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German Pages 263 [276] Year 2012
Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Volker Leppin (Tübingen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Berndt Hamm (Erlangen) Johannes Helmrath (Berlin), Matthias Pohlig (Münster) Eva Schlotheuber (Düsseldorf)
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Lehren und Lernen im Zeitalter der Reformation Methoden und Funktionen Herausgegeben von
Gerlinde Huber-Rebenich
Mohr Siebeck
Gerlinde Huber-Rebenich, geboren 1959; Studium der Klassischen und Mittellateinischen Philologie sowie Romanistik; 1990 Promotion; 1995 Habilitation; 1995–2010 Professorin für Mittel- und Neulatein an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; seit 2010 Assoziierte Professorin für Latinistik an der Universität Bern.
ISBN 978-3-16-151973-4 / eISBN 978-3-16-158606-4 unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISSN 1865-2840 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2012 Mohr Siebeck Tübingen www.mohr.de. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Inhaltsverzeichnis Gerlinde Huber-Rebenich Vorwort .........................................................................................................VII Ralf Koerrenz Schule als strukturelles Arrangement. Eine gegenwartsorientierte Lektüre von Luthers Schulschriften ..................... 1 Harald Müller Lern- und Lektüreempfehlungen im Briefwechsel des Benediktiners Nikolaus Ellenbog (1481–1543) aus Ottobeuren ........................................... 21 Michael Rupp Von Vorbildern und ihrer Bedeutung. Imitatio und Eloquentia in den Schülergesprächsbüchern und im erzählenden Werk von Paulus Niavis ............................................................ 43 Michael Baldzuhn Die Opuscula aliquot des Erasmus von Rotterdam (1514). Anmerkungen zur Konzeption und Rezeption eines europäischen Schulbuchs ..................................................................................................... 65 Walther Ludwig Art und Zweck der Lehrmethode Melanchthons. Beobachtungen anlässlich der ersten Übersetzung seiner Initia doctrinae physicae ............................................................................... 91 Volker Leppin Disputationen als Medium der Theologie- und Kirchenreform in der Reformation. Zur Transformation eines akademischen Mediums ..................................... 115
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Inhaltsverzeichnis
Thomas Töpfer Philipp Melanchthons Loci communes. Systematisierung, Vermittlung und Rezeption gelehrten Wissens zwischen Humanismus, Reformation und Konfessionspolitik (1521–1590) ................................................................. 127 Daniel Gehrt Zum besseren vnd gründtlicheren verstandt des Catechismi Lutheri. Das Kleine Corpus Doctrinae des Matthäus Judex ..................................... 149 Franz Körndle Vocabularien im Musikunterricht um 1500 ................................................. 201 Franz Körndle Musik im frühen Theater der Jesuiten ......................................................... 211 Christel Meier Lehren ›in lebendigen Bildern‹: zum pädagogischen Impetus des frühneuzeitlichen Theaters. Ein Projektbericht ........................................................................................ 227 Autorenverzeichnis ...................................................................................... 249 Personenregister ........................................................................................... 251 Ortsregister .................................................................................................. 255 Sachregister .................................................................................................. 259
Vorwort Der vorliegende Band vereinigt Beiträge zur Tagung »Lehren und Lernen im Zeitalter der Reformation. Methoden und Funktionen«, die vom 30. Oktober bis 1. November 2009 in der Forschungsbibliothek Gotha stattfand. Die Tagung bildete den Abschluss der Ausstellung »Mutianus Rufus und der Humanismus in Erfurt«, die – unter der Ägide von Christoph Fasbender konzipiert – vom 21. August bis 1. November 2009 auf Schloss Friedenstein präsentiert wurde.1 Mit Mutianus Rufus (1471–1526), dem unkonventionellen spiritus rector des ersten Erfurter Humanistenzirkels und Mentor humanistischer Dichter und Gelehrter der zweiten Generation, war das Tagungsthema vorgegeben: die Frage nach unterschiedlichen Formen der Bildungsvermittlung und des Bildungserwerbs – ausgehend von der Phase des Umbruchs, für die Mutianus Rufus und seine Gesinnungsgenossen stehen, bis hin zur Konsolidierung des Bildungswesens in postreformatorischer Zeit. Dabei interessierten nicht allein die vermittelten Inhalte, sondern vor allem auch die Methoden der Vermittlung und die Funktionen, die das erworbene Wissen erfüllen sollte. In den Blick genommen wurde die Ausbildung in den alten Sprachen, in der Naturlehre, in protestantischer Theologie und im Musikunterricht, jeweils unter Berücksichtigung verschiedener Institutionen, an denen die betreffenden Disziplinen verankert sein konnten (vom Kloster bis zur Universität), sowie verschiedener Medien und Diskursformen, in denen sich Lehren und Lernen vollzog (vom Lehrbuch bis zur Disputation). Dass aus elf Tagungsbeiträgen zu den genannten Themengebieten keine geschlossene Bildungsgeschichte der Reformationszeit hervorgehen kann, versteht sich von selbst. So liegt der Wert der versammelten Aufsätze vielmehr darin, – vielfach anhand von bisher wenig oder gar nicht ausgewertetem Quellenmaterial – den Blick auf verschiedene Gesichtspunkte gelenkt zu haben, die es bei der Aufarbeitung des Gesamtkomplexes zu beachten gilt. Einleitend unterzieht Ralf Koerrenz (Pädagogik) Luthers Schulschriften An die Ratsherrn aller Städte deutschen Landes (1524) und Eine Predigt, dass man Kinder zur Schulen halten soll (1530) vor dem Hintergrund der humanistischen Bildungsreform einer gegenwartsorientierten Lektüre. Er folgt dabei
1 S. Conradus Mutianus Rufus und der Humanismus in Erfurt. Katalog zur Ausstellung der Forschungsbibliothek Gotha auf Schloss Friedenstein, 21. August bis 1. November 2009, hrsg. v. Christoph Fasbender, Gotha 2009.
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struktur-analytischen und struktur-funktionalen Deutungsansätzen schulischen Lehrens und Lernens, indem er der Frage nachgeht, ob und inwiefern Luther »Schule« in einem doppelten Sinn als Arrangement der Kulturtradierung versteht, nämlich zum einen als Institution, in der kulturelle Inhalte vermittelt werden, zum anderen als ein System, das durch seine strukturelle Ausgestaltung und seine funktionalen Leistungen kulturelle Standards tradiert. Koerrenz kann zeigen, dass Luther die Verantwortlichkeit für die öffentliche Erziehung in der Institution »Schule« als eine zentrale Herausforderung für die protestantische Gestaltung seiner Gegenwart verstand. Harald Müller (Geschichte) durchmustert die gedruckte und ungedruckte Korrespondenz des humanistisch begeisterten Benediktiners Nikolaus Ellenbog (1481–1543) aus Ottobeuren im Hinblick auf Lern- und Lektüreempfehlungen, die er seinen Adressaten erteilte. Im Zentrum stehen dabei die Briefe an Nonnen des Zisterzienserinnenklosters Heggbach, dem Ellenbogs Schwester Barbara als Äbtissin vorstand. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Aspekt der Sprachkompetenz in Latein, Griechisch und Hebräisch und der Frage nach der Funktionsorientierung des Lernens. Die zusammengetragenen Zeugnisse ergeben zwar kein systematisches Lehr- und Lernkonzept, wohl aber einen Einblick in die individuellen Vorstellungen eines gebildeten Benediktiners von Wissensvermittlung und Wissenserwerb in klösterlichem Umfeld. Michael Rupp (Germanistik) unternimmt es, den Frühhumanisten Paulus Niavis von dem Verdikt der modernen Forschung zu rehabilitieren, die ihm mehrheitlich vorwirft, in seiner eigenen Sprachpraxis dem in seinen für den Unterricht geschaffenen Werken formulierten Anspruch einer an Cicero, Quintilian und italienischen Humanisten orientierten Latinität nicht zu genügen. Er kann zeigen, dass Niavis selbst, etwa im Widmungsbrief zu seinem Thesaurus eloquentiae, Abweichungen vom antiken Sprachgebrauch mit Hinweis auf aktuelle Gepflogenheiten rechtfertigt, an die er in seinen Schülergesprächen bewusst anknüpft, um so die Fähigkeit zu vermitteln, sich in der eigenen Gegenwart angemessen auszudrücken. Dass Niavis selbst in der Lage war, verschiedene sprachliche Register zu ziehen, belegt Rupp zum einen an den Dialogen, in denen Anfänger und Fortgeschrittene sprachlich und stilistisch differenziert werden, zum anderen an den literarischen Werken, in denen das Latein je nach Situation oder sozialer Stellung des jeweiligen Sprechers variiert. Michael Baldzuhn (Germanistik) nähert sich der Frage, wie und was im Lateinunterricht aus Schulbüchern gelehrt und gelernt werden konnte, indem er die Konzeption und Rezeption der in der Nördlinger Schulordnung von 1521 herangezogenen Ausgabe der Opuscula aliquot (Erstdruck 1514) analysiert, in die Erasmus von Rotterdam mit den Disticha Catonis auch ein Standardwerk des mittelalterlichen Schulunterrichts aufgenommen hat, das auf
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eine lange Gebrauchstradition zurückblicken kann. Baldzuhn untersucht zunächst die Erläuterungen, die Erasmus den versammelten Werken beigegeben hat, um sodann ihren konzeptionell implizierten und explizit anvisierten Verwendungsmöglichkeiten nachzuspüren – als Instrument zum Erwerb von Sprachkompetenz, als Reservoir an Lebensregeln und als Medium der Selbstverständigung der res publica litteraria. Dabei berücksichtigt er ebenso die Verbreitung der Edition von 1514 wie die Modifikationen, die die Opuscula in den zahlreichen späteren Ausgaben erfuhren. Auf der Grundlage seiner Übersetzung der ersten gedruckten Fassung der Initia doctrinae physicae von 1549 reflektiert Walther Ludwig (Klassische Philologie) über Art und Zweck der Lehrmethode, die Melanchthon in diesem naturphilosophischen Einführungswerk anwandte, das er zunächst für seinen Schüler Paul Eber zum Vortrag in einer Vorlesung geschrieben hatte, das aber in der Folge noch häufig wiederaufgelegt wurde. Als Gründe für die didaktische Wirksamkeit diagnostiziert Ludwig die Fähigkeit zur Konzentration auf das Wesentliche sowie zur sprachlich klaren und gedanklich gut gegliederten Darstellung, die Einschärfung zentraler Lehrsätze (v. a. zur Gotteserkenntnis) durch variierende Wiederholung, aber auch durch polemische Manipulation, die Anführung illustrierender Beispiele aus der antiken Literatur wie aus der aktuellen Erfahrungswelt sowie die Auflockerung und Veranschaulichung des Stoffes durch Gleichnisse und Anekdoten. Er bestätigt und ergänzt damit die Einschätzung, die Melanchthons Schüler David Chytraeus bereits 1562 in seiner Schrift De ratione discendi vorgenommen hatte. Volker Leppin (Theologie) zeigt, vor allem am Beispiel der Leipziger Disputation von 1519 und der Zürcher Disputation von 1523, wie eine konventionelle universitäre Diskursform, die Disputation, sich von einer Fingerübung in Argumentationstechnik zum ernsthaften Medium der Theologie- und Kirchenreform wandelte, indem sie aus dem akademischen in den öffentlichen Raum getragen wurde und dabei zunehmend an Dynamik gewann. Ausgehend von der methodisch-inhaltlichen Reform des Disputationswesens – mit dem Verzicht auf Aristoteles zugunsten von Bibel und Kirchenvätern – unterscheidet Leppin vier, einander zeitlich überlappende Phasen des Transformationsprozesses: von der affirmativen Mitteilung der neuen Lehre hin zur Entscheidung über fragliche Wahrheiten bis zur Propagierung der eigenen Überzeugungen und zur demonstrativen Durchsetzungsstrategie. Thomas Töpfer (Geschichte) beleuchtet in einem ersten Schritt die Konzeption von Philipp Melanchthons Loci communes von 1521 samt den späteren Bearbeitungen im Hinblick auf ihre Funktion als Universalmethode, didaktischer Leitfaden und Bekenntnisschrift, wobei er in den späteren Fassungen die methodisch-didaktische Dimension zugunsten der Ausprägung einer evangelischen Dogmatik und der Verstärkung des Bekenntnischarakters zurücktreten sieht. In einem zweiten Schritt analysiert er die Rolle des Werkes
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im Kontext der Auseinandersetzungen um das Erbe Philipp Melanchthons nach 1560. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Wittenberger Universitätsordnung des Jahres 1588, die die Vermittlung und Auslegung der Loci erneut zur wesentlichen Aufgabe der akademischen Theologie erklärt, um so auch Melanchthon als theologische Lehrautorität zu restituieren. Letzteres gelang zwar aufgrund der konfessionspolitischen Rahmenbedingungen nicht nachhaltig, die Loci aber behielten als methodisches Instrument der Erörterung theologischer Lehrsätze lange Zeit ihre vorbildhafte Wirkung. Daniel Gehrt (Geschichte) dokumentiert in seinem Beitrag die Entwicklung der lutherischen Reformation von einer zunächst akademischen Bewegung zu einem weite Bevölkerungskreise umfassenden Phänomen anhand der Entstehung und Rezeption des 1564 erstmals gedruckten Kleinen Corpus Doctrinae des Dogmatikers und Kirchenhistorikers Matthäus Judex. Zunächst für die Bedürfnisse der Hausandacht im Zusammenhang mit den väterlichen Erziehungspflichten geschrieben, war das Kompendium doch von vornherein – als Ergänzung zu Luthers Kleinem Katechismus – für die Elementarbildung im Kirchen- und Schulbetrieb angelegt. Das Werk sollte den Zugang zu komplexen dogmatischen Themen erleichtern und zugleich in den nachinterimistischen Kontroversen strikt auf die lutherische Position einschwören. Die Verbreitung der Schrift, die Gehrt unter anderem durch ein Verzeichnis von 103 Drucken nachweist, spiegelt die konfessionspolitische Topographie im Reich wider; bis zum Ende des 17. Jahrhunderts entfaltete das Kleine Corpus in Mitteleuropa eine nachhaltige Wirkung. Franz Körndle (Musikwissenschaft) wertet musikspezifische Einträge in fünf Vocabularien aus, die im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert im deutschen Sprachgebiet in Gebrauch waren, und befragt sie nach ihrem Aussagegehalt für den zeitgenössischen akademischen wie außerakademischen Musikunterricht. Im Hinblick auf die Benutzer dieser Wörterbücher unterscheidet er solche mit lateinischen Erklärungen für Gebildetere und solche mit deutschen für ein breiteres Publikum. In den einen wie den anderen fällt auf, dass Phänomene der zeitgenössischen Musiktheorie und -praxis – wie die Mehrstimmigkeit oder die Gattung der Motette – kaum oder gar nicht berücksichtigt werden. Häufiger vertreten sind Lemmata zu Instrumenten, bei denen indes zuweilen terminologische Ambivalenzen zu beobachten sind, die sich zum Teil aus der Tradition der Begriffe – etwa in biblischem Kontext – erklären. Reflexe zeitgenössischer Entwicklungen innerhalb der Musik finden sich eher in Musiktraktaten als in Vocabularien oder – bei glücklichem Überlieferungszufall – in thematisch relevanter Korrespondenz. In einem weiteren Beitrag, der nun schon in die Zeit der Gegenreformation vorgreift, ergänzt Körndle unsere aufgrund der spärlichen Quellenlage fragmentarischen Kenntnisse zu Musikstücken und Chören in Schuldramen des Jesuitenordens durch die Auswertung von Archivmaterial und Regiemargina-
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lien in einschlägigen Handschriften. Im Zentrum der Betrachtungen steht dabei als wichtige Spielstätte der Jesuiten München, wo am herzoglichen Hof Orlando di Lasso als Hofkapellmeister wirkte. Die herangezogenen Dokumente liefern neue Indizien für seine Beteiligung am Jesuitendrama – sei es durch Neuschöpfungen oder die Aufnahme vorhandener Kompositionen. Insbesondere wird dabei auch der Frage nach Mehrfachverwendung von Musik und den dafür notwendigen formalen Voraussetzungen in Strophenliedern nachgegangen, die in antiken lyrischen Maßen gestaltet sind. Christel Meier-Staubach (Mittel- und Neulatein) präsentiert ein Projekt, das unter der Problemstellung von symbolischer Kommunikation und gesellschaftlichen Wertesystemen in der Frühen Neuzeit den Beitrag des Theaters untersucht und dabei die vielfältigen Formen und Strategien der Belehrung durch die multimedialen Großveranstaltungen des lateinischen Schauspiels vom protestantischen Schultheater über das Theater der Jesuiten und anderer Orden bis zum Hof- und Stadttheater beschrieben hat. Von besonderer Eindringlichkeit und Nachhaltigkeit der Lehre war dieses Medium durch die Präsenz des Vermittelten ›in lebendigen Bildern‹: die Exemplarität der Figuren und Handlungen samt deren im Spiel erlebbaren Konsequenzen, die beigegebene Kommentierung des Geschehens in spezifischen formalen Elementen wie Paratexten, Chören und Zwischenspielen, die Evidenz der Lehre durch das Bildhaft-Emblematische und die gekonnte Affektsteuerung; Sprachkompetenz wurde sowohl bei den Spielern wie auch bei den Zuschauern ausgebildet. Der hier versammelten Beiträge wären ohne die Förderung der Gothaer Tagung durch die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen gar nicht erst entstanden. Ihr sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt, ebenso dem Verlag Mohr Siebeck und dem Herausgebergremium, die den Band ohne Druckkostenzuschuss in die Reihe Spätmittelalter, Humanismus, Reformation aufgenommen haben. Bern, im Frühjahr 2012
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Schule als strukturelles Arrangement Eine gegenwartsorientierte Lektüre von Luthers Schulschriften Ralf Koerrenz
1. Hermeneutische Selbstvergewisserungen Nähert man sich einem solchen Themenfeld wie dem des Lehrens und Lernens im Zeitalter der Reformation, so bleibt man doch immer dort, wo man ist: im Hier und Jetzt als Theologe, Pädagoge, Philosoph usw. Die Hinwendung zum Vergangenen kann mit sehr unterschiedlichen Ausrichtungen verbunden sein. Typologisch unterschieden werden üblicherweise ein (eher) historisches und ein (eher) systematisches Erkenntnisinteresse, die an Vergangenes herangetragen werden. Die Versuche der historisch-empirischen Feststellung dessen, was gewesen ist beziehungsweise sein kann, konkurriert mit einer Zugangsweise, die primär nach den systematischen Bedeutungsgehalten (jenseits der Zeitgebundenheiten) fragt. In beiden Fällen jedoch spielen die hermeneutischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Gegenwart (das »Empfinden« oder »Denken« einer Zeit) eine wesentliche Rolle. Weder der Historiker noch der Systematiker können ihre jeweiligen Bedingtheiten (kulturell, aber auch individuell) letztlich ausblenden. Die Konzentration auf den Gegenstand jedoch ist anders fokussiert. In dem hier zu entfaltenden systematischen Zugang besteht gerade bei scheinbaren Selbstverständlichkeiten wie denen in der »Frage nach Lehr- und Lernmethoden in Relation zu beabsichtigten Lehr- und Lernzielen«1 im Zeitalter der Reformation die Herausforderung, das hermeneutische Vorverständnis zu reflektieren und offen zu legen. Zu differenziert sind heute in pädagogischer Hinsicht die Antworten auf Fragen wie die, wer eigentlich in der Schule tatsächlich lehrt und was sich daraus für das Verständnis sowohl der Lernmethoden als auch mit Blick auf die Lehr- und Lernziele ergibt, als dass alleine schon Arbeitsbegriffe unumstritten feststünden. Eine provokante und
1 So der im Einladungsschreiben für die Tagung »Lehren und Lernen im Zeitalter der Reformation. Methoden und Funktionen« im November 2009 auf Schloss Friedenstein in Gotha vorgegebene thematische Schwerpunkt.
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für das Alltagsverständnis irritierende Antwort auf diesem Gebiet hatte beispielsweise Robert Dreeben in seiner Skizze On What is Learned in School2 formuliert. Nicht der offizielle Lehrplan (»die« Inhalte) und auch nicht das intentionale Handeln der Personen (»die« Lehrenden), sondern die soziostrukturellen Regeln des Systems dominieren danach die »Lernmethoden« (z.B. beim Schummeln) und vermitteln entsprechende Lehr- und Lernziele. Es wäre also naiv, so zu tun, als stünde aus heutiger Sicht allein alltagssprachlich bereits fest, was unter einer Frage wie der »nach Lehr- und Lernmethoden in Relation zu beabsichtigten Lehr- und Lernzielen« überhaupt zu verstehen ist. Sehr Unterschiedliches kann darunter gefasst werden – sowohl mit Blick auf die Akteure als auch mit Blick auf offensichtliche und latente Zielsetzungen des organisierten Lehrens. Insoweit führt kein Weg daran vorbei, Annährungen beispielsweise an Martin Luther und dessen Pädagogik unter Berücksichtigung der Varianten zeitgenössischer Reflexionsmuster zu vollziehen – für welche hermeneutische Lesebrille auch immer man sich dann entscheiden mag. Die an Luthers Schulschriften hier angetragene Frage soll lauten, ob und inwiefern Luther »Schule« als strukturelles Arrangement der Kulturtradierung im doppelten Sinne begriffen hat: als ein Arrangement in dem Kultur tradiert wird, aber auch als ein Arrangement durch das gelernt wird und das selbst Ausdruck eines bestimmten strukturellen Lehrstandards ist, den es zu bewahren und zu gestalten gilt. Im weitesten Sinne folgt dieser Ansatz damit den struktur-analytischen und struktur-funktionalen Deutungsansätzen schulischen Lehrens und Lernens. »Schule« wird dabei verstanden als eine zentrale Institution jeglicher Kultur, in der es darauf ankommt, die Kopplung der verschiedenen Generationen möglichst sachgemäß (im Sinne der jeweiligen Kulturauffassung) und zugleich effektiv zu vollziehen. »Schule« ist in diesem Sinne ein Scharnier zwischen den Generationen, über das ein wesentlicher Teil der Erziehung (und Bildung) gesteuert wird. Dies hat beispielsweise Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorgehoben. Schleiermacher hatte in seinen »Pädagogischen Vorlesungen« aus dem Jahr 1826 darauf verwiesen, dass es im Erziehungsprozess vor allem auf die Koppelung der Generationen und die damit verbundene Tradierung kultureller Standards ankommt. Erziehung, auch schulische Erziehung, ist danach vor allem als ein soziales Phänomen zu begreifen, in dem es um die Wahrung und die Entwicklung kultureller Standards geht. Schleiermacher wählt deswegen seinen Ausgangspunkt für das Verständnis von Erziehung im Allgemeinen beim objektiven Zusammenhang von Kultur und Geschichte. »Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem 2
Original: 1968. Deutsche Übersetzung unter dem Titel: Was wir in der Schule lernen, Frankfurt 1980.
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Zweck, wie das Resultat der Tätigkeit entsprechen?«3 Institutionen wie der Schule kommt dabei deswegen eine besondere Bedeutung zu, weil in ihnen Kultur sozial definiert und offen kommuniziert wird. Neben den in der Schule behandelten Inhalten sind es die Struktur und die Funktion der Institution selbst, deren Bewahrung und Gestaltung, die für die Tradierung von Kultur stehen. Die kulturellen Standards in der Schule und die strukturellen und funktionalen Leistungen der Institution Schule selbst als kultureller Standard bedingen sich dabei wechselseitig.
2. Theologische und pädagogische Rahmungen Im Lichte der protestantischen Theologie entspringt die Verantwortung für das Institutionelle der Schule, sowohl an sich als auch in den inhaltlichen Konkretionen, der Deutung von und Verantwortung für die menschliche Kultur insgesamt. Mit dem Theologen und Religionsphilosophen Paul Tillich gesprochen: Es geht bei der Auseinandersetzung mit Schule um Ausdrucksformen protestantischer Gestaltung im Horizont der Profanität. Gerade Struktur und Funktion einer Institution sind dabei einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Es ist die Frage nach den nur scheinbar selbstverständlichen Regelstrukturen und Autoritäten des Alltags einer solchen Institution, hinter die zurückgegangen werden muss an jenen Punkt, an dem die Frage aufgeworfen wird, wie sich die Gestalt des Institutionellen zu der zentralen Herausforderung verhält, ob und wie der Mensch der Tiefe des Seins ansichtig wird oder genau dies verhindert wird. Denn der entscheidende Gesichtspunkt mit Blick auf die institutionelle Gestalt zum Beispiel von Schule ist, dass die darin anzutreffenden erziehenden Strukturen nicht von Natur aus gegeben oder gar als Offenbarung vom Himmel gefallen sind. Gerade unter protestantischen Gesichtspunkten muss man sich in Erinnerung rufen: Diese Strukturen sind gestaltet und gestaltbar und jeder dieser Strukturen ist eine ganz bestimmte Appellstruktur eigen in der Form »Tue dies nicht, sondern tue das«. Es ist eine Verantwortung protestantischer Theologie, das scheinbar Selbstverständliche kritisch auf seine offenen und latenten Seinsbotschaften hin zu befragen. Zum Einlassen auf Wirklichkeit mit all der Gefahr, dass Theologie durch die Empiriebezüge »schmutzig« wird, gibt es letztlich keine Alternative. Paul Tillich hat in diesem Zusammenhang von der protestantischen Haltung des »gläubigen Realismus«4 gesprochen. »Gläubiger Realismus«
3 SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D. E.: »Grundzüge der Erziehungskunst (Vorlesungen 1826)«, in: Ders., Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe. Hrsg. von M. Winkler / J. Brachmann, Frankfurt 2000, S. 9. 4 TILLICH, PAUL: »Protestantische Gestaltung«, in: Ders., Auf der Grenze, München 1964, S. 87.
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lässt sich ein auf die Profanität der jeweiligen Gegenwart – gerade in all ihren auch institutionellen Ausdrucksformen. Diese Hinwendung zur jeweiligen Gegenwart steht jedoch immer unter dem »kritischen« Vorbehalt, jene in der Realität anzutreffenden Geister zu scheiden. Das (institutionell) Gegebene ist auf die in ihm transportierten Autoritätsstrukturen hin zu untersuchen. Kritische Maßstäbe zur Bewertung des Vorfindlichen bleiben immer »das Unbedingte und der ›Andere‹, das heißt, das andere menschliche Wesen«5 auf dem »Boden der Wirklichkeit der Gnade«.6 Nicht alles, was ist, ist allein deswegen schon zu bejahen. Ganz im Gegenteil geht es um eine kritische Analyse des Gegebenen auf die Sichtbarwerdung der Tiefendimension des Seins in und durch Gottes Offenbarung hin und gegen die Vernebelungen und Verblendungen des Alltags durch falsche, den Menschen irreführende Götzenstrukturen. Beides, Orte der Offenbarung von Gottes Gnade und Orte der den Menschen von Gott und sich selbst entfremdenden Götzenstrukturen, ist nur sachlich, nicht jedoch räumlich (z.B. innerhalb »der« Kirche) zu identifizieren. Die Herausforderung zur kritischen Analyse der Kultur ist umfassend und macht von der Sache her nicht an den Grenzen offiziell definierter Kirchlichkeit halt. Die Konsequenz für die Identifizierung von Kern und Ort »christlicher« Themen und Aufgaben ist weitreichend. Es wäre eine parallele Engführung, »Evangelium« als einen verbal, optisch oder akustisch zu vermittelnden »christlichen« Inhalt zu verstehen. »Evangelium« als christlicher Inhalt von Sprache, Bildern oder Musik – dies macht als Formgestaltung seinen begrenzten Sinn, aber eben auch nur einen begrenzten. Der protestantische Bezug zur Wirklichkeit jedoch weist darüber hinaus auf die Tiefendimension der Wirklichkeit überhaupt – in den personalen Handlungsoptionen ebenso wie in den strukturellen Arrangements von Institutionen. Damit gewinnt auch die Analyse von kulturellen Artefakten wie der Institution »Schule« eine andere Akzentuierung. Die Betrachtung eines solch institutionellen Gebildes wie Schule – hochgradig kulturell definiert – ist dann eine »religiöse« Angelegenheit, wenn in protestantischer Hinsicht nach deren zugrunde liegender Tiefenstruktur gefragt wird. Dies kann auch herangezogen werden für historische Begründungsformen der Institution »Schule«, wie sie in Luthers Schulschriften anzutreffen ist. Den Überlegungen zum Verhältnis von Kultur, Schule und Evangelium mit der Absicht, das Selbstverständliche (z.B. des Institutionellen) für fraglich und fragil zu halten, korrespondiert nun in pädagogischer Hinsicht jene vergleichbare, wenn auch auf anderer Ebene gelagerte Tendenz, das vermeintlich Offensichtliche in Frage zu stellen und nach den latenten Formen des Lehrens und Erziehens zu fragen. So wird bei der Bestimmung von Lehren und Lernen, von Bildung und Erziehung im Kontext einer Institution wie der der 5 6
A. a. O., S. 87. A. a. O., S. 86.
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Schule insbesondere der Ausdifferenzierung des Lehrens besondere Aufmerksamkeit zu schenken sein. Die bereits erwähnte struktur-funktionale Schulforschung ist dabei ein möglicher Ansatz. Die Konzeption einer Analyse und operativen Wendung von Lehren über die Verhältnisbestimmung von Person und Struktur7 bietet eine weitere Zugangsweise in ähnlicher, nicht jedoch identischer Richtung. Die Richtung einer solchen Analyse des Lehrens mündet in die Frage: Wer lehrt warum wie etwas? Die zunächst banal wirkende, letztlich jedoch eher Verwirrung stiftende Antwort darauf besteht in dem Gedanken: Es kommt auf die Verhältnisbestimmung von Personen und Strukturen an, da erst in der Zusammenschau von personalem und (indirektem) strukturellen Handeln die Realität von Erziehung in den Blick kommt. Das ist der Ansatz der Strukturellen Erziehungstheorie, mit deren Hilfe eine Bibliothek ebenso wie das Theater oder das Rechtssystem, das Handeln von Eltern ebenso wie die Gestaltung von Institutionen in der je spezifischen erzieherischen Leistung beschrieben werden kann. Der Ausgangspunkt besteht darin, Erziehung als absichtsvolles Lehren und dieses absichtsvolle Lehren wiederum als Steuerung von Lernprozessen zu verstehen. Eigentlich banal, aber doch mit weitreichenden Konsequenzen. In einer personalistischen Engführung von Erziehung wird davon ausgegangen, dass eine solche Steuerung des Lernens ausschließlich unmittelbar von handelnden Personen, also zum Beispiel Eltern, Lehrern, Heimerziehern usw., ausgeht. So grundlegend diese personalen Bezüge für das Lernen auch sein mögen, reicht diese Beschreibung jedoch nicht aus. Wenn es aus kultureller Perspektive im Verhältnis der Generationen zueinander darauf ankommt, dass Lernen gesteuert wird, so ist die Beschränkung auf personale Verhältnisse eine ebenso naive wie ablenkende Beschreibung der realen Verhältnisse. Von einer solchen Beobachtung geht Philipp Eggers aus, wenn er die Notwendigkeit unterstreicht, nicht nur personales Handeln als absichtsvolles Handeln zu beschreiben. Absichten können auch indirekt organisiert und in Handeln übertragen werden, indem sie in Strukturen hineinverlagert werden. Erziehung (und die Tradierung von Kultur) findet nicht nur in, sondern auch durch Strukturen statt. Um zu identifizieren, welchen Strukturen eine solche Eigenschaft zuzuschreiben sei, verweist Eggers auf den Unterschied zwischen natürlichen und kulturellen Gegebenheiten. Bei den kulturellen Gegebenheiten werde das Lernen durch rekonstruierbare Absichten gesteuert. Auf diese Weise wird die Umwelt in Gestalt von Strukturentscheidungen als »Lehrer« beschreibbar. So gebe es eine ganze Reihe kultureller Einrichtungen, die »ein erzieherisches Anliegen enthalten,
7 Vgl. hierzu KOERRENZ, RALF: Stufentheorie der Erziehung, Tübingen 1996. Exemplarisch ausgeführt und kritisch weitergeführt wurde der Ansatz u. a. von THIESEN, HILDEGARD: Kurt Hahn – Pädagogische Umwelten zwischen Konstruktion und Anknüpfung, Jena 2006, bes. S. 41–88; KENKLIES, KARSTEN: Die Pädagogik des Sozialen und das Ethos der Vernunft. Die Konstitution der Erziehung im platonischen Dialog Nomoi, Jena 2007.
