Veritasium und hat mir definitiv gute Trainingsmöglichkeiten geboten, sodass ich eine Menge Videos produzieren konnte und mit der Zeit auch besser wurde. Es ist generell ein guter Ort für eine Show wie Veritasium, weil ich mit meiner Show in die Tiefe gehen will, und das funktioniert nur auf einer Plattform wie YouTube mit einer großen globalen Zuschauerzahl. Nur so kann ich mit einem Nischenprogramm eine entsprechend große Zahl von Zuschauerinnen und Zuschauern gewinnen, um den Kanal erfolgreich zu betreiben. Im Fernsehen geht es dagegen immer darum, eine möglichst breite Zuschauerschicht zu erreichen – das geht zu Lasten der Thementiefe. Eine andere großartige Sache bei YouTube ist die flexible Länge der Shows. Es müssen nicht 30 oder 25 Minuten sein (wie im Fernsehen). Die Show kann drei oder fünf Minuten lang sein, oder falls nötig auch 20 Minuten oder länger. Allerdings muss man sich an den YouTube Stil anpassen, der definitiv anders als der TV- oder Film-Stil ist. KDW: Können Sie noch ein wenig weiter ausführen, was genau diesen »YouTube-Erklärstil« im Vergleich zu einem klassischen Lehrfilm ausmacht? DM: Ich würde sagen, dass man auf YouTube grundsätzlich andere Videos veröffentlicht als im Fernsehen und umgekehrt. Auf YouTube versucht man, eine besondere Verbindung zwischen dem Publikum und dem Inhalt zu etablieren, der sehr real, authentisch und gerne auch etwas »ungeschliffener« daherkommt. Gute Beispiele dafür wären z. B. die Khan Academy8, CrashCourse9 or SciShow10. Was Sie bei diesen Kanälen feststellen können, ist, dass sie keine klassische Einleitung haben, sie starten sofort in das Thema. Das ist ein wichtiger Unterschied. Auch nutzen einige dieser Kanäle Comedy-Elemente, was zwar nicht unbedingt typisch für alle YouTube-Erklärvideos ist, aber definitiv genutzt wird. Die Erklärvideos haben auch ein höheres Tempo als klassische Lehrfilme, das merkt man auch an der Anzahl der Wörter pro Minute. Und schließlich ist der Detailgrad, mit dem das eigentliche wissenschaftliche Problemlösen dargestellt wird, niedriger. Es gibt natürlich Ausnahmen, aber gerade die besonders populären YouTube-Kanäle zeigen einem nicht, wie man etwas zu berechnen hat oder gehen in die mathematischen Details. Wenn man einen erfolgreichen Kanal betreiben will, wäre das einfach nicht die richtige Strategie. YouTube ist eher eine Plattform, auf der Inspiration stattfindet, als akademisches Lernen, um sich eine Fertigkeit anzueignen. Jedenfalls bei den Videos, die ich mache. Mir ist natürlich klar, dass es auch genau solche Kanäle auf YouTube gibt, welche ausgearbeitete Lösungsbeispiele präsentieren. YouTube bietet einfach eine große Bandbreite an Optionen für die Zuschauer/innen. Wenn sie eine vertiefte mathematische Analyse eines Problems suchen, werden sie die finden. Aber das ist weder mein Ziel 8 Khan Academy: https://www.youtube.com/user/khanacademy 9 Crash Course: https://www.youtube.com/user/crashcourse 10 SciShow: https://www.youtube.com/user/scishow

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noch meine Expertise. Es gibt also definitiv Unterschiede zwischen Fernsehproduktion und YouTube, aber auch zwischen verschiedenen YouTube-Kanälen. Einen anderen Kompromiss, den man möglicherweise eingeht, betrifft die Auswahl der Themen, wenn man seinen Channel erfolgreich gestalten und am Laufen halten will. Der inhaltliche Fokus von Veritasium hat sich im Laufe der Zeit und der vielen Videos, die ich produziert habe, definitiv verändert. Themen, die ich interessant finde und über die ich vielleicht gerne ein Video machen würde, sprechen möglicherweise, selbst auf meinem Kanal, nicht genug Zuschauer/innen an. Man schaut auch immer ein wenig nach Themen, die gerade im Netz viral sind oder zumindest ein hohes Aufmerksamkeitspotenzial haben, um die Zahl der Kanal-Abonnent/innen zu steigern und somit seine Stellung und Monetarisierung zu erhalten. KDW: Aus einer pädagogischen Sicht: Was ist Ihr Ziel mit Veritasium? Wollen Sie (Natur-)Wissenschaften etwas vom »Nerd-Faktor« befreien? Wollen Sie eher das Interesse an grundlegenden Erkenntnissen der Wissenschaft vermitteln oder Ihrem Publikum auch fortgeschrittene wissenschaftliche Erkenntnisse näherbringen? DM: Ganz klar ist mein Ziel auf YouTube, das Interesse an Wissenschaft allgemein, ob einfacher oder fortgeschrittener Art, zu steigern. Ich glaube aber nicht, dass es generell das Ziel von YouTube-Videos ist, den Zuschauenden etwas so beizubringen, dass sie danach Experten sind. Aber ich finde, dass es für die Zuschauenden wichtig ist, etwas aus den Videos mitzunehmen. Es ist immer mein Ziel sicherzustellen, dass sie nach einem Video von mir mehr wissen als vorher – und möglichst mehr als ihre Freunde. Am Anfang hatte ich die Vorstellung, dass ich den Zuschauerinnen und Zuschauern Naturwissenschaften schrittweise von Anfang an beibringen könnte. Das war keine effektive Strategie, jedenfalls keine, mit der man genug Zuschauer/innen anzieht. Das pädagogische Ziel von Veritasium ist es, den Leuten eine wissenschaftliche Sicht der Welt zu präsentieren. Sicherlich stelle ich verschiedene interessante wissenschaftliche Phänomene vor, aber letztendlich möchte ich den Zuschauenden eine wissenschaftliche Einstellung vermitteln. Das sollte sich idealerweise so »einbrennen«, dass, wann immer sie Behauptungen hören oder mit Phänomenen konfrontiert sind, sie diese wissenschaftliche Sichtweise als Werkzeug nutzen können, um kritisch Dinge zu hinterfragen und den Dingen auf den Grund zu gehen. KDW: Nutzen Sie denn selbst YouTube, um Inhalte für Ihre Show zu recherchieren? DM: Für die Inhalte der Show weniger, da lese ich weiterhin gerne. Wenn ich Bücher lese, bekomme ich die besten Ideen. YouTube ist für mich unverzichtbar, wenn ich mich über neue Kameras und Mikrofone schlau mache, bevor ich dann etwas kaufe. Da schaue ich viele Tests auf YouTube, bevor ich mich entscheide. Ich schaue auch Tu-

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torials, um zu lernen, wie ich etwas auf YouTube oder dem Internet allgemein mache, wie z. B. eine Website aufzusetzen. Wenn ich darüber nachdenke, ein neues Video für Veritasium zu erstellen, recherchiere ich zunächst auf YouTube, um zu sehen, was bereits zu dem Thema angeboten wird, um nichts einfach nur zu duplizieren. Und wenn es zu dem Thema schon etwas wirklich Hervorragendes gibt, verwerfe ich das Thema, weil es einfach keinen Sinn macht, das Rad noch einmal zu erfinden. Dann suche ich lieber weiter nach einem anderen Thema, um eine echte Lücke zu füllen. Die inhaltliche Recherche ist abhängig davon, wie gut ich mich mit dem Thema auskenne. Das Video zum Magnus-Effekt11 z. B. war recht einfach zu recherchieren, einfach weil die physikalischen Prinzipien dahinter etabliert und gefestigt sind, selbst die Wikipedia-Seite ist recht gut und verlinkt auf ordentliche Quellen. Das ist also »alte« Physik, und ich musste da nicht besonders tief recherchieren oder sogar Forschungsartikel lesen. Auch hatte ich schon mal ein Video mit einem Professor der University of Sydney zum Magnus-Effekt am Beispiel von Cricket und Baseball gemacht.12 So fühlte ich mich recht kompetent, das Phänomen in einem Video zu erklären. Wenn ich mich in dem Thema nicht so gut auskenne, und insbesondere bei den ganz aktuellen Sachen, lese ich zunächst Forschungsartikel und spreche dann mit Experten über die Forschung (z. B. Spinning Black Hole13). Ich finde Experten ganz wichtig, um zu verstehen, was wirklich wichtig ist und worauf man den Fokus im Video legen muss. Das ist für mich eine besonders effiziente und effektive Art, ein Thema für ein Veritasium-Video zu erfassen. KDW: Früher musste man ja, um sich vertieft über wissenschaftliche Phänomene zu informieren, entsprechende Bücher oder Zeitschriften lesen. Jetzt gibt es das durch Veritasium und weitere Spezialkanäle auch als Bewegtbild auf YouTube. Glauben Sie, dass Sie durch das Videoformat etwas in der Qualität oder der Tiefe der Erklärungen verlieren? DM: Ich denke, es ist falsch zu denken, dass das Medium die Qualität ausmacht. Etwas Geschriebenes ist in seiner Qualität nicht automatisch besser oder regt zwangsläufig tiefergehende Denkprozesse an. Manche Dinge sind allerdings in einem Format leichter zu verstehen als in einem anderen. Mit einem Video ist es sehr viel einfacher Prozesse zu zeigen als sie in einem Text zu beschreiben. Trotzdem kann man alles in jedem Medium erklären. Ich habe mich damit im Rahmen meiner Doktorarbeit intensiv beschäftigt.

11 Veritasium: Backspin Basketball Flies Off Dam www.YouTube.com/watch?v=2OSrvzNW9FE 12 Veritasium: The Science of Curveballs https://www.youtube.com/watch?v=t-3jnOIJg4k 13 Veritasium: Spinning Black Holes https://www.youtube.com/watch?v=fu3645D4ZlI

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Der Vorteil von Texten ist, dass die Lesenden sich aktiv mit den Inhalten auseinandersetzen müssen, um überhaupt zu lesen. Das erzeugt die in der Theorie der kognitiven Belastung (Cognitive Load Theory) nach John Sweller gewünschte lernbezogene kognitive Belastung (Germane Cognitive Load), einfacher ausgedrückt, die Vorbedingung zum Verstehen (vgl. dazu Kap. 4.1). Dennoch – aus der Forschung wissen wir, dass die Kombination von Visualisierungen und Texten besser ist als Texte allein. Wenn man also über Text statt Video nachdenkt, heißt das: Text mit Visualisierung und vielleicht auch mit Anmerkungen. KDW: Was sind für Sie die wichtigsten Gestaltungskriterien guter Erklärvideos? DM: Auf YouTube muss man mit etwas beginnen, das Aufmerksamkeit erzeugt. Idealerweise weckt man das Interesse mit etwas Außergewöhnlichem. Man sollte also mit der coolsten Sache in das Video starten. Die überwiegende Anzahl aller Benutzer/innen kommen nicht auf YouTube, um einen Vortrag über Dinge oder Konzepte zu hören. Zuschauende werden von Geschichten angezogen, die haben ein Momentum, welches das Publikum fesselt. Sie helfen aber auch, Konzepte zu verstehen und ihre Bedeutung zu würdigen. Geschichten sind sehr wichtig für Erklärvideos! Weiterhin ist es von zentraler Bedeutung, sich prägnant und präzise auszudrücken. Man muss ein gutes Gespür dafür entwickeln, welche Informationen unerlässlich sind und welche weggelassen werden können. Auch vermeide ich, wenn möglich, Fachsprache. Falls Fachwörter nicht zu vermeiden sind, würde ich sie so einfach wie möglich erklären, damit sie für das Publikum weniger fremd und hochtrabend klingen. Das Publikum soll einen persönlichen Bezug zu den vermittelnden Konzepten entwickeln können. Wenn man etwas visualisieren kann, ist das auf alle Fälle gut. Insbesondere, wenn man etwas illustrieren oder animieren kann, ist es noch besser! Man sollte also alle verfügbaren Mittel nutzen, um ein möglichst klares, überzeugendes, auf den Punkt kommendes Video zu machen, das eine Geschichte erzählt und klar macht, warum das ganze Thema wichtig für einen ist. Die größten Fehler, die gemacht werden, sind zu lange Einführungen oder animierte Intros, oder wenn Bilder gezeigt werden, die weder ein Konzept deutlich machen oder klar zeigen, was verstanden werden soll.

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Unorthodoxes Erklären: der Mathe-Rapper DorFuchs Johann Carl Beurich (JCB) im Gespräch mit Karsten D. Wolf (KDW) Johann Carl Beurich alias DorFuchs ist der erfolgreichste Mathe-Singer-Songwriter auf YouTube mit mehr als 30 Mathesongs14. Bis zu 3 Millionen Aufrufe für das Video »Binomische Formeln (Mathe-Song)«15 sind ein Beweis dafür, dass man Mathe nicht immer an der Tafel erklären muss. Im Interview schildert Johann Beurich, wie er sich erklärtechnisch einem Mathesong nähert und warum es eine gute Idee ist, auch die Musik selbst zu produzieren.

KDW: Gerade im Bereich Mathematik gibt es im Netz und insbesondere auf YouTube die unterschiedlichsten Arten von Erklärvideos. Von einfachen Formaten, die in kurzer Zeit abgedreht sind, bis hin zu aufwendigen Formaten, ja Unikaten, wie bei Ihnen. Sie sprachen einmal von einem zeitlichen Aufwand von ca. 100 Stunden pro Video. Was mich besonders interessiert ist das Feld der »unorthodoxen Erkläransätze«. Ich kenne keine Lehrerin/keinen Lehrer, der oder die in der Schule Mathe singt. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, komplexe Mathefragen singend zu erklären – quasi als Musikvideo? JCB: Wie ich genau auf diese Idee gekommen bin, kann ich gar nicht sagen, weil ich es einfach gemacht, einfach angefangen habe. Mir war klar, dass vom Mathedidaktischen her Erklärungen alleine zu trocken sind und keinen Spaß machen. Dazu kam, dass ich YouTube als Plattform nutzen wollte und für dieses Medium sind trockene Erklärungen nicht geeignet. Klar kann man auch einfache Erklärungen durch YouTube gut an die Frau/den Mann bringen, aber ich verstehe YouTube eher als soziales Netzwerk. Deswegen habe ich die Erklärung mehr als Hilfsmittel genommen, um etwas zu haben, über das ich dann ein Video machen kann, was ich eigentlich machen wollte. KDW: Sie haben zwei recht unterschiedliche Formen von Videos auf Ihrem YouTube Kanal DorFuchs. Auf der einen Seite Ihre Mathe-Songs – wenn ich mit Schülerinnen und Schülern über Ihre Videos spreche, dann kommt als Rückmeldung, dass sie Ihre Videos zum Lernen nutzen, als eine Art Eselsbrücke. Es ist für sie leichter z. B. die p-q-Formel zu erinnern, wenn sie die Melodie mitsingen16, quasi als Memo-Technik. Und dann haben Sie auf der anderen Seite auch eher klassische Erklärvideos gedreht, die mehr in die Richtung US-amerikanischer-Erklärkanäle gehen17.

14 DorFuchs: https://www.youtube.com/user/DorFuchs 15 DorFuchs: Binomische Formeln (Mathe-Song) https://www.youtube.com/watch?v=EYbvhWEG6kE 16 DorFuchs: p-q-Formel (Die Lösungsformel) (Mathe-Song) https://www.youtube.com/watch?v=tRblwTsX6hQ 17 DorFuchs: Welche Würfelkombination ist am wahrscheinlichsten? https://www.youtube.com/watch?v=kWnMweJ71E8

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Wie produzieren Sie z. B. den Erklärsong zu Vektoren18? Da »schweben« die Visualisierungen im Wald und bewegen sich mit ihnen mit – das muss ja später ziemlich aufwendig eingebaut worden sein. JCB: Genau, das war eines der Videos, an denen ich mehr als 100 Stunden gesessen habe. Diesen Effekt habe ich mit Adobe After Effects hinbekommen. Da ich selber gerne Tutorials im Bereich Visual-Effects-Sachen ansehe, sowie auch Kanäle, die mit solchen Effekten rumspielen und mit Videoschnitt experimentieren, wollte ich das einmal selber für mich austesten. Also was ich selber in Tutorials gelernt habe, dann in einem Projekt ausprobieren. KDW: Das heißt, die Lern-»Challenge« liegt für Sie eher im Bereich der medialen Gestaltung als im Bereich der Mathematik? JCB: Für mich persönlich: ja! Ich suche mir in der Regel mathematische Themen raus, die ich in ihrem Kontext und auch in mehreren Facetten verstanden habe. Den Song schreibe ich erst, wenn ich das Thema schon gut erklären kann. Dennoch ist das erst der Ausgangspunkt. Denn ich muss dann noch sehr genau überlegen, was zu diesem Thema in den Song kommt und wie die ersten Sätze lauten, wo ich den ersten Reim setzte; was steht in den ersten 16 Zeilen und was kommt in den Refrain und was will ich den Leuten als Ohrwurm mitgeben etc. Das sind nochmal komplexe und tiefergehende Fragen. Und dann fragt man sich manchmal noch einmal neu: »Ok, ich erklär‘s gerne so, aber kann man es auch noch anders erklären oder warum und warum nicht?« Wenn ich dann einen Song gemacht habe, dann habe ich mich auch wirklich mit verschiedenen Erklärweisen auseinandergesetzt, und dann ist auch didaktisch einiges mehr passiert. Der Prozess geht also von »ich kann es irgendwie gut erklären« über »ich habe alle Erklärwege verstanden« hin zu »ich hab mir jetzt die Erklärweise, die mir am besten liegt, rausgesucht«. Diesen Schritt gehe ich auch gerne in der Vorbereitung. KDW: Wie gehen Sie vor? Was ist zuerst da – das Thema oder der Song? Wie entwickelt sich das? JCB: Das ist von Projekt zu Projekt unterschiedlich. Da gibt es selbst nach rund 30 Songs, die ich jetzt aufgenommen habe, kaum Routine. Aber letzten Endes warte ich immer, bis ich zu mindestens im Ansatz das Endprodukt vor Augen habe. Erst dann fang ich wirklich an. So war es auch beim Song zum »Flächeninhalt vom Kreis«19, an dem ich gerade dran bin. Da kam ich zunächst auf die Idee, dass man den Kreis in Pizzastücke zerschneiden kann und die so aneinanderlegt, dass ein Parallelogramm entsteht. Da hat es Klick gemacht, auch weil damit ein schöner Aha-Moment verbun18 DorFuchs: Vektorensong https://www.youtube.com/watch?v=TzaYsyNvvZA 19 Die Fläche vom Kreis (Mathesong): https://www.youtube.com/watch?v=h43mo0QXnDk

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den ist. Von da an konnte ich mir vorstellen wie das Video aussehen sollte; dass man vielleicht von oben eine Pizza filmt, die man dann zerschneidet und so weiter. So habe ich das dann auch gedreht. Dadurch, dass ich regelmäßig und viel Musik mache und dabei zu Hause auch improvisiere, entstehen immer musikalische Ideen, auf die ich zurückgreifen kann, wenn ich einen Mathesong komponieren will. Mittlerweile gehe ich noch einmal ganz anders mit offenen Augen und Ohren durch die Welt. Wenn ich irgendwo einen coolen Song höre, dann schaue ich mir Harmonien, die Instrumentierung, die Produktion etc. eben genauer an und imitiere sowas dann auch gerne mal. Und wenn mich mathematisch gerade etwas fasziniert, überlege ich halt, wie krieg, ich das umgesetzt. Ich setze einfach alles um, was mir in den Sinn kommt. Was dann besonders gut ist, produziere ich.

Als Lehrer auf YouTube Kai Schmidt (KS) im Gespräch mit Karsten D. Wolf Der Lehrer Kai Schmidt betreibt den YouTube-Channel Lehrerschmidt20 mit mittlerweile 325.000 Abonnennt/innen, bietet dort ca. 1.760 Videos zu den Themen Schulmathematik, Allgemeinwissen und YouTube an, die teilweise bis zu sechsstellige Aufrufzahlen haben. Mehr vom Lehrer Kai Schmidt findet sich auf www.lehrer-schmidt.de.

KDW: Dieses Buch geht u.a. der Frage nach: Was macht ein gutes Erklärvideo aus? Erklären ist ein interaktiver Prozess. Das heißt ich schaue, ob mein Gegenüber versteht, was ich gerade vermitteln möchte, um dann ggf. meine Erklärung anzupassen. Das ist in einem einmal produzierten Video nicht möglich. Wie gehen Sie damit um? KS: Interessanterweise war das genau die allergrößte Aufgabe, die ich mir vor den Videos selber gestellt habe. Da ich ja als Lehrer, der jeden Tag vor der Klasse steht, genau diese Interaktion schätze und weiß, aha, anhand der Reaktion muss ich im Niveau weiter runter, oder aber ich kann höher, ich kann mehr etc. Und die Lösung, also meine Lösung war: Ich fange einfach auf dem niedrigsten Niveau an. Und ich versuche bis heute, das auf allen meinen Videos durchzuhalten. Dazu nehme ich dann möglichst einfache Beispiele. Meistens wähle ich drei Beispiele, um so alle mit auf die Schippe zu kriegen. Aber das ist der Kompromiss. KDW: Zunächst unterrichtet man ja Grundlagen. Darauf baut man auf und geht dann höher. Ab einem bestimmten Schwierigkeitsgrad braucht man verlässliches Grundlagenwissen. Nehmen wir die Division in Mathe. Wenn ich wissen will, wie oft die 13 in die 76 reinpasst, brauche ich grundlegendes Wissen. Haben Sie die Grundlagenvideos in die späteren Videos verlinkt? Sodass Schüler/innen, wenn sie merken, dass ihnen Grundlagen fehlen, noch einmal im Stoff bzw. Videos zurückgehen können? 20 Lehrerschmidt: https://www.youtube.com/watch?v=EYbvhWEG6kE

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KS: Es ist genau andersrum gedacht, YouTube ist nur mein Werkzeug. Die gesamte Verlinkung funktioniert über meine Homepage www.lehrer-schmidt.de. Die ist von Anfang an themenbezogen aufgebaut worden und folgt darin auch meinem Gesamtplan. Das hat aber nicht zwingend was mit der Reihenfolge der Videos zu tun, wie ich sie drehe. Tatsächlich drehe ich sie so, wie ich sie in der Schule brauche. Und die passende Struktur entsteht eigentlich erst durch die Homepage, wo man dann alles thematisch aufeinander bezieht. Es ist geplant, alle Themenbereiche von Klasse 1 bis Klasse 10 abzudecken. Aber so weit bin ich noch nicht, zumal ich versuche, das qualitativ aufzusetzen, also von ganz einfach bis zum höheren Anspruch. Was in meinen Videos komplett fehlt, und dazu fehlt mir bisher auch noch die richtige Idee, ist der Kompetenzbereich 3, also Anwenden und Transferieren. Das ist schwer umzusetzen. Interessant ist, dass das auch wenig nachgefragt wird. Es scheint bei YouTube, soweit ich das an den Abfragen sehen kann, mehr um das Basiswissen zu gehen. KDW: Mich interessiert Ihr Aufwand für ein Video. Sie sind sicher mit der Zeit schneller geworden, nicht zuletzt, weil Sie die ganzen Tools kennen und gut im Griff haben, aber auch weil Sie den Workflow über die Zeit optimieren konnten. Auch ist die Erklärvideoart, die Sie produzieren, nicht so aufwendig wie z. B. die des Mathe-Rappers DorFuchs, der für ein Video gerne 100 Stunden und mehr braucht. Trotzdem frage ich mich, wie Sie in drei Jahren rund 1.200 Videos produzieren konnten. Das bedeutet pro Tag ein Video. Das schaffen nicht mal YouTube-Stars mit einem Produktionsteam. KS: Ich mache aber tatsächlich nichts anderes als praktisch die Aufnahme meiner Unterrichtsvorbereitung. Und das hat das Ganze erst möglich gemacht. Ich bin nicht YouTuber geworden, um YouTuber zu werden, sondern ich bin ein Lehrer, der das seit Ewigkeiten so macht. Ich plane meinen Unterricht jeden Tag aufs Neue, und ich bin irgendwann dazu übergegangen, in der Regel ein oder zwei Aufgaben auf Video aufzunehmen. Für ein Mathevideo benötige ich heute ca. 30 Minuten. Aber ich veröffentliche nicht jedes Video, das ich herstelle, auch sofort. Ich habe einige in Reserve, die ich dann veröffentliche, wenn z. B. in der Schule gerade viel los ist. Aber so entsteht auch das Bild der täglichen Produktion. Das gehört zur YouTube-Show, und daraus mache ich auch kein Geheimnis. KDW: Eine weitere Frage: Mich interessiert seit Jahren die Frage der Diversität der Erkläransätze auf YouTube. Prinzipiell könnte man ja sagen, der Lehrer Schmidt hat nun von Klasse 1 bis 10 alle relevanten Videos erstellt. Jetzt braucht sich keiner mehr dranzusetzen und nochmal welche erstellen. Oder können Sie sich vorstellen, dass es selbst bei Ihnen auch noch Schüler/innen gibt, die es trotzdem nicht verstehen und von einer »alternativen« Erklärung profitieren könnten? KS: Über die Jahre ist bei mir die Erkenntnis gewachsen, dass es wesentlich von der Lehrerpersönlichkeit abhängt. Das heißt: Selbst, wenn ich der tollste Lehrer mit der

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tollsten Didaktik und den tollsten Erklärungen wäre, dann wird es immer noch Schüler/innen geben, die mich total doof finden. Und ich glaube, wenn ich einen Lehrer nicht akzeptiere, dann lerne ich auch nichts bei ihm. In der Grundschule ist das noch viel ausgeprägter. Dort läuft alles über Bindung. Da lerne ich ja nicht unbedingt für Mathe, ich lerne für meine Lehrerin, meinen Lehrer. Und ich versuche eben auch, diese Lehrer-Schüler-Beziehung so ein bisschen zu übertragen. Das hat am Ende auch mit Sympathie und Antipathie zu tun. Das kann man auch an meinen Videokanal sehen, der, wie ich finde, eine überraschend positive Bewertung für einen Lehrer-Kanal hat. Ich komme ausgesprochen gut weg. In schlechten Monaten sind 88% und in guten Monaten 94% aller Rückmeldungen positiv. Damit braucht man sich nicht verstecken. Aber tatsächlich habe ich nicht den Anspruch, dass das Lernvideo für jede Schülerin/ jeden Schüler die richtige Lösung ist. Aber wenn ich mir die Feedbacks angucke, die tagtäglich zu hunderten hereinkommen, dann scheine ich damit eine breite Masse zu treffen. KDW: Wie sieht es denn mit anderen Fächern aus? Lassen sich Erklärvideos besonders gut in Mathematik und Naturwissenschaften erstellen bzw. nutzen oder kann man Ihren Ansatz auch auf Deutsch oder Geschichte übertragen? KS: Mathe ist in Bezug auf die Methode Erklärvideos ein sehr dankbares Fach. Zum Beispiel in Geometrie: Weil ich im Video einfach gut zeigen kann, wie der Umgang mit dem Zirkel funktioniert oder wie ich das Geodreieck anlegen muss. Ich wollte einfach den Schülerinnen und Schülern zeigen, wie es geht. Und ja, ich kann dann auch manchmal ein bisschen pedantisch sein, wenn es darum geht, z. B. hier zweimal zu unterstreichen, jetzt nehmen wir aber den Bleistift, das machen wir mit dem Füller etc. Da kommt der Grundschullehrer in mir durch. Für mich ist das ein großer Unterschied, ob ich im Video leibhaftig als Person vorkomme oder es z. B. wie beim SimpleClub alles komplett animiert mache. Das ist grafisch super gemacht, aber möglicherweise dann auch unpersönlicher für die Schüler/innen. Mit Blick auf die Übertragbarkeit in andere Fächer gibt es eine Faustregel: Alles was ich auf einem ELMO (Dokumentenkamera) oder Overheadprojektor hinbekomme, kann ich im Prinzip auch als Video produzieren. Dabei muss es nicht aufwendig grafikanimiert sein, um einen gutes Lernergebnis hinzubekommen. Das schaffen auch gut gemachte »handschriftliche« Videos. Generell ist die Tonspur entscheidend. Gestaltungsmäßig bin ich inzwischen ganz pragmatisch zum Minimalisten geworden. Als langjähriger Haupt- oder Realschullehrer habe ich gelernt, mich ganz ohne Schnickschnack nur auf das Allerwesentlichste zu konzentrieren. Und ich sehe auch ganz konkret, wenn meine Schüler/innen mit diesen Videos lernen, dass die Ergebnisse tatsächlich gut oder besser sind.

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KDW: Was muss eine Schülerin/ein Schüler mitbringen, um erfolgreich Erklärvideos zu nutzen? Gerade auf YouTube gibt es ja verlockend viele Videos zu spannenderen Themen als gerade Mathematik. KS: Wobei, ich sehe es genau anders herum! Der Riesenvorteil von YouTube ist – und der Satz ist so abgedroschen wie richtig: »Ich hole die Schüler/innen da ab, wo sie sind!« Und die hocken momentan den ganzen Tag auf YouTube. Und ich glaube, irgendwann ist dann dieser Druck »Oh Mist, wir schreiben morgen ,ne Mathe-Arbeit!« so hoch, dass der kleinste Schritt ist: »Ich wechsle mal eben den Kanal!«. Und ich glaube, der größte Gewinn ist tatsächlich, dass die das freiwillig machen. Also wenn auch nicht ganz freiwillig, so ist es eben nicht vergleichbar mit zwei Stunden Mathe. Sondern die wissen: »Irgendwann werde ich für Mathe lernen müssen, und den Zeitpunkt bestimme ich selber.« KDW: Was braucht die Schule der Zukunft in Bezug auf den Umgang mit Lernvideos? KS: Vor allem mehr Mut bei den Lehrkräften. Ich erinnere mich noch gut, wie es bei mir war, als ich damit anfing. Da gab es von Kolleg/innen auch Hohn und Spott: »Wie kann er sich nur ins Internet stellen?« und »Und was ist nur, wenn er einen Fehler macht?« oder »Und was denken nur die Schüler/innen?« Heute ist das anders! Mittlerweise wird oft hoch geschätzt, was ich da mache. Inzwischen schauen das auch ca. 1% der Lehrkräfte. Die finden auch mal den einen oder anderen Fehler. Dann lösche ich das Video und versuche sofort und zeitnah, das Video korrigiert wieder online zu stellen. Mein Anspruch ist, dass alle meine veröffentlichten Videos fehlerfrei sind. Deswegen rechne ich die Aufgaben auch alle vorher noch einmal durch. KDW: Was raten Sie Kolleg/innen, die damit vielleicht jetzt auch anfangen wollen? KS: Ich habe mein erstes Video noch, aber ich werde einen Teufel tun und das zeigen. Meine ersten knapp 250 Videos sind alle einkassiert – die waren grandios schlecht. Man kann das nicht anders sagen. Allein bis ich die richtige Mischung zwischen Kamera, Licht und Ton gefunden hatte, waren 100 Videos gedreht. Diesen Lernprozess verzeiht YouTube aber auch, weil YouTube gar nicht den Anspruch hat, perfekte Videos zu liefern. Und das Schöne ist, über meine Videos hinweg sieht man tatsächlich so eine gewisse Entwicklung. Und inzwischen ersetze ich auch ältere Videos durch bessere. Grundsätzlich gilt: Nicht so viel labern, sondern nach drei Minuten muss die Info komplett rüber sein. KDW: Was wäre Ihr Tipp für Kolleg/innen aus anderen Fächern, z. B. in Geschichte? Sollte man sich ein spezielles Themengebiet parallel zum jeweiligen Unterricht raussuchen, einfach loslegen und dann im nächsten Jahr mit der nächsten Klasse oder Jahrgangsstufe neue Themen entlang des Unterrichts aufbereiten?

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KS: Genau so. Im ersten Jahr hatte ich jeweils eine 9. und 10. Matheklasse unterrichtet. Und exakt mit diesen Themen fing ich an. Da ich den Unterricht ja sowieso vorbereiten wollte, nahm ich größtenteils auch die Aufgaben aus dem Unterricht. Das waren dann auch häufig die Hausaufgaben. Entscheidend war, dass ich meinen Mut zusammengenommen habe. Alles andere kam dann eigentlich von alleine. Aus meiner Sicht ist das auch auf Deutsch, Mathe, Englisch – aber auch Geschichte oder Erdkunde übertragbar. Was mich noch einmal reizt, wäre die deutsche Grammatik. Da gibt es nicht so viele Angebote, aber viel Bedarf vonseiten der Schüler/innen.

Der SimpleClub: effiziente Vorbereitung auf die Klassenarbeit oder modernes Lernwerkzeug? Alex Giesecke (AG) im Gespräch mit Karsten D. Wolf (KDW) Alex Giesecke ist ein Gründer und Geschäftsführer von SimpleClub21, die mit bis zu 800.000 Abonnenten in Deutschland einer der erfolgreichsten Erklärvideoproduzenten auf YouTube sind. Angeboten werden Kanäle zu wichtigen Schulfächern wie z. B. Mathe oder Biologie, mittlerweile aber auch für das Bachelorstudium.

KDW: SimpleClub hat ja einen ganz distinktiven und wiedererkennbaren Stil in seiner Produktion über alle Themenfelder hinweg. Dabei setzen Sie sich durch eine sehr starke Visualisierung von vielen anderen Kanälen ab. Sie stellen sich eben nicht einfach nur vor das Whiteboard und filmen einen Lehrvortrag ab. Produzieren Sie ihre Erklärvideos mit Prezi oder wie gehen Sie da vor? AG: Wir haben am Anfang mit Prezi produziert, sind aber inzwischen auf Keynote von Apple gewechselt. KDW: Wenn ich mit Lehrer/innen über SimpleClub spreche, dann gibt es da eine klar zweigeteilte Meinung. Auf der einen Seite wird Ihre visuelle Gestaltung ausdrücklich gelobt. Da wird gesagt, das ist ziemlich »ausgefuchst« produziert, das ist sehr gut visualisiert. Da ist eine große Anerkennung zu erkennen. Auf der anderen Seite gibt es Kritik. Viele Lehrer/innen kritisieren, dass SimpleClub ein schlechtes Bild von Schule und Lernen vermittelt in der Art: »SimpleClub macht im Grunde Erklärvideos für Schüler/innen, die eigentlich kein Mathe machen wollen; die aber wissen, dass sie eine Klassenarbeit schreiben oder eine Hausaufgabe machen müssen und die sich möglichst zeiteffizient darauf vorbereiten wollen. Und das alles in einem sehr lockeren, jugendaffinen Ton.« Würden Sie sich da wiedererkennen?

21 SimpleClub: https://simpleclub.com/de/p/unlimited-basic/, auf Youtube z. B. Mathe: https://www.youtube.com/user/TheSimpleMaths

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AG: Jein, also wir können das nachvollziehen. Ich würde das nur anders »framen«, weil wir uns schon viel mit dem Thema auseinandersetzen und auch damit, wo wir uns auch in Zukunft sehen. Wir verstehen, dass die Art und Weise, wie man heute Dinge versteht, zu lange dauert. Wenn man z. B. die Uni durchlaufen hat, weiß man, dass viele Dinge, die man innerhalb von vier Stunden gelernt hat, über eine bessere Methode und ggf. mit einer anderen Nutzung von Technologie viel schneller möglich gewesen wären. Und dieser Klickpunkt, an dem man mathematische Probleme versteht, kann beschleunigt werden, ohne dass darunter die Qualität leidet. Davon sind wir überzeugt. Unsere Rolle sehen wir langfristig darin, Verstehen in kürzester Zeit zu ermöglichen ohne Qualitätsverlust. Was wir nicht wollen, ist das Lernen so einfach zu machen, dass die Leute alles auswendig lernen und dann direkt wieder vergessen. Unserer Meinung nach muss das Lernen schwer sein, denn das Gehirn braucht diesen Ansporn. Aber wir glauben, dass das nicht die Ausrede dafür sein darf, schlechte Materialien herzustellen. KDW: Machen Sie Analysen von Ihren Zuschauerinnen und Zuschauern? Es gibt ja Dinge wie Let’s Plays, die eher von Jungs geschaut werden, Beauty Tutorials dagegen eher von Mädchen. Wie ist das bei SimpleClub? AG: Wir machen viele Analysen. Wir sehen auf YouTube auch sehr detailliert demografische Analysen. Unser Geschlechterverhältnis liegt bei ungefähr 60% zu 40 %, wobei das von Fach zu Fach etwas variiert. Bei Biologie ist es ausgeglichen 50:50 und es gibt auch Videos, wo es mal 35 zu 65 ist. Es kommt eben auf das Fach an. Das war auch der Grund, dass wir uns eher dazu entschieden haben, einen Tick männlicher zu funktionieren, weil wir auch das Feedback von Mädchen bekommen haben, dass es für die nicht unbedingt ein Problem ist, wenn es etwas kumpelhaft gestaltet ist. Aber umgekehrt ist es für Jungs ein Problem, wenn es zu mädchenhaft gestaltet ist. Deswegen war unsere Positionierung tatsächlich auch der Demografie entsprechend, wir gehen 60% in Richtung männlich. KDW: Ihre YouTube-Erklärkanäle sind mit die umfangreichsten zu schulischen Themen. Unterscheidet sich bei Ihnen die didaktische Gestaltung für verschiedene Themen bzw. Fächer? Ist es möglich, die Methode, wie man schneller komplizierte Sachen tiefgehend lernen kann, überall anzuwenden? AG: Jein. Also wir glauben, dass alle Fächer, die logisch erklärbar sind – insbesondere die Fächer wie z. B. Naturwissenschaften, Technik – mit diesem Konzept erstaunlich gut funktionieren. Wir wollen mit den Videos das Verständnis ermöglichen. Und der Grund, warum viele Leute unsere Videos gucken, ist nicht unbedingt, weil sie mit den Videos alleine alles lernen können, sondern weil sie durch manche Videos erst erkennen, welches Potenzial sie haben, um etwas wirklich zu verstehen. Gerade in Mathe besteht das riesige Problem, dass viele Schüler/innen meinen, sie verstehen das

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nicht. Alleine aus ihrer Grundhaltung heraus beschäftigen sie sich gar nicht erst mit dem Thema. Wir bekamen oft das Feedback, dass Leute, die unsere Videos geschaut haben, erkannten, dass sie das Thema verstehen können. Dann beschäftigen sie sich auch selbständig mit anderen Medien. Um auf die Frage zurückzukommen. Wir haben absichtlich bisher noch keine Sprachen behandelt, weil wir da eben noch nicht sicher sind, ob unsere Methode die bestmögliche wäre. Ich glaube nämlich, dass die Art und Weise, wie Sprachen an Schule gelernt werden, also viel Grammatik und Vokabeln lernen, sehr unbefriedigend ist. Aber ich glaube auch, dass unsere Lernmethode da noch nicht an die Methodik von beispielsweise Duolingo oder ähnliches rankommt, die ja viel über Interaktion läuft. KDW: Muss man nicht gerade bei Mathe auch viel üben? Nur vom Anschauen eines Videos alleine kann man die Polynomdivision auch noch nicht richtig anwenden, selbst wenn man das Grundprinzip verstanden hat. AG: Das ist ein guter Punkt. Das haben wir auch festgestellt. Daher haben wir unsere eigene App entwickelt, wo wir jetzt auch zusätzlich Übungsaufgaben im Bundle anbieten. KDW: Viele YouTube-Erklärvideos kreieren über eine direkte und lockere Ansprache einen angstfreien Kommunikationsraum zum Verstehen und Lernen. Das scheint auch ein zentrales Merkmal von SimpleClub-Videos. Was macht ein SimpleClubVideo aus, das gut erklärt? AG: Auf jeden Fall die Ansprache auf Augenhöhe, sodass man nicht den Eindruck hat, man kriegt gerade eine Standpauke. Der Grund, warum wir teilweise mit einer sehr jugendlichen Sprache arbeiten, liegt darin, dass wir alle paar Jahre neue Tutor/innen engagieren, die frisch aus der Schule raus sind, die alle ein super gutes Abi haben, im Studium gute Noten bekommen, und z.T. selber auch als Tutor/innen tätig sind, um so nah wie möglich an der jetzigen Zielgruppe zu sein. Und denen sagen wir, schreibt oder erklärt das Video so, als würdet ihr es einer Freundin/einem Freund über das Telefon erklären. Und dadurch kommt diese Jugendsprache zustande. Wir machen das nicht absichtlich. Und was uns eben total wichtig war, ist, die Videos locker zu gestalten, aber trotzdem die Basis professionell zu halten. Das VoiceOver und die Animation sollen qualitativ hoch gestaltet sein, sodass es Spaß macht, das Video anschauen und zuzuhören. KDW: Gibt es für Sie eine ideale Länge von einem Erklärvideo? AG: Das kommt auf das Problem der Schülerin/des Schülers an. Man könnte pauschal annehmen, fünf Minuten sind perfekt. Obwohl wir oft darüber nachgedacht haben, wie schaffen wir es, den perfekten Content herzustellen, kann man es erst dann ganz

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2.3 Bildungsfernsehen und Erklärvideos erfolgreich gestalten

genau wissen, wenn man weiß, welches Problem die Schülerin/der Schüler hat. Dann wäre es ideal, für sie/ihn ein individuelles Paket mit den Inhalten zu erstellen, welche in dem Moment gebraucht werden. Und dies dann in passende Abschnitte einzuteilen, die so kleinteilig wie möglich sind, weil mit kleinen Steps schneller Erfolge erzielt werden. KDW: Verlinken Sie innerhalb der Videos auch nochmal Hinweise auf andere Videos, in denen die Grundlagen vermittelt werden? Also im Stil: Wenn Ihr das nicht könnt/ kennt, schaut Euch nochmal dieses Video an? AG: Genau. Das ist das ultimative Ziel, dass Rückfragen abgedeckt sind. Dass das Lernen keine Einbahnstraße ist. Das ist wie in der Schule. Kein/e Lehrer/in kann behaupten, dass sie/er 30 Schüler/innen genau in die Augen schauen kann und weiß wo die/ der Einzelne gerade abgeholt werden muss. Das ist ein grundlegendes Problem, das bisher niemand gelöst hat. Aber wir haben das Ziel, genau das anzugehen. KDW: Es gibt bestimmte Fächer, die für Sie passen, wie z. B. Mathematik. Wenn Sie die Sprachen weglassen, sind sie ja bald durch mit dem Stoff oder? AG: Wir sind bei vielen Fächern wirklich schon so weit, dass man sagen kann, wenn wir jetzt noch kleinteiliger produzieren hat das keinen großen Mehrwert. Deshalb verfolgen wir zwei Ziele. Das erste Ziel ist, dass wir das, was wir in Deutschland aufgebaut haben, auch in anderen Ländern aufbauen. Gleichzeitig wollen wir das Portfolio an Inhalten erweitern und die Technologie dahinter verbessern, sodass wir noch besser beim Lernen und Üben unterstützen können. KDW: Es gibt ja die Angstperspektive unter den Skeptikern, die heißt: »Video kills the Lehrkraft«. Wie sehen Sie das? AG: Viele Leute glauben, dass wir Schule ersetzen wollen. Wollen wir aber auf gar keinen Fall. Wir sehen uns nicht als Ersatz für Schule oder ein neues Schulsystem. Sondern immer als Tool, welches man in jedem System einsetzen kann.

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Erklärvideos auf die leise Art: das Format musstewissen auf FUNK Nicole Valenzuela (NV) im Gespräch mit Karsten D. Wolf (KDW) Nicole Valenzuela entwickelte als Redakteurin von 2017 bis 2018 zusammen mit Volkert Ebert das Format »musstewissen«22 für FUNK, das gemeinsame Internetangebot von ARD und ZDF für Jugendliche ab 14 Jahren und junge Erwachsene. Sie stand selbst für die Mathe-Erklärvideos von »musstewissen« vor der Kamera. Die Anfang 2017 gestarteten Angebote von musstewissen erreichen allerdings nicht die Popularität der SimpleClub Konkurrenz. Das Angebot wurde Anfang 2019 eingestellt.

KDW: Bei musstewissen erklären Sie in verschiedenen Unterkanälen klassische Schulfächer wie z. B. Mathematik, Chemie oder Geschichte auf YouTube – was ist dabei der Unterschied zum klassischen öffentlich-rechtlichen Bildungsfernsehen wie z. B. Telekolleg oder BR alpha? NV: Unser Hauptaugenmerk bei FUNK ist zunächst einmal die junge Zielgruppe, welche wir über das Internet erreichen wollen. KDW: Wie entscheiden Sie, welche Inhalte erklärt werden. Orientieren Sie sich da an curricularen Vorgaben der Kultusministerien und arbeiten diese systematisch ab? NV: Wir haben am Anfang tatsächlich alle Bildungspläne der einzelnen Bundesländer angeschaut. Da wir aber nicht nur für ein Bundesland senden können, haben wir versucht, die großen übergeordneten Themen zu identifizieren. In Mathe spielt z. B. der Satz vom Pythagoras in allen Bundesländern eine Rolle und steht in jedem Lehrplan. Das ist aber nicht bei allen Fächern so einfach. So finden sich in den Lehr- oder Bildungsplänen zum Fach Geschichte zwar mehr oder weniger vergleichbare Kompetenzbereiche, die tatsächliche Themenauswahl z. B. zum Thema »Französische Revolution« weichen aber im Detail doch stark voneinander ab. Wir sind dann dazu übergegangen, Themenbereiche zu identifizieren, welche mit den größeren Kompetenzbereichen in Geschichte zusammenhängen. Gerade in Geschichte sind wir relativ schnell auch chronologisch geworden, weil das so gut funktioniert und gepasst hat. Aber auch in einer Chronologie hat man viel Spielraum, sodass wir in den Redaktionskonferenzen mit der Produktionsfirma und den jungen Redakteur/innen immer wieder entscheiden müssen, wie viele Themen wir uns herauspicken können, um diese zu vertiefen. Wir haben dann aber auch gemerkt, dass wir zwischendurch ganz schön viel weglassen mussten. Außerdem hören wir auch auf unser Publikum. In den Schulferien schauen die Schüler/innen weniger Erklärvideos, sodass wir uns gefragt haben: »Was können wir machen, dass unsere Videos trotzdem geguckt werden?« Aus den Kommentaren wussten wir, dass die Antike im Fach Geschichte teilweise nur eine kleine Rolle spielt bzw. nur in unteren Klassenstufen thematisiert wird, die Schüler/innen diese aber auch mit 14+ Jahren span22 Musstewissen-Chemie: https://www.youtube.com/channel/UC146qqkUMTrn4nfSSOTNwiA

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nend finden. Deshalb haben wir um das Thema Antike für die Ferien eine sogenannte Sommer-Akademie entwickelt. Dieses Angebot wurde auch sehr positiv angenommen und in den Kommentaren extrem gefeiert. Das ist bei Mathe ähnlich. Obwohl unsere Zielgruppe in der 8. Klasse anfängt, haben wir gemerkt, dass bei ganz vielen Videos bei den Jugendlichen die Basics fehlen. Wenn wir z. B. über Gleichungen sprechen, muss man das Kommutativgesetz verstanden haben. Und dann haben wir einige Inhalte produziert, die eigentlich Grundlagen aus der Grundschule sind, die aber auch von unserer Zielgruppe zur Wiederholung gut angenommen werden. KDW: Bleiben wir mal bei der Zielgruppe, den 14+-Jährigen. Sind das Bildungsnerds und Streber, die sich nachmittags noch zusätzlich etwas zur Schule anschauen, oder erreichen Sie auch Personen, denen es besonders hilft, weil ihre Eltern sich nicht um Nachhilfe kümmern können oder nicht die Ressourcen haben, und Ihr Angebot eine zusätzliche hilfreiche Ressource ist, die zu mehr Bildungschancen führt? NV: Genau wissen wir es nicht, weil wir keine Medienforschung dazu gemacht haben. Ich kann nur einen Eindruck schildern, der sich aus den sehr unterschiedlichen Kommentaren speist. Auf unserem Deutschkanal bekommen wir viele Rückmeldungen von Menschen, die ihr Deutschlernen mit unseren Angeboten unterstützen. Das scheinen eher Schüler/innen zu sein, die sich Nachhilfe nicht leisten können oder keine Nachhilfe bekommen. Und sicherlich setzt das Suchen auf YouTube nach hilfreichen Erklärvideos auch eine gewissen Lern- und Medienkompetenz voraus. In den Kommentaren zum Thema Geschichte dominieren klar die Geschichts-Interessierten. Für unsere Herangehensweise als Redaktion war es aber immer wichtig, auf einem mittleren Schwierigkeits-Niveau einzusteigen. Die Bundesländer haben ja auch zwei oder mehr Schulformen. Als ich selbst Mathe erklärt habe, habe ich immer an eine Realschülerin/einen Realschüler gedacht und für eine Gymnasiastin/einen Gymnasiasten sind Basics auch nicht schlecht. Unser Anspruch ist es nicht, Videos zu produzieren, um das Abitur zu bestehen, wobei wir immer wieder Rückmeldung bekommen, dass auch Menschen vor dem Abitur das gucken. KDW: Sie stellen Ihre Erklärvideos auf YouTube bereit, dort, wo sich Ihre Zielgruppe bereits befindet. Hat YouTube aber nicht ein immenses Ablenkungspotenzial? Statt musstewissen-Mathe könnte man ja die/den Lieblings-YouTuber/in anschauen? NV: Konzentration ist beim Lernen immer wichtig, aber YouTube hat auch Vorteile gegenüber der Klassensituation. Da kann ich bei der Lehrerin nicht »Pause« drücken, wenn mein Mitschüler mich anspricht, mir einen Zettel schreibt oder ich auf dem Handy eine WhatsApp Nachricht erhalte. Unsere Videos kann ich mir anschauen, wann ich will. Musstewissen soll insbesondere für die Verzweifelten sein, die am Abend vor

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einer Klassenarbeit nochmal eine Erklärung brauchen oder die bei den Hausaufgaben hängenbleiben und sagen »Ich weiß überhaupt nicht mehr weiter«. KDW: Wie grenzt sich denn musstewissen ab vom klassischen Bildungsfernsehen auf der einen Seite, also FWU-produzierten Lehrfilmen oder BR alpha, und auf der anderen Seite von YouTube-Tutorial-Stars, wie zum Beispiel SimpleClub? NV: Die erste Frage war für uns nicht »Wie können wir uns abgrenzen?«, sondern »Was würden wir gut finden?«. Wenn man die Angebote von SimpleClub-Mathe anschaut, dann ist das sehr männlich, das ist sehr laut. Wir wollten dagegen eher ruhigere Erklärvideos für die Leisen produzieren, die sich im Unterricht nicht trauen zu fragen und zu sagen »Ich habe es nicht verstanden«. Uns war es ebenfalls wichtig, Naturwissenschaften auch mit Frauen abzubilden. Für Chemie z. B. hatten wir lange Zeit Mai Thi Nguyen-Kim und auch Mathe haben wir mit einer Frau gemacht. Und last, but not least können wir als öffentlich-rechtliches Angebot tiefer recherchieren und haben Fakten-Checker, das ist ein Qualitätsmerkmal von uns. Aber trotz redaktioneller Abnahme und Fakten-Check passieren dann doch mal Fehler. Neulich ist mir in einem Geschichtsvideo das Bild von einem falschen Philosophen durchgerutscht, darüber habe ich mich sehr geärgert. KDW: Es gibt ja mittlerweile eine große Bandbreite an Erklärvideos insbesondere auf YouTube. Was macht für Sie denn eigentlich ein gutes Erklärvideo aus? NV: Für mich macht ein gutes Erklärvideo aus, dass ich tatsächlich was mitnehme. Darüber hinaus macht ein gutes Erklärvideo für mich aus, dass ich nicht die ganze Zeit das Gefühl habe, ich werde erschlagen vom Wissen, von den Inhalten. Wir wollen Wissen auf Augenhöhe vermitteln und nicht von oben herab. KDW: In meinen Videoanalysen zeigt sich deutlich: Ein Grundprinzip von erfolgreichen YouTube-Tutorials ist es, eine angstfreie Situation zu erzeugen, um überhaupt Selbstvertrauen für das Lernen zu schaffen. Dabei geht es auch immer darum, die inneren Verstehensschranken, also negative Selbstkonzepte z. B. zu Mathe, ein bisschen abzubauen. Die Tutorials von SimpleClub z. B. können den Leuten, die eigentlich denken, dass sie Mathe nicht können, glaubhaft vermitteln, dass es doch gar nicht so schwer ist. NV: Genau, das machen die total gut, oder auch der Daniel Jung. Und es gibt nicht nur diese Mathe-Angst. Es gibt auch viele, die haben Angst vor Geschichte. KDW: Eine Hypothese von mir lautet, dass Erklärvideos auf YouTube deshalb so erfolgreich sind, weil die Rezipierenden sich aus einer Vielzahl von Angeboten die für sie passenden Erklärvideos auswählen können, das nenne ich »selbstselektierende Adressatenschaft«. Es bedarf also möglichst unterschiedlicher Erklärvideos zu einem

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2.3 Bildungsfernsehen und Erklärvideos erfolgreich gestalten

Thema, damit ich je nach eigenem Vorwissen und individueller Präferenz für die Art und Weise des Erklärens mir ein passendes Video aussuchen kann. NV: Ich glaube das ist ganz wichtig: Man kann sich seine Lehrerin/seinen Lehrer auf YouTube aussuchen. Wenn Presseanfragen kommen, wird oft gefragt: »Was machen sie denn besser als die Lehrer?« Ich glaube aber nicht, dass wir es besser machen als Lehrer/ innen. Wir machen es anders, weil wir auf YouTube bzw. bei der Produktion von Erklärvideos allgemein ganz andere Chancen und Möglichkeiten als Lehrer/innen haben. KDW: Unterscheidet sich denn die Art des Erklärens auf musstewissen so stark vom Lehrervortrag in der Schule? NV: Tatsächlich machen wir ganz oft auch den verhassten klassischen Frontalunterricht, das müssen wir ehrlich sagen. Allerdings haben wir grafisch ganz andere Möglichkeiten zur Visualisierung als die Lehrerin/der Lehrer in der Schule. Ich finde das aber auch erstaunlich, mit welch wenigen Mitteln man gute Erklärungen machen kann. Zum Beispiel Daniel Jung, der ja eigentlich nur vor seiner Tafel steht, aber die Mathe-Themen wirklich gut erklärt. KDW: Das Format musstewissen ist öffentlich-rechtlich finanziert. Müsste man musstewissen nicht als offene Bildungsressource anbieten, als OER? Dann könnten Lehrende und Lernende aus dem Videomaterial neue Erklärangebote basteln. NV: Es gibt durchaus Überlegungen, das so wie bei der BBC unter eine Creative-Commons-Lizenz zu stellen. Wir wissen durch Kommentare, dass sich die Schüler/innen Screenshots machen oder sogar komplett transkribieren. Da für unsere Videos ja alle Sprechtexte verschriftlicht sind, könnte man die zur Verfügung stellen, schließlich gehört das den Gebührenzahlerinnen und -zahlern. KDW: Sie sind bewusst auf YouTube. Aber warum sind Sie denn nicht auch noch zusätzlich in der Mediathek zu finden? Entsprechen Sie nicht den Qualitätskriterien von ARD und ZDF? NV: Nein, aber auch eine Mediathekseinspeisung erfordert ja einen Aufwand, und wir haben es auch bei einem anderen Format ausprobiert, doch die Abrufzahlen sind so marginal, weil wir da einfach nicht gefunden werden. Und auf einer Mediathek senden wir ohne Rückkanal, da kann man keine Nachfragen stellen. Und da wir musstewissen für YouTube mit den Kommentaren konzeptionieren, müssten wir die Videos noch einmal etwas anders für die Mediathek produzieren. Das wäre zu viel Mehraufwand.

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3 Informelles Lernen mit Erklärvideos aus wissenschaftlicher Sicht

3 Informelles Lernen mit Erklärvideos aus wissenschaftlicher Sicht Erklärvideos werden nicht nur für schulische Lerninhalte produziert, sondern erschließen nahezu alle möglichen Interessensgebiete für das informelle Lernen. In den folgenden Beiträgen analysiert Karsten D. Wolf, wie Erklärvideos als autodidaktische Lernressource genutzt werden können (Kap. 3.1). Katrin Valentin beschreibt verschiedene Formen der Rezeption von Erklärvideos (Kap 3.2). In Interviews mit zwei führenden internationalen Wissenschaftler/innen, Mizuko Ito (University of California Irvine, USA) und Neil Selwyn (Monash University, Australien), nähern wir uns dem Phänomen der Erklärvideos aus einer kritischen Perspektive (Kap. 3.3).

3.1 Erklärvideos als autodidaktische Lernressource Karsten D. Wolf

Erklärvideos als audiovisuelle Enzyklopädie Enzyklopädien sind besonders umfangreiche – im Allgemeinen verschriftlichte – Sammlungen des Wissens, also Nachschlagewerke. Die 2001 gegründete Wikipedia ist die größte Internet-Enzyklopädie mit ca. 50 Millionen Artikeln in fast 300 Sprachen – und sie wächst täglich weiter. Sie hat faktisch die gedruckten Universalenzyklopädien wie den Brockhaus oder die Encyclopædia Britannica (mit jeweils ca. 300.000 Einträgen) ersetzt. Auch das Angebot von audiovisuellen enzyklopädischen Angeboten hat sich stark vergrößert. Waren es zunächst wenige Animationen und Videos in multimedialen Enzyklopädien, wie die von Microsoft von 1993 bis 2009 als CD und DVD herausgegebene Microsoft Encarta, so hat sich das Angebot über frei verfügbare (kürzere) Lehrfilme in Mediatheken erweitert. Aber erst mit YouTube erweiterte sich das Angebot von Erklärvideos seit Mitte der 2000er-Jahre drastisch und mit enormer Themenvielfalt. Ähnlich der Wikipedia differenzierte sich das Angebot in hohem Maße thematisch aus. Nahezu alles, was man wissen will, kann man sich im doppelten Wortsinn anschaulich erklären lassen. Im Gegensatz zu den Einträgen in einer Enzyklopädie geht es bei Erklärvideos jedoch nicht um die verbindliche Einigung auf eine Darstellung durch eine Redaktion oder ein Autor/innenkollektiv, sondern um vielfältige, alternative, sich teils überschneidende oder auch widersprechende Mengen von Videos. YouTube ist nur im Sinne einer audiovisuellen, oralen, zeigenden und hochpluralisierten Erklärkultur als Enzyklopädie zu verstehen. Die Eigenheit des Videos als Textform ist eben nicht die

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3.1 Erklärvideos als autodidaktische Lernressource

kollaborative Produktion eines Eintrages wie in einem Wiki, welche zwar in Form von Erklärvideo-Mashups denkbar wäre, sich in der Praxis aber bisher nicht durchgesetzt hat. In einer 2011 bis 2012 durchgeführten, nicht-repräsentativen Befragung zur Nutzung, Produktion und Publikation von Onlinevideos mit 249 Schülerinnen und Schülern in den Klassenstufen 8, 10 und 13 verschiedener Schulformen in Bremen gaben über 60% der Befragten an, YouTube-Erklärvideos zur Vorbereitung für Klausuren, Präsentationen und Referate zu nutzen (Rummler/Wolf 2012). Laut der repräsentativen JIM Studie 2018 (mpfs 2018: 49) nutzen 20% der Jugendlichen von 12 bis 19 mehrmals die Woche oder häufiger Erklärvideos für Schulthemen und 19% für andere Themen. Dies zeigt, dass YouTube bei weitem kein reines Unterhaltungsportal ist, sondern von Jugendlichen auch als audiovisuelle Enzyklopädie genutzt wird.