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das sich entweder in ihnen entwickelt hat oder das ganz bewusst in sie hineingelegt wurde. So ist beispielsweise das gesetzte Recht eine sozial-kulturelle Institution, die in einem wesentlich anderen Sinne funktional-erzieherisch wirksam ist als beispielsweise die Großstadt.«8 Es seien gerade in der Institution Schule Dimensionen anzutreffen, die mit einem klar erkennbaren pädagogischen Anliegen verbunden sind. Ein offensichtliches Beispiel sei die Architektur einer Schule. Der leitende Gedanke ist, dass in die materialräumliche Gestaltung des Schulgebäudes und innerhalb des Schulgebäudes erzieherische Absichten hineingelegt werden: beginnend bei der Höhe der Fensterbänke und der Frage, in welchem Maße der Blick nach »draußen« freigegeben werden soll, und mündend in Überlegungen, mit welchem Mobiliar welche didaktische Flexibilität ermöglicht wird. Die material-räumliche Gestaltung außerunterrichtlicher »Lebensräume« der Lernenden und Lehrenden zwischen Pausenhof und Teestube gehört ebenfalls in diesen Bereich. Gemeinsam ist in all diesen Fällen, dass über Strukturentscheidungen und Strukturgestaltungen eine absichtsvolle Steuerung der Lernprozesse initiiert wird. Der Gestaltungsspielraum in diesen Dingen ist (neben allen ökonomischen und kommunikativen Begrenzungen) ein Entscheidungsspielraum über die mittelbare, d. h. über Strukturen vermittelte Steuerung von Lernprozessen. In letzter Konsequenz bedeutet dies: Nicht (nur), warum bestimmte Inhalte von wem gelehrt werden, sondern auch warum überhaupt und in welcher Gestalt es »Schule« gibt und geben soll, ist für die Analyse von programmatischen Schriften zur Schule relevant und interessant. Der hier vorgeschlagene Interpretationszugang erblickt gerade in dem strukturorientierten Subtext das eigentlich Interessante an Luthers Schulschriften.9 Dies eröffnet den Blick auf eine spezifische Legitimationsstruktur und Tiefendimension der Institution. In der Begründung von Schule als einer kulturellen Elementarstruktur erscheint Luther jedoch in einem verfremdeten, teilweise sogar aktuellen Licht.10 Das Interesse ist also darauf gerichtet, welche Funktionen der Institution »Schule« als erziehende Struktur im Anschluss an Luther hervorzuheben sind.
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EGGERS, PHILIPP: »Zur Differenzierung der funktionalen Erziehung«, in: Pädagogische Rundschau 21 / 1967, S. 860–868, hier S. 862. 9 Eine Zusammenstellung relevanter Schriften bietet die Ausgabe: LUTHER, MARTIN: Pädagogische Schriften. Besorgt von Hermann Lorenzen, Paderborn 1957. 10 Anders akzentuierte Versuche, die Aktualität der pädagogischen Positionen Luthers zu markieren, bieten die Arbeiten von CARSTENS, LARS OLIVER: Luther als Pädagoge. Studien zur Relevanz pädagogischer Grundgedanken Martin Luthers in einer wertunsicheren Welt, Aachen 1999 und MAHRENHOLZ, JÜRGEN CHRISTIAN: Bürgerrecht auf Bildung. Luther auf schulpolitischem Kurs, Hannover 1997.
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3. Luthers Deutung von Schule als kulturellem Raum Luther war pädagogisch interessiert als Theologe.11 Dies bedeutet keineswegs nur, dass ein entsprechendes Vorverständnis sein Nachdenken über pädagogische Sachverhalte geleitet hat. Es bedeutet – aus heutiger Sicht – auch, dass er pädagogische Fragestellungen in den Horizont des Verantwortungsbereichs der Theologie gestellt hat.12 Maßgeblich hierfür ist der Zusammenhang von (ewigem und zugleich präsentischem) Seelenheil und (vorläufiger) innerweltlicher Kultur. In diesem Sinne bewegt sich sein Interesse an pädagogischen Fragestellungen im Rahmen des Nachdenkens über Gottes Herrschaft im Regiment der Welt. Diese Perspektive der Herrschaft Gottes zielt nach Luther auf die Wahrung und Förderung von Humanität und damit auf das Verhältnis der Menschen zueinander. Es geht darin also nicht in einem soteriologischen Sinne um das Heil der Menschen vor Gott. Nicht die ewige Glückseligkeit, sondern das irdische Wohlergehen der Menschen – natürlich immer verstanden im Kontext des rechten Glaubens – kann über pädagogische Prozesse gefördert werden: Pädagogische Prozesse, zu denen ganz zentral neben dem Lernen in der Familie und im Gottesdienst13 die Gestaltung einer öffentlichen Institution »Schule« gehörte. »Schule-Halten« ist in diesem Sinne eine Frucht des primus usus legis (politicus). Es geht um die Gestaltung der sozialen Verhältnisse, in denen eine »Minimalhumanität« oder »Elementarhumanität« unter den Menschen bewahrt werden soll. Zur Wahrung und Förderung dieser Verhältnisse unter den Menschen ist öffentliche Erziehung als Tradierung der Kulturfähigkeit unverzichtbar. Wir sind allzu lange gnug deutsche bestien gewesen. Last uns eyn mal auch der vernunfft brauchen / das Gott mercke die danckbarkeyt seyner güter / und ander lande sehen / das wyr auch menschen und leute sind / die ettwas nützlichs entwedder von yhn lernen oder sie leren künden / da mit auch durch uns die wellt gebessert werde.14 Es ist eine 11
Vgl. zu der Gesamtinterpretation von Luthers Pädagogik ASHEIM, IVAR: Glaube und Erziehung bei Luther. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik, Heidelberg 1961; eine neuere Übersicht zur Forschungsdiskussion bietet SCHLUSS, HENNING: »Martin Luther und die Pädagogik – Versuch einer Rekonstruktion«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 76 / 2000, S. 321–353. 12 Zur inneren Einheit von Theologie und Pädagogik bei Martin Luther vgl. KAUFMANN, HANS BERNHARD: »Die innere Einheit des theologischen und pädagogischen Denkens bei Luther«, in: Hellmut Heeger (Hrsg.), Glauben und Erziehen. Pädagogen und Theologen im Gespräch. Festgabe für Gerhard Bohne, Neumünster 1960, S. 128–137. 13 Zur Perspektive lebenslangen Lernens jenseits der Schule vgl. LEDL, ANDREAS: Eine Theologie des lebenslangen Lernens. Studien zum pädagogischen Epochenwandel bei Luther, Münster 2006. 14 LUTHER, MARTIN: »An die Ratsherrn aller Städte deutsches Lands, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (1524)«, in: Werke in Auswahl. Unter Mitwirkung von Albert Leitzmann hrsg. von Otto Clemen, Bd. 2, Berlin 19676, S. 442–464, hier S. 460.
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Verantwortung für die menschliche Kultur, die danach fragen läßt, wie pädagogische Prozesse über Schule inszeniert und verantwortet werden können,15 wie konkret Schule als institutionelle Form des Lehrens und Lernens gestaltet werden soll. Denn das ist einer stad bestes und aller reichest gedeyen / heyl und krafft / das sie viel feyner gelerter / vernünfftiger / erbar / wol gezogener burger hatt / die künden darnach wol schetze / und alles gut samlen / hallten und recht brauchen.16 Dass es Luther vor und neben aller inhaltlichen Ausgestaltung von Schule um jene kulturelle Grundbedeutung der Institution an sich ging, wird exemplarisch am Bild des »Teufels« in der Vorrede zur »Predigt, dass man die Kinder zur Schule halten solle« aus dem Jahr 1530 an Lazarus Spengler deutlich. Das Werk des Teufels komme darin zum Ausdruck, dass er den gemeinen man also beteubet und betreuget, das die ihre kindern nicht zur schulen halten noch zur lere zihen wollen.17 Denn worum handelt es sich bei diesem Bild in diesem Kontext? Letztlich geht es – auf einem bestimmten Level – um die Gewährleistung der Reproduktionsbedingungen menschlicher Kultur. In letzter Konsequenz könnte aus einem möglichen Niedergang des Bildungswesens ein Verlust des erreichten kulturellen Standards folgen, von einer Pflege oder gar einer Weiterentwicklung der mit der Reformation gegebenen auch kulturellen Entwicklung ganz zu schweigen. Denn wo die schrifft und kunst untergehet, was will da bleiben inn deutschen landen denn ein wüster wilder hauffen Tattern odder Turcken ja villeicht ein sew stall und eine rotte von eitel wilden thieren?18 Die Gefährdung der kulturellen Entwicklung resultiert gleichermaßen aus ökonomischer Kurzsichtigkeit und politischem Fehlverhalten. Es müsse die Ausgestaltung und Weiterentwicklung bestimmter gelehrter Standards sichergestellt werden, weil für die Aufgaben des Predigens, des Regierens und des Richtens, »beides im geistlichen und weltlichen Stand«, eine bestimmte Schicht von Kulturträgern (aus)gebildet werden muss. Kenntnisse im Rechnen und der Lektüre deutscher Schriften reichen hierfür nicht aus. Die für die Wahrung der Kultur erforderliche Emanzipation von falschen, »teuflischen« Realitätswahrnehmungen richtet sich zwar immer auch gegen die inhaltliche Interpretation von Glauben und Lebenslauf im Sinne des zeitgenössischen römischen Katholizismus. Darüber hinaus wenden sich die Mahnungen Luthers gegen jene Tendenzen, die aus Gründen möglichst ra 15
Zur Bedeutung einer Auseinandersetzung mit den Positionen in der Allgemeinen Bildungsforschung vgl. SCHWEITZER, FRIEDRICH: »Luther und die Geschichte der Bildung. Pflichtgemäße Reminiszenz oder notwendige Erinnerung?«, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 3 / 1996, S. 9–23. 16 LUTHER, Ratsherren, a. a. O., S. 448. 17 LUTHER, MARTIN: »Eine Predigt, dass man Kinder zur Schulen halten solle (1530)«, in: Werke in Auswahl. Unter Mitwirkung von Albert Leitzmann hrsg. von Otto Clemen, Bd. 4, Berlin 1935, S. 144–178, hier S. 148. 18 A. a. O., S. 148.
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schen Eintritts in Verdienstmöglichkeiten Kinder vom Besuch weiterbildender Schulen abhalten wollen. Und die Mahnungen richten sich schließlich gegen städtische Verwaltungen, die – modern gesprochen – Investitionen in den Bildungssektor als sekundär oder gar überflüssig ansehen. Diese Gemengelage unterschiedlicher Verblendungen hinsichtlich dessen, was real für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Kultur über die Förderung eines komplexen Schulwesens notwendig ist, wird in der Sprache Luthers mit den Signaturen des »Teufels« und des »Götzen« belegt. Die Kulturtradierung, das Halten von Schule, muß also sichergestellt werden in den sich wandelnden gesellschaftlichen Kontexten. Die Gefährdungen der öffentlichen Institution sind dabei durchaus unterschiedlich. So sehr die beiden Schulschriften das Motiv mit sich führen, Erziehung im Rahmen der Institution »Schule« sei aus kulturellen Gründen unverzichtbar, so sehr unterscheidet sich die Richtung der Auseinandersetzungen, die Luther in den Blick nimmt. Geht es 1524 um die bildungspolitische Frage der öffentlichen Verantwortung für das Schulwesen und konkret um die Klärung der Trägerstrukturen derselben,19 so rückt wenige Jahre später in der Predigt aus dem Jahr 1530 die Frage nach der Nutzung der öffentlichen Angebote in den Vordergrund. So sehr beide Aspekte auch miteinander verwoben sind, so sehr haben sich doch die Problemstellungen verschoben, die eine Gefährdung der öffentlichen Institution »Schule« (entweder von »außen« oder von »innen«) dokumentieren. Mit der Proklamation der Notwendigkeit einer Institution »Schule« an sich wendet sich Luther 1524 an die Ratsherren in einer Situation, in der man allenthalben die schulen zur gehen lesst, die hohen schulen werden schwach / klöster nehmen ab.20 Insbesondere die Pflege der Sprachen als elementare Grundlage der Bewahrung und Entwicklung menschlicher Kultur sieht Luther in Gefahr.21 1530 richtet sich sein Interesse vordergründig gegen familiäres Fehlverhalten, das sich in einer mangelnden Nutzung der öffentlichen Angebote niederschlägt. Dabei sei der Lehrplan zwar in früheren Zeiten durch zwei Irrtümer der mittelalterlichen Schule verdorben: durch den Herrschaftsanspruch des römischen Katholizismus und durch eine Konzentration auf ökonomische Interessen. Dennoch darf dies für die Eltern keine Entschuldigung sein. Die Eltern sollten sich positiv auf die neue Gestalt evangelischer Schulen einlassen. Gemeinsam ist: Beide Schulschriften setzen voraus, dass Erziehung im Rahmen der Institution »Schule« aus kulturellen Gründen als unverzichtbar angesehen wird. Als Subtext der Schulschriften Luthers, der diesen
19 Vgl. hierzu FALK, FRIEDRICH: »Luthers Schrift an die Ratsherren der deutschen Städte und ihre geschichtliche Wirkung auf die deutsche Schule«, in: Lutherjahrbuch 19 / 1937, S. 55–114. 20 LUTHER, »Ratsherren«, a. a. O., S. 443. 21 Vgl. a. a. O., S. 450.
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eine gewisse Originalität verleiht, wird somit der Gedanke erkennbar: Die Institution »Schule« als solche repräsentiert und tradiert Kultur und nicht nur durch das, was an inhaltlicher, materialer Kultur in derselben verhandelt wird. Letztgenanntes ist zweifelsohne auch von elementarer Bedeutung, doch wird mit der Berücksichtigung der Bedeutung des Institutionellen an sich der Blick dafür eröffnet, dass bestimmten strukturellen Entscheidungen bei der Ausgestaltung von Schule eine strukturelle Lehrintention eigen ist. In diesem Sinne geht es darum, die institutionelle Gestalt von »Schule« als Ausdruck von Gottes Herrschaftsanspruch im weltlichen Regiment zu verstehen – und dies gilt sowohl mit Blick auf die Trägerschaft als auch mit Blick auf die Nutzung dieser Einrichtung. Dass es Schule als öffentliche Institution geben soll bzw. muss, ist von der Sache her trotz der langen (wenn auch in sich vielschichtigen) Geschichte dieser Institution keineswegs zwangsläufig. Eine Rückfrage könnte beispielsweise lauten, ob für die Aufrechterhaltung von Kultur nicht die Erziehung in der Familie bzw. in der Struktur des »ganzen Hauses« ausreicht. Die Antwort von Luther, bei dem einige Interpreten ja auch bereits eine Schulpflicht22 ausgemacht haben wollen, ist hier eindeutig: Familie durchaus, aber keinesfalls nur. Dies würde für die Gestaltung der Kultur nicht ausreichen. Es ist ein im protestantischen Glauben wurzelnder Auftrag, danach zu fragen, warum und wie Schule als Teil der allgemeinen Kulturentwicklung und Kulturbewahrung gestaltet werden soll. Dieser Aspekt wird gerade anhand der Diskussion um die Trägerschaft der öffentlichen Schule in Luthers erster Schulschrift aus dem Jahr 1524 deutlich. Hier erweist sich als Leitmotiv, dass die öffentliche Institution die LehrLern-Prozesse in der Familie zu ergänzen hat. In diesem Sinne ergeht 1524 an die Ratsherrn aller Städte deutschen Landes die Aufforderung, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen. Luther begründet, dass eine institutionelle Inszenierung von Lehren und Lernen neben den Erziehungsprozessen in der Familie unabdingbar ist. Durch das Lernen innerhalb der Familie alleine kann die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Kultur nicht gewährleistet werden. Die Eltern können die notwendigen Lehrangebote nicht sicherstellen. Das es von den elltern nicht geschicht / hat mancherley ursach.23 Das Versagen der Familie sei ganz offensichtlich, die Gründe hierfür vielfältig: mangelnder Wille,24 schlichte Unfähigkeit,25 Zeitmangel,
22 Vgl. hierzu REIMERS, EDGAR: Recht und Grenzen einer Berufung auf Luther in den neueren Bemühungen um eine evangelische Erziehung, Weinheim 1958 und REININGHAUS, WERNER: Elternstand, Obrigkeit und Schule bei Luther, Heidelberg 1969. 23 LUTHER, »Ratsherren«, a. a. O., S. 447. 24 Auffs erst / sind etliche auch nicht so frum und redlich / das sie es thetten / ob sie es gleich kundten. (Ebd.). 25 Auffs ander / so ist der grössest hauffe der elltern leyder ungeschickt dazu / und nicht weys / wie man kinder zihen und lernen soll. (A. a. O., S. 448).
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Raummangel26 etc. Es muss eine Institution neben der Familie geben – neben der Familie, der Luther mit der Elementardidaktik der Katechismen an anderer Stelle höchste Wertschätzung für die Gestaltung der Generationenabfolge zukommen lässt. Nun könnte man einwenden, dass Luther nicht so dumm war, dass er die Notwendigkeit der zu seiner Zeit auch durch die humanistischen Reformen bewährte Institution »Schule« hätte leugnen können. Luther – so ein möglicher Gedanke – schließt sich schlicht an die von den Humanisten27 eh schon in Gang gebrachte Debatte an, nach der besten Form von »Schule« zu suchen. Sicher ist dies richtig. Aber: Der Verweis auf die Humanisten alleine wäre zu kurz gegriffen. Luther formuliert in seinen Schulschriften ein Profil evangelischer Verantwortung für die öffentliche Institution »Schule« als Form, eine Begründung dafür, warum und wie eine Verantwortung für »Schule« als institutionellem Erzieher dem christlichen Glauben entspringt. Es ist die Institution als Institution, die es letztlich aus der Verantwortungsperspektive der älteren Generationen aus kulturellen Gründen zu schaffen und zu bewahren gilt, denn es sei nicht müglich / das sich das tolle volck sollt selbs leren und halten / darumb hat sie uns Gott befolhen / die wir allt und erfaren sind / was yhn gut ist.28 Die Suche nach der angemessenen Trägerschaft steht 1524 im Hintergrund von Luthers Appell An die Bürgermeister und Ratsherren aller Städte in deutschen Landen, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen. Im ausgehenden Mittelalter hatte sich eine bunte Schulvielfalt von Winkelschule bis humanistischer Lateinschule entwickelt, in der neben Einzelinitiativen vor allem zwei Träger anzutreffen waren: die Kirche unter anderem mit den Domund Klosterschulen und die Städte. In dieser Konstellation musste Luther sich scheinbar zwangsläufig für die politischen Regenten der Städte als Träger von Schule entscheiden, da die andere Möglichkeit aufgrund seiner Distanzierung vom römischen Katholizismus und seiner Kritik an der Klosterkultur von vorneherein ausschied. Es war jedoch nicht nur diese kirchenpolitische Ablehnung, die Luther seine Gedanken an die Ratsherren adressieren ließ. Diese Entscheidung entsprang vielmehr auch der theologischen Entscheidung, dass das institutionelle Lehren und Lernen als Grundlage der Kulturtradierung dem weltlichen Regiment zuzuordnen sei. Dies ergibt sich aus der Differenzierung der beiden von Gott eingesetzten Regimenter. Von daher ist es nicht nur ein
26 Auffs dritte / ob gleich die elltern geschickt weren und wolltens gerne selbs thun / so haben sie fur andern geschefften und haus hallten widder zeyt noch raum dazu. (Ebd.). 27 Zum schulreformerischen Kontext vgl. SCHEEL, OTTO: »Luther und die Schule seiner Zeit«, in: Lutherjahrbuch 7 / 1925, S. 141–175; HAHN, FRIEDRICH: Die evangelische Unterweisung in den Schulen des 16.Jahrhunderts, Heidelberg 1957 und GOEBEL, KLAUS: »Luther als Reformer der Schule«, in: Ders. (Hrsg.), Luther in der Schule – Beiträge zur Erziehungsund Schulgeschichte, Pädagogik und Theologie, Bochum 1985, S. 7–26. 28 LUTHER, »Ratsherren«, a. a. O., S. 446.
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Gebot politischer Klugheit, sondern vor allem auch theologisch folgerichtig, dass sich Luther an die Bürgermeister und Ratsherren wendet. In seiner Analyse der Trägerschaft einer öffentlichen Schule unterstreicht Luther zunächst den Aspekt, dass die Herrschaft über die Schule nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht der weltlichen Obrigkeit ist. Denn angesichts der aus verschiedenen Gründen mangelhaften Familienerziehung kann die Obrigkeit nur auf die Weise der Stadt Bestes suchen, dass sie sich selbst der Wahrung und Förderung des Bildungsniveaus annimmt. Darumb wills hie dem Rad und der oberkeyt gepüren / die aller grössesten sorge und fleys auffs junge volck zu haben. Denn weyl der ganzen stad / gutt / ehr / leyb und leben / yhn zu trewer hand befolhen ist / so thetten sie nicht redlich fur Gott und der welt / wo sie der stad gedeyen und besserung nicht suchten mit allem vermügen / tag und nacht.29 Gegenüber den Ratsherren führt Luther drei Begründungen an, warum die Übernahme der Verantwortung für die nachfolgende Generation über die Einrichtung von Schulen durch die Obrigkeit nicht nur notwendig, sondern auch attraktiv ist. Suggestive Werbung und mahnender Appell greifen ineinander. Die Zeit sei geprägt – durch die ökonomische Gunst der Stunde. Es seien Umschichtungen im Haushalt der Städte erforderlich. Es gehe – modern gesprochen – um eine Stärkung der Bildungsausgaben zu Lasten anderer öffentlicher Investitionen. So müsse man ierlich so viel wenden an büchsen / wege / stege / demme / und der gleichen unzelichen stucke mehr / da mit eyne stad zeyttlich fride und gemach habe. Warumb sollt man nicht viel mehr / doch auch so viel wenden an die dürfftige arme iugent / das man eynen geschickten man oder zween hielte zu schulmeystern?30 Gleichzeitig betont Luther die finanzielle Mitverantwortung aller Bürger, auf die die Obrigkeit zurückgreifen müsse. Nach Wegfall von unnützen Kosten für Ablass, Messen usw.31 könnten die Bürger als Dank für die Reformation etwas zu Finanzierung von Schulen beitragen. – durch die Gelegenheit, auf eine bereits bewährte Schulreform im Humanismus zurückgreifen zu können. Ists nicht fur augen / das man ietzt eynen knaben kann ynn dreyen iaren zu richten / das er nun seynem funffzehenden odder achtzehenden iar mehr kann / denn bisher alle hohen schulen und klöster gekund haben ?32 Es gebe gute Lehrer, höhere Lernerfolge in kürzerer Zeit. War das erste Ziel die Abschaffung der alten Schulen, so muss jetzt als zweiter Schritt die Gestaltung besserer Schulen folgen. 29
A. a. O., S. 448. A. a. O., S. 445. 31 Die Rede ist von ablas / messen / vigilien / stifften / testament / iartagen / bettel munchen / bruderschafften / walffarten und was des geschwürms mehr ist (Ebd.). 32 LUTHER, »Ratsherren«, a. a. O., S. 445. 30
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– durch die Möglichkeit, mit der Einrichtung und Pflege von Schulen die Forderung von Gottes Gebot im weltlichen Regiment erfüllen zu können. Hierfür sind insbesondere die Ratsherren verantwortlich. Ja sprichstu / solchs alles ist den elltern gesagt / was gehet das die radherrn und oberkeyt an? Ist recht geredt / ia wie wenn die elltern aber solchs nicht thun? wer solls denn thun? solls drumb nach bleyben und die kinder verseumet werden?33 Der Appell an die Ratsherren enthält zwei Dimensionen: zum einen den Aspekt der Nachrangigkeit staatlichen Eingreifens, also eine Art protestantisches Subsidiaritätsprinzip; zum anderen jedoch zugleich eine Proklamation der Verantwortlichkeit für die Erziehung der nachfolgenden Generation über eine Institution des Lehrens und Lernens, über »Schule«. Die Ratsherren sollen die Verantwortung für die Institution übernehmen. Darin würden sie nicht nur ihren Glaubensgehorsam, sondern auch politische Lebensklugheit zum Ausdruck bringen. Denn die weltliche Obrigkeit ist auch dafür verantwortlich – so die Ermahnung Luthers –, sich selbst zu reproduzieren. Es sei sicherzustellen, dass das weltliche Regiment über genügend fähige Personen verfüge, die die verschiedenen kulturellen Aufgaben zwischen Stadtkämmerei und Diplomatie zu übernehmen in der Lage sind. Der Fehler der »alten« Schulen habe vor allem darin gelegen, diesen Gesichtspunkt nicht gebührend beachtet zu haben. Es sei von der Obrigkeit versäumt worden, ausdrücklich auch für das weltliche Regiment auszubilden.34 Da das weltliche Regiment jedoch gleichfalls von Gott eingesetzt ist, entspricht es den Geboten Gottes, wenn die Obrigkeit auf entsprechend qualifizierten Nachwuchs für ihr eigenes Regiment achtet. Weyl denn eyne stad soll und mus leute haben / und allenthalben der größte gebreche / mangel und klage ist / das an leuten feyle /so mus man nicht harren / bis sie selbs wachsen / man wird sie auch widder aus steynen hawen / noch aus holtz schnitze.35 Notwendig ist hierzu ein Grundmaß an Allgemeinbildung. Dem 1524 von Luther als Niedergang der schulischen Ausbildung interpretierten Wandel setzt er also folgerichtig einen Appell an die Ratsherren entgegen, christliche Schulen auch mit dieser Zielstellung aufzurichten. Die Bewahrung und Weiterentwicklung der Kultur bedarf einer Institution mit ihren auch strukturellen Lernangeboten, die über den »Inhalt« im engeren Sinne hinausgehen. Modern ausgedrückt: Ausbildung von Leistungsbereitschaft, Erlernen bestimmter sozialer Schemata, Vertrautmachen mit dem Evangelium als einer Botschaft, die irdische Existenz nicht primär unter ökonomischen Aspekten zu betrachten. 33
A. a. O., S. 447. Denn wes ist die schuld / das es itzt ynn allen stedten so dünne sihet von geschickten leutten / on der oberkeyt / die das iunge volck hatt lassen auff wachsen wie das holtz ym wald wechst (A. a. O., S. 449). 35 A. a. O., S. 449. 34
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Für den vorliegenden Interpretationszusammenhang wesentlich sind die weiteren Gedanken Luthers zu der Frage, welcher Sinn denn mit der strukturellen Verfasstheit von Schule als System verbunden ist. Zunächst einmal fällt auf, mit welchen Gründen er sich (neben der Frontstellung gegen eine Reduktion der Kulturtradierung auf Familienerziehung) auch gegen Privatunterricht und für öffentliche Schulen ausspricht. Die zucht aber die man daheyme on solche schulen fur nimpt / die will uns weyse machen durch eygen erfarung / ehe das geschicht / so sind wyr hundert mal tod / und haben unser lebenlang alles unbedechtig gehandelt / denn zu eygener erfarung gehört viel zeyt.36 In den öffentlichen Schulen gebe es über den Aspekt solch professioneller Erfahrungskompetenz hinaus bessere Lernbedingungen und nach der neueren Entwicklung auch einen angstfreien Raum. Syntemal es itzt von Gottis gnaden alles also zugericht ist / das die kinder mit lust und spiel leren kunden / es seyen sprachen odder ander künst odder historien. Und ist itzt nicht mehr die helle und das fegfewr unser schulen / da wir ynnen gemartert sind / uber den Casualibus und temporalibus / da wir doch nichts denn eytel nichts gelernt haben durch so viel steupen / zittern / angst und iamer.37 Gerade der letztgenannte Aspekt ist in seiner pädagogisch-atmosphärischen Bedeutung hervorzuheben. Die sozialen Bedingungen dieses öffentlichen Raumes bieten insgesamt den besseren strukturellen Rahmen für die Entwicklung der Kulturfähigkeit des Individuums. Weil diese Grunddimension der Sozialität durch eine öffentliche Schule gefördert wird, muss besonders darauf geachtet werden, dass deren Strukturen selbst nicht destruktiv auf den Lernweg der Kinder wirken. So dürfe es beispielsweise keine zu lange Tagesschulzeit geben, damit die Kinder entweder nebenher noch spielen oder später ein Handwerk lernen könnten.38 Als weiterer systemischer Aspekt in Luthers Schulverständnis kann angeführt werden, dass sich Luther einer ganz wichtigen Anregungsstruktur des öffentlichen Raumes »Schule« besonders widmet: der Bibliothek. Der Einrichtung von Bibliotheken und Büchereien sei besondere Aufmerksamkeit zu widmen, das man fleys und koste nicht spare / gutte librareyen odder bücher heuser / sonderlich ynn den grossen stedten / die solichs wol vermügen / zuuerschaffen.39 Gefragt sei dabei sorgfältige Auswahl der Literatur und Pflege des Bestands. Meyn rad ist nicht / das man on unterschied allerley bücher zu hauff raffe / und nicht mehr gedencke / den nur auff die menge und hauffen.40 Angesichts der bereits von Luther als Problem beklagten Bücherflut41 komme 36
A. a. O., S. 457. A. a. O., S. 457f. 38 Vgl. a. a. O., S. 458. 39 A. a. O., S. 460 40 A. a. O., S. 462. 41 Vgl. a. a. O., S. 463. 37
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es entscheidend darauf an, sich auf die maßgeblichen Bücher zu konzentrieren. Was er selbst hierzu rechnet, ist nicht allzu überraschend: die Bibel in allen sprachlichen Fassungen, Kommentare und Sprachbücher, aber natürlich auch Schriften der freien Künste, Schriften aus Jura und Medizin sowie Geschichtsbücher. Der entscheidende Punkt für den vorliegenden Interpretationszusammenhang: Luther begreift die Ausstattung der Bücherei als eine erzieherische Herausforderung. Das, was präsentiert (und natürlich das, was verborgen) werden soll, steuert das Lernen von Kindern und Jugendlichen entscheidend mit. Auswahl muss getroffen werden, Selektion ist unumgänglich, gerade weil die Beschaffenheit der Bücherei an sich bereits einen strukturellen Lernappell mit sich führt. Wenn heute das Verhältnis Kirche und Schule in der Öffentlichkeit diskutiert wird, so richtet sich die Aufmerksamkeit oftmals auf Fragen des Unterrichts – gefragt wird nach der Notwendigkeit eines Faches und (wenn dieses bejaht wird) nach dessen angemessener Gestalt. Auf dem Hintergrund der hier entwickelten Lesart von Luthers Schriften ist im Rahmen systemischer Schulentwicklungsansätze festzuhalten, dass es im Hinblick auf »Schule« keineswegs nur um die Gestaltung von Unterrichtsfächern, sondern um die Mitverantwortlichkeit für eine Institution geht, die für die Inszenierung von LehrLern-Prozessen im Generationenverhältnis konstitutiv ist. Diese erzieherische Bedeutung des Institutionellen kann auch aus der Perspektive des individuellen Lernwegs entwickelt werden. Ein solcher Akzent kommt in Luthers Predigt aus dem Jahr 1530 zur Geltung. Luther vollzieht hier eine zugleich anthropologische und systemische Analyse der Bedingungen des Lernens in seiner Zeit. Dabei argumentiert Luther mit Blick auf Lehrleistung weitgehend strukturanalytisch. Er diskutiert gerade nicht nur was in der Schule, sondern vor allem, was durch die Schule gelernt wird. Die Institution als Institution erbringt jenes Bündel an Erziehungsimpulsen, das zur Aufrechterhaltung des geistigen und weltlichen Amtes als Grunddimensionen der Kultur erforderlich ist. Die Reform auf pädagogischem Gebiet ist beachtlich. Und sonderlich zu unsern zeiten / ists ja leicht solche personen zu erzihen / die das Evangelion und den Catechismus lernen mügen / weil jtzt nicht allein die heilige schrifft / sondern auch allerley kunst reichlich am tage ist / mit so viel büchern / lesen / predigen (Gott lob) das man inn dreien jaren / mehr kann lernen / denn vorhin inn zwentzigen.42 Es beginnt bei Luther mit einer ökonomischen Strukturanalyse von Schule und Alltag. Der kurze Weg zum Broterwerb würde höher eingeschätzt als der beschwerliche Pfad schulischen Lernens – so die maßgebliche Frontstellung, gegen die Luther hier anredet. Anlass der Schrift war die bereits oben skizzierte Beobachtung, dass viele Eltern sich weigerten, ihre Kinder in das inzwischen grundlegend etablierte Schulsystem zu schicken. Nicht die Auf 42
LUTHER, »Predigt« a. a. O, S. 159.