Erklärvideos als adressat/innengerechtes Bildungsfernsehen Während das Bildungsfernsehen sein Angebot für eine breitere Zielgruppe gestalten muss, entfällt diese Notwendigkeit für viele der Erklärvideoproduzent/innen. Die damit verbundene hohe Vielfalt der Erklärvideos erhöht deren Zugänglichkeit durch einen Akt der Selbstselektion. Ausgangspunkt für die Nutzung von YouTube als Erklärmedium ist ein genuines Interesse am Thema bzw. ein subjektiv bedeutsames und zu lösendes Problem im Sinne eines expansiven Lernprozesses (Holzkamp 2004) bzw. im Kontext von sogenannten Lernprojekten, wie sie Alan Tough bereits 1971 beschrieb: abgeschlossene Prozesse informellen und selbstorganisierten Lernens mit einem Thema. Die Verstetigung solcher informellen Lernprozesse zu einer hobbyartigen Beschäftigung beschreiben Ito et al. (2008) unter dem Label »Geeking out« als interessenbasiertes Lernen. Nicht das Video-Angebot – welches auf YouTube nahezu unerschöpflich ist – stellt den Ausgangspunkt der Nutzung dar, sondern die jeweils subjektiv bedeutsame Frage nach dem »Wie geht etwas?« bzw. der Grundfragen des erklärenden (bildenden?) Kinderfernsehens »Wieso? Weshalb? Warum?«. Zwar stellen auch hier die Produzierenden der Erklärvideos stellvertretend die Fragen, sie bestimmen aber – abgesehen von Kanälen mit großer Abonnent/innen-Anzahl – nicht mehr die Agenda des zu Erklärenden, da nahezu alles erklärt wird: die Rezipient/innen brauchen zunächst erstmal eine eigene Frage, denn sie entscheiden über ihre Suche und ihr Auswahlverhalten in Ergebnis- und Vorschlagslisten über das Gesehene. Mehr noch, ihre kollektive Selektion formt die Vorschläge für die zukünftigen Videosuchen anderer Benutzerinnen und Benutzer. Die Suchbegriffe werden zum »Sender« der alten Nomenklatura: YouTube-Nutzer/innen schauen kein ARD oder ZDF, sie schauen für sie persönlich relevante Suchbegriffe wie z. B. »Longboard Tricks« oder »Integrale berechnen«. Allerdings ist aus der Forschung zur digitalen Bildungsspaltung bekannt, dass das Fernsehformat an sich zunächst wenig vermittelnde Wirkung hat, und dass profes-

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3 Informelles Lernen mit Erklärvideos aus wissenschaftlicher Sicht

sionelle Produzent/innen mit bildungsfernen Rezipient/innen allgemein wenig gemeinsam haben (Iske/Klein/Kutscher 2004; Kutscher/Otto 2014). Die im Gegensatz zu Fernsehproduktionen auf YouTube nahezu immer verfügbare große Anzahl alternativer Erklärvideos ist deshalb nicht nur im Sinne einer dadurch verbesserten möglichen Passung zu individuellen Erklärstilpräferenzen oder den vorhandenen Vorkenntnissen wichtig. Es ist anzunehmen, dass bei einem größeren und diversen Angebot auch eine höhere Passung zum jeweils eigenen Bildungshabitus gelingen kann und dies zur Überwindung von Bildungsspaltung beitragen könnte. Zu fragen ist, ob durch eine zunächst überflüssig erscheinende Parallelproduktion von vielen, sich thematisch überschneidenden Erklärvideos überhaupt erst die individuelle Zugänglichkeit für breite Bildungsschichten entsteht.

Literatur Holzkamp, K. (2004): Wider den Lehr-Lern-Kurzschluß. Interview zum Thema »Lernen« (zuerst erschienen in Rolf, Arnold (Hrsg.) (1996): Lebendiges Lernen. Hohengehren). In: Faulstich, P./Ludwig, J. (Hrsg.): Expansives Lernen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 29–38. Iske, S./Klein, A./Kutscher, N. (2004): Digitale Ungleichheit und formaler Bildungshintergrund – Ergebnisse einer empirischen Untersuchung über Nutzungsdifferenzen von Jugendlichen im Internet. Online verfügbar unter http://www.kib-bielefeld.de/externelinks2005/digitaleungleichheit. pdf [Letzter Zugriff: 21.01.2020]. Ito, M./Horst, H. A./Bittanti, M./Boyd, D./Herr-Stephenson, B./Lange, P. G./Pascoe, C. J./Robinson, L. (2008): Living and learning with new media: Summary of Findings from the Digital Youth Project. Chicago, IL: Mac Arthur Foundation. Kutscher, N./Otto, H.-U. (2014): Digitale Ungleichheit – Implikationen für die Betrachtung medialer Jugendkulturen. Überarbeitete Fassung. In: Hugger, K.-U. (Hrsg.): Digitale Jugendkulturen, 2. überarbeitete Auflage. Wiesbaden: Springer VS, S. 283–298. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2018): JIM 2017. Jugend, Information, (Multi-) Media Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Online verfügbar unter: https://www.mpfs.de/studien/jim-studie/2018/ [Letzter Zugriff: 17.12.2019]. Rummler, K./Wolf, K. D. (2012). Lernen mit geteilten Videos: aktuelle Ergebnisse zur Nutzung, Produktion und Publikation von online-Videos durch Jugendliche. In: Sützl, W./Stalder, F./Maier, R./Hug, T. (Hrsg.): Media, Knowledge and Education: Cultures and Ethics of Sharing/Medien – Wissen – Bildung: Kulturen und Ethiken des Teilens. Innsbruck university press, S. 253–266. Tough, A. (1971): The adults’ learning projects: A fresh approach to theory and practice in adult education. Toronto: Ontario Institute for Studies in Education.

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3.2 Erklärvideos auf YouTube: Was machen die Rezipierenden aus den Videos?

3.2 Erklärvideos auf YouTube: Was machen die Rezipierenden aus den Videos? Katrin Valentin Dr. Katrin Valentin arbeitet am Lehrstuhl für Schulpädagogik mit Schwerpunkt Mittelschule an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie beschäftigt sich seit Mitte der 2010er-Jahre mit dem Phänomen Erklärvideos und Videotutorials im Internet, die in der Hochschullehre sowie in der politischen Bildung eingesetzt werden.

Videotutorials werden bei Internutzerinnen und -nutzern immer beliebter (Bitkom 2017). So manche Schüler/innen greifen eher nach dem Smartphone als nach dem Mathebuch, um sich einen Rechenweg noch mal zu vergegenwärtigen. Unzählbare Schminktipps begleiten viele Heranwachsende bei der Selbstgestaltung und mannigfaltige Reparaturanleitungen erleichtern nicht wenigen Erwachsenen den Alltag. Auch in der Schule (Valentin 2015) und an Hochschulen (Knaus/Valentin 2017) werden immer häufiger Tutorials in Lehr-Lernprozesse integriert. Jede Nutzerin und jeder Nutzer hat dabei eigene Vorlieben und verfolgt unterschiedliche Ziele, wenn sie/er ein Video anschaut. In einer qualitativen Studie an der Uni Erlangen-Nürnberg wurde untersucht, welche Dimensionen bei diesem Aneignungsverhalten eine Rolle spielen.23 Die Fragestellung lautete: »Was machen die Rezipierenden aus dem Handlungsfeld Videotutorials?« Hierzu wurden 14 telefonische Leitfadeninterviews durchgeführt.24 In den Gesprächen wurden die Personen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren zu ihrem konkreten Erleben befragt. In vier Nachfrageblöcken konnten ausgewählte Aspekte aufgegriffen bzw. angesprochen werden: Präferenzen (z. B. in Bezug auf Themen, Anlässe und Qualitätsansprüche), Setting der Nutzung (z. B. Plattform, Kommerzialität, Häufigkeit), Eigenaktivität (Kommentierung, Eigenproduktion) und mögliche soziale Effekte (z. B. Austausch mit Freunden und Familien). Es ging im Wesentlichen darum, die subjektiven Bedeutungszuweisungen der User/innen in Erfahrung zu bringen und herauszuarbeiten. Die vier Dimensionen, die dem Aneignungsverhalten der befragten Personen zugrunde liegen, helfen dabei zu verstehen, wie sich das Phänomen »Videotutorials« entwickelt. Besonders spannend ist dabei, dass sie auf mögliche gesellschaftliche Folgen und weitere Entwicklungen bezüglich des »Lernens mit Videotutorials« aufmerksam machen.

23 Dieser Beitrag stellt eine kurze Zusammenfassung folgender Publikation dar: Valentin, Katrin (2018): Subjektorientierte Erforschung des Aneignungsverhaltens von Rezipierenden von Video-Tutorials, in: Journal für Bildungsforschung Online, 10(1), S. 52–69. 24 Die Interviews wurden von Johanna Piehler B.A. und Dr. Katrin Valentin geführt.

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3 Informelles Lernen mit Erklärvideos aus wissenschaftlicher Sicht

Bedienungsanleitung fürs Leben – pädagogische Dimension Zentral für fast alle Befragten ist die Bearbeitung eines konkreten Problems, für das eine Lösung gefunden werden soll. Das heißt, die Rezipient/innen begeben sich auf einen selbstinitiierten Lernprozess. Sie machen die Tutorials zu einer Art »Bedienungsanleitung fürs Leben«. Diese Bezeichnung ist deshalb so treffend, weil die Videos in der Regel kurze Erklärungen nach einem einfachen didaktischen Muster darstellen, ähnlich einer Anleitung für eine Gerätschaft oder ein Softwareprodukt. Die Autor/ innen der Videos erklären instruktiv, wie etwas zu bewerkstelligen ist. Meistens geht es bei Tutorials nicht um komplexe Erkenntnis- und Bildungsprozesse, sondern um prägnante Impulse für Tätigkeiten oder Wissensvermittlung (Wolf 2015b; Valentin 2015). Dies könnte folgenreich für informelles und non-formales Lernen sein. Denn bei Tutorials handelt es sich um Anleitungen, welche es in der Regel weder zum Ziel haben, ein Problembewusstsein bei Rezipierenden zu fördern, noch über die Komplexität von Sachzusammenhängen fundiert aufzuklären. In diesem Stil werden allerdings auch Themen bearbeitet, bei welchen aus pädagogischer Sicht durchaus derartige Facetten in einem Lernprozess zu wünschen wären (z. B. »Weimarer Republik« oder »Tipps zum schwanger werden«). Weitere Studien sind erforderlich, um in Erfahrung zu bringen, ob sich durch die Rezeption von Tutorials auch ein verkürztes Verständnis von Sachzusammenhängen bei den Rezipierenden einstellt. Es könnte sein, dass eine häufige Nutzung von Tutorials einer Fragmentierung von Wissen Vorschub leistet – es könnte aber auch sein, dass die User/innen die Tutorials nur zusätzlich zu anderen Quellen nutzen und sich mögliche Bildungsprozesse nur im Gesamten beurteilen lassen.

Soziales Netz – (para-)soziale Dimension Videotutorials werden zu einem Teil des persönlichen sozialen Netzes: Man holt sich Orientierung, schaut sich mit Freudinnen und Freunden ein Tutorial an, baut parasoziale Beziehungen zu Darstellenden auf usw. Die Nutzung von Tutorials, um sich Unterstützung für konkrete Alltagsprobleme zu beschaffen, verlagert eine wichtige Funktion, welche normalerweise dem sozialen Nahfeld der Rezipierenden zukommt, in die virtuelle Lebenswelt. Das Handlungsfeld Videotutorials kann auf diesem Wege zu einer wichtigen Sozialisationsinstanz werden und verfügt damit über die Kernelemente eines sozialen Netzes im Sinne der Gemeindepsychologie (Day 2014). Sollte das Ausmaß der Nutzung von Tutorials weiter zunehmen, so könnte dies zu Auswirkungen auf die Bindekraft von Beziehungen zu Personen aus dem nahen Umfeld führen. Denn es ist denkbar, dass die Weitergabe von Fertigkeiten und Fähigkeiten, welche bisher vor allem im sozialen Nahfeld (Familie, Peers) erfolgte, durch eine häufige Nutzung von Tutorials an Bedeutung verliert. Durch eine abnehmende Abhängigkeit von Personen aus dem sozialen Umfeld könnten diese an struktureller

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3.2 Erklärvideos auf YouTube: Was machen die Rezipierenden aus den Videos?

Bedeutung verlieren. Es ist zum einen zu untersuchen, ob dies überhaupt der Fall ist und wenn ja, in welcher Weise damit umgegangen wird. Analog dazu könnte die Verschiebung von informellen Lehr-Lernprozessen in den digitalen Raum auch zu einer weiteren Marginalisierung von Jugendverbänden führen (Valentin 2016). Denn diese könnten ein Kernelement ihrer Angebotsstruktur – das Arrangieren non-formaler Bildungsprozesse – nicht mehr in dem Maße exklusiv anbieten. Zu vermuten ist jedoch, dass es zu einer weiteren Ausdifferenzierung von Teilen von Lehr-Lernprozessen kommt. Jugendverbände und Jugendarbeit sind dann dazu aufgerufen, eine Anpassungsleistung zu erbringen und das Handlungsfeld Videotutorials in ihre Handlungspraxen zu integrieren.

Marktplatz – ökonomische Dimension Zu einem Marktplatz wird das Handlungsfeld Videotutorials durch das Nutzungsverhalten der Rezipierenden in mindestens zweierlei Hinsicht. Zum einen werden Tutorials von den Rezipierenden dazu genutzt, sich im Vorfeld einer möglichen Kaufentscheidung über das Produkt zu informieren. Wie auf einem Marktplatz werden verschiedene Meinungen angehört, ähnliche Produkte in Augenschein genommen und kaufrelevante Entscheidungen abgewogen. Die befragten Personen schauen sich z. B. kommerzielle Tutorials an, um sich über ein neues Game oder eine neue Software zu informieren oder sie suchen nicht-kommerzielle Videos, um eine unabhängige Meinung einzuholen. Zum anderen werden die Rezipient/innen durch ihr Nutzungsverhalten zu einer potenziellen Kundin/einem potenziellen Kunden von merkantilen Unternehmen. Denn das Handlungsfeld Videotutorials ist in mehrerlei Hinsicht von kommerziellen Interessen durchdrungen und das Reflexions- und Informationsniveau der Rezipierenden in dieser Hinsicht relativ gering ausgeprägt. Das heißt, die zum Teil naive Haltung gegenüber im Internet präsentierten Tutorials in Bezug auf die Unterscheidung von kommerziellen und nicht-kommerziellen Interessen, aber auch den auf dem Google-Algorithmus basierenden Rankings von Suchergebnissen, macht es für Unternehmen erst lukrativ, sich auf dem Weg von Tutorials um Kunden zu bemühen. Die Integration von Tutorials in Kaufprozesse und die Verquickung von werblichen Einflüssen mit dem Handlungsfeld konnten bisher nur explorativ aufgezeigt werden. Vor allem in Bezug auf medienpädagogische Maßnahmen ist es dringend erforderlich, noch weiter Licht in das Dickicht der Verflechtungen zwischen kommerziellen Akteur/innen, Laienproduzierenden und Rezipierenden zu bringen. Murphy, Phillips und Pollock (2014) widmeten sich diesem Thema im Bereich Softwareentwicklung. In ihrem Werk »Citizenship of DIY«, welches sich den Bürgerrechten bei der Erstellung von Tutorials und Ähnlichem widmet, zeigen sie auf, dass bestimmte Global Player mittelbar davon profitieren, wenn durch die Erstellung von immer mehr Do-It-Yourself-Angeboten neue User/innen an das Internet gebunden

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werden (Murphy/Phillips/Pollock 2014: 252). Google erzielt z. B. durch das Schalten von Werbung höhere Gewinne und Apple verkauft mehr Endgeräte. Vor diesem Hintergrund fördern diese Unternehmen die DIY-Kultur (insbesondere das Programmieren von Software, aber auch anderes). Die Gefahr, auf die Murphy, Philipps und Pollock verweisen, besteht darin, dass dieses Engagement umgehend beendet werden könnte, sobald es nicht mehr profitabel erscheint. Die entsprechenden Dienste (YouTube als meistgenutzte Plattform von Tutorials gehört z. B. Google) könnten kostenpflichtig oder einfach nicht mehr bereitgestellt werden.

Amüsement – ästhetische Dimension Tutorials anzuschauen macht Spaß. Diese letzte Dimension nimmt in den Leitfadeninterviews nur einen geringen Raum ein, darf jedoch nicht aus dem Blick geraten. Die Rezipierenden machen die Videotutorials zu einem Amüsement, einem unterhaltenden Zeitvertreib. Es kommt sogar vor, dass Personen Videos einfach nur zum Spaß anschauen, ohne dass eine konkrete Problemstellung dabei im Vordergrund steht. Man denke dabei z. B. an die vielen Life-Hack-Tutorials, bei denen Koffer sehr findig gepackt oder aus Haushaltsgegenständen praktische Alltagshilfen gebastelt werden. Aber auch das Erscheinungsbild einer erklärenden Person, die untermalende Musik oder die Geschmeidigkeit eines vorgeführten Skateboardtricks können ästhetisch erfreuen. Die Berücksichtigung dieser Dimension lässt Lehren auch als ästhetische Praxis in den Blick rücken.25 Es sollte untersucht werden, inwiefern das Format Videotutorial als Ausdruck kultureller Bildung zu verstehen ist. Insbesondere der Rolle des Humors sollte dabei nachgegangen werden. Möglicherweise kann auf diesem Wege auch aufgedeckt werden, warum es zeitgleich so zahlreiche Formen der Bearbeitung von gleichen Themen gibt. Wolf (2015a: 8) stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass es hunderte deutschsprachige Erklärfilme zum Thema Integralrechnung mit bis zu aktuell einer Million Aufrufen gibt. Es ist denkbar, dass bisher die Rolle des Passungsverhältnisses zwischen ästhetischen Aspekten des Lehrprozesses und Vorlieben der lernenden Person unterschätzt wurde. Möglicherweise liegt in einer systematischen Berücksichtigung der ästhetischen Dimensionen von Lehr-Lernprozessen nicht nur ein Schlüssel für das Verständnis des Handlungsfelds Videotutorials, sondern auch für allgemein-didaktische Vorgänge. Videotutorials im Internet bieten hierzu ein hervorragendes Forschungs- und Experimentierfeld, da so viele Filme öffentlich zur Verfügung stehen.

25 Nebenbei bemerkt sollte bei einer Adaption von Videotutorials für formale Lehr-Lern-Arrangements die weitverbreitete Selbstironie bei der Erstellung von Tutorials nicht einfach vernachlässigt werden.

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3.3 Ist YouTube das ideale Werkzeug für interessensbasiertes Lernen?

Literatur Bitkom (Hrsg.) (2017): Nachhilfe im Netz: Steigende Nutzerzahlen für Video-Tutorials, (Pressemeldung). Online verfügbar unter: https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Nachhilfeim-Netz-Steigende-Nutzerzahlen-fuer-Video-Tutorials.html [Letzter Zugriff: 19.8.2018]. Day, P. (2014): Soziales Netz, soziales Netzwerk. In: M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie (17. Aufl.), Bern: Verlag Hans Huber, S. 1452. Knaus, T./Valentin, K. (2017): Video-Tutorials in der Hochschullehre. Hürden, Widerstände und Potentiale. In: Knaus, T./Engel, O. (Hrsg.): Wi(e)derstände. Digitaler Wandel in Bildungseinrichtungen, München: kopaed, S. 151–182. Murphy, M./Phillips D. J./Pollock, K. (2014): Doing It in the Cloud: Google, Apple, and the Shaping of DIY Culture. In: Ratto, M./Boler, M. (Hrsg.): DIY Citizenship. Cambridge/Massachusetts: The MIT Press, S. 249–257. Valentin, K. (2015): Video-Tutorials im Internet. Eine Handreichung für pädagogische Fachkräfte an Schulen und in der Kinder- und Jugendarbeit. Nürnberg. Online verfügbar unter: katrinvalentin.de/wp-content/uploads/2015/08/Handreichung-Video-Tutorials.pdf [Letzter Zugriff: 19.08.2018]. Valentin, K. (2016): Verliert die Kinder- und Jugendarbeit den Anschluss an die (digitale) Lebenswelt ihrer Zielgruppen? In: Brüggemann, M./Knaus, T./Meister, D. M. (Hrsg.): Kommunikationskulturen in digitalen Welten. Konzepte und Strategien der Medienpädagogik und Medienbildung. München: kopaed, S. 171–178. Valentin, K. (2018): Subjektorientierte Erforschung des Aneignungsverhaltens von Rezipierenden von Video-Tutorials. In: Journal für Bildungsforschung Online, 10(1), S. 52–69. Wolf, K. D. (2015a): Bildungspotenziale von Erklärvideos und Tutorials auf YouTube: Audio-Visuelle Enzyklopädie, adressatengerechtes Bildungsfernsehen, Lehr-Lern-Strategie oder partizipative Peer Education? In: merz 59, S. 30–36. Wolf, K. D. (2015b): Video-Tutorials und Erklärvideos als Gegenstand, Methode und Ziel der Medien- und Filmbildung. In Hartung, A./Ballhausen, T./Trültzsch-Wijnen, C./Barberi, A./Kaiser– Müller, K. (Hrsg.): Filmbildung im Wandel (Mediale Impulse 2), Wien: New Academic Press, S. 121–131.

3.3 Ist YouTube das ideale Werkzeug für interessensbasiertes Lernen? Mizuko Ito (MI) im Gespräch mit Karsten D. Wolf (KDW) Prof. Dr. Mizuko (Mimi) Ito arbeitet am Humanities Research Center der University of California in Irvine.26 In verschiedenen Publikationen hat sie Formen des intensiven interessensbasierten Lernens (Geeking Out) beschrieben und erforscht, wie diese Form des informellen Lernens für die berufliche und akademische Bildung genutzt werden kann (connected learning).

KDW: Sie beschreiben als Kulturanthropologin in dem Buch »Hanging Out, Hanging Around, and Geeking Out«, wie Jugendliche heute außerhalb formaler Bildungssysteme mit digitalen Medien lernen. Was verändert sich durch die neuen Medien?

26 Mehr Informationen unter: www.itofisher.com/mito

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3 Informelles Lernen mit Erklärvideos aus wissenschaftlicher Sicht

MI: Digitale und vernetzte Medien bieten bisher noch nie dagewesene Möglichkeiten für Menschen, sich gemeinsam mit anderen Personen, welche ihre Interessen teilen, in Spezialgebiete und Nischenthemen zu vertiefen. Bevor es vernetzte digitale Medien gab, war es häufig schwierig, eine kritische Masse von anderen Personen mit diesem speziellen Interesse oder einer hohen Expertise in der eigenen Region zu finden. Davor konnte man eigentlich als Jugendliche/r nur in weit verbreitete Interessen oder in zufälligen regionalen »Hot Spots« eine besondere Expertise entwickeln. Jugendliche in den USA mit einem Interesse an Baseball oder Basketball hatten auch vor dem Internet eigentlich fast überall genug Zugang zu einer langen intergenerationalen Geschichte des Lernens und der Expertise in diesen Feldern, unterstützt durch den Schulsport und Amateurligen. KDW: In Deutschland wären das allgemein der Fußball, während man in Kiel dagegen auch eine gute Handballerin bzw. ein guter Handballer werden konnte. MI: Exakt. Das vertiefende Erlernen relativ neuer Sportarten wie z. B. Skateboarding dagegen waren auf bestimmte Regionen wie Südkalifornien beschränkt, bis die Kosten für die Videoproduktion fielen und sich vor allem digitale Videoplattformen etablierten. Sobald die Jugendlichen aus anderen Regionen einfach auf Videos über fortgeschrittene und darüberhinausgehende Skateboardtechniken zugreifen konnten, verbreitete sich das Skateboarding auf dem hohen Level, wie wir es heute kennen, über die ganze USA und später über die ganze Welt. KDW: Ist das Lernen mit Erklärvideos ein Schlüsselelement, um auch Jugendliche mit einem niedrigen Bildungshintergrund zu erreichen? MI: Lernen mit Onlinevideos ist ein mögliches Medium, um die Lernmöglichkeiten von Jugendlichen mit einem niedrigen Bildungshintergrund zu erweitern. Allerdings nur, wenn es Unterstützungsangebote, Lerngemeinschaften und Kontexte gibt, welche das aktive Lernen unterstützen. Die Forschung macht sehr klar, dass es nicht ausreicht, freie Online-Ressourcen bereitzustellen. Junge Menschen brauchen Gründe und auch Unterstützung, um sich mit Themen auseinanderzusetzen, welche ihnen fremd sind. Die Forschungsevidenz wächst, dass es gerade die bereits hochgebildeten und ökonomisch privilegierten Lernenden sind, welche die freien und offenen Bildungsressourcen nutzen, nicht aber die weniger privilegierten Jugendlichen. Das kann man auch sehr gut nachlesen in einem Forschungsbericht von mir mit dem Titel »From Good Intentions to Real Outcomes: Equity by Design in Learning Technologies«27.

27 Download unter: https://clalliance.org/publications/good-intentions-real-outcomes-equitydesign-learning-technologies/

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3.3 Ist YouTube das ideale Werkzeug für interessensbasiertes Lernen?

KDW: Glauben Sie, dass Videoplattformen wie YouTube oder Vimeo junge Menschen ermächtigen, sich tiefgehend in ein Thema einzuarbeiten? MI: Ja, diese Plattformen bieten den jungen Leuten Ressourcen an, sich mit anderen Personen zu vernetzten, mit denen sie gemeinsame Interessen und Kenntnisse teilen. Diese Videos sind für den Prozess, Interessen zu entwickeln, wichtig. Sie dienen dem ersten Kontakt mit einem Interessensgebiet, dem Finden von Rollenmodellen mit vergleichbaren oder etwas fortgeschrittenen Fähigkeiten, bis hin dazu, selbst Expert/ innen zu werden, die ihre eigenen Videoinhalte online teilen. KDW: Welche YouTuber/innen wären Ihrer Meinung nach gute Beispiele für das »Geeking Out«-Lernen? Wäre z. B. »Super Awesome Sylvia«28 ein solches Rollenmodell? MI: Es ist sehr schwer, einzelne YouTuber/innen herauszuheben, da es einfach so viele verschiedene Interessensgebiete gibt. Ich bin mehr interessiert, wie Online-Gemeinschaften und Interessensgruppen das Lernen, hochqualitatives Schaffen und Zivilbeteiligung fördern, weniger an einzelnen herausragenden YouTube-Erklärenden. Ich habe z. B. die Anime-Music-Video-Gemeinschaft (AMV) beforscht, eine der ersten Online-Amateur-Videosubkulturen, die es lange vor YouTube gab. Anfangs teilten sie ihre Videos über eigene Webseiten oder auf AnimeMusicVideos.org, bevor sie dann auch kommerzielle Plattformen wie YouTube nutzten. Das sind großartige Beispiele für Online-Ressourcen zum »Geeking Out«. In unserem Buch »Affinity Online: How Connection and Shared Interest Fuel Learning« kann man neben der AMV-Gemeinschaft weitere Beispiele finden, die mit dem Erstellen und Teilen von Videos zu tun haben, wie z. B. die Nerdfighters (Fans der YouTuber vlogbrothers29). Ein weiteres gutes Beispiel für die intensive Nutzung von Video ist die Interessensgemeinschaft rund um Minecraft. KDW: Ist die Kommerzialisierung von YouTube Ihrer Meinung nach ein Problem für die Selbstermächtigung der Lernenden? Schließlich optimiert YouTube ja seine Videovorschläge vor allem, um mehr Werbezeit unterzubringen, nicht aber um den Menschen beim Lernen zu helfen. MI: Ich glaube, dass die kommerziellen Interessen von YouTube durchaus in Konkurrenz stehen, Lernen zu unterstützen oder gesunde Interessensgruppen zu etablieren. Egal ob es nun YouTube, Google oder Twitter sind, kommerzielle Online-Plattformen werden zunehmend geteilte öffentliche Infrastrukturen des Lernens und des zivilen Engagements. Deshalb nehmen auch die politischen Forderungen zu, diese Plattformen in die Verantwortung zu ziehen. Das finde ich sehr vernünftig. Allerdings ist das 28 Super Awesome Sylvia: https://sylviashow.com/ 29 Nerdfighters: https://nerdfighteria.info

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3 Informelles Lernen mit Erklärvideos aus wissenschaftlicher Sicht

nur eine Seite der Medaille. Wir, die wir im Bildungsbereich, im Staatsdienst oder auch in gemeinnützigen Organisationen arbeiten, müssen kreative und produktive Zugänge zu diesen kommerziellen Plattformen schaffen. Es ist wenig hilfreich, YouTube, Social Media oder Videospiele in Schulen und anderen öffentlichen Bildungsbereichen zu verbieten. Wir müssen Regelwerke und Praktiken entwickeln, welche die enormen Potenziale dieser Plattformen für das Lernen anerkennen und diese Möglichkeiten für junge Menschen aus allen Gesellschaftsschichten nutzen. Ich habe zum Beispiel eine gemeinnützige Organisation »Connected Camps« (mit)gegründet, welche die Möglichkeiten von Minecraft und Online-Video nutzt, um neue Lernchancen für junge Menschen zu schaffen30. Dieses Ziel wird auch von der Connected Learning Alliance geteilt, einem Netzwerk von Pädagog/innen, Forscher/innen und Entwickler/innen31.

3.4 Ist YouTube gut für die Bildung? Neil Selwyn (NES) im Gespräch mit Karsten D. Wolf (KDW) Prof. Dr. Neil Selwyn forscht und lehrt an der Fakultät für Erziehungswissenschaften an der University Monash in Melbourne, Australien, zur (Nicht-)Nutzung digitaler Medien in pädagogischen Kontexten. Er ist bekannt für einen kritischen Blick auf Bildungstechnologien, den er in seinen Büchern wie »Distrusting Technology« und »Is Technology Good for Education?« ausführlich erläutert.

KDW: Wenn man etwas lernen möchte und dazu einen Suchbegriff auf YouTube eingibt, produziert YouTube eine geordnete Liste von Suchresultaten. Damit entsteht ein algorithmisches Curriculum, weil die überwiegende Mehrheit der Benutzer/innen die ersten Einträge auf dieser Liste öfter anklickt als weiter unten angezeigte Videos. YouTube ist aber eine kommerzielle Plattform, die Werbeeinnahmen maximieren will und keine altruistische Lernplattform. Ist das ein Problem für das selbstermächtigende Lernen im Bildungsraum YouTube? Oder könnte man durch eine entsprechende Medienbildung den YouTube-Nutzerinnen/Nutzern beibringen, das System YouTube zu durchschauen und trotz Kommerzialisierung für die eigenen Lernziele zu nutzen? NES: Ich stimme da völlig zu, dass eines der interessantesten Dinge an YouTube die Liste der Suchresultate ist. Der Suchalgorithmus und die Sortierungsalgorithmen sind von zentraler Bedeutung. Und die Suchergebnisse sind personalisiert. Wenn man also YouTube nutzt, um etwas zu lernen oder sich zu informieren, sortieren diese Algorithmen die Suchergebnisse zu einer persönlichen Empfehlung. Und diese basiert zu einem Anteil auf dem gesamten Suchverlauf einer Person und nicht nur auf dem bildungsbezogenen Suchverlauf. Das ist aber auch schon alles, was wir über den Algorithmus wissen. Wenn man YouTube aus einer Bildungsperspektive umgestalten woll30 Connected Camps: https://connectedcamps.com 31 Connected Learning Alliance: https://clalliance.org

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3.4 Ist YouTube gut für die Bildung?

te, müsste man zwischen den Suchen zum Lernen, den Suchen zur Unterhaltung und den Suchen zu Gesundheitsthemen unterscheiden. Ein weiterer Vorschlag von mir ist, den Suchalgorithmus verständlicher zu machen. Es gibt da aktuell eine große Bewegung, die eine Offenlegung von Algorithmen und eine damit einhergehende algorithmische Transparenz fordert, damit man verstehen kann, wie die großen Suchmaschinen wirklich arbeiten. Und das wäre natürlich auch sehr nützlich, um die Möglichkeit der Nutzer/innen zu verbessern, solch ein System für ihre eigenen Ziele anstatt für die kommerziellen Ziele der Plattformen zu nutzen. Ich bin mir aber sicher, dass YouTube diese Informationen nicht transparent macht, weil die Details über die Algorithmen kommerziell sehr wertvolle Informationen darstellen. Sicherlich sind einige Nutzer/innen so versiert, dass sie die Logik hinter solch einem System durchschauen und zwischen echten bzw. hilfreichen Suchergebnissen und von Werbepartnern hervorgehobenen Suchergebnissen unterscheiden. Andere Nutzer/innen aber auch gerade nicht. Das wäre sicherlich auch eine wichtige Aufgabe für die Medienbildung, aber das würde m.E. das Problem auch nur wieder den Individuen aufbürden. Ich denke, dass es Aufgabe der Plattformen sein sollte, da transparenter zu agieren. Hier sollten YouTube, Amazon und Co. im öffentlichen Interesse agieren. YouTube ist solch ein wichtige Quelle für Bildung, solch ein wichtiges Gesundheitswerkzeug, solch eine wichtige Ressource in vielen unterschiedlichen Aspekten der Gesellschaft, warum sollte man es nicht verstaatlichen? Dann könnte man auch die Algorithmen transparenter machen. Neben Suchplatzierung und Werbevideos gibt es noch andere problematische Aspekte wie z. B. das Product Placement, das von den Firmen bezahlte Platzieren ihrer Produkte in den eigentlichen YouTube-Videos, also in die gezeigten Inhalte. KDW: Teilweise wird an YouTube-Erklärvideos kritisiert, dass der Unterhaltungswert vor den eigentlichen Erklärwert gestellt wird, um mehr Videoaufrufe zu bekommen. Glauben Sie, dass es eine eigene YouTube-Logik der Produktion von Erklärvideos gibt, welche den Bildungszielen entgegenläuft? NES: Ja, ich denke, dass es ganz sicherlich eine spezifische YouTube-Logik für die Produktion von Videoinhalten auf der Plattform gibt. Und das macht auch in bestimmter Weise Sinn, dass das Publikum sich auf YouTube an eine bestimmte Darstellungsform gewöhnt hat: Welchen Rhythmus haben die Videos, welche Geschwindigkeit, wie viel Schnitte, welche narrative Strukturen? Und schlussendlich produzieren dann auch die Macher von Erklärvideos, sagen wir, achtminütige Videos, um den Erwartungen des Publikums auf YouTube zu entsprechen. KDW: Ein neues Medium bricht also mit einer Logik, z. B. YouTube-Erklärvideos mit dem klassischen Lehrfilm, um dann wieder eine neue Logik zu etablieren?

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3 Informelles Lernen mit Erklärvideos aus wissenschaftlicher Sicht

NES: Ja, so war das schon immer. Lehrbücher folgen ja auch einem spezifischen Muster. Wenn Sie ein 60.000-Worte-Buch mit sechs Kapiteln schreiben, folgt es einer ganz bestimmten »Lehrbuch«-Logik, unabhängig vom Inhalt. So gesehen ist das nicht neu. Interessant an YouTube ist, dass es einen vernakularsprachlichen – also selbst erfundenden, YouTube-spezifischen – Stil gibt, an dem die Zuschauer/innen erkennen, dass das ein YouTube-Video ist. Der US-amerikanische Informationswissenschaftler Edward Tufte analysiert in seinem Aufsatz »The cognitive style of PowerPoint«, wie PowerPoint den Inhalt einer Präsentation in ein spezifisches Format presst. PowerPoint ist für den Einsatz in der Wirtschaft entwickelt worden, um Produkte und Ideen in Sitzungssälen zu verkaufen. Und seit wir PowerPoint im Bildungsbereich einsetzen, formt die PowerPoint-Logik mit ihren Gestaltungselementen auch die vermittelte Botschaft. Das erleben wir jetzt mit YouTube-Videos. Ich habe genau dieselbe Erfahrung bei der Produktion von Videos für meine eigenen Kurse gemacht. Uns wurde von Anfang an gesagt, dass YouTube-Videos acht Minuten lang sein sollten, sodass auch unsere eigenen Lehrvideos acht Minuten lang sein müssten, weil die Studierenden dies so von YouTube gewöhnt seien. Woher diese Acht-Minuten-Regel kam, weiß ich nicht, sie ist aber mittlerweile tief in der Kultur meiner Universität verwurzelt. Es ist interessant, wie solche Logiken und Narrative repliziert werden, nur weil wir denken, dass ein YouTube-Video genau so ist. Das ist ganz ähnlich mit TED-Vorträgen32. Wir bekommen gesagt, dass alle unsere Online-Vorträge der TED-Vortragsstruktur33 entsprechen sollen: die persönliche Geschichte, die Enthüllung am Ende und eine Länge von zwölf Minuten. James G. Mazoué nennt das die »TEDification of education« (2012:13). Interessant an YouTube ist aber nicht nur dieser spezifische YouTube-Stil einzelner Videos, sondern dass sich die erfolgreichen YouTube-Kanäle mit Millionen von Abonnent/innen schnell verpflichtet fühlen, regelmäßig neue Inhalte zu produzieren, denn ansonsten – so die Logik – verlieren sie ihr Publikum. Darunter leidet sicherlich die Qualität, wenn jede Woche ein neues Video veröffentlicht werden muss, egal, ob man irgendetwas Neues zu zeigen hat. Es entsteht also ein Druck, regelmäßig zu veröffentlichen. Und ich bin sicher, dass dasselbe auch im Bildungsbereich passiert. Wenn man beginnt, wöchentlich ein Video zu veröffentlichen, steht man schnell unter Druck, wirklich jede Woche ein Video zu präsentieren, damit die Leute nicht abschalten. Und die Erwartung an ein YouTube-Video ist ja auch, dass man etwas von seinem persönlichen Leben und Charakter mit in die Videos bringt, um diese persönliche Verbindung herzustellen, die die Zuschauer/innen erwarten. All diese verschiedenen Arten und Logiken, YouTube-Videos zu produzieren, haben ganz sicherlich eine Auswirkung darauf, wie diese gestaltet werden. Ich behaupte nicht, dass das die verfolgten Bildungsziele beschädigt, aber es lenkt 32 TED: http://ted.com 33 Leitlinien für Vorträge: https://www.ted.com/read/ted-talks-the-official-ted-guide-to-publicspeaking

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3.4 Ist YouTube gut für die Bildung?

von speziellen Arten des Lernens, des Wissens und der Kommunikation ab. Alles in allem ist YouTube sehr vielfältig – genauso, wie wir online die Wiedergeburt »langer« (Text-)Artikel mit fünf bis sechstausend Wörtern beobachten, gibt es mittlerweile auch längere Videos, auch weil die Plattformen sie zulassen. KDW: Das Schauen von Erklärvideos auf YouTube »bezahlt« man mit Werbung und den eigenen Daten. Dennoch ist das – insbesondere in den USA – deutlich günstiger, als an einer Elite-Universität zu studieren. Ist Lernen mit Videos auf YouTube eine Chance zur Ermächtigung von Personen mit niedrigen sozioökonomischen Status? Oder handelt es sich eher um eine »McDonaldisierung« der Bildung? NES: Tatsächlich ist YouTube billiger als der Besuch einer US-amerikanischen Elite-Universität. Ich glaube nicht, dass Online-Bildungsangebote speziell Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status beeinträchtigen oder auch Lernende in Ländern, in denen es wenig andere Zugänge zu den Inhalten einer solchen Elite-Bildung gibt. Ich finde besonders die Diskussion um die Idee der Sal Khan Academy34 interessant, auf der man alles an jedem Ort der Welt lernen können soll. Oder auch zu der Behauptung, dass wir mit MOOCs (Massive Open Online Courses) eine ähnliche Qualität der Bildung umsonst bekommen könnten. Gerade die Khan Academy wurde stark kritisiert, denn die Qualität der Inhalte ist oft schockierend [schlecht, Anm. d. Verf.]. Es gibt viele Fachexpert/innen, die auf inhaltliche und methodische Fehler in den Mathematik- und Geschichts-Videos von Sal Khan hinweisen. Und die ganze Idee der MOOCs scheint den Matthäus-Effekt zu replizieren: Sie helfen vor allem denen, die bereits ein hohes Bildungsniveau haben, sich noch mehr weiterzubilden, während die Personen mit einem niedrigeren formalen Bildungsniveau wenig Erfolge in den MOOCs haben. Theoretisch gibt es also Zugang zu hochwertigen (MOOC-)Inhalten, auch wenn die Zugangsmöglichkeiten verschieden sind. Der Erfolg im eigentlichen Lernprozess mit MOOCs hängt stark vom Vorwissen und Bildungsniveau ab. Insofern verstärkt dieses Angebot die Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen. Der These einer »McDonaldisierung« der Bildung würde ich nicht folgen wollen. Das sind sehr verschiedene Produkte. Wenn das Massachusetts Institute of Technology (MIT) oder Harvard ein MOOC anbieten, ist das eher eine Probierversion. Das wirkliche Produkt, welches wir kaufen, ist ein Zertifikat, und man muss sehr viel Geld für dieses Zertifikat ausgeben. Deshalb bekommt man auch keine Ermächtigung auf einem MIT-Level, ohne dass man für ein entsprechendes Diplom bezahlt, das ist etwas ganz anderes als ein paar Online-Videos anzuschauen. Diese Angebote sind also auf keinen Fall ein Ersatz. Es ist gut, dass diese Inhalte für so viele Menschen wie möglich zugänglich gemacht werden; sie sollten nur nicht gleichgesetzt werden mit dem Nutzen eines universitären Abschlusses, welcher sich aus dem akademischen Kontext eines Studiums ergibt und nicht den einzelnen Inhalten. 34 Khan Academy: http://khanacademy.org

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3 Informelles Lernen mit Erklärvideos aus wissenschaftlicher Sicht

KDW: Glauben Sie, dass YouTube & Co. jungen Menschen hilft, sich in selbstgewählte Themen sehr tief einzuarbeiten, so wie das Mimi Ito mit dem Konzept des »Geeking Out« (Kap. 3.3) beschrieben hat? Oder ist YouTube doch eher eine Echokammer oder Filterblase, in der im schlimmsten Fall Lügen und pseudo-wissenschaftliche Halbwahrheiten verbreitet werden? NES: Ich denke, beides ist zutreffend. Es hängt davon ab, wie man YouTube nutzt. Man kann hervorragend »Geeking out« betreiben, sich in Themen vertiefen und viel lernen. Und es kann ganz wunderbar sein, in den Tiefen von YouTube auf Entdeckungsreise zu gehen und überraschende Dinge zu entdecken. Das werden aber vor allem gut gebildete und neugierige Menschen machen, die sich gerne in Themen vertiefen. Dann ist YouTube wunderbar! Genauso leicht kann man aber, abhängig von den Empfehlungen des Algorithmus und den eigenen Entscheidungen, auf bestimmte Videos klicken, in einer Echokammer landen und nichts mehr dazulernen. Auch hier ist die Medienpädagogik wieder gefragt. Wenn die Nutzer/innen ermuntert werden, auch mal über den eigenen Tellerrand zu schauen und Dinge anzuklicken, die sie ansonsten vielleicht nicht anschauen oder suchen würden, der Algorithmus auch mal ein widersprüchliches Video empfehlen würde, könnte das interessante pädagogische Konsequenzen haben. Wenn ich also YouTube aus einer Bildungsperspektive umgestalten würde, wäre es eine interessante und pädagogisch produktive Idee, auch mal Videos vorzuschlagen, die der eigenen Meinung oder dem gerade angesehenen Video widersprechen, einen vielleicht sogar etwas verwirren. Trotzdem glaube ich nicht, dass YouTube jemanden, der nicht wissbegierig ist, plötzlich zu einem Geek35 macht. KDW: YouTube ist eine wichtige Bildungsplattform. Welche Potenziale sehen Sie und welche kritischen Punkte? NES: In gewisser Weise ist YouTube eine fantastische Plattform. Sie hat eine unglaubliche Reichweite. In den USA ist YouTube der beliebteste Online-Dienst. 73% der Erwachsenen in den USA nutzen YouTube, mehr als Facebook, Instagram, Twitter, Tumblr oder andere Plattformen. Video ist ein wichtiges Element der Bildungslandschaft geworden. Das ist erstaunlich, wenn man zurückschaut auf die nicht so erfolgreiche Geschichte des Bildungsfernsehens in den 1950er- und 1960er-Jahren. Der Bildungsforscher Larry Cuban von der Stanford University fand viele Gründe, warum Film und Fernsehen in der Bildung keinen Fuß fassen können. Heute tun sie das. Besonders interessant finde ich dabei das Phänomen des informellen Peer-to-PeerLernens. Also wenn jemand anderen zeigt, wie man eine Waschmaschine repariert oder ein Make-Up aufträgt. 35 Unter dem Begriff Geek versteht man umgangssprachlich eine Person, die sich durch ein besonderes Interesse an einem – insbesondere technischen oder fiktionalen – Spezialthema mit einer hohen Expertise auszeichnet.

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3.4 Ist YouTube gut für die Bildung?

Wir sprechen aber zu viel über die Videos als Quelle des Lernens und ignorieren dabei die Kommentare. Es fehlt bisher eine vertiefte Analyse des gemeinschaftlichen Lernens der Personen, welche die Videos geschaut haben und dann über diese mit anderen Personen diskutieren. Bei den meisten Kommentaren geht es dann auch nicht um die Inhalte der Videos, es entstehen nur wenige Diskussionen, in denen sich die Nutzer/innen austauschen und voneinander lernen. Somit haben wir eigentlich sehr instruktionale Videos, in denen überwiegend in Form eines Vortrages Inhalte vermittelt werden. Das ist aus meiner Sicht ein sehr altmodisches didaktisches Konzept, sehr wenig im Stil von Social Media. YouTube ist deshalb für mich auch nicht wirklich ein soziales Medium, weil die Gemeinschaft und die soziale Interaktion fehlen. Ein weiterer Nachteil von Video als Bildungstechnologie ist, dass die großen Datenmengen, die es für das Streaming von Videos braucht, nicht besonders gut für die Umwelt sind. Ist die Bereitstellung von Erklärvideos in 20 Jahren noch nachhaltig, wenn wir keine fossilen Brennstoffe mehr nutzen? Viele der Informationen könnte man ja auch mit deutlich geringeren Datenraten als Text und Bilder vermitteln. Müssen es immer Videos sein?

Literatur Mazoué, J. G. (2012): The Deconstructed Campus: A Reply to Critics. Online verfügbar unter: https:// files.eric.ed.gov/fulltext/ED545571.pdf [Letzter Zugriff: 21.01.2020].

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4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos?

4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos? Wie bereits erörtert, werden Erklärvideos nicht nur für interessenbezogenes Lernen, z. B. für ein Hobby, oder das problembezogene Lernen, z. B. für die Durchführung einer notwendigen Reparatur, genutzt. Auch für das schulbezogene Lernen sind sie hoch relevant. Laut der repräsentativen Studie »Jugend/YouTube/Kulturelle Bildung« sind Erklärvideos für 47% aller 12- bis 19-Jährigen wichtig (37%) bzw. sehr wichtig (10%) für die in der Schule behandelten Themen (Rat für kulturelle Bildung 2019: 28)36. Schüler/innen nutzen laut dieser Studie YouTube-Videos zur Wiederholung von Unterricht, den sie nicht verstanden haben (73%), für Hausaufgaben und Hausarbeiten (70%), zur Vertiefung des schulischen Wissens (66%) bis hin zur Vor- und Nachbereitung für Prüfungen (58%). Das Medienformat Video ist also nicht nur in den unterhaltungsorientierten Medienrepertoires von Schülerinnen und Schülern mittlerweile stärker verankert als schriftliche Ressourcen, sondern hat auch für das Lernen eine immer größere Bedeutung. Dazu kommt, dass die Erklärvideos ja weitgehend ungefiltert auf Plattformen wie YouTube hochgestellt werden. Neben fachinhaltlichen Fragen ist zu klären, was ein gutes Erklärvideo in seiner didaktischen und medialen Gestaltung ausmacht. Die Beiträge in diesem Kapitel widmen sich deshalb zunächst der Frage, welche Konsequenzen dies für die Lernqualität haben könnte. Der Beitrag von Florian Schmidt-Borcherding (Kap. 4.1) klärt zunächst, wie das Lernen mit audiovisuellen Medien funktioniert und welche Vorteile es haben kann, aber auch, wo die Beschränkungen liegen. Besitzen audiovisuelle Erklärungen die gleiche Qualität wie Lehrtexte in einem Schulbuch? Der Physikdidaktiker Christoph Kulgemeyer (Kap. 4.2) beschreibt theoretisch fundierte und empirisch validierte Qualitätskriterien für didaktisch gut gestaltete Erklärvideos. Sandra Schön und Martin Ebner (Kap. 4.3) geben einen umfassenden Überblick über mediale Gestaltungsformate und praktische Hinweise zur eigenen Produktion von Erklärvideos. Schließlich resümiert im Gespräch mit Karsten D. Wolf einer der Väter des YouTube-Erklärvideo-Phänomens, Lee LeFever, was er in über zehn Jahren Produktionserfahrung zur Gestaltung hervorragender Erklärvideos gelernt hat (Kap. 4.4). Im Interview mit Stephan Bayer, dem Gründer und Geschäftsführer der Lernplattform sofatutor wird erörtert, welche zusätzlichen digitalen Angebote rund um das Erklärvideo angeboten werden können, um das Lernen für die Schule erfolgreich zu gestalten (Kap. 4.5). Klar wird, dass das Buch nicht ausgedient hat, aber tatsächlich seine dominante Stellung in der Bildungspraxis zunehmend einbüßt. 36 Studie des Rates für Kulturelle Bildung vom Juni 2019: https://www.rat-kulturelle-bildung.de/ fileadmin/user_upload/pdf/Studie_YouTubeYouTube_Webversion_final.pdf

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4.1 Zur Lernpsychologie von Erklärvideos: Theoretische Grundlagen

4.1 Zur Lernpsychologie von Erklärvideos: Theoretische Grundlagen Prof. Dr. Florian Schmidt-Borcherding Florian Schmidt-Borcherding leitet das Arbeitsgebiet »Empirische Lehr-Lern-Forschung und Pädagogische Psychologie« an der Universität Bremen. Er untersucht Forschungsfragen rund um die lernwirksame Gestaltung multimodaler Repräsentationen (also z. B. Erklärvideos oder illustrierte Lehrbuchtexte).

Können Videos das Lernen aus Texten gleichwertig ersetzen? Oder sind Erklärvideos mitunter sogar besser als erklärende Texte? Theorien zum multimedialen Lernen liefern eine Grundlage, um die Vor- und Nachteile von Videos gegenüber Texten einschätzen zu können. Der Begriff »Multimedia« bezieht sich hierbei zunächst auf unterschiedliche Darstellungsformen von Informationen, genauer: sprachliche Darstellungen (also Text) und bildliche Darstellungen (Abbildungen, Diagramme, Animationen, Filme etc.). Während bildliche Darstellungen nur über das Auge (visuell) aufgenommen werden können, kann sprachliche Information schriftlich (also visuell) oder mündlich (auditiv) präsentiert werden. Die Theorie der dualen Kodierung besagt, dass Informationen besser erinnert werden, wenn sie gleichzeitig sprachlich und bildhaft im Gedächtnis gespeichert werden. Die kognitive Theorie multimedialen Lernens besagt, dass mehr Informationen gleichzeitig bearbeitet werden können, wenn mehrere Sinneskanäle (Augen und Ohren) genutzt werden. Erklärvideos vereinen theoretisch also die Vorteile der dualen Kodierung und der Nutzung mehrerer Sinneskanäle. Für einen spezifischeren Vergleich von Erklärvideos zum Lernen aus Texten sind fünf Aspekte von Bedeutung: (1) die Möglichkeiten und Grenzen statischer und dynamischer Visualisierungen (2) die Komplexität der Verknüpfungen von sprachlichen und visuellen Informationen (3) die Flüchtigkeit von dynamischen Informationen (beim Anschauen von Videos) (4) die Anwendung von Lernstrategien beim Lesen vs. Zuschauen (5) individuelle Unterschiede der Lernenden

Die Theorie der Dualen Kodierung beim Lernen aus Texten Bilder fördern das Verstehen, Lernen und Erinnern von Texten, das mag kaum jemand bestreiten (Carney/Levin 2002). Vermutlich auch deswegen finden sich z. B. in deutschen Schulbüchern – unabhängig vom Fach! – durchschnittlich vier Abbildungen pro Seite (Ploetzner 2016). Aber warum sind Bilder oder, allgemeiner, Visualisierungen hilfreich für Lernen? Eine Antwort liefern psychologische Theorien zur menschlichen Informationsverarbeitung bzw. zum menschlichen Gedächtnis. Anfang der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts beschäftigte sich der Psychologe Allan Paivio mit dem so genannten Bildüberlegenheitseffekt. Er fand heraus, dass Menschen sich leichter an Begriffe erinnerten, die sie vorher als Bilder gesehen hatten,

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4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos?

als an Begriffe, die sie gelesen hatten. Dieser Effekt verringerte sich oder verschwand sogar, wenn er die Versuchspersonen darum bat, geschriebene Begriffe zusätzlich zu zeichnen oder sich bildlich vorzustellen (Paivio/Csapo 1973). Paivios Erklärung für diesen Effekt beruht auf der Annahme, dass unser Gedächtnis aus zwei unabhängigen Verarbeitungs- und Speichersystemen besteht, einem für sprachliche bzw. symbolische Informationen und einem für bildliche bzw. analoge Informationen. Ist ein bestimmter Gedächtnisinhalt sowohl sprachlich-symbolisch als auch bildlich-analog gespeichert, liegen zwei Gedächtniseinträge in unterschiedlichen Kodierungen (sprachlich vs. bildlich) vor. Der Inhalt ist also »dual kodiert« und kann deswegen schneller und leichter erinnert werden (vgl. Paivio, 1986). Die Theorie der dualen Kodierung liefert Erklärungen für weitere Gedächtniseffekte. So ließe sich aus der Theorie z. B. leicht die Empfehlung ableiten, dass man zum besseren Merken eines Textes zusätzlich eine bildliche Vorstellung des Sachverhaltes entwickeln sollte (was je nach Abstraktionsgrad des Inhalts nicht immer einfach ist). Diese Idee spiegelt sich tatsächlich in der Loci-Methode wider, einer Gedächtnisstrategie, die bereits von den Philosophen im alten Griechenland genutzt und dokumentiert wurde (Stangl 2006). Hierbei werden (abstrakte) Begriffe und Inhalte an Orten (lat. loci) entlang eines der/dem Lernenden bekannten Weges im Gedächtnis (z. B. dem täglichen Arbeitsweg) »abgelegt«, d.h. assoziativ, z. B. mit dem Öffnen der Haustür, der Überquerung einer Kreuzung etc., verknüpft. Das gedankliche Abschreiten dieses Weges (also der analogen Repräsentation im Gedächtnis) erlaubt es die sprachlich kodierten Informationen an diesen Orten (und in dieser Reihenfolge) wieder »einzusammeln«. Am Beispiel der Loci-Methode wird deutlich, dass eine bildliche Kodierung nicht notwendigerweise den gleichen Inhalt darstellen muss wie die sprachliche Kodierung, um hilfreich für das Erinnern zu sein. Wenn wir uns jetzt von Erinnern einzelner Begriffe wegbewegen und dem Lernen aus zusammenhängenden Texten zuwenden, wird ohnehin klar, dass eine direkte Übersetzung von Sprache in Bilder nicht (mehr) möglich ist. Trotzdem werden auch Texte grundsätzlich besser erinnert, wenn sie illustriert sind (Levie/Lentz 1982), und dieser Effekt wird mit dem Abstraktionsgrad der Abbildungen sogar größer. Levin, Anglin und Carney (1987) haben empirische Untersuchungen zu Abbildungen in Texten zusammengetragen und fünf Funktionen aufsteigender Komplexität identifiziert, die solche Abbildungen haben können: 1. Dekorationsfunktion (Bilder, die keine direkte Beziehung zum Textinhalt aufweisen) 2.. Repräsentationsfunktion (Bilder, die substantiell mit dem Text überlappen) 3. Organisationsfunktion (Mind maps, flow charts, Diagramme etc.) 4. Interpretationsfunktion (Graphiken, Analogiebilder etc.) 5. Transformationsfunktion (memotechnische Bilder, vgl. Loci-Methode).

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4.1 Zur Lernpsychologie von Erklärvideos: Theoretische Grundlagen

Der positive Effekt von Abbildungen für das Lernen aus Texten steigt von (1) nach (5), d.h. während rein dekorative Abbildungen keinen Effekt haben, sind Bilder mit einer Transformationsfunktion besonders wirksam. Der überwiegende Teil von Abbildungen in Lehrtexten wird den Funktionen (2) bis (4) zugeordnet werden können. Zwei Dinge gilt es zu beachten, wenn man über die Rolle dualer Kodierung beim Lernen aus Texten nachdenkt. Erstens, es geht in der Regel immer um eine Ergänzung sprachlich-symbolischer Information durch Visualisierungen, nicht darum, den Text durch Bilder zu ersetzen! Zwar wird gerne das chinesische Sprichwort zitiert, nach dem ein Bild mehr wert sei als tausend Worte, was für bestimmte Arten von Abbildungen richtig ist (Larkin/Simon 1987). Im Sinne der Theorie der dualen Kodierung ist ein Bild aber nur dann etwas wert, wenn es auch mit (tausend) Worten erklärt wird. Zweitens, die Annahme unterschiedlicher Gedächtnisstrukturen für sprachlich-symbolische und bildhaft-analoge Darstellungen sagt noch nichts über die Lernprozesse aus, mit denen sie gebildet werden. D.h. aus der Theorie der dualen Kodierung alleine lässt sich noch nicht ableiten, wie (multimediales) Lernmaterial denn gestaltet sein muss, um duale Kodierung effektiv für das Lernen zu nutzen. Dazu bedarf es spezifischerer Theorien zum (multimedialen) Lernen.

Die Kognitive Theorie Multimedialen Lernens Der Einfluss von Medien auf das Lernen wird häufig vor dem Hintergrund menschlicher Informationsverarbeitung, also der Selektion, Organisation und Integration von Informationen betrachtet (SOI-Modelle). Theorien zur Informationsverarbeitung betrachten zum einen die Informationen, die in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert sind (z. B. dual kodiert) und zum anderen die Informationen, die durch unsere Sinneskanäle aufgenommen werden. (Kognitives) Lernen bedeutet dann die Integration neuer Informationen in die bereits bestehende Wissensstruktur. Diese Integration geschieht im Arbeitsgedächtnis, in dem nur wenige unabhängige Informationseinheiten (4 +/– 1) für einen sehr kurzen Zeitraum (ca. 30 Sekunden) gleichzeitig verarbeitet werden können (Cowan 2000). Lernen ist nur erfolgreich, so lange die Menge der Informationseinheiten innerhalb der Kapazitätsgrenzen des Arbeitsgedächtnisses bleibt. Zu beachten ist hierbei, dass die Größe einer Informationseinheit im Wesentlichen von unserem Vorwissen abhängt. Zum Beispiel können sich Schachexperten scheinbar mühelos die Stellung von Figuren auf einem Schachbrett merken, weil sie die Gesamtsituation des Spiels in wenigen Einheiten zusammenfassen können. Menschen, die kein Schach spielen, müssen jede Figur auf dem Brett einzeln erinnern (Chase/ Simon 1973). Insbesondere bei multimedialen Lernangeboten hat man oft mit einer (Über-)Fülle an Informationen zu kämpfen. Eine zentrale Frage für die Gestaltung von Lernmedien ist also, wie man z. B. den positiven Effekt dualer Kodierung mit den Grenzen des Arbeitsgedächtnisses in Einklang bringt. Die Kognitive Theorie Multimedialen Lernens

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(KTML, z. B. Mayer 2014a) geht davon aus, dass im Arbeitsgedächtnis (a) für jeden Sinneskanal separate Kapazitäten bereitstehen und (b) sprachliche und bildliche Informationen im Sinne dualer Kodierung zunächst getrennt bearbeitet werden (Abb. 1). Aus dieser Perspektive liegt der Grund für den positiven Einfluss von Bildern auf das Lernen nicht (nur) in der doppelten Speicherung im (Langzeit-)Gedächtnis. Vielmehr können bildlich-analoge Informationen (»Bildliches Modell«) unabhängig vom Umfang der sprachlichen Informationen (»Sprachliches Modell«) im Arbeitsgedächtnis bearbeitet werden. D.h. Bilder sind gerade deswegen förderlich für das Lernen (aus Texten), weil sie die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses effektiver ausschöpfen. Mayer (2009) nennt diesen Effekt das Multimediaprinzip.