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rechterhaltung und Weiterentwicklung der Kultur, sondern »Nahrung und Bauch« seien die irregeleiteten Wertmaßstäbe der Eltern. Dies habe dazu geführt, Kinder so früh wie möglich in den Gelderwerb einzuspannen. Gegen diese ökonomischen Interessen lässt Luther predigen, dass das geistliche und weltliche Regiment mit Führungspersönlichkeiten versorgt und weiterentwickelt werden muss. Darumb / gleich wie des predig ampts werck und ehre ist / das es aus sundern / eitel heiligen/ aus todten / lebendige / aus verdampten / seligen / aus teuffels dienern / Gottes kinder macht / Also ist des welltlichen regiments werck und ehre / das es aus wilden thieren / menschen macht / und menschen erhellt / das sie nicht wilde thiere werden.43 Es geht insgesamt um die Entwicklung und Wahrung kultureller Standards. Wenn er in diesem Zusammenhang für den geistlichen Stand werbe, so meine er damit nicht den negativen Zustand früherer Zeiten. Vielmehr sei der neue geistige Stand geprägt durch Predigtdienst und Verwaltung der Sakramente. Zu den Ämtern in diesem Stand gehöre neben dem Pfarramt und dem Predigtdienst auch das Amt des Lehrers. Dabei gebe es nicht nur ein innerkirchliches Werk des geistlichen Standes. Vielmehr habe dieser alle Stände zu unterweisen, ihnen entsprechende Anweisungen zu geben und der Aufrechterhaltung des Friedens zu dienen. Der zeitliche Frieden ist dabei ein großes Werk. Insgesamt habe die Aufrechterhaltung des geistlichen Standes auch eine konstitutive Bedeutung für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der menschlichen Kultur, insofern aus dem Evangelium auch eine bestimmte Interpretation der Wirklichkeit folgt. Diese Interpretation der Wirklichkeit als einer spezifischen innerweltlichen und zugleich von Gott so gedachten Ordnung hat das geistliche Amt in Wort und Tat zu repräsentieren. Die Vertreter des geistlichen Amtes tun dies, indem sie alle stende berichtet und unterweiset / wie sie eusserlich inn ihren ampten und stenden sich halten sollen / da mit sie für Gott recht thun / kann die betrubten trosten / rat geben / böse sachen schlichten / irrige gewissen entrichten / fride helffen halten / sünen / vertragen / und der werck on zal viel und teglich/ Denn ein prediger / bestettigt / sterckt und hilfft erhalten alle Oberkeit / allen zeitlichen friede / steuert den auffrurischen / leret gehorsam / sitten / zucht und ehre / Unterricht Vater ampt / mutter ampt / kinder ampt / knecht ampt / und summa / alle weltliche empter und stende.44 Zentrale Aufgabe des gesamten Systems Schule ist danach die der Evangeliumsübermittlung als Fundament auch der innerweltlichen Entwicklung. Auf dies sei die Unterweisung der Kinder auszurichten. Luther verweist als Maßstab darauf, dass ein Kind nicht lediglich der Wirtschaftlichkeit zu dienen habe. Vielmehr solle es zu einem alltagsrelevanten »Gottesdienst« im Sinne einer entsprechenden Lebensweise herangezogen werden. Dies zu fördern 43 44
A. a. O., S. 163. A. a. O., S. 154f.
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liege zwar in der individuellen Verantwortung jedes Einzelnen, werde aber durch die (strukturellen) Lernangebote der öffentlichen Schule nachhaltig unterstützt. Luther fordert in diesem Zusammenhang eine Stipendienstruktur für die Ärmsten45 und befürwortet eine Grundausbildung für alle. Hierzu zählt er Lateinkenntnisse, Lesen und Schreiben. Er verweist wiederum auf den Fortschritt in den Erziehungsmethoden und darauf, dass jetzt schneller ein höherer Lernerfolg erzielt werden könne. Der Ansicht, dass Bildung auch Verführung zum Unglauben beinhalten könne, entgegnet er schlicht, dass dieses Risiko gewagt werden müsse. Neben der Aufrechterhaltung des geistlichen Standes falle die Erhaltung des weltlichen Regiments ebenfalls in den Verantwortungsbereich aller Menschen, auch wenn alle Werke dieses Standes allein in das zeitlich-vergängliche Leben gehören. Der weltliche Stand ist unbedingt erforderlich zur Aufrechterhaltung der Sozialordnung und unterscheidet den Menschen von den Tieren. welltliche herrschaft / ist ein bilde / schatten und figur / der herrschafft Christi / Denn das predig ampt … bringt und gibt ewige gerechtigkeit / ewigen fride und ewiges leben / … Aber das welltlich regiment / erhelt zeitlichen und vergenglichen frieden recht und leben.46 Das Priestertum aller Gläubigen ist an diesem zentralen Punkt der Kulturtradierung nicht nur Befreiung, sondern ganz zentral Verpflichtung. Im weltlichen Regiment dürfen nicht Faustrecht und Gewalt regieren, sondern Weisheit und Vernunft sollen hier walten. Hierzu trügen vor allem die Juristen bei, deren Ausbildung in den Lateinschulen vorbereitet werden soll. Zu den Juristen zählt Luther die Kanzler, Schreiber, Richter und Notare. Die Juristen erhielten das ganze weltliche Regiment und dienten so dem Schutz des Lebens und der Güter. Zur Ausbildung für das weltliche Amt ist eine entsprechende Schulausbildung die Voraussetzung. Wer seine Kinder nicht zur Schule schickt, trägt so indirekt die Schuld für den Niedergang der gesamtkulturellen Entwicklung. Luther wirbt für den Besuch der öffentlichen Schule mit Blick sowohl auf das geistige als auch auf das weltliche Amt mit durchaus guten Beschäftigungsaussichten. Auch so rechen du selbs / wie viel pfarrhen und Predigstuele / Schulen / Kustereien fur handen sind / die noch jtzt das mehrer teil gnugsam versorget sind / und teglich ledig werden.47 Auch gebe es ein hohes Ansehen der einzelnen Ämter und indirekt sogar auch eine Brechung der Standesgrenzen. Kritisch merkt Luther mit Blick auf die äußeren Strukturbedingungen der Schule die mangelnde Besoldung der Lehrer an. In letzter Konsequenz billigt 45
Darum wache hie / wer wachen kann / Die oberkeit / wo sie einen tüchtigen knaben sihet/ das sie den zur schulen halten lasse / Ist der vater arm / so helfe man mit kirchen gütern da zu. Hie sollten die reichen ihre testament zu geben / wie denn die gethan haben / die ettliche stipendia gestifft haben (LUTHER, »Predigt« a. a. O., S. 178). 46 A. a. O., S. 162. 47 A. a. O., S. 160.
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er bei der Unwilligkeit der Bevölkerung die Durchsetzung eines Schulzwangs zu. Ich halt aber / das auch die oberkeit hie schuldig sey die unterthanen zu zwingen / ihre kinder zur schulen zu halten.48 An diesem Punkt wird implizit deutlich, dass die Sorge um die Schule und deren institutionelle Verfasstheit zugleich eine Sorge um die Wahrung und Weiterentwicklung der Kultur ist. Dieser kurze, hermeneutisch fokussierte Durchgang durch Luthers Schulschriften war von der Frage geleitet worden, welche Bedeutung für Luther der institutionelle Charakter von Schule hat. Der Befund ist zunächst sehr schlicht, dass die beiden genannten Schriften sich explizit mit der Einrichtung beziehungsweise Ausgestaltung dieser Institution als Institution befasst haben. Schule wird weder in ihrer bloßen Existenz noch in ihrer Nutzung als selbstverständlich vorausgesetzt. Deswegen argumentiert Luther auf dem Hintergrund der humanistischen Bildungsreform für das Institutionelle in politischer Verantwortung mit den ausgeführten Akzenten. Eine Beachtung der erzieherischen Bedeutung von strukturellen Dimensionen ist – aus heutiger Sicht – an verschiedenen Punkten in Luthers Schulschriften angelegt. Letztlich sieht Luther die Verantwortlichkeit für die öffentliche Erziehung gerade darin, sich über die Wirkungen der verschiedenen Strukturen im öffentlichen Raum »Schule« Rechenschaft abzulegen und entsprechend verantwortliche Gestaltungen vorzunehmen. Er begreift die verantwortliche Ausgestaltung der Institution »Schule« im Sinne eines Kulturraums als eine zentrale Herausforderung für die protestantische Gestaltung (s)einer Gegenwart.
Quellen- und Literaturverzeichnis ASHEIM, IVAR: Glaube und Erziehung bei Luther. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik, Heidelberg 1961. CARSTENS, LARS OLIVER: Luther als Pädagoge. Studien zur Relevanz pädagogischer Grundgedanken Martin Luthers in einer wertunsicheren Welt, Aachen 1999. DREEBEN, ROBERT: Was wir in der Schule lernen, Frankfurt 1980. EGGERS, PHILIPP: »Zur Differenzierung der funktionalen Erziehung«, in: Pädagogische Rundschau 21 / 1967, S. 860–868. FALK, FRIEDRICH: »Luthers Schrift an die Ratsherren der deutschen Städte und ihre geschichtliche Wirkung auf die deutsche Schule«, in: Lutherjahrbuch 19 / 1937, S. 55–114. GOEBEL, KLAUS: »Luther als Reformer der Schule«, in: Ders. (Hrsg.), Luther in der Schule – Beiträge zur Erziehungs- und Schulgeschichte, Pädagogik und Theologie, Bochum 1985, S. 7–26. HAHN, FRIEDRICH: Die evangelische Unterweisung in den Schulen des 16. Jahrhunderts, Heidelberg 1957. HOFMANN, FRANZ (Hrsg.): Pädagogik und Reformation. Von Luther bis Paracelsus. Zeitgenössische Schriften und Dokumente, Berlin/Ost 1986.
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A.a.O., S. 177.
Schule als strukturelles Arrangement
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Lern- und Lektüreempfehlungen im Briefwechsel des Benediktiners Nikolaus Ellenbog (1481–1543) aus Ottobeuren Harald Müller »Wie groß der Nutzen für Euer Kloster sein wird, ist kaum in Worte zu fassen. Nachdem endlich der Barbarismus überwunden ist, sorgt dafür, dass Ihr wahrhaft lateinisch redet, damit ihr vollkommen versteht, was ihr lest und singt. Das schreibe ich aufrechten Sinnes, Eure Unkenntnis bedauernd.«1
Mit diesen großen Worten empfahl Nikolaus Ellenbog der Äbtissin von Heggbach die Anschaffung eines kleinen Buches, des lateinisch-deutschen Wörterbuchs des Petrus Dasypodius.2 Gut gemeinter Rat zur Verbesserung der Lateinkenntnisse, ausgesprochen von einem umfassend gebildeten Benediktiner. Ellenbog war Sohn des Memminger Stadtarztes Ulrich Ellenbog, der in höchsten gelehrten Kreisen Süddeutschlands verkehrte. Er studierte in Heidelberg, Krakau und Montpellier die Fächer Theologie, Astronomie und Medizin und war auf dem Wege, in die Fußstapfen seines Vaters als Arzt zu treten.3 Dann aber legte er 1506 in Ottobeuren Profess ab. Er brach mit seinem vorherigen Leben, nicht aber mit seinen Interessen. Gerade hierfür sah er in seinem Kloster den besten Nährboden. Garant dafür war ihm Abt Leonard Widenmann, den Ellenbog in einem Brief an einen Freund wie folgt beschreibt: 1
ELLENBOG, NIKOLAUS: Briefwechsel, hrsg. v. Andreas Bigelmair / Friedrich Zoepfl (Corpus Catholicorum 19/21), Münster 1938 [künftig zitiert als Briefwechsel Ellenbog], S. 443 Nr. IX.12, 1541 Dez. 21 (nur Regest) = Paris 3 fol. 139v: Quanta enim utilitas inde monasterio vestro accessura sit, uerbis vix exprimi posset. Abiecto igitur tandem barbarismo, curate ut vere latine reddamini, ut ea quae legitis et cantatis ad amussim intelligatis. Haec plane scripsi sincero animo, condolens vestre ignorantie. Zur Zitierweise der ungedruckten Briefpassagen vgl. unten Anm. 9. Ich danke meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mich bei der Erschließung der Briefe engagiert und zuverlässig unterstützt haben. 2 PETRUS DASYPODIUS: Dictionarium Latinogermanicum, Straßburg 1535, mehrfach nachgedruckt wurde die zweite Auflage von 1537. 3 Zu Ellenbog, seinen Briefen und seiner Einordnung in den Humanismus vgl. DÖRNER, GERALD: »Ellenbog, Nikolaus«, in: Franz Josef Worstbrock (Hrsg.), Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, Bd. 1, Berlin 2006, Sp. 600–614; MÜLLER, HARALD: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog (Spätmittelalter und Reformation, N. R. 32), Tübingen 2006, S. 245–293.
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»Ich erwarte im Übrigen, dass Du mir zu meinem Glück gratulierst, das ich in meinem hochwürdigen Abt gefunden habe, der die schönen Wissenschaften genauso fördert, daß es den Glauben übersteigt. Er arbeitet Tag und Nacht daran, Bücher herbei zu schaffen, nicht nur lateinische, sondern auch hebräische und griechische. Und er hat sogar dem Johannes Reuchlin geschrieben, dieser möge einen konvertierten Juden in unsere Abtei schicken, um mich im Hebräischen zu unterrichten.«4
Goldene Zeiten schienen für Nikolaus Ellenbog angebrochen, ja er sah gleichsam das von Platon entworfene Ideal der Philosophenkönige in seiner Abtei vor der Verwirklichung.5 Jedoch war dies nur die eine Seite der Medaille, denn zur selben Zeit erfuhr er Widerstand von seinen Mitmönchen. Insbesondere das Erlernen des Hebräischen behagte den Benediktinern nicht. Der konvertierte Jude, der eigens in die Abtei geschickt worden war, verließ Ottobeuren nach wenigen Wochen heftigster Anfeindungen. Der humanistisch begeisterte Ellenbog war auf sich selbst zurückgeworfen und sah sich mit dem Vorwurf der Mitbrüder konfrontiert, er betreibe nutzlose und sogar gefährliche Dinge.6 Die Sprache der Zeit kleidete diesen Vorwurf in das Wort curiositas – Neugier. Während der Begriff Neugier heute eher positiv besetzt ist, brandmarkte er damals, insbesondere im klerikalen Milieu, den überheblichen Verstoß des Menschen gegen gottgegebene Wissensgrenzen: aus eigener Kraft erkennen zu wollen, statt auf das Wissen zu vertrauen, das von Gott zugeteilt wurde. Für einen Mönch, der Gehorsam und Demut zu den zentralen Leitbildern seines Lebens gewählt hatte, wog ein solcher Vorwurf besonders schwer, konnte gar zum existenzbedrohenden Stigma werden.7 4
Briefwechsel Ellenbog, S. 34f. Nr. I.53, 1508 Sept. 7, an den Kemptener musicus Alexius Wagner, hier S. 34: Caeterum gratulari te mihi velim de foelicitate mea, quam nactus sum in abbate patre meo dignissimo, qui tam politiores fovet literas, ut fidem superet. Laborat ille dies noctesque, ut codices, non Latinos modo, verum et Hebraicos ac Graecos conquirat. Pro neophyto praeterea ex Hebraeis converso, qui me in Hebraeo instituat, ad Capnionem, virum doctissimum, scripsit. 5 Briefwechsel Ellenbog, S. 34f. Nr. I.53, 1508 Nov. 7, hier S. 34f.: Incidimus sane nunc, Alexi charissime, non in aureum Saturni saeculum, sed ea foelicissima tempora, quae philosophorum primarius Plato verissime praevidit, ut tum in quinto eius de re publica libro, tum in epistola ad Didonis amicos scripta legimus: tum scilicet demum bene sese humanum genus habiturum, quum aut homines recte vereque philosophantes rerum publicarum gubernationem adepti fuerint, aut, qui gubernant, divina quadam sorte philosophentur. 6 Vgl. MÜLLER, Habit, S. 270–273, 275–277. Die Reuchlin-Briefe um den HebräischUnterricht in Ottobeuren haben mehrfach Aufmerksamkeit gefunden, zuletzt bei POSSET, FRANZ: Renaissance Monks. Monastic Humanism in Six Biographical Sketches (Studies in Medieval and Refomation Traditions 108), Leiden / Boston 2005, S. 155–175, hier S. 159– 163; vgl. zu diesem Buch und speziell zum Beitrag über Ellenbog darin die kritischen Bemerkungen des Verfassers in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen, 31 / 2007, 1, S. 56–60. 7 Grundlegend dazu OBERMAN, HEIKO A.: Contra vanam curiositatem. Ein Kapitel der Theologie zwischen Seelenwinkel und Weltall, Zürich 1974. Vgl. zur semantischen Verfestigung BÖS, GUNTHER: Curiositas. Die Rezeption eines antiken Begriffes durch christliche
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Geradezu unerträglich wurde es für Nikolaus, als sich später auch sein Abt mehr und mehr von ihm abwandte. Den Höhepunkt des Dramas bildete die Einrichtung eines Studienzentrums in Ottobeuren 1542. Nikolaus hatte gehofft, dort am Ende seines Lebens – gewissermaßen als Seniorstudent – noch einmal Vorlesungen in Griechisch und Philosophie zu hören. Doch Abt Leonhard, in den er bei seinem Klosterereintritt so große Hoffnungen gesetzt hatte, verweigerte seine Zustimmung. Ellenbog hat diese Absage nie verwunden und nur um kurze Zeit überlebt.8 Im Leben eines so vielseitig gebildeten Mannes muss das Thema Lernen zwangsläufig eine große Rolle gespielt haben. Wir sind in der glücklichen Lage, seine persönlichen Einstellungen zumindest in Ansätzen verfolgen zu können, denn der Benediktiner hinterließ ein stattliches Briefcorpus, das auch praktische Ratschläge zum Bildungserwerb bereithält. Fast 900 Litterae zählt der briefliche Nachlass des Mönchs aus Ottobeuren, gegliedert in neun Bücher zu jeweils 100 Stück, wobei der Tod dem Verfasser kurz vor Vollendung der letzten Zenturie die Feder aus der Hand nahm. Die dichte Korrespondenz, die die Umbruchsituation zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus der Perspektive der Klosterzelle dokumentiert, steht in einer guten Teiledition zur Verfügung, der allein die selektive Beachtung des immensen Quellenbestands zum Vorwurf gemacht werden kann. Erschienen 1938 in der Reihe Corpus Catholicorum, ruht das Hauptaugenmerk der Textausgabe auf kirchengeschichtlichen und theologischen Aspekten. Bei randständiger erscheinenden Inhalten begnügten sich die Editoren mit einem Kurzregest der betreffenden Briefe. Mancher Hinweis auf unser Thema und auf humanistische Bildungsinteressen im Speziellen ist daher erst aus der Durchsicht der ungedruckten Briefe zu gewinnen.9 Besonders stechen Ellenbogs Briefe an seine Schwester Barbara hervor, die dem Zisterzienserinnenkloster Heggbach im Landkreis Biberach in den Jahren 1515–1526 als Äbtissin vorstand. Noch andere Nonnen dieses Klosters Autoren bis Thomas von Aquin (Veröfftl. des Grabmann-Institutes N.F. 39), Paderborn u. a. 1995; und zur diskursiven Qualität des Vorwurfs im Kloster MÜLLER, Habit, S. 111–117. 8 Ebd., S. 278–283. 9 Zum Briefcorpus und den Editionsprinzipien vgl. Briefwechsel Ellenbog, S. XCVI– CVII; MÜLLER, Habit, S. 246–248; DÖRNER, Ellenbog, Sp. 602f. Im Folgenden werden für die ersten beiden Bücher des Briefwechsels die Handschrift Stuttgart, Württembergische Landesbibl., Cod. hist. 99 (zitiert: Stuttgart), für die Bücher III–IX die von Etienne Baluze 1670 erworbenen drei Bände Paris, Bibliothèque Nationale de France, ms. lat. 8643, vol. I–III (zitiert: Paris 1–3) als Textgrundlage benutzt. Es handelt sich jeweils um von Ellenbog veranlasste und zum Teil selbst angefertigte Sammelbände, aus denen später weitere Abschriften vorgenommen wurden. Die Briefzählung (mit Buch und Nummer) und Datierung nach der Ausgabe von Bigelmair und Zoepfl wird stets als Referenz angegeben, auch wenn dort nur ein Regest geboten wird. Ellenbogs Briefpartner sind in der Summe keineswegs »mostly […] other humanists«, wie POSSET, Renaissance Monks, S. 157, meint.
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sind als Adressatinnen zu verzeichnen.10 Ellenbogs Heggbacher Korrespondenz soll daher im Folgenden etwas intensiver beleuchtet und zugleich die Spannweite angedeutet werden, die das Lernen im gesamten Briefwechsel erkennen lässt. Aus spärlichen Schlaglichtern auf Einzelthemen wie Sprachkompetenz, Philosophie und funktionsorientierten Wissenserwerb kann sicherlich kein homogenes Lernkonzept Ellenbogs oder gar ein Bildungsprofil abgeleitet werden. Die einzigartige Quellenlage erlaubt es jedoch, eine Vorstellung von den individuellen Ansichten eines gut ausgebildeten, vielleicht sogar gelehrten Mannes zu Wissenserwerb und Wissensvermittlung herauszuarbeiten und sie für eine spätere Konfrontation mit dem bereitzustellen, was wir aus Bildungsprogrammatik und Bildungspraxis etwa der Universitäten wissen. Die einzelnen Themenbereiche geben die Struktur der folgenden Seiten vor. Ein erster Teil ist der Sprachkompetenz im Allgemeinen mit der Auffächerung in die Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch gewidmet. Ein zweiter Teil konkretisiert dies am Beispiel der Empfehlungen Ellenbogs an die Nonnen in Heggbach. Gerade weil die Ratschläge zum Wissenserwerb durchweg im klösterlichen Umfeld verortet sind, stellt sich durchgehend und abschließend die Frage nach der Funktionsorientierung dieses Lernens. Wenn es gelingt, die Einzelempfehlungen am Ende wieder auf den Benediktinermönch Ellenbog zurück zu lenken und als seine persönlichen, nach außen getragenen Bildungsrezepte zu charakterisieren, wäre diese kleine Stichprobe erfolgreich abgeschlossen.
1. Erwerb und Perfektionierung der Sprachen Die zentrale Rolle der Sprache für die Bildungsbewegung des RenaissanceHumanismus braucht an dieser Stelle nicht eigens betont zu werden. In funktionaler Hinsicht eröffnete erst die Sprachbeherrschung den Zugang zu den Wissens-Kosmen aus Antike und Gegenwart. Im Hinblick auf das Selbstverständnis der Humanisten kam der eloquentia eine doppelte Rolle zu: Sie war ein demonstrativ inszeniertes, distinktives Merkmal, das den Könner vom Anfänger unterschied und ihn erst recht vom sprachlichen rusticus trennte. Diese Qualität machte die geschliffene Beredsamkeit gleichermaßen zu einem inhaltlichen wie zu einem sozialen Zielpunkt der Bildungsanstrengungen.11 10
Zu Heggbach und Ellenbogs Briefkontakten vgl. unten bei Anm. 26. Eine Auflistung der Heggbach-Betreffe aus dem Briefwechsel Ellenbogs erfolgt im Anhang des Beitrags. 11 Eine magistrale Einführung bietet MERTENS, DIETER: »Deutscher Renaissance-Humanismus«, in: Humanismus in Europa, hg. von der Stiftung ›Humanismus heute‹ des Landes Baden-Württemberg, Heidelberg 1998, S. 187–210; ein prägnanter Überblick bei WALTHER, GERRIT: »Humanismus«, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5,
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Für Fortschritte in diesem Bemühen gab Ellenbog konkrete Anweisungen. 1504 erinnerte er seinen Bruder Ulrich an die Bedeutung der Epistolographie für die Ausbildung in der Rhetorik.12 Die Ottobeurer Novizen mussten daher später unter seiner Anleitung Briefe schreiben, um ihr Latein zu verbessern. Frater Leonhard aus dem Heiligkreuzkloster in Donauwörth ermunterte er, täglich einen Brief zu schreiben und die Korrekturen zu verinnerlichen, dann werde er bald ein latinissimus sein.13 Ellenbog empfahl dieses Verfahren mehrfach als Weg der graduellen Aneignung der lateinischen Sprache, der vom Exerzitium des täglichen Briefes über kleinere Werke bis hin zur eleganten Sprachbeherrschung führen sollte.14 Das verhaltene Lob einer Schüler Stuttgart / Weimar 2007, Sp. 665–692. Guten Zugang zu den sprachbasierten Zielen und Methoden des Humanismus eröffnen z. B. JENSEN, KRISTIAN: »The Humanist Reform of Latin and Latin Teaching«, in: Jill Kraye (Hrsg.), The companion to Renaissance humanism, Cambridge 1996, S. 63–81; MACK, PETER: »Humanist Rhetoric and Dialectic«, in: ebd., S. 82–99, mit dem Kernsatz: »The whole purpose of the humanist educational programme was to create readers and writers« (S. 92). WORSTBROCK, FRANZ JOSEF: »Imitatio in Augsburg. Zur Physiognomie des deutschen Frühhumanismus«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 129 / 2000, S. 187–201, demonstriert, wie die Beherrschung von Latinität und Antikewissen von den Humanisten geradezu als abgrenzender Code benutzt wurde; dazu auch MÜLLER, Habit, S. 55–72. Zur selbstvergewissernden Gegenüberstellung von (sprachbasierter) humanitas und rusticitas vgl. etwa GOSSEMBROT, SIGISMUND: »Rechtfertigung der Poesie«, in: Hans Rupprich (Hrsg.), Humanismus und Renaissance in den deutschen Städten und an den Universitäten (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Reihe Humanismus und Renaissance 2), Stuttgart 1935 (ND Darmstadt 1964), S. 93–100, hier S. 100: Mea quidem sententia: blaesus et mancus in litteris est is, qui poetas non didicit. Nam de vita et moribus praecomode, multaque sapienter ab illis dicta ediscere quibit. Naturaeque generationes et principia et causae, et quasi doctrinarum omnium semina, in illis reperiuntur, et inest auctoritas magna propter elegantiam, et ingenuitas quaedam liberis hominibus digna, ut cui hoc non adsit, paene subrusticus videatur. Weitere Beispiele bei MÜLLER, Habit, S. 343 Anm. 178. 12 Briefwechsel Ellenbog, S. 3 Nr. I.5, 1504 Juni 7 (nur Regest). Eine der zahlreichen Mahnungen zum fleißigen Briefeschreiben ist ebd., S. 283 Nr. V.64, 1530 Dez. 29, an Jakob Bers (nur Regest). 13 Briefwechsel Ellenbog, S. 282 Nr. V.61, 1530 Dez. 18, an Jakob Bers, Diakon aus St. Gallen (nur Regest) = Paris 2, fol. 49rv, hier fol. 49r.: […] quemadmodum tres nouicii auditores mei ad id teneantur, ut nonnullas epistolas conscribant eloquio latino. Ellenbog betont, dass im Kloster wegen des Schweigegebots wenig Gelegenheit zum Sprechen ist. Ebd., S. 271 Nr. V.42–44, (1530) an Bruder Leonhard aus Donauwörth (nur Regest), nochmals der Hinweis, Kunstfertigkeit im Briefeschreiben erlange man durch häufiges Lesen und Schreiben: perge quaeso scribendo singulo quoque die, et ut pollicitus sum [statt gestrichen es], brevi latinissimus evades (fol. 36v). Ellenbog zeigte sich bereit, mit Leonhard eine Art Korrespondenzschulung durchzuführen. 14 Ebd., S. 282 Nr. V.61, 1530 Dez. 18, an Jakob Bers, Diakon aus St. Gallen (nur Regest) = Paris 2, fol. 49rv: Quum autem nobis in monasterio arctissimum prefigatur silentium, raraque sit loquendi licentia, longeque rarior sit cum quo latine loquitur [statt gestrichen loqueris], id saltem refugii queramus, ut vel scribendo nos exercitemus eaque, quae apud eruditos ac latinissimos quosque viros legimus scribendo in usum ducamus (fol. 49r). Ellenbog skiz-
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arbeit zeigt den Zielpunkt: Tullianam necdum redolent eloquentiam – nach Ciceronischer Beredsamkeit dufteten die Briefe noch nicht ganz.15 Neben dem geläufigen Heros Cicero besaß in Ellenbogs Kosmos der Sprachautoritäten noch Angelo Poliziano eine Vorbildfunktion, dessen brevitas Ellenbog besonders schätzte.16 Konkrete Empfehlungen gab Ellenbog 1510 auch dem Leiter der Memminger Lateinschule. Lateinische Grammatik sollte nach Aelius Donatus unterrichtet werden, das Briefe schreiben nach dem Vorbild des italienischen Humanisten Francesco Filelfo.17 Ob man diesem Lehrplan folgte, ist nicht bekannt. Knapp zwei Jahrzehnte später berichtete jedoch ein ehemaliger Memminger Schüler, er habe den Rat Ellenbogs beherzigt und sich eine bessere Lateinschule gesucht; in Basel wurde er fündig, sein Brief kam aus Trient.18 Weitere Leseempfehlungen gab Nikolaus seinem Bruder Ulrich. Neben dem Medizinstudium sollte dieser Platon und humanistische Autoren lesen; er selbst tue das vor allem, um nicht barbarisch zu schreiben.19 Auch Johannes, seinem anderen leiblichen Bruder, riet der Benediktiner, täglich in der Platon-Übersetzung Ficinos zu lesen.20 ziert den Weg vom täglichen Brief zu opuscula, dann zu größeren Werken, quibus memoriam tui ad posteros cum honore tuo et legentium utilitate transmittere possis. Qui ad alta conscendere cupit, per gradus ascendat necesse est. Hii sunt gradus (nisi fallor) eius qui ad literarii culminis vastigium [statt fastigium] pervenire desyderat (fol. 49v). Hier zeigt sich eine gewisse Parallele zu den gradus monastischer Tugendlehre, wie sie u. a. Bernhard von Clairvaux formulierte. Vgl. BERNHARD VON CLAIRVAUX, De gradibus humilitatis et superbiae, Sämtliche Werke lateinisch / deutsch, Bd. I–X, hrsg. v. Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1990–1999, Bd. II, S. 38–131. 15 Briefwechsel Ellenbog, S. 282 Nr. V.62, 1530 Dez. 23, an Kaspar [Kindelmann] (nur Regest) = Paris 2, fol. 49v. 16 Zu Polizian ebd., S. 382 Nr. VII.69, 1537 Dez. 26, an Johannes Mair, Dekan in Klosterbeuren (nur Regest) = Paris 3, fol. 44v: consimilis brevitatis epistolam invenies apud Angelum Pollicianum in hec verba: ›Doles quod non rescribam, dolere desine, iam rescribo. Vale.‹ Tu ne in brevitatis arguere me possis, en duas pariter ad te misi epistolas. Rursum. Vale foeliciter. Die Briefe Polizians (1454–1494) hatte ihm Jakob Stopel 1511 mit anderen Büchern überlassen; ebd., S. 68 Nr. I.100, 1511 März 10 (nur Regest). Weitere Hinweise auf Polizian in ebd., S. 120–122 Nr. II.73, 1514 Okt. 11, an Konrad Pellikan. Eine ähnliche Vorliebe für Polizian äußerte der Zisterzienser Konrad Leontorius (ca. 1465–1511), vgl. Die Amerbachkorrespondenz, Bd. I: Die Briefe der Zeit Johann Amerbachs 1481–1513, hrsg. v. Alfred Hartmann, Basel 1942, S. 388–390 Nr. 425, 1509 Aug. 1. Zu Leontorius vgl. auch MÜLLER, Habit, S. 296–313. 17 Briefwechsel Ellenbog, S. 60f., Nr. I.87, (1510 Mai–Sept.) an Johannes Hofmaister. 18 Ebd., S. 257f., Nr. V.14, 1529 Juli 8. 19 Briefwechsel Ellenbog, S. 15, Nr. I.31, (1506) (nur Regest). Einen schnellen Einblick in Ellenbogs auch humanistisches Interessenspektrum bietet anhand der Sammelhandschriften aus Ellenbogs Besitz DÖRNER, Ellenbog, Sp. 604f. 20 Briefwechsel Ellenbog, S. 106, Nr. II.55, 1513 Dez. 6, nur Regest.