Abb. 1: Die Kognitive Theorie Multimedialen Lernens (KTML)

Die Theorie bietet auch eine gute Erklärung für den etwas kontraintuitiven Befund, dass abstraktere Bilder einen größeren Multimediaeffekt erzeugen als konkret-repräsentative Bilder. Je komplexer und abstrakter die Abbildungen werden, umso stärker verdichtet ist die visuelle Information, die dargestellt wird, und umso mehr visuelle Information gelangt zu einer Zeit ins Arbeitsgedächtnis. Das ist ein bisschen wie mit einem Energieriegel: der hat auch viele Nährstoffe, nimmt im Magen aber wenig Platz in Anspruch. Bilder mögen das Arbeitsgedächtnis auf der Ebene der Kodierung optimal ausnutzen, auf sensorischer Ebene erzeugen sie zunächst ein Problem. Bei geschriebenem Text kann die/der Lernende nicht gleichzeitig Lesen und die Abbildung anschauen, die visuelle Aufmerksamkeit muss zwischen den beiden Informationsquellen aufgeteilt werden. Das Auge bildet einen »sensorischen Flaschenhals«, der aber durch das Modalitätsprinzip überwunden werden kann: Erläuternder Text zu einer Abbildung sollte gesprochen anstatt geschrieben dargeboten werden. Dadurch können sprachliche und bildliche Informationen gleichzeitig ins Arbeitsgedächtnis gelangen und besser miteinander verknüpft werden.

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4.1 Zur Lernpsychologie von Erklärvideos: Theoretische Grundlagen

Im Sinne der Kognitiven Theorie Multimedialen Lernens (KTML) sollten alle Maßnahmen positiv sein, die die gleichzeitige Organisation und Integration zusammengehöriger sprachlicher und bildlicher (also: multimedialer) Informationen unterstützen bzw. die (sensorischen) Kosten der Selektion multimedialer Informationen niedrig halten: Die Nähe zwischen geschriebenem Text und Abbildungen (räumliches Kontiguitätsprinzip), die gleichzeitige Darbietung von (geschriebenem oder gesprochenem) Text mit zugehörigen Abbildungen (zeitliches Kontiguitätsprinzip), die Nutzung (sprachlicher und/oder visueller) Hinweisreize für die Verknüpfung sprachlicher und bildlicher Informationen (Signalisierungsprinzip) und das Weglassen von unnötigen Informationen (Kohärenzprinzip). Eine ganze Reihe weiterer Gestaltungsoptionen multimedialer Lernmaterialien sind im Rahmen der KTML gut zu interpretieren. Außerdem sind die Prinzipien so formuliert, dass sie in gleicher Weise für die Gestaltung und Beurteilung (multimedialer) Texte, Lehranimationen, Erklärvideos etc. genutzt werden können. Weniger offensichtlich ist, wie dieser theoretische Rahmen helfen kann, das Lernen aus Texten mit dem Lernen aus Videos ins Verhältnis zu setzen. Das soll im nächsten Abschnitt beleuchtet werden.

Lernen mit Videos versus Lernen aus Texten Erklärvideos erfüllen scheinbar mühelos eine ganze Reihe der genannten Gestaltungsprinzipien. Sie bestehen aus Visualisierungen (sonst wären es keine Videos) und Erläuterungstexten (→ Multimediaprinzip), die in der Regel gesprochen werden (→ Modalitätsprinzip). Der Sprechtext ist im Idealfall mit den Visualisierungen synchronisiert (→ zeitliches Kontiguitätsprinzip) und beinhaltet möglicherweise sogenannte »deiktische« Hinweise (z. B. »Wie Sie unten links erkennen können ...«); auch werden bei den Visualisierungen oft Farben, Pfeile, Animationseffekte etc. genutzt (z. B. ein Pfeil, der sich nach links unten bewegt), um die (visuelle) Aufmerksamkeit der Lernenden zu steuern (→ Signalisierungsprinzip). Sind damit Videos nicht automatisch bessere Lernmaterialien als Texte? Für diesen Vergleich sind mindestens fünf Aspekte von Bedeutung, die wir bisher wenig beachtet haben. 1. Möglichkeiten und Grenzen statischer und dynamischer Visualisierungen

Der Multimediaeffekt als solcher ist nicht hinreichend für eine Unterscheidung zwischen Text und Video, da sowohl gedruckte Texte als auch Bildschirmtexte leicht und auch unter Berücksichtigung räumlicher Nähe (→ Kontiguitätsprinzip) mit reichhaltigen Visualisierungen versehen werden können. Der entscheidende Unterschied besteht eher darin, dass Bilder in Texten in der Regel statisch sind, während sich in Videos meist »was bewegt«. Solche dynamischen Visualisierungen (z. B. Animationen) sind dann gegenüber statischen Bildern im Vorteil, wenn Veränderungen über die Zeit (z. B. motorische Mechanismen) oder dynamische Prozeduren (z. B. Knoten

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machen) direkt dargestellt werden sollen (Lowe/Schnotz 2014). Neben der konkreten Repräsentation eines (dynamischen) Sachverhalts haben solche Darstellungen z. B. beim Erwerb von Prozeduren vor allem den Charakter eines Modells oder einer Musterlösung im Sinne des Modelllernens (Renkl 2014). Bewegtbilder haben darüber hinaus den Effekt, unsere visuelle Aufmerksamkeit zu steuern. Im positiven Sinne können Videos also visuelle Dynamik auch nutzen, um z. B. komplexe Diagramme Stück für Stück zu entwickeln und so leichter für das Auge zugänglich zu machen. Andererseits besteht bei Videos die Gefahr, durch zu viel Dynamik (z. B. nutzlose Animationen, die schlichte Sichtbarkeit eines Sprechers etc.) die visuelle Aufmerksamkeit abzulenken (vgl. Kohärenzprinzip). 2. Verknüpfungen von sprachlichen und visuellen Informationen

Die Beziehungen zwischen Sprache und Bildern sind bei Erklärvideos enger als bei Texten. Zunächst bleiben die meisten geschriebenen Texte vermutlich auch ohne Abbildungen verstehbar. Die Tonspur eines Videotutorials macht ohne die Bilder aber keinen Sinn, und auch das Video als Stummfilm wird wenig zum Lernen beitragen. Die visuelle Information im Erklärvideo ist zentral, aber ohne (Sprech-)Text nicht verstehbar. Die Beziehungen zwischen Text und Bild müssen durch geeignete sprachliche oder visuelle Signale hergestellt werden, wie es im Signalisierungsprinzip formuliert ist. Das alles stellt aber auch höhere Anforderungen an die Gestaltung von Erklärvideos im Vergleich zu Texten. Insofern muss man befürchten, dass es mindestens ebenso viele schlechte Erklärvideos wie schlechte Lehrbuchtexte gibt. 3. Flüchtigkeit von dynamischen Informationen (beim Anschauen von Videos)

Die Vorteile dynamischer Visualisierungen und gesprochener Textdarbietung müssen noch gegen einen weiteren Nachteil abgewogen werden. Beide Arten der Informationsdarbietung sind flüchtig, d.h. sie stehen unserer Wahrnehmung nur für einen kurzen Zeitraum zur Verfügung. Ist unser Arbeitsgedächtnis gerade mit anderen Dingen beschäftigt, besteht die Gefahr, dass wir eine visuelle Darstellung oder einen gesprochen erklärten Sachverhalt schlicht verpassen. Das kann uns bei statischen Bildern und geschriebenen Texten nicht passieren. Tatsächlich formuliert Mayer (2011) auch das Segmentationsprinzip: Auf Seiten der/des Lernenden gelingt die Verarbeitung und Integration von multimedialen Informationen besser, wenn sie/er steuern kann, wie viel (multimediale) Informationen sie/er zu einer Zeit bekommen möchte. Es geht also um die Darbietungskontrolle, z. B. von Videos durch Navigationselemente wie »Pause« oder »Wiederholen« (vgl. auch Scheiter 2014). Hierbei muss man berücksichtigen, dass die Navigation wiederum Kapazitäten aus dem Arbeitsgedächtnis benötigt. 4. Die Anwendung von Lernstrategien beim Lesen versus Zuschauen

Die unterschiedliche »Navigation« durch einen Text oder ein Video hat noch einen weiteren Effekt. Für das gezielte Lernen mit Videos müssen andere Lernstrategien entwickelt, erworben und genutzt werden. Kernaussagen unterstreichen, Textpassagen

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4.1 Zur Lernpsychologie von Erklärvideos: Theoretische Grundlagen

kommentieren und Exzerpte schreiben sind typische Strategien, die beim Lesen leicht Anwendung finden. Sicher geht das prinzipiell auch bei Videos. Allerdings ist die Nutzung entsprechender Annotationswerkzeuge zumindest im Moment aus lernpsychologischer Sicht noch eine Hürde für die effiziente Anwendung von Lernstrategien. Ähnlich wie die Navigation dürfen auch Lernstrategien im Sinne der Informationsverarbeitung nicht mehr kognitive Ressourcen benötigen als sie freisetzen. 5. Individuelle Unterschiede der Lernenden

Ein immer wieder auftretender Befund bei der multimedialen Gestaltung von Lernmaterial ist, dass die genannten Effekte bei Personen mit niedrigem Vorwissen größer sind. Im Sinne der KTML ist das zunächst leicht nachvollziehbar. Die Effekte basieren darauf, dass das Arbeitsgedächtnis entlastet wird. Lernen ist aber erst dann beeinträchtigt, wenn das Arbeitsgedächtnis überlastet wird. Die Gefahr der Überlastung wiederum ist umso größer, je niedriger das Vorwissen zu einem Thema ist. Hinzu kommt der sogenannte »Expertise-Umkehr-Effekt«. Damit sind Unterstützungen gemeint, die Personen mit hohem Vorwissen eher belasten als ihnen zu helfen, z. B. unnötige visuelle Hinweisreize. Es gibt auch spezifischere Zusammenhänge. So sollten z. B. Personen mit niedriger Lesekompetenz (z. B. Grundschulkinder) stärker von gesprochenen Erläuterungen profitieren. Das lässt sich für das kurzfristige Erinnern auch zeigen. Allerdings kann sich dieser Modalitätseffekt auf lange Sicht umkehren, d.h. gerade das, was mühsam gelesen werden musste, bleibt offenbar dauerhafter im Gedächtnis (Segers/Verhoeven/Hulstijn-Hendrikse 2008). Es ist also plausibel anzunehmen, dass Erklärvideos besser geeignet sind, um in ein neues Thema einzusteigen, sich mit unbekannten Phänomenen vertraut zu machen etc. Für eine vertiefendere Beschäftigung mit einem Thema wird dann der Rückgriff auf Texte zunehmend wichtiger.

Literatur Carney, R. N./Levin, J. R. (2002): Pictorial Illustrations Still Improve Students’ Learning From Text. In: Educational Psychology Review, 14(1), S. 5–26. https://doi.org/10.1023/A:1013176309260 Chase, W. G./Simon, H.A. (1973): Perception in chess. In: Cognitive Psychology, 4, S. 55–81. Cowan, N. (2000): The magical number 4 in short-term-memory: A reconsideration of mental storage capacity. Behavioral and Brain Sciences, 24, S. 87–185. Larkin, J. H./Simon, H. A. (1987): Why a diagram is (sometimes) worth ten thousand words. In: Cognitive Science, 11, S. 65–100. Levie, W./Lentz, R. (1982): Effects of text illustration: A review of research. In: Educational Communication and Technology Journal, 30, S. 195–232. Levin, J. R./Anglin, G. J./Carney, R. N. (1987): On empirically validating function of pictures in prose. In: Willows, D. M./Hougthon, H. A. (Hrsg.), The psychology of illustration, Vol.1, New York: Springer, S. 51–85. Lowe, R./Schnotz, W. (2014). Animation principles in multimedia learning. In: Mayer, R. E. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Multimedia Learning, 2. Aufl., Cambridge (MA): Cambridge University Press, S. 513–546. Mayer, R. E. (2009): Multimedia Learning (2. Aufl.). Cambridge (MA): Cambridge University Press.

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4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos? Mayer, R. E. (2014a): Cognitive Theory of Multimedia Learning. In: R. E. Mayer (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Multimedia Learning, 2. Aufl., Cambridge (MA): Cambridge University Press, S. 43–71. Mayer, R. E. (2014b) (Hrsg.): The Cambridge Handbook of Multimedia Learning, 2. Aufl. Cambridge (MA): Cambridge University Press. Paivio A./Csapo, K. (1973): Picture superiority in free recall: Imagery or dual coding? In: Cognitive Psychology, 5, S. 176–206. Paivio, A. (1986): Mental representations. A dual coding approach. New York: Oxford University Press. Ploetzner, R. (2016): Understanding explanatory animation – An introduction to cognitive design and user support. Freiburg, Germany: eXplanatory!media. Renkl, A. (2014): The worked example principle in multimedia learning. In: R. E. Mayer (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Multimedia Learning, 2. Aufl., Cambridge (MA): Cambridge University Press, S. 391–412. Scheiter, K. (2014): The learner control principle in multimedia learning. In: Mayer, R. E. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Multimedia Learning, 2. Aufl., Cambridge (MA): Cambridge University Press, S. 487–512. Segers, E./Verhoeven, L./Hulstijn-Hendrikse, N. (2008): Cognitive processes in children’s multimedia text learning. In: Applied Cognitive Psychology, 22, S. 375–387. https://doi.org/10.1002/ acp.1413 Stangl, W. (2006): Mnemotechnik. In: Mandl, H./Friedrich, H. F. (Hrsg.), Handbuch Lernstrategien, Göttingen: Hogrefe, S. 89–100.

4.2 Didaktische Kriterien für gute Erklärvideos Christoph Kulgemeyer Der habilitierte Physik- und Deutschlehrer Christoph Kulgemeyer arbeitet als Privatdozent am Institut für Didaktik der Naturwissenschaften, Abt. Physikdidaktik, an der Universität Bremen. Basierend auf seiner grundlegenden Erforschung von Erklärprozessen im naturwissenschaftlichen Unterricht stellt er in diesem Beitrag empirisch validierte Qualitätskriterien zur Gestaltung naturwissenschaftlicher Erklärvideos vor.

Schüler/innen schauen Erklärvideos in ihrer Freizeit, aber es gibt auch einige Konzepte, sie gewinnbringend in den Schulunterricht einzubinden (z. B. im Flipped Classroom). Auf Plattformen wie YouTube findet sich inzwischen eine immense Anzahl von Erklärvideos zu nahezu allen schulischen Themen. Auch deutschsprachige Kanäle können dabei leicht über eine halbe Million Abonnent/innen erreichen (z. B. Mathe – Simpleclub: 788.000; Dezember 2019), englischsprachige Kanäle wie die Khan Academy haben einen noch bedeutend größeren Wirkungskreis (5,3 Millionen; Dezember 2019). Man könnte argumentieren, dass diese Art Videos Bildung frei verfügbar macht. Schülerinnen und Schülern wird es durch Online-Erklärvideos möglich, die optimalen Videos für sich selbst zu suchen, sie haben die Freiheit, nach eigenen Interessen und an das eigene Vorwissen angepasst genau die Videos zu schauen, die ihnen helfen. Auch ihre Lernziele können sie selbst stecken – und machen es auch, wenn sie Videos

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4.2 Didaktische Kriterien für gute Erklärvideos

in ihrer Freizeit aus eigenem Antrieb auswählen. Aus didaktischer Sicht muss man sich allerdings mindestens zwei Fragen stellen: 1. In Bezug auf Erklärvideos: Dass es viele Erklärvideos gibt, ist unstrittig – aber es ist ebenso wahrscheinlich, dass ihre Produktion eher intuitiven Kriterien über gutes Erklären oder Lernen im Allgemeinen folgt. Gibt es bei YouTube hochqualitative Erklärvideos bzw. worauf muss man achten, um sie zu finden oder zu produzieren? 2. In Bezug auf Schulunterricht: Ist es realistisch, dass Schüler/innen sich ihr eigenes Lernangebot in Form von Erklärvideos suchen können? Wissen sie besser, welches Video ihnen weiterhilft als eine Expertin/ein Experte, z. B. ihre Lehrkraft?

Was sind die wichtigsten Kriterien für gute Lernvideos? Zwei Forschungsfelder können dabei helfen, Kriterien für gute Lernvideos zu finden. Zum einen gibt es eine reiche Forschung zum Lernen mit Multimedia, die wichtige Impulse liefern kann. Hier wird sich auf das Medium bezogen, um Kriterien zu finden. Zum anderen kann man sich auf das Ziel solcher Videos konzentrieren, nämlich eine gute Erklärung anzubieten. Dabei kann man das Medium »Video« nur als eine Variante von vielen begreifen, in denen instruktionale Erklärungen auftreten – andere sind z. B. Lehrer- oder Schülervorträge. Instruktionale Erklärungen sind generell didaktische Prozesse mit dem Ziel, das Verstehen eines Sachverhalts bei einer Adressatengruppe oder einem Individuum zu erreichen (Kulgemeyer/Schecker 2009). Dabei muss man natürlich relativieren: Auch die beste Erklärung erreicht nicht automatisch Verstehen, das widerspräche grundlegenden Annahmen über Lehren und Lernen. Eine Erklärung kann bestenfalls die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass jemand aus der dargebotenen Information selbst Bedeutung konstruieren kann. Diese Wahrscheinlichkeit kann aber erhöht werden durch die Art, wie die Erklärung konzipiert wird, aber auch durch ihre Einbettung in einen didaktischen Prozess (Wittwer/Renkl 2008). Fokussiert wird in der Forschung zumeist auf direkte Interaktionen von Erklärenden und Instruierten, das ist also eine andere Konstellation als in Videos. Kulgemeyer (Kulgemeyer 2018a) berichtet als Resultat einer Reviewstudie sieben Kernideen (Tab. 1), die gutes Erklären im Unterricht ausmachen. Sie können auf Erklärvideos zum Teil übertragen werden (Wolf/Kulgemeyer 2016; Kulgemeyer 2018b). Wichtigste Kernidee ist (1) die Adaption der Erklärung an Vorwissen und Interessen der Adressatengruppen. Dies ist allerdings auch gleichermaßen die Kernidee, die die Grenzen der Wirkung von Erklärvideos deutlich macht. In der direkten Interaktion zwischen beispielsweise einer erklärenden Lehrkraft und einer Schülerin/einem Schüler hat die Lehrkraft ein mentales Modell der Bedürfnisse der Schülerin/des Schülers vor Augen, u.a. über das Vorwissen. Dieses mentale Modell kann im Laufe des Erklärens verändert werden, z. B. durch Diagnose nach Fragen, die das Verstehen überprüfen. Daran können sich neue Erklärungen anschließen, die besser an das Gegenüber angepasst sind. So geschieht Adaption an das Gegenüber im Prozess. Mit Er-

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4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos?

klärvideos ist das natürlich nicht möglich, weil das Produkt fertig ist, wenn es rezipiert wird. Umso wichtiger ist eine genaue Zielgruppenbeschreibung vor der Produktion eines Videos: Für jede Adressatengruppe muss das Video anders entworfen werden. Die Erklärforschung zeigt z. B., dass Beispiele, die für die eine Person sinnvolle Illustrationen darstellen, für eine andere Person eine hohe kognitive Last sein können und so den Sachverhalt eher verkomplizieren (expertise reversal effect, Kalygua 2007). Die Vorstellung, dass es das ideale Video für alle Adressatengruppen gibt, funktioniert schon deshalb nicht. Adaption an das Gegenüber erreicht man in Videos wie bei »Live-Erklärungen« durch das Verwenden von Werkzeugen, die der (2) Veranschaulichung dienen. Dies umfasst konkret eine geeignete Anpassung von Beispielen, Analogien, Modellen, Darstellungsformen, des Sprachniveaus sowie des Mathematisierungsgrads an die Zielgruppe (Kulgemeyer/Schecker 2009). Weiterhin ist es wichtig, in Videos sowohl die (3) Relevanz des Erklärten global zu betonen (z. B. indem man gängige Missverständnisse über den Sachverhalt anspricht) als auch die relevantesten Passagen eines Videos klar herauszustellen. Das sind wichtige Marker, die Novizen in einem Fach anzeigen, was essenziell ist. Es zeigt sich nämlich, dass Erklärungen von Lernenden häufig als irrelevant empfunden werden und deshalb ins Leere laufen (Acuña/Gardía-Rodcion/Sánchez 2011). Die (4) Struktur des Videos beeinflusst dessen Qualität ebenso. Für fachliches Lernen ist es beispielsweise vielversprechend, mit der zu lernenden Regel zu beginnen und diese dann an Beispielen zu verdeutlichen. Ein kurzes Eingangsbeispiel darf gerne das Interesse wecken, aber die Regel sollte nicht Schritt für Schritt aus dem Beispiel angeleitet werden (Regel-Beispiel-Struktur) (Seidel/Blomberg/Renkl 2013). Anders ist es, wenn man in einem Video eine Routine erlernen will, z. B. wie ein bestimmter Typus Aufgabe gelöst wird. Dann ist es effektiver mit einem Beispiel zu beginnen und daraus die Regel abzuleiten (Beispiel-Regel-Struktur). So oder so sollte man aber die Regel immer nennen, wenn erklärt wird. Wichtig ist auch (5) eine hohe Kohärenz des Videos. Sprache und Darstellungsformen müssen sich aufeinander beziehen, der Zusammenhang von Beispielen zu einer zu erlernenden Regel sollte mit Konnektoren wie »weil« klar markiert werden. Synonyme sollte man vermeiden und einen Sachverhalt immer gleich benennen. Synonyme können nämlich nur Expert/innen als solche erkennen, für Laien stellen sie unnötige Hürden auf. Ähnlich ist es mit Exkursen: Sie sind für Expert/innen interessant, aber für Lernende irrelevante Details (Anderson/Corbett/Koedinger/Pelletier 1995). Die Botschaft ist: Die kognitiven Kapazitäten sollen sich mit dem Wesentlichen befassen und nicht mit Randaspekten.

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4.2 Didaktische Kriterien für gute Erklärvideos Tabelle 1: Kriterien für gute Erklärvideos (aus Kulgemeyer, im Druck) Kernidee

Kriterium

Beschreibung

Adaption

Adaption an Vorwissen, Fehlvorstellungen und Interesse

Das Video bezieht sich auf gut beschriebene Eigenschaften einer Adressatengruppe (wahrscheinliches Vorwissen, Interessen, Schülervorstellungen).

Veranschaulichungswerkzeuge nutzen

Beispiele

Das Video nutzt Beispiele, um das Erklärte zu veranschaulichen.

Analogien und Modelle

Das Video nutzt Analogien und Modelle, um die neue Information mit bekannten Wissensbereichen zu verbinden.

Darstellungsformen und Experimente

Das Video nutzt Darstellungsformen und Experimente zur Veranschaulichung.

Sprachebene

Das Video wählt eine Sprachebene passend zur beschriebenen Adressatengruppe.

Mathematisierungsgrad

Das Video wählt einen Mathematisierungsgrad passend zur beschriebenen Adressatengruppe.

Prompts zu relevanten Inhalten geben

Das Video betont, (a) warum das Erklärte wichtig für die Adressatengruppe ist und (b) gibt Prompts zu besonders wichtigen Teilen.

Direkte Ansprache des Adressaten

Das Video involviert die Adressaten durch Handlungsaufforderungen und direkte Ansprache (statt unpersönlichem Passiv).

Regel-Beispiel oder Beispiel-Regel

Wenn Fachwissen das Lernziel ist, wird eine Regel-Beispiel-Struktur bevorzugt, beim Lernen von Routinen eine Beispiel-Regel-Struktur.

Zusammenfassungen geben

Das Video fasst die wesentlichen Aspekte zusammen.

Exkurse vermeiden

Das Video fokussiert auf die Kernidee, vermeidet Exkurse und hält den cognitive load gering. Insbesondere verzichtet es auf zu viele Beispiele, Analogien, Modelle oder Zusammenfassungen.

Hohe Kohärenz des Gesagten

Das Video verbindet Sätze durch Konnektoren, insbesondere »weil«.

Konzepte und Prinzipien erklären

Neues und komplexes Prinzip als Thema

Das Video bezieht sich auf ein neues Prinzip, das zu komplex zur Selbsterklärung ist.

In Unterrichtsgang einbetten

Anschließende Lernaufgaben

Das Video endet mit einer Lernaufgabe, mit der das Erklärte selbst vertieft werden kann.

Relevanz verdeutlichen

Struktur geben

Präzise und kohärent erklären

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4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos?

Wichtig ist zuletzt auch die Einbettung eines Videos: Erklärvideos können besonders leistungsstark sein, wenn (6) eine neue Regel thematisiert wird, zu der es viele Missverständnisse gibt (Vorbedingung) und (7) nach einem Video genügend Zeit gegeben ist, die neue Information selbst an Problemlösungen zu verwenden (gute Lernaufgaben im Anschluss). Gerade der letzte Schritt ist besonders wichtig. Es spricht nichts dagegen, wenn die Videos mit guten Lernaufgaben enden. Zusammenfassen kann man alle Kernideen damit, dass Erklärvideos Rezipient/innen zum Mitdenken bringen (kognitive Aktivierung) und eine transparente Vorstellung vom Erklärten in Anschluss an das Vorwissen ermöglichen sollen (konstruktive Unterstützung beim Errichten mentaler Modelle). Das ist also grundlegend nicht anders als im Unterricht allgemein. Diese Kriterien sind auch empirisch überprüft worden. In einer quasi-experimentellen Studie hat u.a. Kulgemeyer (Kulgemeyer 2018c) ein Video, das nach den Kriterien erstellt wurde, verglichen mit einem (a) ebenso langen, (b) fachlich korrekten und (c) von der Textverständlichkeit vergleichbaren Video, das explizit nicht diese Kriterien berücksichtigt. Es zeigten sich deutliche Vorteile des Videos, das die Kriterien berücksichtigt im Bereich des Erwerbs deklarativen Wissens. Kulgemeyer und Peters (2016) haben Erklärvideos zu physikalischen Themen auf YouTube mit einer Vorläuferversion dieser Kriterien analysiert und konnten zeigen, dass die Likes, die Aufrufe oder die Betrachtungsdauer keinen Zusammenhang zur Erklärqualität eines Videos aufweisen. Kommentare, in denen Inhaltliches diskutiert wird, sind allerdings ein guter Indikator für eine hohe Erklärqualität des Videos.

Wählen Lernende die für sie passenden Erklärvideos aus? Können Schüler/innen denn nun selbst die für sie passenden Videos finden? Wie beschrieben, ist die Adaption an die Zielgruppe das wichtigste Kriterium eines guten Erklärvideos – können Schüler/innen nicht selbst am besten entscheiden, was für sie gut ist? Dieser Gedanke ist verlockend, aber die Forschung zu guten Erklärungen zeigt, dass er eine wichtige Tatsache vernachlässigt. Schüler/innen wissen natürlich, welches Video sie mögen – aber das ist nicht unbedingt das Video, das eine fachlich richtige oder individuell angemessene Erklärung für sie beinhaltet. In der Literatur ist die »Verstehensillusion« als wichtige Hürde beschrieben worden (z. B. Chi/Bassok/ Lewis/Reimann/Glaser 1989). Das bedeutet: Manchmal glaubt man, etwas verstanden zu haben, merkt aber, wenn man das Wissen verwenden soll, dass das gar nicht der Fall ist. Schüler/innen brechen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit aber die Suche nach einem guten Video ab, wenn sie glauben, etwas verstanden zu haben – auch wenn das nicht der Fall ist. Gerade bei Themen, die viele Alltagsvorstellungen mit sich bringen (z. B. der Kraftbegriff in der Physik) werden falsche Vorstellungen über Konzepte so eher noch verfestigt. Das Video »Wie bleiben Satelliten am Himmel?« des Kanals Physik – SimpleClub ist ein gutes Beispiel dafür, dass Erklärvideos sehr populär sein können, aber dennoch elementare fachliche Fehler enthalten – hier sind

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4.3 Was macht ein gutes Erklärvideo aus?

»Verstehensillusionen« sehr wahrscheinlich, denn Alltagsvorstellungen sind sehr suggestiv. Eine gute Lehrkraft hingegen kann Verstehen diagnostizieren und entsprechend reagieren. Diese Verantwortung nimmt einer Lehrkraft auch das beste Video nicht ab.

Literatur Anderson, J. R./Corbett, A. T./Koedinger, K. R./Pelletier, R. (1995): Cognitive Tutors: Lessons learned. The Journal of the Learning Sciences, 4, S. 67–207. Wolf, K./Kulgemeyer, C. (2016): Lernen mit Videos? Erklärvideos im Physikunterricht.In: Naturwissenschaften Im Unterricht Physik, 27(152), S. 36–41. Wittwer, J./Renkl, A. (2008): Why instructional explanations often do not work: A framework for understanding the effectiveness of instructional explanations. In: Educational Psychologist, 43(1), S. 49–64. Kalyuga, S. (2007): Expertise reversal effect and its implications for learner-tailored instruction. In: Educational Psychology Review, 19, S. 509–539. Kulgemeyer, C. (2018a): Towards a framework for effective instructional explanations in science teaching. In: Studies in Science Education, 54(2), 109-139, DOI: 10.1080/03057267.2018.1598054 Kulgemeyer, C. (2018b): Wie gut erklären Erklärvideos? Ein Bewertungs-Leitfaden. In: Computer + Unterricht 109, S. 8–11. Kulgemeyer, C. (2018c): A Framework of Effective Science Explanation Videos Informed by Criteria for Instructional Explanations. Research in Science Education, 1-22. DOI: 10.1007/s11165-0189787-7 Kulgemeyer, C. (im Druck): Physik erklären. In: Girwidz, R./Kircher, E./Fischer, H. (Hrsg.): Physikdidaktik. Theorie und Praxis. Berlin: Springer. Kulgemeyer, C./Peters, C. (2016): Exploring the explaining quality of physics online explanatory videos. In: European Journal of Physics, 37(6), S. 1–14. Seidel, T./Blomberg, G./Renkl, A. (2013): Instructional strategies for using video in teacher education. In: Teaching and Teacher Education, 34, S. 56–65.

4.3 Was macht ein gutes Erklärvideo aus? Sandra Schön und Martin Ebner Dr. Sandra Schön und Univ.-Doz. Dr. Martin Ebner arbeiten an der TU Graz zu medialen und didaktischen Gestaltungskriterien für herausragende Erklärvideos. Noch mehr Praxishinweise zur Gestaltung von Erkärvideos finden sich in ihrer Handreichung »Gute Lernvideos … so gelingen Web-Videos zum Lernen!«

Erkläre mir die Welt! Videos zum Lernen haben viele Vorteile: Man kann etwas zeigen, was sonst nur schwer in Worte zu fassen ist, beispielsweise wie man den argentinischen Tango tanzt. Während unter Lehr- und Lernvideos allgemein asynchrone audiovisuelle Formate verstanden werden, die in didaktischer geeigneter Weise aufbereitet sind oder in einem didaktisch aufbereiteten Kontext zum Einsatz kommen (Ebner/Schön, 2017: 3), stellen Erklärvideos eine spezielle Variante von Lehr- bzw. Lernvideos dar. Es geht

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4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos?

dabei darum, neuartige und komplexe Zusammenhänge oder Konzepte so anschaulich und ggf. auch vereinfacht darzustellen, dass sie von den Zuschauerinnen und Zuschauern – in der Regel ohne große Vorkenntnisse – verstanden werden können. Zu den Erklärvideos gehören zum Beispiel Videos darüber, wie ein Wiki-System oder die Blockchain-Technologie funktionieren oder auch einfach Beiträge der »Sendung mit der Maus«, welche erklären, warum man einen Touchscreen mit Fingern bedienen kann oder wie die Streifen in die Zahnpasta kommen.

Die Geschichte als Grundlage für Erklärvideos Dem Miterfinder der Legetechnik-Erklärvideos von Common Craft zufolge ist eine gute Erklärung immer eine gute Geschichte (LeFever 2012; siehe auch Kap. 4.4). Er würde beispielsweise niemals einen neuen Begriff einfach definieren, sondern ihn in einer Geschichte erklären (engl. story telling). Eine Geschichte zu erzählen, dauert dabei gar nicht unbedingt länger. Ein Beispiel für eine – traditionelle, also konventionelle – Definition ist: »Offene Bildungsressourcen nennt man auch im deutschsprachigen Raum wie im englischsprachigen Raum Open Educational Resources oder kurz OER. Damit werden Lern- und Lehrmaterialien bezeichnet, die so lizensiert wurden, dass sie frei verfügbar und einsetzbar sind, im besten Falle sogar auch modifiziert wiederveröffentlicht werden dürfen.« Die Geschichte dazu lautet dann so: »Trainerin Theresa sucht für ihren Sportclub Lernvideos, die sie im Unterricht einsetzen darf. Sie recherchiert daher gezielt nach Videos, die entsprechend lizensiert wurden und deren Nutzung erlaubt ist. Bei manchen Videos sind sogar Veränderungen erlaubt. Solche Materialien heißen offene Bildungsressourcen oder Open Educational Resources bzw. kurz OER.«

Macharten von Erklärvideos Die Trickfilm-Technik (engl. Stop Motion) sowie das Arbeiten mit Animationen sind typisch für Erklärvideos. Beide Techniken lassen sich heute auch mit Tablet und Smartphones umsetzen. Mit speziellen Apps können so z. B. Bildfolgen aufgenommen werden (Stop Motion) oder mittels spezieller Software Animationen erstellt werden. Mit den Videos von Common Craft wurde Anfang des Jahrtausends mit der sogenannten Legetechnik (engl. cut-out method, Schön/Ebner 2014) eine Variante des Trickfilms populär: Mithilfe von ausgeschnittenen Figuren und Abbildungen, die zu kurzen Texten gelegt und (hinein-)verschoben werden, wurde beispielsweise erklärt, wie Wiki-Systeme und andere Technologien im Social Web funktionieren. Populär sind auch Sketchnote-ähnliche Zeichnungen, beispielsweise Whiteboard-Anschriften, die mit Trickfilm oder Animationen spielen (Abb. 2). Es kommen aber selbstverständlich auch normale Videoaufnahmen zum Einsatz.

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4.3 Was macht ein gutes Erklärvideo aus?

Abb. 2: Screenshots eines Erklärvideos aus dem Online-Kurs COER17 auf der Plattform iMooX.at

Erklärvideos können darüber hinaus auch in den Formaten der sonstigen Lernvideos produziert werden (Ebner/Schön 2017): • Der Screencast ist eine Aufnahme des Geschehens am Bildschirm inklusive des Tons, der über ein internes/externes Mikrofon mitaufgenommen werden kann. Screencasts werden häufig eingesetzt, wenn die Handhabung von Software erklärt werden soll: Es geht am einfachsten, wenn man sehen kann, wie etwas genau bedient werden muss. Als Slidecast wird eine Variante bezeichnet, bei denen Präsentationsfolien und das Gesprochene abgefilmt werden. Für Tablets gibt es dazu hilfreiche Apps. • Die bekanntesten Erklärvideos des deutschsprachigen Raums stammen vermutlich von den Macherinnen und Machern der »Sendung mit der Maus« und sind häufig eine Reportage bzw. Dokumentation. Gemeinsam wird einer Sache mit Realaufnahmen nachgegangen und so z.B. erklärt, warum Kanaldeckel meist rund und nicht eckig sind. Das Format ist besonders attraktiv, wenn Dinge gezeigt werden, die man sonst nicht so einfach sieht, z. B. Aufnahmen vom Hochseeschiff, aus dem Dschungel oder dem Vogelnest. • Professionelle Aufnahmen mit Schauspielerinnen und Schauspielern sind eine Alternative bei Erklärvideos, wenn die Betroffenen selbst nicht dafür zur Verfügung stehen können oder wollen und Situationen gestellt werden müssen. Gerade wenn Videos sehr häufig genutzt werden, lohnt sich der Aufwand schnell. • Auch als traditionelle Vorträge vor der (Smartphone-)Kamera oder der Webcam können Erklärvideos erstellt werden. Wenn eine gute Erklärung gesprochen möglich ist, ist dieses Format eine einfache Variante. Das kann auch in Live-Vorträgen oder Web-Konferenzen gelingen. Werden die Beiträge in professionellen Studios aufgezeichnet, ist für gute Beleuchtung und gerade sitzende Kragen gesorgt. Eine

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4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos?

Variante zum Vortrag ist das Interview – hier kann dann auch gezielt nachgefragt werden, das Geschehen wirkt häufig dynamischer, sollte aber mithilfe von zwei Kameras aufgenommen und später geschnitten werden.

Visualisierungen in Erklärvideos Visualisierungen sollten stets einfach sein und eindeutig. Wenn uns z. B. eine Idee fehlt, wie ein abstrakter Begriff wie Internationalität oder Mobilität gut visuell dargestellt werden kann, nutzen wir Suchmaschinen und lassen uns von den gefundenen Bildern inspirieren. Werden unterschiedliche Farben eingesetzt – gleiches gilt für Materialien oder Gegenstände – die für einen bestimmten Vorgang stehen, sollte dabei Konsistenz herrschen: Ist eine kritische Anmerkung in Rot geschrieben, sollte die nächste Kritik auch in Rot geschrieben werden usw. Erklärvideos müssen dabei nicht unbedingt High-Definition-Qualität haben, aber es sollte im besten Fall auch im Kleinformat das Wichtigste erkenn- und lesbar sein.

Erklärvideos und Multimedia-Prinzipien Beim Aufkommen von Multimedia gab es mehrere Untersuchungen aus der Kognitionspsychologie rund um das Thema statischer Text und parallele Bilder. Das ist bei weitem noch kein Video, aber manche Prinzipien erscheinen uns da durchaus geeignet. Zusammengefasst ergaben sich folgende Prinzipien (Mayer 1999: 616; siehe auch den Beitrag von Florian Schmidt-Borcherding in diesem Buch, Kap. 4.1): • Multimedia-Prinzip: Der Lerneffekt ist größer, wenn dem/r Lerner/in zum Text passende Bilder präsentiert werden, als nur Text alleine. • Prinzip der räumlichen Kontinuität: Text und Bild (bzw. Animation) sollten räumlich nicht zu weit getrennt sein. • Prinzip der zeitlichen Kontinuität: Es ist besser, wenn die Erläuterung mit dem präsentierten Bild zur gleichen Zeit auftritt, als wenn dies zeitlich versetzt ist. • Prinzip der visuell gespaltenen Aufmerksamkeit: Gesprochener Text ist einem nur am Bildschirm gezeigten vorzuziehen. • Prinzip der auditiv gespaltenen Aufmerksamkeit: Die auditive Information sollte sich auf das Wesentliche beschränken, dies bedeutet, dass sich z. B. Hintergrundmusik eher negativ und ablenkend auswirkt. • Prinzip der kleinen Sequenzen: Die dargebotenen Lernteile sollten eher kurzgehalten werden, damit sie besser verarbeitet werden können. • Prinzip der Kohärenz: Auf zusätzliche Information, die nicht unmittelbar zum Inhalt/zur Darstellung gehören, sollte verzichtet werden. • Prinzip der Individualität: Das Vorwissen der lernenden Person spielt eine entscheidende Rolle bei der Bildung der mentalen Modelle.

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4.3 Was macht ein gutes Erklärvideo aus?

Kurzum, es sollte also präzise – in einem Drehbuch – geplant werden, in welcher Reihenfolge welches Bild und welcher (gesprochene) Text zum Einsatz kommt. Insgesamt ist dabei eine sehr hohe Tonqualität sowie auch eine Sprachaufnahme mit ausgebildeten Sprecherinnen und Sprechern wichtiger als ein scharfes Bild.

Erklärvideos als didaktische Herausforderung Für die Drehbuch-Erstellung von Erklärvideos sollten im Vorfeld folgende hilfreiche Fragen geklärt werden (Zorn/Auwärter/Seehagen-Marx 2011): • Welche Zielgruppe möchte ich erreichen? • Welche Lernziele sollen erreicht werden? • Welche Ressourcen (technisch, personell) sind vorhanden? Die Erstellung von Erklärvideos ist für Lehrende in der Regel eine echte Herausforderung. Für sie haben wir einen Canvas entwickelt, der diesen Prozess begleiten kann (Abb. 3):

Abb.3: Lernvideo-Canvas37 von Sandra Schön, Martin Ebner für medienpaedagogik-praxis.de unter CC BY 3.0

37 Die Abbildung steht kostenfrei unter CC-BY-Lizenz zum Download verfügbar unter: https:// www.medienpaedagogik-praxis.de/2016/07/18/vorlage-zur-ideensammlung-rund-um-lernvideos-und-andere-zugaengliche-vorlagen/

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4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos?

Achtung: Erklärvideo-Paradoxe Auch die richtig guten Erklärvideos, bei denen es gelingt, komplizierte Sachverhalte gut zu illustrieren und zu erklären, können Probleme bergen: Zum einen merken Lernende so eventuell gar nicht, dass sie sich ernsthaft mit einem Thema auseinandersetzen sollten. Zum anderen könnte es auch sein, dass Lernende das Thema mithilfe des Videos schnell erfassen, aber sie trotzdem keine höheren Leistungen zeigen, weil weiteres Lernen unnötig ist. Beide Thesen lassen sich jedoch nur schwer empirisch überprüfen. Im Video können entsprechende Transferfragestellungen auf die Komplexität des Themas hinweisen. Auch können Lehrende ggf. neben dem Video in entsprechenden Übungen oder Anwendungsbeispielen für die Vertiefung eines Themas sorgen.

Literatur Ebner, M./Schön, S. (2017): Lern- und Lehrvideos: Gestaltung, Produktion, Einsatz. In: Wilbers, K./ Hohenstein, A. (Hrsg.), Handbuch E-Learning. Expertenwissen aus Wissenschaft und Praxis. – Strategien, Instrumente, Fallstudien. 71. Erg. Lieferung (Oktober 2017). 4.61. S. 1–14. LeFever, L. (2012): The Art of Explanation. New York: John Wiley & Sons. Mayer, R. E. (1999): Multimedia aids to problem-solving transfer. In: International Journal of Educational Research 31(1999), S. 611–623. Schön, S./Ebner, M. (2014): Zeig doch mal! – Tipps für die Erstellung von Lernvideos in Lege- und Zeichentechnik. In: Zeitschrift für Hochschulentwicklung (ZFHE), 9/3, S. 41–49. Online verfügbar unter: http://zfhe.at/index.php/zfhe/article/view/669 [Letzter Zugriff: 21.01.2020]. Schön, S./Ebner, M. (2013). Gute Lernvideos … so gelingen Web-Videos zum Lernen! Books on Demand GmbH, Norderstedt. Online verfügbar unter: http://bimsev.de/ [Letzter Zugriff: 21.01.2020]. Zorn, I./Auwärter, A./Seehagen-Marx, H. (2011): Educasting – Wie Podcasts in Bildungskontexten Anwendung finden. In: Ebner, M./Schön, S. (Hrsg.): Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien (L3T). Online verfügbar unter: http://l3t.eu/homepage/das-buch/ebook/kapitel/o/ id/20 [Letzter Zugriff: 21.01.2020].

4.4 Lessons Learned bei der Erstellung von Erklärvideos Lee LeFever (LLF) im Gespräch mit Karsten D. Wolf (KDW) Lee LeFever hat mit seiner Firma Common Craft am 30.05.2007 das Video »Wiki in Plain English«38 veröffentlicht und damit die Gestaltung von Erklärvideos auf YouTube maßgeblich beeinflusst. In seinem Buch »The Art of Explanation« (2013) beschreibt er seinen Ansatz, Erklärvideos mit Storytelling zu verbinden. LeFever gilt als geistiger Vater des Erklärvideophänomens auf YouTube.

KDW: Lee, Sie haben 2007 das neue YouTube-Genre »Erklärvideos« erschaffen, in dem Sie im YouTube-Stil anfingen, Dinge so zu erklären, dass sie jeder verstehen 38 Common Craft »Wiki in Plain English«: https://www.YouTube.com/watch?v=-dnL00TdmLY

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4.4 Lessons Learned bei der Erstellung von Erklärvideos

konnte. Was ist für Sie der Unterschied zwischen einem Tutorial, z. B. um den defekten Bildschirm eines Smartphones auszutauschen, und Erklärvideos wie in Ihrer »Plain English«-Serie? LLF: Unsere Videos fokussieren – verglichen mit Tutorials – auf die Beantwortung einer anderen Frage. Ein Tutorial fragt: »Wie mache ich etwas?« und »Welche Schritte muss ich machen?« Common-Craft-Videos fokussieren mehr auf das »Warum?«, also »Warum macht das Sinn?« oder »Warum sollte mich das kümmern?«. Das ist ein ganz wichtiger Unterschied, denn Warum-Fragen sind weniger prozessual, sondern vielmehr konzeptuell. Wenn man die Warum-Frage schnell beantworten kann, sind die Zuschauer/innen motivierter zu entdecken, »wie« man etwas macht. KDW: In Ihrem Buch präsentieren Sie zehn Lessons Learned von Common Craft: (1) das Erklärziel früh zu nennen; (2) ein Problem zu lösen; (3) sich kurz zu fassen; (4) visuelle und auditive Ablenkung (»noise«) zu minimieren; (5) Visualisierungen zu nutzen; (6) Perfektionismus zu vermeiden; (7) langsam zu erklären; (8) zeitlose Beispiele zu wählen; (9) barrierefrei zu präsentieren und schließlich (10) Spaß zu haben! Das war im Jahr 2013. Welche weiteren Lektionen haben Sie seitdem gelernt? LLF: Ich lerne andauernd neue Lektionen! Mein Buch »The Art of Explanation« betrachtet die Fähigkeit zum Erklären ja aus einer sehr breiten Perspektive. Das Buch ist für jede/jeden, die/der lernen möchte, klarer und verständlicher zu kommunizieren. In der letzten Zeit habe ich mich darauf fokussiert, Menschen dabei zu helfen, ihre eigenen Erklärvideos mit einfachen und günstigen Werkzeugen zu erstellen. Zentral für die Erstellung von Videos ist das Schreiben von Skripten. Die Erklärung lebt und entsteht im Skript. Deshalb ermuntere ich die Menschen, das Erklären zu üben, indem sie ein Skript für ein Video schreiben. Es kommt gar nicht darauf an, ob das Video jemals gedreht wird. Einfach die Ideen zu durchdenken und sie in einem Skript aufzuschreiben ist aufschlussreich und hilfreich. Es zwingt einen zu analysieren, was man weiß und was man nicht weiß über das Thema. Zu dieser Praxis wurde ich durch die Feynman-Technik inspiriert (benannt nach dem Nobelpreisträger Richard Feynmann), in der man ja ein Konzept lernt, in dem man versucht, es einfach zu erklären. KDW: Welche Erkläransätze funktionieren und welche nicht? Haben Sie schon Erklärvideos produziert, bei denen sie sich sicher waren, dass die Menschen sie verstehen würden, nur um festzustellen, dass sie es nicht verstanden haben? LLF: Die meisten Erklärungen sind schwer zu bewerten, weil sie kontextuell sind. Ihr Erfolg oder Scheitern hängt von der Auffassung der Zielgruppe ab. Das ist wie beim Humor. Es ist nicht wichtig, ob ein Komiker denkt, dass ein Witz lustig ist. Entscheidend ist, wie die Zuschauer/innen auf den Witz reagieren. Es gibt keinen Standard

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4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos?

für Humor oder für klare Kommunikation, die für alle Personen gültig ist. Eine Produzentin/ein Produzent sollte sich also immer fragen, für wen sie/er die Erklärvideos konzipiert. Eine der Herausforderung bei der Produktion von Online-Videos ist das Fehlen einer direkten Feedback-Schleife. Obwohl wir versuchen, unsere Videos für ein sehr breites Publikum zu gestalten und uns auch Feedback einholen, ist es unvermeidlich, dass manche Zuschauer/innen unsere Videos nicht verstehen. Unglücklicherweise bekommen wir das meistens nicht mit. Wir können ihre Reaktion nicht sehen, wenn sie z. B. verwirrt sind. Sie müssten uns dazu kontaktieren und darüber berichten, dass sie es nicht verstanden haben. Das passiert aber nur sehr selten. KDW: Ist Common Craft ein Paradebeispiel dafür, dass man über kein besonders großes Produktionsbudget verfügen oder eine aufwendige Video-Postproduktion betreiben muss, um sehr erfolgreiche Erklärvideos zu erstellen? LLF: Ja, da stimme ich zu 100% zu. Wir hatten kaum Erfahrung in der Videoproduktion, was man auch sah. Die Audioqualität war schlecht, die Visualisierungen waren chaotisch und die Beleuchtung war auch nicht gut. Aber es war nicht wichtig, weil die Erklärungen für die Zuschauer/innen funktionierten. Die Videos erläuterten technische Konzepte wie RSS-Feeds oder Wikis auf eine Weise, die zugänglich und einfach wirkten. Unser Ziel ist Klarheit. Aufwendige Grafiken, Musik und Videoeffekte lenken meisten nur ab von diesem Ziel. Für uns ist Video nur das Kommunikationsmedium. Die Erklärung existiert viel mehr in den Worten als in den Bildern. Wir nutzen die meiste Zeit zum Schreiben und Entwickeln der Skripte, weil die Erklärung genau dort passiert. Was man dann im Video sieht, ist eine visuelle Unterstützung für das, was gesprochen wird. KDW: Ist YouTube ein Werkzeug, das Amateur/innen ermöglicht, Dinge zu erklären? LLF: Ja, das denke ich. Aber es ist wichtig zu realisieren, dass Erklärungen viele Formen haben. Ist es eine Erklärung, wenn eine Teenagerin/ein Teenager über ihren/ seinen Tag in der Schule spricht? Vielleicht. Ist eine Videobesprechung eines Buches oder eines Filmes eine Erklärung? Möglicherweise. Wie ich schon gesagt habe, hängt alles von der Absicht der Videoproduzentin/des Videoproduzenten ab. YouTube ist ein wundervolles Medium, um den Leuten die Möglichkeit zu geben, ihr Wissen mit anderen zu teilen, egal ob sie Expert/innen oder Amateur/innen sind. Ob diese Videos tatsächlich gute Erklärungen sind, hängt für mich mit der Klarheit ihrer Kommunikation zusammen. KDW: Glauben Sie, dass man alles mit Erklärvideos erklären kann oder gibt es natürliche Grenzen der Erklärung mit Video? Zum Beispiel, wenn Sie einen sehr komplexen Forschungsartikel erklären sollten oder ein Buch von Foucault oder Habermas?

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4.5 Erklärvideos als digitale Vertretungslehrkraft?

LLF: Ja, es gibt Grenzen. Prozessorientierte Informationen können häufig nicht gut als Erklärvideo bzw. als Video allgemein vermittelt werden. Stellen Sie sich ein Laborexperiment mit zusammenhängenden Schritten vor. Dort ein Video zu nutzen funktioniert nicht so gut wie ein Blatt Papier mit einer Anleitung. Es ist schwierig, Videos zu »durchblättern«, Notizen zu schreiben oder sich Lesezeichen hinzuzufügen. Wenn man allerdings verstehen möchte, wozu das Experiment gut ist und welche Konzepte es in der Welt der Wissenschaft klar macht, dann wäre ein Erklärvideo hilfreich. Ich spreche natürlich für unsere Form der Erklärvideos, die keine Liveaufnahmen von echten Menschen beinhalten. Unser Format ist einfach gestaltet, um wenig abzulenken. Deshalb haben die Figuren in unseren Videos auch keine Gesichter. Sie sind symbolische Menschen, die mehr wie Requisiten eingesetzt werden. Sie sind da, um eine Geschichte zu erzählen, oder das Thema mit einer menschlichen Perspektive zu verbinden. Unser Format funktioniert nicht gut, wenn das Ziel ist, ein menschliches Gesicht mit Emotionen zu zeigen. Menschliche Gesichter und Realfilme in Videos haben ihre eigenen Qualitäten. Wenn man aber etwas erklären will, können sie auch ablenken.

4.5 Erklärvideos als digitale Vertretungslehrkraft? Lernplattformen müssen mehr als Erklärvideos bieten! Stephan Bayer (SB) im Gespräch mit Stephan Dorgerloh (SD) Stephan Bayer ist der Gründer und Geschäftsführer der Lernplattform sofatutor. Erstmals berichtet er hier auch vom Pilotprojekt eines digitalen Vertretungsunterrichts.

SD: Was macht ein gutes Lernvideo für Sie aus? SB: Der Mehrwert eines Erklärvideos liegt in seiner Zugänglichkeit. Im Gegensatz zur Lehrerin oder zum Lehrer kann der Lernstoff im Video beliebig oft abgespielt, vorgespult, wiederholt und pausiert werden. Damit passt sich ein Erklärvideo an das Lerntempo jeder einzelnen Schülerin bzw. jedes einzelnen Schülers an. Zudem ist es überall und jederzeit über das Internet verfügbar. Diese Eigenschaften machen das Lernvideo zu einem idealen Medium, um Wissen zu vermitteln. Um es gewinnbringend anzuschauen, sollte jedoch vor dem Einsatz mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam geübt werden, damit der Inhalt richtig verarbeitet wird. Schüler/innen sollten dabei u. a. lernen, sich während des Anschauens Notizen zu machen und Verständnisfragen zu identifizieren. Besonderer Wert sollte im Anschluss auf die Wiederholung des Stoffes gelegt werden. Zur Wissenssicherung sowie zur Vertiefung eignen sich ergänzend zum Erklärvideo weitere (digitale) Lernmaterialien, die variabel im und nach dem Unterricht eingesetzt werden können. SD: Wie muss man sich das Üben auf Ihrer Plattform vorstellen?

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4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos?

SB: Wurde der Unterrichtseinstieg mithilfe eines Lernvideos von sofatutor gestaltet, finden sich auf der Plattform zum Video passende interaktive Übungen, die das frische Wissen durch das selbstständige Lösen und Anwenden sichern und eventuelle Verständnislücken bei den Schülerinnen und Schülern aufzeigen (Erarbeitungsphase). Verschiedene Aufgabentypen, z. B. das Lückenfüllen, die Multiple-Choice-Aufgabe oder das Finden von Paaren, sorgen dabei für Abwechslung und knüpfen an bekannte Formate des Schulunterrichts an. So muss man in Biologie zum Themengebiet Mitose z. B. den richtigen Ablauf der Mitose per Drag-and-drop festlegen, Chromosomen beschriften und bestimmen, welche Aussagen über den Ablauf der Mitose korrekt sind. Die Übungseinheiten sind dabei so aufgebaut, dass sie nach dem Abfragen des erlernten Stoffs in praktische Anwendungsaufgaben übergehen (Transferphase). Diese Übungen können sowohl im Klassenverband am interaktiven Whiteboard als auch individuell per Smartphone, PC oder Tablet gelöst werden. Bei falschen Antworten können Schüler/innen bei sofatutor dank der umfangreichen Tipps noch einmal genauer in den Lernstoff eintauchen. Statt die Lösung einfach vorzugeben, puffern pro Übung drei Versuche Flüchtigkeitsfehler und Frustration ab, die für das Weiterlernen nicht zuträglich wären. SD: Was passiert, wenn ich zu Hause dennoch nicht weiterkomme? SB: Da bietet sofatutor die Video-Hilfe beim Lösen der Aufgaben an. Merken die Lernenden, dass sie etwas nicht verstanden haben, können sie ganz einfach aus der Übung heraus mit einem Klick auf den Hilfe-Button genau an die Stelle des Videos springen, die den Sachverhalt noch einmal erklärt. So werden Wissenslücken geschlossen und die Selbstständigkeit beim Lernen wird gefördert (Ergebnissicherung). SD: Nun sind nicht alle Schüler/innen gleich motiviert. Was bietet die Plattform da an? SB: Die Online-Lernplattform sofatutor fördert die Lernmotivation beim eigenständigen Arbeiten durch einen spielerischen Ansatz: Lernende werden in leicht ansteigenden Übungsaufgaben, ähnlich wie die Helden eines Computerspiels, ständig dazu ermuntert, sich anzustrengen und zu verbessern. Der Schwierigkeitsgrad der Übungen passt sich dabei dem Wissen der einzelnen Schülerin bzw. des einzelnen Schülers an. So stellen sich schnell erste Lernerfolge ein. Durch regelmäßiges fleißiges Lernen auf der Plattform erreichen Schüler/innen zudem vielfältige virtuelle Abzeichen, die sie auf ihrer Erfolge-Seite einsehen können. So wird belohnt, wenn die Video-Hilfe zum Lösen eingesetzt oder eine knifflige Bonusaufgabe freigeschaltet wurde. Auch kleine Schritte, wie das vollständige Schauen eines Lernvideos, werden belohnt, damit der Anreiz zum Weiterlernen gegeben ist. Die sogenannte Lernsafari ist eine Art Sammelalbum, bei der je nach Lernstand und -fortschritt neue Herausforderungen gemeistert werden müssen und erreichte Ziele

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4.5 Erklärvideos als digitale Vertretungslehrkraft?

visualisiert werden. Schaffen Schüler/innen diese, erhalten sie eine virtuelle Belohnung und eine Aufgabe für die nächste Woche, um dranzubleiben. SD: Heißt lernen mit Lernvideos nicht auch, dass ich letztlich immer allein vor dem Bildschirm sitze? SB: Neben den interaktiven Übungen bieten sich Arbeitsblätter zum Ausdrucken im Unterricht an (Übungsphase): Bei diesem Vorgehen lösen die Schüler/innen zunächst die Arbeitsblätter handschriftlich in Einzelarbeit. Zur Kontrolle vergleichen sie ihre Ergebnisse anschließend abschnittsweise mit einer Partnerin bzw. einem Partner. Sie diskutieren ihre Lösungsansätze miteinander und vertiefen dadurch ihr Verständnis. Die Arbeitsblätter von sofatutor bieten direkt zu den jeweiligen Lernvideos Übungen und Arbeitsaufträge an. Bei Unklarheiten helfen beigefügte Tipps, den richtigen Lösungsweg zu identifizieren. Jedem Arbeitsblatt liegt zudem in letzter Instanz ein Lösungsschlüssel bei, um die richtige Lösung überprüfen zu können. Studien haben nachgewiesen, dass digitale Lerninhalte besonders effektiv sind, wenn sie in Partner/innenarbeit diskutiert und behandelt werden können (Hillmayr, Reinhold/Ziernwald/Reiss 2017). Durch die Übertragung der digitalen Lerninhalte in die analoge Bearbeitung von Arbeitsblättern kann noch dazu multimedial gearbeitet werden, was eine Wissenssicherung über das digitale Medium hinaus ermöglicht. Schüler/innen kommen so unkompliziert ins selbstständige Üben, können sich mit Tipps versorgen und erleben eine Eigenmotivation, das Thema vollständig zu durchdringen. Natürlich bieten sich die Arbeitsblätter auch zum Stationenarbeiten oder zur selbstständigen Bearbeitung zu Hause an, um das in der Unterrichtsphase erworbene Wissen zu sichern. SD: Wie finde ich bei der großen Menge der Videos genau das, was ich brauche? SB: Wo im Lehrbuch mithilfe des Glossars nach dem passenden Text oder Beispiel gesucht werden muss, erleichtert auf Online-Lernplattformen die Suchfunktion die sekundenschnelle Orientierung im Lernstoff. Denn ein Lernvideo kann erst dann seine Wirkung entfalten, wenn es auch gefunden wird. Um auf YouTube ein qualitativ hochwertiges Video passend zum Schulstoff zu finden, kann es einige Zeit dauern. Im Gegensatz zur offenen Browser-Suche bietet die Plattform hier einen geschützten Raum an, der ausschließlich didaktisch geprüfte Inhalte bietet. Die Suchfunktion ist das Kernstück und der Ausgangspunkt des Lernens mit sofatutor. Wird ein Begriff über die Eingabeleiste im oberen Bereich der Plattform eingegeben, interpretiert die Suche den Suchterm und liefert passende Vorschläge zum gesuchten Begriff. Die häufigsten Anfragen werden dabei zuerst angezeigt. Alle Ergebnisse werden übersichtlich nach Fächern sortiert, wobei jedes Lernvideo seinem jeweiligen Thema zugeordnet ist. Die Ergebnisse werden interdisziplinär und klassenstufenübergreifend dargestellt, sodass Schüler/innen schnell erfassen können, ob

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4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos?

sie aktuellen Lernstoff benötigen oder Grundlagenwissen aus unteren Klassenstufen auffrischen wollen. Mithilfe von Filterfunktionen kann die Fächerauswahl und die Klassenstufe bzw. das Lernjahr eingeschränkt werden. SD: Nun kann es aber sein, dass ich trotz Partner/innenarbeit, Online-Hilfe und Arbeitsblättern trotzdem nicht weiterkomme. Was dann? Also doch klassische Nachhilfe? SB: Schüler/innen brauchen idealerweise auch am Nachmittag die Unterstützung von Fachkräften. Denn zum Lernprozess gehört es, an Wissens- und Verständnisgrenzen zu stoßen. Digitale Medien fördern das selbstständige Lernen, jedoch sollten Schüler/ innen bei Problemen nicht allein gelassen werden. So bietet der sofatutor-Hausaufgaben-Chat mit Lehrkräften den Lernenden die unkomplizierte Möglichkeit, auch am Nachmittag Antworten auf ihre Fragen zum Schulstoff zu erhalten. Dabei wird ihnen jedoch nicht direkt die Lösung vorgegeben, sondern sie müssen diese weiterhin selbst erarbeiten, um ein Erfolgserlebnis zu haben. Erfahrene Lehrkräfte geben ergänzende Hinweise, welcher Lernstoff wiederholt werden sollte. Dabei ist das Chat-Format in der Handhabung allen Schülerinnen und Schülern vertraut. Im Gegensatz zu einem persönlichen Gespräch oder einem Telefonat suggeriert ein Chat zudem Anonymität, was die Hemmschwelle für die Lernenden senkt, ihre Fragen offen zu stellen. SD: Kürzlich hat sofatutor ein neues Pilotprojekt gestartet, die digitale Vertretungsstunde. Was muss ich mir darunter vorstellen und wie funktioniert es in der Praxis. SB: In jedem Bundesland fallen jährlich hunderttausende Unterrichtsstunden aus. In Zeiten von Lehrermangel mit steigender Tendenz. Selten können sie von einer anderen Fachlehrerin/einem anderen Fachlehrer vertreten werden. Stattdessen ist dann Stillbeschäftigung angesagt oder es werden Hausaufgaben gemacht etc. Generell können wir uns diesen Umgang mit Lernzeit nicht leisten und Schüler/innen in einem Abschlussjahrgang noch viel weniger. Wir haben überlegt wie wir unser Lernvideomaterial und die vielen dazu passenden Arbeitsblätter hier sinnvoll einbringen können. Wir sind derzeit in Sachsen-Anhalt in einem Pilotprojekt an 14 Schulen unterwegs. Konkret läuft das in der Praxis so ab: Fällt an einer Schule spontan eine Lehrkraft aus, setzt sich das Sekretariat mit sofatutor in Verbindung und gibt an, welche Stunde ausfällt. Bei uns suchen dann Lehrkräfte nach passenden Videos, Übungen sowie Arbeitsblättern und erstellen einen Stundenentwurf. Alles zusammen geht dann kurze Zeit später an die Schule. Fällt also beispielsweise die Mathematik-Kollegin aus, kann der Sportlehrer mithilfe des bereitgestellten Materials die Stunde fachgerecht vertreten – und das ohne große eigene Vorbereitungszeit. Dabei sollen mit diesem Angebot keine Lehrkräfte ersetzt werden, sondern auch fachfremden Kollegen ein fachgerechterer Vertretungsunterricht ermöglicht werden.

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4.5 ErklärvideosalsdigitaleVertretungslehrkraft?LernplattformenmüssenmehralsErklärvideosbieten!

5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis Stephan Dorgerloh

Wöchentlich wächst die Zahl der Schüler/innen, die heute ganz selbstverständlich verschiedene Arten von Lernvideos nutzen.39 Sie bereiten sich damit auf Klassenarbeiten vor, schauen Videos für die Hausaufgaben oder holen Schulstoff nach, den sie z. B. im Krankheitsfall versäumten. Ob YouTube-Kanäle oder Abo-Plattformen wie sofatutor und learnattack, das Angebot ist weitgefächert. Wir schauen mit den folgenden Beiträgen in unterschiedliche Klassenzimmer. Alle Schulformen sind dabei: eine Grundschule, die an einem Forschungsprojekt zum Einsatz digitaler Medien teilnahm; die beim Deutschen Schulpreis 2019 ausgezeichnete Alemannen Gemeinschaftsschule Wutöschingen; aber auch Schulen, in denen es kein ausreichendes WLAN für alle gibt. Hier schreiben und reflektieren die Lehrkräfte selber, wie sie Unterricht mit Videos gestalten und was sie dabei lernten. Die Vielfalt der Praxis ist beeindruckend. Schüler/innen folgen den eigenen Lehrkräften online oder sehen bestimmte Lektionen als Lernvideos im Netz. Welche Möglichkeiten für den Unterricht im Video stecken, zeigen die vielfältigen Ansätze und Ideen von Lehrkräften, vom Lehrerfeedback bis zur Leistungskontrolle, und ständig kommen neue Ideen hinzu. Einige erprobte Ansätze stellen wir vor und laden zur Nachahmung ein. Der Vielfalt im Umgang mit dem Videoformat scheinen kaum Grenzen gesetzt. Ob allein oder in Gruppen angesehen, ob mit passenden Arbeitsblättern begleitet oder in Übungsaufgaben eingebettet – der passende Einsatz von Videos will mit Blick auf den Unterrichtsstoff, die Klassensituation und viele andere Rahmenbedingungen sorgsam überlegt sein. Und schließlich muss die fachdidaktische Gestaltung des Videomaterials stimmen. Je mehr Medien im didaktischen Werkzeugkoffer zur Verfügung stehen, umso deutlicher tritt die Frage nach der pädagogischen Kuratierung der zum Einsatz kommenden Medien in den Vordergrund. Fertige Erklärvideos anzuschauen ist aber nicht das einzige Einsatzszenario. Durch die Eigenerstellung von Erklärvideos kann eine besonders hohe Aktivierung von Schülerinnen und Schülern erreicht werden. Wie sich mittels eigenerstellter Videos auch der Leistungsstand überprüfen lassen kann, wie das Erstellen von Videos ein geeignetes Mittel ist, um neuen Stoff zu vermitteln und in heterogenen Gruppen auch fächerübergreifend junge Leute zum gemeinsamen Lernen zu motivieren, berichten die folgenden Beiträge. Bei den ausgewählten Berichten aus der Praxis war es wich39 siehe dazu auch die jüngst erschienene Studie des Rates für Kulturelle Bildung vom Juni 2019: https://www.rat-kulturelle-bildung.de/fileadmin/user_upload/pdf/Studie_YouTubeYouTube_ Webversion_final.pdf

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5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis

tig, dass wir nicht nur offen den Entwicklungsprozess beim Einsatz von Lernvideos nachvollziehen können, sondern auch, dass deutlich wird, dass mit Videos auch dann erfolgreich gearbeitet wird, wenn die technischen Rahmenbedingungen noch nicht besonders gut sind. Immer wieder hören wir von Lehrkräften, dass es darauf ankommt, nicht zu warten, sondern zu starten, das eigene didaktische Handwerkzeug zu erweitern und die neuen Möglichkeiten, die Erklärvideos bieten, auszuprobieren, sich weiterzubilden und mit erfahrenen Lehrkräften auszutauschen. Die gegenwärtige Schüler/innenschaft schaut viel mehr Videos, Clips und bewegte Bilder als frühere Generationen. Was diese 21st-Century-Learner von ihren Lehrkräften erwarten, ist ein souveräner wie reflektierter Umgang mit dem Medium Video. Dabei muss nicht alles perfekt sein, aber die Bereitschaft, einen eigenen didaktischen Erfahrungsschatz aufzubauen und eine zeitgemäße pädagogische Praxis zu leben, muss spürbar werden. Bei unseren Schulbesuchen und Gesprächen mit den Lehrkräften, wie auch den hier vertretenen Autor/innen, ging es immer auch darum, die Grenzen oder Schattenseiten der Videonutzung zu thematisieren. Die hier geteilten Beobachtungen und Reflexionen aus der Praxis sollen helfen, das didaktische Potenzial zu nutzen, ohne zu viele unerwünschte Nebenwirkungen in den Lernprozess zu holen.

5.1 Erklärvideos in Grundschulen 5.1.1 Lernvideos schon in der Grundschule? Erkenntnisse aus einem praxisnahen Forschungsprojekt Thomas Seidel Die Maria-Montessori-Grundschule in Berlin-Tempelhof/Schöneberg ist eine staatliche offene Ganztagsschule mit ca. 490 Schüler/innen. Sie ist dreizügig und in den Klassenstufen 1–3 nach dem Prinzip des jahrgangsübergreifenden Lernens (JüL) organisiert, in den Klassenstufen 4–6 nach den einzelnen Klassenstufen. Das Kollegium bilden ca. 35 Lehrkräften.

Seit 2007 arbeitet die Maria-Montessori-Grundschule als Modellschule im eEducation-Masterplan der Berliner Senatsverwaltung für Bildung. Besonderer Wert wird auf die Schulhomepage mit öffentlichem Bereich für Eltern und Interessierte40 und einem internen Bereich für das Kollegium, gelegt. Für die Arbeit im Unterricht, aber auch für die Schüler/innen zu Hause gibt es das Angebot des Lernportals MMGKinderseite41. Die Arbeit mit digitalen Medien wird seit 2009 vom IT-Betreuenden der Schule in einem Blog42 reflektiert. 40 www.mmg-online.de 41 www.mmgkinderseite.de 42 www.pixeltafel.de

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5.1 Erklärvideos in Grundschulen

Projekt – Hintergrund In der aktuellen – digitalen – Lebenswelt auch schon der Grundschulkinder haben bewegte Bilder einen hohen Stellenwert. YouTube-Stars genießen großes Ansehen und »How-to«-Videos von Schmink-Tipps bis zu Mathe-Erklärvideos von Jugendlichen haben hohe Klickraten bei den Kindern. Deshalb wollten wir in einem Projekt mehr über die Chancen und Grenzen des Einsatzes von Lernvideos in der Grundschule herausfinden. Mit wissenschaftlicher Begleitung durch die PH Heidelberg nahmen wir am Projekt zu Flipped Classroom teil. Ein Anschlussprojekt ermöglichte uns die Arbeit mit dem Erklärvideo-Anbieter sofatutor.com fortzuführen. Neben Erklärvideos von Sofatutor und anderen Videos wie z. B. von Lehrer Schmidt (siehe auch Interview mit Kai Schmidt, Kap. 2.3) wurden aber auch klassische Quellen für Lernvideos und Unterrichtsfilme (FWU-Mediathek) genutzt. Projektziel war, in den Klassenstufen 4 bis 6 zu vier inhaltlichen Schwerpunkten Erfahrungen zu sammeln: • vorhandene Lernvideos nutzen • selbst als Lehrkraft Lernvideos erstellen • Schüler/innen selbst Lernvideos erstellen lassen • die Arbeit reflektieren und evaluieren Der erste Punkt: Die Nutzungsmöglichkeiten vorhandenen Materials wurden recht schnell umgesetzt und im Kreis der Kolleginnen und Kollegen kommuniziert. Die geringen technischen Hürden durch die SMART-Boards in unseren Klassenräumen (kein Beameraufbau nötig) erleichterten dies, ebenso wie die Verlinkungen im Lernportal MMGKinderseite. Zwischen den Kolleginnen und Kollegen fand schnell ein fachbezogener Austausch statt, z. B. zu Lernvideos in Naturwissenschaft, Sachunterricht und Sprachen. Die zweite Herausforderung: Lernvideos bzw. Erklärvideos selbst als Lehrkraft zu erstellen schien doch eher etwas für Expert/innen zu sein. Wobei die Kolleginnen und Kollegen meinten, dass es weniger an der Technik, sondern eher an der Zeit scheiterte, sich mit dem Thema, der Umsetzung und der Effizienz für den Unterricht zu beschäftigen. So hat nur eine Lehrkraft selbst Erklärvideos erstellt. Als dritte Hürde zeigte sich die praktische Umsetzung mit den Schülerinnen und Schülern. In nur einer 5. Klasse erstellten diese selbst Erklärvideos. Last but not least: Für die Reflexion und Evaluierung erarbeiteten wir Fragebögen für Lehrkräfte und Schüler/innen. Darin konnten die Schüler/innen Rückmeldungen zu ausgewählten Erklärvideos geben, ob sie den Inhalt verstanden hätten (differenziert nach Geschwindigkeit von Text und Bild, Erklärung von Fachbegriffen u.Ä.) und ob ihnen das Video beim Lösen von Aufgaben half. Danach wurden Videos dann bei Bedarf auch aus der Vorauswahl herausgenommen oder mit anderen ausgetauscht. Lehrkräfte gaben Hinweise zur Gestaltung von Arbeitsblättern zu den Erklärvideos (Anzahl der Fragen pro Arbeitsblatt, Bezug zum Videoinhalt).

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5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis

Was haben wir gelernt? Kompetenzen der Lehrkräfte

»Didaktik vor Technik« – Welche Erklärvideos sind sinnvoll und bringen im Unterricht wirklich einen Mehrwert? Womit können Schüler/innen sich neue Inhalte aneignen oder erworbenes Wissen durch Wiederholung, Visualisierung und andere Sichtweisen als im Unterricht der Lehrkraft in einem Video festigen? Hier mussten die Lehrkräfte als Expert/innen für Medienauswahl die digitalen Materialien sichten, bewerten und für den Unterricht auswählen. Die Inhalte der Videos wurden auf Kompatibilität mit den Unterrichtsinhalten nach dem Rahmenlehrplan und schulinternen Curriculum geprüft, wobei auch Aspekte der Differenzierung des Lernstoffs eine große Rolle spielten (verschiedene Schwierigkeitsgrade). Auch die Bereitstellung (Linksammlung im Lernportal der Schule, Links im digitalen Tafelbild, QR-Code® auf Lernkarteikarten usw.) musste bewerkstelligt werden. Die Lehrkräfte setzten die Videos im Unterricht vielfältig ein. Sie nutzten dabei die technischen Möglichkeiten der Playersoftware (Pause-Funktion für Reflexionsphasen, Abspielen mit/ohne Ton, um sich auf einen Wahrnehmungs-Kanal zu konzentrieren, Präsentation nur einzelner Filmsequenzen etc.) und betteten sie methodisch-didaktisch passend in den Unterricht ein. Insgesamt ging es hier immer wieder auch um die Verbindung von analogem und digitalem Arbeiten. Die Lehrkräfte mussten, wie im herkömmlichen Unterricht auch, differenzierte Lernangebote machen oder zu den Lernvideos differenzierte Zusatzaufgaben, denn nicht alle Schüler/innen können den digitalen Medien im gleichen Tempo und mit derselben Auffassungsgabe gleichermaßen folgen. Kompetenzen der Schüler/innen

Auch das Ansehen von Videos mit den Schülerinnen und Schülern musste geübt werden. Für eine Individualisierung des Unterrichts war es nötig, dass die Schüler/innen sich die Filme auch alleine effektiv ansehen konnten. In Unterrichtsformen wie Lerntheke oder Stationsarbeit konnten auch mobile Endgeräte wie Laptops eingesetzt werden. Dabei war es nötig, die Lernzeit optimal zu nutzen, sodass nicht viel Zeit aufgewendet werden musste, überhaupt zu den Erklärvideos zu kommen. Dafür mussten sich die Schüler/innen sicher im Lernportal »bewegen« können bzw. Fähigkeiten wie QR-Codes®-scannen beherrschen. Lange URLs sicher eingeben konnten nur wenige Schüler/innen, sodass es hier zu großen Zeitverlusten im Unterricht kam. QR-Codes® einlesen stieß z.T. auf technische Schwierigkeiten, sodass eine Linkliste im Lernportal für die individuelle Nutzung von Erklärvideos die optimale Lösung war. Waren die technischen Fragen geklärt, konnten sich Schüler/innen ganz auf die Inhalte konzentrieren und z. B. Erklärvideos zu bestimmten Rechenoperationen im Mathematikunterricht ansehen und danach Aufgaben im Arbeitsheft dazu lösen. Zu Hause nutzten nur wenige Schüler/innen das Erklärvideoangebot. Die Versorgung mit digitalen Medien ist zwar sehr umfangreich, wenn es aber um den rei-

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5.1 Erklärvideos in Grundschulen

bungslosen Zugang zu PC oder Laptop zu Hause geht, gibt es doch oft erhebliche Schwierigkeiten. PC oder Laptop stehen den Kindern nicht zur Verfügung oder der Internetzugang ist unzureichend (oft lassen sich die Probleme nicht klären, Browserprobleme o.Ä.). Die Bedienkompetenz für digitale Medien allein reichte vor allem bei weniger leistungsstarken Kindern nicht aus, um die Lernmotivation im häuslichen Umfeld dauerhaft zu stärken. Hier bedarf es im Unterricht oft weitergehender Unterstützung durch Aufgabenstellungen (Arbeitsblätter) zum Video, Ergebnissicherung in schriftlicher Textform im Hefter der Schüler/innen und eines Unterrichtsgespräches (Formulierung des Gesehen in eigenen Worten). Unterrichtsgestaltung

Bei der Unterrichtsgestaltung zeigte sich, dass eine Verbindung von herkömmlichem, differenziertem Unterricht mit analogen und digitalen Medien, hier speziell Lern- und Erklärvideos, sinnvoll ist. In einer Unterrichtsstunde, in der die Schüler/innen parallel differenziert in Einzel- oder Partner/innenarbeit lernen, mit Karteien, Arbeitsheften oder auch Lehrbüchern arbeiten, kennen sie sich mit den Medien aus und können – bei guter Planung – oft auch zeitweise alleine arbeiten. Einige Laptops, z. B. an einer Lernstation, können nun durch wechselnde Schüler/innen genutzt werden. Die Lehrkraft behält bei wenigen Geräten besser den Überblick, »übernimmt« sich nicht, auch wenn sie nicht so techniksicher ist. Bei technischen Problemen stockt nicht der Unterricht der ganzen Klasse. Auch frontal muss das Lernvideo nicht die ganze Unterrichtsstunde bestimmen, eingesetzt als Input, Wiederholung, Handlungsaufforderung oder Zusammenfassung bieten sich hier viele, zeitbegrenzte Möglichkeiten. Arbeitsergebnisse, Beobachtungen

Der Umgang mit Erklärvideos und der gezielte Einsatz der Methode des »Lernen mit Videos« hat insgesamt zur Belebung der Filmbildung beigetragen. Die methodische Spannbreite beim Umgang mit Filmen im Unterricht hat sich erweitert. Den Account für Erklärvideos beim Anbieter haben nur wenige Schüler/innen am heimischen PC genutzt. Das lag an meist unklar gebliebenen Problemen zu Hause. Erklärvideos nutzen ist aber auch kein Selbstläufer. Anfangs waren die Schüler/innen eher begeistert von den Videos. Sofatutor hat viele kindgerecht gestaltete Videos und bei Lehrer-Schmidt-Videos entsteht ein hoher Wiedererkennungs- und Bindungseffekt. Mit der Zeit, nach einigen Wochen, lässt das aber nach und die Lehrkraft muss die Nutzung immer wieder motivierend anregen: sie weist auf passende Videos im Angebot hin, sie gibt Aufgaben dazu auf, stellt Quizfragen, lässt selbst Videos »im Stil von …« produzieren. Schüler/innen einer 5. Klasse haben selbst Erklärvideos aufgenommen. So sind sieben Videos entstanden zum Thema »Koordinatensystem« im Mathematikunterricht. Diese Tätigkeit war im Unterricht mit herkömmlichen Medien in einen Arbeitsplan integriert als weiterführende Aufgabe. Aber auch hier war der technische Anspruch an

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5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis

die Lehrkraft recht hoch, da sich die Schüler/innen für diese Art der Aufgabe nicht so gut mit ihren Smartphones auskannten (Einstellungen der Smartphones, Handhabung bei der Aufnahme, Video überspielen an den PC etc.). Besonders hier zeigte sich, wie die häufige Nutzung von Lehrer-Schmidt-Videos im Unterricht durch die Lehrkraft den Erklärstil prägte: klare Sprache, Kommentar aus dem Off passt zum Bild, ruhiges Sprechen, planvolles Vorgehen beim Erklären usw. konnte besonders gut beobachtet werden. Wie kommt das Video zu den Schüler/innen?

Besonders für die Grundschule stellte sich ein Problem, wenn es darum geht, den Schüler/innen die Lernvideos im Unterricht (oder auch zu Hause) zur Verfügung zu stellen. Wenn es um Internetvideos geht (YouTube, Vimeo), muss eventuell im Schulnetzwerk der Jugendschutzfilter deaktiviert werden. Eine frontale Präsentation am SMART-Board ist dann möglich. Schwieriger wurde es im technisch anspruchsvolleren differenzierten Unterricht mit z. B. einigen Laptops. Kaum eine Schülerin/ein Schüler konnte eine lange URL fehlerfrei eingeben oder es kostete viel Unterrichtszeit. Versuche mit QR-Codes® auf Karteikarten (Scan-App auf den Tablets, Web-Scan mit dem Laptop) gelangen nur mit Schüler/innen, die geübt im Umgang mit der Technik waren. Ideal war schließlich das Verlinken oder Einbetten im Lernportal der Schule. Durch die Links im Lernportal war aber auch der Zugriff vom heimischen Gerät der Schüler/innen gewährleistet. Eltern und Erklärwert

Die Eltern müssen mit ins Boot geholt werden. Elternbriefe und noch besser ein Gespräch auf einer Elternversammlung über den Einsatz digitaler Medien im Unterricht sind sehr sinnvoll. Nicht für alle Schüler/innen bringen Erklärvideos wirklich Erklärwert. Immer wieder sahen sich bestimmte Schüler/innen Erklärvideos an und konnten daraus keine oder kaum Erkenntnisse oder Wissenszuwachs generieren. Die Inhalte waren ihnen zu komplex, die Geschwindigkeit von gesprochenem Text und gezeigtem Film zu schnell. Manchmal gab es auch eine Text-Bild-Schere, bei der der Text nicht genau zum gezeigten Bild passte, was die Schüler/innen verwirrte. Als Alternative erprobten wir hier im zweiten Jahr mit H5P erstellte Präsentationen im Bild-für-Bild-Modus, wo die Nutzerin/der Nutzer in eigener Geschwindigkeit durch das Thema durchklicken kann (ähnlich wie in einer PowerPoint-Präsentation). Auch mit einem Video ist das möglich (mit Camtasia via Screencast), was am Anfang einiger Übung bedurfte. Analog und digital

Eine ganz wichtige Erkenntnis für uns war, digitales und analoges Arbeiten aufseiten der Schüler/innen sinnvoll miteinander zu verbinden und abzuwechseln. Immer wieder kam es vor, dass Lerninhalte aus Erklärvideos nicht dauerhaft behalten wurden. Erklärvideos können und sollten deshalb häufiger mit Arbeitsblattaufgaben verbun-

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5.1 Erklärvideos in Grundschulen

den werden. In dieser Phase der Ergebnissicherung ist der Bildschirm ausgeschaltet. Kernsätze aus dem Film sind so dauerhaft im Hefter nachlesbar oder werden durch intensives Lesen und Abschreiben in den Hefter besser gefestigt. Zielgruppe

Die Beobachtungen im Unterricht in den Klassenstufen 4–6 zeigten, dass Erklärvideos eher für leistungsstärkere Schüler/innen geeignet scheinen, die schon geübt darin sind, sich selbstständig Wissen anzueignen.

Vorläufiges Fazit In den Stunden, in denen die Schüler/innen selbst Erklärvideos erstellten, konnte man eine vielschichtige und vielseitige Auseinandersetzung mit dem Thema des Videos erkennen – weniger mit der Handytechnik! Auch weniger leistungsstarke Kinder brachten sich oft stark ein, einige trafen sich zu Hause und arbeiten dort weiter. Auch beim Ansehen von Erklärvideos im Unterricht war eigentlich immer Neugier und Interesse dabei. Erklärvideos für das eigene Lernen zu nutzen erfordert ein recht hohes Kompetenzniveau: Videos finden, planvoll ansehen, Player bedienen (pausieren, spulen etc.), Inhalte erschließen, und entscheiden, ob es wirklich relevant für die eigene Fragestellung ist. Hier kann und muss die Schule unterstützen. Wir zeigen modellhaft gute Beispiele, stellen sie den Schüler/innen zur Verfügung, inner- und außerhalb des Unterrichts und geben ihnen Entscheidungshilfen an die Hand um selbst gute Lernhilfen zu finden – Lernen mit und über Medien. Linksammlung zu Erklärvideos und Flipped Classroom in der Grundschule: https://www.schuleundcomputer.de/flipped-classroom-erklaervideos

5.1.2 Erzähl-, Lese- und Schreibkompetenz fördern durch kreative Medienarbeit mit dem iPad – ein interdisziplinäres Forschungsund Lehrprojekt in der Lehrerbildung für die Grundschule der Universität Bremen Michael Lund und Jennifer Reiske Der Mediengestalter Michael Lund und die Grundschullehrerin und Lektorin für Deutschdidaktik Jennifer Reiske beschäftigen sich mit der Förderung von digitaler Gestaltungskompetenz sowohl der Schüler/innen als auch (angehender) Grundschullehrer/innen. Es werden grundlegende Medienkompetenzen entwickelt, welche auch für die Gestaltung von Erklärvideos genutzt werden können. Dabei wurde unter Einsatz von Videotutorials ein Ausbildungskonzept entwickelt, welches auch für zukünftige Formate der Lehrerfortbildung richtungsweisend sein könnte.

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5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis

»Let’s tell interactive stories« ist ein interdisziplinäres Forschungs- und Lehrprojekt in der Lehrerbildung für die Grundschule der Universität Bremen. Dabei werden medienund literaturdidaktische Kompetenzen miteinander verknüpft. Durch die Produktion von einfachen Hörspiel- oder Trickfilmsequenzen werden spielerisch zu oder mit Bildern in der Verzahnung mit digitalen Medien Geschichten erzählt. Ausgangspunkt der Medienproduktion ist das Medium Bilderbuch, da es durch die Text-Bild-Verknüpfung als Drehbuch dienlich ist und bereits in der Betrachtung zum Erzählen animiert. Die PISA-Studie und PIRLS-Testungen ergaben, dass Jungen weniger literaturorientiert und lesekompetent sind. Daher werden Lehramtsstudierenden und Lehrkräften Gestaltungsmöglichkeiten unterschiedlicher Medien unter Einbezug der Gender-Problematik (Garbe 2002: 35; Plath/Richter 2010) im Bereich der Literatur- und Mediendidaktik nähergebracht und der Nutzen der Verknüpfung digitaler Medien mit klassischen Unterrichtsinhalten verdeutlicht. Die Analyse von Bilderbüchern, die Einsicht in die Entwicklung von Erzählkompetenz und den Schriftspracherwerb43, sowie ein sicherer Umgang mit digitalen Medien sind dabei unerlässlich. Anwendung in der Praxis

Neben der theoretischen Analyse und Reflexion wurde konkret mit Schüler/innen an zwei Kooperationsschulen gearbeitet. Im Rahmen des von der Telekomstiftung geförderten dreijährigen Projektes »Digitale Medien Inklusive!«44 wurden iPads, Notebooks und Audiorecorder für die Universität und für die Projektschulen in Klassensätzen angeschafft. Nachdem die Studierenden mit dem nötigen Wissen versorgt waren, erprobten sie zunächst selber die Methode, Ansatz und Inhalte. Anschließend übertrugen die Studierenden in Tandems ihre aus der Eigenerprobung gewonnenen Erfahrungen auf die Unterrichtspraxis und entwickelten Lehrkonzepte, die sie in einer zweiwöchigen Projektphase in einer der Projektschulen umsetzten. Ergänzend erprobten die Tandems Ausschnitte ihrer Planung in kleinen Rollenspielen und videographierten diese. Themen für die Minirollenspiele waren z. B. das Erklären der Grundfunktionen des iPads oder die Bildaufnahme in Stop-Motion-Studio. Diese Dokumentationen wurden für die Eigenreflektion genutzt und als Anregungen für alternatives Unterrichtshandeln erörtert.45 Ziel war neben der Professionalisierung der Lehrerbildung zudem die Kompetenzerweiterung der Schüler/innen in den anschließenden Praxisphasen in den Kooperationsschulen. Das zweite Ziel lautete nun: Erzähl- und Medienkompetenz von Schüler/innen über einen (medien-)produktiven Umgang mit Literatur stärken. 43 Unmittelbare Einflussgröße ist auch hier die literarische Sozialisation, die sich sowohl auswirkt auf die Erzählkompetenz als auch den Schriftspracherwerb u.v.m. (Hurrelmann et.al. 1993; Reiske 2017: 22). 44 Nähere Infos unter: https://www.telekom-stiftung.de/projekte/digitales-lernen-grundschule 45 Einsatz von sogenannten »Training Videos« um an illustrativen, modellhaften Videobeispielen Selbstreflexion zu stärken und nächste Entwicklungsschritte zu benennen. »Video cases« aus den Unterrichtssituationen wurden hingegen nicht genutzt (Petko/Reusser 2005: 7ff.).

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5.1 Erklärvideos in Grundschulen

Ausstattung und Software

Wie schon erwähnt wurden jeweils ein Klassensatz iPads mit einfachen, leicht verstellbaren Stativen und schützenden Cases (Bruchschutz) angeschafft. Die iPads besaßen gute Foto- und Videokameras sowie Mikrofone für die Audioaufnahme und das Trickfilmprogramm Stop Motion Studio. Mit Stop Motion Studio können Bilder gemacht und in einer Timeline angeordnet, die Bilddauer und das Ein-Ausblenden sowie Zooms eingestellt werden. Wie beim Daumenkino wird aus einer Bilderfolge, einer geschobenen oder modifizierten Objektdarstellung, eine Bewegung. Es können z. B. ein bzw. mehrere Hintergrundbilder arrangiert, gemalt oder gebastelt werden, auf denen ein gemaltes oder gebasteltes Objekt bewegt wird. Wie im Film werden mit diesen einfachen Mitteln Szenen gestaltet, z. B. durch Wechsel der Hintergründe. Bei Beachtung der Filmschnittregeln können komplexe Trickfilme entstehen, aber es ist bereits möglich, mit wenigen Elementen und sparsamen Gebrauch unterschiedlicher Hintergrundbilder und bewegter Objekte, eine expressive Gestaltung zu erzielen. Zusätzlich kann mit Stop Motion Studio direkt vertont werden, um dargestellte Figuren in den Dialog treten zu lassen und in einer zweiten Tonspur Atmosphäre und Stimmung durch Geräusche zu evozieren. Oft lässt sich so die Dramatik steigern oder beginnende Aktionen einleiten und die Aufmerksamkeit steuern. Für die Erstellung von Hörbüchern bzw. Hörspielen entschieden wir uns, die Audiogestaltung mit der freien Software Audacity zu machen und hierfür die vorhandenen Notebooks sowie Schulrechner einzusetzen. Audacity ist leicht zu bedienen und bietet viele Möglichkeiten des Audioschnitts. Tonspuren können ein- und ausgeblendet, die Lautstäre angepasst und Geräusche einfach und gut steuerbar mit Sprache abgemischt werden. Beide Hardware- und Softwarelösungen konnten sowohl von Schülerinnen und Schülern als auch Studierenden leicht und schnell erlernt werden. Zeitlicher Ablauf

Die Einführung der Theorie im Seminar, die Eigenerprobung, bei der die Studierenden mit der Technik aktiv arbeiten und die Erprobung lief wie folgt ab (Abb. 4):

Abb. 4: Zeitlicher Ablauf des Projektes

Die entwickelten Unterrichtseinheiten verlaufen dabei ähnlich der Eigenerprobung der Studierenden, die sie für ihre eigenen Hörspiele oder Trickfilme verfolgen. Die

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einzelnen Phasen werden je nach Klasse, Klassenstufe, Inhalt unterschiedlich lang und intensiv geplant. Folgende Elemente sind jedoch immer enthalten: • Fokus Literaturauswahl, Einbezug der SuS • Storyboarderstellung (Drehbuch) inkl. Überlegungen zu Tönen und Geräuschen • Herstellung der Requisiten; betontes Sprechen/Vorlesen des Textes • Produktion des Hörspiels/Trickfilms Bewertung seitens der Studierenden

Trotz Eigenerprobung und einer engmaschigen Begleitung in der Planung und Durchführung, standen viele Studierende dem Einsatz digitaler Medien in der Schule kritisch gegenüber: • »Da habe ich auch immer noch ziemlichen Respekt vor.« • »Das ist so schon ein Riesending irgendwie gefühlt mit Technik.« • »Das ist so ein Ding, das macht man jetzt einmal im Studium und lernt man: Das ist zu krass, das ist zu stressig.« • »Da wir praktisch da herangegangen sind und uns das zum größten Teil selbst erarbeiten mussten, hat man jetzt einen sicheren Umgang mit der App.« Nach einer Erprobung in der Schule waren dann viele der Studierenden begeistert. Bewährt hat sich hier vor allem die Eigenerprobung bei zeitnaher Umsetzung in der Praxis. Dem Einsatz digitaler Medien stehen trotz Erprobung immer noch zu viele Studierenden kritisch gegenüber; auch wenn es nach dem Projekt deutlich weniger sind als zuvor: »Wenn wir jetzt zum Beispiel unseren Film als Puppentheater gemacht hätten, dann wäre es ähnlich gewesen.« Kompetenzerweiterung der Schüler/innen

Am Ende der Unterrichtseinheiten war deutlich zu sehen, dass die Schüler/innen ihre Erzählkompetenz erweitern konnten, indem sie sich intensiv mit Literatur auseinandersetzten, Texte für Hörspiele und Trickfilme gemeinsam erstellten und sich in ersten Zügen mit betontem Sprechen oder Vorlesen auseinandersetzten. Dies alles geschah beinahe nebenher, da sie das Endprodukt als Ziel im Auge hatten und die notwendigen Kompetenzen dafür einbringen müssen. Es erscheint nicht als sinnloses Üben eines Textes, sondern als eine Aufnahme, für die es sich lohnte, das Lesen/Sprechen zu üben. Die Motivation der Schüler/innen war immens hoch. Ebenso wendeten die Studierenden ihr theoretisches Wissen an, um jene Kompetenzen zu fördern. Sowohl Studierende als auch Schüler/innen erweiterten ihre Medienkompetenz, indem sie Medien wie Aufnahmegeräte und Schnittprogramme sowie die Apps zur Produktion eigenständig kennen und nutzen lernten.46 46 Dies alles sind Kompetenzen, die in den Rahmenplänen DEUTSCH aller Bundesländer fest verankert sind. Ebenso deckt dieses Angebot die Kompetenzbereiche »Kommunizieren und Kooperieren«, »Produzieren und Präsentieren«, »Analysieren und Reflektieren« der KMK-Strategie »Bildung in der digitalen Welt« ab.

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5.1 Erklärvideos in Grundschulen

Alle Studierenden erlebten immer wieder, dass die Schüler/innen sehnsüchtig auf die Fortsetzung der Unterrichtseinheit warteten. Zudem erkannten nicht wenige Kinder den produktiven Nutzen digitaler Medien und entdeckten Möglichkeiten über die rein rezeptive Nutzung hinaus: • »Es gibt so viele andere Möglichkeiten, was ich mit meinem Tablet machen kann, außer Minecraft zu spielen.« • »Die App hab ich jetzt auch auf meinem Handy!« • »Ich hab zu Hause auch ’nen Film gemacht.« Der Einsatz digitaler Werkzeuge, um Töne, Sprache und Bilder aufzunehmen und zu bearbeiten, sprach zudem oft Schüler/innen an, die sprachliche Defizite oder weniger Interesse am Lesen haben. In Kleingruppen konnten sprachlich gewandte Schüler/ innen mit Schülerinnen und Schülern, die sich für Technik begeistern oder ideenreich Bilderfolgen und Geräusche gestalteten, produktiv zusammenarbeiten. Viele der Studierenden bewerteten den Einsatz von digitalen Medien in Inklusionsklassen besonders positiv: »Das war auch bei uns so, dass die Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten wirklich gute Arbeit geleistet haben. Gerade die waren total dabei und bei der Abschlussrunde hat man auch gemerkt, dass die auch total geschwärmt haben von den Aufgaben.« Transfer in die Schule über Fortbildungen, Erklärvideos und Handbücher

Diesem Potenzial für inklusive Unterrichtsgestaltung stehen jedoch Hemmfaktoren gegenüber; einerseits die ungenügende Technikausstattung in den Schulen und andererseits die Überforderung der Lehrperson im Unterrichtsgeschehen bei nicht funktionierender Technologie. Grundsätzlich gilt es derzeit noch, die mediendidaktische Kompetenz der Lehrkräfte zu erweitern. Dies geschieht über konzentrierte Fortbildungen, die ähnlich verfahren wie die Lehrer/innenausbildung, und auf die eigene praktische Erprobung der Lehrkräfte in Workshops setzen. Dennoch zeigen sich auch danach noch Vorbehalte, digitale Medien aktiv in den Unterricht einzubinden. Ein Grund ist die eigene Wahrnehmung, den Umgang mit der Software noch nicht sicher zu beherrschen. Um dem zu begegnen sind Erklärvideos, Handbücher und Poster zur Erstellung von Hörspielen und Trickfilmen von studentischen Hilfskräften im Rahmen des Projektes wissenschaftlich begleitet erstellt worden. Diese dienen zum einen der selbstständigen Arbeit der Schüler/innen (sie können einfach nachblättern und nachschauen), als auch der Absicherung der Lehrkräfte ein solches Projekt umzusetzen und die möglichen Unsicherheiten hinsichtlich der Technik nicht als Hemmnis wahrzunehmen. Die Erklärvideos und Handbücher unterscheiden sich von üblichen Videotutorials, da sie auf den gesammelten Erfahrungen der Studierenden aufbauen. Die Erklärung erfolgt daher nicht nur technisch, sondern bereits pädagogisch aufbereitet, mögliche Fehlerquellen bedenkend, aber auch den Start in ein solches Projekt vorbereitend. Die Erklärvideos und Handbücher setzen dabei sowohl auf die bildliche Darstellung der

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Bildschirme als auch eine schrittweise Beschreibung in einfacher Sprache, um bereits beginnenden Leserinnen und Lesern als Hilfsmittel dienlich zu sein. Der Erwerb der Fachsprache im Bereich der digitalen Medien wird durch eine Verbindung der bildlichen und sprachlichen Ebene angeregt. Das dritte Ziel im Projektverlauf »Mediendidaktische Kompetenzen der Lehrkräfte an den Kooperationsschulen erweitern und digitale Medien langfristig im Schulalltag implementieren« bedarf weiterer Unterstützung und Motivation von außen. Nach der Fortbildung mit Studierenden im Unterricht am Thema zu arbeiten bewährt sich. Die Lehrkräfte erfahren eine Eigenerprobung und erleben nun ihre Klasse im Umgang mit digitalen Medien gemeinsam mit den Studierenden und trauen sich hoffentlich, im Anschluss selbst kleine Projekte dieser Art zu.47

Literatur Garbe, C. (2002): Geschlechterspezifische Zugänge zum fiktionalen Lesen. In: Lesezeichen. Mitteilungen des Lesezentrums der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Heft 12, S. 35–52. Hurrelmann, B./Hammer, M./Nieß, F. unter Mitarbeit von S. Epping und I. Ofteringer (1993): Lesesozialisation. Bd. 1: Leseklima in der Familie. Studien der Bertelsmann Stiftung. Gütersloh. Petko, D./Reusser, K (2005).: Praxisorientiertes E-Learning mit Video gestalten. In: Hohenstein, A./ Wilbers, K. (Hrsg.), Handbuch E-Learning. Expertenwissen aus Wissenschaft und Praxis (Beitrag 4.22). Köln. Plath, M./Richter, K. (2010) (Hrsg.): Literatur für Jungen – Literatur für Mädchen: Wege zur Lesemotivation in der Schule. Baltmannsweiler. Reiske, J. (2017): Erzählfähigkeit früh diagnostizieren. In: Peschel, M./Carle, U. (Hrsg.): Forschung für die Praxis. Frankfurt/M.

5.2 Erklärvideos in Sekundarschulen 5.2.1 Implementation von (Lern-)Videos am Beispiel der Alemannen Gemeinschaftsschule Wutöschingen Johannes Zylka Johannes Zylka ist promovierter Realschullehrer an der Alemannenschule Wutöschingen und Referent beim Landesmedienzentrum Baden-Württemberg und beim Institut für Soziale Berufe Ravensburg. Er forscht am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung und an der Pädagogischen Hochschule Weingarten zu aktuellen Fragen der Schulpädagogik, der Mediendidaktik und der Informatik und gab zu diesem Themenfeld mehrere Bücher heraus. Die Alemannen Gemeinschaftsschule wurde 2019 mit einem zweiten Platz beim Deutschen Schulpreis ausgezeichnet.

47 Die im Artikel erwähnten Erklärvideos, Handbücher und Plakate sind abrufbar unter: https://www.fb12.uni-bremen.de/de/literacy/team/reiske-j.html

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5.2 Erklärvideos in Sekundarschulen

An der Alemannenschule Wutöschingen (ASW), einer Gemeinschaftsschule im südlichen Baden Württemberg, arbeiten Lehrende wie Lernende ab der Klassenstufe 5 seit 2014 mit einer flächendeckenden digitalen Ausstattung: Lehrende wie Lernende haben einen Tablet-Computer zur Verfügung, alle Räume sind mit interaktiven Whiteboards ausgestattet, das Internet ist per WLAN flächendecken jederzeit für Lernende wie Lehrende verfügbar. Eine solch umfassende technische Ausstattung eröffnet ungeahnte Potenziale für den Einsatz digitaler Medien. Dazu gehört auch seit einigen Jahren der Einsatz von (Lern-)Videos im pädagogischen Alltag an der ASW. Dabei bilden neben den wichtigen technischen Rahmenbedingungen aber vor allem die schulpädagogischen, -organisatorischen und -didaktischen Rahmenbedingungen und Überlegungen vor Ort den Ausgangspunkt der Diskussionen. Lernen an der Alemannenschule Wutöschingen

An der ASW wird sehr viel Wert darauf gelegt, den Lernenden vielfältige Zugänge zu den Lerninhalten anzubieten. So können die Kinder in ihrem Alltag beispielsweise zwischen analogen Materialien (Arbeitsblätter, Folien, Bastelmaterial, Spielen etc.) und digitalen Materialien (Apps, Endgeräten, Inhalten, Videos) wählen und sich in vielfältigen Angeboten einbringen (etwa beim Musical, dem Theater, im Orchester oder den diversen Arbeitsgemeinschaften). Der Nachmittagsunterricht findet oftmals außerhalb der Schule statt. Es geht folglich im Alltag an der ASW weniger um das Ersetzen analoger durch digitale Inhalte, sondern eher um eine Ergänzung der vorhandenen Lernanlässe und -inhalte. Ausgangspunkt der Überlegungen war auch gar nicht die Digitalisierung an sich, sondern die damit einhergehenden zentralen Herausforderungen an eine zeitgemäße pädagogische Einrichtung. Auf unserem Weg, eine Schule zu entwickeln, die ihren Kindern eine zeitgemäße Bildung als Grundlage für ihr späteres Leben ermöglicht, an der Inklusion sowie der Umgang mit Kindern mit unterschiedlichsten Interessen produktiv umgesetzt wird und damit das einzelne Kind in den Mittelpunkt rückt und zum Ausgangspunkt der pädagogischen Arbeit und Überlegungen macht, wurden nicht nur vielfältige Zugänge und Materialien entwickelt, sondern auch vorhandene Strukturen kritisch hinterfragt. Dabei wurde schnell klar, dass herkömmliche Klassenzimmer nicht nur überflüssig, sondern kontraproduktiv sind. So begannen wir Pädagogen, die altbacken anmutenden Schulgebäude in Lernhäuser zu verwandeln, die es den Lernenden dann auch wirklich ermöglichen, mit den entwickelten Strukturen sinnvoll zu lernen. Nach wenigen Jahren war der gesamte pädagogische Alltag umgestaltet – am Eindrücklichsten sind die umfassenden Anpassungen anhand der folgenden Abbildung (Abb. 5) zu verdeutlichen – einem Blick in das Lernatelier im weißen Lernhaus.

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Abb. 5: Das Lernatelier im weißen Lernhaus

Das Bild zeigt die Lern- und Arbeitsumgebung der derzeit etwa 18 Lehrenden und der ca. 250 Lernenden im Lernatelier des weißen Lernhauses – einem von drei Schulgebäuden. In diesem darf nur geflüstert werden. Dem selbstorganisierten Lernen kommt in unserem Schulkonzept ein immenser Stellenwert zu, denn nahezu der gesamte Schulalltag läuft für die Kinder individualisiert ab: Die Lernenden können sich – mit Unterstützung der Lehrkräfte – ihre eigenen Ziele für die Tage und Wochen vornehmen. Weil kaum mehr »regulärer Unterricht« im klassischen Sinn stattfindet, sind kurze fachliche Inputs durch Lehrkräfte, die die Schüler/innen besuchen können, ein weiteres wichtiges Element. Für diese Inputs wie auch für das kooperative Lernen stehen in den drei Lernhäusern spezifische Räume zur Verfügung. Die Lernstrukturen sind folglich deutlich von den bekannten Unterrichtsstrukturen zu unterscheiden. Eine grundlegende Lehr-Lern-Struktur geben Kompetenzraster und darauf aufbauende Stempelkarten, die einen möglichen Weg für das Lernen eines Themas beschreiben (Abb. 6). Diese beinhalten die zu erreichenden Ziele in einem Kompetenzbereich und sind so formuliert, dass die Kinder diese verstehen und damit eigenständig lernen können. Eine detaillierte Vorstellung der wichtigsten Elemente und Strukturen der beschriebenen Lernumgebung geben Zylka (2017), Schöler/Schabinger (2017) sowie Schöler/Ruppaner (2017).

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5.2 Erklärvideos in Sekundarschulen

Abb. 6: Eine ausgewählte Stempelkarte

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Der Begriff Lernumgebung meint und beinhaltet neben der analogen Lernumgebung auch eine digitale Lernumgebung (DiLer)48 , die nahtlos an die räumlichen und strukturellen Gegebenheiten vor Ort anknüpft. DiLer avancierte zu der zentralen Anlaufstelle im Alltag der an der Alemannenschule beschäftigten Lehrenden und der Lernenden. Häufig ist das Erste, was Lehrende (wie Lernende) in ihrem Schulalltag tun, das kurze Checken von DiLer: Gibt es neue Mitteilungen von Eltern oder Schülerinnen und Schülern? Oder einen wichtigen Termin? Wurde mir eine gute Beurteilung eingetragen? Vor allem sind auf DiLer aber auch alle verfügbaren Lernmaterialien hinterlegt, auf die die Lernenden stets zugreifen können. In einer solchen digitalisierten Lernumgebung, in der Schüler/innen nur selten parallel das Gleiche lernen und nur kurze Inputs bei den Lehrkräften besuchen, kommt der ständigen Verfügbarkeit von Lerninhalten eine große Bedeutung zu. Dabei spielt auch das an der ASW initiierte Materialnetzwerk, bei dem inzwischen schulübergreifend derzeit etwa 40 Schulen kooperieren, eine große Rolle, indem Schulen auf Grundlage der gleichen theoretischen Strukturen gemeinsam Materialien (im OER-Format) entwickeln und austauschen. Vor diesem Hintergrund soll nun kurz der Einsatz von Erklärvideos und Videotutorials an der ASW skizziert werden. (Erklär-)Videos als wertvolle Unterstützung

Alle Inhalte, auf die die Schüler/innen zugreifen können, liegen zumeist sowohl in analoger wie auch in digitaler Form vor. Auf alle Materialien können die Lernenden – soweit möglich – auch über die Digitale Lernumgebung zugreifen. Ein Format der über DiLer verfügbaren Lernmaterialien sind Videos. Dabei sind verschiedene VideoTypen zu unterscheiden: • Videos, die von den Lehrkräften der ASW aufgenommen werden; • Videos, die von den Schülerinnen und Schülern der ASW aufgenommen werden; • Videos, die durch Kooperationspartner des Materialnetzwerks zur Verfügung gestellt werden; • Videos, die über frei verfügbare Plattformen (z. B. YouTube und andere) zur Verfügung gestellt werden; • Videos, die durch kostenpflichtige Angebote (z. B. Sofatutor) zur Verfügung gestellt werden. In den beschriebenen Strukturen des Lernens (Kompetenzraster, Stempelkarten) beinhaltet jeder Kompetenzbereich auf jedem Niveau zumindest einen Input. Das bedeutet, dass beispielsweise im Fach Mathematik in Klassenstufe 8 insgesamt mindestens 24 Inputs gegeben werden (8 Kompetenzbereiche, 3 Niveaus). Dies bedeutet eine große Belastung für die Lehrkräfte, die oft auf jedem Niveau mehrere Inputs im Laufe eines Schuljahres geben. Andererseits: Es bietet auch eine sehr gute Möglichkeit, Videos als digitale Form eines Inputs einzusetzen. 48 www.digitale-lernumgebung.de

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5.2 Erklärvideos in Sekundarschulen

Im Schulalltag spielen folglich die Videos, die in Form eines Inputs (durch Lehrkräfte oder Schüler/innen) aufgenommen werden, die größte Rolle. Diese wurden und werden – teilweise mangels Zeit – recht pragmatisch erstellt, indem die durch Lehrkräfte angebotenen Inputs einfach auf Video aufgenommen und dann umgehend über unsere digitale Lernumgebung verfügbar gemacht werden. Auch wenn diese Videos nur zum Teil unseren eigenen (technischen, nicht inhaltlichen) Ansprüchen gerecht werden, so sind diese dennoch ein enorm wichtiges Element in der Phase der Schulentwicklung, in der Lehrkräfte ohnehin alle Hände voll zu tun haben: Die Lernenden hatten und haben so fortwährend die Möglichkeit, die Inputs in Anspruch zu nehmen und auf diese zuzugreifen – auch wenn die zuständige Lehrkraft aktuell keine Zeit für einen Input hatte. Gerade auch Videos, die durch andere Schulen des Materialnetzwerks zur Verfügung gestellt werden, finden hier regelmäßig Verwendung. Neben den oftmals pragmatisch erstellten Filmen wurden aber einige Inputvideos auch aufwendig erstellt und geschnitten. So generierten einige Lernende spannende Filme im Rahmen von Projekten (etwa zum Klimawandel), die im Anschluss für das Lernen anderen Kinder fruchtbar gemacht wurden. Einige Lehrkräfte entdeckten mittlerweile das Erstellen von Videos, etwa mit der App ExplainEverything, die spannende Optionen für das Erstellen von Lernvideos bietet. Doch auch wenn die vorhandenen Tablets vielfältige Möglichkeiten für das Kreieren von Videos bieten, stießen die in diesem Bereich engagierten Lehrer/innen wie Schüler/innen schnell an die technischen Grenzen der Tablets: Mit diesen lassen sich zwar schnell und recht unkompliziert Videos erstellen, allerdings bieten professionelle Videoschnitt-Applikationen natürlich einen deutlichen Mehrwert, was die Umsetzung von Ideen angeht. Aufgrund der positiven Erfahrungen, die mit der Aufnahme eigener Videos und deren Bearbeitung gemacht wurden, folgte gemeinsam mit dem Schulträger der Entschluss, das MediaLab – ein (semi-)professionelles Studio zur Ton- und Videoaufnahme – zu initiieren, das neben Mikrofonen, Kameras und einem Mischpult auch über einen GreenScreen, einen schallisolierten Aufnahmeraum, sowie einen sehr gut ausgestatteten Computer verfügt. An der Finanzierung beteiligte sich neben dem Schulträger auch der Förderverein der Alemannenschule. Doch auch über den unmittelbaren Lehr-Lern-Kontext hinaus wurde der Wert von Videos erkannt: Der YouTube-Channel der ASW findet mittlerweile eine breite Akzeptanz: So wird etwa das seit mehreren Jahren sehr aufwendig vorbereitete und erfolgreiche Musical der ASW mit mehreren Kameras gefilmt und dann im Anschluss über den YouTube-Kanal der Schule zugänglich gemacht. Für die Inputs werden punktuell auch Videos von Plattformen wie YouTube oder dem kommerziellen Anbieter Sofatutor genutzt. Allerdings favorisieren die Lehrkräfte klar die selbst erstellten (bzw. durch Partnerschulen bereitgestellten) Videos, weil diese zum einen inhaltlich exakt auf die gegebenen Lernziele zugeschnitten sind und zum anderen über Plattformen verfügbare Videos sich auch ändern können.

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5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis

Grenzen des Einsatzes von Videos

Der Einsatz von Videos kann folglich in seinen verschiedenen Facetten als pädagogisch wertvoll, didaktisch sinnvoll und das produktive Lernen der Schüler/innen fördernd beschrieben werden. Gleichwohl muss auch auf die Grenzen des Einsatzes von Videos hingewiesen werden: Schnell mussten die Lehrkräfte im Schulalltag feststellen, dass das Lernen mit Videos zwar für leistungsstarke Kinder, die sich oftmals gut selbst strukturieren können, gut funktionierte, allerdings für leistungsschwächere Kinder bzw. für Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten schlichtweg nicht geeignet war. Selbst bei kurzen Videos war es vielen dieser Kinder nicht möglich, sich auf die Lerninhalte zu konzentrieren. Die durch die Videos verfügbaren Optionen, das Pausieren, Wiederholen und das dadurch ermöglichte langsame Durcharbeiten, bedingten für sie keinen Mehrwert. Im Gegenteil: Diese Kinder schauten sich alsbald Videos überhaupt nicht mehr an und forderten umso mehr die persönliche Erklärung durch Lehrkräfte ein. Fazit und Ausblick

Videos können im Alltag einer individualisierten Lernumgebung als ein Element eine wichtige Rolle einnehmen, da diese stets verfügbare Inhalte anbieten und so die Lehrkräfte entlasten können. Die Wirksamkeit der Videos hängt dabei sowohl von der Qualität (technische und inhaltliche Aufbereitung, Länge) als auch insbesondere von der didaktischen Einbettung des Videos ab. Neben den Videos selbst spielt auch die Ebene der Organisation eine wichtige Rolle: Beim Streaming von (HD-)Videos muss beispielsweise eine sehr gute Internetanbindung gegeben sein, ansonsten kann das Ansehen von Videos schnell mühsam werden. Auch die Anbieterseite von Videos gilt es zu berücksichtigen: Werden Videos über Drittanbieter verfügbar gemacht und mit viel Aufwand in den eigenen pädagogisch-didaktischen Rahmen integriert, müssen auch finanzielle Mittel geplant werden und zur Verfügung stehen. Alternativen sind hierzu OER-fokussierte Netzwerke, wie in unserem Fall das Materialnetzwerk www. materialnetzwerk.org.

Literatur Ruppaner, S./Schöler, T. (2017): Wie funktioniert das Betriebssystem Schule an der Gemeinschaftsschule Wutöschingen? In: Lehren & Lernen, 07/2017, S. 9–13. Online verfügbar unter: https:// webshop.neckar-verlag.de/index.php?id=221&no_cache=1&tx_nvshop_pi1[obj]=details&tx_ nvshop_pi1[prod_id]=7233 [Letzter Zugriff: 30.06.2018]. Schöler, T./Schabinger, V. (2017): Unterricht ergänzt die Freiarbeit und nicht umgekehrt: Lernen an der Alemannenschule Wutöschingen. In: Lehren & Lernen, 7/2017, S. 4–8. Online verfügbar unter: https://webshop.neckar-verlag.de/index.php?id=221&no_cache=1&tx_nvshop_ pi1[obj]=details&tx_nvshop_pi1[prod_id]=7238 [Letzter Zugriff: 30.06.2018]. Zylka, J. (Hrsg.) (2017): Schule auf dem Weg zur personalisierten Lernumgebung. Modelle neuen Lehrens und Lernens. Weinheim und Basel: Beltz.

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5.2 Erklärvideos in Sekundarschulen

5.2.2 Lernvideos in Mathematik und Latein am Klaus-Groth-Gymnasium Jörg Jesper und Konstantin Eggert Jörg Jesper ist Schulleiter an der Klaus-Groth-Schule, die bereits 1888 in Neumünster gegründet wurde.49 Konstantin Eggert unterrichtet Latein und dreht dafür selber Lernvideos, die seine Schüler/innen unter www.latein-unterrichten.de/videos/ nutzen können.