Lern- und Lektüreempfehlungen im Briefwechsel Nikolaus Ellenbogs
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Mit dem Namen Marsilio Ficino (1433–1499), dem Übersetzer Platons und zahlreicher neuplatonischer Schriften, ist die Frage nach den anderen antiken Sprachen aufgeworfen. Im Griechischen hat Ellenbog es nie über Grundkenntnisse hinaus gebracht. Dies bezeugt nicht nur sein an den Abt gerichteter Wunsch, an der in Ottobeuren neu gegründeten Benediktiner-Hochschule Vorlesungen in Rhetorik und Griechisch belegen zu dürfen,21 sondern vor allem ein skurriler Briefwechsel mit Wolfgang Seidel, dem Subprior der Benediktinerabtei Tegernsee. Seidel sandte einen heute verlorenen Brief in griechischer Sprache an seinen Ordensbruder Ellenbog. Dieser antwortete auf Latein, nicht ohne den Griechisch-Schreiber Seidel als höchst seltenes Exemplar (rara avis) zu loben und den Wunsch zu äußern, von ihm Mathematik und Griechisch zu lernen.22 Seidels Replik auf dieses Schreiben wiederum enthüllt, dass Ellenbog sich hier wohl nicht nur rhetorisch in die Rolle des Griechisch-Schülers einfand. Denn Seidel ließ den Brief mit einer vielsagenden Nachbemerkung ausklingen. In griechischen Lettern forderte Seidel Briefe in griechischer Sprache: θέλοιμί σε ‘Ελληνιστì γράψαι μοι.23 Zumindest aber solle Ellenbog griechische Buchstaben benutzen.24 Es ist eine Art Mimikry, die hier angestrebt wurde: griechische Lettern, weil dem Ottobeurer Prior tiefere Kenntnis der Sprache fehlte. Dies erklärt schlüssig, warum griechische Lektüreempfehlungen in Ellenbogs Briefen keine Rolle spielen. Nur wenig besser stand es um das Hebräische. Dem Versuch, mithilfe Reuchlins 1510 einen konvertierten Juden in Ottobeuren zu installieren, um die Sprache des Alten Testaments im Konvent zu unterrichten, war kein Erfolg beschieden. Die Mönche wehrten sich vehement, aber Ellenbog bewahrte sein Interesse am Hebräischen, wie in Briefen geäußerte Detailfragen belegen. Den späteren Prior Veit Wick aus Ochsenhausen ermunterte er, die Sprache zu erlernen. Neben unbestimmten fragmenta linguae hebraicae, die er nach Ochsenhausen sandte, empfahl er ihm Reuchlins Schriften und die Werke des
21 Ebd., S. 470, Nr. IX.67, 1543 Jan. 18 (nur Regest) = Paris 3, fol. 173r: Ego vero etsi annis gravatus et senio frigescens ad has tamen artes miro ardore inflammor […] liceat mihi constitutis horis ad lectiones tam rhetorices quam linguae graecae egredi. Spero me per id temporis horas me haud inutiliter locaturum. Nec pudet me senem discere, quae iuuenis ob temporum iniuriam preceptorumque ignorantiam discere non potui. Legimus enim et Catonem virum grauissimum iam senem graecas didicisse litteras. Vgl. MÜLLER, Habit, S. 282f. 22 Briefwechsel Ellenbog, S. 217f. Nr. IV.56, 1526 Dez. 31. Vgl. dazu und zu Ellenbogs Bemühungen im Griechischen MÜLLER, Habit, S. 264–270. 23 Briefwechsel Ellenbog, S. 218f. Nr. IV.59, (1527), hier S. 219. Der Aufforderung voranstehend: De caetero, mi pater Nicolae, si quid mihi aut scribere aut demandare vis, noveris prius, quo pacto et per quem velis id facere: […] 24 Ebd., S. 218f. Nr. IV.59, (1527), hier S. 219: […] γράμμασι γράψον ‘Έλλησι. Dazu passend erscheint Ellenbogs Bitte an den Augsburger Arzt Iserin, ihm für die Publikation der Epitome Platonica einige Begriffe aus dem Kratylos in griechische Buchstaben zu transkribieren; ebd., S. 106f. Nr. II.56, 1514 Apr. 3 (nur Regest): dictiones […] extractas […] Graecis apicibus illustres.
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Arztes Paulus Ritius.25 Konkretere Ratschläge zum hebräischen Sprach- und Wissenserwerb sind – wohl auch infolge eingeschränkter eigener Fähigkeiten – nicht festzustellen.
2. Die Zisterzienserinnen in Heggbach Engen brieflichen Austausch pflegte Nikolaus Ellenbog vor allem mit seiner Schwester Barbara im Zisterzienserinnenkloster Heggbach, aber auch mit anderen dort lebenden Nonnen korrespondierte er.26 In manchen dieser Schreiben versuchte Nikolaus, die Ausbildung der Nonnen ein wenig zu lenken. Seiner Schwester Barbara sandte er lateinische Briefe ausdrücklich zur Vervollkommnung ihrer Kenntnisse. Religiöse und philosophische Themen wurden darin gemischt, wie etwa zum Auftakt eine Erörterung über die Weltflucht, die sowohl aus der Heiligen Schrift als auch aus Platon schöpfte. Als Barbara in der Antwort zu verstehen gab, dass sie den Inhalt begriffen hatte, stellte ihr Bruder weitere lateinische Schreiben in Aussicht.27 Die Zusendung eigener Expositionen zur Benediktregel und eines Briefes an Karl den Großen sowie eines Exkurses über das Institut der Oblaten zeigen, dass sich Barbara auf einem beachtlichen lateinischen Niveau bewegt haben muss. Die Herkunft aus einem hochgebildeten Elternhaus dürfte hierfür verantwortlich sein.28 Ihre Briefe scheint sie freilich auf Deutsch verfasst zu haben, wenngleich Nikolaus sie zur Übung in lateinischer Epistolographie aufforderte.29 25
Briefwechsel Ellenbog, S. 190, Nr. Nr. IV.3, 1524 Juli 17 (nur Regest). Der Text ist gedruckt bei GEIGER, LUDWIG: »Nicolaus Ellenbog«, in: Oesterreichische Vierteljahresschrift für katholische Theologie 9 / 1870, S. 45–112, 161–208, hier S. 171f. Nr. 8. Zu Ellenbogs Bemühungen im Hebräischen und den diesbezüglichen Briefpartnern vgl. MÜLLER, Habit, S. 270–275, eine Summe der insgesamt bescheidenen Fähigkeiten zieht DÖRNER, Ellenbog, Sp. 605f. Zu Ritius jetzt ROLING, BERND: Aristotelische Naturphilosophie und christliche Kabbalah im Werk des Paulus Ritius (Frühe Neuzeit 121), Tübingen 2007. 26 Zu Heggbach vgl. BECK, OTTO: Die Reichsabtei Heggbach. Kloster – Konvent – Ordensleben. Ein Beitrag zur Geschichte der Zisterzienserinnen, Sigmaringen 1980. Zur Äbtissin Barbara vgl. ebd., S. 55f., 228–231, 351, 613. 27 Briefwechsel Ellenbog, S. 22f. Nr. Nr. I.41, 1508 Mai 1 (nur Regest); ebd. S. 23 Nr. I.42, 1508 Okt. 12 (nur Regest). 28 Zum Themenspektrum: ebd., S. 37 Nr. I.57, (1509), (nur Regest): Buch mit Predigten; ebd., S. 190 Nr. IV.4, 1524 Juli 4 (nur Regest): Kommentar zur Benediktregel, Brief an Karl den Großen, Oblaten. Zum 1513 abgeschlossenen Regelkommentar und den Predigten vgl. DÖRNER, Ellenbog, Sp. 606f. 29 Briefwechsel Ellenbog, S. 37 Nr. I.58, (1509) (nur Regest) = Stuttgart, fol. 59v–61r. Ellenbogs finale Aufforderung: Non desperes de latino in quo perpulchre mitiata es, memine [sic] divam Paulam et Eustochium post adeptam latinitatem etiam hebraeum (glorioso Hieronymo doctore) didicisse (fol. 61r). Zur Bedeutung des Bezugs auf den bekannten Lehrbrief
Lern- und Lektüreempfehlungen im Briefwechsel Nikolaus Ellenbogs
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Größeres Aufsehen erregt freilich die Nachricht, dass Ellenbog im Jahre 1520 dem Brief an seine Schwester unter anderem einen Traktat De legendis litteris hebraicis beilegte. Adressatin der Anleitung war die Nonne Ursula Wespech (Wespechin) und »falls sonst irgendeine andere unter Euch Schwestern zu deren Lektüre in der Lage ist.«30 Ein Hort altsprachlicher Bildung, so legt die Formulierung nahe, war das Zisterzienserinnenkloster wohl kaum. Zurückhaltung scheint obendrein angebracht, da die angesprochene Nonne Ursula Wespech in späteren Briefen Ellenbogs zwar als äußerst wissbegierig, nicht aber als unbedingt sattelfest im Lateinischen erscheint. 1539 tauschte sich der Benediktiner mit ihr unter anderem über Gertrud von Helfta aus. Dabei erklärte er ihr beiläufig, dass Hrotsvit von Gandersheim keine Offenbarungen geschrieben habe, sondern sich durch Komödien und Gedichte in elegantem Latein auszeichnete. Freilich dürfte deren Lektüre die Fähigkeiten der Nonne, so Ellenbog, ohnehin übersteigen: timeo, ne supra captum vestrum sit illius lectio.31 Grundsätzlichere Beobachtungen zum Thema Bildungsimpulse lassen sich anhand einiger Briefe machen, die Ellenbog den Äbtissinnen Heggbachs, Walburga (1526–1532), Margaretha (1532–1539) und Veronika (1539–1553), schickte. Äbtissin Walburga erfreute er neben den Glückwünschen zur Wahl mit einer Erklärung eines Hymnus auf »Die drei Knaben im Feuerofen« (Dan 3). Bald aber wich Nikolaus’ Sympathie der Ernüchterung. Knapp vier Jahre später stellte er bedauernd fest, dass die Nonnen aus Heggbach seine Briefe nicht in lateinischer Sprache beantworteten. Er führte dies auf das Versäumnis der Äbtissin zurück, die den jungen Nonnen den Lateinunterricht zu versagen schien. Ausbildung in Wort und Schrift (studium litterarum) mahnte Ellenbog an und begründete dies dem klösterlichen Ort angemessen: Chor des Hieronymus an Paula und Eustochium (Ep. 108 c. 26) für den Umgang mit gelehrten Frauen vgl. MÜLLER, Habit, S. 320. 30 Briefwechsel Ellenbog, S. 166, Nr. III.61, 1520 Jan. 10 (nur Regest) = Paris 1, fol. 64r: Adiunxi etiam tractatulum de legendis litteris hebraicis quem Ursula Wespechin et si que est alia apud vos sorores ad eam lectionem idonea legent [sic]. Es dürfte sich um Ursula Wäschbach aus Ulm handeln, die 1492 ins Kloster eingetreten war. Vgl. zu ihr ebd., S. 59 Anm. 1 (Wespach); BECK, Heggbach, S. 613. In einem früheren Brief an Ursula hatte Ellenbog seine Griechisch- und Hebräisch-Studien mit dem Argument verteidigt, dies diene dem tieferen Verständnis der Heiligen Schrift; Briefwechsel Ellenbog, S. 71f. Nr. II.6, 1511 Mai 23 (nur Regest) = Stuttgart, fol. 108r–111r, hier fol. 111r: Plures mihi vitio dant, quia hebraicis et graecis litteris incumbo et cassum me laborem assumere dicunt, sed surda aure eos pertranseo. Nesciunt enim in quem finem huic studio me deuoverim. Non enim, ut aut graecae aut hebraice loquar laboro, hoc enim mihi vel impossibile vel dificillimum foret, sed ut vel mediocriter in eis institutus sacrarum litterarum sensus profundius rimari possim. Est enim nonnumquam interpretationum multum dispar sensus. 31 Briefwechsel Ellenbog, S. 395, Nr. VIII.6, 1539 März 23: Rhoschvita non revelationes, sed comaedias scripsit et nonulla in carmine. Scripsit autem multum latine et eleganter; timeo, ne supra captum vestrum sit illius lectio.
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Harald Müller
gebet und Tischlesung erfolgten schließlich in Latein. Also schlug er 1530 vor, einen lateinkundigen Mann für den Unterricht anzustellen.32 Besonders intensiv war der Kontakt zur Äbtissin Veronika Kröl (Krölin). Es bestand eine wechselseitige Sympathie, wie sich einem Brief Ellenbogs an Ursula Wespech aus dem Jahr 1528 entnehmen lässt. Der fleißige Briefschreiber versuchte darin der Nonne Ursula den Namen jener Heggbacher Mitschwester zu entlocken, die ihn angeblich so verehre, dass sie sich seine uxor nannte. Niemand anders als Veronika Kröl verbarg sich hinter diesem Rätsel. Als sie 1539 in die Leitungsposition des Konvents aufstieg, bekam der Briefkontakt eine andere Dimension.33 Zwar schickte Ellenbog immer wieder kleinere Werke und berichtete in familiärem Tonfall aus seinem Alltag, allerdings forderte er die Äbtissin auch auf, den Elan bei der Ausbildung der Nonnen nicht sinken zu lassen. Seine Vorstellungen waren recht konkret. So bedauerte er, dass Veronika einen Brief an ihn in Deutsch abgefasst hatte, und legte ihr Hrotsvit von Gandersheim und Gertrud von Helfta als Vorbilder einer lateinbasierten Nonnenbildung ans Herz.34 Überaus verwundert war er, dass sich trotz zähen Bemühens – seit nunmehr neun Jahren mahnte Ellenbog den Sachverhalt an – anscheinend immer noch kein Kaplan finden ließ, der den jungen Frauen beim Erlernen des Lateinischen beistand. Gerade angesichts dieses Lehrermangels sollte die Klostervorsteherin nicht auf drei oder vier Gulden schauen und das lateinisch-deutsche Wörterbuch des Petrus Dasypodius für die Klosterbibliothek anschaffen. Wenn es schon am Sprachunterricht fehlte, sollte wenigstens ein Nachschlagewerk vorhanden sein. Ellenbog rügte die Zögerlichkeit, vielleicht sogar Knauserigkeit Veronikas in dieser Hinsicht und musste ihr kurz vor seinem Tod noch einmal einschärfen,
32 Ebd., S. 210 Nr. IV.43, 1526 Mai 29 (nur Regest). Das angekündigte Werk wurde jedoch erst später nachgesandt (ebd., S. 210 Nr. IV.44, 1526 Juni 16, nur Regest). Die Klage über die nicht-lateinischen Briefe in ebd., S. 268 Nr. V.30, 1530 Jan. 5 (nur Regest) = Paris 2, fol. 27v–29r, hier fol. 28r: Nam solito dulciores ac blandiores fuerunt litterę Heppachianę. Id solum eis deest, quia latinę non sunt. Nihil mihi iucundius efficere possetis quam si latine scribenti latine responderetis. Der Vorwurf an die Äbtissin ebd. S. 269 Nr. V.34, 1530 Feb. 14 (nur Regest) = Paris 2, fol. 31r–32r, mit u. a.: Praestaret plane (meo iuditio), ut iuniores sorores literario studio exercitarentur quam manuali (fol. 32r). Zu Walburga Bitterler, Äbtissin von 1526 bis 1532, vgl. BECK, Heggbach, S. 351, 613. 33 Briefwechsel Ellenbog, S. 231 Nr. IV.84, 1528 Sept. 7 (nur Regest); ebd., S. 236 Nr. IV.91, 1529 Jan. 7, an Veronika Kröl in derselben Sache. Zu Veronika Kröl (Krölin), Äbtissin von 1539 bis 1553, vgl. BECK, Heggbach, S. 609, 614. Der gräzisierende Beiname Berenike verrät ein gebildetes Elternhaus. Zur familiären Einordnung vgl. LUDWIG, WALTHER: Die Kröll von Grimmenstein oder die Auflösung genealogischer Fiktionen (Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Jahrgang 2 Heft 4), Hamburg 1984, S. 87f. 34 Briefwechsel Ellenbog, S. 290 Nr. VII.90, 1539 Jan. 2 (nur Regest) = Paris 3, fol. 55v: Rhosvita monialis et prosa et carmine scripsit suique ingenii literarum monumenta vel doctis viris admiranda reliquit.
Lern- und Lektüreempfehlungen im Briefwechsel Nikolaus Ellenbogs
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dass zehn bis zwanzig Goldgulden im Jahr eine lohnende Investition in Klosterbibliothek und Nonnenbildung seien.35 Es war einer der letzten Briefe Ellenbogs überhaupt, und er enthielt nicht nur die Bitte um das Gedenken im Gebet, sondern auch jene Rechtfertigung des Nutzens lateinischer Sprachbildung im Nonnenkloster, die den vorliegenden Beitrag eröffnet.36 Woher kam dieses Interesse des Benediktiners am literarischen Innenleben Heggbachs? Alles deutet auf ein verwandtschaftliches Fundament. Anfangs war es seine Schwester Barbara, mit der er sich in sprachlich und inhaltlich anspruchsvoller Form austauschte. Parallelisierte er sein Verhältnis zu Barbara dabei durchaus mutig mit dem heiligen Benedikt und dessen Schwester Scholastika, so sah er sich gegenüber Anna Anckarite, der Tochter seiner Nichte, die ebenfalls in Heggbach den Schleier nehmen sollte, eher in der Rolle des paternalistischen Bildungsförderers.37 Anna sei dreizehn Jahre alt und lese im Deutschen bereits sehr sicher, ließ er im Dezember 1530 die damalige Subpriorin Veronika Kröl nicht ohne Stolz wissen. Nun werde sie vom Vater zudem noch im Lateinischen unterwiesen.38 Ein Jahr später war Anna immer noch nicht in Heggbach eingetroffen, dafür aber laut Nikolaus – und gemäß seiner Weisung – auf dem Weg zum eloquium latinum.39 Im März 1532 ermuntert er die nun endlich in den Novizenstand getretene Anna, eifrig Latein zu lernen. Er werde ihr dazu öfters lateinische Briefe schreiben.40 Die junge Frau scheint mit den Ansprüchen Ellenbogs nicht Schritt gehalten zu haben. 1536 mahnte er Anna, weiterhin das Lateinische aufmerksam zu studieren und erteilte ihr als ferner Mentor den praktisch motivierten Ratschlag, die Tischlesung zu übernehmen. 1540 ermunterte er sie erneut, im Lateinischen nicht nachzulassen, nun aber mit dem entlarvenden Zusatz, dass ihm – Ellenbog – diese Sprache besonders am Herzen liege. Er bemüht in seiner 35
Ebd., S. 443 Nr. IX.12, 1541 Dez. 21 (nur Regest); ebd., S. 484 Nr. IX.90, 1543 Mai 24 (nur Regest). 36 Oben bei Anm. 1. 37 Briefwechsel Ellenbog, S. 23 Nr. I.42, 1508 Okt. 12 (nur Regest). Anna Anckarite ist im Verzeichnis der Nonnen bei BECK, Heggbach, S. 610–625, nicht aufgeführt. Allerdings sind die Nachweise zu Klosterfrauen zwischen 1525 und 1550 (ebd., S. 614) dort äußerst dünn, und die konkreten Angaben in den Briefen Ellenbogs lassen kaum Zweifel an der Mitgliedschaft Annas im Heggbacher Konvent zu. Briefwechsel Ellenbog, S. 381 Nr. VII. 67, 1536 Dez. 27 (nur Regest), erwähnt ein Geschenk des Benediktiners anlässlich von Annas Profess. 38 Briefwechsel Ellenbog, S. 280f., Nr. V.58, 1530 Dez. 4. Ein Brief desselben Inhalts ging wenig später an Äbtissin Walburga, ebd., S. 281 Nr. V.59, 1530 Dez. 18. 39 Ebd., S. 302, Nr. V.90, 1531 Nov. 17: Verumtamen quo eam tardius, eo, ut spero, abiliorem et in latinis literis peritiorem habebitis. Numquam enim do litteras ad Ravenspurg, quin commonefatiam patrem puellae, ut in eloquio latino fideliter eam instituat. 40 Ebd., S. 310 Nr. VI.1, 1532 März 1 (nur Regest) = Paris 2, fol. 79rv, hier fol. 79r: […] et litterae latinae tibi pernecessariae futurae sint, quatenus vel literaliter ea intelligas quam lectura et cantatura es. Eapropter has ad te litteras auspicio quodam (atque utinam faelici) scripsi, sexti epistolarum mearum libri caput.
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Harald Müller
Motivationsschrift erneut Paula und Eustochium, die unter der Anleitung des Hieronymus sogar zur Erlernung des Hebräischen vorgedrungen seien. Noch deutlicher ist sein Bild vom Latein-Unkundigen, der zwar den Wortlaut hört und nachbildet, seinen Sinn aber nicht zu verstehen vermag. Er gleiche, so der Benediktiner, einem Papageien (psittacus) und nicht einem Menschen. Latinität und Humanität sind in Ellenbogs Augen untrennbar aufeinander bezogen.41 Mit dieser dezidiert humanistischen Grundanschauung durchbrach er den funktionalen Rahmen, innerhalb dessen Latein-Ausbildung im Nonnenkloster möglich schien. Vollends sichtbar wird diese humanistisch gefärbte Überschreitung des Nötigen und Möglichen, wenn die bislang noch nicht erwähnte Äbtissin Margaretha aus der Hand Ellenbogs nicht nur erbauliche Schriften, sondern eine Erasmus zugeschriebene Tragödie erhielt;42 wenn Ellenbog der Veronika Kröl Attribute der humanitas zubilligte, sie gleichzeitig aber für ihren volkssprachlichen Brief rügte; wenn er zur selben Zeit die lateinischen Fertigkeiten (ausgerechnet) der vermeintlich hebräischkundigen Ursula Wespech bemängelte. Im Vergleich mit Hrotsvit von Gandersheim, auf die Ellenbog in diesem Zusammenhang verwies, musste die Heggbacher Nonne freilich den Kürzeren ziehen.43 Doch war das Ganze wohl eher motivierend gedacht, möglicherweise sogar visionär. Wie anders wäre es zu deuten, dass er der Äbtissin Walburga die Einführung eines geregelten Lateinunterrichts für ihre Nonnen mit einem vorweggenommenen Epitaph schmackhaft zu machen suchte: »Was könntest Du im Hinblick auf Deine ehrwürdige Herrin Ehrenvolleres tun, als dies als Denkmal Dir zu hinterlassen, dass man sagte: Seht, die Äbtissin Walburga war die erste, die eine geordnete Grammatik in unserem Kloster heimisch machte. Doch vollends wäre es ein
41
Ebd., S. 365, Nr. VII.21, 1536 Jan. 3 (nur Regest): u. a. Mahnung zur Übernahme der Tischlesung, um das Lateinische zu üben. Ebd., S. 418, Nr. VIII.58, 1540 Juni 23 (nur Regest) = Paris 3, fol. 95v–96v: Conare ad hoc, ut latino eloquio cunctis doctior peritiorque inueniaris. Alioquin psitaco esses persimilis, qui humana resonat verba, sed quae profert non intelligit (fol. 96r). Zur Verknüpfung mangelnder Sprachkompetenz mit dem bildlichen Vorwurf des dummen Tieres vgl. etwa POGGIO BRACCIOLINIS Invektive gegen die Mendikanten Adversus hipocrisim (oft auch zitiert als: contra hipocritas), ed. Poggii Florentini Dialogus et Leonardi Aretini oratio adversus Hypocrisim, ed. a Hieronymo Sincero, Lyon 1579, S. 1–36, ND in: Poggius Bracciolini Opera Omnia, a cura di Riccardo Fubini, vol. II: Opera miscellanea edita et inedita, Turin 1996, S. 45–80, bes. S. 20f. Dort finden sich mehrfach charakteristische Vokabeln wie inflati, rusticana verba, schließlich: ambitu verborum feruntur inconcinno, gestu, instar asini domino blandientes, incomposito, voce sonora ac terribili, verbis mordacibus utuntur quae scurrilitatem non sapientiam redoleant (S. 20). Daher der Rückgriff auf das beliebte Schimpfwort simia (Affe, vgl. Oxford Latin Dictionary, ed. P.W.G. Glare, Oxford 1982, s. v.) im Wortspiel Quos simiae saepius quam praedicanti similes duco (S. 20). 42 Briefwechsel Ellenbog, S. 313f. Nr. VI.15, 1532 Okt. 22 (nur Regest). Zu Margaretha Hauptmann, Äbtissin von 1532 bis 1539, vgl. BECK, Heggbach, S. 352, 614. 43 Oben Anm. 31 und 34.
Lern- und Lektüreempfehlungen im Briefwechsel Nikolaus Ellenbogs
33
ganz besonderer Ruhm für Eurer Kloster, wenn es aus allen anderen Nonnenklöstern eures Ordens hervorstäche durch gebildete, ja sogar gelehrte Personen.« 44
Das wäre in den Augen des Benediktiners wohl ein monumentum aere perennius gewesen. Den Traum von den Klöstern als Stätten der gegenwärtigen Gelehrsamkeit, der hier einmal für den weiblichen Zweig formuliert wurde, hat Ellenbog niemals aufgegeben.45 Wenn er im Angesicht der Reformation und ihrer schnellen Erfolge die Beherrschung der alten Sprachen als unbedingtes Rüstzeug in der Auseinandersetzung mit den Lutheranern um das donum interpretationis, um die Deutungshoheit, propagierte, so scheint darin die kirchliche Grundprägung Ellenbogs auf. Von ihr aus muss eine Schlussbetrachtung der Lern- und Lektürehinweise in seinen Briefen ausgehen. Ellenbogs Begeisterung für Latein und Hebräisch, für Platon und Erasmus war tief und echt, aber sie verließ das christliche Koordinatensystem bestenfalls für einige entspannte Stunden.46 Noch restriktiver scheint, was er Ratsuchenden und Schutzbefohlenen mit auf den Weg gab. Die Methode »Übung macht den Meister« ist wenig originell, aber Erfolg versprechend, sofern von einem wirklichen Meister gelernt werden kann. Einen Magister zog Ellenbog dem Selbststudium für die eigene Ausbildung im Hebräischen oder im Kontext der Lateinausbildung in Heggbach vor. Sich selbst traute der Ottobeurer Benediktiner diese Rolle zu, solange es um elementare Schulung des Lateinischen ging, die er vor allem auf dem Feld des Briefeschreibens zu erreichen suchte; der pragmatische Aspekt des Fernunterrichts über Klostermauern hinweg darf hierbei nicht unbeachtet bleiben. Für weiter gehendes Lernen in Eigeninitiative konnte Nikolaus eine schmale Auswahl an Musterautoren anbieten. Der von den Humanisten wieder geschätzte Donatus fürs grammatisch Grobe, Angelo Poliziano und Francesco Filelfo für die Epistolographie. Das ist deutlich mehr als nur der stereotype Verweis auf Cicero! Die Lektüre des lateinischen Platon erscheint als Kombinationsinstrument für Sprache und Geist, wobei nicht vergessen werden darf, dass Platon der bestimmende antike Autor in Ellenbogs frühem Leben war.47 Für den elementarsten Notfall, wie ihn wohl die Heggbacher Nonnen darstellten – Barbara Ellenbog war hier die Ausnahme –, musste das Wörterbuch des in Straßburg lehrenden Humanisten Petrus Dasypodius reichen.
44 Briefwechsel Ellenbog, S. 269 Nr. V.34, 1530 Feb. 14 (nur Regest), = Paris 2, fol. 32r: Quid in domna veneranda magis honorificum facere posses, quam id monumenti post te relinquere ut diceretur: En abbatissa Walpurga prima omnium fuit que regularem grammaticam in cenobio nostro plantauit. An vero gloria esset specialis monasterio vestro, si pre ceteris omnibus monasteriis monialium ordinis vestri doctis et eruditis personis polleret. 45 Zu Ellenbogs Vorstellungen einer Synthese aus Gelehrsamkeit und klösterlicher Tugend vgl. MÜLLER, Habit, S. 287–293, zu den Rahmenbedingungen der Bildung im spätmittelalterlichen Kloster ebd., S. 79–136. 46 Vgl. dazu ebd., S. 292f. 47 Ebd., S. 268–270.
34
Harald Müller
So bleibt am Ende der Bestandsaufnahme ein gemessen an Lehrplänen und Lehrmethoden der Zeit bescheidenes, wenig ausgefeiltes Spektrum von Bildungsanregungen more humanistico. Aber es ist ein Einblick in eine mikrokosmische Bildungswelt in klösterlicher Abgeschiedenheit mit dem unverkennbaren Impetus, selbst zu lernen und andere beim Lernen mit Rat und Tat zu unterstützen. Bringen wir es resümierend auf die Formel des fiktiven Epitaphs für Äbtissin Walburga: […] regularem grammaticam plantauit48 – das wäre doch ein gutes Zeugnis!
Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Briefwechsel Ellenbog Paris, Bibliothèque Nationale de France, ms. lat. 8643, vol. I–III Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. hist. 99. [Briefwechsel Ellenbog] Nikolaus Ellenbog: Briefwechsel, hrsg. von Andreas Bigelmair / Friedrich Zoepfl (Corpus Catholicorum 19/21), Münster 1938. Die Amerbachkorrespondenz, Bd. I: Die Briefe der Zeit Johann Amerbachs 1481–1513, hrsg. v. Alfred Hartmann, Basel 1942. BERNHARD VON CLAIRVAUX: De gradibus humilitatis et superbiae, in: Bernhard von Clairvaux. Sämtliche Werke lateinisch / deutsch, Bd. I–X, hrsg. v. Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1990–1999, Bd. II, S. 38–131. DASYPODIUS, PETRUS: Dictionarium Latinogermanicum, Straßburg 1535. GOSSEMBROT, SIGISMUND: »Rechtfertigung der Poesie«, in: Hans Rupprich (Hrsg.), Humanismus und Renaissance in den deutschen Städten und an den Universitäten (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Reihe Humanismus und Renaissance 2), Stuttgart 1935 (ND Darmstadt 1964), S. 93–100. Poggii Florentini Dialogus et Leonardi Aretini oratio adversus Hypocrisim, ed. a Hieronymo Sincero, Lyon 1579, S. 1–36, ND in: Poggius Bracciolini Opera Omnia, a cura di Riccardo Fubini, vol. II: Opera miscellanea edita et inedita, Turin 1996, S. 45–80.
Literatur BECK, OTTO: Die Reichsabtei Heggbach. Kloster – Konvent – Ordensleben. Ein Beitrag zur Geschichte der Zisterzienserinnen, Sigmaringen 1980. BÖS, GUNTHER: Curiositas. Die Rezeption eines antiken Begriffes durch christliche Autoren bis Thomas von Aquin (Veröfftl. des Grabmann-Institutes N.F. 39), Paderborn u. a. 1995. DÖRNER, GERALD: »Ellenbog, Nikolaus«, in: Franz Josef Worstbrock (Hrsg.), Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, Bd. 1, Berlin 2006, Sp. 600–614. GEIGER, LUDWIG: »Nicolaus Ellenbog«, in: Österreichische Vierteljahresschrift für katholische Theologie, 9 / 1870, S. 45–112, S. 161–208. JENSEN, KRISTIAN: »The Humanist Reform of Latin and Latin Teaching«, in: Jill Kraye (Hrsg.), The companion to Renaissance humanism, Cambridge 1996, S. 63–81.
48
Vgl. oben bei Anm. 44.
Lern- und Lektüreempfehlungen im Briefwechsel Nikolaus Ellenbogs
35
LUDWIG, WALTHER: Die Kröll von Grimmenstein oder die Auflösung genealogischer Fiktionen (Berichte aus den Sitzungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg, Jahrgang 2, Heft 4), Hamburg 1984. MACK, PETER: »Humanist Rhetoric and Dialectic«, in: Jill Kraye (Hrsg.), The companion to Renaissance humanism, Cambridge 1996, S. 82–99. MERTENS, DIETER: »Deutscher Renaissance-Humanismus«, in: Humanismus in Europa, hrsg. von der Stiftung ›Humanismus heute‹ des Landes Baden-Württemberg, Heidelberg 1998, S. 187–210. MÜLLER, HARALD: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog (Spätmittelalter und Reformation, N.R. 32), Tübingen 2006. –: Rezension zu Franz Posset: Renaissance Monks. Monastic Humanism in Six Biographical Sketches, in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen, 31.1 / 2007, S. 56–60. OBERMAN, HEIKO A.: Contra vanam curiositatem. Ein Kapitel der Theologie zwischen Seelenwinkel und Weltall (Theologische Studien 113), Zürich 1974. POSSET, FRANZ: Renaissance Monks. Monastic Humanism in Six Biographical Sketches (Studies in Medieval and Refomation Traditions 108), Leiden / Boston 2005. ROLING, BERND: Aristotelische Naturphilosophie und christliche Kabbalah im Werk des Paulus Ritius (Frühe Neuzeit 121), Tübingen 2007. WALTHER, GERRIT: »Humanismus«, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5, Stuttgart / Weimar 2007, Sp. 665–692. WORSTBROCK, FRANZ JOSEF: »Imitatio in Augsburg. Zur Physiognomie des deutschen Frühhumanismus«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 129 / 2000, S. 187–201.
Anhang Ellenbogs Briefe an Nonnen in der Zisterzienserinnenabtei Heggbach49 Seite
Nr. und Datum
Empfängerin
22f.
I.41, 1508 Mai 1
Barbara Ellenbog
23
I.42, 1508 Okt. 12
Barbara Ellenbog
37
I.56, (1509)
Barbara Ellenbog
37
I.57, (1509)
Barbara Ellenbog
ediert Kurzregest E. mahnt mit Bezug auf Plato und die Hl. Schrift zur Verachnein tung des Irdischen und zur Erhebung des Himmlischen. E. beruft sich in seinem Wunsch, die Schwester zu nein besuchen, auf das Vorbild des hl. Benedikt und dessen Schwester Scholastika. E. erörtert Wortbedeutungen der nein Benediktregel. E. übermittelt ein Buch mit Prenein digten.
49 Die Seitenangaben beziehen sich auf: ELLENBOG, NIKOLAUS: Briefwechsel, hrsg. v. Andreas Bigelmair / Friedrich Zoepfl (Corpus Catholicorum 19 / 21), Münster 1938. Die Nummerierung nennt das Buch in römischen, den Brief in arabischen Ziffern. Erschlossene Daten stehen in Klammern. Briefe der Nonnen an Ellenbog, die aus der Korrespondenz zu ermitteln sind, wurden nicht rekonstruiert.
36
Harald Müller
Seite
Nr. und Datum
Empfängerin
37
I.58, (1509)
Barbara Ellenbog
59
I.83, 1510 Dez. 6
Barbara Ellenbog
59
I.84, 1510 Dez. 6
Ursula Wespech
71f.
II.6, 1511 Mai 23
Ursula Wespech
102– 104
II.52, 1513 Juli 7
Barbara Ellenbog
166
III.61, 1520 Jan. 10 Barbara Ellenbog
167
III.62, 1520 Mai 28 Barbara Ellenbog
171
III.71, 1521 April 2 Barbara Ellenbog
172
III.74, 1521 Aug. 10
180
III.94, 1523 Juli 10 Barbara Ellenbog
190
IV.4, 1524 Juli 4
Barbara Ellenbog
Barbara Ellenbog
ediert Kurzregest E. sieht das Amt des Priors als Bürde, warnt Barbara vor nein Herrschsucht und fordert sie auf, in Latein zu schreiben. E. beklagt die spärlich eintreffenden Briefe der Schwester, nein will aber nicht weniger oft an sie schreiben. E. mahnt Ursula, das Verlangen nach Bruder Markus zu zügeln. nein Für dessen Besuch in Heggbach sehe er keine Notwendigkeit. E. verteidigt seine griechischen und hebräischen Sprachstudien, nein die er pflege, um den Sinn der Hl. Schrift tiefer zu erfassen. E. hat seine Enarrationes in regulam s. Benedicti abgeschlossen. Barbara solle sich nicht ja grämen, dass sie nur geringes Vermögen in das Kloster eingebracht habe, ihre Arbeitsleistung sei ausreichende Entschädigung. E. tauscht Nachrichten über seine Geschwister aus und übernein sendet zwei Traktate (De Ave et Eva und De legendis literis hebraicis). E. fragt, ob sie den vorausgenein henden Brief samt der Texte erhalten habe. E. dankt für Weihnachtsgenein schenke und entschuldigt sich für sein langes Schweigen. E. entschuldigt sich für sein Fernbleiben. Er sei in Füssen, nein Ettal, Rottenbuch und Steingaden gewesen. E. fragt nach, ob sie den letzten nein Brief und die Sonnenuhr erhalten habe. E. übersendet seine Enarrationes in regulam s. Benedicti sowie die Abschrift eines Briefes nein aus Montecassino an Karl den Großen und Ausführungen über das Institut der pueri oblati.
Lern- und Lektüreempfehlungen im Briefwechsel Nikolaus Ellenbogs Seite
Nr. und Datum
Empfängerin
201– 203
IV.25, 1525 Aug. 23
Barbara Ellenbog
208f.
IV.37, 1526 Jan. 19
Barbara Ellenbog
209
IV.38, 1526 März 21
Barbara Ellenbog
210
IV.43, 1526 Mai 29
Äbtissin Walburga
211
IV.44, 1526 Juni 16
Äbtissin Walburga
218
IV.57, 1527 Jan. 7
Äbtissin Walburga
229
IV.78, 1528 Jan. 4
Äbtissin Walburga
230f.
IV.83, 1528 Juli 7
Äbtissin Walburga
231
IV.84,1528 Juli 7
Ursula Wespech
234– 236
IV.89, 1529 Jan. 7
Äbtissin Walburga
236
IV.90, 1529 Jan. 7
Ursula Wespech
37
ediert Kurzregest E. schildert die Verwüstung des Klosters Ottobeuren durch die ja Bauern und fügt Nachrichten über Verwandte in Ravensburg bei. E. dankt für einen Brief und Geschenke, benennt die Schriften, die ihm im Bauernkrieg abhannein den gekommen sind, und bittet um Rückgabe seiner Enarrationes in regulam s. Benedicti. E. bestätigt den Empfang der nein Enarrationes in regulam s. Benedicti. E. übersendet Glückwünsche zur Wahl und dankt für Genein schenke. Er legt als Geschenk seine Expositio in hymnum trium puerorum bei. E. hat die versprochene Exposinein tio in hymnum trium puerorum erst jetzt abschreiben können. E. dankt für Neujahrgeschenke nein und versichert stete Freundschaft. E. bittet, sie möge ihm die an Barbara geschickten Werke nein zum Abschreiben überlassen, da seine Schriften von den Bauern gestohlen wurden. E. mahnt zum Aushalten im katholischen Glauben und brandmarkt Klosteraustritte ja als Streben nach sittlicher Ungebundenheit. E. dankt für die Rettung mancher seiner Schriften und nein wünscht den Namen der Nonne zu erfahren, die sich Ellenbogs uxor nenne. E. dankt für ein Weihnachtsgeschenk, polemisiert gegen die ja neugläubigen Prediger und ermahnt zur Standhaftigkeit im Glauben. E. dankt für einen Brief, versinein chert seine Freundschaft und bittet um ein Gebet.
38
Harald Müller
Seite
Nr. und Datum
Empfängerin
ediert Kurzregest E. versichert brüderliche Zuneinein gung. E. dankt für die Rücksendung nein seiner Expositio primi psalmi.
236
IV.91, 1529 Jan. 7
Veronika Kröl
248
V.1, 1529 März 14 Äbtissin Walburga
248
V.4, 1529 Juni 9
Äbtissin Walburga
nein
262
V.19, 1529 Sept. 5
Äbtissin Walburga
nein
268
V.30, 1530 Jan. 5
Äbtissin Walburga
nein
269
V.34, 1530 Feb. 14 Äbtissin Walburga
nein
272
V.47, 1530 Sept. 2
Äbtissin Walburga
nein
278– 280
V.57, 1530 Nov. 10
Veronika Kröl und Ursula Wespech
ja
280f.
V.58, 1530 Dez. 4
Veronika Kröl
ja
281f.
V.59, 1530 Dez. 18 Äbtissin Walburga
ja
E. schickt durch einen Bildhauer eine längst versprochene Uhr. E. entschuldigt sich, dass er den versprochenen Besuch in Heggbach nicht gemacht hat, und begründet dies mit dem Alter und der Neigung, sich seinen Studien zu widmen. E. dankt für Weihnachtsgeschenke und bedauert, dass die Nonnen ihre Briefe an ihn nicht lateinisch schreiben. Er fügt sieben eigene Gebete zum Leiden Christi bei. E. übersendet Ursula Schreibfedern und empfiehlt, die jüngeren Schwestern in lateinischer Grammatik unterrichten zu lassen. E. wird der wiederholten Einladung nachkommen, sie zu besuchen, sobald er bei seiner Schwester Elisabeth in Ravensburg war, die bereits zwei Jahre auf ihn wartet. E. dankt für die freundliche Aufnahme in Heggbach, teilt Neuigkeiten über einen Wunderdoktor in Regensburg mit und äußert, dass die sechs Töchter seiner Nichte in Ravensburg für den Eintritt ins Kloster zu jung seien. E. teilt mit, dass seine Großnichte in Heggbach Nonne werden wolle, der Klostereintritt aber noch hinausgeschoben werde. E. dankt für Weihnachtsgeschenke, gibt nähere Auskunft über die Großnichte, die in Heggbach eintreten will, und hofft, dass Kaiser Karl V. gegen die Häretiker vorgehen werde.
Lern- und Lektüreempfehlungen im Briefwechsel Nikolaus Ellenbogs Seite
Nr. und Datum
Empfängerin
282
V.60, 1530 Dez. 18 Veronika Kröl
284
V.66, 1531 Jan. 9
292f.
V.78, 1531 Mai 25 Veronika Kröl
302
V.90, 1531 Nov. 17
Veronika Kröl
305f.
V.96, 1532 Jan. 1
Äbtissin Walburga
306
V.97, 1532 Jan. 1
Veronika Kröl
306– 309
V.98, 1532 Feb. 3
Veronika Kröl
309
V.99, 1532 Feb. 3
Veronika Kröl
310
VI.1, 1532 März 1
Anna Anckarite
312
VI.8, 1532 Juli 4
Veronika Kröl
Äbtissin Walburga
39
ediert Kurzregest E. dankt für einen Brief und Genein schenke. E. hat bezüglich der künftigen Nonne Anna Anckarite nach nein Ravensburg geschrieben und Konrad Anckarite gebeten, sich nach Heggbach zu begeben. E. gibt die Schuld für die verzögerte Übergabe seiner Nichte Anna Anckarite an das Kloster deren Vater Konrad. Er will ihn nein mahnen und sich bei der Äbtissin dafür einsetzen, dass Veronika Novizenerzieherin wird. E. nennt die unsichere Lage der Klöster als Ursache dafür, dass Anna Anckarite noch nicht in ja Heggbach eingetreten ist. Diese wird momentan noch besser im Lateinischen ausgebildet. E. dankt für Weihnachtsgeschenke und teilt mit, dass Anna ja Anckarite wohl noch vor Fastnacht ins Kloster eintreten werde. E. dankt für das Weihnachtsgeschenk und nimmt an, dass nein Anna Anckarite bald in Heggbach sein werde. E. freut sich, dass Anna Anckarite in Heggbach eingetreten ist, ja und empfiehlt Veronika als Erzieherin der jungen Klosterfrauen. E. führt den Eintritt seiner Nichte ins Kloster auf einen Rosenkranz und ein Bildchen zunein rück, die er 1530 als Geschenk der Äbtissin nach Ravensburg gebracht habe. E. will ihr öfters lateinische Briefe schreiben, da sie als Zinein sterzienserin lateinisch beten und singen müsse. nein
E. kann der Einladung nach Heggbach nicht folgen.
40 Seite
Nr. und Datum
Empfängerin
313f.
VI.15, 1532 Okt. 22
Äbtissin Margaretha
nein
317
VI.23, 1533 Jan. 3
Äbtissin Margaretha
nein
322
VI.33, 1533 Okt. 30
Veronika Kröl
nein
Anna Anckarite
nein
Anna Anckarite
ja
334 363f.
Harald Müller
VI.63, 1534 Aug. 10 VII.19, 1535 Dez. 6
ediert Kurzregest
365
VII.20, 1536 Jan. 3 Veronika Kröl
nein
365
VII.21, 1536 Jan. 3 Anna Anckarite
nein
381
VII.67, 1536 Dez. 27
Anna Anckarite und Veronika Kröl
nein
382
VII.70, 1537 Dez. 27
Anna Anckarite
nein
385
VII.82, 1538 Sept. 19
Anna Anckarite
nein
390
VII.91, 1539 Jan. 2
Äbtissin Margaretha
nein
E. gratuliert zur Wahl und fügt für Ursula Wespech die Tragoedia Basiliensis des Erasmus von Rotterdam hinzu. E. dankt für das Weihnachtsgeschenk. E. schickt Grüße aus Ravensburg. E. tröstet Anna wegen des Todes ihrer Mutter. E. teilt Anna den Tod seiner Schwester Elisabeth mit. E. empfiehlt ihr seine Nichte Anna, schickt ein Weihnachtsgeschenk und grüßt die Äbtissin sowie Ursula Wespech. E. dankt für einen Brief und ein Weihnachtsgeschenk der Äbtissin. Er ermahnt Anna, freiwillig die Tischlesung zu übernehmen und sich des Lateinstudiums zu befleißigen. E. dankt für Briefe und Geschenke und beklagt große Schmerzen an Händen und Füßen. E. übermittelt Neujahrswünsche an Anna, Veronika Kröl und die Äbtissin. Er freut sich darüber, dass Anna am Klosterleben Gefallen findet. E. teilt im Auftrag der Schwestern in Eldern Anna ein neues Mittel gegen Gicht zum Gebrauch für eine Heggbacher Nonne mit und beglückwünscht sie zur Verheiratung ihrer Schwester Katharina. E. dankt für ein Geschenk und einen Brief in deutscher Sprache. Er fordert die Heggbacher Nonnen auf, nach dem Vorbild der hl. Gertrud und Hrotsviths von Gandersheim mehr Latein zu lernen.
Lern- und Lektüreempfehlungen im Briefwechsel Nikolaus Ellenbogs Seite
Nr. und Datum
Empfängerin
390
VII.90, 1539 Jan. 2 Veronika Kröl
395
VIII.6, 1539 März 23
Ursula Wespech
398
VIII.15, 1539 Juni 18
Ursula Wespech
399
VIII.16, 1539 Juni 18
Äbtissin Veronika Kröl
399
VIII.17, 1539 Juni 18
Anna Anckarite
414
VIII.47, 1539 Dez. Äbtissin Veronika 27 Kröl
418
VIII.58, 1540 Juni 23
426
VIII.74, 1540 Dez. Äbtissin Veronika 20 Kröl
426
VIII.75, 1540 Dez. Anna Anckarite 20
Anna Anckarite
41
ediert Kurzregest E. dankt für die alljährlichen Geschenke und bittet, seine nein Nichte zu einer echten Nonne zu erziehen. E. macht Mitteilungen über seinen Krankheitszustand. Die Offenbarungen der hl. Gertrud beja sitze er selbst nicht, er habe sie einst vom Guardian Rudolf von Lenzfried entliehen. E. beglückwünscht Heggbach nein zur neuen Äbtissin Veronika Kröl. E. sendet Glückwünsche zur Wahl. Sie werde alle Vorgängenein rinnen an Tüchtigkeit übertreffen. E. teilt seine Freude über die Wahl Veronika Kröls mit. Er habe gehört, dass Anna beim nein Besuch ihres Vaters und ihrer Schwestern wenig erfreut über die Härte des Vaters gegenüber den Schwestern war. E. dankt für das Weihnachtsgeschenk und lässt wissen, dass er ja zwar krank, aber trotzdem wissenschaftlich tätig sei. E. mahnt zu eifrigem Studium der lateinischen Sprache. Aufnein grund seiner Krankheit sei es ihm nicht möglich, Anna zu besuchen. E. dankt für einen Brief und ein Geschenk. Ihre Freundschaft sei ihm teuer. Er kann die Messe nein nicht mehr lesen und ist bereits das vierte Jahr im Krankenzimmer. E. hat von der Äbtissin gehört, dass sie mit Anna zufrieden sei. Ihre Schwester Katharina habe nein nun alle ihre Geschwister bei sich, da der Vater sich nicht um sie kümmere.
42
Harald Müller
Seite
Nr. und Datum
Empfängerin
441
IX.3, 1541 Nov. 4
Äbtissin Veronika Kröl
443
IX.12, 1541 Dez. 21
Äbtissin Veronika Kröl
468
IX.62, 1543 Jan. 1
Äbtissin Veronika Kröl
468
IX.63, 1543 Jan. 1
Anna Anckarite
484
IX.90, 1543 Mai 24
Äbtissin Veronika Kröl
ediert Kurzregest E. schickt das Regimen pestilentiale seines Vaters Ulrich. nein Veronika soll für das Kloster einige Faszikel des Dictionarium Dasypodii kaufen. E. dankt für ein Geschenk und mahnt dringend, nicht auf 3 oder 4 Gulden zu schauen, sondern das Dictionarium Dasypodii zu nein kaufen. Er wundert sich, dass Heggbach nie einen Kaplan bekomme, der die Schwestern im Lateinischen unterrichtet. Er schreibe deshalb nicht mehr so häufig nach Heggbach, weil er sie sehr beschäftigt wisse. Auch von seiner Nichte habe er länger nichts gehört. Die neue nein Schule in Ottobeuren wird bald beginnen; Lehrer und Schüler sind bereits da. Er wird demnächst eine Expositio zum Psalm Noli aemulari (Ps. 26) schicken. E. dankt für ein Geschenk und beklagt, dass sie ihm nicht mehr schreibe. Ihre Schwestern Marnein gareta und Elisabeth sind zu Fuß von Wurzach gekommen, um ihn zu besuchen. E. teilt mit, dass es um seine Gesundheit sehr schlecht stehe, ja Veronika soll im Ankauf von Büchern nicht knauserig sein.
Von Vorbildern und ihrer Bedeutung Imitatio und Eloquentia in den Schülergesprächsbüchern und im erzählenden Werk von Paulus Niavis Michael Rupp Der weitaus größte Teil der Schriften des Paul Schneevogel (latinisiert: Paulus Niavis) ist im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit an Lateinschule oder Universität entstanden und dient dem Unterricht in der lateinischen Sprache, »der Heranbildung einer humanistisch reformierten lat[einischen] Ausdrucksfähigkeit in Rede und Schrift.«1 Die zahlreichen im Druck erschienenen Werke decken ein breites Spektrum des damaligen Sprachunterrichts ab: Dazu zählen brieftechnische Schriften und Musterbriefe, Musterreden, Werkausgaben klassischer Autoren und nicht zuletzt die Schülergesprächsbücher. Lediglich zwei von Niavis’ Werken gelten im Allgemeinen als ›literarisch‹ in dem Sinne, dass sie nicht explizit den Anspruch erheben, ihre Leserschaft in lateinischer Grammatik und Stilistik belehren zu wollen.2 Es sind dies die Historia occisorum in Kulm und das Iudicium Iovis, zwei Erzählungen im weitesten Sinne, die sich auf volkssprachliche Vorlagen berufen. Für das ganze Werk Schneevogels, wie auch für das seiner Vorgänger und Zeitgenossen im Frühhumanismus, gilt gleichermaßen das Verdikt der modernen Forschung, der Verfasser erhebe zwar Cicero, Quintilian und italienische Humanisten zu Vorbildern in der eloquentia, erreiche diese aber in seiner eigenen Sprachpraxis bei weitem nicht.3 Für Schriften, die ihren Lesern die
1 So beurteilt es WORSTBROCK, FRANZ JOSEF: »Schneevogel (Sneevogil, Snefogel, latinisiert: Niavis), Paul«, in: Kurt Ruh u. a. (Hrsg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 8, Berlin / New York 1992, Sp. 777–785, das Zitat in Sp. 777. 2 So klassifizieren sie neben WORSTBROCK, »Schneevogel« auch Knape und Kocher ein: KNAPE, JOACHIM / KOCHER, URSULA: »Niavis (Schneevogel), Paul«, in: Neue Deutsche Biographie, hrsg. v. der historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Bd. 19: Nauwach-Pagel, S. 195–196, hier S. 196. 3 Das bemerkt auch BÖMER, ALOYS: »Paulus Niavis, ein Vorkämpfer des deutschen Humanismus«, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde 19 / 1898, S. 51–94, hier S. 85.
44
Michael Rupp
Fähigkeit vermitteln wollen, sprachlich und stilistisch einwandfreies Latein zu schreiben, wiegt dieser Vorwurf umso schwerer. Gerhard Streckenbach stellt beispielsweise in Bezug auf die in Niavis repräsentierte erste Generation der Verfasser humanistischer Schülergesprächsbücher generell fest, dass die »Kenntnis auf dem Gebiete der Elementargrammatik […] erschreckend gering« sei. Vor allem moniert er den nachlässigen Gebrauch des Konjunktivs in den Nebensätzen und die mittelalterlichem Usus folgende Verwendung der Konjunktionen – »von schwierigeren Dingen wie der consecutio temporum ganz zu schweigen«.4 Auch Worstbrock bemerkt diese Differenz zwischen vermeintlichem Anspruch und Realität5 und fasst damit zusammen, was über das Latein von Schneevogel gesagt wurde und was vom Standpunkt des klassischen Schullateins aus tatsächlich auch zu sagen wäre. Doch vielleicht wird dabei eine Vorstellung von imitatio an Niavis herangetragen, die seiner eigenen gar nicht entsprach. Zwar divergiert sein Sprachgebrauch in vielen Dingen von dem seiner Vorbilder, doch scheint die bislang gängige Begründung dafür, namentlich das Unvermögen des Autors, nicht ausreichend. Denn Niavis äußert sich auch theoretisch zu seinem Konzept von imitatio oder eloquentia, und bei genauem Hinsehen lässt sich von hier aus der sprachliche Befund seiner Schriften anders deuten.6 Dieser Frage, letztlich einer genauen Definition des Verständnisses von eloquentia und imitatio bei Niavis, ist der vorliegende Beitrag gewidmet. Zunächst wäre nach den Vorbildern von Niavis und nach seinem Verhältnis zu ihnen zu fragen. Hierzu geben einige Stellen seines Werks Auskunft, an denen er sich theoretisch zu diesen Fragen äußert. Tatsächlich erhebt er Cicero zu einem Ideal, wenn er sagt, in seinen Schriften finde man die Verbindung von ethischer Belehrung und vorbildlicher Sprache.7 Doch er nennt auch 4
STRECKENBACH, GERHARD: Stiltheorie und Rhetorik der Römer im Spiegel der humanistischen Schülergespräche (Gratia 6), Göttingen 1979, S. 125. 5 WORSTBROCK, »Schneevogel«, Sp. 778, stellt fest: »Dem hochgreifenden Programm entspricht Sch.s eigene Sprachpraxis freilich nur begrenzt. Er zeigt sich – wie nahezu alle Vertreter des Schulhumanismus vor 1500 – in Grammatik und Wortschatz immer wieder noch unbefangen spätmal. Sprachgewohnheiten verhaftet«. 6 Fast alle von mir herangezogenen Zeugnisse hierfür hat STRECKENBACH, Stiltheorie, auch besprochen. Für die Tatsache, dass Niavis noch in vielen Dingen dem spätmittelalterlichen Latein verhaftet bleibt, hat er dabei stets dessen unzureichendes Verständnis von Ciceros Rhetorik verantwortlich gemacht. 7 In einer seiner Epistole mediocres mit der Überschrift Ad illam responsio und dem Incipit Sat plane suscepi modum studendi schreibt er: Sed quid de Ciceronis dicam officiis? Que talia sunt, omnium ferme philosophorum libris precellunt qui moralem explicant philosophiam. Non solum uidebitis philosophie precepta sed stilum etiam autoris oratorisque eruditissimi. »Was soll ich zu Ciceros De officiis sagen? Es ist ein Buch, das beinahe alle Bücher fast aller Philosophen übertrifft, welche über die Moralphilosophie handeln. Aber ihr findet darin nicht nur die Lehren der Philosophie, sondern auch die Sprache eines immens gebildeten Schriftstellers und Redners.« Ich zitiere nach der Ausgabe von JOHNSON, RAND H.