Derzeit lernen am vierzügigen Gymnasium ca. 800 Schüler/innen und werden von 67 Lehrkräften unterrichtet. Schwerpunkte, wie die Teilnahme am nationalen Excellence Cluster MINT-EC, der bilinguale Fachunterricht in Englisch, Bildungsangebote im offenen Ganztag, internationale Austauschprogramme oder die Anerkennung als Begabtenförderschule des Bundes (LemaS) sowie im Rahmen des KGS-Campus die Zusammenarbeit mit der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, machen das Gymnasium zu einem anerkannten wie auch herausragenden Lernort. Lernvideos: Rahmenbedingungen, Entwicklung, Überblick und Gründe

Die Klaus-Groth-Schule arbeitet seit 2016 verstärkt mit Lernvideos. Die technischen Rahmenbedingungen sind wie an vielen anderen Schulen in Deutschland derzeit noch eher schwierig, da wir uns am Anfang des Digitalisierungsprozesses befinden. Das WLAN wird erst aufgebaut, wir können derzeit in den Klassen vornehmlich nur nach dem Prinzip » bring your own device« arbeiten, lediglich zwei Computerräume stehen zur Verfügung, und wir warten alle Geräte mehrheitlich mit eigenen Kräften. Dennoch hat sich die Schule auf den Weg gemacht, Lernvideos als modernes didaktisches Medium vielfältig einzusetzen. Schritt für Schritt gehen wir dabei voran, auch wenn viele technische Voraussetzungen noch fehlen; auf diese Weise gibt es aber eine organische Weiterentwicklung und keine dauerhafte Stagnation. Kleine Erfolge sind auch trotz dieser technischen Rahmenbedingungen erreichbar. Begonnen haben wir unser Lernvideoprojekt mit einem Kernteam von Lehrkräften und zwei pilotierenden Fächern: Latein und Mathematik. Auf Schulentwicklungstagen hat sich dann das ganze Kollegium damit ausführlich beschäftigt. Kleine interne Schulungen durch kundige Kollegen haben im Alltag die Akzeptanz weiter erhöht. Zudem ist es uns gelungen, mit der Lernplattform sofatutor eine Kooperation herzustellen und mit dem Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH) einen kompetenten Berater an unserer Seite zu haben. Inzwischen sind Lernvideos als Lehrmittel in vielen Fachcurricula der Schule vorgesehen. Quantitativ betrachtet sind die Lernvideos im unterrichtlichen Alltag in einem nennenswerten Umfang präsent, im nächsten Schritt wird es darum gehen, die Qualität ihres didaktischen Einsatzes weiter zu verbessern. Folgende Varianten des Einsatzes von Lernvideos gibt es derzeit in unserer Schule:

49 www.klaus-groth-schule.de

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5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis

• Wir verwenden Lernvideos des Anbieters sofatutor in vielen Fächern, v.a. in Mathematik und den Sprachen. • Im Fach Latein werden hochwertige interaktive Lernvideos von einem Kollegen in Zusammenarbeit mit dem IQSH selber erstellt und im Regelunterricht eingesetzt.50 • Einige Kolleginnen und Kollegen nutzen das Medienportal des IQSH, das mit dem Tool H5P die Möglichkeit bietet, Videos zu bearbeiten und für den Unterricht einsatzfähig zu machen. • Im Unterricht werden von Schülerinnen und Schülern Videos erstellt, die als Lernvideos für andere dienen können. Aus den folgenden fünf Gründen hat sich unsere Schule auf den Weg gemacht, Lernvideos einzusetzen: 1. Es ist uns daran gelegen, durch den Einsatz von Videos den Schülerinnen und Schülern noch stärker ein individuelles Lerntempo zu ermöglichen. Indem jede Schülerin und jeder Schüler durch Anhalten und Wiederholen des Videos das eigene Tempo bestimmen kann, ist eine solche Individualisierung erreichbar. 2. Lernvideos erhöhen in der Regel die Lernmotivation, da sie den Wahrnehmungsgewohnheiten der Kinder und Jugendlichen entsprechen. 3. Auch die Eigenverantwortung steigt beim individuellen Einsatz von Lernvideos. 4. Beim Flipped Classroom verändert sich die Unterrichtsgestaltung, indem durch das Auslagern von Erklärvorgängen in die Hausaufgabenzeit das Üben und Trainieren, aber auch das Weiterdenken und Sublimieren von Lerninhalten stärker in den Vordergrund des gemeinsamen Unterrichts rücken. Lehrkräfte haben auf diese Weise mehr Zeit für die Förderung von Schülerinnen und Schülern und für die Vertiefung von Lerninhalten. 5. Die Schule ist als wichtiger Teil der Gesellschaft gehalten, an wesentlichen Entwicklungen der modernen Welt zu teilzunehmen und alle Kinder und Jugendlichen – auch diejenigen, die es sich finanziell nicht leisten können – mitzunehmen. Nicht jedem Trend muss man folgen, aber die Entwicklung hin zu einer multimedialen, vor allem von Visualität geprägten Gesellschaft ist von unübersehbarer Relevanz. Der Einsatz von Lernvideos ist ein wichtiger, aber kein ausschließlicher Weg, Wissen und Kompetenzen zu vermitteln. Der persönliche Kontakt bleibt für das Lernen im digitalen Zeitalter für uns als Schule elementar. Lernvideos im Latein-Unterricht

Für seinen Lateinunterricht nutzt Konstantin Eggert mit der Flipped-ClassroomMethode von ihm in Kooperation mit dem IQSH erstellte Videos zur Einführung neuer Grammatik, da sich dieser Bereich der Fremdsprache als besonders geeignet 50 www.latein-unterrichten.de/videos/

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5.2 Erklärvideos in Sekundarschulen

herausgestellt hat. Die Lernenden eignen sich das für sie neue Thema zwar selbständig an, werden aber dennoch nicht damit allein gelassen, da sie einerseits durch den Aufbau der Videos an Bekanntes anschließen, andererseits aber auch bereits während des Videos mithilfe leichter Verständnisaufgaben und ihren Lösungen erste Rückmeldungen erhalten. Offene Fragen und besondere Schwierigkeiten werden notiert und im folgenden Unterricht aufgegriffen. Seine ursprüngliche Motivation, Lernvideos zu erstellen und einzusetzen, war eine zusätzliche Unterstützung derjenigen Schüler/innen, die Schwierigkeiten damit haben, neue im Unterricht erarbeitete Grammatik auf Anhieb zu verstehen und zur Anwendung zu bringen. Videos schienen für diesen Zweck besonders gut geeignet, da man sie beliebig oft anhalten und wiederholen kann. Und tatsächlich stellte sich heraus, dass diese Möglichkeiten für einige eine große Erleichterung bedeuteten und ihnen ermöglichten im Unterricht leichter Schritt zu halten. Inzwischen hat Konstantin Eggert zahlreiche weitere Vorteile des Einsatzes von Videos sehr zu schätzen gelernt. Da man im Unterricht nun viel schneller mit dem Üben beginnen kann, wird es viel intensiver betrieben und entfaltet eine stärkere Wirkung. Weil Schüler/innen gerade beim Üben die meisten Fragen und Probleme haben, führte dies früher nicht selten zu nicht gemachten Hausaufgaben mit der Begründung, man habe das Thema nicht verstanden. Das kommt – wie auch abgeschriebene Hausaufgaben – im Lateinunterricht im Prinzip nicht mehr vor, denn da nun im Unterricht geübt wird, ist die Zeit und die Möglichkeit vorhanden, direkt zu helfen, wo es nötig ist. Auch die Binnendifferenzierung fällt dadurch leichter. Zwei weitere Effekte sind für den Unterricht besonders wichtig: 1. Durch die Unterstützung der Videos wird die Eigenverantwortung der Lernenden gestärkt, da sie weniger von der Lehrkraft abhängig sind. 2. Als Lehrperson hat man nun mehr Möglichkeiten, auch auf der Beziehungsebene zu arbeiten und bekommt mehr mit, was die jeweiligen Schüler/innen beschäftigt und kann ihnen im persönlichen Gespräch oder auch in kleinen Gruppen Tipps geben. Zudem ist es leichter, für sie da zu sein, wenn sie die Lehrperson brauchen. Dies alles bewirkt nicht nur, dass die Schüler/innen insgesamt nachhaltiger und effektiver lernen, seit Videos für den Lateinunterricht einsetzt werden, sondern sorgt auch für eine höhere Zufriedenheit im und mit dem Unterricht – und zwar sowohl bei den Schülerinnen und Schülern, als auch beim Fachlehrer.

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5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis

5.3 Erklärvideos in der beruflichen Bildung Simone Manz-Matthiesen Im AFZ, dem Aus- und Fortbildungszentrum für den öffentlichen Dienst in Bremen51, drehen seit über fünf Jahren Auszubildende Erklärvideos über ihre Ausbildungsinhalte. Was zunächst in einer Kooperation mit dem BMBF-geförderten Projekt »draufhaber.tv« begann, ist nun fester Bestandteil der Ausbildung. Simone Manz-Matthiesen begleitet das Projekt als Ausbildungsbeauftragte von Anfang an.

Komplexe Ausbildungsinhalte mittels Erklärvideos sichtbar machen Was als kleines Projekt begann, endete mit einem großen Aha-Erlebnis: Auszubildende des 2. Ausbildungsjahres im Beruf Verwaltungsfachangestellte/r haben sich am Projekt »draufhaber.tv« beteiligt – und sind über sich hinausgewachsen: »Wir sind stolz auf das, was wir schon alles wissen!« oder auch »Wir haben gar nicht gewusst, wie viel wir in anderthalb Jahren schon gelernt haben!« oder »Es hat riesig Spaß gemacht!« Worum ging es? Die Azubis filmten sich in kleinen Arbeitsgruppen, wie sie a) ein Auswahlverfahren organisieren, b) einen Antrag auf Ummeldung einer Bürgerin vornehmen oder c) einen Kostenbeitragsbescheid für die Unterbringung eines Kindes erstellen und versenden. Das klingt trocken, hatte aber große Effekte, denn die Azubis mussten für die Erstellung der Filme die eigenen Arbeitsabläufe in allen Einzelheiten fachlich durchdringen. Durch die kritische Reflexion der zu filmenden Inhalte mit den zuständigen Lehrkräften entstanden vier Videos, die jetzt hervorragend im Unterricht eingesetzt werden können.

Projektablauf »draufhaber-Erklärvideo« Seither ist das »draufhaber.tv-Projekt« fester Bestandteil der Verwaltungsfachangestellten-Ausbildung. Jeder Jahrgang erstellt – in einem eng geknüpften Zeitplan und in Kleingruppen von maximal fünf Auszubildenden – einen Filmbeitrag. Die Themen sind frei wählbar, müssen sich aber auf eine Tätigkeit der derzeitigen Praxisphase beziehen. Sowohl die Verwaltungsschule als auch die Ausbilder/innen vor Ort begleiten das Projekt und stehen als Ansprechpartner/innen zur Verfügung. Da die Auszubildenden den verschiedensten Dienststellen zugewiesen sind, übernimmt die/der Auszubildende die Projektleitung, deren/dessen Dienststelle dem Projekt beiwohnt. Hat sich die Gruppe auf ein Themengebiet verständigt (z. B. Personalauswahlverfahren in der Verwaltung), so ist nun die bzw. der Auszubildende gefordert, die weiteren Gruppenmitglieder über die internen Abläufe und Strukturen ihrer/ seiner Praxisstelle zu briefen. Mit Fragen wie: Wie verläuft das Auswahlverfahren in 51 http://afz.bremen.de

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5.3 Erklärvideos in der beruflichen Bildung

der Dienststelle? Was regelt die jeweilige Verfahrensordnung? Gibt es auch ein schriftliches Verfahren?, hat sich nunmehr die Arbeitsgruppe zu befassen. Wichtig bei der Erstellung des Drehbuchs ist die Verzahnung mit den theoretischen Kenntnissen. Welche Rechtsgrundlagen spielen hier eine Rolle? Oder spezieller: Muss der Personalrat beteiligt werden und wenn ja, aus welcher Rechtsgrundlage kann dies entnommen werden? Sobald das Drehbuch steht, geht es ans Filmen. Hier ist erneut eine Abstimmung mit der Dienststelle erforderlich. Gibt es ein Büro, welches genutzt werden darf? Welche Uhrzeit ist geeignet (Publikumsverkehr)? Gibt es Aktenordner in den Schränken, die aufgrund des Datenschutzes nicht gezeigt werden dürfen? Wenn die Ausbildungsszene abgedreht ist, wird es für die Arbeitsgruppen noch einmal kreativ, denn jetzt gilt es, das Filmmaterial zu schneiden oder Szenen mit Musik zu hinterlegen. In dieser Phase des Projekts wird vorrangig der Umgang mit Medien geschult. Die fertigen, maximal sieben Minuten langen Filme werden jährlich in einer großen Veranstaltung in der Aula des AFZ präsentiert. Zusätzlich stellen sich die Arbeitsgruppen kurz vor und berichten von den gemachten Erfahrungen. Bei der Präsentation ist auch das erste Ausbildungsjahr vertreten. Hier dürfen sich die Auszubildenden inspirieren lassen, was sie selbst im nächsten Jahr erwartet und welche Themen sie wohl verfilmen werden. Tabelle 2: Exemplarischer Projektplan für ein Ausbildungsjahr In jeweils sechs aufeinanderfolgenden Schul- und Praxisphasen werden die Erklärvideos konzipiert, erstellt und schließlich vorgestellt. Zeit

Inhalte

Phase 1

Kick-off für Draufhaber: Die Auszubildenden werden in der Verwaltungsfachschule in Gruppen eingeteilt, es findet eine erste Ideenfindung statt. In der Praxiswoche wird eine der Ideen vertieft. Die Ausbilderin/der Ausbilder aus der Praxis und ihre Kolleginnen und Kollegen aus der Verwaltungsfachschule beraten sich.

Phase 2

Das Drehbuch wird erstellt, in der kommenden Praxiswoche vervollständigt und mit dem Ausbilder/der Ausbilderin abgestimmt.

Phase 3

Das Drehbuch wird im Unterricht vorgestellt und es finden Proben für den Dreh statt. Der Dreh kann dann bereits in der folgenden Praxiswoche an den Ausbildungsplätzen beginnen.

Phase 4

Es findet ggf. eine abschließende Besprechung des Drehbuchs statt. Der Dreh startet in der dann folgenden Praxiswoche an den Ausbildungsplätzen.

Phase 5

Der Rohschnitt erfolgt am Verwaltungsschultag. Hierzu werden 2 Doppelstunden benötigt.

Phase 6

Präsentation der Filme in der Aula für alle Auszubildenden im 1. und 2. Ausbildungsjahr.

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5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis

5.4 Einsatz von Erklärvideos in besonderen Schulsettings 5.4.1 Selbstgedrehtes und Trainingslager: Lernvideos in der Sportschule Kerstin Paul Kerstin Paul ist Lehrerin für Deutsch und Chemie an der Potsdamer Sportschule »Friedrich Ludwig Jahn« mit den Schwerpunktsportarten Rudern, Kanurennsport, Schwimmen, Para-Schwimmen, Leichtathletik, Judo, Moderner Fünfkampf, Wasserball, Volleyball (weiblich), Handball (männlich), Fußball (weiblich) und Triathlon. Von den fast 700 Schülerinnen und Schülern aus ganz Deutschland leben ca. 450 im Wohnheim direkt neben der Schule. An der Schule arbeiten ungefähr 100 Lehrkräfte und Lehrertrainer/ innen.52

Uns ist moderner Unterricht und die Unterstützung der Schüler/innen im Trainingslager wichtig. Darum nutzen wir die Lernmanagementplattform Moodle, setzten dazu ein umfangreiches Fortbildungsprogramm auf und bildeten »Teletutoren« als Multiplikatoren aus. Mit der Lernplattform können wir auch multimediale Unterrichtsinhalte teilen und ganze Unterrichtssequenzen interaktiv durch Foren, Chats, Wikis etc. aufbereiten. So können wir auch Schüler/innen bei Trainingslagern, Wettkämpfen oder Krankheit weiter unterstützen. Während mit Moodle vor allem Schüler/ innen in der Sekundarstufe II ganz selbstverständlich arbeiten, ist bei der Nutzung durch das Kollegium noch Luft nach oben. Viele Kolleg/innen erkennen die Vorteile, die in der digitalen Kommunikation mit den Schülerinnen und Schülern, die über längere Zeit im Trainingslager sind, liegen. Lernvideos sind dabei neben digitalen Arbeitsblättern oder Texten eine Möglichkeit, Unterrichtsinhalte verständlich, anschaulich und abwechslungsreich zur Verfügung zu stellen. Damit kann die Lehrkraft Schülerinnen und Schülern direkter und auch auf einem audiovisuellen Kanal ansprechen. Wie Rückmeldungen von Schülerinnen und Schülern nach Trainingslagern zeigen, werden solche Lehrgangsaufgaben – gerade in Phasen sportlicher Intensivbelastung – besonders gern angenommen und intensiv bearbeitet, da sie medial vielfältig sind. Erfahrungen mit Lernvideos

Als Lehrkraft für Deutsch und Chemie bemerke ich, dass ich Lernvideos für mein naturwissenschaftliches Fach sehr gerne, für Deutsch jedoch nur sehr selten einsetze. Unübertroffen in Bezug auf die Anschaulichkeit von Unterrichtsinhalten sind Lernvideos, die technische Abläufe animiert darstellen (z. B. die Verarbeitung von Erdöl, die Funktionsweise eines Ottomotors etc.). Solche Videos haben den Vorteil, dass visuell und auditiv Vorgänge präsentiert werden, die die Vorstellungskraft bzw. den Erfahrungsschatz der Schüler/innen übersteigen. Ein Begriff wie »Glockenboden« bleibt zunächst abstrakt. Wenn jedoch gezeigt wird, wie er in einer Erdölraffinerie bei der Destillation funktioniert, kann diese Information besser in den eigenen Erfahrungs52 Weitere Informationen unter: http://www.sportschule-potsdam.de/

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5.4 Einsatz von Erklärvideos in besonderen Schulsettings

schatz eingebaut werden. Schüler/innen können nach solchen Videos im Vergleich zu Lehrbuchtexten oder Erläuterungen der Lehrkraft die gezeigten Vorgänge detaillierter selbst und mit eigenen Worten beschreiben. Gut geeignet sind Lernvideos auch, wenn naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten oder Theorien neu eingeführt werden. Sie sind dabei oft eine gleichwertige Alternative zum Lehrvortrag oder Lehrbuchtext. Insbesondere für diejenigen Schüler/ innen, die während der Unterrichtssequenz krank sind oder wegen eines Trainingslagers fehlen, erweist sich die Verlinkung auf die Lernvideos zusätzlich zur Bereitstellung des Lehrbuchtextes auf Moodle als hilfreich. Nach Aussagen von Schülerinnen und Schülern konnten sie die zugehörigen Übungsaufgaben nach dem Betrachten des Videos besser lösen. Diese Praxis reflektierend muss ich jedoch sagen, dass die Schüler/innen tendenziell nach einem Lernvideo weniger Fragen stellen, die in die Tiefe gehen. Ihnen erscheint das Thema sehr klar und einleuchtend und sie bekommen den Eindruck, dass sie umfassend informiert wurden. Den Fokus auf die Komplexität des Themas legen die Lernvideos eher nicht, während bei Lehrbuchtexten in der Regel weiterführende Fragen unmittelbar eingebunden sind, genauso wie beim Unterrichtsgespräch. Die komplexe Anwendung des Themas im Anschluss (die über das Einprägen von neuen Fachbegriffen hinausgeht) ist deshalb beim Einsatz von Lernvideos unerlässlich. Im Fach Deutsch, besonders im Literaturunterricht, setze ich aus dem eben genannten Grund Lernvideos, trotz des verfügbaren Angebots, nur ungern ein: Wenn die Inhalte eines literarischen Werkes zwar prägnant und anschaulich, jedoch stark verkürzt mit Spielfiguren präsentiert werden (z. B. beim Angebot »Sommers Weltliteratur to go«53), so verstellt diese Art der Präsentation den Blick der Lernenden auf das Detail und die Vielschichtigkeit, eben auf die Entwicklung einer individuellen Lesart des Werkes. Ich möchte die Schüler/innen ermutigen, sich einem »Ganztext« zu stellen, ohne den scheinbar vorteilhaften »Schleichweg« einer anschaulicheren Zusammenfassung zu gehen. Ähnliches gilt für Lernvideos als Tutorials für Textformen, z. B. zum Schreiben einer Erörterung in der Sekundarstufe I. Zwar bieten solche Tutorials einen übersichtlichen Einstieg in das Wie beim Verfassen eines solchen Textes mit mehr oder weniger stark festgelegten Merkmalen, sie suggerieren jedoch – ebenso wie Checklisten in Arbeitsblattform auch – dass es den einen, perfekten Aufbau eines solchen Textes gibt. Mir ist wichtig, dass die Schüler/innen ihren eigenen, individuellen Stil entwickeln. Lernvideos selbst erstellen

Wenn Schüler/innen selber ein Video produzieren, zeigt sich das große Potenzial von Lernvideos. In Partner/innen- oder Gruppenarbeit ein Lernvideo zu drehen, um Lernergebnisse zu sichern, ist eine sehr motivierende und aktivierende Lernmöglichkeit für die Schüler/innen. Dabei überprüfen sie selbst, inwieweit sie ein Unterrichtsthema 53 http://sommers-weltliteratur.de/

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5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis

mit eigenen Worten zusammenfassen und aufbereiten können. Gleichzeitig werden sie auch zu Medienproduzent/innen, die ihre Erfahrungen als Rezipientinnen und Rezipienten in Bezug auf Lernvideos bei der Videoerstellung einfließen lassen. Selbsterstellte Erklärvideos sind als Systematisierung oder Vorbereitung auf Klassenarbeiten oder Lernkontrollen ähnlich gut geeignet wie Übersichten oder andere Formen der Ergebnissicherung. Die Videos wurden von den Schülerinnen und Schülern entweder mit einer Dokumentenkamera oder dem eigenen Mobiltelefon gedreht und später im Plenum präsentiert. Solche Aufgaben sind auch gut für Trainingslager geeignet ist. Fächerübergreifendes Projekt

Für die Klassenstufe 8 wurde fächerübergreifend das Projekt »Digitale Welt« entwickelt. Während des Unterrichtsvorhabens wurde in fast allen Fächern tablet- und whiteboardgestützt digital unterrichtet und diese Methode immer wieder reflektiert. Anschließend erstellten die Schüler/innen mit Tablets in Freiarbeit ein Lernvideo zu einem selbst gewählten Unterrichtsthema eines Faches. Zunächst erarbeiteten und reflektierten die Lernenden anhand eines Materials verschiedene mögliche Stile von Lernvideos (Explainity-Clip/Legetechnik, How-to-Video/Videotutorial, Erklärvideo im Vlogging-Stil) und Qualitätskriterien für ein gelungenes Video. Es zeigte sich, dass die Schüler/innen sehr präzise Qualitätsanforderungen stellen und diese anhand von Beispielvideos beschreiben können. Diese Form des Unterrichts setzte immense Energien bei vielen Schülerinnen und Schülern frei. Sie wollten ein besonders gutes bzw. originelles Lernvideo drehen. Die Freiheit bei der Themenwahl und die zwei bis drei Projekttage wirkten zusätzlich motivierend. Die hohe Selbstwirksamkeitserfahrung, die die Lernenden während der Projektphase machten, die Begeisterung beim Dreh und die überzeugenden Produkte bestärkten die Kolleginnen und Kollegen darin, solche Unterrichtsvorhaben zukünftig fest im Lehrplan zu verankern. Abschließend bleibt die Stärkung des Langzeitgedächtnisses der Lernenden durch das gewählte Setting positiv festzuhalten, die vielseitig ausgebaute Medienkompetenz der Lernenden und die Möglichkeit, die erstellten Videos im Unterricht in anderen Lerngruppen einzusetzen. Grundvoraussetzung ist, dass Lehrende und Lernende mit der Technik vertraut werden müssen, um die angestrebte Qualität zu erreichen. Technische Probleme können schnell frustrieren und den Arbeitsfortschritt behindern.

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5.4 Einsatz von Erklärvideos in besonderen Schulsettings

5.4.2 Trotz langer Abwesenheit mit Lernvideos und Lernplattform zum Klassenziel Alexandra Kück Alexandra Kück ist Lehrerin für Mathematik und Informatik am Kurt-Körber-Gymnasium in Hamburg. Die Schule nahm an zahlreichen Modellprojekten zur digitalen Bildung teil. Das Flipped-Classroom-Konzept wird seit 2011 im Fach Mathematik und Informatik angewandt.

Einer meiner Schüler konnte im Jahr vor der Oberstufe aus gesundheitlichen Gründen nicht oder nur sehr sporadisch am Unterricht teilnehmen. Was tun? Sollte er deswegen die Klasse wiederholen müssen und so aus seiner Klasse gerissen werden? Da wir uns aus dem Informatikunterricht kannten, sprach ich ihn an, wie er denn jetzt weiter lernen und Anschluss halten will. Er berichtete, dass er sich die Arbeitsblätter aus dem Unterricht besorge, die Mitschüler/innen halfen ihm dabei. Außerdem suche er sich geeignete Videos im Internet, die ihm erklären, wie man die Aufgaben auf den Arbeitsblättern bearbeiten muss, da er ja die Lehrvorträge in der Regel verpasst habe. Es sei aber sehr mühsam für ihn, passende und auch gute Lernvideos zu finden. Um seine Suche zu vereinfachen bzw. ihn beim Lernen zu unterstützen wendete ich mich an das Team von sofatutor.de, die kurze und geprüfte Lernvideos zu allen Fächern auf ihrer Lernplattform anbieten. Dort war man offen für mein Anliegen, diesen einen Schüler zu unterstützen, aber auch interessiert zu sehen, ob dieses Vorgehen – zeitweise reines Selbststudium zu Hause – klappen kann. Sofatutor schenkte dafür meinem Schüler einen Zugang zu einem vollen Account. Dafür hatte ich mich verpflichtet, ihn in seinem Selbststudium zu Hause zu unterstützen und diesen Prozess auch zu dokumentieren: Ich traf mich einmal die Woche mit ihm, um zu besprechen, wie seine letzte Woche gelaufen war, woran er gearbeitet hat bzw. gerade arbeitet, was er noch an Unterstützung braucht, wo es Probleme gibt usw. Für sofatutor verschriftlichte ich seinen Lernverlauf und unsere beiden Erfahrungen mit den Lernvideos im Selbststudium in einem Blog. Am Ende des Schuljahres waren die Noten des Schülers so gut, dass er trotz seiner langen Abwesenheit vom Unterricht in die Oberstufe versetzt werden konnten. Inzwischen, so berichtete er mir, könne er zu Hause viel besser und intensiver arbeiten als in der Schule. Zu Hause sei er ungestört, könne beim Lernen auch mal Musik hören und sich seine Zeit selbst einteilen. Rückblickend war es für mich eine sehr gute Erfahrung zu sehen, wie mit digitalen Medien und regelmäßigen Anleitungen sowie Rückmeldungen von mir als Lehrperson dazu, selbstorganisiertes Lernen gelingen kann. In meinen Vorstellungen von der Schule der Zukunft lernen Schüler/innen ähnlich selbstorganisiert, werden betreut und beraten und lernen so Verantwortung für ihre Lerngeschichte und ihren Lernerfolg zu übernehmen.

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5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis

5.5 Video kann mehr – weitere unterrichtsbezogene Einsatzmöglichkeiten von Erklärvideos Felix Fähnrich und Carsten Thein Felix Fähnrich und Carsten Thein sind Lehrer für die Fächer Mathematik, Physik, Naturwissenschaft Wirtschaft Technik und Theater am Wilhelm-Hausenstein-Gymnasium in Durmersheim.

Alle in diesem Artikel vorgestellten Einsatzmöglichkeiten von Erklärvideos eignen sich für verschiedenste Szenarien in allen Altersstufen und Schulformen. Bereits an anderer Stelle in diesem Buch vorgestellte Methoden wie zum Beispiel Flipped Classroom (Kapitel 6 » Erklärvideos im Flipped Classroom«) werden an dieser Stelle nicht weiter vertieft

1. Einsatzmöglichkeit »Sicherungsaufschrieb« Moderner Unterricht beinhaltet immer wieder Situationen, in denen sich Schüler/ innen einen bestimmten Zusammenhang oder ein ganzes Thema teilweise oder vollständig selbst erarbeiten. Meist folgt auf eine solche Phase eine Präsentation der Ergebnisse durch die Schüler/innen. Hierfür sollte man sich ausreichend Zeit nehmen, um den Schülerinnen und Schülern und ihrer Arbeit gerecht zu werden und ihnen Feedback geben zu können. Will man nach der Präsentation sicherstellen, dass alle ein gewisses Grundniveau bezüglich des jeweiligen Themas erreicht haben, ist es sinnvoll, eine zusammenfassende Sicherung in Form eines Unterrichtsgesprächs, eines Lehrervortrags und/oder eines Sicherungsaufschrieb folgen zu lassen. Gerade diese Sicherungsphase nimmt aber erfahrungsgemäß viel Unterrichtszeit in Anspruch und am Ende von Unterrichtsstunden mit viel Schüleraktivität ist Zeit häufig ein knappes Gut. Mittlerweile lagern wir unsere Sicherungsphasen in solchen Stunden daher mittels eines kurzen Erklärvideos aus. Mithilfe der App »Explain Everything« erstellen wir dafür auf einem Tablet einen handschriftlichen Sicherungsaufschrieb und ergänzen diesen um einen Audiokommentar, der die Inhalte des Aufschriebs erläutert und mit den Ergebnissen der letzten Stunde verknüpft. Wir ziehen hier bewusst eine handschriftliche Darstellung vor, da die Schüler/innen den Sicherungsaufschrieb ebenfalls handschriftlich ins Heft übernehmen sollen. Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, dass die Schüler/innen problemlos eine Hausaufgabe erledigen können, bei der es sich zudem nicht lohnt, von anderen Schülerinnen und Schülern abzuschreiben. Außerdem spart man nochmal zusätzliche Zeit im Unterricht, da eine ausführliche Besprechung der Hausaufgabe in der nächsten Stunde nicht notwendig ist. Stattdessen kontrolliert man kurz das Vorhandensein des Sicherungsaufschriebs im Heft und geht auf eventuell offene Fragen ein.

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5.5 Video kann mehr – weitere unterrichtsbezogene Einsatzmöglichkeiten von Erklärvideos

2. Einsatzmöglichkeit »Differenzieren« Generell empfehlen wir Kolleg/innen Erklärvideos nicht während lehrerzentrierten Phasen des Unterrichts einzusetzen. Möchte man der ganzen Klasse einen Sachverhalt vermitteln, dann ist ein live durchgeführter und spontan anpassbarer Lehrervortrag oder ein Lehrer-Schüler-Gespräch einem statischen Video im Regelfall vorzuziehen. Dennoch ergibt es Sinn, im Unterrichtsgeschehen auf Erklärvideos zu setzen, zum Beispiel als elegante Möglichkeit des Differenzierens. Ein einfaches Beispiel hierfür im Fach Mathematik stellt die Wiederholung der Grundrechenarten zu Beginn der fünften Klasse dar (nach dem Wechsel der Schulform). Einige Schüler/innen haben erfahrungsgemäß mit einem oder mehreren Verfahren des schriftlichen Rechnens Schwierigkeiten. Anstelle einer frontalen Erklärung aller vier Grundrechenarten durch die Lehrerin/den Lehrer an der Tafel, die viel Zeit erfordert und für einen Großteil der Schüler/innen keinen Mehrwert bringt, bietet sich eine individuelle Verwendung an. Zunächst lässt man die Schüler/innen einen Einstufungstest bearbeiten, der anschließend, mithilfe von ausliegenden Lösungen, durch die Schüler/innen selbstständig kontrolliert wird. Anhand der Menge an Fehlern und eventuell nach kurzer Beratung mit der Lehrerin/dem Lehrer, stufen sich die Schüler/innen in verschiedene Kategorien ein. Je nach Kategorie erhält jede Schülerin/jeder Schüler einen anderen Arbeitsauftrag. So wiederholen die Schüler/innen, die im Test mit einem oder mehreren Verfahren des schriftlichen Rechnens Schwierigkeiten hatten, mithilfe von Erklärvideos, die auf Laptops oder Tablets zur Verfügung gestellt werden, in kleinen Gruppen das richtige Vorgehen. Die anderen Schüler/innen erhalten in dieser Zeit entsprechend ihrer Ergebnisse im Einstufungstest Aufgaben mit mittlerem oder höherem Anforderungsniveau und können ihre Fertigkeiten verbessern und vertiefen.

3. Einsatzmöglichkeit »Individuelles Feedback« Als Lehrer/in sammeln wir immer wieder Klassenarbeiten, Hausaufgaben, Projektarbeiten oder Ergebnisse von Übungen aus dem Unterricht etc. von Schüler/innen ein und nehmen diese zum Korrigieren mit nach Hause. Um jeder Schülerin/jedem Schüler gerecht zu werden, ist man als Lehrkraft bestrebt, neben dem klassischen Korrigieren und einer entsprechenden Note auch ein individuelles Feedback zu geben. Entweder dieses Feedback erfolgt mündlich im Rahmen der nächsten Stunde, oder wird ausführlicher unter die Arbeit der Schülerin/des Schülers geschrieben. Die erste Variante kostet wieder wertvolle Unterrichtszeit oder häufig auch die Pause von Lehrer/in und Schüler/in. Zudem geht ein einmal ausgesprochenes Feedback im hektischen Unterrichtsalltag meist recht schnell unter und die Nachhaltigkeit geht gegen Null. Ein Feedback in Textform gleicht dagegen diesen Nachteil aus, kann es doch von der Schülerin/dem Schüler in Ruhe und auch zu einem späteren Zeitpunkt gelesen werden. Allerdings braucht das Schreiben eines solchen

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5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis

Textes erfahrungsgemäß viel Zeit und ist je nach Unterrichtsfach und den anzusprechenden Fehlern kein leichtes Unterfangen. Wir sind mittlerweile dazu übergegangen, mithilfe der App »Explain Everything«, ein kurzes, individuelles Feedback-Erklärvideo zu erstellen, das gezielt auf die Probleme der einzelnen Schülerin/des einzelnen Schülers eingeht. Es genügt hierfür innerhalb der App ein Screenshot der Schülerarbeit zu machen und mithilfe eines digitalen Laserpointers und den Schreibwerkzeugen die Fehler und deren Ursachen zu erläutern. Die Erstellung eines solchen Videos geht zum einen in den meisten Fällen deutlich schneller und ist zum anderen für die Schüler/innen meist verständlicher als eine geschriebene Erklärung. Die Schüler/innen erhalten diese kurzen Videos (mit geringer Dateigröße) von uns dabei meist per E-Mail.

4. Einsatzmöglichkeit »Lernen durch Lehren« »Wenn man etwas nicht einfach erklären kann, hat man es nicht verstanden.« In diesem Zitat von Albert Einstein steckt die zentrale Botschaft der Methode »Lernen durch Lehren«. Wir fordern unsere Schüler/innen daher auf, immer wieder Mitschüler/innen bei Problemen zu helfen, wenn sie selbst das aktuelle Thema bereits verstanden haben. Dieses Prinzip kann auch ideal auf die Arbeit mit Erklärvideos übertragen werden. Da mittlerweile nahezu jede Schülerin/jeder Schüler über ein Smartphone mit ausreichend guter Kamera und Mikrofon verfügt, können auch Schüler/innen ein eigenes Erklärvideo anfertigen. Für den anschließenden Schnitt verfügen einige Schüler/innen schon über die nötigen technischen Voraussetzungen oder kennen wahrscheinlich einen Mitschüler oder eine Freundin, den/die sie fragen können. Generell gibt es die unterschiedlichsten Möglichkeiten, eine Schülerarbeit an die Erstellung eines Erklärvideos zu knüpfen. Zum Beispiel immer dann, wenn eine Schülerin/ein Schüler ein Referat halten soll. Fragen Sie sie/ihn einfach, ob sie/er stattdessen nicht ein Erklärvideo über ihr/sein Thema erstellen möchte. Diese Vorgehensweise bringt gleich zwei Vorteile mit sich. Sie sparen eventuell knappe Unterrichtszeit, da der Vortrag zunächst nicht Teil des Unterrichts ist, zum anderen können Sie das Erklärvideo, bei entsprechender Qualität, eventuell für eine der zuvor genannten Einsatzmöglichkeit verwenden. Ein solcher Einsatz des eigenen Videos ist für unsere Schüler/ innen immer eine große Ehre und meist ein toller Motivationsschub.

Fazit Egal für welche Variante man sich entscheidet, eines sollte immer klar sein: Wie jede andere Methode auch, sollte der Einsatz von Erklärvideos kein bloßer Selbstzweck sein. Erst eine sinnvolle und gewinnbringende Ergänzung des bestehenden Unterrichts und eine Verknüpfung mit anderen, im eigenen Unterricht bewährten Methoden, lässt Erklärvideos ihr ganzes Potenzial entfalten.

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5.5 Video kann mehr – weitere unterrichtsbezogene Einsatzmöglichkeiten von Erklärvideos

6 Mehr Zeit für den Unterricht gewinnen? – Videoeinsatz am Beispiel des FlippedClassroom-Konzepts Stephan Dorgerloh

Wie lässt sich mehr Unterrichtszeit gewinnen, um Lernstoff durch Üben zu vertiefen? Wie kann Unterricht stärker den verschiedenen Lerngeschwindigkeiten und unterschiedlichen Begabungen gerecht werden? Diese und weitere Fragen stellen sich viele engagierte Lehrkräfte, wenn sie den Anspruch verfolgen, nicht nur neuen Stoff zu vermitteln, sondern ihn auch zu festigen und in Übungen anwendungssicher bei den Schülerinnen und Schülern zu wissen. Klassischer Unterricht läuft bisher meist nach dem Muster ab, dass im Unterricht der neue Stoff vermittelt wird und dann zu Hause durch Hausaufgaben geübt und gefestigt werden soll. Aber oft stellt sich erst beim Anwenden neuer Inhalte heraus, ob jemand den Stoff auch wirklich verstanden hat und anwenden bzw. vertiefen kann. Doch was tun, wenn zu Hause niemand ist, der weiterhelfen kann? Könnte man das klassische Modell, nach dem Schule seit über hundert Jahren erfolgreich funktioniert, nicht auch einfach einmal umdrehen – flippen? Wenn man als Hausaufgabe ein Lernvideo aufgibt, mit dessen Hilfe der neue Stoff erarbeitet wird, und dann die Anwendungs- und Übungsphase in den Unterricht verlegt, kann die Lehrkraft im Unterricht helfen, wenn Probleme auftauchen. Zudem kann in Kleingruppen gearbeitet werden und man kann sich wechselseitig bei der Anwendung unterstützen, statt wie früher alleine zu Hause zu sitzen – und dann nicht weiter zu kommen. Die Praxis zeigt: Kurze und qualitativ hochwertige Lernvideos bieten diese Möglichkeit, sich einzelne Stofflektionen selber zu erarbeiten und eventuell auch mit ersten Übungen zu überprüfen, ob man alles verstanden hat. Fachleute wie auch Schüler/innen weisen zu Recht darauf hin, dass sich nicht jeder Lernstoff mithilfe von passenden Lernvideos als Hausaufgabe aneignen lässt. Lehrkräfte, die mit dieser Methode arbeiten, schauen sich ganz genau sowohl die jeweilige Klasse als auch das Thema daraufhin an, ob sich die Flipped-Classroom-Methode jeweils dafür eignet. In den Naturwissenschaften, aber auch Sprachen, (Grammatik) scheint am häufigsten mit dieser Methode gearbeitet zu werden. Wichtig ist, dass alle Kinder bzw. Jugendlichen zu Hause auch über einen geeigneten Internetzugang verfügen. Je selbständiger und verlässlich eine Klasse arbeiten kann, umso eher ist auch diese Methode geeignet. Flipped Classroom ist keine ferne und verrückte Zukunftsvision, sondern längst Realität an immer mehr deutschen Schulen. Davon berichtet dieses Kapitel in einer Reihe von anschaulichen Praxisbeispielen. Dabei wird die Praxis des Flipped Classrooms nicht nur aus dem Blick der Erfinder (Interview mit Jon Bergmann, Kap. 6.1), sondern

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6 Mehr Zeit für den Unterricht gewinnen?

auch aus der erziehungswissenschaftlichen Perspektive einer kritischen Analyse unterzogen und Ergebnisse einer ersten Studie vorgestellt. Zugleich lassen uns die Praxisbeispiele nicht nur einen Blick in verschiedenste Klassenzimmer fast aller Schulformen werfen. Die Lehrkräfte, die hier auch Autorinnen und Autoren sind, lassen uns an ihren mehrjährigen Erfahrungen und Reflexionen teilhaben. So geht es zum einen darum, sich dieser neuen didaktischen Perspektive zu nähern und den pädagogischen Handwerkskasten zu erweitern und zum zweiten soll aus den Entwicklungen und Erfahrungen der letzten Jahre gelernt werden, um zu verstehen, wo diese neue Methode ihren größten Effekt hat bzw. Gewinn bringt. Deshalb werden in allen Beiträgen auch die Grenzen des Flipped Classrooms thematisiert. Auch an den Hochschulen ist das Konzept des Flipped Hörsaals längst Wirklichkeit. Allerdings verschwimmt hier die Grenze zwischen Blended Learning, reinen Online-Elementen wie MOOCs und dem bewussten Flippen als Methode, um Zeit zum Üben in der Lerngruppe zu gewinnen. Dass Universität und Schule trotz aller Verschulungstendenzen hier nicht ohne weiteres verglichen werden können, zeigt das Interview mit Christian Spannagel (Kap. 6.2). In diesem Praxiskapitel lässt sich eindrucksvoll nachvollziehen, wie sich die Ursprungsideen von Jon Bergmann längst weiterentwickelt hat und kritisch auf die jeweiligen Situationen adaptiert wird.

6.1 Quo Vadis Flipped Classroom? Jon Bergman (JB) im Gespräch mit Karsten D. Wolf (KDW) Jon Bergman ist zusammen mit Aaron Sams einer der Begründer und Pioniere des Flipped-Classroom-Konzeptes. Der seit dreißig Jahren aktive Chemielehrer leitet als Chief Academic Officer die Flipped Learning Global Initiative.54

KDW: Wie hat sich Ihrer Meinung nach das Konzept des Flipped Classrooms und des Flipped Learnings entwickelt? JB: Das größte Missverständnis ist, dass Flipped Learning ein statisches Unterrichtskonzept mit Videos ist. Viele Menschen glauben, dass Flipped Learning daraus besteht, den Schülerinnen und Schülern das Anschauen von Videos als Hausaufgabe zu geben. Dabei geht es nicht nur um das Anschauen von Videos, sondern um neue Konzepte, die Unterrichtszeit sinnvoll zu nutzen und digitale Werkzeuge zielgerichtet einzusetzen. Das Konzept verändert sich durch die viele Forschung, die dazu betrieben wird. Dabei steht nicht mehr die Frage im Mittelpunkt, ob das Konzept in einem spezifischen Fachkontext funktioniert. Die viel tiefergehende Frage ist, wie wir das Konzept besser machen. 54 http://flglobal.org

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6.1 Quo Vadis Flipped Classroom?

KDW: Wenn es nicht nur Videos sind, welche anderen Medien kann man alternativ zu Videos einsetzen? JB: Viele Lehrende flippen auch mit Texten. So nutzt z. B. Eric Mazur in Harvard die Plattform Perusall55, auf der Studierende gemeinsam Texte als Vorbereitung auf den Unterricht lesen und dabei sozial miteinander interagieren. Das ist ein wichtiges Element des Flipped Learnings, die Vorbereitung in einem sozialen Kontext zu gestalten. Die Studierenden bereiten sich also nicht nur individuell darauf vor, sondern innerhalb eines sogenannten Social-Reading-Prozesses. Online wird gemeinsam gelesen und sich dabei intensiv über die Inhalte des Textes ausgetauscht. Das ist ein sehr starkes Konzept für den Flipped Classroom. Es gibt neben Videos viele andere Werkzeuge zum Flippen. Es geht nicht um die Videos. Videos sind eine Möglichkeit, um den individuellen Lernraum zu nutzen, den Flipped Classroom bietet. Man darf nie vergessen, dass es beim Flipped Learning nicht um die Vorbereitung geht – z. B. mit Videos – sondern um das, was man im Klassenzimmer macht. Das ist das erfolgskritische Element! KDW: Gibt es überhaupt einen gewissen Standard, was Flipped Learning überhaupt ist? JB: Wir sprechen heute von Flipped Learning 3.0.56 Im Rahmen der Academy of Active Learning Arts and Sciences57 arbeiten wir mit über 100 Lehrer- und Forscherinnen aus 49 Ländern an globalen Standards für Flipped Learning. Eine aktuelle Definition lautet: »Flipped Learning is a framework that enables educators to reach every student. The Flipped approach inverts the traditional classroom model by introducing course concepts before class, allowing educators to use class time to guide each student through active, practical, innovative applications of the course principles.«

Diese globalen Flipped-Learning-Standards sind unterteilt in generelle Standards58 und Standards für verschiedene Bildungskontexte, Kulturen, Kontinente und Lehrkonzepte59. Es ist also ein Mix aus Standardisierung und individueller Anpassung. KDW: Wir beschäftigen uns hier insbesondere mit Erklärvideos. Wie gestaltet man Ihrer Erfahrung nach Videos für ein erfolgreiches Flipped Learning?

55 56 57 58 59

https://perusall.com/ http://flr.flglobal.org http://aalasinternational.org http://aalasinternational.org/aalas-general-standards/ http://aalasinternational.org/aalas-international-standards/

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6 Mehr Zeit für den Unterricht gewinnen?

JB: Es gibt viele wichtige Prinzipien, wie man gute Videos macht. Der Schlüssel ist meiner Meinung nach, die Videos interaktiv zu machen, sodass die Lernenden etwas zu tun haben, während sie das Video anschauen. Genauso wichtig ist es, dass es auf einer angemessenen Lernstufe gestaltet ist. Bezogen auf die Lernzieltaxonomie von Bloom60 würde ich sagen, Verstehen und Erinnern, vielleicht manchmal etwas tiefergehend. Und dann gibt es eine Menge an guten Gestaltungsprinzipien zum Textumfang, zum Einsatz und zur Gestaltung von Abbildungen etc. KDW: Wie stellt man sicher, dass die Lernenden die Videos schauen? JB: Nun, das ist die Frage, die zwar alle fragen, die aber eigentlich ein viel kleineres Problem ist, als alle denken. Die meisten Lehrenden, die ihren Unterricht flippen, finden sehr kreative Lösungen, um sicherzustellen, dass ihre Schüler/innen die Videos schauen. Im Endeffekt geht es darum, ihnen klarzumachen, wie wichtig das Schauen und Vorbereiten ist. Auch sollte man als Lehrende/r in Bezug darauf niemals lockerlassen. KDW: Nicht jede/r Lehrende produziert eigene Videos. Ist YouTube eine gute Ressource, um seinen eigenen Unterricht zu flippen? JB: Natürlich findet man auf YouTube viele Videos, die man auch für Flipped Learning einsetzen kann. Einer der globalen Standards lautet aber sinngemäß, dass Lehrende idealerweise ihre eigenen Inhalte, also auch Videos, produzieren sollen. Viele Lehrende beginnen damit, die Inhalte anderer Personen einzusetzen, wie z. B. YouTubeVideos. Das ist ein guter Anfang, aber man sollte nicht dabei stehenbleiben. KDW: Welche YouTube Erklärer mögen Sie besonders? JB: Meine ideale/r YouTube-Erklärer/in ist die/der Lehrende im Klassenzimmer, die Person, die tatsächlich den Unterricht durchführt. Weil das die Person ist, die eine Beziehung zu den Lernenden hat. Ich würde also nicht sagen, es gibt diese/n oder jene/n YouTube-Erklärer/in, der/dem man folgen sollte. Jedes Fach hat seine eigenen YouTuber/innen, die etwas besonders gut erklären. Es gibt z. B. wirklich hervorragende YouTube-Kanäle zu naturwissenschaftlichen Themen, zu Mathematik oder Geschichte. Aber ich bleibe dabei – die besten YouTube-Erklärer/innen sind die eigenen Lehrenden!

60 Anderson, L. W./Krathwohl, D. R. (Hrsg.) (2001): A taxonomy for learning, teaching, and assessing: a revision of Bloom’s taxonomy of educational objectives. New York, San Francisco, Boston: Longman.

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6.2 Erklärvideos als Vorbereitung für soziale Interaktionen im Klassenraum

6.2 Erklärvideos als Vorbereitung für soziale Interaktionen im Klassenraum Christian Spannagel (CS) im Gespräch mit Karsten D. Wolf (KDW) Prof. Dr. Christian Spannagel ist Professor für Didaktik der Mathematik und Informatik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und einer der führenden Experten für Flipped Classroom und Erklärvideoeinsatz in der Hochschulbildung, insbesondere der Lehrerbildung. Zusammen mit Dr. Michael Gieding, Lutz Berger und Dr. Martin Lindner gestaltete er 2013 bis 2014 den innovativ gestalteten MatheMOOC auf der Plattform Iversity.61

KDW: Die Gestaltung von Erklärvideos im Netz ist bunt. Das Spektrum reicht vom SimpleClub, die für Mathe-genervte Schüler/innen jugendsprachliche Videos produzieren, über DorFuchs, der Mathematik und Populärmusik zu Mathesongs verschmilzt bis hin zu »Lehrer Schmidt«, der passend zu den Hausaufgaben im Video seinen Schülern mit Kamerablick auf Schulheft, Füller und Lineal nochmal die Grundlagen erklärt. Es gibt also eine große Vielfalt an Stilen. Du hast in Deinem MatheMOOC selbst aufwendige und didaktisch abwechslungsreiche Erklärvideos produziert. Was macht für Christian Spannagel ein gutes Erklärvideo aus? CS: An erster Stelle steht: Es muss inhaltlich korrekt sein; also von jemanden gestaltet werden, der sich inhaltlich damit auskennt, der die Facetten und Details einschätzen kann, sodass nicht falsche Begriffe verwendet werden, wenn z. B. in der Stochastik das Wort Ergebnis statt Ereignis verwendet wird. Zum zweiten muss das Video auch didaktisch gut gestaltet sein. Als Macher/in oder Produzent/in muss ich genau wissen, wie ich einen Sachverhalt, ein Konzept, ein Verfahren so gut strukturiert darbiete, dass die-/derjenige, die/der das Erklärvideo schaut, die entsprechenden korrekten kognitiven Strukturen aufbaut. Und last, but not least muss es medientechnisch gut gestaltet sein: video- und audiomäßig ansprechend, also auch ästhetisch schön sein. KDW: Der Aufbau von korrekten kognitiven Modellen ist ja stark vom Vorwissen abhängig. Christoph Kulgemeyer argumentiert (Kap. 4.2): Erklären geht eigentlich nur als dialogischer Prozess, ist also ein ständiges Rückversichern: Verstehen die Lernenden die Begriffe, entwickeln sie korrekte Modelle, ziehen sie die richtigen Schlüsse draus. Das kann man ja nun beim Video nicht machen. CS: Stimmt. KDW: Wie gehst Du dann damit um?

61 https://iversity.org/

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CS: Das ist natürlich einer der Kritikpunkte am Flipped Classroom, in dem ja Erklärvideos zur Vorbereitung der Präsenzphase unbegleitet von den Lernenden angeschaut werden, aber auch an Erklärvideos generell. Im Kontext des Flipped Classrooms ist das nicht ganz so problematisch, denn da erstelle ich ja die Videos für eine mir bekannte Gruppe, deren Vorwissen ich als Gesamtgruppe einschätzen kann. Wenn ich also z. B. meine Studierenden im dritten Semester vor mir sitzen habe und ich führe ein neues Thema ein, dann weiß ich ungefähr, was ich voraussetzen kann und was ich nicht voraussetzen kann. Und ich erkläre lieber ein bisschen zu viel, also was schon von dem Einem oder Anderen gewusst wird, aber vielleicht von Einigen auch nicht (mehr) gewusst wird. Ich versuche also, die Gruppe des prototypischen Lernenden im Blick zu haben, wenn ich das Erklärvideo produziere. Und das ist in der Schule nichts anders, wenn ich als Lehrkraft für meine Klasse die Videos erstelle oder aussuche. Da ist das Problem sogar vielleicht ein wenig abgeschwächter, weil die Gruppe kleiner ist und ich die einzelnen Lernenden besser kenne. Viel größer ist das Problem in Massive Open Online Courses (MOOC), also offenen Kursen im Internet. Wenn ich da Videos erstelle, dann habe ich natürlich eine wesentlich heterogenere Zuhörerschaft als die in meiner Klasse oder meiner Vorlesung. Das führte wahrscheinlich auch zu der ursprünglichen Überschätzung der MOOCs – da wurde ja versprochen, dass man die ganze Welt mit Bildung versehen kann, auch in Entwicklungsländern, die einen eingeschränkten Zugriff auf Bildungsressourcen haben. Aber eigentlich waren die Zuhörer/innen in den MOOCs vor allem die westlichen Akademiker/innen, die bereits ein gewisses Vorwissen haben. Dieses Problem muss bei Debatten auch adressiert werden. In unseren MOOCs haben wir verschiedene Level der Teilnahme definiert: • Kiebitze – die einfach mal reinschauen • Anpacker – die Handfestes machen, aber nicht zu formal • Formalisierer – die auf die formale Ebene hochsteigen wollen Die Materialien waren so gestaltet, dass man nicht alles machen musste, sondern dass man sich aussuchen konnte, was man machen wollte. Das hat natürlich dazu geführt, dass es am Ende keinen gemeinsam geteilten Wissenskanon gab, sondern jeder mit dem rausgegangen ist, was ihm wichtig war. KDW: Auf YouTube sieht man ja bei größeren Kanälen häufig Verlinkungen auf weitere Videos mit Hintergrundinformation. Es wird also explizit darauf hingewiesen: »Achtung, ihr müsstet eigentlich dieses Vorwissen haben, wenn ihr das folgende Video verstehen wollt. Falls euch dieses Vorwissen fehlt, klickt auf dieses Video, dort werden nochmal die Grundlagen erklärt.« Habt ihr im MatheMOOC auf Iversity auch mit solchen Videoverlinkungen gearbeitet? CS: Nein, das haben wir nicht gemacht. Video-Verlinkungen sind natürlich eine sehr gute Lösung, um möglichst optional die Möglichkeit zu geben, etwas nachzuholen,

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was man nicht weiß bzw. nicht mehr parat hat. Das kann aber auch sehr komplex werden. Das konnten wir aus Ressourcensicht nicht leisten. Und auch im Flipped Classroom wird es ein Stück weit am Zeitbudget der Lehrerin/des Lehrers hängen, die/der Videos für seine Klasse vorbereitet. Das ist eine gute Möglichkeit, wenn man die Zeit hat, das zu tun, aber pragmatisch muss man sozusagen am Boden bleiben, dass man das nicht in allen Fällen mit jedem Begriff tun kann. KDW: Erklärvideos werden ja online häufig mit Übungsplattformen kombiniert. So bietet z. B. die Khan Academy zu allen Videos interaktive Online-Übungen an, mithilfe derer man im Sinne eines Self-Assessments überprüfen kann, ob man den Stoff zumindest anwenden kann. Und wenn sich dabei Wissenslücken ergeben, schlägt die Plattform weitere Erklärvideos vor, in denen nochmal die Grundlagen zu der jeweiligen – nicht richtig gelösten – Aufgabe einfach erklärt werden. Ist das deiner Meinung nach sinnvoll? CS: Es wäre auch denkbar, am Anfang zunächst einen Test zu machen, um zu sehen, ob man das Video überhaupt braucht. Darauf habe ich bisher aus Zeitgründen verzichtet. In meinem Flipped Classroom stelle ich nur Videos bereit und natürlich auch Aufgaben, die dann im Tutorium gelöst und in der Lerngruppe und in der Vorlesung vertieft besprochen werden. Ich gehe ja beim Flipped Classroom niemals davon aus, dass ich nur ein Online-Szenario habe. Ich stelle genaugenommen nur eine digitale Vorbereitungsumgebung zur Verfügung, um die Präsenzzeit besser mit den Lernenden nutzen zu können. In MOOCs dagegen macht es sicherlich Sinn, innerhalb der Videosequenzen auch immer mal wieder kleinere Tests einzustreuen. Solange es mir nur um die Kontrolle geht, ob jemand ein korrektes Ergebnis eingegeben hat, funktioniert das gut. Sobald ich aber den eigentlichen Lern- und Erkenntnisprozess überprüfen möchte, wird das sehr schwierig. Alleine um z. B. bei einem Fehler in einer Polynomdivision den Aspekt zu identifizieren, den ein/e Lernende/r noch nicht verstanden hat, bräuchte man sehr spezifische Diagnostikwerkzeuge, um dann ein entsprechendes Video zum »Nachlernen« anzubieten. So etwas Ähnliches haben wir tatsächlich in einem Forschungsprojekt entwickelt – das hat aber drei Jahre gedauert und bildet nur einen ganz kleinen Teil der Mathematik ab. KDW: Aber genau das ist ja eigentlich eines der ganz großen Versprechen von »Learning Analytics«! Wenn das nun schon in der Mathematik nur eingeschränkt und mit hohem Aufwand zu realisieren ist, werden da nicht aktuell in der Ed-Tech-Szene diagnostische Allmachtsfantasien entwickelt, wird also Learning Analytics ähnlich gehyped wie die MOOCs vor ein paar Jahren? CS: Ich denke, das muss man differenzierter sehen. Natürlich gibt es Bereiche, die ich automatisiert bzw. teil-automatisiert testen kann. Und man kann dann eine Rei-

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he solcher Werkzeuge, die in verschiedenen Arbeitsgruppen entwickelt wurden, zusammenstellen und dann zu einem gewissen Grad solche Dinge tun. Daraus können allerdings leicht solche Phantasien entstehen, die ja im Grunde auch gar nicht neu sind, sondern ja eigentlich schon bereits seit fünfzig Jahren unter dem Begriff der programmierten Instruktion existieren. Also diese uralten behavioristischen Konzepte, in denen Menschen vor Computern sitzen und der Computer ein idealer Lehrer ist, der zu jedem Zeitpunkt genau feststellt, an welcher Stelle jemand im Lernprozess ist und individuell zugeschnittene Aufgaben zuteilt. Ich glaube allerdings nicht, dass das der Fall sein wird, zumindest nicht in naher Zukunft. Lernen ist dann im Detail doch viel komplizierter, als dies individuell modelliert werden kann, insbesondere, wenn es um die Prozesse geht. Wenn dagegen eine Lehrerin/ein Lehrer auf den Lösungsprozess schaut, dann kann er in der Regel viel einfacher mit dem Lernenden im Gespräch feststellen, analysieren und diagnostizieren, wo das aktuelle Verständnisproblem liegt, um gemeinsam zu überlegen und zu beschließen, was man tun kann. Bis Computer wirklich dorthin gelangen, wird es noch eine Weile dauern. Und ich glaube noch nicht mal – selbst wenn es möglich sein sollte – dass dies ein erstrebenswertes Ziel ist. Dieses Szenario, dass der Computer als allwissender Lehrer den Schüler mit einer idealen Lernumgebung »versorgt«, die verzichtet auf den für mich zentralen sozialen Aspekt des Lernprozesses, denn Lernen ist ja auch ein sozialer Prozess. Komplexere Aufgaben löst man am besten in der Gruppe mit anderen Lernenden und der Lehrerin/dem Lehrer. Ich plädiere eher dafür, von einem guten Präsenzunterricht aus zu denken, den man so gestaltet, dass die sozialen Interaktionen möglichst reflektiv, effizient und lernförderlich zu gestalten sind. Digitale Medien sind dann in den Dienst eines solchen sozialen Austausches zu stellen, z. B. für die Vorbereitung der Präsenz im Flipped Classroom. Selbst in reinen Online-Settings ziehe ich es vor, mich gemeinsam mit anderen Lernenden mit den Inhalten auseinanderzusetzen. Eine alleinige Auseinandersetzung mit dem Computer käme für mich nur als Spezialfall in Frage, wenn ich keine andere Möglichkeit der sozialen Interaktion habe. KDW: Aus der Analyse erfolgreicher Online-Lernender mit MOOCs wissen wir, dass es neben dem Vorwissen vor allem auch auf eine hohe Lernmotivation und sehr gute Lernstrategien ankommt. Spielt das auch eine Rolle beim Einsatz von Erklärvideos im Flipped Classroom? CS: Ja, auch beim Flipped Classroom habe ich ja die Phase, in der ich überwiegend alleine außerhalb des Unterrichts die Videos anschauen muss. Wichtig ist, dass man zunächst Zeit im Präsenzunterricht in diese Strategien investieren muss. Konkret heißt das, dass ich erstmal zeigen muss, wie ich mir solch ein Video anschauen kann und was ich dabei machen sollte, damit ich etwas aus den Videos mitnehme: Ich kann auf die Pause-Taste drücken und mir Notizen machen oder ich kann mir etwas wiederholt anschauen. Diese Dinge müssen erst einmal mit den Schülerinnen und Schülern

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eingeübt werden, damit die auch die entsprechenden Strategien zu Hause verfügbar haben. KDW: Und wie geht man mit Schülerinnen und Schülern um, die sich eben nicht zu Hause auf den Flipped Classroom vorbereitet haben? CS: Dafür gibt es verschiedene Strategien. Ein offensichtlicher Fehler ist es, in die Stunde zu gehen und etwas zu wiederholen oder zusammenzufassen. Dann bereitet sich kein Mensch mehr vor. Auch sollte man gerade nicht fragen, wer denn so alles die Videos geschaut hat und wer nicht. Dann melden sich 50 Prozent. 80 Prozent haben es geschaut, aber 30 Prozent melden sich nicht, weil sie glauben, dass sie gleich drankommen. Dadurch bringt man sich aber selbst in eine ungute Situation. Man muss dagegen das Konzept total konsequent und überzeugend vertreten. Beispielsweise kommen Schüler/innen in die Schule und sind nicht vorbereitet, sie haben die Hausaufgabe nicht gemacht. Dann könnte ich das natürlich genauso sanktionieren, wie ich das bei anderen nicht gemachten Hausaufgaben machen würde. Speziell im Flipped Classroom kann ich aber so vorgehen, dass die Schülerin/der Schüler sich das Video an einem Rechner in der Ecke oder auf einem Tablet erstmal anschauen muss, während die anderen schon an den Aufgaben arbeiten. Und anschließend kommt sie/er zu mir und erklärt mir als Lehrkraft im Zweiergespräch, was er gerade im Video gesehen hat. Und das ist eine Situation, die eigentlich kein/e Schüler/in haben will. Und erst dann können sie mit den Aufgaben anfangen. Letztendlich zielt das natürlich darauf ab, den Schülerinnen und Schülern klar zu machen, welche spezielle Bedeutung die Vorbereitung im Flipped Classroom hat und dass man einen Nachteil hat, wenn man nicht vorbereitet ist. KDW: Zu den Grenzen von Erklärvideos: Im Vergleich zu einer Anleitung, wie man ein Smartphone-Display wechselt, ist der Beweis, dass die Eulersche Zahl irrational ist, sicherlich schwieriger. Gibt es so etwas wie natürliche Grenzen für das Erklären mit Videos? Sind z. B. manche mathematischen Konzepte nur in Buchform fassbar? CS: Das ist tatsächlich sehr abhängig vom Inhalt. Videos haben immer da einen großen Vorteil, wo es um Prozesse geht. In einem zeitabhängigen Medium kann ich eben Prozesse besonders gut darstellen. Gerade bei mathematischen Beweisen ist das der Fall. Der mathematische Beweis, der in einem Buch steht, ist eigentlich das Endprodukt des eigentlichen Beweisprozesses. Wenn also in einem Beweis z. B. steht: »im Beweis sei Epsilon gleich d/2«, fragt man sich: »Wie kommt jemand genau an dieser Stelle auf die Idee, im Beweis Epsilon gleich d/2 zu setzen?« Und dann lautet die Antwort zumeist: »Das war Intuition.« – aber das stimmt natürlich nicht. Denn der Beweis, so wie er dasteht, wurde ja nicht von der Person exakt in der Reihenfolge entwickelt, sondern er startete mit einem: »Ah, ich habe hier einen Satz, was kann ich damit machen?«, und dann rechnet man vielleicht erstmal ein paar Beispiele aus oder macht mal eine

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Tabelle oder eine Skizze, geht da also mit heuristischen Strategien heran, arbeitet sich langsam ein, läuft vielleicht auch in Sackgassen. Aber irgendwann hat man sich so tief eingedacht in das Gebiet, dass man merkt, dass es mit d/2 funktioniert, und dann schreibt man den Beweis auf und druckt es in das Buch. Dieser gesamte Prozess, der dem Abdruck im Buch vorausgegangen ist, ist im Buch selbst nicht zu finden. Aber eigentlich müssen Schüler/innen den lernen, sie müssen ja nicht den Beweis auswendigen lernen, sondern das Beweisen. Und da spielt das Video besonders überzeugend seine Vorteile aus. Da kann ich mich als Experte hinstellen und kann diesen gedanklichen Prozess modellieren wie im Cognitive-Apprenticeship-Modell, indem ich meine Gedanken externalisiere, ich muss sagen, was meine Ziele sind, alles, was sich in meinem Kopf befindet und was nicht zu sehen ist. Das kann ich im Video wunderbar darstellen und erläutern. Ein anderes Beispiel wären geometrische Konstruktionen, die sind auch perfekt für ein Video. KDW: Soll denn dann am besten alles mit Erklärvideos zunächst vermittelt und dann gemeinsam durchgearbeitet werden? CS: Nein. Es kommt ja darauf an, was und damit auch wie ich lernen soll. Wenn es z. B. um das Lernen des Problemlösens, das Begriffslernen oder das Reflektieren lernen geht, steht nicht bei allen Lernprozessen eine Erklärung am Anfang. Die Entscheidung für oder gegen Erklärvideos ist abhängig von der jeweiligen didaktischen Strukturierung. Beim Begriffslernen z. B. steht beim Mathematik-Unterricht am Anfang ganz häufig selbstentdeckendes Lernen, da wäre der Einsatz eines Erklärvideos nicht sinnvoll. Andere Videoformate können natürlich eingesetzt werden, eben nur nicht Erklärvideos. Im MatheMOOC haben wir häufig mit Impulsvideos gearbeitet. In denen wurde nichts erklärt, sondern da wurden dann eher Fragen aufgeworfen, mit denen sich die Lernenden beschäftigen sollten. Aber auch im Flipped Classroom geht es nicht darum, alle Schülerinnen und Schülern zunächst als Vorbereitung ein Erklärvideo anschauen zu lassen, bevor man sich dann im Klassenraum trifft und das Gelernte dann gemeinsam übt. Es geht vielmehr um die Überlegung, welche Dinge man im Lernprozess am besten zusammen in der Gruppe macht – das gehört dann in den Unterricht – und was in der Vorbereitung zu Hause (oder in die Freiarbeitsphasen von Ganztagsschulen) alleine gemacht werden kann. Das Grundprinzip von Flipped Classroom ist es, dass soziale gemeinsame Zeit dann am effektivsten ist, wenn alle entsprechend vorbereitet sind. Und ob ich da nun Erklärvideos, Texte, Bücher oder andere Medien für die Vorbereitung nutze, ist abhängig vom Inhalt.

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6.3 Aus der Praxis: Beispiele für funktionierendes Flippen mit Erklärvideos

6.3 Aus der Praxis: Beispiele für funktionierendes Flippen mit Erklärvideos 6.3.1 Flipped Classroom – mit Videos besser unterrichten? Sebastian Schmidt Sebastian Schmidt StR (RS) ist Mathematiklehrer an der Inge-Aicher-Scholl Realschule in Neu-Ulm und verwendet seit vielen Jahren Videos im Unterricht. Im folgenden Beitrag gibt er auch zahlreiche Tipps für den Videoeinsatz aus seiner reflektierten Praxis62.

Trial-and-Error

Diese Erklärvideos auf YouTube – wie oft haben die mir schon aus der Patsche geholfen: wenn ich z. B. unseren Kinderwagen nicht schnell genug aufbauen konnte oder die Krawatte mal wieder einen neuen Knoten brauchte. Davon inspiriert wollte ich Videos für meine Schüler/innen erstellen. Wie im Referendariat gelernt, hatte ich meinen Unterricht facettenreich aufgebaut, entdeckende Phasen wechselten sich mit Anwendungen aber auch Vormachen ab. Trotzdem kam immer wieder dieser eine Satz: »Ich hab das alles nicht verstanden.« Wie toll wäre es doch, wenn ich jetzt sagen könnte: »Schau es Dir doch noch einmal auf YouTube an.« Damals gab es dort aber nur sehr wenige Erklärvideos, und so war die Idee geboren, selbst etwas zu erstellen. In meinem ersten Versuch ließ ich das Video frontal in der Klasse ablaufen. Dabei wurde mir schnell klar, dass dies nicht die Lösung sein kann. Es gab keine Rückfragemöglichkeiten, keine Interaktion, keine Kommunikation, kein Entdecken, sondern nur einen stillen Raum. Ich dachte mir, dass wir deswegen doch nicht in die Schule kommen, diese soll doch ein Ort der Kommunikation, des sozialen Lernens, des gemeinsamen Arbeitens sein. Auch mein zweiter Versuch, alle Schüler/innen am eigenen Gerät im eigenen Tempo das Video ansehen zu lassen, war aus denselben Gründen wenig hilfreich. Aber es zeigte sich eine positive Reaktion der Schüler/innen, die sich – ihrem individuellen Lerntempo entsprechend – teilweise durch mehrfaches Anschauen mit dem Video auseinandersetzten. Auch ihre Motivation war sehr hoch, und bereits in diesem Stadium wurde ich von Schülerinnen und Schülern wie Eltern gleichermaßen für meine Idee des Videoeinsatzes gelobt. Im dritten Anlauf konzipierte ich dann wieder meine normalen Unterrichtsstunden und setzte das Video nur am Nachmittag zur Nachbereitung und zum Erstellen eines Hefteintrages ein. Dann hörte ich vom Flipped Classroom und setzte das Video nun auch zur Vorbereitung ein. Das sind vier Ansätze, und wie ich heute weiß, vier falsche Ansätze, denn ich versuchte einen Platz für mein Video in meinem Unterricht zu finden und konzipierte meine Unterrichtsstunden um das Video herum. Dabei sollte doch genau der andere Weg beschritten werden mit der Frage: Wie gestalte ich eine Unterrichtseinheit, um erfolgreiches Lernen zu ermöglichen und wie kann mir ein Video dabei helfen?

62 Siehe auch die Homepage von Sebastian Schmidt: www.flippedmathe.de

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Didaktische Möglichkeiten

Für mich ist es wichtig, für meinen Unterricht genau zu analysieren, was ich erreichen will und wie ich möglichst viel Zeit für die Unterrichtsstunde freischaufeln kann, damit mehr Kommunikation, kritisches Denken, Kreativität und Kollaboration möglich ist. Dementsprechend setze ich (m)ein Video ein: zur Vorbereitung erklärend oder als Impuls, erklärend parallel zum Unterrichtsverlauf oder zur Nachbereitung oder aber ich lasse die Schüler/innen und Schüler einfach selbst ein Video erstellen und erreiche damit wohl am meisten Kompetenzen: mehr Fachkompetenz mit Lernen durch Lehren und Medienkompetenz durch Erstellen und Teilen eines eigenen Produkts. Bei allen Facetten ist das Video nicht der Mittelpunkt meines Unterrichts, sondern die flankierende Maßnahme bzw. das zusätzliche und willkommene pädagogische Material, um das selbstständige und gemeinsame Arbeiten der Schüler/innen größtmöglich zu fördern. Dementsprechend kann ich meine Videos auch immer passend zur jeweiligen Klasse einsetzen. Habe ich selbstständig arbeitende Schüler/innen, setze ich zu Beginn einer Einheit fast nur impulsartig Videos ein. Bekomme ich nur schwer Zugang zu einer Klasse, bereite ich häufiger und früher als sonst auf die Unterrichtsstunde mit einem Video vor und erkläre in diesem den Lernstoff. Durch die Sammlung aller Unterrichtsmaterialien auf der Lernplattform mebis gestalte ich dadurch eine Art Lernbüro, das ich immer wieder an die Bedürfnisse der Schüler/innen und Schüler anpassen kann. Technische Umsetzung

Begonnen habe ich mit dem alten Screencastprogramm camstudio, und ich hätte locker dabeibleiben können, denn das Lernen meiner Schüler/innen hat sich nicht verbessert, weil ich heute aufwendiger produziere. Von Anfang an habe ich mich an einem Tafelbild orientiert: Das was ich normalerweise an die Tafel geschrieben hätte, bringe ich jetzt z. B. auf einer PowerPoint-Folie. Zu viele Folienwechsel und zu viele Inhalte sind sowohl didaktisch weniger sinnvoll als auch kontraproduktiv bezüglich der vorherrschenden Aufmerksamkeitspanne heutiger Jugendlicher. Folgende technische Möglichkeiten der Videoerstellung habe ich ausprobiert und für geeignet befunden: • Screencast (Bildschirm abfilmen) in Verbindung mit einer PowerPoint-Präsentation (Achtung: Handschrift mit einbauen) • Explain Everything (Tafel-App mit Aufnahme-Möglichkeit – besonders für Schüler-Produktionen geeignet)63 • »Explainity-Video« mit mysimpleshow64 (man gibt einen Text ein und daraus wird dann eine Arte Lege-Video erstellt – manuelle Korrekturen der gewählten Bilder sind möglich)

63 Explain Everything: https://explaineverything.com 64 mysimpleshow: https://www.mysimpleshow.com/de/

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6.3 Aus der Praxis: Beispiele für funktionierendes Flippen mit Erklärvideos

Des Weiteren habe ich mir einen zweiten Bildschirm gekauft, um auf einem die Software zu bedienen und auf dem anderen den Bildschirm abzufilmen. Außerdem habe ich ein neues USB-Mikrofon angeschafft, nachdem das Headset viel zu viele ungewollte Geräusche mit aufgenommen hatte, eine FaceCam an den PC angeschlossen und auf dem Bildschirm angebracht, ein grünes Tuch für einen Greenscreen an der Rückwand meines Arbeitszimmers gespannt, Baulampen als Strahler umfunktioniert etc. – je mehr Videos man macht, desto mehr Abwechslung65 will man auch bei der Erstellung berücksichtigen. Zwingend notwendig ist dieser Aufwand nicht, denn sinnvollerweise steckt man mehr Arbeitszeit in die Vorbereitung der Unterrichtseinheit als in die vor- oder nachbereitende Hausaufgabe. Oder man erstellt die Videos gar nicht selbst, sondern bedient sich bei den zahlreichen Lehrerinnen und Lehrern, die heute schon für eine beachtliche Sammlung von Erklärvideos bei YouTube verantwortlich sind. Dann muss man aber eben auch mit den Inhalten und der Qualität dort zufrieden sein. Heute versuche ich mit so vielen Lehrerinnen und Lehrern wie möglich gemeinsame Kurse mit Videos zu erstellen. Das reduziert nicht nur die immense Arbeit, die oftmals dahintersteckt, sondern fördert auch in hohem Maße das gemeinsame Gestalten, Nachdenken und Reflektieren. Eigene Beobachtungen und Reflexionen zum Flipped Classroom

Welchen Anteil Erklärvideos am Lernerfolg meiner Schüler/innen haben und was zum Beispiel meine Begeisterung für das Fach ausmacht, lässt sich schwer auseinanderhalten. Folgende Erfahrungen konnte ich für mich festhalten: • Je kürzer das Video, desto eher schauen es die Schüler/innen an. • Ein Video kann den Unterricht gut eröffnen – ihn aber selten vollständig ersetzen. • Schüler/innen springen beim Video anschauen – sie müssen das bewusste Ansehen lernen. • Interaktionsmöglichkeiten wie beim Programm h5p gefällt Schüler/innen (»Dann muss ich besser aufpassen«). • Das selbst produzierte Video der eigenen Lehrkraft macht auch die Schüler/innen stolz und schafft eine persönliche Verbindung. • Eine gut verständliche Stimme erleichtert später beim Videoschauen das Zuhören. • Ein wenig Entertainment darf im selbstproduzierten Erklärvideo vorkommen, schließlich konkurriert man mit YouTuberinnen und YouTubern um die Aufmerksamkeit. • Beim Einsatz von Erklärvideos wird eine Neu-Rhythmisierung des Unterrichts notwendig. Die Lehrkraft gewinnt mehr Zeit im Unterricht und wird stärker zur/zum Lernbegleitenden und ist weniger Wissensvermittlende/r. • Der Einsatz von Erklärvideos bringt eine Neu-Ausrichtung des gewohnten Unterrichts mit sich. • Die Professionalisierung steigt und die eigene Lehre verbessert sich. 65 www.flippedmathe.de/2017/02/20/videoerstellung-hinter-den-kulissen/

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• Das Medium Video allein garantiert noch keine Lernerfolge. Es ersetzt das Lernen nicht – aber fördert es. • Erklärvideos verbessern die Hausaufgabenmentalität leider nicht immer. • Ein Erklärvideo braucht Begleitaufgaben (Lückentext, Quiz als Abfrage, interaktive Aufgaben). • Erklärvideos sind gut geeignet um den Unterricht mit mehr Individualisierung, Differenzierung und Personalisierung zu planen und zu gestalten. • Am meisten lernen die Schüler/innen wenn sie das Video selbst erstellen. Digitale Lehre mit Videos – besser: Digitales Lernen

Ein Video macht noch keinen digitalen Unterricht, zumindest noch keinen, der die Schüler/innen auf das 21. Jahrhundert kompetent vorbereitet. Die Stärken der digitalen Lehre mit Erklärvideos liegt eher in den pädagogischen Folgen, die das schülerzentrierte Konzept des Flipped Classrooms mit sich bringt. Durch das Bereitstellen digitalen Contents erwerben die Schüler/innen zwar auch digitale Kompetenzen, doch die reichen bei weitem nicht aus. Wichtig ist es meiner Meinung nach, reflektiert mit den neuen Medien umzugehen und von den Schülerinnen und Schülern selbst digitalen Content erstellen zu lassen, dass diese dabei neue Kommunikationsformen oder Präsentationsformen lernen können.

6.3.2 Den Unterricht auf den Kopf stellen? Mit Flipped Classroom Zeit gewinnen und Gelehrtes vertiefen Markus Christian Markus Christian ist Fachlehrer für Biologie und Chemie am Dientzenhofer-Gymnasium in Bamberg66 und produziert auch eigene Erklärvideos. Seit 2016 ist die Flipped-Classroom-Methode fester Bestandteil seines Unterrichts.

»Als Hausaufgabe schaut ihr euch online das bereitgestellte Video an und bearbeitet damit das Arbeitsblatt.« Dass ich in dieser Form einmal einen Arbeitsauftrag an die Schüler/innen stellen würde, hätte ich mir zu Beginn meiner Lehrerlaufbahn wohl auch nicht träumen lassen. Doch alles der Reihe nach. Die technische Ausstattung unserer Schule mit seinem naturwissenschaftlich-technologischen und sprachlichen Zweig ermöglicht es dem 85-köpfigen Kollegium, den Unterricht modern und medial ansprechend zu gestalten. Im Großteil des Schulgebäudes lässt die sehr gute WLAN-Abdeckung das Einbinden internetbasierter Lerninhalte zu. Alle Klassenzimmer sind mit Beamern und Dokumentenkameras ausgestattet. Darüber hinaus verfügt die Schule über einen der modernsten Chemiesäle Deutschlands. Dessen multifunktionales Raumkonzept ermöglicht es den ca. 920 Schülerinnen und 66 www.dg-info.de

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6.3 Aus der Praxis: Beispiele für funktionierendes Flippen mit Erklärvideos

Schülern zum Beispiel, Experimente mithilfe des Tabletts zu dokumentieren und diese später über das digitale Whiteboard erneut abspielen zu lassen. Diese multimediale Ausrichtung ist eng verzahnt mit dem Unterricht in unseren iPad-Klassen. In diesen Klassen besitzen alle Schüler/innen ein eigenes Gerät, welches an geeigneter Stelle im Unterricht eingesetzt werden kann. Über die in den Klassenzimmern vorhandenen Airplay-Module können in der Unterrichtsstunde erstellte Schüler/innenbeiträge mithilfe des Beamers präsentiert werden. Für Schüler/innen und Kolleg/innen, die nicht am Projekt »iPad-Klasse« teilnehmen, bietet die Schule einen iPad-Wagen mit 30 Geräten an. Wenngleich das hier vorgestellte Arbeiten mit Erklär- oder Lernvideos im Kollegium nur gelegentlich eingesetzt wird, besteht ein großes Interesse an Fortbildungen. Für meinen Unterricht nutze ich selbsterstellte Lernvideos, um Unterrichtsinhalte zu festigen oder diese anhand des Videomaterials von den Schülerinnen und Schülern erarbeiten zu lassen. Diese Möglichkeit der Wissensvermittlung ist seit Ende 2016 fester Bestandteil meiner methodischen Werkzeugkiste. Wie jede Unterrichtsmethode werden auch die Erklärvideos nicht inflationär eingesetzt, sondern unter didaktisch durchdachten Gesichtspunkten in den Unterrichts- bzw. Hausaufgabenalltag integriert. Das meist positive Feedback vieler Schüler/innen motiviert mich dabei immer wieder aufs Neue, weitere Videoprojekte anzugehen. Die Nutzung dieser kurzen Erklärfilme steht eng im Zusammenhang mit dem Konzept des Flipped Classrooms. Für viele Außenstehende scheint beim diesem zunächst das Video im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Nähert man sich allerdings aus etymologischer Sicht, so offenbart sich der eigentliche Grundgedanke – nämlich den Unterricht auf den Kopf zu stellen. Durch die Auslagerung der Erarbeitungsphase in die Hausaufgabenzeit rückt das Einüben des Gelernten während des Unterrichts ins Zentrum der Schulstunde und ermöglicht dadurch mehr Binnendifferenzierung und kooperatives Arbeiten. Darin liegt der große Mehrwert dieses Konzepts und hat mich bereits in meiner ersten »geflippten« Unterrichtsstunde vollständig überzeugt. Es ging dabei um mathematische Berechnungen im Chemieunterricht, wie sie im Lehrplan der neunten Jahrgangsstufe an bayerischen Gymnasien vorgesehen sind. In der Vergangenheit war diese Unterrichtssequenz stets davon geprägt, dass man die in der Schulstunde eingeführten Rechenregeln an einfachen Übungen anwenden lässt und durch weitere Aufgaben in der Hausaufgabe vertieft. Nicht selten traten dabei Fragen auf, die dann in der kommenden Stunde geklärt werden mussten, was den zeitlichen Rahmen des Unterrichts meist stark einengte. Mit dem Konzept des Flipped Classrooms war es nun möglich, die Vorstellung der Rechenregeln auszulagern und den kompletten Übungsteil in die Unterrichtsstunde zu integrieren. Die Schüler/innen konnten sich Aufgaben aus verschiedenen Schwierigkeitsstufen auswählen und diese in Partnerarbeit erledigen. Nach einiger Zeit beobachtete ich, dass sich die Schüler/innen verschiedener Lerngruppen gegenseitig unterstützten und so auch die schwierigen Aufgabentypen meistern konnten. Neben der erbrachten kognitiven Leistung war für mich aber vor allem die emotionale und soziale Komponente dieser Unterrichtsstunde ein Aha-Erlebnis.

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Ohne mein Zutun entstand eine Lernen-durch-Lehren-Situation, die wir uns als Lehrkräfte viel häufiger wünschen. Zudem waren die Schüler/innen selbst überrascht, wie einfach sie die Bearbeitung der Aufgaben mit Unterstützung ihrer Mitschüler/innen bewältigen konnten. Die Freude war ihnen tatsächlich ins Gesicht geschrieben. Im Vergleich zur herkömmlichen Erarbeitung dieses Themengebietes habe ich beim Einsatz der Flipped Classroom-Methode das Gefühl, dass sich die Schüler intensiver mit den Aufgaben beschäftigen. Dadurch und auch durch die ständige Verfügbarkeit des Erklärvideos scheint der Lernerfolg langfristiger gesichert zu sein. Ausgehend von diesen Eindrücken habe ich weitere Videos mit chemischem, aber auch biologischem Inhalt erstellt und nutze diese an entsprechender Stelle im Unterricht. Ich möchte hier allerdings auch nicht verschweigen, dass nicht jedes Video in jeder Klasse funktioniert. Ein großer Knackpunkt ist nicht selten die Hausaufgabenmoral der gesamten Klasse. Daher investiere ich im Vorfeld gerne etwas Unterrichtszeit, um das Konzept vorzustellen und die Schüler/innen dafür zu begeistern. Man kann an dieser Stelle beispielsweise mit einem sogenannten In-Class-Flipp arbeiten. Das bedeutet, dass man ein reguläres Erklärvideo während des Unterrichts zeigt und die Schüler/innen so mit dieser Arbeitsweise vertraut macht. Sie werden Schritt für Schritt an dieses Konzept herangeführt und können dadurch maximal davon profitieren. Wenn die Erklärvideos dann noch die Standards hinsichtlich Abspieldauer, ansprechender Darstellung und verständlicher Erklärung erfüllen, steht dem Gelingen eines Flipped Classrooms kaum mehr etwas im Wege. Allerdings sollte man im Vorfeld auch die technischen Gegebenheiten bei den Schülerrinnen und Schülern abklären. In den meisten Fällen wird zu Hause ein internetfähiger Rechner zur Verfügung stehen, aber voraussetzen kann man dies nicht. Sollte der Zugang zu den Online-Portalen nicht möglich sein, kann man das Video auch auf einem USB-Stick vorab zur Verfügung stellen. Eine weitere Möglichkeit bietet der schuleigene Computerraum, indem die betroffenen Schüler/innen das Video in Freistunden oder der Mittagspause anschauen und bearbeiten können.

6.3.3 Flipped Mathe Felix Fähnrich und Carsten Thein Felix Fähnrich und Carsten Thein sind Lehrer für die Fächer Mathematik, Physik, NWT (Naturwissenschaft & Technik) und Theater am Wilhelm-Hausenstein-Gymnasium in Durmersheim. Sie sind auch als Schulbuchautoren für den Ernst Klett Verlag tätig und erstellen Klett-Erklärfilme.67

Schulkontext

Unsere Schule ist das Wilhelm-Hausenstein-Gymnasium Durmersheim (in der Nähe von Karlsruhe) mit ca. 600 Schüler/innen und etwas über 70 Lehrkräften. 67 Mehr Informationen unter: www.fliptheclassroom.de

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6.3 Aus der Praxis: Beispiele für funktionierendes Flippen mit Erklärvideos

Alle Klassenzimmer verfügen über einen Beamer und einen Medienwagen mit Visualizer, Laptop (mit Internet) und Lautsprechern. Dazu gibt es einen Klassensatz iPads und zwei Computerräume mit jeweils 16 PCs. Die Lehrkräfte können sich über das schulinterne WLAN mit dem Internet verbinden. Als wir begannen in der Schule mit Lernvideos zu arbeiten, gab es die eingangs dargestellte technische Ausstattung, bis auf die Computerräume, noch nicht. Es gab damals in jedem Klassenzimmer neben der Tafel lediglich einen Overhead-Projektor. Das hat uns aber nicht davon abgehalten, nach neuen digitalen Wegen zu suchen, wie z. B. die Methode Flipped Classroom anzuwenden. Erstkontakt

Die erste Berührung mit der Methode des Flipped Classrooms hatten wir gegen Ende des Schuljahres 2012/13. Auf der Suche nach Möglichkeiten unsere Fähigkeiten im Bereich der Erstellung von Homepages zu verbessern, stießen wir auf einige dazu passende Erklärvideos. Dabei entstand die Frage, ob man nicht auch mithilfe ähnlicher Videos den Unterricht bereichern könnte. In den folgenden Monaten beschäftigten wir uns intensiver mit den Möglichkeiten einer Umsetzung in unserem Unterricht und beschlossen einen Einsatz in unseren Oberstufenkursen im Fach Mathematik nach den Sommerferien. Während der Vorbereitungen wurde uns schnell deutlich, dass das reine Vorführen eines Erklärvideos im Unterricht einige Nachteile mit sich bringt und somit noch lange keine Bereicherung darstellt. Während der Sommerferien erarbeiteten wir daher ein umfassendes Einsatzszenario für unseren Unterricht, das wir im weiteren Verlauf dieses Textes vorstellen möchten. Zunächst jedoch noch ein paar grundsätzliche Überlegungen, warum heute neue Wege für einen zeitgemäßen Unterricht gesucht und gegangen werden müssen. Unterricht – gestern und heute

In den Jahren nach der ersten PISA-Studie im Jahre 2000, in der Deutschland im internationalen Vergleich schlecht abschnitt, hat sich am Aufbau und den Methoden des Unterrichts in Deutschland vieles geändert. Viele Änderungen zielten u.a. darauf ab, von einer ursprünglich sehr lehrerzentrierten Unterrichtsform weg zu kommen und neue Wege zu beschreiten. Der Unterricht sollte bestenfalls so ausgerichtet werden, dass die Schüler/innen zu möglichst weiten Teilen den Lernprozess selbst aktiv gestalten. Erfahrungsgemäß geht diese Neuausrichtung damit einher, dass es durchaus schwieriger sein kann, die in Bildungsplänen aufgeführte Stoffmenge im selben Zeitrahmen und in der gleichen Ausführlichkeit zu bewältigen, wie dies in Zeiten des klassischen lehrerzentrierten Unterrichts der Fall war. An dieser Stelle setzen wir mit der Methode des Flipped Classrooms an. Unser Hauptziel ist es dabei, mehr Zeit im Unterricht zu gewinnen, die auf vielfältige Weise, vor allem aber für schüleraktivierenden Unterricht, genutzt werden kann. Dabei die Lehrkraft zunehmend die Rolle einer Expertin/eines Experten ein, die/der die Schüler/innen in deren Lernprozess unterstützt, diesen aber nicht mehr durchgehend steuert.

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6 Mehr Zeit für den Unterricht gewinnen?

Das Grundkonzept

Die Schülerin/der Schüler eignet sich zu Hause in seinem eigenen Tempo die theoretischen Grundlagen im jeweiligen Fach mit von uns erstellten Erklärvideos an. Anschließend wird im Unterricht mit verschiedenen Methoden und Aufgabenstellungen differenziert geübt, Gelerntes vertieft und weiterführende Zusammenhänge erarbeitet. Wir streben dabei an, jede Schülerin/jeden Schüler möglichst individuell und an den jeweiligen Lernstand angepasst zu fördern. Die Schülerin/Der Schüler soll dabei aus einer passiven in eine aktive Rolle versetzt werden und selbst Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen. Die Videos

Die von uns verwendeten Videos sind mithilfe der Software Camtasia: mac erstellt und auf das an unserer Schule verwendete Lehrwerk (Lambacher Schweizer Mathematik Kursstufe, Ausgabe Baden-Württemberg des Ernst Klett Verlags) abgestimmt. Wir können damit wesentlich gezielter auf die für unsere Schüler/innen relevanten Inhalte eingehen, als dies mit fremdproduzierten Erklärvideos möglich wäre. Auch die Tatsache, dass wir in unserer Funktion als Kurslehrer in den eigenen Videos auftreten, steigert die Motivation und Bereitschaft der Schüler/innen, die Videos zu bearbeiten. Bearbeiten heißt in diesem Fall zu Hause oder in Freistunden vorbereitend auf den Unterricht die Videos anzusehen, die darin gestellten kleinen Arbeitsaufträge zu erledigen, als Endprodukt einen Heftaufschrieb anzufertigen und ein zum Video passendes Quiz zu lösen. Durch den wiederkehrenden Aufbau der Abschnitte »Einführung«, »Allgemein« und »Aufgaben« versuchen wir eine klare, in sich konsistente Struktur der Inhalte zu erreichen, vergleichbar mit dem Aufbau des Schulbuchs. Das Medium Video hat dabei einige Vorteile gegenüber einer herkömmlichen Erarbeitung an der Tafel. Verstand eine Schülerin/ein Schüler bisher die Sachverhalte an der Tafel nicht, so musste der Lehrer den relevanten Teil seiner Erklärung meist vor der gesamten Klasse wiederholen. Spätestens bei der zweiten oder dritten Wiederholung werden nun die Schüler/innen, die den neuen Stoff bereits verstanden haben, recht schnell unaufmerksam und neigen zur Störung des Unterrichtsgesprächs. Ein Erklärvideo dagegen kann sich jede Schülerin/jeder Schüler im eigenen Tempo, mit Pausen und falls nötig auch mehrmals hintereinander ansehen. Verpasst eine Schülerin/ein Schüler einmal den Unterricht, so kann sie/er die Erarbeitungsphasen trotzdem nachvollziehen und die Übungen zu einem späteren Zeitpunkt nachholen. Außerdem steht immer die gesamte Datenbank an »altem« Stoff zur Verfügung, wodurch jede/r einzelne z. B. direkt vor einer Klausur genau die Themen noch einmal bearbeiten kann, bei denen sie/er selbst Probleme hat bzw. Unklarheiten bestehen. Natürlich bringt ein Video gegenüber einer live durchgeführten lehrerzentrierten Erarbeitung an der Tafel ein paar Nachteile mit sich, die sich aber durch geschickte Maßnahmen ausgleichen lassen. So ist das Konsumieren eines Videos gegenüber dem klassischen Lehrer/innen-Schüler/innen-Gespräch eine recht passive Angelegenheit und nicht schüleraktivierend. Wir integrieren daher in unsere Erklärvideos immer wieder kurze

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6.3 Aus der Praxis: Beispiele für funktionierendes Flippen mit Erklärvideos

Phasen, in denen die Schüler/innen kleine Arbeitsaufträge bekommen und dafür das Video pausieren sollen. Natürlich kann man nicht garantieren, dass dieser Aufforderung auch durch alle Schüler/innen nachgegangen wird, allerdings hat man auch im Unterricht nie die absolute Sicherheit, dass wirklich alle Schüler/innen aktiv an einem entsprechenden Arbeitsauftrag arbeiten. Die fehlende Möglichkeit während des Anschauen des Videos Rückfragen zu stellen, gleichen wir dagegen durch entsprechende Funktionen unserer Homepage aus, die wir im Folgenden erläutern werden. Die Homepage

Neben den aktuellen und allen vorhergehenden Videos, inklusive dazu passender Übungsaufgaben in drei Schwierigkeitsgraden, haben die Schüler/innen die Möglichkeit, ein zu dem jeweiligen Video passendes Quiz zu bearbeiten. Dieses Quiz soll unmittelbar nach dem Anschauen des Videos gelöst werden, um eine direkte Auseinandersetzung mit dessen Inhalten zu erreichen. Außerdem gibt es unter jedem Video die Möglichkeit, mithilfe der Kommentarfunktion Fragen zu den jeweiligen Inhalten zu stellen. Ziel ist es, dass möglichst viele dieser Fragen bereits vor dem Unterricht durch den betreuenden Lehrer bzw. im Idealfall durch Mitschüler/innen beantwortet werden. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass in den meisten Fällen in relativ kurzer Zeit umfangreiche Antworten und Hilfestellungen durch Mitschüler/innen erfolgen. Der Unterricht 1 Einstieg

Zu Beginn des Unterrichts wird eine zufällig ausgewählte Schülerin/ein zufällig ausgewählter Schüler zu den Inhalten des aktuellen Videos abgefragt. Diese/r muss dabei an der Tafel an einfachen Aufgaben zeigen, dass sie/er das Video bearbeitet und sich mit den darin enthaltenen Themen beschäftigt hat. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass eine Schülerin/ein Schüler auch mehrmals hintereinander für die Abfrage ausgewählt werden kann und somit die Lernmotivation für den Folgeunterricht nicht verliert. Außerdem achten wir bewusst darauf, dass nur einfache Zusammenhänge und Rechenschritte abgefragt werden, die wirklich jede Schülerin/jeder Schüler nach Bearbeiten des Videos beantworten kann. Durch ein anschließendes kurzes Unterrichtsgespräch werden noch offene Fragen geklärt oder an konkrete Probleme aus den Kommentardiskussionen auf der Homepage angeknüpft. Dabei wird meist recht schnell deutlich, an welchen Aufgaben- und Fragestellungen noch gezielt gearbeitet werden muss. 2 Hauptphase

Wichtig ist uns, dass jeder Lehrer in der Gestaltung der anschließenden Hauptphase des Unterrichts völlig frei ist. Die Methode des Flipped Classrooms sorgt einfach gesagt zunächst einmal nur dafür, dass man mehr Zeit im eigentlichen Unterricht hat, da die Erarbeitung der Grundlagen bereits zu Hause erfolgt. Wir sind der Überzeugung, dass jede Lehrkraft selbst am besten weiß, wie sie die eigene Klasse am effektivsten

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6 Mehr Zeit für den Unterricht gewinnen?

lernen und üben lassen kann. Die folgenden beiden Gestaltungsmöglichkeiten der Hauptphase sind daher nur als Beispiele aus einer Vielzahl an möglichen Vorgehensweisen zu sehen, die sich in unserem eigenen Unterricht bewährt haben: 1. Übung neuer Inhalte: Die Schüler/innen bearbeiten selbstständig oder in kleinen Gruppen differenzierte Übungsaufgaben. Wir verwenden hier eine einfache, aber verständliche Einteilung in leichte, mittlere und schwere Aufgaben, sodass jede Schülerin/jeder Schüler, dem eigenen Lernstand entsprechend, üben kann. Die Lösungen liegen dabei zum selbständigen Kontrollieren aus. Der betreuende Lehrer gibt während dieser Phase individuelle Hilfestellung und kann gegebenenfalls häufig auftretende Fragen oder Probleme für alle an der Tafel klären. 2. Anwendung erlernter Inhalte: Umfangreichere Aufgaben und Problemstellungen, die normalerweise im Unterrichtsgespräch gelöst werden und die für den Großteil der Schüler/innen in einer selbstständigen Erarbeitung zu schwierig erscheinen, werden bei uns mit der Methode des Aktiven Plenums bearbeitet. Dabei zieht sich die Lehrkraft aus der aktiven Rolle zurück und überlässt Moderation und Tafelaufschrieb zwei Schülerinnen/Schülern. Die Lehrkraft bleibt im Hintergrund, sorgt für die Einhaltung zuvor festgelegter Spielregeln und beobachtet die Schüler/innen. Er greift lediglich ein, um die moderierende Schülerin/den moderierenden Schüler gegebenenfalls bei deren/dessen Fragestellung zu unterstützen oder um den Schülerinnen/Schülern zu helfen, wenn diese bereits eine gewisse Zeit an einem falschen Lösungsweg arbeiten und diesen nicht eigenständig als falsch erkennen. 3 Schlussphase

Während der Übungs- oder Erarbeitungsphasen treten immer wieder ähnliche Probleme und Fragestellungen auf, die für alle Schüler/innen von Relevanz sein könnten. In diesen Fällen machen wir uns kurze Notizen an der Tafel, um in einer späteren Schlussphase eben diese Punkte mit der gesamten Klasse besprechen zu können. Neben der Besprechung der aufgetretenen Probleme eignet sich diese Phase auch ideal um alternative Lösungswege, Tipps und Tricks oder Eselsbrücken vorzustellen. Die Liste an Themen für die Schlussphase darf dabei jederzeit auch aus den Reihen der Schüler/innen ergänzt werden. Je nach Umfang dieser Auflistung sollte die Lehrkraft am Ende der Stunde natürlich ausreichend Zeit für ihre Besprechung einplanen. Fazit

Mittlerweile haben wir insgesamt sechs Oberstufenkurse im Fach Mathematik mit der Methode des Flipped Classrooms erfolgreich zum Abitur geführt und in anschließenden Evaluationen von den Schülerinnen und Schülern überwiegend sehr positive Rückmeldungen erhalten. Außerdem erhielten wir dabei wichtige Erkenntnisse zur weiteren Optimierung unserer Methode und zu Gestaltung der Videos. Im Schuljahr 2018/19 starten wir mit zwei weiteren Kursen und haben dafür erneut einige größere Veränderungen geplant. So werden wir unter anderem nach mittlerweile über fünf

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6.3 Aus der Praxis: Beispiele für funktionierendes Flippen mit Erklärvideos

Jahren seit der Erstellung unseres ersten Videos eine komplett neue Generation Videos erstellen, die erstmals auch interaktive Elemente enthalten werden. Zum Beispiel wird an manchen Stellen das Video automatisch pausiert und ein Quiz eingeblendet. Lösen die Schüle/rinnen dieses richtig, läuft das Video weiter. Geben sie dagegen eine falsche Antwort ein, springt beispielsweise das Video an eine vorher gewählte Stelle zurück und die Schüle/rinnen müssen sich diesen Teil des Videos erneut ansehen. Dadurch können wir unseren Ansatz, dass man das Video proaktiv bearbeiten und nicht passiv anschauen muss, noch besser gerecht werden. Außerdem erhöhen wir die Aufmerksamkeit der Schüle/rinnen und das nachhaltige Lernen wird weiter verbessert.

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7 Wie Erklärvideos und Lehrfilme bereitstellen? – Eine Vorstellung aktueller Angebote

7 Wie Erklärvideos und Lehrfilme bereitstellen? – Eine Vorstellung aktueller Angebote Stephan Dorgerloh

Schule und Unterricht bedarf des Einsatzes von didaktisch gestalteten Lehr- und Lernmitteln. Die KMK definiert Lernmittel als die Lern- und Arbeitsmaterialien, welche die Schüler/innen für die erfolgreiche Teilnahme am Unterricht benötigen, wie z. B. Schulbücher, Taschenrechner oder ein Zirkel68. Lehrmittel dagegen sind die zur Ausstattung der Schule gehörenden Unterrichtsmittel wie z. B. geographische Karten oder anatomische Modelle. Dazu gehören auch speziell für die Schule produzierte Lehrfilme, welche traditionell als physische Kopien (Super8, 16mm, Videokassetten, DVD oder Blue-Ray) in regionalen Medienstellen zur Verfügung gestellt wurden. Mit der zunehmenden Digitalisierung ist der Zugriff auf diese Medien, z. B. über die FWU Mediathek69, deutlich bequemer geworden, entsprechend steigen die Ausleihzahlen. Dass es aber nicht ausreicht, einfach nur Filme abzuspielen, ist pädagogisches Allgemeinwissen. Im Unterricht eingesetzte Filme brauchen Begleitmaterial. Ob passende Übungsaufgaben oder Beobachtungsbögen, Vokabellisten oder Arbeitsblätter – wer Videos im Unterricht didaktisch reflektiert einsetzt, wird sich auch passende Begleitmaterialien überlegen bzw. mit einbeziehen. Damit ist schon ein großer Unterschied zwischen YouTube und professionellen Plattformen für digitale Unterrichtsmedien markiert. Auch verschlagwortete Inhalte und damit auffindbare passende Videos, Erläuterungen zum jeweiligen Stoffumfeld oder Kompetenzrahmen, Zuordnung zu Lernplänen oder Klassenstufen, Überlegungen zu Alter und Unterrichtssequenzen finden sich nicht auf YouTube. Ebenfalls bleiben vielfach auch Qualitäts- und Rechtefragen unklar. Sind private und staatliche digitale Lehr- und Lernplattformen deshalb die bessere Alternative zu den Erklärvideos auf YouTube? Wie zu erwarten, gehen die 16 Bundesländer bei digitalen Medien im Unterricht überwiegend eigene Wege, wenn auch die Mediathek FWU bundesweit genutzt wird. Mit emuTUBE in Sachsen-Anhalt und dem umfangreichen bayrischen Angebot zur Medien Bildung in Schule (mebis) stellen wir zwei unterschiedliche Länderplattformen vor und beleuchten dabei auch Entstehungsgeschichte und Zukunftsperspektiven. Auffallend ist das bunt gemischte und historisch gewachsene Material. Von längeren Dokumentarfilmen, die vielfach aus öffentlich-rechtlichen Quellen stammen, bis hin zu eigenen Lern- und Erklärvideos (manche auch noch aus der Frühphase der Plattformen) bietet sich hier ein breites Angebot, das je nach Land und auch Länderfinanzen recht unterschiedlich aufgemacht daherkommt. Es wäre Zeit für einen modernen gemeinschaftlich betriebenen gesamtdeutschen Bildungsmedienserver; besser eine zentrale KMK gestützte Bildungsplattform aller 16 Länder, auf dem sich vielfäl68 www.kmk.org/themen/allgemeinbildende-schulen/weitere-themen/lehr-und-lernmittel.html 69 www.fwu-mediathek.de

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7.1 Zwischen OER-Dienstleister und Bildungs-Netflix

tige mediale Inhalte mit zeitgemäßer Navigation, Übungsaufgaben und Prüfungsarchiv, aktuellen Informationen und ansprechendes Design verbinden. So bleibt es das Privileg privater Investoren und Startups wie Sofatutor (siehe auch das Interview mit Sofatutorgründer Stephan Bayer, Kap. 4.5) oder aber den etablierten Bildungsmedien, moderne Lernplattformen zu betreiben. Was für Videoplattformen es gibt und wo man Videos findet, die für den Unterricht geeignet sind, will das folgende Kapitel skizzieren. Auch wird der Frage nachgegangen welche Begleitmaterialien Videos für einen guten didaktischen Einsatz benötigen. Ein Video alleine reicht selten aus. Was erfolgreiche Videoplattformen ausmacht und was wir davon für die deutsche Schullandschaft lernen können, wird deutlich, wenn wir einen kurzen Blick auf wenige internationale Beispiele werfen. Sie zeigen wohin die Reise gehen kann und welche Potenziale dort auch für die deutsche Bildungslandschaft und ihre Anwendungsgebiete schlummern. Last but not least werden auch die Fragen nach Urheberrechten, Qualität und Lizensierung, die im konkreten Schulalltag nicht unbeachtet bleiben dürfen, thematisiert.

7.1 Zwischen OER-Dienstleister und Bildungs-Netflix: Das Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU) Michael Frost (MF) im Gespräch mit Karsten D. Wolf (KDW) Das Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU) hat den Auftrag, Medien für den Unterricht herzustellen und diese Medien im schulischen Kontext zu verbreiten. Wichtige Abnehmer/ innen sind die Medienzentren in den Kreisen und Städten, aber auch die Bundesländer erwerben Länderlizenzen. Michael Frost ist der geschäftsführende Direktor des FWU, der sein Institut fit für eine digitale Zukunft machen will.

KDW: Die FWU steht für mich traditionell für Lehrfilme, die Lehrende ausleihen konnten, um sie im Unterricht zu zeigen. Welche Rolle spielen denn überhaupt noch diese physikalischen Medien? MF: Die Ausleihe der physikalischen Medien geht ganz klar zurück. Die Lehrerin/ der Lehrer fährt nicht mehr ins Medienzentrum, schaut ins Archiv, leiht ein Medium aus und bringt das nach einem Zeitraum X wieder zurück. Heute erfolgt der Einsatz von Medien überwiegend über die Mediendistributionen der Länder, wie mebis in Bayern oder EDMOND in Nordrhein-Westfalen. Früher standen vor allem klassische Lehrfilme mit schriftlichem Material für den Unterrichtseinsatz im Fokus. Heute produziert das FWU mittlerweile auch interaktive Onlinemedien, wie z. B. das digitale Biologiebuch der 5./6. Klasse Gymnasium in Nordrhein-Westfalen.70 Wir wollen uns 70 https://fwu.de/biobook-nrw/

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7 Wie Erklärvideos und Lehrfilme bereitstellen? – Eine Vorstellung aktueller Angebote

permanent weiterentwickeln. Hier hat das FWU einen deutlichen Vorsprung gegenüber anderen Wettbewerbern. KDW: Wer sind denn die Wettbewerber? MF: Das sind überwiegend kleinere mittelständische Produktionshäuser, die auch Unterrichtsmedien herstellen oder im Sinne von E-Books weiterentwickeln. Aber das sind keine namenhaften Wettbewerber wie die großen Schulbuchverlage. Spannender ist die Frage, wohin sich die großen Verlagshäuser wie Klett, Cornelsen, Westermann etc. entwickeln. Was haben die für Digitalisierungsstrategien? KDW: Die Verlage tendieren ja dazu, ihre digitalen Angebote um die Schulbücher herum zu orchestrieren. Der digitale Unterrichtsassistent von Klett z. B. reichert das klassische E-Book mit multimedialen Ergänzungsinhalten sowie Arbeitsblättern an, die online und auf DVD auch offline verfügbar gemacht werden. MF: Wir am FWU stellen uns deshalb die Frage: Wie sieht das ideale Angebot der Zukunft aus? Werden es umfassende Medienangebote wie E-Books sein, die ganze Jahrgänge abbilden, oder sind es eher kleinere Apps und Medienbausteine, die von den Lehrkräften genutzt werden können. Ich denke, dass der klassische didaktische Lehrfilm nicht die neuen Entwicklungslinien bestimmt. Es ist momentan ein ziemlicher Umbruch im Markt. KDW: Verändert sich das Ausleihverhalten dadurch, dass digital distribuiert wird? MF: Online-Mediatheken vereinfachen diesen Prozess, da sehen wir eine Veränderung. Der mediale Einsatz im Unterricht wird länderseitig in der Lehrerausbildung forciert. Um das Thema Einzug digitaler Medien im Unterricht zum Erfolg zu führen, stellen wir z. B. die Mediathek zu Vorzugspreisen den Instituten für Lehreraus- und -fortbildung zur Verfügung. Wir erlauben zum Beispiel auch die Kopierfähigkeit unserer Medien. D.h. unsere Medien sind auch in den Klassenräumen einsetzbar, wo sie nicht über einen Internetzugang verfügen. KDW: Sie haben ein neues Biologiebuch für die 5./6. Klasse produziert mit interaktiven Videos, mit direkten Links auf die Arbeitsblätter und weiterführendem interaktivem Material. Das geht ja weit über die »klassischen« Lehrfilme der FWU hinaus, die ja eher als Ergänzung zum Unterricht und existierenden Lehrwerken zu verstehen sind. Treten sie damit in Konkurrenz zu den Schulbuchverlagen? MF: Das FWU ist längst mehr als ein Medienproduzent. Wir treiben Innovationen voran, auch um den Markt zu beflügeln. Dieses Biologiebuch war ein Auftrag von NRW.

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7.1 Zwischen OER-Dienstleister und Bildungs-Netflix

Es muss mehr möglich sein, als ein Buch als PDF anzubieten und dann zu sagen, das ist jetzt das elektronische Medium. Das FWU bietet mit dem SODIS Content Pool die größte Datenbank für offene Bildungsmaterialien in Deutschland. Wir arbeiten an der Datenbank Bildungsmedien mit und sind bei der Entwicklung von Medienstandards über die Arbeitsgemeinschaft Mediendokumentation und -distribution aktiv. Auch unsere eigene Mediathek entwickeln wir weiter, insbesondere mit neuen innovativen Medienformaten und natürlich auch mit dem digitalen Schulbuch, das in der Entwicklung steht. Wir erschließen auch noch OER und stellen entsprechend OER-Medien über ein eigenes Portal bereit bzw. helfen bei der Zugänglichmachung und dem Einsatz solcher Medien im Unterricht. Das sind die Kernpunkte unserer Aufgaben. KDW: Zurück zu den Filmen, dem Markenkern der FWU. Ich unterscheide zwischen Filmen, die professionell produziert worden sind, und Erklärvideos auf YouTube, die in einem nicht professionellen Kontext erstellt worden sind. Wie hat sich ihre Filmproduktion didaktisch und medientechnisch geändert? Sind die Beiträge kürzer geworden? Gibt es andere Erklärformate? MF: Fangen wir mit YouTube an und der Frage: Warum braucht man das FWU noch, wenn auf YouTube jedes Angebot erhältlich ist? Bei uns gilt nach wie vor: Quantität steht hinter Qualität. D.h. Quantität sagt nichts über Qualität aus. Wir bieten etwas, was YouTube so nicht leisten kann. Der Einsatz unserer Medien ist urheberrechtlich einwandfrei und unbedenklich. Und wir liefern in unseren Filmen vielfältiges Arbeitsmaterial mit, das auf die lernplanmäßigen Anforderungen abgestimmt ist. Das fehlt bei den kostenfreien Materialien wie OER und YouTube. Und es stimmt ja auch nicht, dass man auf YouTube alles erhält. In vielen Fachgebieten gibt es keine sinnvollen Ergebnisse. Nehmen sie zum Beispiel mal Themen aus der Ethik, teilweise Geographie oder Geschichte ab 1930. Aber man muss auch zugeben, dass es z. B. für Mathematik, Physik, Deutsch und Fremdsprachen gute Suchergebnisse gibt. Wenn sich Lehrkräfte mangels Alternative dort bedienen, nimmt ihnen niemand die Gefahr ab, dass sie Urheberrechtsverletzungen begehen oder Material aus dubiosen Quellen einsetzen. Man muss deutlich sagen: Auch bei YouTube gibt es Nutzungsbestimmungen. Auch wenn die Nutzungsbestimmung meist nicht gelesen werden. Bei YouTube heißt es eindeutig, dass sie das Material zu persönlichen Zwecken, nicht zur kommerziellen Nutzung und nur im Rahmen nutzen dürfen, der durch diese normale Funktionalität der Dienste vorgegeben ist. D.h. im Klartext: Sie dürfen zum Beispiel kein Video runterladen, kopieren oder extrahieren und dann im Unterricht einsetzen. So ist die Rechtslage. Mit unseren Medien dagegen können sie dies aber alles machen und haben auch noch exakte Lernplanbezüge. Wenn Sie mich dann fragen, wie wir uns mit unserer Produktionsweise weiterentwickelt haben und wie sich die didaktische Gestaltung verändert hat, dann muss ich sagen, dass wir in einem permanenten Wandel unserer didaktischen und technischen

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7 Wie Erklärvideos und Lehrfilme bereitstellen? – Eine Vorstellung aktueller Angebote

Produktionsprozesse sind. So ermöglichen z. B. unsere neuen Filme mit interaktiven Elementen ein völlig neues, selbstständiges Erarbeiten des Lernstoffes durch unsere Schüler/innen und geben den Lehrkräften neue Handlungsspielräume. Unser Medienmaterial ist ja für beide Gruppen: für Schüler/innen und Lehrkräfte. Natürlich achten wir auch auf Barrierearmut oder Varianten der Binnendifferenzierung. Wir treiben technische oder didaktische Neuerungen voran, wie z. B. Änderungen von Seh- und Handlungsgewohnheiten des Zielpublikums bezüglich der Machart oder des Lebensweltbezuges. Vor diesen Herausforderungen stehen auch unsere Produzentinnen und Produzenten. Wir lassen unsere Medien auch von Universitäten, von Ausbilderinnen und Ausbildern oder direkt von den Schulen überprüfen. KDW: Jugendliche oder Lehramtsstudierende finden alte Lehrfilme oft ein bisschen altertümlich. Sollte man Medien mit einer Art Verfallsdatum versehen? MF: Wir recyceln nicht. Wir schauen, welche Produktionen in die Jahre gekommen sind, welche nicht mehr der gesamten Aufmachung entsprechen. Haben sich z. B. im Fach Chemie Sicherheitsstandards geändert? Fehlt in einem Lehrfilm - mal ganz einfach gesprochen – die Schutzbrille, dann produzieren wir das Thema nach. Es gibt einen Kern von Grundformaten, die sicher immer gefordert sind. Wenn sie die Möglichkeit haben, entsprechend neues Filmmaterial entwickeln zu können, machen sie das auch. Die andere Frage ist, wo kommt das Geld dafür her. Nach wie vor läuft unser Kerngeschäft über Medienzentren und deren Budgets gehen immer weiter zurück. Es wäre wünschenswert, wenn statt auf billige Massenware mehr auf Qualität gesetzt würde, wie z. B. mit unserem neuen innovativen Medium zu Südkorea, das wir auch auf der Didacta vorgestellt haben. Wenn man sich die interaktive Bandbreite der Gestaltungsmöglichkeiten, die man mit solchen Medien erzielen kann, ansieht, dann muss man wissen, dass eine solche völlig neue Mediengeneration auch gehörig Geld in der Produktion kostet. KDW: Wer finanziert die FWU? MF: Unsere Gesellschafter sind die 16 Länder. Die Medienproduktion selber agiert wie ein Produzent am freien Markt. D.h. wir stellen unsere ca. 60 Produktionen pro Jahr unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten her. Bei der Auswahl können die Länder über einen Programmbeirat mitbestimmen, wobei wir mit unserer Expertise und Marktkenntnis die Vorschläge erarbeiten, damit wir z. B. nicht das vierte oder fünfte Biologiemedium zum Thema »Das Ohr« produzieren.

KDW: Wo steht das FWU in 10 Jahren?

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7.2 Von der Bildstelle zum Medienportal emuTUBE

MF: Der klassische Lehrfilm wird sich weiterentwickeln. Auf uns werden neue Aufgaben im Dienstleistungsbereich zukommen und wir werden natürlich weiter Innovationen vorantreiben wollen. Stichwort: Digitalisierung des Schulbuchs und der Mediathek. Wir werden sicherlich als Dienstleister der Länder weiterhin Fuß fassen. Im Zuge der Digitalisierung haben wir auch Aufgaben, die im KMK – Strategiepapier »Bildung in der digitalen Welt« formuliert sind. Da sind wir auch namentlich genannt. Da werden sicherlich auch neue technische Aufgaben oder Aufgaben bezüglich des Contents auf uns zu kommen. Zehn Jahren sind im digitalen Markt ein sehr langer Zeitraum. Da kann extrem viel passieren.

7.2 Der richtige Film zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Von der Bildstelle zum Medienportal emuTUBE Prof. Dr. Paul D. Bartsch Prof. Dr. Paul D. Bartsch, war Lehrer für Deutsch und Musik. Er leitete von 1991 bis 2017 den medienpädagogischen Arbeitsbereichs am Landesinstitut Sachsen-Anhalt (LISA), seit 1999 hat er die Professur für Erziehungswissenschaft, Kindheit und Medien an der Hochschule Merseburg inne.

100 Jahre Bildstellen Als im Jahr 1919 am Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin eine »Beratungs- und Prüfungsstelle für Lehrfilme« gegründet wurde (Paschen/Selg/Viering 2000: 53 ff.), war dies nur eine logische und konsequente Reaktion auf die seinerzeit rasante medientechnologische Entwicklung und deren Auswirkungen auf die schulische Bildung. Damit schlug zugleich die Geburtsstunde des Bildstellenwesens, das für ein Dreivierteljahrhundert die Medienbereitstellung für den Unterricht an deutschen Schulen sicherstellen sollte; geburtshelfende Medien waren die Fotografie, der Film und der Rundfunk. Diese sahen sich – als die seinerzeit neuen Medien – neben begeisterter Euphorie durchaus gesellschaftlicher, ästhetischer und bekanntlich auch pädagogisch motivierter Kritik ausgesetzt. Umso wichtiger, dass einige Pädagog/innen frühzeitig das didaktische Potenzial der stehenden und laufenden Bilder erkannt und daraus die Vision abgeleitet hatten, der Schule lehrplangerechte visuelle (und mit der Erfindung des Tonfilms audiovisuelle) Lernhilfen zentral zur Verfügung zu stellen.

Aufbruch ins digitale Medienzeitalter Die in den 1990er-Jahren auch im Bildungsbereich einsetzende Digitalisierung eröffnete neue Perspektiven, die zugleich auch gravierende Veränderungen im Selbstverständnis und der Aufgabenstellung der traditionell gewachsenen Medienzentren

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auslösten. Plötzlich waren Medieninhalte nicht mehr an Platz beanspruchende, kostenintensive und aufwendig zu pflegende physische Trägermedien gebunden, sondern konnten als Mediendateien auf Computern, Servern oder Medienportalen gespeichert und in Netzwerken verteilt werden. Anfangs verhinderten noch die Dateigrößen bei zu geringen Bandbreiten, die divergierenden technischen Standards sowie die mangelhafte Schulausstattung den Einsatz von Digitalvideos außerhalb einzelner Modellprojekte, doch kann heute – hundert Jahre nach Beginn der Bildstellen-Ära – konstatiert werden, dass der Traum vom richtigen Medium zur richtigen Zeit am richtigen Ort vielerorts bereits Realität geworden ist.