Von Vorbildern und ihrer Bedeutung
45
andere. Einem Schüler legt er neben Cicero auch Terenz und Quintilian ans Herz.8 Im Anschluss an letzteren warnt er davor, sich sklavisch einem Vorbild zu verschreiben, ja überhaupt davor, bei der imitatio stehen zu bleiben.9 Es komme vielmehr darauf an, mit dem am Ideal Gelernten etwas Eigenes hervorzubringen.10 Offenbar also war für Niavis nicht in jedem Fall und ausschließlich die klassische Latinität als Maßstab anzusehen. So erläutert er im Widmungsbrief zu seinem Thesaurus eloquentiae, dass er in diesem Werk bisweilen vom antiken Sprachgebrauch abweiche, und zwar bei den Begrüßungs- und Anredeformeln. War es im von Cicero beschriebenen antiken Rom üblich, sein Gegenüber im Singular mit tu anzureden, bleibt Niavis seinerseits beim Plural. Er begründet dies damit, dass nach gegenwärtigem Sprachgebrauch Tiefergestellte, wenn sie mit Höhergestellten sprächen, diese im Plural anzureden hätten. Dies lasse er in seinen Dialogen auch so geschehen.11 Wenn Streckenbach hier Niavis vorwirft, er bringe es eben nicht »über sein Schulmeisterherz«, auf die respektvolle Anrede durch Schüler zu verzichten, obwohl er wisse, dass (Hrsg.): Magister Paulus Niavis, Epistole breues, Epistole mediocres, Epistole longiores (Medieval Institute Publications), Kalamazoo 1995, hier S. 173, Z. 15–19; die Übersetzungen sind von mir. 8 In der Epistola longior mit dem Incipit Scribit ad quendam, qui longas ad se scribi epistolas postulauit. In der Ausgabe von JOHNSON, Magister Paulus Niavis auf den S. 209–211. 9 In der Epistola mediocris mit der Überschrift Iterum increpat eundem quod modestum animum pre se ferre non potest zitiert er aus Quintilians Institutio oratoria 10.2.4 und 10.2.11: […] imitacio per se ipsa non sufficit; pigri est ingenii contentum esse hiis que sunt ab illis [Quint.: aliis] inuenta. Adde ut quicquid alteri simile necesse est ut minus sit, ut umbra corpore, imago facie. »Die Imitatio allein genügt nicht. Es zeugt von trägem Geist, wenn man zufrieden ist mit dem, was von anderen erfunden wurde. Nimm noch hinzu, dass alles, was etwas anderem ähnlich ist, notwendigerweise geringer sein muß, wie der Schatten geringer ist als der Körper, und das Abbild geringer als das [abgebildete] Antlitz.« und fügt hinzu: Contra, omnis imitatio ficta est et ad alienum propositum accomodatur. »Im Gegenteil, Imitatio ist immer etwas künstlich Ausgedachtes und richtet sich auf fremde Gedanken aus«, in der Edition von JOHNSON, Magister Paulus Niavis, S. 130, Z. 17–21. 10 Zu imitatio und latinitas bei Niavis auch die kurzen Ausführungen im Vorwort bei JOHNSON, Magister Paulus Niavis, S. xiii–xix. 11 Im Sammeldruck der Latina ydeomata Magistri Pauli Niauis, Hain 10735–1039; greifbar war mir die Auflage von 1494 (Das Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ist digitalisiert online unter http://diglib.hab.de/inkunabeln/171-14-quod-3/start.htm.), hier auf Bl. Diiii v: Quorsum illa? Quam intolerabile modo sit usum nostrum abicere neminem latet, qui est perspicacis ingenii: indui nonnumquam inferiores de negotiis quibusdam cum veneratione dignis loquentes personis. Inhonestissimum arbitraretur et praeter sani hominis officium nisi pluraliter eosdem alloquerentur. »Wozu dies? Niemand mit Scharfsinn verkennt, wie unerträglich es ist, sogleich unseren Sprachgebrauch aufzugeben: Zuweilen habe ich Tiefergestellte eingeführt, die sich über bestimmte Dinge mit verehrungswürdigen Personen unterhalten. Man würde es für zutiefst unehrenhaft halten und gegen die Pflicht eines besonnenen Menschen, wenn sie diese nicht im Plural ansprechen würden.«
46
Michael Rupp
sein »langweiliges vos« falsch sei,12 geht dieser Vorwurf demnach an der Sache vorbei. Die Schülergesprächsbücher sollen die Fähigkeit vermitteln, sich in der Gegenwart sprachlich ausdrücken zu können. Dabei ist es sinnvoll und geboten, sich in solch sensiblen Bereichen an den gegenwärtigen Sprachgebrauch zu halten und die Schüler ihre Lehrer im Plural – entsprechend dem modernen Sie – ansprechen zu lassen. Hier wird die Notwendigkeit deutlich sichtbar, dass man im Alltag den Grad abwägen musste, bis zu dem die imitatio gehen sollte. Der oben kurz angesprochene Brief ist noch weitergehend für die vorliegenden Zusammenhänge interessant.13 Nach dem Adressaten zitiere ich ihn im Folgenden als Brief an einen Baccalaren. Diesem empfiehlt Niavis verschiedene Schriften zur Lektüre, mit denen er seine sprachlichen Fertigkeiten verbessern könne. Das sind zunächst Briefe und diverse Prosaschriften, in denen es um belanglose Dinge gehe, die zu lesen aber nützlich sei. Darunter empfiehlt Niavis auch eigene Werke.14 Er nennt sie nicht konkret, aber offenbar zielt er sowohl auf die Schülergesprächsbücher als auch auf bereits publizierte Briefsammlungen. Diese Schriften, betont er, behandelten Alltägliches, über das manche sich gerne unterhielten, und zielten zugleich auf den Erwerb der eloquentia, damit es auch neuere Beispielschriften der Rhetorik gebe, nicht nur die der Alten.15 12
STRECKENBACH, Stiltheorie, S. 47. STRECKENBACH, Stiltheorie, S. 23 erwähnt diesen Brief kurz. 14 Der Brief hat die Überschrift Scribit ad quendam, qui longas ad se scribi epistolas postulauit und ist zu finden in der Ausgabe von JOHNSON, Magister Paulus Niavis, S. 209– 211. Die hier angesprochene Passage ist auf den S. 209, Z. 26– S. 210, Z. 1: Interea autem lectitabis epistolas eaque dictamina que ad legendum apta et a quibus tandem tibi aliqua possit utilitas euenire. In hac autem materia quam tibi editam pro iuuenibus meis, quippiam de rebus comperies, de rebus humilioribus in quibus legere animumque exercitaciorem facere non inutile est. »Inzwischen aber wirst Du Briefe lesen und die Prosaschriften, die zur Lektüre geeignet sind und aus denen du schliesslich einen gewissen Nutzen ziehen kannst. In diesen Büchern, die ich für dich zum Nutzen meiner Studenten veröffentlicht habe, wirst du mancher Dinge genau einsichtig, alltäglicherer Dinge, in denen zu lesen und den Geist geübter zu machen nicht unnütz ist«. 15 S. 210, Z. 5–16: Non idcirco commendo locuciones illas pro adolescentibus factas, quia plurimum ornatus observarent – scio enim satis esse pueriles – uerumtamen profuturas censeo his qui eloquencie studium amant et de pedestribus abiectisque tractationibus loqui gaudeant. Id a me habeto, coniunctissime baccalarie, quod quisque sine rubore potest et uerecundia eiusmodi oraciones proferre, quia non prorsus expertes sunt cuiusuis artis, ac ad eloquantie comparande studium spectant ut is qui applicatus plura legat in quibus dicendi preceptio est, non uetustissimorum solum, uerum etiam nouorum qui praecepta latinitatis obseruantissime retinent. »Ich empfehle jene für die Jugend verfertigten Reden nicht etwa deshalb, weil sie am meisten den ornatus bewahren – ich weiß, dass sie läppisch genug sind – gleichwohl glaube ich, sie werden denen nützen, die das Studium der Beredsamkeit lieben und gerne über einfache und prosaische Abhandlungen reden. Das sollst Du mir glauben, mein bester Freund und Baccalaureus, dass jeder ohne Schamröte oder Scheu solche Reden 13
Von Vorbildern und ihrer Bedeutung
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Warum auch solche neue Schriften sinnvoll seien, begründet er dann: Die pia antiquitas habe die auctoritas inne und sei stets dann der Maßstab, wenn elegancia gefragt sei. Die gegenwärtigen Schriftsteller dagegen seien nützlicher für gewöhnliche Rede und solche aus dem Stegreif. Den Grund hierfür sieht er letztlich in der materia: Wenn antike Schriftsteller von Kriegen und Seefahrt handeln, ist das von ihnen verwendete Vokabular wie auch die entsprechende Idiomatik und Phraseologie für den gegenwärtigen Alltagsgebrauch wenig hilfreich. Hier seien die neueren empfehlenswerter, in denen man genau diesen alltäglichen Sprachgebrauch erlernen könne.16 Daraus folgt für Niavis, dass beide Formen der Latinität nützlich seien; die antike Form verleihe Erhabenheit, praeeminencia auctoritatis, und die neuere sei gut für den usus, für den Gebrauch in Wort und Schrift. Diese neuere Form sieht er als jungen, blühenden Sproß der alten Sprache.17 hervorbringen kann, da sie ja durchaus nicht ohne jegliche Kunst sind und auf den Erwerb von Beredsamkeit zielen, damit der, der sich diesem zugewandt hat und vieles liest, in dem Vorschriften über das Reden enthalten sind, dabei nicht nur von den ganz alten liest, sondern auch von den neuen, welche die Vorschriften der latinitas penibel einhalten.« 16 S. 210, Z. 17–211, Z. 2: Sed ut comparacione ueluti quadam sencias mentem nostram, inter et ueteres et modernos discrimen: pia enim antiquitas auctoritatem tenet, et ex ea, uelut lucis candor splendet, fundum habet certe et tanquam scaturiginem Romane lingue. Si quando usu uenerit ut eleganciis certamus [sic], ueterrima nouis semper preferuntur. Posteriores autem qui nostro euo scripserunt, ad usum et extemporalem locucionem longe magis conducunt; nonenim de his que in mari geruntur tractant, non de bellis gentilium in quibus multe ordinaciones fuerunt aut instrumenta ad expugnandas ciuitates, que uariata sunt omnia et immutata, quorum nomina, si audiamus, nemo fere cognoscit quandoquidem res ipsa ab usu relicta est. Ceterum de nostris dicunt actibus, quamobrem his quidem ipsis libris scriptoribusque plus quottidianam colligimus locucionem. »Aber damit du wie mit einem Vergleich meine Überlegung verstehst: zwischen den Alten und den Heutigen gibt es einen Unterschied: Das ehrwürdige Altertum hat die Gültigkeit, und daher, wie der Glanz des Lichts strahlt, gewiss den Grund und gleichsam die Quelle der römischen Sprache. Wenn es sich einmal notwendig zuträgt, dass wir unter Gebrauch von Feinheiten wetteifern, dann wird das Altbewährte dem Neuen stets vorgezogen. Die späteren aber, die zu unseren Zeiten schrieben, tragen zum normalen Gebrauch und zur freien Unterhaltung bei weitem mehr bei. Denn sie behandeln nicht das, was auf dem Meer geschieht, sie sprechen nicht über die Kriege der Heiden, in denen es viele Heeresordnungen gab und Werkzeuge, um Städte zu erobern, die alle verändert und gewandelt sind, deren Namen, wenn wir sie hören, fast niemand kennt, weil nun einmal die Sache selbst außer Gebrauch gekommen ist. Im Übrigen sprechen sie von unserem Tun und Handeln, deshalb versammeln wir in diesen Büchern und Autoren mehr den alltäglichen Sprachgebrauch.« 17 S. 211, Z. 3–6: Neutra dictorum est abicienda ratio. Altera, ut auctoritatis eminenciam prestat, postera uero, ut usum uehemencius adaugeat et quasi germine quodam atque adeo nouo floreat tribuatque audientibus amenitatem. »Man darf keine dieser beiden Arten der Beredsamkeit aufgeben. Die eine, damit sie die Erhabenheit der Norm gewährleistet, die nachfolgende aber, damit sie umso stärker den Gebrauch (der Sprache) fördere und wie aus einem ganz neuen Keim erblühe und den Zuhörern Vergnügen bringe.«
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Niavis plädierte stets dafür, statt in ausführlichen Grammatikstudien das eigene Sprachvermögen lieber in der Lektüre zu schulen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass auch gegenwärtige Schriftsteller für ihn eine Vorbildfunktion haben, die sich zunächst aus deren auf gegenwärtigem Sprachgebrauch beruhendem Wortschatz herleitet. Diese gegenwärtigen müssen zwar, wenn sie Vorbild sein sollen, die Regeln der latinitas einhalten, dann aber sei die Lektüre ihrer Werke durchaus förderlich. Die antike Sprachform als Ursprung der gegenwärtigen wird für Niavis aber durch letztere nicht ersetzt. All das deutet darauf hin, dass Niavis sich nicht streng auf die klassische Latinität ausrichtet und, ausgehend vom alltäglichen Sprachgebrauch, bald mehr auf gegenwärtige und bald mehr auf antike Vorbilder Bezug nimmt, die für ihn jeweils verschiedene Funktionen erfüllen. Als Unterscheidungskriterium nennt Niavis die fallweise geforderte elegantia, die vor allem durch die genaue Beobachtung des Sprachgebrauchs der antiken Autoren erzeugt wird.18 In seinen Schriften wendet er die entsprechenden Regeln an bestimmten Stellen gezielt an, wie ich im Folgenden zeigen möchte. Dazu greife ich zunächst einige Passagen aus den Schülergesprächsbüchern auf, denn bereits hier zeigt sich eine Diskrepanz zwischen zwei Varietäten, die dem antiken Ideal unterschiedlich nahe kommen. Ein Blick auf das literarische Werk soll das Bild erweitern und abrunden. Die Schüler- bzw. Studentengesprächsbücher entspringen der beruflichen Lebenswelt ihres Verfassers. Paul Schneevogel, der um etwa 1460 im böhmischen Eger geboren war,19 hatte im Wintersemester 1480/81 an der Universität in Leipzig das Magisterexamen abgelegt und war, nach kurzem Aufenthalt in Halle, ab 1485 Rektor der Chemnitzer Lateinschule geworden.20 1488 wurde seine Amtszeit nicht verlängert, und er ging wieder nach Leipzig, wo er zwei Jahre lang ohne feste Anstellung, aber wohl mit einigem Erfolg in privaten Kreisen Latein unterrichtete. Keines seiner sämtlich im Druck erschienenen Schülergesprächsbücher ist im Erstdruck datiert. Man kann aber davon ausgehen, dass sie alle während seiner Zeit als Lehrer an der Chemnitzer Lateinschule und an der Universität in Leipzig entstanden sind, also vor 1490.21 18
Zur Bedeutung der einzelnen Termini im Humanismus um 1500 generell vgl. WELS, VOLKHARD: Triviale Künste. Die humanistische Reform der grammatischen, dialektischen und rhetorischen Ausbildung an der Wende zum 16. Jahrhundert (Studium Litterarum 1), Berlin 2000, zum Begriff der elegantia die S. 56–64. 19 Zur Vita Schneevogels vgl. den Artikel von WORSTBROCK, »Schneevogel«. Eine ausführliche Darstellung seiner Werke bei BÖMER, »Vorkämpfer«. 20 Zur Chemnitzer Lateinschule und Niavis’ Wirken dort BRÄUER, HELMUT: Chemnitz zwischen 1450 und 1650: Menschen in ihren Kontexten (Aus dem Stadtarchiv Chemnitz 8), Chemnitz 2005, S. 246–268. 21 Vgl. auch BÖMER, ALOYS: Die lateinischen Schülergespräche der Humanisten, Bd. 1: Vom Manuale scholarium bis Hegendorffinus c. 1480–1520 (Texte und Forschungen zur
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Die Gattung gehört zum großen Bereich der lateinischen Dialoge in der Frühen Neuzeit,22 der sich bis hin zu philosophischen Dialogen in der Nachfolge Ciceros erstreckt, wie etwa die Utopia des Thomas Morus. Die Schülerdialoge selbst verstehen sich in aller Regel als Lehrwerke zum Spracherwerb, und zwar zum aktiven mündlichen Beherrschen der lateinischen Sprache.23 Sie spiegeln also die Sphäre der Mündlichkeit wider, wie sie in den Lateinschulen und Universitäten, mithin also in der Welt der Bildung, vorherrschte – oder, besser gesagt, nach Maßgabe des Verfassers vorherrschen sollte. Paulus Niavis’ Schülergesprächsbücher unterscheiden sich von ihren Vorgängern durch einen höheren Grad an Literarisierung.24 So sind die Gespräche stets durchkomponiert und stellen im Hinblick auf ihre Ausgestaltung mehr dar als eine bloße Sammlung musterhafter Versatzstücke, auch wenn solches noch vorkommt, beispielsweise die schon angesprochenen Reihen von Grußund Anredeformeln. Darüber hinaus fehlt jede volkssprachliche Verständnishilfe, die in früheren Werken durchaus gängig ist.25 Die Gesprächsbücher sind in vier Drucken überliefert und bestehen jeweils aus einem Zyklus von Dialogen. Der wohl erfolgreichste Druck ist der Dialogus paruulis scholaribus […] perutilissimus,26 eine Reihe von Dialogen, an denen Lateinschüler und ihr Magister beteiligt sind. Unter dem Titel Latina ydeomata sind drei Gesprächsbücher versammelt in einem Druck erschienen:27 Das Latinum ydeoma pro novellis studentibus, das erste in der Reihe, enthält 18 Dialoge zwischen Leipziger Studenten28 und ist mit dem so genannten Manuale scolarium, einem Geschichte der Erziehung und des Unterrichts in den Ländern deutscher Zunge 1), Berlin 1897 [Ndr. Amsterdam 1966], zu Niavis S. 19–55. 22 Ein Überblick bei LUDWIG, WALTHER: »Formen und Bezüge frühneuzeitlicher lateinischer Dialoge«, in: Bodo Guthmüller / Wolfgang G. Müller (Hrsg.), Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 22), Wiesbaden 2004, S. 59–103, der auch den Schülerdialog darin verortet. 23 Vgl. BODEMANN-KORNHAAS, ULRIKE / GRUBMÜLLER, KLAUS: »Schriftliche Anleitung zu mündlicher Kommunikation: die Schülergesprächsbüchlein des späten Mittelalters«, in: Hagen Keller / Klaus Grubmüller / Nikolaus Staubach (Hrsg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Akten des internationalen Kolloquiums 17.–19. Mai 1989 (Münsteraner Mittelalter-Schriften 65), München 1992 S. 177– 193. 24 So BODEMANN-KORNHAAS / GRUBMÜLLER, »Schriftliche Anleitung«, S. 188. 25 Z. B. dem Breslauer Schülergesprächsbüchlein, vgl. BODEMANN-KORNHAAS / GRUBMÜLLER, »Schriftliche Anleitung«, S. 180–183. 26 Dialogus paruulis scholaribus ad latinum idioma perutilissimus, Hain 11698–715, vgl. BÖMER, Schülergespräche, S. 20–27 mit ausführlicher Paraphrase, der jeweils auch die verschiedenen Drucke nachweist. Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München ist online unter http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0003/bsb00039941/images/ verfügbar. 27 Latina ydeomata Magistri Pauli Niauis. 28 Ediert und untersucht von STRECKENBACH, GERHARD: »Paulus Niavis, ›Latinum ydeoma pro novellis studentibus‹ – ein Gesprächsbüchlein aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts II«, in: Mittellateinisches Jahrbuch 7 / 1972, S. 187–251; ferner dazu DERS.,
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anonym überlieferten Gesprächsbuch, eng verwandt, dessen Dialoge in Heidelberg spielen.29 Der darauf folgende Thesaurus eloquentiae bietet 19 Kapitel mit Gesprächen, die nicht an Schule oder Universität situiert werden, aber Leipziger Themen behandeln,30 und die zwölf Kapitel des Latinum ideoma pro scholaribus adhuc particularia frequentantibus schließlich enthalten Gespräche zwischen Partikularschülern und ihrem Lehrer.31 Diese Dialoge spielen in Chemnitz und sind wohl für den Unterricht ihres Verfassers an der dortigen Lateinschule gedacht. Der Dialogus in quo litterarum Studiosus cum beano […] loquitur32 schließlich besteht aus drei Gesprächen zwischen einem tölpelhaft dargestellten Anfänger und einem sehr redegewandten fortgeschrittenen Studenten. Gilt generell für die Schülergesprächsbücher, dass die Partikularschüler ein sehr einfaches, manchmal etwas holpriges Latein sprechen, die Universitätsstudenten dagegen ein grammatisch einwandfreies, wird hier der Unterschied der sprachlichen Ebenen auf die Spitze getrieben: Das rohe, fehlerhafte Latein des Erstsemesters trifft auf einen schon beinahe übertrieben geschliffenen Stil des Scholaren. Nicht ganz zu unrecht wurden diese Dialoge in ihrer Art, noch nicht versierte Anfänger durch ihre Fehler bloßzustellen, als Vorläufer der »Paulus Niavis, ›Latinum ydeoma pro novellis studentibus‹ – ein Gesprächsbüchlein aus d. letzten Viertel des 15. Jahrhunderts«, in: Mittellateinisches Jahrbuch 6 / 1970, S. 152–191. 29 BÖMER, Schülergespräche, S. 18, sieht das Manuale als Vorlage für Niavis; er folgt dabei Friedrich Zarncke, der das Manuale 1857 herausgegeben hatte. Den Gegenbeweis einer Abhängigkeit des Manuale von Niavis führte RITTER, GERHARD: »Über den Quellenwert und Verfasser des sogen. Heidelberger Gesprächsbüchleins für Studenten (›Manuale scholarium‹, um 1490)«, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 77, N.F. XXXVIII / 1923, S. 12– 32. Die Bearbeitungstendenzen des Manuale untersucht ausgehend von Ritters Prämissen STRECKENBACH, GERHARD: »Das ›Manuale scolarium‹ und das ›Latinum ydeoma pro novellis studentibus‹ von Paulus Niavis«, in: Mittellateinisches Jahrbuch 10 / 1974, S. 232–269. 30 Teiledition von Kapitel 13 und 14 bei WENG, GERHARD: »Paul Schneevogels (Paulus Niavis’) Beziehungen zum Bergbau«, in: Friedrich Naumann (Hrsg.), Sächsisch-böhmische Beziehungen im 16. Jahrhundert. 6. Agricola-Gespräch; wissenschaftliche Konferenz, veranstaltet vom Agricola-Forschungszentrum Chemnitz, der Sächsischen Landesstelle für Volkskultur und dem Karlovarské muzeum, 24.–26. März 2000, Alte Münze in Jáchymov, Chemnitz 2001, S. 76–94; hier S. 89–94; dieselben Kapitel übersetzt KRENKEL, PAUL: Paulus Niavis, Iudicium Iovis. Das Gericht der Götter über den Bergbau. Ein literarisches Dokument aus der Frühzeit des deutschen Bergbaus (Freiberger Forschungshefte, Kultur und Technik D3), Berlin 1953, S. 39–45. Vgl. ferner BÖMER, Schülergespräche, S. 30–40. 31 Teiledition von Kapitel 9 bei WENG, »Beziehung zum Bergbau«, S. 88f., vgl. ferner BÖMER, Schülergespräche, S. 40–46. 32 Dialogus in quo litterarum Studiosus cum beano quarumvis praeceptionum imperito loquitur, Hain 11737–11739. Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München ist online unter http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0003/bsb00039931/images/. Vgl. ferner BÖMER, Schülergespräche, S. 46–52 mit einer vollständigen Edition des ersten Kapitels und umfangreichen Paraphrasen der beiden anderen.
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Dunkelmännerbriefe bewertet.33 Abschließend wäre noch das sechs Dialoge umfassende Latinum idioma pro novitiis zu nennen, das Heinrich von Schleinitz gewidmet ist, dem Abt des Chemnitzer Benediktinerklosters. Hier lässt Niavis angehende Novizen sich über spezifische Themen des Umgangs im Kloster miteinander unterhalten.34 Damit zu einigen Beispielen: Ich beginne mit dem Dialogus in quo litterarum Studiosus cum beano […] loquitur. Hier lässt sich prägnant ablesen, was Niavis unter eloquentia verstand, genauer gesagt, was für ihn gewissermaßen die Mindestanforderungen waren. Im Widmungsbrief an den Chemnitzer Presbyter Erasmus bekennt er, ihm dieses Büchlein zu schicken, vt plane cernas quantum sit discrimen inter eos qui praecepta colunt dicendi observantque amirantur atque eciam inter eos qui quamque invencionem nudam in mundam [sic!] vulgari inferunt sermone. Tu si animaduertas bouis mugitum: concentumque philomene faciasque postea comparacionem recte hanc similitudinem persequaris.35 Wie sich dieser Wechsel zwischen Rind und Nachtigall anhört, wird gleich zu Beginn des ersten Dialogs deutlich. Scoribal, der ungebildete Anfänger (so wird er zu Beginn des Dialogs noch einmal in einer Regieanweisung eingeführt), begrüßt den in der Redekunst beschlagenen Freund Florinus: Benevenis, Florine! Ille filius pistoris dixit mihi, quod tu venisti, et ego ita curri de foro, ut pes faciunt mihi awe. Die Wahl und vor allem Stellung der Wörter entspricht relativ genau dem deutschen Satz. Der deutlichste Germanismus ist die direkte Übertragung des deutschen Teilsatzes ›dass die Füße mir wehtun‹ Stück für Stück ins Latein mit der Wendung ut pes faciunt mihi awe. Sehr geschliffen dagegen fällt die Antwort des Florinus aus: Gratia tibi pro hac tua in me benevolentia sit atque adeo maxima!36 Das ist nicht nur korrek 33
Darauf verwies zuerst BÖMER, ALOYS: »Ein vergessener Vorläufer d. Dunkelmännerbriefe«, in: Neue Jahrbücher für Pädagogik 8 / 1905, S. 280–287. Vgl. jetzt vor allem JOHNSON, RAND: »A Parodistic Student Dialogue of Master Paulus Niavis«, in: Archivum latinitatis medii aevi 59 / 2001, S. 243–260. 34 Latinum idioma pro novitiis in religionibus constitutis, Hain 11719–11720. Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München ist online unter http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0003/bsb00039948/images/. Zu den Drucken vgl. BÖMER, Schülergespräche, S. 52f.; ferner HAYE, THOMAS: Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kommunikation des hohen und späten Mittelalters, Berlin / New York 2005, S. 68–77. 35 Bl. 1v. »[…] damit du klar erkennst, wie groß der Unterschied ist zwischen denen, welche die Vorschriften der Beredsamkeit einhalten, befolgen und verehren, und denen, die jeden bloßen Einfall in ungeschlachter Rede in die Welt posaunen. Wenn du das Gebrüll eines Rindes hörst und den Gesang einer Nachtigall, dann beides miteinander vergleichst, hast du ein treffliches Abbild davon.« 36 Nach der Edition bei BÖMER, Schülergespräche, S. 47.: »Sei willkommen, Florinus. Der Sohn des Bäckers hat mir gesagt, dass du gekommen bist, und ich renne so vom Marktplatz, dass mir die Fuß [falscher Numerus im Lateinischen] wehtun! – Florinus: Dank sei dir für dieses dein Wohlwollen mir gegenüber, und zwar der allergrößte!«
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tes Latein, sondern auch, entsprechend den Vorgaben des Widmungsbriefs, nicht dem spontanen Einfall folgend herausgeplappert: Die verschachtelte Wortstellung (Sperrung hac tua – benevolentia) verrät, dass der Sprecher sich den ganzen Satz und dessen Bauplan im Kopf zurechtgelegt hatte, bevor er zu sprechen begann. Die folgenden Wortwechsel bleiben ganz diesem Schema verhaftet. Auf die Frage nach der hohen Schule, von der er komme, gibt Florinus bereitwillig Auskunft und preist die dort gepflegte Gelehrsamkeit. Scoribal antwortet: Ei, per deum sanctum, tu bene studuisti! Scit unus ita bene in illa alta schola studere? Darauf erhält er Antwort in einem gelehrten Bild: In fonte potior est, si gustare voles, liquoris gustus; cum profluxuerit, perdit vires atque alienum recipit saporem. Sic quoque Universitas scaturigo est integrum praestans scientiarum valorem. Scoribal möchte nun wissen, wie man auf die Hohe Schule gelange: Et quomodo oportet unum facere, quando in principio vult in illam altam scholam ire? Darauf entgegnet Florinus hintergründig: Primum inquiras oportuerit Universitatis locum, tum apertis ianuis ut in aliam quaecunque [sic] sit domum, sic quoque in illam et tu poteris et tui persimiles introire.37 Wieder ist es Scoribals Kardinalfehler, dass er seinen Sätzen eine aus dem Deutschen stammende Grundstruktur verleiht, die er Wort für Wort mit lateinischen Vokabeln ausstattet, ohne auf die Gepflogenheiten der Zielsprache zu achten. Er benutzt die Vokabel unus (nur ein, ein einziger) als Indefinitpronomen, um die im Lateinischen kompliziertere Konstruktion eines unpersönlichen Ausdrucks zu umgehen. Die Sätze des Florinus zeigen dagegen neben einer eleganten Wortstellung (etwa: alienum recipit saporem oder et tu poteris et tui persimiles introire) auch genuin lateinische Konstruktionen wie Primum inquiras oportuerit […] locum oder einen Ablativus absolutus (apertis ianuis). Natürlich ist der sprachliche und intellektuelle Gegensatz zwischen den beiden Dialogpartnern mit einem satirischen Unterton gestaltet. Genau dadurch wird ein Unterschied zwischen beiden deutlich, den man im Hinblick auf das didaktische Anliegen von Niavis ernst nehmen darf: Scoribal spricht Latein, indem er in seinen deutschen Sätzen einfach die Vokabeln einzeln und der Reihe nach gegen entsprechende lateinische austauscht. Florinus ist eine entscheidende Stufe weiter: Er legt seinen Sätzen eine lateinische Wortstellung und eine lateinische Phraseologie zugrunde, denkt also vom Latein her – und um diesen Unterschied geht es letztlich. Nur so kann man die Äußerung
37 S. 48 »Scoribal: Ei, beim heiligen Gott, du hast gut gelernt! Kann einer so gut in dieser hohen Schule studieren? – Florinus: An der Quelle ist der Geschmack des Wassers kräftiger, wenn du es kosten willst. Wenn es weitergeflossen ist, verliert es die Intensität und nimmt fremden Geschmack an. So verleiht auch die Universität als Quelle die volle Kraft der Wissenschaft. […] Scoribal: Und was muss einer zuerst machen, wenn er mal in diese hohe Schule gehen will? – Florinus: Zuerst wäre es wohl nötig, dass du den Ort der Universität aufsuchst, dann kannst auch du und solche, die dir ähnlich sind, wie es sich auch bei jedem anderen Haus verhält, auch in dieses durch die offenen Türen eintreten.«
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des Verfassers im Widmungsbrief verstehen, der Dialog zeige den Unterschied zwischen denen, welche die praecepta dicendi verinnerlicht hätten, und denen, die sie missachteten. Die Vertiefung dieser sprachlichen Ausdrucksfähigkeit ist das Ziel der anderen Gesprächsbücher, die sich an fortgeschrittenere Schüler wenden. Sie wollen neben dem sprachlichen einen in akademischen Kreisen damals geforderten urbanen Habitus der Umgangsform vermitteln. Die Dialogpartner stehen sprachlich auf einer Stufe, unterweisen sich aber bisweilen gegenseitig im richtigen Verhalten. Dies zeigt ein Blick auf eine Passage aus dem Latinum ydeoma pro novellis studentibus, dem ersten der drei Zyklen des oben angesprochenen Sammeldrucks. Er beginnt mit einem Gespräch zwischen Magister und Student zur Immatrikulation, bevor alle möglichen Themen des universitären Lebens angesprochen werden: Von verschiedenen Disziplinen, dem Streit zwischen via moderna und via antiqua, über die Gespräche beim Spaziergang oder die damals gängigen Warnungen vor Frauen und Liebesabenteuern bis hin zu Prüfungsangelegenheiten. Die zu untersuchende Szene spielt im Speisesaal der Burse, wo die Studierenden der Artistenfakultät ihr Mittagessen erhalten, und trägt die Überschrift Quo pacto in mensa loquantur. Es handelt sich um einen Dialog zwischen zwei Studenten, Bartoldus und Camillus, in dem sich schnell zeigt, dass Camillus die Rolle des vorbildlichen Studierenden einnimmt und Bartoldus das Beispiel dessen gibt, der noch zu lernen hat. Der Dialog beginnt recht alltäglich: Camillus: Pulsus fit ad prandium. Vadamus propere! Alioquin neglexerimus! Bartoldus: Recte hortaris; etenim si neglegeremus, ceteri nos haberent derisos. Camillus: Proverbium hoc commune est: ›Si quis damnum tulerit, derisione non caret‹. Bartoldus: Atque hoc merito facerent, namque nobis nullum est negocium, quamobrem in prandio non essemus.38 Bis hierhin erweisen sich beide gleichermaßen als Musterschüler. Doch schon beim Beginn des Essens zeigen sich die Differenzen. Während Camillus froh ist, noch nicht als Nachzügler aufgefallen zu sein, hat Bartoldus offenkundig Hunger: Camillus: En, contecta est mensa. Si paululum adhuc remorati essemus, illis hic sedentibus fuissemus fabula. Bartoldus: Attingamus nunc cibum! Arduum mihi est prestolari in mensa, cum cibaria presto sunt. Camillus: Bone Deus, tam grossus es, quasi sine benediccione velis comedere? Bartoldus: Neque
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Ich zitiere nach der Edition von STRECKENBACH, Stiltheorie, hier S. 210. »Camillus: Es läutet zum Essen. Lass uns schnell gehen! Sonst versäumen wir es noch! – Bartoldus: Du mahnst zu recht; denn wenn wir es versäumen, würden uns die anderen auslachen. – Camillus: Da gibt es ein gebräuchliches Sprichwort: ›Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen‹. – Bartoldus: Und sie würden es mit Recht tun, denn wir haben keine Aufgabe, derentwegen wir beim Essen fehlen dürften.«
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sacerdos sum neque theologus. Camillus: At Christianus! Num religioni nostre congruum est? Benediccionem dicamus, ne ut porci in escam ruamus!39 An dieser Stelle beginnt ein Streit zwischen den beiden, im Zuge dessen Camillus seinen Kommilitonen immer wieder für falsches Betragen tadelt. So entwirft Niavis in den beiden Figuren das Gegensatzpaar eines kultivierten und eines unkultivierten Essers. Deutlich wird dies in einer Anspielung des Camillus: Als Bartoldus sich über das weiche Kalbfleisch beschwert und betont, bei ihm zuhause verschmähe man dergleichen, spottet er: Scio equidem, quod in patria tua ferinis carnibus semper vescuntur, fabis autem, arbitror, et lentibus pulmentisque atque mulso. Quid ais? Tali ferculo mater tua, cum te genuit, in puerperio usa fuisset et quandam suscepisset recreacionem!40 – Bartoldus hat also das rohe Leben des Barbaren mit der Muttermilch aufgesogen. Und diese Vorstellung des bohnenfressenden Wilden ist im Humanismus das typische Spottbild des unkultivierten Germanen, der die Lehren der studia humanitatis noch nicht verinnerlicht hat. Bezeichnend ist auch der Hinweis auf die kultivierten Baccalarii, mit dem Camillus die Mahnung bekräftigt, nur die Portion zu nehmen, die einem selbst zustehe: Verum seniores hic sunt et honestiores, quam sum aut ego aut tu. Baccalarii preferendi sunt, qui honestatis insignia susceperunt, sed silent; dant hoc verecundie, quod te non increpant. Quid autem animo volvunt? Hanc enim sentenciam: Quam grossus ille, quam illotus!41 Die Lehren, die Camillus vermitteln möchte, sind nicht genuiner Bestandteil der studia humanitatis, sondern in fast jeder Tischzucht seit dem Hochmittelalter enthalten. Vom Phagifecetus des Reinerus Alemannicus, einer lateinischen Tischzucht aus dem Hochmittelalter, war unter dem Titel ›Thesmophagia‹ eine deutsche Übersetzung von Sebastian Brant entstanden, die
39 Ebd., »Camillus: Sieh, der Tisch ist gedeckt – wenn wir auch nur noch ein bisschen länger gebraucht hätten, wären wir bei denen, die dort sitzen, schon Gesprächsstoff. – Bartoldus: Lass uns jetzt mit dem Essen beginnen! Es ist mir fast unmöglich, bei Tisch zu warten, wenn das Essen bereit steht. – Camillus: Gütiger Gott, bist du so gefrässig, dass du ohne Gebet essen willst? – Bartoldus: Ich bin weder Priester noch Theologe. – Camillus: Aber Christ! Passt das vielleicht zu unserem Glauben? Lass uns ein Gebet sprechen, damit wir uns nicht aufs Essen stürzen wie die Schweine!« 40 In der Edition von STRECKENBACH, Stiltheorie, S. 211. »Ich weiß wohl, dass man bei dir zuhause immer Wild isst; Bohnen, glaube ich, und Linsen als Beilage und Met. Was sagst du? Solch ein Menü hat deine Mutter im Kindbett zu sich genommen, als sie dich geboren und sich davon erholt hat!« 41 Ebd., »Es sind aber unter den Anwesenden Ältere und Ehrenwertere als wir beide es sind. Den Baccalarii muss man das Vorrecht lassen, die ja die Ehrenzeichen [ihres akademischen Grades] tragen, aber schweigen. Sie zeigen soviel an Zurückhaltung, dass sie dich nicht schelten. Aber was denken sie bei sich? Dieses Urteil nämlich: ›Was ist der da gefrässig und ungewaschen!‹«
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1490 bei Michael Furter in Basel gedruckt wurde.42 In den Themenkosmos seines Narrenschiffs integriert Brant ab der zweiten Auflage (1495) ein entsprechendes Kapitel, in dem er genau dieselben Verfehlungen tadelt.43 Brant wie Niavis greifen also ein offenbar beliebtes didaktisches Thema ihrer Zeit auf. Auf die angestrebte Korrespondenz von sprachlichem Ausdruck und Umgangsformen weisen weitere Passagen des Zyklus, indem sie Themen aufnehmen, die man auch aus der volkssprachlichen Didaxe kennt. Zu nennen wäre hier beispielsweise das Kapitel 16 (Qualiter de mulieribus loquantur, cum amore inflammati sunt), das diesmal Bartoldus die Rolle des Besonnenen zuweist, der Camillus vom Gang zu einer Tanzveranstaltung abhalten kann, indem er ihn von der Schönheit der studia überzeugt, deren Schau die der irdischen Schönheit übertreffe. Aber auch die Kapitel, in denen es um lateinische Konversation geht, liegen oft an der Schnittstelle zwischen Sprach- und Umgangsformen, so etwa das zwölfte Kapitel, in dem mit verschiedenen Beispielen gezeigt wird, wie man andere, vor allem höhergestellte Universitätsangehörige zum Essen einlädt (De modo petendi personas honestas aut ad prandium aut ad collationes). Was in den Schülergesprächsbüchern als beispielhaft vorgeführt wird, ist ein dem gepflegten mündlichen Umgangston nahe stehendes Latein. Es ist grammatisch korrekt und basiert auf einer lateinischen Phraseologie und Idiomatik, ohne grobe Germanismen. Dies ist oben im Gespräch zwischen Scoribal und Florinus als Niavis’ Kriterium für richtiges Latein bereits deutlich geworden, und über diesen Stand führen die weiteren Gesprächsbücher auch nicht hinaus. Die Gespräche liefern vornehmlich sprachliche Muster, um verschiedene Situationen der mündlichen Kommunikation zu bewältigen. Dieser Sprachstil nahe an der Mündlichkeit kennzeichnet auch andere Werke von Niavis und steht offenbar für das, was er unter eloquentia versteht, nämlich schlicht die Fähigkeit, sich im Lateinischen einigermaßen gewandt und fehlerfrei auszudrücken.44
42 Vgl. UMBACH, SILKE: Sebastian Brants Tischzucht (Thesmophagia 1490). Edition und Wortindex (Gratia 27), Wiesbaden 1995; ferner HOMOLKA, ANITA: Die Tischzuchten von Sebastian Brant, Thomas Murner und Hans Sachs und ihr realer Hintergrund in Basel, Straßburg und Nürnberg, Diss. phil, München 1983. 43 SEBASTIAN BRANT: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben, hrsg. von Manfred Lemmer. 4., erw. Aufl., Tübingen 2004 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke N.F. 5); Kapitel 110a, Vv. 25–30: [Ein Narr sei], wer etwa vor nit gbettet hat | Den segen über wyn und brott | Ee dann das er zuom disch hyn got | Der ouch zuom erstt gryfft in die schüssel | Vnd stoßt das essen jn den drüssel | Vor erbern lüten / frowen / herren | Die er doch sult vernünfftlich eren. 44 So fasst es auch STRECKENBACH, Stiltheorie, S. 144–146.