Ein EMU lernt laufen In Sachsen-Anhalt startete mit dem Schuljahr 2002/03 das Modellprojekt »Einsatz digitaler Medien im Unterricht – EMU« an acht ausgewählten Schulen mit dem anspruchsvollen Ziel, »den Ausgangsmedienbestand des EMU-Projektes (43 Medientitel) mit vertretbarem Aufwand zu verzehnfachen und damit in etwa jene Zahl zu erreichen, die der Standardausstattung von Schulen im englischsprachigen Raum entspricht« (Bartsch 2003: 201). Dazu wurden die Videofilme im MPEG-1-Standard auf mobilen Festplatten an die Schulen geliefert, da es noch nicht möglich war, derartige Datenmengen übers Netz zu distribuieren. Nach einjähriger Erprobung der EMU-Technologie wurde konstatiert, »dass das System kaum technische Probleme macht und nur einen äußerst geringen Wartungsaufwand verursacht. Die Bedienung ist simpel, sicher un d schnell« (Bartsch 2003: 200). Innerhalb von 20 Sekunden sei man an jeder gewünschten Stelle eines Videofilms – »kein Vergleich also mit dem Aufwand, ein Unterrichtsvideo in einer zentralen Medienstelle vorzubestellen, abzuholen, einzurichten und abzuspielen, es anschließend zurück zu spulen und in die Medienstelle zu bringen« (ebenda).

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7.2 Von der Bildstelle zum Medienportal emuTUBE

Abb. 7: Prinzipskizze für das EMU-System 2003

Insgesamt war der Modellversuch so erfolgreich, dass er 2004 in den Dauerbetrieb überführt wurde. Inzwischen standen 260 digitalisierte Videos im so genannten Startpaket zur Verfügung, größtenteils ergänzt durch digitales Begleitmaterial. Zudem – und dies stellte tatsächlich eine didaktisch sinnvolle Innovation dar – konnten alle Videos durch die Lehrkräfte individuell sequenziert werden. Sprungmarken verorteten dann jene Stellen, die aus methodisch-didaktischen Erwägungen heraus im Unterrichtseinsatz direkt ansteuerbar sein sollten (Scholz 2005: 245ff.).

Zeitsprung ins Heute: emuTUBE Das auf der Grundlage von EMU seit 2011 allen Schulen in Sachsen-Anhalt kostenfrei zur Verfügung stehende (und 2015 mit dem Comenius EduMedia Siegel ausgezeichnete) Medienportal emuTUBE71 unterscheiden Welten von jenem Beginn vor andert71 https://www.bildung-lsa.de/emutube.html

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7 Wie Erklärvideos und Lehrfilme bereitstellen? – Eine Vorstellung aktueller Angebote

halb Jahrzehnten. Das meint nicht nur das äußere Erscheinungsbild, das sich durch mehrere Relaunches und die Integration in die pädagogischen Dienste des Landesbildungsservers verändert hat, sondern vor allem die erweiterten pädagogisch sinnvollen Funktionalitäten sowie den ungleich größeren Medienbestand, der als Basis den Antares Content Access nutzt72.

Abb. 8: Der nach Fächern und Kursen aufbereitete emuTUBE-Medienpool mit der Recherchemaske (https:// www.bildung-lsa.de/emutube/medienpool.html)

Wie sich dieses Angebot methodisch und didaktisch im Unterrichtseinsatz auswirken kann, soll im Folgenden gezeigt werden. Zunächst die aktuellen Fakten: • knapp 6.700 digitale Medien, darunter etwa 4.600 Videos, stehen derzeit (Stand Oktober 2019) mit den entsprechenden Lizenzen zur Verfügung; • alle Medien sind nach Unterrichtsfach, Schuljahrgang, Lauflänge, Sprache, Produktionsjahr, vorhandenem Begleitmaterial sowie Suchbegriffen recherchierbar; • persönliche Suchroutinen können ebenso wie persönliche Lesezeichen gespeichert werden; • alle Medien können durch die Nutzer bewertet werden; die Bewertungen sind ebenfalls als Suchkriterium nutzbar; • zu allen Medien wird die Anzahl der bisherigen Downloads angezeigt – auch dies kann ein Auswahlkriterium sein; • alle Medien werden in html5 dargestellt, wodurch Flash überflüssig wurde; • alle Medien verfügen über eine Kurzbeschreibung und haben eine Vorschaufunktion; • zu vielen Medien gibt es didaktisierte Begleitmaterialien, die in unterschiedlichsten Dateiformaten hinterlegt werden können; 72 http://www.antares.net/

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7.2 Von der Bildstelle zum Medienportal emuTUBE

• selbst entwickelte Unterrichtsmaterialien können unkompliziert ausgetauscht oder aber in der emuCLOUD verschlüsselt abgelegt werden; • emuTUBE besitzt einen eigenen Zugang für Schüler/innen (das so genannte emuEI), der von den Lehrkräften unkompliziert eingerichtet werden kann, um den Lernenden die Arbeit mit emuTUBE-Medien individuell sowie außerhalb der Unterrichtszeit zu ermöglichen; • die emuTUBE-Medien können unmittelbar in die Lernplattform Moodle integriert werden; • der Bildungsserver bietet als zusätzlichen Service Online-Versionen der Fachlehrpläne, in denen die Kompetenzerwartungen und Fachinhalte unmittelbar mit für die Unterrichtsgestaltung geeigneten emuTUBE-Medien sowie weiteren Materialien (z. B. Niveaubestimmenden Aufgaben) verknüpft sind (Abb. 9).

Abb. 9: Die durch Medien und Materialien untersetzten Lehrpläne auf dem Bildungsserver Sachsen-Anhalt 73

Insbesondere die letzten drei Punkte haben spürbare Auswirkungen auf die Unterrichtsgestaltung und -qualität. So ermöglicht das emuEI beispielsweise, dass die Schüler/innen konkrete Einzelmedien mit ihrem Smartphone oder Tablet per QR-Code® 73 https://lisa.sachsen-anhalt.de/unterricht/lehrplaenerahmenrichtlinien/sekundarschule/

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abrufen, abspeichern und für eine bestimmte Zeit damit arbeiten können. Diese Möglichkeit beinhaltet die freie Bearbeitung, also die Sequenzierung des Mediums, das Selektieren einzelner Elemente oder Abschnitte, die Einbindung in eigene Präsentationen oder die kreative Weiterverarbeitung innerhalb schulischer Projekte. Der Durchbruch hinsichtlich einer breiten Akzeptanz des emuTUBE-Angebots gelang mit der Bereitstellung der materialuntersetzten Lehrpläne, die seit August 2014 zunächst für die Sekundarschule veröffentlicht und inzwischen für das Gymnasium und die Grundschule ergänzt wurden. Ein Beispiel für die Untersetzung der Kompetenzerwartungen durch emuTUBE-Medien zeigen die Abbildungen 10 und 11 – hier aus dem Geschichtslehrplan Sekundarschule, Schuljahrgang 7/8; Abb. 11 zeigt die aufgeklappte ausführliche Liste, die in Abb. 10 angeboten wird.

Abb. 10 und 11: Ein Beispiel für die Untersetzung der Kompetenzerwartungen durch emuTUBE-Medien74

74 https://t.co/28hoDBgBx7 und https://t.co/6Pmjl9OP52

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7.2 DerrichtigeFilmzurrichtigenZeitamrichtigenOrt:VonderBildstellezumMedienportalemuTUBE

Dadurch wird die eingangs geschilderte Vision, unterrichtsgeeignete, qualitätsgeprüfte Digitalvideos situativ für schulische Lehr- und Lernsituationen auswählen und einsetzen zu können, Realität. Die Vielfalt der Einsatzszenarien ist groß: Die Frontalprojektion zur gemeinsamen Rezeption im Klassenverband ist ebenso möglich wie das Verteilen von Videos auf mehrere Lerngruppen an PC-Stationen bzw. auf mobilen Endgeräten oder die Zuweisung von Medien an jede einzelne Schülerin/jeden einzelnen Schüler zur individuellen Bearbeitung. Die Videos können in allen didaktischen

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Phasen eingesetzt werden, von der Motivation und der Einführung in ein neues Thema über die durch konkrete Aufgaben gesteuerte Informationsgewinnung oder das entdeckende Lernen bis hin zur Festigung, zur Lernkontrolle oder zur zusammenfassenden Reflexion. Dabei ist jedes Digitalvideo des emuTUBE-Angebots nicht nur in seiner vorgegebenen Form einsetzbar; vielmehr gestattet die Lizenzgestaltung auch die flexible Be- und Verarbeitung der Medien im Lernkontext, wodurch äußerst kreative Ergebnisse erreichbar sind. Und es ist erwünscht der Redaktion des Bildungsservers ergänzende Vorschläge für geeignete Digitalvideos und andere Medien aus dem emuTUBE-Bestand zu unterbreiten, was die unterrichtliche Varianz erhöht und die Expertise der Lehrkräfte nutzt.

Literatur Bartsch, P. D. (2003): Direkter Zugriff auf Unterrichtsmedien – ein EMU am LISA. In: Landesinstitut für Lehrerfortbildung, Lehrerweiterbildung und Unterrichtsforschung (Hrsg.): LISA-Jahrbuch 2002/03, Halle. ISB Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (Hrsg.) (2007): Online-Distributionssysteme für Unterrichtsmedien. Erfassung und analytische Gegenüberstellung unterschiedlicher, die Kooperation mit den kommunalen Medienzentren einschließender Mediendistributionsmodelle, München. Online verfügbar unter: https://www.isb.bayern.de/gymnasium/materialien/o/ online-distributionssysteme-fuer-unterrichtsmedien/ [Letzter Zugriff: 19.11.2019]. Paschen, J./Selg, W./Viering, M. [2000]: Medien für die Schulen – Zur Entwicklung in Deutschland. In: Medien, Bildung und Visionen, hrsg. Vom FWU, München. Scholz, B. (2005): Einsatz digitaler Medien im Unterricht (EMU) – ein Modellversuch wird schulische Praxis. In: Landesinstitut für Lehrerfortbildung, Lehrerweiterbildung und Unterrichtsforschung (Hrsg.): LISA-Jahrbuch 2004/05, Halle. S. 245–249.

7.3 mebis macht Bildung digital Franziska Hübler, Simon Leicht, Iris Luber, Thomas Ludwig, Wolfgang Plank, Thomas Ströse Wie Bundesländer bei der Bereitstellung digitaler Medien vorgehen wird am Beispiel von »mebis – Landesmedienzentrum Bayern«75 dargestellt. Diese pädagogische Schulplattform bündelt zahlreiche Lehr- und Lernangebote, die Lehrkräfte schulartübergreifend an allen bayerischen Schulen in ihrem Bildungsauftrag unterstützen. Sie beinhaltet neben hilfreichen Werkzeugen auch vielfältige, von Lehrkräften erstellte oder von externen Partnern redaktionell aufbereitete Lerninhalte. Derzeit wird mebis von mehr als 1.000.000 registrierten Nutzern an rund 4.200 bayerischen Schulen eingesetzt (Stand: September 2019).

75 www.mebis.bayern.de

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7.3 mebis macht Bildung digital

Der Auftrag »Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Digitalisierung und deren Einfluss auf Arbeitsweisen und Methoden sind von zentraler Bedeutung für den Bildungsauftrag von Schule, Hochschule und Kultur. Damit ist Digitalisierung sowohl Gegenstand von Bildung als auch Werkzeug im Bildungsprozess.« (Zukunftsstrategie der Bayerischen Staatsregierung, 2016: 5). Dieser doppelte Auftrag der Medienbildung wird mit dem Angebot von »mebis – Landesmedienzentrum Bayern« umgesetzt und lässt sich in drei Schlagworten zusammenfassen: • mebis inspiriert: Es gibt Impulse und erweitert die methodisch-didaktischen Möglichkeiten für ein modernes Lernen und Lehren. • mebis verbindet: Es unterstützt Vernetzung und situationsgerechte Kommunikation im schulischen Kontext. • mebis ist dynamisch: Es greift reflektiert Innovationen und aktuelle gesellschaftliche bzw. technische Entwicklungen auf.

Angebote von mebis Derzeit umfasst mebis vier zentrale Angebote: das Infoportal, das Prüfungsarchiv, die Lernplattform und die Mediathek. Im Infoportal, für das kein mebis-Login erforderlich ist, werden relevante Informationen und Konzepte aus dem Themenbereich digitale Bildung gesammelt und zur Verfügung gestellt. Das Angebot wird in Kooperation mit externen Partnern sowie durch eigene Beiträge stetig erweitert. Auf diese Weise kann ein breitgefächertes Themenspektrum abgedeckt werden. Es finden sich dort Informationen zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht wie auch Praxisbeispiele aus verschiedenen Schularten und Fächern. Auch Fragen zur IT-Ausstattung von Schulen oder zum Urheberrecht und Datenschutz werden thematisiert. Abgerundet wird das Angebot durch die Vorstellung von Einsatzmöglichkeiten, Unterrichtsbeispielen und Tutorials zu den einzelnen mebis-Werkzeugen sowie durch Unterstützungsmaterial zur Umsetzung der bayerischen Medienkonzeptinitiative.

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Abb. 12: Artikelempfehlungen der mebis-Redaktion

Alle an bayerischen Schulen zentral durchgeführten Jahrgangsstufen- und Vergleichsaufgaben sowie Abschlussprüfungen werden im Prüfungsarchiv gesammelt. Das Angebot wird durch Lösungsvorschläge und zusätzliches Prüfungsmaterial, wie zum Beispiel Audiodateien für Hörverstehensprüfungen in den modernen Fremdsprachen, ergänzt. Diese Inhalte stehen aus rechtlichen Gründen in vollem Umfang nur den Lehrkräften zur Verfügung. Lernende können zu Übungszwecken auf einige ausgewählte Abschlussarbeiten und Jahrgangsstufentests zugreifen. Im Rahmen des Unterrichts dürfen Lehrkräfte die Aufgaben in Papierform oder über die mebis-Lernplattform an die Lernenden weitergeben. Diese Lernplattform basiert auf der frei verfügbaren Lernumgebung Moodle und erlaubt es, Lernprozesse in virtuellen Klassenräumen zu organisieren und zu moderieren. Hierzu können durch die Lehrkraft Kurse eingerichtet und bestimmte Schülergruppen zu diesen hinzugefügt werden. Innerhalb dieser können interaktive Arbeitsmaterialien und Aufgaben zur Verfügung gestellt werden. Die jeweilige Lehrkraft hat dabei stets Einblick in die Lernaktivitäten der Schüler/innen. Dies erleichtert es den Lehrerinnen und Lehrern erheblich, den Lernenden rasch Hilfestellungen und passgenaues Feedback zu geben. Teilweise erfolgt diese Rückmeldung auch automatisiert. Das didaktische Prinzip der Individualisierung durch Binnendifferenzierung kann dadurch zielgerichtet umgesetzt werden. Die Arbeitsaufträge sind unabhängig von Zeit und Ort bearbeitbar, zum Beispiel als Hausaufgabe oder während eines Unterrichtsgangs. Das Kursforum sowie bestimmte Aufgabentypen ermöglichen kooperative Lernformen und unterstützen die Schüler/innen-Schüler/innen-Interaktion. Die Lernplattform wird ständig erweitert, um technische Neuerungen und Veränderungen der Lehr- und Lernwelt zu berücksichtigen. So wurde mit teachSHARE für die Lehrer/innen die Möglichkeit geschaffen, Lernkurse innerhalb der Plattform zu tauschen und vor dem Hintergrund der persönlichen Unterrichtsgestaltung anzupassen.

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7.3 mebis macht Bildung digital

Abb. 13: Beispiel eines mebis-Kurses

Abb. 14: teachSHARE Plattform

In der Mediathek werden ca. 55.000 unterschiedliche Onlinemedien, wie zum Beispiel Filme, Animationen, Podcasts, Fotos und Grafiken gesammelt und den Lehrerinnen und Lehrern didaktisch aufbereitet zur Verfügung gestellt (Stand: September 2019). Die Inhalte stehen als Download oder als Stream im Klassenzimmer zur Verfügung.

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7 Wie Erklärvideos und Lehrfilme bereitstellen? – Eine Vorstellung aktueller Angebote

Der Content der Mediathek wird einerseits aus frei verfügbaren Bildungsmedien (z. B. OER) sowie Onlinemedien der kommunalen Medienzentren generiert. Des Weiteren tragen externe Kooperationspartner, wie zum Beispiel das Deutsche Museum, die Bayerische Staatsbibliothek oder die Siemens-Stiftung zur Vielfalt des Angebotes bei. Zahlreiche öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten wie ARD, ZDF, WDR oder der Bayerische Rundfunk kooperieren mit der mebis-Mediathek. So können mebis-Nutzer/innen auf viele bildungsrelevante Video- und Audiobeiträge sowie Schulfernsehsendungen zurückgreifen. Um die Unterrichtsvor- und -nachbereitung zu erleichtern, haben die Lehrkräfte in der mebis-Mediathek die Möglichkeit, ihre persönliche Mediensammlung anzulegen und die Medien mit selbst gewählten Schlagworten (Tags) zu versehen. Mithilfe dieser Funktion kann man Medien z. B. nach thematischen, fachlichen oder jahrgangsstufenspezifischen Gesichtspunkten zusammenstellen. Zudem können in der Mediensammlung zu einem Video spezifische Start- und Endpunkte gespeichert werden, um gezielt für das Unterrichtsgeschehen relevante Ausschnitte im Unterricht wiederzugeben. Die Funktionen der Mediathek sollen weiter ausgebaut werden. So werden Lehrkräfte künftig die Option haben, einzelne Sammlungen direkt mit ihren Klassen oder Arbeitsgruppen zu teilen. Damit wird es deutlich vereinfacht, den Lernenden eine kuratierte Auswahl an Medien bzw. Ausschnitte daraus anzubieten.

Abb. 15: Übersicht über Inhalte der Mediathek

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7.3 mebis macht Bildung digital

Mit Videos in mebis lernen Insbesondere die Kombination der verschiedenen Funktionen von mebis ermöglicht es Lehrkräften, ihren Unterricht mit digitalen Medien zu gestalten. Das Spektrum an Szenarien kann dabei vom Zeigen eines Videos bis hin zu umfangreichen Selbstlernkursen reichen. Die mebis-Lernplattform bietet durch das Kopieren und Einfügen eines Links eine Möglichkeit, Inhalte der mebis-Mediathek wie auch externe Medien in Kurse einzubetten. Dabei werden bei Inhalten der mebis-Mediathek notwendige Informationen, wie Nutzungshinweise und Lizenzinformationen, automatisch am Anfang angezeigt. Innerhalb eines Kurses können Lehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern auf diesem Weg beispielsweise (Lern-)Videos vorgeben. Hierbei kann auch die Reihenfolge der Rezeption festgelegt werden. Durch diese Art der Moderation können Schüler/innen im Rahmen des Unterrichts beim Lernen mit Videos geleitet werden. Die von John Hattie vorgelegten Metastudie Visible Learning (2009) macht deutlich, dass eine deutliche Steigerung der Lerneffekte insbesondere dann erreicht werden kann, wenn den Schülerinnen und Schülern vielfältige Lern- und Selbstkontrollmöglichkeiten eröffnet, kollaborative Arbeitsformen gewählt und differenzierte Rückmeldungen bezüglich des Lernstandes und Lernprozesses gegeben werden (Hattie 2009). Genau diese didaktischen Szenarien werden durch die Verbindung der mebis-Mediathek mit der Lernplattform eröffnet und für den Unterrichtsalltag bereitgestellt. Eine bekannte und einfache Möglichkeit, ein Video aufzubereiten, bietet hierbei beispielsweise das Plugin h5p. Mit diesem kann in ein Video an einer bestimmten Stelle interaktiver Inhalt, wie zusätzliche Bilder, Infotexte oder auch Tests, eingebunden werden. Dabei ist es nicht notwendig, dass die Videos von der Lehrkraft selbst erstellt werden; diese kann sich vielmehr ganz auf die didaktische Aufbereitung konzentrieren. Neben diesem Plugin stehen in der Lernplattform noch weitere Aktivitäten zur Verfügung, die die Gestaltung eines umfassenden Lernsettings zu einem eingebetteten Video ermöglichen. In unmittelbarer Nähe zum Video können so Arbeitsaufträge präsentiert, zusätzliches Material angeboten und gegebenenfalls auch ein Test nach dem Rezipieren des Videos angeschlossen werden.

Wieso mebis – und nicht YouTube und Co.? Da das Arbeiten mit digitalen Inhalten, besonders mit Video- und Tonaufnahmen, Schulen oft vor rechtliche Fragen stellt, stehen bei mebis auch rechtliche Fragestellungen im Fokus. Häufig werden von Lehrkräften kommerzielle Cloud-Speicher eingesetzt, um Videos mit Kolleginnen und Kollegen oder auch Schülerinnen und Schülern zu teilen. Die Empfänger/innen sehen sich mit einer Vielfalt von Anwendungen konfrontiert, was nicht nur Einarbeitungszeit erfordert, sondern auch den didaktisch wertvollen Wiedererkennungswert vermissen lässt. Ein Angebot wie mebis, das allen staatlichen,

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kommunalen und privaten Schulen in Bayern zur Verfügung steht, wartet auch nach einem Schulwechsel immer mit gleicher Usability auf und versammelt alle Nutzer/innen auf einer Plattform. Nur so macht es Sinn, Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften die Handhabung in Schulungen zu vermitteln und es erleichtert allen Beteiligten schulartübergreifend die Kommunikation untereinander und das Teilen von Inhalten. Als staatliches Angebot hat mebis die rechtlichen Vorgaben stets im Blick. So wird beispielsweise in der Mediathek Film- und Tonmaterial für den Einsatz im Unterricht bereitgestellt, das in Bezug auf die Urheberrechte geprüft oder dessen Nutzungsrechte vertraglich vereinbart wurden. Darüber hinaus ermöglicht mebis die Veröffentlichung von Inhalten für einen eingeschränkten Nutzerkreis mit einem Kursformat, sodass für eine Klasse auch nur lediglich geringe Teile eines urheberrechtlich geschützten Werkes digital zur Verfügung gestellt werden können (vgl. Urheberrechtsgesetz § 60a zu Unterricht und Lehre). Im Rahmen des sogenannten »Fotokopiervertrags« ist dies bis maximal 20 Seiten sogar für Schulbücher möglich. Rechtlich besteht die wohl größte Herausforderung der digitalen Onlinewerkzeuge im Umgang mit personenbezogenen Daten, zu denen Erklärvideos, Videos, auf denen Schüler/innen zu sehen sind, oder selbst erstellte Audioaufnahmen gehören, weil ihre Veröffentlichung in besonderer Weise in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen eingreift. Bei mebis ist hingegen sichergestellt, dass die gesetzlichen Anforderungen an den Datenschutz sichergestellt sind (Petri,T.). Dessen ungeachtet bedarf es auch im geschützten Rahmen eines Klassenkurses der Einwilligungen der Heranwachsenden bzw. ihrer Erziehungsberechtigten, wenn Bild- bzw. Tonaufnahmen mit personenbezogenen Daten erstellt und in mebis eingestellt werden (Petri, T., ohne Datum). Diese Rechtslage bietet auch ein pädagogisches Potenzial. Denn der medienerzieherisch begleitete Umgang mit digitalen Medien an Schulen soll Kinder und Jugendliche auch Persönlichkeitsrechte wie die informationelle Selbstbestimmung der Schutzbefohlenen lehren. Die Schüler/innen bedürfen zur Entwicklung eines Bewusstseins für den Wert ihrer personenbezogenen Daten und ihrer Privatsphäre im digitalen Zeitalter Unterstützung durch Lehrkräfte und Eltern. Deren Vorbildfunktion ist dabei von entscheidender Bedeutung. Kommuniziert oder publiziert die Lehrkraft hingegen begleitend zum Unterricht über kommerzielle soziale Medien, legitimiert sie die Nutzung nicht nur moralisch, sondern nötigt die Kinder und Jugendlichen auch dazu, das kommerzielle Angebot ebenfalls wahrzunehmen. mebis kann als verpflichtender Bestandteil des Unterrichts ausgewiesen und eingesetzt werden. Datensicherheit, Datensparsamkeit und der Zweck der Erhebung personenbezogener Daten werden dabei jederzeit berücksichtigt.

Literatur Hattie, J.: Visible Learning. A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relation to Achievement, London 2009; vgl. hierzu auch: https://www.mebis.bayern.de/infoportal/konzepte/handlungsfelder/ mit-und-ueber-medien-lernen/mit-und-ueber-medien-lernen-wieso-eigentlich/ [Letzter Zugriff: 01.06.2019].

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7.4 Andere Länder, andere Formate Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Einscannen und Kopieren aus Schulbüchern geregelt. Online verfügbar unter: http://www. schulbuchkopie.de/ [Zugriff: 01.06.2019]. Petri, T. (ohne Datum): Videoaufnahmen im Schulunterricht. Online verfügbar unter: https://www. datenschutz-bayern.de/5/videoaufnahmen.html [Letzter Zugriff: 01.06.2019]. Petri, T. (ohne Datum): Veröffentlichung von personenbezogenen Daten durch Schulen, abrufbar unter https://www.datenschutz-bayern.de/5/veroeffentlichung_schulen.html [Letzter Zugriff: 01.06.2019]. Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst, Digitale Bildung in Schule, Hochschule und Kultur. Die Zukunftsstrategie der Bayerischen Staatsregierung, Januar 2016, S. 5. Bundesgesetzblatt Jahrgang 2017 Teil I Nr. 61 vom 7.9.2017, S. 3346; Gesetz zur Angleichung des Urheberrechts an die aktuellen Erfordernisse der Wissensgesellschaft (Urheber-Wissensgesellschaft-Gesetz – UrhWissG).

7.4 Andere Länder, andere Formate Stephan Dorgerloh Welche anderen Wege und Ansätze weltweit rund um das Thema Video in der Schule gegangen werden, illustrieren drei kurze Beispiele aus aller Welt. Dabei sind bewusst ganz unterschiedliche Herangehensweisen und Formate ausgewählt worden, um die breite Anwendung von Videos bzw. Videotechnik zu zeigen. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auch Einsatzmöglichkeiten für die deutsche Schullandschaft vorzustellen. Gerade mit Blick auf Krankenhausunterricht oder Trainingslager aber auch Vertretungsstunden ließen sich eine Reihe von Praxisanwendungen vorstellen.

VIPKID: muttersprachliche Englischnachhilfe für junge Chinesen VIPKID76 heißt das Pekinger EdTech-Start-up-Unternehmen, das jungen Chinesen zwischen vier bis zwölf Jahren Englischunterricht von Muttersprachlern und Muttersprachlerinnen offeriert. Ein Angebot, dass sich, wie der Name schon andeutet, seit 2013 an die wachsende bildungsaffine Mittel- und Oberschicht in China richtet. Die eigens entwickelte Lernplattform setzt auf Video-Konferenztechnik und verbindet so chinesische Kinder einerseits und muttersprachliche Englischlehrer/innen in den USA anderseits. 30 Minuten dauert eine Unterrichtseinheit, davon werden 25 Minuten aktiv unterrichtet. Die Unterrichtseinheit ist an das Flipped-Classroom-Modell angelegt und enthält ein Video, das auf die Schlüsselthemen vorbereitet, bevor es dann zum Eins-zu-eins-Chat zwischen Lehrkraft und Schüler/in kommt, bei dem die Videoinhalte vertieft bzw. angewendet und geübt werden. Abschließend gibt es noch etwas Hausaufgaben für das Selbststudium. Derzeit lernen ca. 500.000 junge Chinesen mit diesem außerschulischen Format bei ca. 60.000 muttersprachlichen amerikanischen Lehrkräften über alle Zeitzonen hin76 https://www.vipkid.com/

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weg. Das Curriculum und Lernmaterial wird von der Plattform zur Verfügung gestellt und ist mit Blick auf die amerikanische Common Core State Standards Initiative aufbereitet. Dabei werden neben Grammatik und Vokabelschatz auch andere Fächerinhalte, wie z. B. aus der Mathematik, aus den Geisteswissenschaften etc., mit dem Englischlernen verbunden. Skype-ähnlich kommunizieren die Lehrkräfte mit ihren weit entfernt lernenden chinesischen Schülerinnen und Schülern. Dabei unterstützt die Plattform den Unterricht z. B. mit der Möglichkeit, auf Powerpoint-ähnlichen Folien gemeinsam zu schreiben, so als wenn man zur gleichen Zeit im selben Klassenzimmer wären. Seit 2017 ist mit Lingo Bus die sprachliche Gegenrichtung online. Mit dieser Bildungsplattform, die analog zu VIPKID gebaut ist, können Kinder, z. B. in den USA, muttersprachlich unterstützt Mandarin/Chinesisch lernen. Dabei wird nicht nur auf den Nachhilfemarkt in den USA abgezielt, sondern auch der Homeschooling-Sektor bedient. Dieser Plattformansatz bietet viele Möglichkeiten Schülerinnen und Schülern passgenaue und weiterführende Angebote zu machen. Vielleicht ließen sich daraus auch für Deutschland interessante Unterrichtsangebote z. B. für den oft vernachlässigten Krankenhausunterricht ableiten.

Quipper: Wie die besten Lehrer auch noch die letzte Pazifikinsel erreichen Quipper77 ist eine Videoplattform, die 2013 damit begann, die besten Lehrkräfte vor der Tafel bei der Erklärung von Schulstoff zu filmen. Inzwischen entwickelte sich aus dieser Idee eine komplexe Videoplattform einschließlich Schulmanagementsoftware. Für Inselstaaten wie die Philippinen oder entlegene Schulstandorte in Mexiko eine passende Lösung, wenn es darum geht, kostengünstig Schulstoff zu vermitteln, wobei das Problem der Selbstmotivation und Selbstlernkompetenz nicht zu unterschätzen ist. Quipper nutzen derzeit ca. 4 Millionen Schüler/innen in Japan, Indonesien, auf den Philippinen und in Mexiko; auch etwa 300.000 Lehrkräfte, Tendenz steigend. Quipper bietet ca. 15.000 Lernvideos und ein Lernmanagementsystem für Lehrkräfte, mit dem das Lernen im Klassenverband organisiert werden kann und auch Rückmeldungen zum Lernfortschritt möglich sind. Das Online Angebot bietet auf das jeweilige Land zugeschnittene digitale Lernmaterialien. Damit werden auch Schulbücher ersetzt, was eine willkommene Entlastung im Budget von Schulen und ärmeren Familien bedeutet. Quipper wird von den Schülerinnen und Schülern zum einen als Selbstlern-Tool genutzt, in dem sie die Video-Lektionen zu Hause schauen und die damit zusammenhängenden Aufgaben bearbeiten. Zum anderen werden Video-Lektionen im Unterricht angeschaut und die Klasse wird dabei von Lehrkräften angeleitet. 77 www.quipper.com

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7.4 Andere Länder, andere Formate

Die Videos bestehen hauptsächlich aus Lehrervorträgen, die vor der Tafel abgefilmt werden. Diese »Video-Lehrer« zählen zu den besten Lehrkräften des jeweiligen Landes. Lehrkräfte benutzen Quipper auch, um individualisiertes Material für Schüler/innen zu Verfügung zu stellen, denen das Lernen nicht leichtfällt oder die unterschiedliche Lernlevel benötigen, oder auch, um in kleinen Lerngruppen zu arbeiten.

Boclips: Wie TV-Videos in Großbritannien für die Schule genutzt werden Wenn alle öffentlich-rechtlichen Sender ihr geeignetes Material, ob Kurzreportage, Tierfilm oder Hintergrundrecherche, einem gemeinsamen Bundesbildungsserver zur Verfügung stellen würden, hätten wir schlagartig mehr digitalen Content für zeitgemäßen Unterricht zur Verfügung. Dort könnte man dann die entsprechend gut verschlagworteten und sortierten Videos finden und bekommt zusätzlich Informationen, für welche Klassenstufe sie geeignet sind. Die Rechtsfragen sind für den Einsatz in Schule geklärt. So in etwa kann man sich die britische Videoplattform Boclips vorstellen. David Bainbridge, früherer Marketingdirektor der britischen BBC und Channel 578 sowie Intels-On-Demand-TV-Plattform, wollte sich nicht mit qualitativer Diskrepanz abfinden, die zwischen den aufwendig hergestellten Videos, die er ins Fernsehen brachte, und den aktuellen (gedruckten) Schulmaterialien, die seine Kinder mit nach Hause brachten, lagen. Um mehr Schülerinnen und Schülern den Zugang zu qualitativ guten Lernvideos zu ermöglichen, musste der Prozess »Videos für den Unterricht zu finden und einzusetzen« radikal vereinfacht werden. So wurde 2014 die Plattform Boclips79 gegründet, um die schwerfällige und auch teure Beschaffung von Materialien zu vereinfachen. Boclips versorgt seine Nutzer/innen mit über zwei Millionen kurzen Videos, Animationen, Dokumentarfilmen und Lernvideos, die auch downloadbar sind. Das Videomaterial stammt von bekannten Firmen wie TED-Talks80, PBS Digital Studio81, Smithonian und Getty Images82. Die Plattform löst auch die komplizierten Urheberrechtsfragen. Die Plattformnutzer/innen können mittels Suchfunktion entweder entsprechend dem Curriculum, dem jeweiligen Fach oder Thema und Altergruppe die geeigneten Videos aussuchen. Oder sie bekommen vom Boclip-Team auf ihr jeweiliges Lernziel ausgerichtete Videos vorgeschlagen. Der Mehrwert von Lernvideos ist auch Lehrkräften nicht verborgen geblieben. Neuere Untersuchungen belegen, dass 83% der Lehrkräfte sagen, dass der Einsatz von Lernvideos zu mehr Zufriedheit beim Unterrichten führt. Und 92% geben an, dass

78 79 80 81 82

www.channel5.com www.boclips.com www.ted.com www.pbs.org www.gettyimages.com

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Lernvideos auch die Schülerzufriedenheit im Blick auf den Unterricht steigern (Kaltura 2018). Inzwischen gibt es auch Boclips für Lehrkräfte. Der lehrerfreundliche Aufbau der Seite macht es einfach und schnell, die für den jeweiligen Unterricht benötigten Videos zu suchen und zu finden. Mit der Zusammenführung geigneter und guter Lernvideos auf einer Plattform, die sicher und ohne Risiko von Lehrkräfte wie Schülern genutzt werden können, hilft boclips allen, die Unterrichtsmaterialien schnell und sicher benötigen.

Literatur Kaltura 2018: State of Video in Education 2018. Online verfügbar unter: https://corp.kaltura.com/ wp-content/uploads/2018/07/The_State_of_Video_in_Education_2018-1.pdf [Letzter Zugriff: 21.01.2020].

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8 Mehr Erklärvideos in die Lehrerbildung!

8 Mehr Erklärvideos in die Lehrerbildung! Stephan Dorgerloh und Karsten D. Wolf

Wer Schule verändern will, muss mit der Lehrerbildung anfangen. Obwohl diese Expertenweisheit nicht neu ist, erleben wir immer wieder, dass bei neuen Anforderungen an Schule – sei es Inklusion oder Digitalisierung – die nötigen Aus-, Fort- und Weiterbildungen nicht ausreichend im Fokus der Umsetzung stehen. Neue Grundlage: das KMK-Strategiepapier »Bildung in der digitalen Welt«

Am 8. Dezember 2016 passierte etwas Erstaunliches: Alle 16 Bundesländer einigten sich auf einen gemeinsamen verbindlichen Rahmen für die »Bildung in der digitalen Welt«, in dem sie »Kompetenzen für ein Leben in der digitalen Welt« formulierten (KMK 2016, neue Version von 2017)83. Diese werden zur »zentralen Voraussetzung für soziale Teilhabe« (KMK 2016: 4) und »zwingend erforderlich für einen erfolgreichen Bildungs- und Berufsweg« (KMK 2016: 4). Das »Lernen im Kontext der zunehmenden Digitalisierung und das kritische Reflektieren werden künftig integrale Bestandteile dieses Bildungsauftrages sein« (KMK 2016: 4). Das KMK-Strategiepapier greift die Digitalisierung als ein zentrales Merkmal einer tiefgreifenden Mediatisierung auf. Formale Bildungsprozesse, verstanden als Lehren und Lernen, können durch die Digitalisierung so verändert werden, dass »Talente und Potenziale individuell gefördert werden« (KMK 2016: 8), gleichzeitig müssen aber auch »die bisher praktizierten Lehr- und Lernformen sowie die Struktur von Lernumgebungen überdacht und neu gestaltet, als auch die Bildungsziele kritisch überprüft und erweitert werden« (KMK 2016: 8). Zusätzlich sind auch die dafür notwendigen »infrastrukturelle[n], rechtliche[n] und personelle[n] Rahmenbedingungen zu schaffen« (KMK 2016: 8). Als Bildungsziel werden verbindliche Anforderungen formuliert, »über welche Kenntnisse, Kompetenzen und Fähigkeiten Schüler/innen am Ende ihrer Pflichtschulzeit verfügen sollen, damit sie zu einem selbstständigen und mündigen Leben in einer digitalen Welt befähigt werden« (KMK 2016: 11). Die traditionellen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen werden somit durch eine »neue Kulturtechnik« ergänzt, nämlich durch den »kompetente[n] Umgang mit digitalen Medien« (KMK 2016: 13). Während das reproduktive Lernen an Bedeutung verliert, rückt das »prozess- und ergebnisorientierte kreative und kriti83 Kultusministerkonferenz (2016/2017): Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz. Online verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2018/Strategie_Bildung_in_der_digitalen_Welt_idF._vom_07.12.2017. pdf [Letzter Zugriff: 21.01.2020].

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sche Lernen« (KMK 2016: 13) in den Vordergrund. Auch wenn weiterhin Wissen die Grundlage für Einordnung, Bewertung und Analyse bleibt, soll die Fähigkeit, »Fakten, Prozesse, Entwicklungen einerseits einzuordnen und zu verknüpfen und andererseits zu bewerten und dazu Stellung zu nehmen« (KMK 2016: 13), in den Mittelpunkt der schulischen Bildung rücken. Neben diesen Forderungen für eine Medienkompetenzförderung beinhaltet das Papier allerdings auch Konsequenzen für die Unterrichtsdidaktik, es erweitert sich demnach »die Spannbreite der Gestaltungsmöglichkeiten im Unterricht« (KMK 2016: 13), wie auch »die Übernahme von Verantwortung zur Planung und Gestaltung der persönlichen Lernziele und Lernwege durch die Lernenden« (KMK 2016: 13) ermöglicht wird. Ziel ist die Vorbereitung auf einen lebenslangen Lernprozess. Hier knüpft die KMK an die aktuelle Fachdebatte zu Veränderung des klassischen Unterrichtens in Bezug zu Didaktik und Mediendidaktik an (de Witt/Czerwionka 2013; Howland/Jonassen/Marra 2013; Jahnke 2016; Kerres 2018; Petko 2014; Schulmeister 200784). Es wird ein direkter Zusammenhang von Aspekten der Mediatisierung (»Mit zunehmender Digitalisierung«, KMK 2016: 13) mit notwendigen didaktischen Konsequenzen (»Rolle der Lehrkräfte«, KMK 2016: 13) konstruiert, der besonders die lernbegleitende Rolle stärkt (KMK 2016: 13). Neben der Mediatisierung wird allerdings auch die zunehmende Heterogenität der Lerngruppen als weiterer Veränderungsimpuls genannt. Auch hier wird die Digitalisierung als mögliche Unterstützungsressource identifiziert: Es sollen »individualisierte Lernarrangements« (KMK 2016, 13) entwickelt und verfügbar gemacht werden, wobei diese durch »digitale Lernumgebungen« (KMK 2016: 13) unterstützt werden. Diese »helfen Schülerinnen und Schülern, sich im Team zu organisieren, gemeinsam Lösungen zu entwickeln, selbstständig Hilfen heranzuziehen und ermöglichen unmittelbare Rückmeldungen« (KMK 2016: 13). Darüber hinaus werden Vorteile virtueller Lern- und Arbeitsräume skizziert (KMK 2016: 14), welche translokale und zeitlich asynchrone Kooperationsmöglichkeiten ermöglichen. Erklärvideos als Gegenstand und Methode der Lehrer/innenbildung

Erklärvideos in der Lehrerbildung können unterschiedliche Funktionen erfüllen. Aus einer mediendidaktischen Sicht geht es darum, wie Erklärvideos im Unterricht einzusetzen sind, z. B. als Elemente eines Flipped Classrooms, oder im Anwendungsfall, d.h. »Schüler/innen erstellen selbst Erklärvideos« als Methode zur Förderung von 84 de Witt, C./Czerwionka, T. (2013): Mediendidaktik. 2., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Bielefeld: wbv; Howland, J. L./Jonassen, D./Marra, R. M. (2013): Meaningful Learning with Technology. London: Pearson; Jahnke, I. (2016): Digital Didactical Designs. Teaching and Learning in CrossActionSpaces. New York: Routledge; Kerres, M. (2018): Mediendidaktik. Konzeption und Entwicklung digitaler Lernangebote. 5. Auflage. Berlin: De Gruyter Oldenbourg; Petko, D. (2014): Einführung in die Mediendidaktik: Lehren und Lernen mit digitalen Medien. Weinheim und Basel: Beltz; Schulmeister, R. (2007): Grundlagen hypermedialer Lernsysteme. Theorie – Didaktik – Design. 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Berlin: de Gruyter Oldenbourg.

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8.1 Lernen durch Erstellen von Stop-Motion-Videos

Lernstrategien oder Medienkompetenz. Entscheidend ist, dass angehende Lehrkräfte schon in der Phase der universitären Ausbildung die verschiedenen Formate und Methoden im Bereich Erklärvideos kennenlernen. Berichte aus der zweiten Phase der Lehrerbildung zeigen, dass angehende Lehrkräfte vor allem auf das zurückgreifen, was sie selber in Studium und Schulzeit praktisch erfahren und erlebt haben. Neben den theoretischen Grundlangen geht es dabei deshalb auch um praktische Erfahrungen: vom Videotagebuch über Feedback per Video, das Lernvideo als Einführung ins Thema oder das Erstellen eines Lernvideos als Gruppenarbeit bzw. Hausarbeit oder gar Leistungskontrolle etc. Die mögliche Vielfalt macht der Beitrag zum Stop-Motion-Format von Moritz Krause und Ingo Eilks anschaulich. Aber auch im Referendariat ist das Thema Erklärvideos mittlerweile angekommen, wie der Beitrag von Björn Nölte beweist. Dabei wird deutlich, dass die Erstellung von Erkärvideos eine gewisse technische Handlungssicherheit bedarf, die auch die Studierenden einer Smartphone-Generation nicht automatisch mitbringen. Schließlich eröffnen Erklärvideos auch in der Lehrerfortbildung neue Möglichkeiten. Ulf Jesper beschreibt, wie das Medium »Erkärvideo« für die Aus- und Fortbildung gerade in »kleinen« Fächern wie Latein eingesetzt werden kann. Und das Interview mit George Lichter zur US-amerikanischen Fortbildungsplattform »Teaching Channel« zeigt eindrucksvoll, welche Potenziale Erklärvideos für videobasiertes Unterrichts-Coaching und Peer-Learning haben können.

8.1 Lernen durch Erstellen von Stop-Motion-Videos – Strategien aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht Moritz Krause und Ingo Eilks Der Chemielehrer Moritz Krause promovierte zum Thema Einsatz innovativer Technologien im Chemieunterricht und ist aktiv in der Lehrerfortbildung, u.a. am Institut für Didaktik der Naturwissenschaften, Abteilung Chemiedidaktik an der Universität Bremen, welche von Professor Ingo Eilks geleitet wird. Der mehrfach ausgezeichnete Fachdidaktiker Ingo Eilks erhielt u.a. 2017 den Award for Outstanding Contributions to the Incorporation of Sustainability into Chemical Education der American Chemical Society – Committee for Environmental Improvement.

Digitale Medien sind besonders gut dafür geeignet, naturwissenschaftliche Prozesse zu dokumentieren und zu visualisieren (Dori/Schanze/Rodrigues 2013). Allerdings ist die Erstellung professioneller Visualisierungen, wie sie häufig im Wissenschaftsfernsehen zu sehen sind, in der schulischen Unterrichtspraxis viel zu aufwendig. Eine einfach zu realisierende Alternative dazu sind Stop-Motion-Videos. Mit ihrer Hilfe können Lerninhalte schrittweise dargestellt und beschrieben werden. So kann man naturwissenschaftliche Prozesse mithilfe von Aufnahmen realer Versuchsbeobachtungen protokollieren oder mit Modellen nachstellen und dann in Verbindung einzelner Bilder

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dynamisch dokumentieren85. Jede Veränderung wird durch ein Foto festgehalten. So entsteht eine Bilderfolge, die als Video exportiert werden kann. Der entstandene Film zeigt eine dynamische Erklärung, die von den Schülerinnen und Schülern diskutiert und reflektiert werden kann. Das Vorgehen fördert bei den Lernenden eine intensive und kreative Auseinandersetzung mit den behandelten Themen und der dahinterliegenden Theorie. Gleichzeitig können die Videos zur Diagnostik dienen, um Einblicke in den Lernfortschritt und die mentalen Modelle der Lernenden zu bekommen. Dabei gibt es verschiedene Einsatzmöglichkeiten, die hier entlang typischer Inhalte aus dem Biologie- und Chemieunterricht diskutiert werden.

Beispiele aus der Unterrichtspraxis Elaborative Lernstrategien fördern: Fachtexte und Prozesse erschließen am Beispiel »Reizweiterleitung in Nervenzellen«

Sich naturwissenschaftliche Fachtexte selbstständig zu erarbeiten ist eine Herausforderung für viele Schüler/innen. Das Erstellen eines Stop-1-Erklärfilms kann hier eine motivierende Strategie darstellen. Die Lernenden erhalten einen fachlichen Text und die Aufgabe den im Text beschriebenen Prozess schrittweise darzustellen. Von der Lehrkraft werden Vorlagen mit wichtigen Elementen dieses Prozesses zur Verfügung gestellt.

Abb. 16: Ausschnitt aus einer Vorlage für ein Stop-Motion-Video zur Darstellung der Reizweiterleitung an einer Synapse

85 siehe z. B. www.stopmotiontutorials.com

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Ein konkretes Beispiel kann die Reizweiterleitung an einer Nervenzelle sein (Krause 2018). Das Material enthält eine Unterlage, die während der Aufnahmen durchgehend zu sehen ist. Dazu kommen bewegliche Elemente der wichtigen biologischen Komponenten, die für die Erstellung der einzelnen Schritte jeweils neu angeordnet werden sollen (Abb. 16). Um zu einem Ergebnis zu gelangen, arbeiten die Lernenden die einzelnen Schritte heraus und stellen diese gemeinsam als Gruppe in einem Stop-Motion-Video dar. Das Video soll von den Lernenden zusätzlich um Textboxen ergänzt werden, in denen sie die einzelnen Komponenten und Schritte benennen. So entsteht nicht nur eine animierte, sondern auch eine erläuterte Darstellung im Video. Es können auch Differenzierungsangebote gemacht werden. So können die Textboxen für leistungsschwächere Schüler/innen vorgegeben werden. Diese müssen dann sortiert und zugeordnet, aber nicht mehr selber erstellt werden. Leistungsstärkere können die Textboxen aus dem Informationstext selber ableiten. Wissensanwendung am Beispiel »Die Nomenklatur organisch-chemischer Verbindungen«

Während im vorangegangenen Beispiel der Interpretationsprozess als elaborative Lernstrategie diente, fokussiert dieses Beispiel auf die Anwendung von (Regel-)Wissen. Ein typisches Thema im Chemieunterricht ist die Nomenklatur von organisch-chemischen Verbindungen, also die formal richtige Benennung einfacher und komplexerer Kohlenwasserstoffe. Diese Benennung ist nicht immer einfach. Dabei müssen die Lernenden eine Reihe von Regeln schrittweise und in richtiger Reihenfolge anwenden, um am Ende den fachlich korrekten Namen anzugeben. Zu diesem Zweck werden von der Lehrkraft einzelne Kohlenwasserstoff-Puzzleteilchen zur Verfügung gestellt, aus denen ein Molekül nach Vorgabe und nach eigenen Ideen zusammengesetzt wird. Der Arbeitsauftrag besteht darin, das dargestellte Molekül schrittweise entlang der Nomenklaturregeln zu benennen (Krause/Eilks 2017a). Dabei soll die Anwendung der Regeln etwa durch Pfeile, Kreise oder Einfärbungen hervorgehoben werden, sodass andere Schüler/innen den Lösungsweg nachvollziehen können. Abb. 17 zeigt einen Zwischenschritt auf diesem Weg.

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Abb. 17: Darstellung des Arbeitsprozesses zur Benennung eines unbekannten Alkans

Zum Differenzieren können leichtere und schwierigere Moleküle vorgegeben werden, bei denen zusätzliche Regeln zu beachten sind. Im Unterschied zum Beispiel der Reizweiterleitung entstehen hier eine Vielzahl von unterschiedlichen Videos zu verschiedenen Molekülen. Diese können im Anschluss anderen Gruppen zur Übung und Vertiefung zur Verfügung gestellt werden. Wenn jede Gruppe ein bis zwei eigene Moleküle benennt, entstehen in der Lerngruppe gleich eine ganze Reihe von unterschiedlichen Beispielen. Simulation von Prozessen am Beispiel »Diffusion«

Eine weitere Einsatzmöglichkeit der Stop-Motion-Technik sind die Simulation und Animation dynamischer Prozesse auf der Teilchenebene. Ein typisches Beispiel aus dem Biologie- und Chemieunterricht ist der Vorgang der Diffusion, bei der sich je zwei flüssige bzw. gasförmige Stoffe im Kontakt von selbst durchmischen. Zum Verständnis der Diffusion ist es zentral zu verstehen, dass diese auf der Eigenbewegung der Teilchen auf der molekularen Ebene beruht. Im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen ist hier das Vorgehen klar definiert. Den Lernenden werden eine Simulationsoberfläche, Modellteilchen für zwei Stoffe und eine Anleitung zur Durchführung der Simulation zur Verfügung gestellt (Krause/Eilks 2017b). Abbildung 18 zeigt den Aufbau der Simulationsoberfläche und die Ausgangssituation. Mithilfe eines Zufallsgenerators, der über Handy oder Tablet-PC abgerufen wird, tauscht jeweils eines der Teilchen die Position mit einem benachbarten Teilchen. Nach

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jeder Veränderung wird von den Lernenden ein Foto der veränderten Situation erstellt. Auf diese Weise entwickelt sich eine Dynamik, die zusätzlich mithilfe von Textboxen von den Schülerinnen und Schülern beschrieben werden soll. Interessant an diesem Beispiel ist, dass die Ausgangssituation genau und die Endsituation (Abb. 19) prinzipiell bei allen Gruppen gleich ist, der Weg dorthin durch den Zufallsgenerator aber völlig unterschiedlich. Durch die Auseinandersetzung mit dem Spiel und der animierten Dokumentation im Stop-Motion-Video wird den Schülerinnen und Schülern ein Zugang zur Diffusion möglich, der sonst sicher weniger intensiv wäre. Im Gegensatz zu Computersimulationen im Internet wird der Vorgang durch diese Vorgehensweise erlebbar und es entsteht ein eigenes Produkt.

Abb. 18: Ausgangssituation der Simulation. Darstellung des Konzentrationsgefälles der Farbstoffteilchen

Abb. 19: Mögliche Endsituation der Simulation. Darstellung des Konzentrationsausgleichs der Farbstoffteilchen

Dokumentation von Experimenten am Beispiel »Das chemische Gleichgewicht«

Ein ebenfalls im naturwissenschaftlichen Unterricht breit anwendbarer Einsatzbereich für Stop-Motion-Videos ist die Dokumentation von Experimenten oder Modellexperimenten. Dies kann etwa die Veranschaulichung des chemischen Gleichgewichts im Chemieunterricht sein (Krause/Eilks 2018). Im Beispiel des sogenannten Stechheber-Versuches wird die Einstellung und der dynamische Charakter des chemischen Gleichgewichts in einem Modellexperiment mit Standzylindern, Glasrohren und Wasser illustriert. Hierbei wird über den Wasseraustausch zwischen verschiedenen Standzylindern durch das Heben des Wassers mit Glasrohren der dynamische Prozess der Einstellung des chemischen Gleichgewichts simuliert. Unterschiedliche Glasrohre und Bewegungsrichtungen modellieren dabei die Hin- und Rückreaktion. Auch hier ist es wichtig, dass die Lernenden ihr Vorgehen durch Textkärtchen erläutern (Abb. 20).

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Abb. 20: Dokumentation eines Versuchs im Chemieunterricht

Man kann auch hier die Bedingungen zwischen den einzelnen Gruppen variieren, indem verschiedene Standzylinder, andere Durchmesser bei den Glasrohren und unterschiedliche Mengen an Wasser verwendet wurden. Entlang der verschiedenen Videos können die Prozesse im Anschluss verglichen und gemeinsam ausgewertet werden. Auf diese Weise wird die Auseinandersetzung mit dem Thema intensiver und es wird möglich, im weiteren Unterricht immer wieder auf dieses grundlegende Modell zurückzugreifen. Erfahrungen aus der Praxis und der Lehrerausbildung

Erfahrungen aus dem Unterricht zeigen, dass Schüler/innen nur eine kurze Übungsphase benötigen, um sich mit den entsprechenden Apps vertraut zu machen. Dabei zeigt sich, dass sie regelmäßig sehr positives Feedback zur Erstellung von Stop-MotionVideos geben. Sie äußern sich positiv darüber, dass sie Zeit für die Auseinandersetzung mit den Inhalten haben und sich auf diese Weise intensiver damit beschäftigen können. Dies bestätigen in der Regel auch die Lehrkräfte. Es hat sich gezeigt, dass die Gruppengrößen von drei bis vier Lernenden nicht überschritten werden sollten. Jedes Mitglied in den Gruppen sollte sich einbringen und für einen Teil der Aufgaben verantwortlich sein. Dadurch wird der konstruktive Austausch zwischen den Lernenden gefördert. Aus Unterrichtsbeobachtungen und Gesprächen mit den Schülerinnen und Schülern, etwa im Rahmen des Beispiels zur Diffusion zeigte sich, dass die Schüler/innen

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durch die Erstellung von Stop-Motion-Videos ein vertieftes Verständnis aufbauen und den Vorgang mithilfe der Fachsprache in der Regel korrekt beschreiben können. Bei der Diffusion zeigte sich, dass viele Schüler/innen das erworbene Wissen ein Jahr später gut in einem anderen Kontext anwenden konnten. Für diejenigen, die sich unsicher waren, konnten die Stop-Motion-Videos zur Reaktivierung des Wissens genutzt werden. Für die Lehrkraft können die Videos auch eine diagnostische Funktion haben. Die Videos zeigen, wie gut die Lernenden die Inhalte verstanden haben und an welchen Stellen Schwierigkeiten auftauchen. Diese können dann individuell oder mit der ganzen Lerngruppe besprochen werden. Die hier beschriebenen Konzepte und Erfahrungen werden kontinuierlich in die Lehramtsausbildung an der Universität Bremen integriert. Sie sind Bestandteil einer Lehrveranstaltung, die sich mit der Integration digitaler Medien in den naturwissenschaftlichen Unterricht beschäftigt und die kontinuierlich durch Aktionsforschung entwickelt wird (Krause/Eilks 2015). Auf diese Weise wird den Studierenden ein praxisnaher und immer wieder aktualisierter Einblick in authentische Schulpraxis ermöglicht. Ein wichtiger Bestandteil der Lehrveranstaltung ist dabei das eigene Ausprobieren und Reflektieren der Konzepte, etwa durch die eigene Erstellung eines der hier beschriebenen Videos. Die persönlichen Erfahrungen der Studierenden werden in einem E-Portfolio kontinuierlich dokumentiert. Auf diese Weise steigern die Studierenden ihre Professionalität im Umgang mit digitalen Medien und können in anderen Ausbildungssituationen auf das E-Portfolio zurückgreifen (etwa in der Vorbereitung auf Schulpraktika, wo Stop-Motion-Videos angelehnt an Cooper und Keast 2015 zur Reflektion von Unterrichtssituationen genutzt werden). Neben den Stop-Motion-Videos umfasst die Lehrveranstaltung eine Vielzahl weiterer digitaler Konzepte, zum Beispiel zum Einsatz des Tabets etwa beim Experimentieren, Dokumentieren und Präsentieren, die Erstellung von Versuchs- und Erklärvideos oder PREZI-Lernumgebungen für selbstgesteuertes und differenzierendes Lernen. Weitere Inhalte sind WebQuests, Chemie-Apps, Digitalisierungstechniken oder digitale Messwerterfassung und -auswertung. Durch die begleitende Evaluation der Lehrveranstaltung konnte gezeigt werden, dass sich die Einstellungen der Studierenden zu Computern und digitalen Medien und die Selbstwirksamkeitserwartung über deren Nutzung im Chemieunterricht positiv entwickeln (Krause/Eilks, 2015). Weitere Informationen und Beispielvideos finden sich auf der Website Digitale-Medien.Schule86.

86 Eine praktische Einführung zur Erstellung von Erklärvideos findet sich unter http://www.digitale-medien.schule/ee.html, Beispiele zu Stop-Motion-Videos unter http://www.digitale-medien. schule/videos.html.

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Literatur Dori Y. J./Rodrigues S./Schanze S. (2013): How to promote chemistry learning through the use of ICT. In: Eilks, I./Hofstein, A. (Hrsg.), Teaching chemistry, Rotterdam: Sense, S. 213–240. Keast, S./Cooper, R. (2015): Developing pedagogical knowledge of pre-service science teachers using slowmation as a shared experience. In: Hoban, G./Nielsen, W./Shepherd, A. (Hrsg.), Student-generated Digital Media in Science Education: Learning, explaining and communicating content, Abingdon Oxon: Routledge, S. 151–165. Krause, M. (2018): Dynamische Prozesse auf der Teilchenebene mithilfe von StopMotion-Videos lernen. In: Meßinger-Koppelt, J./Maxton-Küchenmeister, J. (Hrsg.), Naturwissenschaften digital, Hamburg: JHS Verlag, S. 68–71. Krause, M./Eilks, I. (2014a): Tablet-Computer als Unterrichtswerkzeug für Lehrerinnen und Lehrer. In: Maxton-Küchenmeister, J./Meßinger-Koppelt, J. (Hrsg.), Digitale Medien im naturwissenschaftlichen Unterricht, Hamburg: JHS Verlag, S. 64–69. Krause, M./Eilks, I. (2015). Lernen über digitale Medien in der Chemielehrerausbildung – Ein Projekt Partizipativer Aktionsforschung. In: Chemie konkret, 22, S. 173–178. Krause, M./Eilks, I. (2017a): Über die Nomenklatur organischer Verbindungen mit StopMotionVideos. In: Chemie & Schule (Salzbg.), 32(4), S. 17–19. Krause, M./Eilks, I. (2017b): Über den Prozess der Diffusion durch Erstellung eines StopMotionVideos lernen. In: Naturwissenschaften im Unterricht Chemie, 28(160), S. 16–18. Krause, M./Eilks, I. (2018): Die Einstellung des chemischen Gleichgewichts modellieren – Mit StopMotion-Videos von der Beobachtungs- zur Teilchenebene. In: Naturwissenschaften im Unterricht Chemie, 29(166), S. 27–31.

8.2 Lernvideos in der Lehrerbildung Björn Nolte Björn Nölte ist Deutsch- und Geschichtslehrer und Oberstufenkoordinator der Voltaireschule Potsdam und war vorher Fachseminarleiter Geschichte und Hauptseminarleiter am Studienseminar Potsdam.