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Im Einklang mit den Kategorien des oben zitierten Briefs gibt es auch Passagen, die ein auffallend klassisches Latein vorführen. So wird eine Szene im Thesaurus eloquentiae deutlich mit Mitteln der antiken Rhetorik ausgestaltet. Auf deren Besonderheit hat bereits Streckenbach verwiesen und sie als große Ausnahme gewertet.45 Im zehnten Kapitel lässt Niavis einen neu berufenen rector eine Dankesrede halten, der im folgenden elften Kapitel eine suasio folgt, mit der er seine Schüler zum Studium animieren will: ornatissimi adulescentes vtinam mihi talis esset qua vos inducerem persvasio. vt primum amorem: deinceps fructum sentiretis sed quo me vertam dignitas disciplinae istius longe commendationem quam edicere possem excellit in ea enim est ingenii suauitas: ordo rerum expertissimus et crebra sentenciarum acumina elegantissimus quoque verborum ornatus. hanc intentissimo debetis animo complecti: et studiosissime acquirere. primum laborem impendere. postea assiduitatem comparare: ex vsitatione novissime amorem huius rei robustum firmumque conficere. quod cum feceritis thesaurum colligitis certissimum maximeque profuturum.46 Hier begegnen Sperrungen, längere Perioden, relative Satzanschlüsse (quod cum feceritis) oder Häufungen von epitheta (robustum firmumque), also zum ornatus gehörende Stilmittel. Auch die Rede zu Beginn des zehnten Kapitels ist entsprechend gestaltet. Die Form dieser Reden ist jeweils dem besonderen Anlass und der Intention geschuldet: Sie werden in einem feierlichen Rahmen gehalten und dienen dazu, die Schüler zur Anstrengung im Lernen zu animieren, wollen also überzeugen. Von dieser Varianz des Stils sind auch die so genannten literarischen Werke Niavis’ gekennzeichnet, so auch die Historia occisorum in Kulm. In dieser Erzählung, die sich dezidiert in die Nachfolge der lateinischen Versionen italienischer Novellen stellt, geht es um eine Bande von Verbrechern, die im Wald auf dem Kulmberg bei Eger ihr Unwesen treibt. Nahezu alle, die den Wald passieren, werden ausgeraubt und umgebracht. Da ihre Leichen in stillgelegte Bergwerksschächte geworfen werden, findet sich nie eine Spur von Opfern oder Tätern. Im Lauf der Zeit gehen die Mörder dazu über, sich, als 45
Ebd., S. 156f. NIAVIS, Latina ydeomata, Bl. G ir. »Ihr vortrefflichen jungen Männer, stünde mir doch eine solche Überzeugungskraft zu Gebote, dass ich euch nahe bringen könnte, dass ihr zuerst die Liebe [zu ihr = Rhet.?] und dann deren Frucht verspüren würdet. Aber was soll ich tun? Die Würde dieser Disziplin strahlt weit stärker hervor, als ich ihr Lob aussprechen kann. Denn in ihr ist das Anziehende der Begabung, eine zutiefst bewährte Ordnung der Dinge, immer wieder der Scharfsinn der Gedanken und auch der feinste Schmuck der Rede. Diese müsst ihr mit aufmerksamstem Geist umfassen und mit größtem Eifer euch zu eigen machen. Als erstes [müsst ihr] Mühen darauf verwenden, dann ununterbrochen wiederholen, schliesslich aus dem Umgang damit eine feste und unerschütterliche Liebe zu dieser Sache entwickeln. Wenn ihr das vollbringt, verschafft ihr euch einen sicheren Schatz von allerhöchstem Nutzen.« 46
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junge Adlige verkleidet, unter die Festgesellschaften der Städte und Dörfer zu mischen, dort junge Frauen unter Eheversprechungen zur Flucht zu überreden, um sie auf dieser gemeinsamen Flucht umzubringen. Erst als ein solcher Mord zufällig von einer Dienerin heimlich beobachtet wird, können die Verbrecher überführt und dingfest gemacht werden.47 Bei der Ausgestaltung der Geschichte bleibt Niavis im Allgemeinen bei seinem kolloquial erzählenden Stil, der vor allem der eher schmucklosen Parataxe verpflichtet ist. Als Beispiel sei hier nur die Eingangsbeschreibung der Landschaft zitiert, in der die Geschichte spielt: Locus nemorosus fuit / in quo fere omnium latrocinancium latebre sunt existimate. in cuius medio mons est / eminenti altitudine ceteros superans. vsque adeo forte eleuatus / vt egrensium omnis ab eo: pars magna cubitensium videtur. ab egra nempe asperior ipse aggredientibus. leuius cubitensibus iter ministrat. lignea in culmine ipsius ecclesia constructa. nomenque eius / vt ipsi prope habitantes. Culm ita quoque et nos appellamus. a qua tunc ecclesia haud quidem remote erant montifodine quedam. in quibus profecto elapsis temporibus / aut aurum est: aut argentum: aut aliud metallum quesitum. ac temporis tractu eiusdemque successione arboribus rubisque crescentibus / vt in vastis semper sit atque maximis nemoribus / erifodine tegebantur adeo / vt paucis fuerunt vel accolis cognite.48 Der Erzähler reiht die einzelnen inhaltlichen Elemente aneinander, ohne dabei längere hypotaktische Perioden zu konstruieren. Keine Sperrungen umschließen andere Satzglieder oder verschränken weiter entfernt stehende Einheiten miteinander, daneben sind Epitheta sehr sparsam verwendet. Es scheint gut möglich, dass Niavis dies als den passenden Grundton ansah, in dem er
47 Der Zusammenhang kann hier nur sehr verkürzt dargestellt werden. Für eine ausführlichere Darstellung auch der Quellenlage, mit Edition und Übersetzung, vgl. RUPP, MICHAEL: »Der Petrarca aus Böhmen. Paulus Niavis und die humanistische Novelle in Leipzig«, in: Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 23 / 2008, S. 59–104. Der Druck ist etwa in derselben Zeit wie die Gesprächsbücher in Leipzig erschienen. Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München (4 Inc. s.a. 1034) ist digitalisiert und im Internet einsehbar unter http://mdz10.bib-bvb.de/~db/0003/bsb00030186/images/index.html. 48 RUPP, Petrarca aus Böhmen, S. 81, § 3. »Es war einmal eine bewaldete Gegend, in der die Schlupfwinkel beinahe sämtlicher Räuber vermutet wurden. In ihrer Mitte ist ein Berg, der mit seiner enormen Höhe die anderen überragt und etwa so hoch erhaben ist, dass von ihm aus das Gebiet von Eger ganz und das von Elbogen zu einem großen Teil eingesehen wird. Für die von Eger her kommenden führt freilich ein steiler, für die aus Elbogen ein einfacherer Weg hinauf. Auf seinem Gipfel steht eine hölzerne Kirche. Wie die, die direkt dort wohnen, nennen auch wir sie mit Namen Culm. Von dieser Kirche war damals nicht eben weit entfernt ein Bergwerk, in dem in vergangenen Zeiten tatsächlich Gold, Silber oder ein anderes Metall gewonnen wurde. Und als im Zuge der Zeit und deren Folge die Bäume und Dornbüsche dort wuchsen, wie es in der Einöde und in riesigen Wäldern zu sein pflegt, wurden die Erzbergwerke so verdeckt, dass sie nur wenigen und direkten Anwohnern bekannt waren.«
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eine Erzählung wiedergeben konnte, die ihm aus der Volkssprache und in mündlicher Überlieferung bekannt geworden war.49 Die Abweichungen von diesem Grundton betreffen einschlägige Stellen, an denen die auctoritas des Gesagten mit Hilfe der Redekunst betont werden muss. So sticht eine Rede deutlich heraus, mit welcher der Stadtrat von Eger das Ergebnis einer langen Beratung verkündet. Er hatte über Gerüchte zu verhandeln, denen zufolge die verschwundenen Männer vor ihren Schuldnern oder die vermissten Frauen mit ihren Liebhabern geflohen seien. Nach reiflicher Prüfung befinden die Ratsherren all dies für haltlos und begründen ihre Auffassung vor der Bevölkerung wie folgt: Iniuria est dixerunt illi optimi consules / tantam his peruersitatem viris asscribere. qui multis annis virtutibus: et a pueris quoque inuigilarunt. qui rem publicam auxerunt: legesque et maiorum instituta / ad bene beateque viuendum reperta / non obseruarunt modo sed eciam velut deum quendam e celo demissum coluerunt. et summo studio quasque vite raciones persecuti / que reddere possint eosdem honestiores. Neque enim paupertas illos quidem ipsos cogere potuisset / qui magistratu aliquo prediti / in suis profectio[Aiiii r]nibus non reuerterentur. quoniam magna pars ciuium in hoc numero est / qui agros predia domus / plura fortune bone vna cum diuicijs possidebant. hec eadem dicenda sunt et de mulieribus quod eam ipsi quam viri sortem sunt passe. hecque illa nos arbitramur de ceteris qui pauperes fuerunt: atque inopes. et quos minuta suppellex nundinas inuisere orasque longinquas perpulerit. tum inter ambulandum a raptoribus extincti.50 Die Rede ist in hohem Maß ciceronianisches Latein. Sie weist die entsprechenden Stilmittel auf und ist wesentlich mehr hypotaktisch strukturiert als
49 So gibt er es im Widmungsbrief an, vgl. RUPP, Petrarca aus Böhmen, S. 80, § 2: Itaque cum sepissime hanc seu historiam: seu fabulam a progenitoribus meis audiueram: qui a suis percepisse dixerunt […]. »Und weil ich sehr häufig diese Geschichte – sei es nun eine wahre oder eine erfundene – von meinen Vorfahren gehört hatte, die sie wiederum von den ihren gehört zu haben behaupteten […].« 50 Ebd., S. 82, § 6. »Unrecht ist es«, so sprachen diese vortrefflichen Ratsherren, »eine so große Schlechtigkeit Männern zuzuschreiben, die viele Jahre lang und dazu von Kindheit an in Tugenden wachsam gewesen sind, die das Gemeinwesen gefördert und die Gesetze und Einrichtungen der Vorfahren, zum guten und seligen Leben erdacht, nicht nur respektiert, sondern auch wie einen vom Himmel herabgeschickten Gott verehrt und mit höchstem Eifer jede Lebensregel befolgt haben, die sie ehrenhafter machen konnte. Auch hätte dieselbigen – [allesamt] Amtsträger – freilich nicht die Armut zwingen können, nicht dorthin zurückzukehren, wo sie hergekommen waren, weil unter diesen ein großer Teil an Bürgern ist, die Äcker, Grundstücke, Häuser und viele Glücksgüter und den dazugehörigen Reichtum besaßen. Dasselbe ist auch über die Frauen zu sagen, da sie das nämliche Los wie die Männer erlitten haben. Und genau das glauben wir auch von den übrigen, die arm und mittellos waren, und die ganz dürftige Vermögensverhältnisse dazu gebracht haben, Markttage zu besuchen und weit entfernte Gegenden, und die dann auf dem Weg von Räubern ermordet wurden.«
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die vorausgehenden Passagen. Sogar Wortwahl und Idiomatik sind klassisch. Die Ratsherren sind optimi consules, Eger ist eine res publica mit beherzten Bürgern, qui rem publicam auxerunt: Der ganze Absatz hat den Stil einer antiken Gerichtsrede, die auch ihre Wirkung nicht verfehlt, denn: qui sermo in mentibus eorum verum peperit rationem – sie bringt die Bürgerschaft zur Vernunft und Besinnung. Wie bei der oben zitierten Ansprache des Rektors im Thesaurus eloquentiae geht es hier um persuasio, die mit den entsprechenden Mitteln ausgestaltet und realisiert wird. Die Historia occisorum in Kulm enthält auch eine kleine Darstellung unzureichender eloquentia: Als ein Ritter, Herr der besagten Dienerin, zunächst von einem männlichen Untergebenen verlangt, er solle ihm mitten in der Nacht und bei Schneetreiben einen in der Kapelle im Wald vergessenen Kunstgegenstand holen, lehnt dieser entsetzt ab. Die Magd bietet an, für ihn einzuspringen: domine aijt quo certes premio aleam portabo.51 Das Wort certare passt in diesen Zusammenhang schlecht – man kann es am ehesten so übersetzen: »Um welche Belohnung wetteiferst du?« Hier bilden insgesamt sechs Wörter zwei Sätze in gebrochenem Latein. Durch das fehlerhafte Latein der Dienerin soll wohl dargestellt werden, dass sie eigentlich gar nicht Latein spricht, sondern Deutsch, und dass sie, mehr noch als die Partikularschüler, der Sphäre der Volkssprache zugehört und den Zugang zur lateinischen Welt nicht hat. Der Anteil an solchermaßen ausgestalteten Redeanteilen steigt im Iudicium Iovis stark an.52 Es erzählt die Geschichte von der Vision eines Einsiedlers, die, ähnlich der Historia occisorum in Kulm, angeblich über mehrere Stationen hinweg mündlich überliefert wurde. In ihr tritt Mutter Erde vor den Thron Jupiters, um die Menschen wegen des Bergbaus anzuklagen, der ihr schwerste Schäden zufüge.53 Dem Menschen springen die Penaten zur Seite, für Mutter Erde sprechen mit ihr verwandte Gottheiten wie Ceres und Bacchus, die den Missbrauch der Natur beklagen, oder die Faune, deren Wälder zerstört wurden. Jeder trägt sein Anliegen vor und erhält eine Antwort der Gegenseite. Jupiter möchte nicht eine der beiden Parteien begünstigen und schickt einen 51
Ebd., S. 85, § 15. »Herr«, sagte sie, »worum wettest du? Ich bringe dir den Würfel!« Iudicium Iovis in valle amoenitatis habitum ad quod mortalis homo a terra tractus propter montifodinas in monte niveo aliisque multis perfectas ac demum parricidii accusatus, [Leipzig, 1492–95] Hain 11743. Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München ist online unter http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0003/bsb00030187/images/; eine Edition durch RUPPRICH, HANS: Humanismus und Renaissance in den deutschen Städten und an den Universitäten (DLE, Reihe Humanismus und Renaissance 2), Leipzig 1935, S. 239–267. Übersetzung von KRENKEL, Iudicium Iovis. 53 Zum Bergbau in der damaligen Literatur HONEMANN, VOLKER: »Bergbau in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit«, in: Karl Heinrich Kaufhold / Wilfried Reininghaus (Hrsg.), Stadt und Bergbau, Köln / Weimar 2004, S. 238–261. Ferner WENG, Beziehungen zum Bergbau. 52
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Brief an Fortuna mit der Bitte um eine weise Entscheidung. Sie gibt zur Antwort, der Mensch sei zwar dazu bestimmt, die Erde auszubeuten, aber auf der anderen Seite falle er im Tode ihr wieder anheim – dies sei der Ausgleich. Mit diesem Schiedsspruch ist das Gericht beendet. Das Hauptgewicht des Iudicium Iovis liegt auf den Gerichtsreden. Sie werden durch die Rahmenerzählung umschlossen, die zu Beginn kurz schildert, wie der Einsiedler zum Erlebnis der Vision kam; am Ende lässt sie diesen im Verlauf weniger Sätze zu seiner Klause zurückkehren. Sie ist in einem ähnlich schlichten Grundton gehalten wie die Historia occisorum in Kulm; im Gegensatz zu dieser aber wirkt das Iudicium Iovis wie eine Mustersammlung von Gerichtsreden. Niavis hat es offenbar auch so gesehen, denn im Widmungsbrief bekennt er, er habe zwar die Bearbeitung dieser ihm zugetragenen Begebenheit lange gescheut, nicht zuletzt der praktische Nutzen einer solchen Zusammenstellung von Reden aber habe ihn dann doch dazu bewegt.54 Damit deutet er an, dass man den beiden literarischen Werken insofern eine gewisse didaktische Absicht unterstellen kann, als sie exemplarisch verschiedene Sprachformen in ihrer Anwendung vorführen.55 Ich fasse zusammen: Niavis passt die Regeln der antiken Rhetorik an die Situation seines Sprachunterrichts mit ihren Gegebenheiten und Anforderungen an. Diese Anforderungen richten sich an den Feldern aus, auf denen sich seine Schüler später bewähren müssen, in der Kanzlei, in der Schule, an den Artisten- oder an den höheren Fakultäten. Dementsprechend zeigt sich ein gewisses Bewusstsein für Textsorten oder, genauer, für verschiedene Situationen mündlicher oder schriftlicher Kommunikation, die unterschiedliche Anforderungen an die Sprache stellen. Darauf geht er in den verschiedenen Lehrbüchern ein, die mit Beispieltexten Lösungen vorstellen, mit denen die jeweilige Situation bewältigt werden kann. Dies gilt für die Schülergesprächsbücher in Bezug auf die mündliche Kommunikation56 und in ähnlicher Weise für die Brieflehren und -sammlungen, die zur schriftlichen Korrespondenz an
54 Im Widmungsbrief, nach der Ausgabe von RUPPRICH, Humanismus und Renaissance, S. 240, Z. 5–7: et quamquam diu reluctatus sum, asserens onus impar viribus meis, postremo tamen victus, in Latinum sermonem converti, motus ex eo, quia in iudiciali genere confectae orationes plurimum prosunt litterarum studiosis »Und obgleich ich mich lange wehrte und behauptete, diese Last übersteige meine Kräfte, ließ ich mich zuletzt umstimmen und übersetzte [die Geschichte] ins Lateinische, vor allem, weil Gerichtsreden für die Studenten sehr nützlich sind.« 55 Die Vermutung äußert zur Historia occisorum in Kulm BÖMER, Vorkämpfer, S. 59; zum Iudicium Iovis KRENKEL, Iudicium Iovis, S. 48. 56 HAYE, Lateinische Oralität, S. 76, spricht davon, Niavis »dekliniere« in seinem Latinum idioma pro novitiis »sämtliche Standardsituationen durch« und biete »seinen Lesern optionale Formeln an, die sich mühelos der jeweiligen konkreten Situation anpassen lassen. Das Erfolgsgeheimnis solcher Modelle liegt in der Balance zwischen der Vermittlung einer sprachlichen Routine einerseits und der Eröffnung einiger kommunikativer Freiräume andererseits.«
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leiten. Die Colores rhetoricae disciplinae, in denen er sich an die antike Rhetorica ad Herennium anlehnt, leisten ähnliches für die Rede, der damaligen Situation entsprechend für die öffentliche Rede, mit der die Menge der Zuhörenden für eine bestimmte Sache gewonnen werden soll – sei es in der Lateinschule, an der Universität oder im Kloster.57 Politische Reden oder Plädoyers vor Gericht, auf welche die Rhetorica ad Herennium zielt, wurden im deutschen Sprachraum dieser Zeit kaum auf Latein gehalten, so dass die intendierte Verwendungsmöglichkeit dieses Registers im Unterricht nicht so eindeutig festgelegt gewesen sein wird. Dennoch war es in Niavis’ Augen wichtig, es zu beherrschen. Und so paßt es zur praxisfernen Situation des Unterrichts, wenn die diesem Werk beigegebenen exemplarischen Deklamationen, in Übereinstimmung mit der Praxis antiker Rhetorenschulen, ihre Themen aus der antiken Mythologie beziehen und an ihnen die Muster der Gerichtsrhetorik vorführen. Der Begriff der eloquentia ist bei all dem offenbar weit gefasst. Er bezeichnet lediglich die Fähigkeit, sich in korrektem und von der eigenen Sprachstruktur her gedachtem Latein auszudrücken, das nicht bis in Details hinein der klassischen Sprachform entsprechen muss, sondern gerade in solchen Dingen wie dem Gebrauch des Konjunktivs oder der consecutio temporum dem gängigen Sprachgebrauch folgen konnte, der den damaligen kommunikativen Ansprüchen auch genügte. Die einfachste Form, die vor allem in den Schülergesprächsbüchern vorgeführt wird, ist ein an der Mündlichkeit orientiertes Latein, in dem die klassischen Kategorien von loqui und dicere in eins fallen.58 Mag auch manche Wendung antiken Vorbildern entlehnt sein, so zielt Niavis weder in den Schülergesprächsbüchern noch in den Musterbriefen darauf, den usus, den alltäglichen Gebrauch der Sprache, radikal den Normen der klassischen Autoren anzupassen; an manchen Stellen entscheidet er sich mit guten Gründen auch explizit dagegen. Eher kommt es ihm darauf an, das rhetorische Potential antiker Rhetorik in unterschiedlicher Form stilistisch fruchtbar zu machen. Sein Begriff von imitatio scheint dabei selektiv zu sein: Wenn die Situation es erfordert, kann man die Regeln der elegantia auch in höherem Maße anwenden, um einem Text – in diesem Fall einer Rede – die entsprechende Sprachgewalt und Überzeugungskraft, letztlich die praeeminencia auctoris zu verleihen. Damit erwächst ein weiteres Register der eloquentia, zu dessen Beherrschung die Fähigkeit zur imitatio gehört – nicht unbedingt deren konsequente Anwendung. In der Differenzierung der Sprachebenen, die wie Varietäten gegeneinander stehen, könnte sich überdies ein reales Verhältnis abbilden zwischen der 57
Colores rhetoricae disciplinae, Hain 11725. Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München ist online unter http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0003/bsb00039909 /images/ 58 So hat es STRECKENBACH, Stiltheorie, S. 144 festgestellt.
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gehobenen Umgangssprache der Unterhaltung und der Sprache offizieller Kommunikation, in der humanistische Beredsamkeit zu ihrem eigentlichen Feld finden sollte. Möglicherweise ist damit der Beginn einer Zweiteilung beschrieben, von der Jürgen Leonhardt noch im 16. Jahrhundert Spuren festgestellt hat, nämlich – grob gesagt – zwischen einem international gepflegten Umgangslatein und dem humanistischen Standard der Dichtung und der Reden – sie wird vor allem sichtbar in den Versuchen, auch das Umgangslatein auf die höhere Ebene zu heben.59 Insgesamt bietet sich also das Bild eines bewusst nur partiell reformierten Lateins, das sich seinen antiken Vorbildern in unterschiedlichem Grade nähert. Erst aus dem Blickwinkel eines späteren Sprachstandes, der die klassischen Normen auch für den usus verbindlich macht, lässt sich dies als unvollkommen oder defizient betrachten. Der entsprechende Grad an Verbindlichkeit ist zumindest zur Zeit der Dunkelmännerbriefe erreicht,60 und diese Verbindlichkeit gilt auch für Latinistinnen und Latinisten der Moderne, deren aktives Sprachvermögen in Stilübungen an Texten von Cicero gewissermaßen unter Laborbedingungen künstlich hergestellt wird. Aus dieser Perspektive mag man Niavis’ Schriften ihre Eigenheiten als Mangel vorwerfen – ob man ihnen damit gerecht wird, ist eine andere Frage.
Quellen- und Literaturverzeichnis BODEMANN-KORNHAAS, ULRIKE / GRUBMÜLLER, KLAUS: »Schriftliche Anleitung zu mündlicher Kommunikation: die Schülergesprächsbüchlein des späten Mittelalters«, in: Hagen Keller / Klaus Grubmüller / Nikolaus Staubach (Hrsg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Akten des internationalen Kolloquiums 17.–19. Mai 1989 (Münsteraner Mittelalter-Schriften 65), München 1992 S. 177–193. BÖMER, ALOYS: Die lateinischen Schülergespräche der Humanisten, Bd. 1: Vom Manuale scholarium bis Hegendorffinus c. 1480 – 1520 (Texte und Forschungen zur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts in den Ländern deutscher Zunge 1), Berlin 1897 [Ndr. Amsterdam 1966]. –: »Paulus Niavis, ein Vorkämpfer des deutschen Humanismus«, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde 19 / 1898, S. 51–94.
59 LEONHARDT, JÜRGEN: Latein. Geschichte einer Weltsprache, München 2009, S. 221– 244; auch ders., »Frischlins Priscianus vapulans und die zeitgenössische Lateinkultur«, in: Reinhold F. Glei / Robert Seidel (Hrsg.), Das lateinische Drama der Frühen Neuzeit. Exemplarische Einsichten in Praxis und Theorie (Frühe Neuzeit 129), Tübingen 2008, S. 155–165. 60 In den Epistolae obscurorum virorum I,7 wird Niavis in einem Atemzug mit Alexander de Villadei, Remigius, Johannes von Garlandia und anderen Autoren genannt, die im humanistischen Lateinunterricht als veraltet galten. In ähnlicher Weise wird er nochmals getadelt in II,31; vgl. hierzu JOHNSON, Magister Paulus Niavis, S. XXVII–XXX.
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–: »Ein vergessener Vorläufer d. Dunkelmännerbriefe«, in: Neue Jahrbücher für Pädagogik 8 / 1905, S. 280–287. BRANT, SEBASTIAN: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben, hrsg. von Manfred Lemmer. 4., erw. Aufl., Tübingen 2004 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke N.F. 5). BRÄUER, HELMUT: Chemnitz zwischen 1450 und 1650: Menschen in ihren Kontexten (Aus dem Stadtarchiv Chemnitz 8), Chemnitz 2005, S. 246–268. HAYE, THOMAS: Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kommunikation des hohen und späten Mittelalters, Berlin / New York 2005, S. 68–77. HOMOLKA, ANITA: Die Tischzuchten von Sebastian Brant, Thomas Murner und Hans Sachs und ihr realer Hintergrund in Basel, Straßburg und Nürnberg, Diss. phil, München 1983. HONEMANN, VOLKER: »Bergbau in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit«, in: Karl Heinrich Kaufhold / Wilfried Reininghaus (Hrsg.), Stadt und Bergbau. Köln / Weimar 2004, S. 238–261. JOHNSON, RAND H. (Hrsg.): Magister Paulus Niavis, Epistole breues, Epistole mediocres, Epistole longiores (Medieval Institute Publications), Kalamazoo 1995. –: »A Parodistic Student Dialogue of Master Paulus Niavis«, in: Archivum latinitatis medii aevi 59 / 2001, S. 243–260. KNAPE, JOACHIM / KOCHER, URSULA: »Niavis (Schneevogel), Paul«, in: Neue Deutsche Biographie, hrsg. v. der historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Bd. 19: Nauwach-Pagel, S. 195–196. KRENKEL, PAUL: Paulus Niavis, Iudicium Iovis. Das Gericht der Götter über den Bergbau. Ein literarisches Dokument aus der Frühzeit des deutschen Bergbaus (Freiberger Forschungshefte, Kultur und Technik D3), Berlin 1953. LEONHARDT, JÜRGEN: »Frischlins Priscianus vapulans und die zeitgenössische Lateinkultur«, in: Reinhold F. Glei / Robert Seidel (Hrsg.), Das lateinische Drama der Frühen Neuzeit. Exemplarische Einsichten in Praxis und Theorie (Frühe Neuzeit 129), Tübingen 2008, S. 155–165. –: Latein. Geschichte einer Weltsprache, München 2009. LUDWIG, WALTHER: »Formen und Bezüge frühneuzeitlicher lateinischer Dialoge«, in: Bodo Guthmüller / Wolfgang G. Müller (Hrsg.), Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 22), Wiesbaden 2004, S. 59– 103. RITTER, GERHARD: »Über den Quellenwert und Verfasser des sogen. Heidelberger Gesprächsbüchleins für Studenten (›Manuale scholarium‹, um 1490)«, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 77, N.F. XXXVIII / 1923, S. 12–32. RUPP, MICHAEL: »Der Petrarca aus Böhmen. Paulus Niavis und die humanistische Novelle in Leipzig«, in: Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 23 / 2008, S. 59–104. RUPPRICH, HANS: Humanismus und Renaissance in den deutschen Städten und an den Universitäten (DLE, Reihe Humanismus und Renaissance 2), Leipzig 1935, S. 239–267. STRECKENBACH, GERHARD: »Paulus Niavis, ›Latinum ydeoma pro novellis studentibus‹ – ein Gesprächsbüchlein aus d. letzten Viertel des 15. Jahrhunderts«, in: Mittellateinisches Jahrbuch 6 / 1970, S. 152–191. –: »Paulus Niavis, ›Latinum ydeoma pro novellis studentibus‹ – ein Gesprächsbüchlein aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts II«, in: Mittellateinisches Jahrbuch 7 / 1972, S. 187–251. –: »Das ›Manuale scolarium‹ und das ›Latinum ydeoma pro novellis studentibus‹ von Paulus Niavis«, in: Mittellateinisches Jahrbuch 10 / 1974, S. 232–269.
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–: Stiltheorie und Rhetorik der Römer im Spiegel der humanistischen Schülergespräche (Gratia 6), Göttingen 1979. UMBACH, SILKE: Sebastian Brants Tischzucht (Thesmophagia 1490). Edition und Wortindex (Gratia 27), Wiesbaden 1995. WELS, VOLKHARD: Triviale Künste. Die humanistische Reform der grammatischen, dialektischen und rhetorischen Ausbildung an der Wende zum 16. Jahrhundert (Studium Litterarum 1), Berlin 2000. WENG, GERHARD: »Paul Schneevogels (Paulus Niavis’) Beziehungen zum Bergbau«, in: Friedrich Naumann (Hrsg.), Sächsisch-böhmische Beziehungen im 16. Jahrhundert. 6. Agricola-Gespräch; wissenschaftliche Konferenz, veranstaltet vom Agricola-Forschungszentrum Chemnitz, der Sächsischen Landesstelle für Volkskultur und dem Karlovarské muzeum, 24.–26. März 2000, Alte Münze in Jáchymov, Chemnitz 2001, S. 76–94. WORSTBROCK, FRANZ JOSEF: »Schneevogel (Sneevogil, Snefogel, latinisiert: Niavis), Paul«, in: Kurt Ruh u. a. (Hrsg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 8, Berlin / New York 1992, Sp. 777–785.