Eine zentrale Aufgabe in der Lehrer/innenausbildung ist die Herausbildung einer Haltung, die Neugier und Offenheit für neue Materialien, Methoden und Medien (Lachner/Weckend/Zierer 2018) von Ausbilderinnen und Ausbildern und Lehramtskandidat/innen beinhaltet. Danach ist hier zu unterscheiden zwischen Lernvideos als Ausbildungsgegenstand für die eigene zukünftige Schulpraxis, also Inhalt der Ausbildung, und Lernvideos als Instrumente, also Mittel der Lehrerausbildung. Abschließend gibt es einen Überblick über einige Video-Programme, die sich für den Unterricht eignen und die dazugehörigen technischen Rahmenbedingungen. Auch wenn in diesem Beitrag vor allem die zweite Phase der Lehrer/innenbildung in den Blick genommen wird, so kann doch vieles auch auf die erste Phase an der Universität übertragen werden.

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8.2 Lernvideos in der Lehrerbildung

Haltung und Einstellung Der Einsatz von Lernvideos stellt nach wie vor eine Neuerung in der Lehrerbildung dar. Angesichts des digitalen Zeitalters und der gesellschaftlichen Situation, sowie des didaktischen Potenzials sollte dem Thema mit einer Haltung begegnet werden, die getragen ist von Offenheit, Neugier, aber auch Kritikbereitschaft. Lernvideos bieten ein didaktisches Potenzial, das eine eigene souveräne Erschließung erfordert. Daher muss jede angehende Pädagogin/jeder angehende Pädagoge neben dem offen-neugierigen Blick für die Chancen, didaktischen Dimensionen und Einsatzmöglichkeiten zugleich auch den kritischen Blick auf Nutzloses, Überflüssiges und Gefährdendes mitbringen. Jede Lehrkraft soll lernen sich als »Change Agent« zu verstehen, der die Integration sinnvoller neuer Wege des Lernens mitgestaltet und voranbringt. In der Vorbereitung auf die Tätigkeit als Lehrkraft ist die Kompetenz zur Reflexion zentral (Dauber/Zwiebel 2006). Lernvideos können diese Entwicklung befördern. In ihrer Doppelrolle müssen angehende Lehrkräfte einerseits Kooperation und Kollaboration ihrer Schüler/innen fördern und andererseits diese Kompetenzen auch als Lernende selbst praktizieren und einüben. Auf beiden Ebenen kann mit Videos mit Gewinn gearbeitet werden. Sowohl in der Planung von Lernvideos im Unterricht als auch im reflektierten Einsatz für die eigene Entwicklung lässt sich die eigene kollaborative Haltung praktizieren und weiterentwickeln. Dies soll im Folgenden am Beispiel der regelmäßigen Entwicklungsgespräche verdeutlicht werden, wie sie in den Haupt- oder Allgemeinen Seminaren der zweiten Phase der Ausbildung durchgeführt werden. Üblich ist es dabei, dass die/der Seminarleiter/in als Gesprächsführer/in die Lehramtskandidat/innen mit Reflexionsfragen dazu veranlasst, die eigene Entwicklung zu hinterfragen, zu analysieren sowie Schwerpunkte der weiteren Arbeit zu formulieren. Ich habe sehr gute Erfahrungen damit gemacht, den Lehramtskandidat/innen die Fragen vorab zu geben. Sie sollen zunächst die für sie passenden Fragen auswählen und dann ein eigenes Video produzieren. Einige entscheiden sich zwar für die Option, einen Text zu verfassen, das Video (hier müsste man eher von einem Reflexionsvideo sprechen) bietet jedoch mehrere Vorteile. Durch den gesprochenen Text der Kandidatin/des Kandidaten erhält das Produkt eine persönliche Färbung, auf die die/der Seminarleiter/in eingehen kann. In das Video können leicht eine Vielzahl von Elementen, Verweisen, Beispielen etc. aufgenommen werden. Dadurch eröffnet sich ein Reichtum an Repräsentationsformen. Der Individualität eines Entwicklungsgespräches kann somit hervorragend entsprochen werden. Nebenbei machen sich die Lehramtskandidatinnen und -kandidaten mit den technischen Möglichkeiten der Videoherstellung vertraut, um diese dann im eigenen Unterricht einzusetzen. Ein weiteres Beispiel: Ich selbst habe ein Video produziert, dass in Kleingruppen von Referendarinnen/Referendaren eingesetzt wurde. In dem Video werden sogenannte Fallvignetten eingesetzt. Die Kleingruppe sieht sich die Fallvignetten an und wird dann aufgefordert, auf die dargestellte Situation zu reagieren. Die gewählten Vignetten bilden prägnante Situationen des

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Lehrerhandelns ab. Erst wenn mithilfe von Impulsen über die dargestellte Situation reflektiert wurde und über die Haltungen hinter den gewählten Handlungsentscheidungen gesprochen wurde, kann das Lernvideo weiterlaufen. Auch die Kooperation innerhalb der Kleingruppe kann dabei einem Reflexionsschritt unterzogen werden. Wichtig ist, dass die Referendar/innen oder auch Studierenden ganz selbstverständlich an das Thema Lernvideo herangeführt werden, indem sie selber Lernvideos als Unterrichtsmaterial erleben, aber auch angeleitet werden, erste eigene Erfahrungen bei der Erstellung von Videos zu machen.

Lernvideos als Ausbildungsgegenstand So unterschiedlich die Ausbildungssysteme in den Bundesländern auch sind: Lernvideos sollten heute überall Gegenstand des Referendariats sein. Für Lernvideos bietet sich der handlungsorientierte Ansatz an: Konkretes Produzieren im Zusammenhang mit kritischer Reflexion und Erprobung. In der Szenario-Technik erstellen Lehramtskandidatinnen/-kandidaten gemeinsam Lernvideos und reflektieren dabei deren Einsatzmöglichkeiten. In Anwendung dieser Methode erstellen sie nicht nur das Lernvideo an sich, sondern reflektieren einen oder mehrere konkrete Unterrichtskontexte. Die erstellten Videos sollten unter didaktischen Gesichtspunkten bewertet werden: Wo, wie und unter welchen Bedingungen ist der Einsatz erfolgsversprechend? Im besten Fall entsteht unter den angehenden Lehrkräften ein erstes kleines Archiv von Lernvideos, das später geteilt und von allen verwendet werden kann. Sollte ich das Lernvideo einsetzen wollen, habe ich durch die Szenario-Technik gleich die Möglichkeit, Erfolgsfaktoren besser einzuschätzen. Bei der Erstellung im Seminar können technische Fragen ebenso thematisiert wie Erfahrungen zum Thema kollegiale Zusammenarbeit reflektiert werden. Ideal ist zum Beispiel ein Wochenendseminar, bei der eine Gruppe von Referendar/innen lernt, eigene Lernvideos herzustellen. Dabei kann eine Reihe von Erkenntnissen gesammelt werden. Eine Referendarin, die den konkreten Einsatz ihres Lernvideos im eigenen Unterricht vor Augen hatte, tut sich in der Planung und zügigen Umsetzung leichter als Kandidat/innen, die die Produktion eher grundsätzlich ausprobieren wollten, ohne den konkreten Bezug zu haben. Die genannte Referendarin arbeitete zunächst allein, merkte dann aber, dass Kollaboration hilfreich ist, da sich verschiedene, gerade technische Vorkenntnisse sinnvoll ergänzen können. Hier konnten die Referendarinnen und Referendare wichtige Rückschlüsse aus eigenen Erfahrungen auf ihre Schüler/innen übertragen. Eine weitere Erkenntnis im Bereich der Zusammenarbeit bestand darin, dass alle Beteiligten inhaltlich mit dem Gegenstand gleichermaßen vertraut sein müssen, um sinnvoll miteinander arbeiten zu können, d. h. eine fachfremde technische Hilfe erwies sich eher als ungünstig. Ein solches Wochenendseminar bietet auch mehr Zeit und zusammenhängende Arbeitsprozesse, sodass die Referendar/innen gegenseitig unterschiedliche Formen der technischen Umsetzung erleben und beurteilen können.

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8.2 Lernvideos in der Lehrerbildung

Es ist erstrebenswert, dass gerade auch im Ausbildungsunterricht der Kandidatinnen/Kandidaten fertige, im Seminar erstellte oder eigens für den jeweiligen Unterricht produzierte Lernvideos eingesetzt werden. Dabei geht es nicht nur darum zu lernen, welche Inhalte und didaktische Situationen einen Lernvideoeinsatz sinnvoll erscheinen lassen, sondern auch wie ein gutes Lernvideo inhaltlich aufgebaut und technisch umgesetzt sein muss, um den gewünschten Erfolg herbeizuführen. Neben der Nutzung von vorhandenen bzw. selbstproduzierten Lernvideos durch die Lehrkraft gibt es auch die Möglichkeit, dass Lehramtskandidat/innen Lernvideos durch ihre Schüler/innen erstellen lassen, um beispielsweise in Gruppenarbeit bestimmte Themen zu erarbeiten, oder aber auch als Leistungskontrolle etc. Dabei sind folgende Fragen zu klären: Existiert für das Vorhaben eine tragfähige Beziehung von Ziel, Inhalt, Aufgabe und Methode? Mit welchen Vorkenntnissen und Einstellungen sind Schüler/innen und Lehrkraft ausgestattet? Welchen Anwendungen bringe ich als Lehrkraft als Auswahl zum Einsatz? Welche Kompetenzen können die Schüler/innen damit erweitern? Welche überfachlichen Synergien sind denkbar? Welche Anwendung und Weiterverwendung finden die hergestellten Produkte? Einen Sonderfall des Lernvideos stellt das videogestützte Feedback dar. Wenn es in der Schule bzw. Klasse üblich ist mit digitale Medien und insbesondere auch Videos zu arbeiten, bieten Kurzvideos auch die Möglichkeit, den Schülerinnen und Schülern auf diesem medialen Weg eine Korrektur oder Rückmeldung bzw. Hinweise zur Überarbeitung von Lernprodukten oder Texten zukommen zu lassen. Diese mediale Form der persönlichen Rückmeldung und Lehreransprache erzeugt – wie Praxiserfahrung zeigt – eine weit höhere Lernmotivation als die herkömmliche Rotstift-Korrektur. Zur Anwendung kommen hier Screencasting-Tools (Bildschirmaufnahme). Auch diese Einsatzmöglichkeit von Videotechnik sollte im Seminar konzipiert, gelernt und ausprobiert aber auch reflektiert werden. So können die Seminardozierenden dieses Feedback zum Beispiel für die Rückmeldungen zur schriftlichen Unterrichtsplanung einsetzen. Auf diese Weise erleben die Lehramtskandidat/innen die Wirkung von Videofeedback direkt selber als Empfänger/innen; sie erhalten vor dem Unterrichtsbesuch bereits ein Feedback zu der Planung und können so Änderungen oder Alternativen überlegen, besondere Aufmerksamkeitspunkte fokussieren oder sie erhalten Sicherheit durch die Rückmeldung der Seminarleiterin/des Seminarleiters.

Video als Ausbildungsinstrument Die videogestützte Unterrichtsbeobachtung ist ein etabliertes Mittel der Ausbildung, das durch neue technische Möglichkeiten eine didaktische Aufwertung erfahren kann. Erprobt ist die Verpflichtung von Lehramtskandidatinnen/-kandidaten, im Verlauf der Ausbildung einmal ein Video von sich selbst aufzunehmen. Das kann im gewählten Unterricht der Fall sein oder aber auch in anderen Situationen pädagogischen Handelns. Aus dem Videomaterial wird eine Auswahl von maximal fünf Minuten getrof-

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fen. Die Kandidatin/der Kandidat entscheidet darüber, in welcher Konstellation das Video ausgewertet wird: alleine, in einer Kleingruppe von Mitreferendarinnen und -referendaren, im Plenum des Seminars, mit Seminarleitungsbeteiligung oder ohne. In einem festgelegten Setting entscheidet die Kandidatin/der Kandidat auch darüber, mit welchem Fokus das Video ausgewertet wird. Die angesprochenen technischen Möglichkeiten lassen nun z. B. zu, bestimmte Momente zu fokussieren, das Video zu beschriften oder mit weiteren Elementen auszustatten. Videos können auch als Element von Ausbildungsportfolios genutzt werden. In verschiedenen Ländern werden E-Portfolios als Mittel der Reflexion von Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern eingesetzt. Hier können Videos eine sinnvolle Ergänzung sein. Zum Beispiel können Kandidatinnen und Kandidaten zu bestimmten Zeitpunkten den Stand ihrer Ausbildung per Video reflektieren oder Entscheidungen zu Portfolioinhalten per Video begründen. Die Verkürzung und modulare Umgestaltung des Vorbereitungsdienstes in mehreren Bundesländern wird zwangsläufig zu einer Mischung aus Präsenz- und Online-Ausbildung führen (Blended Learning). Lernvideos, interaktiv gestaltet, können hier ein sinnvolles Element sein. Seminarleitetende und Seminarteilnehmende produzieren interaktiven Lernvideos für die anderen Teilnehmer/innen als sinnvolle Seminarbeiträge. Insbesondere in der modularisierten Ausbildung ist das zukunftsweisend. Nun gibt es zwei Wege, Lernvideos in der Lehrer/innenbildung zu etablieren. Der erste Weg führt über den Aufbau einer umfassenden Bibliothek von Lernvideos in Studienseminaren. Inhalte müssten festgelegt, die Videos müssten produziert, kuratiert und zugänglich gemacht werden. Das Lehrverständnis, das diesem Weg zugrunde liegt, ist nicht zeitgemäß. Im Referendariat geht es nicht um die Übertragung von Lerninhalten, sondern um die Bildung reflektierter Persönlichkeiten. Deswegen bevorzuge ich den folgenden zweiten Weg: Ausbilder/innen der zweiten Phase (Seminarleiter/in, Fachleiter/in etc.) müssen umfangreich über Bildung in der digitalen Gesellschaft fortgebildet werden. Das muss einerseits die Reflektion und Herausbildung einer Haltung in diesem Bereich zum Ziel haben und andererseits die Lehrpersonen mit Kompetenzen zur Erstellung und zum Einsatz von Lernvideos ausstatten. Daran anschließend können Seminarleiter/innen geeignete Anlässe finden und anbieten, um Lehramtskandidatinnen und -kandidaten sinnvolles Lernen mit Lernvideos zu ermöglichen. Darunter können dann auch wiederverwertbare Videos entstehen, aber der konzeptionelle Ausgangspunkt sollte nicht nur die »Videothek« oder der Medienserver sein, sondern der geschilderte Ansatz.

Programme, Apps und Technik Hier soll nun der aktuelle Stand der Programme und Apps etc. skizziert werden, die zum Einsatz in der Lehrer/innenbildung geeignet sind. Die Auswahl ist subjektiv und beruht auf eigenen Erfahrungen. Sie zielt darauf ab, grundsätzliche Möglichkeiten des

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8.2 Lernvideos in der Lehrerbildung

Filmens aufzuzeigen, ohne in jedem Detail eine technische Gebrauchsanweisung zu sein. Zugleich orientiert sie sich auch an den Gegebenheiten der Lebenswelt von Jugendlichen. Versierte Filmfachleute unter den Lehrkräften können auch noch weitaus professionellere Möglichkeiten der Filmproduktion in Erwägung ziehen. Aber auch ohne großes Vorverständnis und mit geringem technischem Aufwand lassen sich gute und sehr brauchbare Lernvideos unkompliziert erstellen.

Manuelles Filmen Der einfachste Weg des Filmens ist der Einsatz von Smartphone oder Tablet. Hohe Verfügbarkeit, geringe Vorbereitung, einfache Nachbearbeitung direkt auf dem Gerät (Schneiden, Trimmen, Filter) machen diese Möglichkeit oft zur ersten Wahl. Die Filme lassen sich einfach speichern, übertragen und verbreiten. Bei zu großem Speicherbedarf empfiehlt sich eine Übertragung mit kostenfreien Transferdiensten wie z. B. wetransfer.com. Aus der Praxiserfahrung ergeben sich hier drei grundlegende Empfehlungen: Wenn ein Smartphone über zwei Kameras verfügt, unterscheiden sich diese oft in der Auflösung. Die Kamera an der Rückseite hat meist die höhere Auflösung und sollte präferiert werden. Große Qualitätsunterschiede entstehen durch die Tonspur, wenn denn mit Audio aufgenommen wird. Hier empfiehlt sich der Anschluss eines externen Mikrofons, insbesondere dann, wenn sich die gefilmten sprechenden Personen nicht unmittelbar vor der Kamera aufhalten. Sehr nützlich ist die Anschaffung eines Stativs oder einer selbst konstruierten Halterung, die für eine stabile Aufnahme sorgt. Das ist z. B. bei den sogenannten Legefilmen, auch Stop-Motion-Technik genannt, besonders wichtig. Ein Legefilm besteht aus vielen nacheinander aufgenommenen Einzelbildern (Fotos), die nacheinander abgespielt dann ein (nicht ganz) flüssiges Video ergeben, sozusagen ein gefilmtes »Daumenkino«. Die Besonderheit des Legefilms besteht darin, dass die fest installierte Kamera von oben die Einzelfotos aufnimmt, während auf der Arbeitsfläche zweidimensionale Gegenstände, Begriffe, Texte etc. verschoben und »gelegt« werden. Dabei sind mitunter die verschiebenden Hände bewusst zu sehen. Als Erklärvideo ist diese Variante weit verbreitet.

Apps und Web-Anwendungen Inzwischen ist eine sehr große Fülle an Apps und Web-Anwendungen für die Filmproduktion verfügbar. Der Umgang mit diesen Tools bietet zudem die Gelegenheit und die Notwendigkeit, mit den Lernenden über die Spielregeln der digitalen Marktmechanismen zu reflektieren. Denn die meisten dieser Anwendungen funktionieren nach einem ähnlichen Prinzip: Die sehr tauglichen Basisfunktionen sind kostenfrei verfügbar. Allerdings ist eine Registrierung notwendig, die dann dafür sorgt, dass die Benutzung dem sogenannten Tracking unterliegt und die gesammelten Daten kom-

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merzialisiert werden. Alternativen können hier anonymisierte Registrierung (hebt nur einen Teil des Trackings auf) oder angelegte Gruppen-Accounts, z. B. für einzelne Seminare, sein. Neben den kostenfreien Funktionen gibt es meist Erweiterungen, die nur gegen Bezahlung oder Abonnement erhältlich sind. Alle vorgestellten Anwendungen sind über die Internetsuche unter dem angegebenen Namen leicht auffindbar. Adobe Spark Video

Mit dieser iOS-App lassen sich Lernvideos in sehr kurzer Zeit mit grafisch ansprechender Aufmachung erstellen. Man nimmt zuerst die Audiospur auf, daraufhin ergänzt man grafische Vorschläge oder lädt eigene Bilder zu diesem Abschnitt. Man geht Abschnitt für Abschnitt vor, sodass am Ende kein weiterer Schnitt notwendig ist. So entsteht recht schnell ein Ergebnis, bei dem nur das Gesamtdesign aus einer Vielzahl an Vorlagen bestimmt werden muss. MySimpleShow

Diese Anwendung simuliert den »Legefilm« digital. Abschnitt für Abschnitt spricht man den Text seines Lernvideos. Das Programm identifiziert den Text semantisch und macht Vorschläge für passende Symbolbilder, der Text ist dabei auch nachträglich editierbar. Wenn die einzelnen Abschnitte erstellt wurden, erzeugt das Programm daraus einen fertigen Film, der diktierte oder geschriebene Text wird dabei wahlweise von der eigenen oder einer Computerstimme gesprochen. iMovie und Apple Clips

Diese iOS-Apps bedienen das Bedürfnis nach ansprechender audiovisueller Gestaltung. Viele Vorlagen, Voreinstellungen und Modifikationsmöglichkeiten erlauben auf der einen Seite eine schnelle, auf der anderen Seite aber auch eine semi-professionelle Filmproduktion. Powtoon

Dieses webbasierte Video-Tool bietet durch zahlreiche Vorlagen die Möglichkeit zur einfachen Produktion von Lernvideos ohne Vorkenntnisse. Man kann sich aus Dutzenden Vorlagen in sehr unterschiedlichen Stilen eine passende heraussuchen und einfach die Elemente und Texte durch eigene ersetzen, um zu ansprechenden Kurzvideos zu gelangen. Allerdings hat Powtoon auch eine Vielzahl sehr detaillierter Funktionen, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen. Wenn also statt des Rückgriffs auf vorhandene Vorlagen komplett ein neues Video erstellt werden soll, ist eine gründliche Einarbeitung notwendig. headliner.app

Diese Web-Anwendung dient eigentlich der Visualisierung von Podcasts. Es können aber darüber hinaus mit einem sehr komfortablen Editor kurze Lernvideos in der Ästhetik der sozialen Netzwerke in verschiedenen Formaten erstellt werden. Sehr kom-

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8.2 Lernvideos in der Lehrerbildung

fortabel lassen sich die Ergebnisse auf Plattformen, Webseiten, Blogs oder untereinander teilen. EdPuzzle, learningapps.org und H5P

Beide Plattformen dienen der Anreicherung von Lernvideos mit Fragen an den Zuschauer. Das heißt das fertige Video stoppt an einer bestimmten Stelle und läuft erst weiter, wenn eine Frage beantwortet oder richtig beantwortet wurde. Diese Funktionalität kann für didaktische Absichten der Lehre/innenbildung vielfältig genutzt werden. Auch das quelloffene H5P kann für diese Zwecke eingesetzt werden. GreenScreen

Apps mit GreenScreen-Funktionen, wie z. B. DoInk, simulieren ein Nachrichtenstudio. Die moderierende, erklärende Person steht vor einer grünen Wand und wird per Video aufgenommen. In der App lassen sich als Hintergrund Videos oder Bilder projizieren, sodass ein Effekt wie bei der Wettervorhersage im Fernsehen entsteht. TouchCast

TouchCast verbindet die Möglichkeiten verschiedener vorgestellter Programme zu einem kompletten Fernsehstudio. GreenScreen-Optionen und Vorlagen können benutzt werden, um zahlreiche interaktive Elemente in das Lernvideo einzubauen. Wenn z. B. mit einem Tablet gefilmt wird, kann das Smartphone gleichzeitig als Regieassistent für zahlreiche Funktionen benutzt werden. Remix

Reizvoll ist die Verbindung mehrerer der vorgestellten Anwendungen. Zum Beispiel lässt sich ein Lernvideo zunächst mit MySimpleShow herstellen, dann mit headliner. app optisch aufpeppen, um dann mit EDPuzzle mit Fragen angereichert zu werden. Screencasting

Die Bildschirmaufnahme ist eine weitere einfache Möglichkeit, Videos herzustellen. Hierbei kann jeweils nur das Bild des gewählten Geräts, der System-Ton oder das externe Mikrofon aufgenommen werden. macOS

Hier sind noch Screenflow von Telestrea und die Crossplattform Camtasia von TechSmith zu erwähnen. iOS-Bildschirmaufnahme

In den neueren Versionen des iOS-Betriebssystems ist die Funktion der Bildschirmaufnahme bereits eingerichtet. Man kann sie per Knopfdruck starten, nachdem man sich dafür entschieden hat, ob auch der Ton aufgenommen werden soll. Nach Beendigung der Aufnahme wird das Video im Foto-Ordner des Geräts gespeichert. Man

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kann so z. B. eine Präsentation (Keynote, PowerPoint, Google Slides, Adobe Spark Page, Sway o. Ä.) ablaufen lassen, dazu sprechen und erzeugt damit ein Lernvideo. Screencastify

Ähnlich einfach ist der Einsatz von Sscreencastify, einer Erweiterung des Chrome-Browsers. Hier hat man zusätzlich die Möglichkeit, sich mit der Frontkamera gleichzeitig beim Sprechen aufnehmen zu lassen. Diese Bild wird als Bild im Bild an beliebiger Stelle angezeigt. Die fertigen Videos werden direkt in der Google Drive gespeichert. Screencast-O-Matic

Mit dieser Web-Anwendung hat man bei ähnlicher Funktionalität die Möglichkeit, den Bildausschnitt des aufgenommenen Screencasts vorher direkt mit einem verschiebbaren Kasten zu bestimmen. Bei Screencastify lässt sich der Ausschnitt im Nachhinein verändern (Crop-Funktion). Social Media

Die Apps sozialer Netzwerke bieten ebenfalls Möglichkeiten zur Videoproduktion. In Snapchat oder Instagram lassen sich sogenannte »Stories« produzieren. Diese sind eigentlich dafür gemacht, nach 24 Stunden automatisch zu verschwinden, können jedoch auch archiviert oder exportiert werden. Stories bestehen aus einzelnen Bildern oder Videos, die hintereinander abgespielt werden und können mit zahlreichen Elementen wie Hyperlinks, Umfragen, Abstimmungen etc. auch interaktiv angereichert werden.

Literatur Dauber, H./Zwiebel, R. (Hg.) (2006): Professionelle Selbstreflektion aus pädagogischer und psychologischer Sicht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Lachner, Ch./Weckend, D./Zierer, K. (2018): Haltungsarbeit in der zweiten Ausbildungsphase von Lehrerinnen und Lehrern. In: Seminar 3, S. 29–44. KMK – Kultusministerkonferenz der Länder: Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz vom 08.12.2016. Online verfügbar unter: www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/ PresseUndAktuelles/2016/Bildung_digitale_Welt_Webversion.pdf [Letzter Zugriff: 29.10.2018].

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8.3 Videos in der Aus- und Fortbildung von Lateinlehrkräften

8.3 Videos in der Aus- und Fortbildung von Lateinlehrkräften Ulf Jesper Ulf Jesper, Studiendirektor, ist hauptamtlicher Studienleiter für das Fach Latein am Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein und Landesfachberater für die Alten Sprachen.

Lernvideos gewinnen in der Lehrer/innenaus- und -fortbildung an Bedeutung. Latein gehört zu den Fächern, bei denen diese Entwicklung besonders rasch voranschreitet. Als ein vergleichsweise kleines und wendiges Fach vermag es sich auf Neues gut einzustellen und gelegentlich auch eine Pilotfunktion zu übernehmen. Dass man sich im Lateinunterricht mit einer alten Sprache beschäftigt, bedeutet nicht, dass Didaktik und Methodik dieses Faches altmodisch und rückständig sein müssen. Es ist sogar umgekehrt: Weil das Fach Latein unter einem ständigen Rechtfertigungsdruck steht, ist es besonders interessiert daran, sich am State of the Art zu orientieren. Und zu diesem gehört ohne Frage das Lernen mit Videos. Am Beispiel der Aus- und Fortbildung von Lateinlehrkräften soll darum gezeigt werden, welche Rolle Lernvideos für Lehrer/innen insgesamt spielen können. Wiederum exemplarisch ist dabei das Bundesland Schleswig-Holstein, in dem die Aus- und Fortbildung von Lateinlehrkräften besonders stark auf das neue Medium setzt. Videos als Mittel der Aus- und Fortbildung

Junge Lehrkräfte, die mit der Ausbildung beginnen und – in Schleswig-Holstein – vom ersten Tag an eigenverantwortlich unterrichten, stehen vor der Herausforderung, dass sie sofort auf allen didaktischen und methodischen Feldern ihres Fachs handeln müssen. Mag im Studium eine gewisse Grundlage gelegt und in den Praktika manches ausprobiert worden sein, in der Begegnung mit der komplexen Realität des schulischen Alltags stehen junge Lehrkräfte vor einer Herkulesaufgabe. Um sie zu bewältigen, gibt es für die Referendarinnen und Referendare unterstützende Veranstaltungen: individuelle Beratungen durch Mentorinnen/Mentoren sowie professionellen Ausbilderinnen/Ausbildern einerseits und kollektive Arbeit in einer Ausbildungsgruppe an Seminartagen andererseits. Diese Veranstaltungen erfüllen viele Funktionen, können aber allein schon aus Zeitgründen nicht alle Fragen der Auszubildenden beantworten. Auch bleibt es nicht aus, dass wichtige Inhalte – etwa die Frage, wie Klassenarbeiten zu entwerfen und zu korrigieren sind – erst spät thematisiert werden, weil das Curriculum der Seminarveranstaltungen es so vorsieht. Bis zu einem gewissen Grad kann fachdidaktische Literatur dies kompensieren; Lernvideos leisten aber mehr: Sie können klarer und eindrücklicher als textliche Darstellungen die komplexen Zusammenhänge, die eine Unterrichtssituation ausmachen, erfassen. Ein Video, das sich z. B. dem Interpretieren literarischer Texte widmet, kann gefilmte Sequenzen aus dem Unterricht einbinden, reale Tafelbilder analysieren, Interviews mit Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern und Expertinnen/Experten einbe-

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ziehen. Hinzukommt, dass das gesprochene Wort gezeigten Sachverhalten zusätzliche Relevanz zu verleihen vermag. Der Hauptvorteil beim Einsatz von Lernvideos in der Ausbildung besteht jedoch darin, dass junge Lehrkräfte ihr Ausbildungsprogramm individuell gestalten können: Wer Lehrbuchunterricht in einer sechste Klasse gibt, wird sich aus den zur Verfügung stehenden Tutorials andere auswählen als eine Lehrkraft, die sich mit ihren Schülerinnen und Schülern im Literaturunterricht der Oberstufe befindet. Das gemeinsame Arbeiten im Seminar und erst recht die individuellen Beratungen durch Mentor/innen und Ausbilderinnen/Ausbildern werden dadurch nicht obsolet; die Referendarinnen und Referendare erhalten durch die Lernvideos aber eine zusätzliche Tutorin/einen zusätzlichen Tutor, die/der komprimiert und geduldig Zusammenhänge erklärt. Wie wichtig solche digitalen Tutor/innen sind, kann an einem gar nicht selten eintretenden Fall ermessen werden: In einigen Bundesländern unterrichten Hochschulabsolvierende, die noch auf eine Referendariatsstelle warten, als Vertretungslehrkräfte. Sie arbeiten ohne praktische Ausbildung. Darunter leidet einerseits die Unterrichtsqualität, andererseits die eigene Lernprogression; denn auf sich gestellt, eignen sie sich manches an, das sie sich später in der Ausbildung wieder abtrainieren müssen. Offen zugängliches Informationsmaterial und anschauliche Tutorials verringern das Problem: Die unausgebildeten Lehrkräfte können an den Mustern, die in den Videos präsentiert werden, lernen, wie es geht. Vor allem für diese beiden Gruppen, die jungen Lehrkräfte vor und in der Ausbildung, entsteht in Schleswig-Holstein im Fach Latein ein Pool an Videos zu didaktischen und methodischen Themen. Er orientiert sich an folgenden Kriterien: • Die Videos behandeln wesentliche Inhalte der Ausbildung (z. B. Übersetzungsstrategien), keine Randthemen. • Sie thematisieren didaktische und methodische Standardsituationen (z. B. das Üben von Grammatik), nicht Spezialfälle. • Sie stellen praxisrelevante Modelle vor und erläutern sie an Beispielen (z. B. zum Umgang mit Rezeptionsdokumenten); sie nehmen der Betrachterin/dem Betrachter den Transfer auf die konkrete Situation aber nicht ab. • Sie kosten die technischen Möglichkeiten des Mediums aus (z. B. durch Einbeziehung von Filmsequenzen aus dem Unterricht), verlieren sich aber nicht in visuellen Spielereien. • Sie sind nach didaktischen Grundsätzen gestaltet (indem sie z. B. Wiederholungsschleifen verwenden), behandeln Erwachsene aber nicht wie Kinder. Die Ausbildungsvideos, die entstehen, wirken über die genannten Zielgruppen hinaus noch auf eine weitere Gruppe: die Mentorinnen und Mentoren. Sie können sich durch die Videos über die im Lehrerseminar vermittelten Inhalte selbstständig und aus erster Hand informieren. Somit stellen Ausbildungsvideos auch Fortbildungsmaterial dar

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8.3 Videos in der Aus- und Fortbildung von Lateinlehrkräften

und können dazu beitragen, dass sich didaktische Standards – über Ländergrenzen hinweg – verbreiten. Die Lernvideos, die entstehen, sollen aber nicht nur implizit fortbilden, sondern auch explizit für Fortbildungen genutzt werden. Wie viele Veranstaltungen, bei denen Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen zusammenkommen, sind auch Fortbildungen dadurch geprägt, dass zunächst eine gemeinsame Grundlage geschaffen werden muss, bevor das eigentliche Thema angegangen werden kann. Lernvideos, die Standardinhalte darstellen und die sich die Teilnehmer/innen vor der Veranstaltung anschauen, entlasten Fortbildungen und steigern ihre Qualität.

Videos als Gegenstand der Aus- und Fortbildung Mit Lernvideos im Unterricht zu arbeiten, will gelernt sein. Darum ist dieses Thema in Schleswig-Holstein Bestandteil des altsprachlichen Ausbildungscurriculums und Fortbildungsprogramms. Die Veranstaltungen gehen in der Regel auf folgende Themen ein: 1. passende Lernvideos finden und bearbeiten 2. Lernvideos erstellen (lassen) 3. mit Lernvideos unterrichten Auf den letzten Punkt kommt es vor allem an. Es gilt mit den Aus- und Fortzubildenden zu klären, welche Einsatzformen und -felder für Lernvideos infrage kommen; im Fach Latein liegt der Schwerpunkt bei Erklärvideos im Bereich der Grammatik, die als Hausaufgabe aufgegeben werden. Zentral ist die Frage, in welchen didaktischen und methodischen Kontexten das Video gesetzt wird, d. h. wie die Schüler/innen an die Arbeit mit Lernvideos herangeführt werden, welche Aufgaben sie vor, während und nach der Betrachtung erfüllen müssen und wie der sich daran anschließende Lateinunterricht gestaltet sein muss. Ein wesentliches Thema besteht auch darin, über Probleme, die sich einstellen werden (etwa das Nichterledigen der Hausaufgabe), zu sprechen. Die leitende Idee bei Aus- und Fortbildungsveranstaltungen, die das neue Medium und seine Didaktik in den Mittelpunkt rücken, ist dabei nicht die einer kompletten Umstellung des eigenen Unterrichts auf Lernvideos, sondern die einer wohldurchdachten und gezielten Ergänzung.

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8.4 Lehrer/innenfortbildung per Videoplattform – der Teaching Channel George Lichter (GD) im Gespräch mit Karsten D. Wolf (KDW) George Lichter war von 2015 bis Ende 2018 CEO von Teaching Channel und auch vorher im Management verschiedener Internet-Startups wie z. B. Ask.com aktiv.

KDW: Eine Plattform für videobasierte Lehrerfortbildung wie der Teaching Channel kennen wir in Deutschland in dieser Art nicht. Können Sie also kurz beschreiben, worum es im Teaching Channel geht? GL: Der Teaching Channel ist ursprünglich eine Idee aus Großbritannien. Bei der BBC gab es »Teachers TV«, ein spezielles Programmangebote für Lehrer/innen. Die Frage war: »Warum schaffen wir nicht eine Version davon in die USA? Bringen wir die Idee hierher!« Mit großzügiger Förderung einiger Stiftungen wie der Bill and Melinda Gates Foundation, dem NewSchools Venture Fund und eine Reihe anderer Stiftungen gelang es, eine Bibliothek mit exemplarischen Videos aufzubauen, die das »Best-of« zeigen würden, sowohl inhaltlich als auch pädagogisch. Zunächst wurde das im öffentlich-rechtlichen Fernsehen der USA ausgestrahlt. Dann kam uns die Idee: »Lass uns das im Internet machen.« So wuchs die Bibliothek im Internet weiter, und bekam eine Website. Dann sagten alle: »Nun, das ist gut, aber für das Lernen mit Videos brauchen wir Werkzeuge: Videoanalyse-Tools und eine Plattform, die sich auf die persönliche Entwicklung von Lehrerinnen und Lehrern konzentriert.« Also begannen wir, eine große Lernplattform aufzubauen, die Video-Lernen ins Zentrum stellt. Die Inhalte werden jetzt an viele Schulbezirke und Universitäten in den USA verkauft. Das ist die kurze Geschichte des Teaching Channels. Alles basiert auf unserer Theorie des professionellen Lernens, die besagt, dass – vor allem für den Unterricht – sehen was man tut, der Kern der Verbesserung ist. Bei uns in der Bibliothek der Plattform können wir in exemplarischen Videos sehen, wie andere Leute unterrichten und dann eigene Videos erstellen, indem sie unsere Plattform und unsere Apps verwenden, sodass sie dann anfangen können, das, was sie tun, zu verbessern. Im Sport ist es bereits gut etabliert, dass Video-Lernen wirklich hilft, und wir wenden diese Erkenntnis nun auf diesen speziellen Anwendungsfall, den Schulunterricht, an. KDW: Die Videos in dieser Bibliothek: Sind das professionell produzierte Videos oder werden sie von den Lehrenden selbst produziert? GL: Wir präsentieren wechselnde Videos in der Bibliothek, so wie auch ein Museum nicht all seine Werke gleichzeitig zeigt. Wir halten etwa 1.300 bis 1.400 Videos online verfügbar. Diese werden fast alle von unserem hauseigenen Videoteam produziert. Unser kleines Team lernte das Handwerk des Live-Drehens wirklich im Klassenzimmer inmitten von Kindern und Lehrkräften und produziert inzwischen kosteneffizient.

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8.4 Lehrer/innenfortbildung per Videoplattform – der Teaching Channel

Damit haben wir begonnen; aber wir ermutigen auch die Lehrenden, selbst Videos zu erstellen, ihre Praxiserfahrungen zu reflektieren und diese Videos neben unsere zu stellen. KDW: Das heißt Sie bieten zunächst professionelle Videos zu einer Unterrichtsidee an, und Lehrer/innen können dann ihre eigene Version dieser Unterrichtsidee produzieren und auch hochladen? GL: Ja, ich kann das am Beispiel eines unserer größten Schulbezirke erklären, der seit drei Jahren dabei ist. Im ersten Jahr sahen sie hauptsächlich unsere Videos an. Zu Beginn des zweiten Jahres fingen die Lehrenden an, ihre eigenen Videos hochzuladen. Und im dritten Jahr hatten sie das 30- bis 40-fache unseres Materials hochgeladen, einfach durch Videos, welche die Lehrenden selbst gefilmt hatten. Wir halten das für einen sehr gesunden Fortschritt. KDW: Das ist beindruckend. Konkret heißt das, dass sich die Lehrenden über den Teaching Channel einloggen und dann ihre Videos hochladen können. Wer darf dann die Videos ansehen? Kann man nur seine eigenen Videos ansehen oder kann man die Videos für die anderen Lehrenden freigeben? GL: Die Plattform lässt das alles zu. Wer was zu sehen bekommt, wird von den Lehrenden, den Verwaltenden und den Trainerinnen/Trainern entschieden. Oft wird die Lehrperson sich selbst filmen und es niemandem zeigen; das dient ausschließlich zur Selbstreflexion. Dann werden sie etwas selbstbewusster, sodass sie die Einstellungen einschalten, mit denen ihr Coach oder die Lehrer/innen an der gleichen Schule oder die Lehrer/innen im gleichen Fach sie sehen können. So können sie teilen und Feedbacks einholen. So muss der Coach nicht ins Klassenzimmer fahren, um die Lehrperson persönlich im Unterricht zu erleben. Dann können sie anschließend die Videosequenzen besprechen und Lernpläne entsprechend aufstellen. So kann die Lehrperson noch besser werden. Schließlich kann man das Material auch mit allen Lehrpersonen teilen, die dieses Fach in einem bestimmten Schulbezirk unterrichten, oder es könnten sogar Lehrer/innen dieses Faches in verschiedenen Schulbezirken sein. Es handelt sich um eine flexible Plattform, die zugleich die Privatsphäre gewährleistet, aber auch so konzipiert wurde, dass sie Menschen ermutigt, ihre Praxis mit anderen zu teilen und zu reflektieren. KDW: Das ist auch von der Skalierung her sehr beeindruckend. Ihre Plattform löst in gewisser Weise das Problem, dass man am Anfang wirklich einige gute Videos braucht, um alles in Gang zu bringen, und dass die Leute etwas anzuschauen haben, bevor sie dann auch ihre eigenen Videos hochladen. Kann man die Plattform als eine Art videobasierte professionelle Lerngemeinschaft beschreiben?

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GL: Genau. Ein Schulbezirk könnte sagen: »Melden Sie alle Ihre Lehrer/innen an«, sie könnten alle Lehrer/innen einer Schule in eine Gruppe aufnehmen. Und dann, in einer Untergruppe für diese Schule, könnten nur die Lehrer/innen sein, die Naturwissenschaften oder Mathematik für die Mittelstufe unterrichten. Es liegt wirklich an den Benutzerinnen/Benutzern und Administratorinnen/Administratoren zu entscheiden, wie sie die Plattform einsetzen möchten. KDW: Welches Konzept und welche Theorie stehen hinter der Plattform? GL: Es gibt hier mehrere Ebenen, die zu beachten sind. Miriam Sherin und Elizabeth Dyer schrieben einen Forschungsüberblick dazu (Sherin/Dyer 2013). Wir unterscheiden fünf Schlüsselelemente: • Gather & Focus (Sammeln und Fokussieren): Wenn man auf die öffentliche Website geht, sieht man minimale Funktionen. Was man sehen kann, ist eine öffentliche Bibliothek und allgemeine Diskussionsforen. Das ist vergleichbar etwa mit YouTube. Man kann sich orientieren und Videos und andere Ressourcen zu den Aspekten der Unterrichtspraxis heraussuchen, die einen interessieren. • Watch & Analyse (Zuschauen und Analysieren): die Videos ermöglichen, sich klar zu machen, was in einem Bereich alles möglich ist. Die Plattform, wenn sie durch Schulen oder Universitäten lizenziert ist, hat eine Reihe erweiterter Funktionen, z. B. können sie auf eine Zeitleiste im Video zugreifen, bei der sie an verschiedenen Stellen Kommentare anfügen können. Dann kann sich die Community um diese spezifischen Diskussionspunkte herum beteiligen. Darüber hinaus können sie verschiedene Analyse-Frameworks nutzen, um damit das Video zu kodieren. • Translate & Adapt (Übersetzen und Anpassen): Die Videos und Materialien müssen natürlich auf die eigene Unterrichtspraxis, auf die Anforderungen der eigenen Schule und der zu unterrichtenden Klassen angepasst werden. Die Ideen müssen zu eigenen Umsetzungspraxen gemacht werden. • Practice & Gather Evidence (Üben und Erfolg evaluieren): die neugewonnenen Impulse müssen dann umgesetzt und geübt werden. Durch das eigene Aufnehmen sollte man Hinweise erheben, was funktioniert und was nicht. • Analyse & Seek Feedback: Schließlich sollte man seine eigene Praxis oder die von Kolleg/innen kritisch analysieren und konstruktives Feedback einholen bzw. geben. Erst dadurch kann man seine eigene Praxis schrittweise verbessern. Wenn also Schulen neue Lehrer/innen ausbilden, können sie für diese ausgewählte Videos bereitstellen und über Kommentare die neuen Lehrkräfte darauf hinweisen, worauf sie achten müssen, und sie ermutigen, Kommentare zu geben. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, wie kollegialer Austausch entstehen kann, sowohl für Berufsanfänger als auch für erfahrene Kolleginnen und Kollegen.

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8.4 Lehrer/innenfortbildung per Videoplattform – der Teaching Channel

KDW: Auf der Plattform gibt es nicht nur Diskussionsforen, sondern auch Begleitmaterialien wie z. B. Unterrichtspläne, Transkripte etc. Wer erstellt das? GL: Wir erstellen eine Reihe von Lernplänen basierend auf unserer Erfahrung mit der Vielfalt der verschiedenen Anwendungsfälle, die wir in einer Bibliothek sammeln. Es gibt Bereiche, die für eine Reihe von Schulen von großem Interesse sind. Fast alle Schulbezirke stehen zum Beispiel vor der Herausforderung, eine Lehrkraft in die Praxis zu bringen. Aber innerhalb bestimmter Schulbezirke können auch andere Anliegen relevant sein. Unser professionelles Serviceteam arbeitet dann mit diesen Schulbezirken zusammen, um spezielle Programme zu entwickeln. Am Ende hat man dann das Video und die Lesematerialien und den Podcast, sodass es zu einem schönen, kompakten Erlebnis für die Lehrer/innen wird. KDW: Wie finanzieren Schulbezirke die Lizenz für den Teaching Channel? GL: Zu Beginn waren wir eine Non-profit Organisation, aber das änderte sich 2017, als wir ein gewinnorientiertes Unternehmen wurden. Wir verdienen unser Geld hauptsächlich mit dem Verkauf von Zugangslizenzen. KDW: Je nach Größe des Schuldistriktes kostet der jährliche Zugriff 30–45 $ pro Lehrer/in. Für die 5.800 Lehrer/innen in Bremen würde das z. B. ca. 200.000 $ im Jahr kosten (Anmerkung: für alle 738.000 Lehrer in Deutschland ca. 22 Mio. $). GL: Ja, wir schließen zumeist Verträge mit Schuldistrikten oder Universitäten ab. Aktuell wollen wir das Konzept vom Teaching Channel auch in andere Länder tragen, gerne auch nach Deutschland. KDW: Ein wichtiger Aspekt der Plattform scheint das Coaching zu sein. Wie funktioniert das auf Teaching Channel. Gibt es da virtuelle Räume für die Lehrer/innen und ihre Coaches, in denen sie gemeinsam Videos austauschen und reflektieren? GL: Ja, genau, wenn wir zum Beispiel an Universitäten verkaufen, geben wir ihnen die Möglichkeit, den Lehramtsstudierenden während der Ausbildung zu helfen, mit den Videos zu üben, mit ihren Lehrern zu coachen, mit ihren Peers zu coachen und ihr E-Portfolio aufzubauen. Und dann bleibt dieses Portfolio auf der Plattform bei ihnen, wenn sie in den Schulbezirk gehen. Sobald sie im Schulbezirk ankommen, sieht die Schule ihr elektronisches Portfolio, das es während ihres Studiums gab. Im schulischen Umfeld weisen die Schulen, zumindest in den USA, den Lehrkräften Coaches zu, die ihnen helfen, nach dem Abschluss im Bezirk und im Klassenzimmer voranzukommen. Wir betrachten es als einen ganzheitlichen Ansatz für die Lehre, beginnend während des Studiums und der dann während der weiteren beruflichen Entwicklung fortgesetzt wird.

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9 Fazit und zehn bildungspolitische Forderungen

9 Fazit und zehn bildungspolitische Forderungen Karsten D. Wolf und Stephan Dorgerloh

Wie in diesem Buch breit dargestellt, etablierten sich Erklärvideos und Tutorials in den letzten zehn Jahren nicht nur in außerschulischen Kontexten des informellen Lernens, sondern erobern längst den schulischen Kontext. Für die Hälfte aller Schüler/ innen in Deutschland ist YouTube mittlerweile eine wichtige bis sehr wichtige Quelle, um schulbezogene Themen zu erlernen, nachzuvollziehen oder zu vertiefen87. Mit zunehmend schnelleren Internetverbindungen, Mobilgeräten und Streamingstandards verbessert sich auch die Zugänglichkeit von Mediatheken als Alternative zu YouTube & Co. Während dem Bildungsfernsehen jahrzehntelang nur mäßiger Erfolg beschieden war, erfüllen sich heute einige der Visionen, mit denen man in den 1960er Jahren antrat (vgl. Kap. 2.1). Allerdings findet sich ein Großteil der relevanten Angebote in kommerzialisierten Kontexten wie YouTube oder hinter den Paywalls privater Anbieter. Die Effekte der »algorithmischen Curricula« (siehe Interview mit Neil Selwyn, Kap. 3.3) sind weitgehend unerforscht, stellen aber eine potenzielle Herausforderung für ein zukünftiges Bildungssystem dar. Verändert hat sich der Erklärstil. Peer-Angebote, informelle Ansprache und eine potenzialorientierte Grundeinstellung sowie unorthodoxes Erklären finden ihre Zielgruppe. Inzwischen trauen sich auch Lehrer/innen und das traditionelle Fernsehen auf das öffentliche YouTube-Parkett. Nie war die Videoproduktion so einfach wie heute, da man schon mit dem eigenen Smartphone filmen kann. Auch Lehrbuchverlage nutzen zunehmend videobasierte Erklärangebote auf eigenen Portalen. Die Nische ist das neue Hauptprogramm, da selbst Spezialinteressen auf breiter Basis bedient werden können. Interessen und Suchbegriffe sind die neuen Sender (Wolf 2015). Nicht immer geht es dabei nur um das »Selbsterlernen«, auch das Zuschauen hat einen hohen Unterhaltungswert. Erklärvideos sind allerdings nur ein, wenn auch recht dominantes Medienformat informeller Bildung. Die Medienrepertoires des informellen Lernens umfassen eine sich stetig ausdifferenzierende Vielfalt digitaler und teils auch analoger Medien (Ito 2018; Wolf/Wudarski 201888).

87 Siehe auch die Studie des Rates für kulturelle Bildung (2019): Jugend/YouTube/Kulturelle Bildung. Horizont 2019. Online verfügbar unter: https://www.rat-kulturelle-bildung.de/fileadmin/ user_upload/pdf/Studie_YouTube_Webversion_final.pdf [Letzter Zugriff: 21.01.2020]. 88 Ito, M./Martin, C./Pfister, R. C./Rafalow, M. H./Salen, K./Wortman, A. (2018): Affinity online: How connection and shared interest fuel learning (Vol. 2). NYU Press; Wolf, K. D./Wudarski, U. (2018): Communicative Figurations of Expertization: DIY_MAKER and Multi-Player Online Gaming (MOG) as Cultures of Amateur Learning. In: Communicative Figurations. Palgrave Macmillan, Cham, S. 123–149.

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9 Fazit und zehn bildungspolitische Forderungen

Erklärvideos werden zukünftig ein fester Bestandteil der Handlungsrepertoires von Lehrenden in guten Schulen zu sein. Die vielfältige Nutzung reicht von der Grundschule bis zur Universität. Aus fachdidaktischer Sicht gibt es klare Empfehlungen, wie Erklärvideos zu gestalten sind. Aber auch aus medienpsychologischer Sicht spricht viel für den Einsatz von Erklärvideos, insbesondere für die Erklärung von Prozessen. Erklärvideos werden dabei in vielfältigen didaktischen Arrangements eingesetzt, nicht nur im Flipped Classroom. Schließlich ist das Erstellen von Erklärvideos durch die Schüler/innen als hochwirksame Lernstrategie und mit Diagnostikverfahren zu verstehen. Um das in diesem Buch herausgearbeitete Potenzial von Erklärvideos für ein nicht nur zeitgemäßes, sondern auch zukunftsorientiertes Bildungssystem zu nutzen, welches in Zeiten großer Heterogenität allen Schülerinnen und Schülern neue Chancen bietet, formulieren wir zehn bildungspolitische Forderungen. 10 bildungspolitische Forderungen

1. Einrichtung eines zentralen Bundesbildungsservers inklusive einer nationalen Bildungsmediathek für Lerninhalte mit geregelten Nutzungsrechten statt 16 verschiedene Systeme. 2. Digitalisierung von Schulen heißt nicht nur funktionierende und gewartete Hardware-Ausstattung, sondern vor allem mehr qualitativ hochwertigen Content zu entwickeln. Dafür müssen zunehmend digitale OER bei Verlagen, Startups, den (noch vorhandenen – siehe Punkt 1) Medienzentren der Länder oder der FWU in Auftrag gegeben werden. Dazu werden sämtliche Schul-Curricula sukzessive auch als Erklärvideo mit begleitenden interaktiven Übungen produziert und als OER bereitgestellt. 3. Sämtliche Wissenssendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sollten mit CC0 Lizenzen für Schulen bereitgestellt werden. Um die Vielfalt der Erklärstile und Zielgruppenansprachen weiter zu pflegen, werden auch Mittel an »Amateurproduzent/innen« vergeben, die alternative Erklärvideos produzieren und diese auf Basis eines Peer-Reviews auf dem Bundesbildungsserver als OER zur Verfügung stellen können. 4. Praxisnahe Lehreraus- und -weiterbildungen zum Erstellen von Videos, neue Unterrichtsansätze wie Flipped Classroom und der vielfältige Einsatz von Lernvideos sind zeitnah verpflichtend einführen. Dabei ist das Potenzial von Video in seiner ganzen Breite (Leistungskontrolle, Gruppenarbeit, Lern-Feedback, Hausaufgabenhilfe etc.) zu vermitteln und wird zum verbindlichen Bestandteil einer zeitgemäßen Lehrerprofessionalität im 21. Jahrhundert. 5. Spezialfälle des Lernens außerhalb von Schule, wie z. B. Krankenhausunterricht oder Unterricht im Trainingslager, Inselschulen, Unterricht für Schausteller etc., werden mithilfe von Lernvideos und Liveübertragungen modernisiert und zeitgemäß ausgestaltet. So wird ein Teil der Nachteile ausgeglichen.

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9 Fazit und zehn bildungspolitische Forderungen

6. Das Potenzial von Erklärvideos gilt es für die qualitativ anspruchsvolle Gestaltung von Vertretungsstunden und der individualisierten Förderung von Schüler/innen zu entdecken und auszubauen. 7. Schulen brauchen neben der selbstverständlichen digitalen Ausstattung sämtlicher Klassenräume auch ein Video-/Audio-Studio zur Produktion audio-visueller Medien. Aus überkommenen Computerräumen wird ein (ggf. mobiles) Videolab. 8. Ältere Schüler/innen produzieren für Schüler/innen niedrigerer Klassenstufen Erklärvideos, die im lokalen schulischen Kontext eingesetzt werden können. 9. Besondere Lernleistungen in Prüfungen können auch in Form eines selbsterstellten Erklärvideos geleistet werden. 10. Die medien- und fachdidaktische Gestaltung und Einbindung von Erklärvideos in den Unterricht, aber auch die Auswirkungen algorithmischer Curricula in kommerzialisierten Umgebungen, werden intensiver beforscht. Die Erkenntnisse werden durch Design Based Research in die Bildungspraxis und die Fortbildung transferiert. Alles bleibt anders...

Zweites Halbjahr 2025, ein ganz normaler Schultag in Deutschland, irgendwo an einer ganz normalen Schule. Wir gehen durch die Flure und sehen durch gläserne Klassenzimmertüren. In der 9. Klasse ist überraschend der Physiklehrer ausgefallen. Binnen weniger Minuten ist die passende Online-Vertretungsstunde auf dem nationalen Bildungsserver gefunden. Statt langweiliger Stillbeschäftigung schauen die Schüler/innen gerade ein Lernvideo. Es knüpft an den Stoff der letzten Stunde an. Anschließend werden in Kleingruppen thematisch passende interaktive Arbeitsblätter bearbeitet. Abschließend produzieren sie mit ihren Smartphones ein kurzes Video-Feedback. Die Zeit verging wie im Flug. Der Lernstoff wurde nochmals vertieft und die Fachlehrerin/der Fachlehrer kann in der nächsten Stunde nahtlos anknüpfen. Zu allen Lehrplänen oder Rahmenplänen gibt es passende Online-Vertretungsstunden auf den Bildungsservern, die pädagogisch durchdacht und aufwendig produziert dazu beitragen, die Schulzeit als Lernzeit zu nutzen. Die technische Ausstattung hat sich in den letzten fünf Jahren dank Milliarden Investitionen in Technik und Technikpersonal, Ausbildung und Ausstattung aber auch mit Blick auf einen zentralen nationalen Bildungsserver und digitale Inhalte ausgezahlt. Neben den klassischen Schulbüchern sind längst interaktive Materialen ganz selbstverständlich an den Schulen im Einsatz. Schulen verfügen über ein eigenes Budget für digitale Materialien und Lizenzen. Flächendeckendes und leistungsstarkes WLAN für alle Schüler/innen und Lehrkräfte sind selbstverständlich. Lehrkräfte bekommen alle paar Jahre einen neuen Laptop bzw. ein neues Tablet gestellt und nehmen regelmäßig an Schulungen zu neuen digitalen Materialien und Lernprogrammen teil. Der Schulbildungsserver ist mit dem Landesbildungsserver und dem nationalen Bildungsserver klug vernetzt. Materialien lassen sich leicht finden und stehen rechts-

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8.4 Lehrer/innenfortbildung per Videoplattform – der Teaching Channel

sicher für den Einsatz im Unterricht oder bei Hausaufgaben zur Verfügung. Ständig kommen neue Materialien dazu. Im gut ausgestatten Vorbereitungsraum für Lehrkräfte sehen wir einer Lehrerin dabei zu, wie sie Videofeedbacks für jeden ihrer Schüler/innen verfasst. Später werden sie über das moderne Schulmanagementsystem mit Schülerinnen und Schülern und Eltern geteilt. Ein paar Schritte weiter arbeitet die 7a mit der Flipped-Classroom-Methode. Es ist selbstverständlich, dass Schüler/innen ihre eigenen digitalen Geräte mitbringen und nutzen. Stundenplan und Klassenbuch sind digital, und Änderungen kommen in Echtzeit aufs Endgerät. Von Hausaufgaben bis Stundenplanänderungen – alles findet sich in der Schul-App wieder und wird von Eltern, Lehrkräften und Schüler/innen genutzt. Im Krankheitsfall kann man sehen, welcher Stoff durchgenommen wurde und welche Hausaufgaben aufgegeben sind. Man kann die im Unterricht eingesetzten Lernvideos auch noch einmal zu Hause ansehen und auf die digitalen Arbeitsblätter oder sonstigen Materialien zugreifen. In der Schule gibt es verantwortliche Fachleute für Wartung und Pflege des IT-Systems. Jede größere Schule verfügt über einen Unterrichtsroboter. Damit wird der Unterricht bequem ins Krankenhaus oder ans Krankenbett daheim übertragen. Mit dem Roboter kann man sich sogar von zu Hause aus melden und ins Unterrichtsgespräch einbringen oder bei Kleingruppenarbeit mitwirken. Gerade für chronisch kranke Jugendliche, bei Trainingslagern und anderen Abwesenheiten, oder um Förderunterricht, z. B. von Hochbegabten, auch in ländlichen Gebieten anzubieten, kommt dieser »Unterrichtshelfer« zum Einsatz. Lehrkräfte werden damit nicht überflüssig – ganz im Gegenteil. Und last, but not least: Die gute Schule der Zukunft wird auch ganz viele Stunden ohne Bildschirmzeiten auskommen. Sie wird weiterhin Stifte und Papier, Bücher und Hefte nutzen. Lernen bleibt eine vielfältige soziale Interaktion. Darum bleiben Exkursionen und Projektunterricht, Klassenfahrten und kulturelle Bildung wichtig, in denen das Smartphone auch mal ausbleibt. Die Schule soll ein guter Ort sein, um ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen der Aufmerksamkeitsindustrie von TikTok, Instagram und Co. und einem analogen sozialen Alltag zu lernen. Dieses Buch ist nicht geschrieben worden, um blind den digitalen Medien und ihren Möglichkeiten zu verfallen. Es gilt vielmehr die Möglichkeiten zu entdecken und zu ergreifen. Wenn Flipped Classroom mehr Zeit für das Vertiefen von Stoff bietet, hilft das den Schülerinnen und Schülern. Wenn Heterogenität nicht nur bildungspolitisch gefordert wird, sondern digitale Medien bei der Umsetzung mithelfen, ist allen gedient. Dazu können auch neue Medien beitragen – durch das bessere Veranschaulichen von Vorgängen gerade in den Naturwissenschaften, Experimenten, die sonst so nie in der Schule stattfinden können und auch professionell produzierten Erklärvideos, die einem im Kopf bleiben. Unsere Schüler/innen haben Anspruch auf eine moderne zeitgemäße Schule, die Lust aufs Lernen macht und mehr ist als eine Pflichtveranstaltung.

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