Die Opuscula aliquot des Erasmus von Rotterdam (1514) Anmerkungen zur Konzeption und Rezeption eines europäischen Schulbuchs Michael Baldzuhn Die dritten stund soll man jnen zwen vers jm Cathon der sitten verteutschen vnnd sy der auslegung herren Erasmen von Roterodams daruber ordentlich berichten. vnnd jnen sollche vers vnnd auslegung nit ain mal sonnder zway oder drey mal vorsagen, das sy dester eher begreiffen mugen.1
So bestimmt es 1521 die vom Rat der Reichsstadt Nördlingen vorgelegte Schulordnung für die Lateinschüler des Ortes: In der drit session nach mittemtag solle man den Schülern in der dritten Unterrichtsstunde zwei Verse aus den Disticha Catonis (»Cathon«) vorlegen, sie ihnen übersetzen und mithilfe der Auslegung des Erasmus von Rotterdam daruber ordentlich berichten – wobei man ihnen die Verse und ihre Auslegung nicht nur einmal, sondern mindestens zwei- oder dreimal vortragen soll, damit sie die Sache auch dester eher begreiffen mugen. Man mag die didaktische Effizienz des Vorhabens, die spätantiken Verse der Disticha Catonis durch mehrfaches Verlesen dem Lateinschüler erschließen zu wollen, bezweifeln – üblich war das Verfahren gleichwohl. Denn bereits das von den Nördlingern herbeizitierte Unterrichtsbuch schlägt genau dies für seine Anwendung vor. vt habeas quod tuis praelegi cures alumnis:2 Mit diesen Worten anempfiehlt Erasmus selbst sieben Jahre zuvor, am 1. August 1514, Jan de Neve in einem Widmungsbrief seine
1 JOHANNES MÜLLER (Hrsg.): Vor- und frühreformatorische Schulordnungen und Schulverträge in deutscher und niederländischer Sprache, Zschopau 1885–86 (Sammlung selten gewordener pädagogischer Schriften früherer Zeiten 12f.), S. 220 (dort auch die folgenden Zitate [auf die Hervorhebungen der Ausgabe ist verzichtet]). 2 PERCY STAFFORD ALLEN [u. a.] (Hrsg.): Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, Oxford 1906–58, Bd. 2, S. 1–3 [= Nr. 298], hier S. 2, Z. 35. Der Brief an de Neve ist den Opuscula vorgeschaltet, die wenige Wochen später, im September 1514, unter dem Titel Opuscula aliquot Erasmo | Rot. castigatore et interprete: quibus | primae aetati nihil prelegi potest: neque vtilius neque elegantius. | Libellus elegantissimus, qui vulgo Cato | inscribitur, complectens sanctiss vitae communis | praecepta. | Mimi Publiani. | Septem Sapientum celebria Dicta. Institutum Christiani hominis Carmine pro pue | ris, ab Erasmo compositum bei Dirk Martens in Löwen erscheinen.
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Michael Baldzuhn
Opuscula aliquot mit den Disticha und ihren Scholien. De Neve, etablierte Lehrkraft am Collegium Lilianum der Löwener Universität,3 dürfte sich an das, was der längst europaweit in Ansehen stehende Kollege erwartete und empfahl, gehalten haben. Wieweit diese zwei Belege freilich eine Regel vertreten, ist nur begrenzt in Erfahrung zu bringen. Denn wie man im Zeitalter der Reformation im gelehrten Lateinunterricht ganz praktisch gelehrt und gelernt und Schulbücher im Unterricht eingesetzt hat, lässt sich im konkreten Einzelfall selten zuverlässig sagen. Gewiss fließen nun im Vergleich zum Spätmittelalter in der Frühen Neuzeit einschlägige Quellen generell sehr viel reichlicher, nicht zuletzt in Form von Widmungsbriefen zu Textausgaben (wie demjenigen an de Neve) und präskriptiven Schrifttums in Form etwa von Schulordnungen (wie derjenigen aus Nördlingen).4 Quellen solchen Typs können jedoch per se nur vom Wünschenswerten sprechen, nicht vom de facto Realisierten berichten. Und genauso steckt auch das gedruckte Schulbuch, obschon unterrichtsgeschichtlich eine Quelle ersten Ranges, lediglich einen Rahmen des Möglichen seiner Verwendung ab, der sich dann vom Lehrpersonal, und sicher oft mit beträchtlichen Lizenzen, unterschiedlich füllen ließ. Zukünftig mögen, zumal auf der Basis der gegenwärtig breit betriebenen Digitalisierungsvorhaben frühneuzeitlicher Drucke für den Zugang via Internet, systematisch angelegte Querschnittanalysen durch die Exemplare einzelner Ausgaben von Schultexten die historische Unterrichtsforschung nachhaltig befördern.5 Der vorliegende Beitrag sucht den Unterricht des 16. Jahrhunderts dennoch nicht über die einzelnen Exemplare eines der verbreitetsten Schulbücher des 16. Jahrhunderts und die Gebrauchsspuren in ihnen, sondern auf einem anderen Wege zu erreichen: von der Konzeption der in Nördlingen 1521 herangezogenen, sieben Jahre zuvor erschienenen Opuscula aliquot des Erasmus von Rotterdam her. Das geschieht zum einen aus pragmatischen Gründen: Die Opuscula aliquot haben eine Vielzahl von Neuausgaben erlebt, 3
Vgl. zu seiner Person die knappen Hinweise in Opus epistolarum, Bd. 2, S. 1. Neben Müllers Sammlung von Schulordnungen bieten die evangelischen Schul- und Kirchenordnungen ergiebiges Material: REINHOLD VORBAUM (Hrsg.): Evangelische Schulordnungen, Gütersloh 1860–64; Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Leipzig [seit 1955 Tübingen] 1902ff. [seit 1955 fortgeführt vom Institut für evangelisches Kirchenrecht der EKD, seit 2004 von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften]. 5 Dies ist zumal für Drucke von Texten zu erwarten, deren Layout von vornherein auf eine handschriftliche Ergänzung im Unterricht ausgelegt war, v. a. also Ausgaben von Unterrichtstexten mit großzügigem Zeilendurchschuss und breitem Rand. Vgl. zu ihrer kommunikationstypologischen Verortung BALDZUHN, MICHAEL: Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der ›Fabulae‹ Avians und der deutschen ›Disticha Catonis‹, Berlin / New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 44,1f. [278, 1f.]), S. 126–131. 4
Die ›Opuscula aliquot‹ des Erasmus von Rotterdam
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die freilich noch nicht erhoben ist – geschweige denn dass es die erhaltenen Exemplare der einzelnen Ausgaben wären. Zum anderen erlaubt es der Zugang über die Konzeption, einige zentrale Eckpunkte eines allgemeinen Rahmens von im Unterricht Erwartbarem, Grundstrukturen von Unterricht sichtbar zu machen – und dies zumal dann, wenn das fragliche Werk nicht allein für sich, sondern ebenso im Vergleich mit vorangehenden spätmittelalterlichen Textausgaben wie im Hinblick auf die Veränderungen betrachtet wird, denen die Konzeption von 1514 dann in späteren Ausgaben unterworfen wurde. Aus diesem Interesse an den Opuscula heraus steuere ich Einsichten im Folgenden von vier Seiten her an: (1.) von den Erläuterungen her, die Erasmus den in die Textsammlung seiner Opuscula aliquot aufgenommenen Werken beigegeben hat, (2.) von den konzeptionell implizierten und explizit anvisierten praktischen Verwendungsmöglichkeiten der Opuscula in den Händen ihrer Benutzer her, (3.) von der Verbreitung der Ausgabe her und (4.) von den Modifikationen her, denen die Opuscula in ihren verschiedenen Ausgaben unterzogen werden. Erforderlich freilich ist es zunächst, sich einen Überblick über Aufbau und Inhalt der durchaus umfangreichen Textsammlung zu verschaffen.
1. Das bis hierher nach seinem Titel als Opuscula aliquot bezeichnete Buch ließe sich umstandslos auch als der Cato des Erasmus bezeichnen – wenngleich das Werk auch weit mehr als nur den Text der spätantiken Disticha Catonis umfasst. Diese allerdings nehmen – auf den bereits erwähnten Widmungsbrief an de Neve folgend – in ihm ebenso die Spitzenstellung wie quantitativ den meisten Raum ein. Namengebend firmieren sie zudem bereits für ihren Herausgeber: Im Lucubrationum Erasmi Roterodami Index von 1518/19 wird das Buch als Libellus qui uulgo dicitur Cato, cum alijs aliquot recognitus, et scholijs explanatus6 geführt; und im Catalogus omnium Erasmi Lucubrationum von 1523 firmiert es als libell[us] puerili[s] cui titulus est Cato.7 Vor
6 HOFFMANN, FRIEDRICH LORENZ: »Das Verzeichniss der Schriften des Desiderius Erasmus von Rotterdam von 1519 und seine Selbstberichte über dieselben in ihren verschiedenen Ausgaben bibliographisch beschrieben, nebst einigen litterargeschichtlichen Bemerkungen«, in: Serapeum 4 / 1862, S. 49–58, hier S. 56. 7 Caeterum quoniam videbam multos scriptores negligi prorsus vel minore cum fructu legi, quod vndique scaterant mendis, tum autem quosdam etiam commentariis insulsissimis esse contaminatos verius quam expositos, studuimus et in hac parte consulere studiis iuuentutis, nec iuxta Graecorum prouerbium in dolio τήν κεραμικήν sumus agressi, sed in libello puerili cui titulus est Cato. Adiecimus Mimos Publianos sane quam festiuos, qui inter Senecae lucubrationes falso titulo latebant, sed deprauatissimi, tum admixtu multarum sententiarum,
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anstellung und Titelfunktion der Disticha Catonis erklären sich wesentlich von der Gebrauchstradition dieses Werkes her: In den Augen der Zeitgenossen waren die Disticha zweifellos das prominenteste, weil im Lateinunterricht bestetablierte Stück der Sammlung. Erasmus knüpft mit ihrer Aufnahme an eine jahrhundertealte Tradition ihrer Verwendung im Grammatikunterricht an, in dem der Cato seit karolingischer Zeit einen festen Platz hatte und für den er späterhin vielfach auch mit Kommentaren versehen wurde.8 Letzteres wäre für einen in der Wolle gefärbten Humanisten wie Erasmus im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts eigentlich Grund genug, sie in den Orkus zu verdammen – Erasmus jedoch hat einen freien Blick und weiß zwischen dem spätantiken Text und seiner mittelalterlichen Gebrauchstradition und deren textuellen Niederschlägen zu unterscheiden. Er erkennt und schätzt, wie er im Briefwechsel mit Guillaume Budé bekundet,9 die besondere Verbindung, die in den Disticha zwischen dem zahlreiche Lebensbereiche abdeckenden, praktischen Unterweisungswert der Verse und ihrer gefälligen Kürze, ihrer brevitas besteht, entscheidet sich für eine kritische Durchsicht des Textes und eine neue Form der Aufbereitung mit eigenen Erläuterungen – und schlägt so den Disticha die Brücke in den Lateinunterricht der Frühen Neuzeit. In Bestand und Einrichtung seiner Disticha geht Erasmus gleichwohl im Prinzip die altbekannten Wege. Der Text wird, wie seit altersher die Regel, vollständig wiedergegeben. Vier Prosasätze in einem eigenen Absatz mit der sogenannten Epistola, in der ein Vater seinem Sohn die nachfolgenden Ratschläge ans Herz legt, eröffnen das Werk: Cum animadverterem quam plurimos graviter in via morum errare, succurrendum opinioni eorum et consulendum famae existimavi, maxime ut gloriose viverent et honorem contingerent. Nunc te, fili carissime, docebo quo pacto morem animi tui componas. Igitur praecepta mea ita legito, ut intellegas. Legere enim et non intelligere neglegere est.10
qui Mimi non erant, contaminati. His omnibus scholia adiecimus. Adiunximus et alia quaedam a nobis recognita, minutiora quam vt sit operaeprecium referre, quod quidem ad operam a nobis insumptam attinet. (Opus epistolarum, Bd. 1, S. 1–46 [= Nr. 1, »Erasmus to John Botzheim«]), hier S. 12, Z. 28–39). Vgl. auch im selben Brief S. 39f. zum avisierten vierten Band der Werkausgabe mit Werken ad morum institutionem (S. 39, Z. 33): Quid autem Catunculum, Mimos Publianos reliquaque huius generis vetat huc adiungere? (S. 40, Z. 23f.). 8 Einen instruktiven Überblick über Werk und Rezeption vermittelt der Cato-Artikel von OTTO BRUNKEN in BRÜGGEMANN, THEODOR / BRUNKEN, OTTO: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur, Stuttgart 1987ff., Bd. 1, Sp. 537–549. Für den Überblick speziell über die mittelalterlichen Kommentare vgl. BALDZUHN, Schulbücher, S. 264–287. 9 Vgl. zu diesem Briefwechsel PERRAUD, LOUIS A.: »A document of humanistic education: Erasmus’s commentary on the ›Disticha Catonis‹«, in: Journal of the Rocky Mountain Medieval and Renaissance Association 9 / 1988, S. 83–92. 10 Disticha Catonis, recensuit et apparatu critico instruxit MARCUS BOAS, Amsterdam 1952, S. 4.
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Es schließen, wiederum in Prosa, die sogenannten breves sententiae an, etwas über ein halbes Hundert kurzer Lehrsentenzen in Prosa, die den Disticha schon in vorkarolingischer Zeit vorgeschaltet11 und seither als Bestandteil des Originaltextes betrachtet wurden. Den Hauptteil nehmen dann die knapp eineinhalb Hundert Lehrsentenzen in Hexameterdistichen ein, deren Verse jeweils abgesetzt wurden. Sie erscheinen auf vier »Bücher« verteilt, jedoch decken ihre Lehren ohne weitere innere Ordnung die verschiedensten Lebensbereiche ab. An zweiter Stelle des Bandes stehen die Dicta septem sapientum, wiederum etwa eineinhalb Hundert Prosasprüche der antiken Sieben Weisen, die in sieben Gruppen jeweils unter ihrem in einer Überschrift benannten Verfasser (Periander, Bias, Pittacus, Cleobulus, Chilo, Solon, Thales) zusammengestellt sind. Erweitert ist jede einzelne Gruppe zudem um jeweils ein siebenversiges Gedicht, dessen Vers- und Strophenform von Gruppe zu Gruppe wechselt. Jedes dieser Gedichte weist eine eigene Überschrift auf, in der seine besondere Form – die Dicta des Pittacus etwa erscheinen in jambischen Versen, die des Cleobulus in asklepiadeischen, die des Chilo sind in Chorjamben gesetzt – und als Autor durchgehend Ausonius benannt wird. Zudem sind die sieben Verse der ersten Gruppe (Periander) und die ersten zwei der zweiten (Bias) wiederum mit kurzen Erläuterungen in der Art der vorangehenden Disticha Catonis versehen; allen nachstehenden Versen fehlt sie. Den dritten Abschnitt des Buches bilden die Sprüche des Publilius Syrus, die hier über 170 Prosasentenzen umfassen.12 Sie sind in eine alphabetische Reihe gebracht, wobei jede Sentenz eine eigene Zeile einnimmt. In eigenem Absatz folgt auf sie dann jeweils wiederum eine Erläuterung aus der Feder des Erasmus, deren Umfang im Druck meistens ein bis zwei Zeilen, seltener bis zu fünf Zeilen umfasst. Im Unterschied zu den vorangehenden Abschnitten, in denen Erasmus lediglich als »kritischer« Herausgeber und »Aufbereiter« (Erläuterungen) auftrat, firmiert er im anschließenden vierten Stück des Bandes nun auch als Verfasser eigener Dichtung. Auf der Grundlage englischer Verse, die ihm der englische Theologe und Reformator John Colet hatte zukommen lassen, der an der von ihm gegründeten Schule von St. Paul’s in London lehrte und seine englischen Verse dort im eigenen Unterricht zu verwenden pflegte, erstellt Erasmus in seiner Institutio hominis christiani eine kleine katechetische Handreichung für das christliche Leben in nunmehr 137 lateinischen Ver 11
Vgl. BOAS, MARCUS: Die Epistola Catonis, Amsterdam 1934 (Verhandelingen der koninklijke akademie van wetenschapen te Amsterdam. Afdeeling letterkunde. Nieuwe reeks 33,1), S. 27f. 12 Publilii Syri Mimi Sententiae. Accedunt Caecilii Balbi, Pseudosenecae, proverbiorum, falso inter Publilianas receptae sententiae et recognitae et numeris adstrictae, hrsg. von Otto Friedrich, Berlin 1880.
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sen.13 Sie ist in verschiedene Abschnitte mit eigenen Überschriften unterteilt, unter deren erster (fides) jeweils zu einzelnen Artikeln des lateinischen Credo (Credo, Et in Jesum, Qui conceptus, Passus sub Pontio, Tertia die, Ascendit, Item venturus, Credo in spiritum, Sanctam ecclesiam, Remissionem peccatorum, Vitam eternam) zwei bis vier Verse und unter deren zweiter (septem sacramenta) jeweils zwei bis sechs Verse zu den einzelnen Sakramenten versammelt sind (ordo, matrimonium, baptismus, confirmatio, eucharistia, penitentia, unctio). In einem dritten und vierten Abschnitt gelten die Verse dem amor dei und dem amor sui, weitere Verse thematisieren die sieben Todsünden und geistliche Heilmittel wie etwa die fuga malorum, das studium pietatis, die oratio usw. Auf Erläuterungen in der Art der den Disticha beigegebenen verzichtet Erasmus. Im fünften, den ganzen Band beschließenden Teil erscheint Erasmus lediglich noch als »Arrangeur«. Rudolf Agricola hatte die dem griechischen Philosophen Isokrates zugeschriebene Mahnrede an Demonikos, den Sohn seines Freundes Hipponikos, 1478 für seinen Stiefbruder Johann übersetzt. Erasmus übernimmt diese in Form eines Briefes mit Pro- und Epilog abgefasste Rede inklusive des Widmungsschreibens Rudolfs an Johann in seine Ausgabe, die auf diese Weise eine Art Gegenstück zu den Disticha erhält. Wie in diesen wendet sich auch hier der Belehrende zunächst in einem Prolog in Briefform an den zu Belehrenden, und wie dort folgen dann auf den Brief, nun in Prosa, die eigentlichen Paränesen, die weiterhin ebenfalls den verschiedensten Themen gelten und ebenfalls ohne durchgreifende Ordnung angesprochen werden.14 Auf eigene Erläuterungen freilich verzichtet Erasmus erneut. 13
Vgl. über ihn zusammenfassend den Artikel von J. B. TRAPP in PETER G. BIETENHOLZ / THOMAS BRIAN DEUTSCHER (Hrsg.): Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation, Toronto, Buffalo, London 1985–87, Bd. 1, S. 324–328 (dort S. 326 zur Verwendung seines Katechismus durch Erasmus). Erasmus selbst weist im Brief an de Neve auf seine Vorlage hin: Addidimus et Septem Sapientum celebria dicta et Hominis Christiani Institutum, quod nos carmine dilucido magis quam elaborato sumus interpretati, conscriptum antea sermone Britannico a Iohanne Coleto, quo viro non alium habet mea quidem sententia florentissimum Anglorum imperium vel magis pium vel qui Christum verius sapiat. (Opus epistolarum, Bd. 2, Nr. 298, S. 2, Z. 30–35). Ausgabe der lateinischen Verse mit Übersetzung ins Englische in: Collected works of Erasmus, Toronto [u. a.] 1974ff., Bd. 85f.: Poems. Translated by Clarence H. Miller, edited and annoted by Harry Vredeveld, Nr. 49. 14 Vgl. WORSTBROCK, FRANZ JOSEF: »Agricola, Rudolf (Roelof Huusman, Huesman; nach eigener Nennung: Rodolphus Agricola Frisius)«, in: Kurt Ruh [u. a.] (Hrsg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Berlin / New York 1978–2002, Bd. 1, Sp. 84–93, hier zur Isokrates-Übersetzung Sp. 90f.; LEIJENHORST, C. G. VAN: »Rudolphus Agricola«, in: Contemporaries of Erasmus, Bd. 1, S. 15–17. Der Brief Agricolas an Johann ist jetzt aus der Stuttgarter Handschrift Cod. poet. et philol. 4° 36 der Württembergischen Landesbibliothek – einer vor 1506 von dem Freund Johann von Pleningen initiierten Agricola-Sammlung, aus der man eine Werkausgabe zu erarbeiten plante – ediert bei DRÜCKE, SIMONE: Humanistische
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2. Die systematisch zu den Disticha und beim Publilius, bei den Dicta wenigstens noch zu Anfang angebrachten Erläuterungen sind sinnvoll nur in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Analysiert wurden sie freilich bisher lediglich im Ausschnitt der Disticha, wo sie auf den ersten Blick »wenig mehr als kurze Paraphrasen der Disticha« zu bieten scheinen.15 Daran wird man auch bei differenzierter Betrachtung zumindest im Prinzip festhalten können, und zwar auch im Hinblick auf den Publilius und die Dicta. Desmet-Goethals hat gezeigt, dass sich die »Paraphrasen« zum Cato in ihren Formulierungen öfter mit den Adagia des Erasmus überschneiden. Sie erklärt dies aus der Arbeitsweise des »Kommentators«, der seinen Cato nach eigenem Bekunden in großer Eile erstellt habe, so dass sich die Reminiszenzen wohl aus dem Gedächtnis eingestellt hätten.16 Dazu passt, dass die Adagia-Bezüge nicht regelrecht »zitiert« werden, wogegen die Erläuterungen zum Cato an anderen Stellen auf andere Autoren und Werke sehr wohl namentlich verweisen. Freilich finden sich nicht allzu viele solcher intertextuellen Verweise; sie wurden nicht systematisch angebracht.17 Von Aufschluss ist zudem der Vergleich mit den Erläuterungen zum Publilius. Dort wird zwar ebenfalls auf einige Autoren und Werke verwiesen – Plautus und Terenz erscheinen je einmal, Seneca dagegen etwa ein halbes und Aulus Gellius sogar etwa ein Dutzend mal.18 Im Ergebnis wird jedoch auch hier in den Erläuterungen kein Laienbildung um 1500. Das Übersetzungswerk des rheinischen Humanisten Johann Gottfried, Göttingen 2001 (Palaestra 312), S. 427f. (der Text der Praecepta statt nach der Stuttgarter Handschrift nach einer Heidelberger Inkunabel ebd. S. 429–447). Die Praecepta sind Agricolas erfolgreichste Übersetzung, die bis 1600 weit über 100 Ausgaben erfährt; vgl. MACK, PETER: »Agricola, Rudolphus«, in: Hans-Gert Roloff (Hrsg.), Die deutsche Literatur. Biographisches und bibliographisches Lexikon. Reihe 2: Die deutsche Literatur zwischen 1450 und 1620. Abteilung A: Autorenlexikon, Bern [u. a.] 1990ff., Bd. 1, S. 604–615. 15 DESMET-GOETHALS, MARIE JOSÉ: »Die Verwendung der Kommentare von BadiusMancinellus, Erasmus und Corderius in der ›Disticha Catonis‹-Ausgabe von Livinus Crucius«, in: August Buck / Otto Herding (Hrsg.), Der Kommentar in der Renaissance, Bonn 1975 (Kommission für Humanismusforschung. Mitteilung 1), S. 73–88, hier S. 79. 16 DESMET-GOETHALS, »Kommentare«, S. 80–82 (S. 81 Anm. 29 unter Verweis auf den Widmungsbrief an de Neve (Opus epistolarum, Nr. 298, S. 2, Z. 20: pauculas horas) und auf ein Schreiben an Budé (Opus epistolarum, Nr. 421, S. 254, Z. 91: Nihil Catone minutius, in quo dieculam absumpsi). 17 PERRAUD, »Erasmus’s commentary«, listet S. 89 an Griechen Hesiod, Homer, Solon, Socrates, Aristoteles, Pyrrhus und Plato auf und an lateinischen Autoren und Werken Plinius, Plautus, Terenz, Ovid, Vergil (Aeneis). 18 Vgl. zu den Verweisen auf Seneca und Aulus Gellius auch den Widmungsbrief an de Neve: Adiecimus his Mimos Publianos falso inscriptos Senecae prouerbia. Atque his quoque castigatis […] adscripsimus breuissima scholia, reiectis iis quae perperam erant admixta ex aliorum libris, tum appositis aliquot ex Aulo Gellio et Senecae controuersiis. (Opus epistolarum, Bd. 2, Nr. 298, S. 2, Z. 11–15); Nam Publii Mimos quis contemnat, quos Aulus Gellius
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gezielt erarbeitetes Netzwerk etabliert, das die Primärtexte mit anderen griechischen oder lateinischen Werken und Autoren verknüpfte. Grundsätzlich scheinen die intertextuellen Bezüge eher zufällig aus der okkasionellen Kompetenz des Bearbeiters heraus motiviert, nicht aus gezielten didaktischen Überlegungen heraus zu schülerseitigen Voraussetzungen oder Lernzielen des Unterrichts auf der Basis der vorliegenden Textsammlung. Die weitergehenden Analysen Perrauds zu den Cato-Erläuterungen bestätigen das:19 Hier und da finden sich auch historische Erläuterungen zu einzelnen Distichen, hier und da – wie auch gelegentlich übrigens beim Publilius – Bemerkungen zu Metrik und Formenbau, das alles aber ohne systematischen Zugriff. Was sich hingegen am ehesten regelmäßig einstellt und damit den Charakter der Erläuterungen insgesamt bestimmt, ist in der Tat der freier den Sinn des Cato- oder Dicta-Verses oder der Publilius-Sentenz in lateinischer Prosa paraphrasierende, den Grundtext damit jedem Leser hilfreich erschließende Zusatz. Die Verfahren, mit denen die an den Aussagegehalt der Textvorgabe heranführenden Prosazusätze generiert werden, verdienten freilich noch eine durchgreifende Analyse. Als Paraphrase sind sie nämlich allenfalls teilweise zu bezeichnen – am ehesten etwa in Fällen wie dem Zusatz Bis gratum est benificium quod statim datur egenti zur Publilius-Sentenz Inopi beneficium bis dat qui dat celeriter. Dem stehen andererseits aber Hilfestellungen zur Sinnerfassung des Grundtextes entgegen, die von jedem auch nur näherungsweise wortbezogenen Rückverweis auf das Gesagte absehen und sich schlicht auf die Angabe eines Beispiels beschränken können, das den Wahrheitsgehalt des Gesagten (das damit als aus sich heraus erfassbar vorausgesetzt wird) aus der (als allgemein vorhanden erwarteten) Erfahrung heraus zu bestätigen vermag: Veluti mortem heißt es etwa denkbar schlicht zur Publilius-Sentenz Stultum est timere, quod vitari non potest. Erasmus selbst bleibt im Hinblick auf eine qualitative Kennzeichnung der Machart seiner scholia, wie er die Erläuterungen bezeichnet, in dem Brief an de Neve bemerkenswert unbestimmt. Beim Cato sind sie in erster Linie kürzer und commodior als die älteren mittelalterlichen Kommentare, von denen ihm die des Robertus de Euremodio und des Philippus de Bergamo vorlagen: Addidimus et scholia, perbreuia quidem illa, sed aliquanto commodiora, ni fallor, iis commentariis quibus duo quidam opusculum hoc contaminauerant; quorum alter insulsissime rhetoricatur, homo ipsa infantior infantia, alter ineptissime philosophatur, vterque ουδεν προς επος loquitur.20
lepidissimos, Seneca disertissimos vocat, cuiusque sententias, vt idem testatur, non piguit summos etiam rhetores aemulari? (Opus epistolarum, Bd. 2, Nr. 298, S. 2, Z. 27–30). 19 Vgl. PERRAUD, »Erasmus’s commentary«, S. 87–89. 20 Opus epistolarum, Bd. 2, Nr. 298, S. 2, Z. 4–8. Die Identifizierung der von Erasmus indizierten Kommentare bei BOAS, MARCUS: »Een vergissing van Erasmus«, in: Het boek 25 / 1939, S. 277–287.
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Wiederum Kürze ist auch das erste Charakteristikum der Scholien zum Publilius: adscripsimus breuissima scholia.21 Über einen – freilich sehr generellen – Oberbegriff für die Leistung der Scholien verfügt Erasmus allerdings sehr wohl: elucidare.22
3. Die Aufgabe, den Text des Cato zu erhellen, hat der Rat der Nördlinger Lateinschule 1521 den als auslegung bezeichneten Scholien durchaus zugetraut – sollte doch der Lehrer nach der Übersetzung einzelner Verse aus dem Cato die Schüler anhand der auslegung herren Erasmen von Roterodams diese daruber ordentlich berichten. Andererseits benennt Erasmus im Widmungsbrief als Verwendungsmöglichkeit lediglich das Vorlesen im Unterricht durch den Lehrer (de Neve) – und zwar ohne zwischen seinen Grundtexten und ihren Erläuterungen zu unterscheiden oder gar den Umweg über die Volkssprache ins Spiel zu bringen. Zum dritten ist Erasmus speziell im Hinblick auf die Verwendung seines Werks als Unterrichtsbuch jene Gebrauchsanweisung keine relativierende Bemerkung wert, die Rudolf Agricola an seinen Stiefbruder im Vorspann zur Isokrates-Rede formuliert: Nach ihr solle dieser das Nachstehende doch »immer wieder lesen und buchstäblich auswendiglernen, um sie sich stets wie eine Regel für die richtige Lebensweise vor Augen halten zu können«.23 Damit aber steht noch eine ganz andere als die kollektive unterrichtliche Verwendungsart im Blick: die individuelle Nutzung des Buches als Thesaurus sentenziöser Lebensregeln durch eine Einzelperson. Als konzeptionell einkalkulierte Möglichkeit wird man diese Verwendungsweise nicht auf den Isokrates beschränken können. Immerhin verbindet die Vielzahl der Paränesen und ihre ungeordnet die verschiedensten Lebensbereiche abdeckende Reichweite24 die Ratschläge des Isokrates mit den Sentenzen des Publilius (denen ihre alphabetische Ordnung äußerlich bleibt), den Dicta und den Disticha Catonis denkbar eng.25 Zur Verklammerung der gan 21
Opus epistolarum, Bd. 2, Nr. 298, S. 2, Z. 13. Vgl. Opus epistolarum, Bd. 2, Nr. 298, S. 3, Z. 45–47: […] quorum vtrumque nisi heae Catonis ac Publianae Septemque Sapientum sic c a s t i g a t a e a t q u e e l u c i d a t a e faciant […] (Hervorhebung von mir, M. B.). Das ersterwähnte castigare bezieht sich dagegen auf die Leistung des Erasmus als Herausgeber / Editor. Siehe zu dieser weiter unten. 23 DRÜCKE, Laienbildung, S. 116 – unter Bezug auf Hunc ergo legendum tibi etiam atque etiam, sed ad uerbum quoque ediscendum censeo semperque uelut ante oculos regulam quandam uiteque prescriptum habendum (a. a. O. S. 428). 24 Vgl. DRÜCKE, Laienbildung, S. 114 (»wahllos aneinandergereiht«). 25 Die bandübergreifende Nähe der Paränesen kann man im übrigen auch daran erkennen, dass es die Dicta der Sieben Weisen gewesen sind, die dem vorkarolingischen Interpolator 22
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zen Reihe trägt überdies bei, dass sich im Isokrates mit dem Prolog, der die Ratschläge einer als historisch vorgestellten Person in den Mund legt, die sie an ein Gegenüber richtet, eben jene Unterweisungssituation wiederholt, die bereits die den Band eröffnenden Disticha kennzeichnet, in deren Prolog ein Vater seinem Sohn die nachstehenden Ratschläge ans Herz legt. Dieser Rahmen, den der gesamte Band mit dem Rückbezug des Isokrates auf die Disticha erhält, bringt tendenziell alles in die Textsammlung Einbeschlossene in die Situation eines »Gesprächs« – das sich dann freilich eher als ein »Gespräch« zwischen Buchbenutzer und Buch darstellte. Diesen Rahmen hebt jedenfalls auch Agricolas Vorrede an seinen Bruder Johann, in der er die nachstehenden Lehren aus dem Munde des Isokrates wiederum mit eigenem Munde seinem Verwandten empfiehlt, ins Bewusstsein – wenngleich in minimaler Variation: statt Vater und Sohn bzw. älterer Freund des Vaters und Sohn treten sich nun älterer und jüngerer Bruder gegenüber.26 Unterrichtsnutzung und individuelle Nutzung als Sentenzen-Thesaurus schließen sich gegenseitig nicht aus – wobei die Offenheit für die zweite Option gerade auch durch den Verzicht auf eine durchgreifend systematische sprachliche und grammatische Erschließung der Sentenzen für den lateinbeginnenden Schüler erreicht wird. (Über die Lateinkompetenz seines Stiefbruders Johann verliert Rudolf Agricola jedenfalls in seinem Vorspann zum Isokrates kein Wort: Sie wird vorausgesetzt.) Eine konzeptionell weitergehende Festlegung auf den beginnenden Lateinuntericht hätte andere Nutzungen wohl ausgeschlossen. Diese Offenheit ist nun freilich kein kalkuliertes Ergebnis besonderen Abwägens durch Erasmus (dann wäre eine Begründung zu erwarten gewesen), sondern spezifischer Ausdruck des generellen Zuschnitts für den Lateinunterricht entworfener Bücher im beginnenden 16. Jahrhundert: das Handbuch für den gelehrten Benutzer – hier: antiker Sentenzenweisheit – und das »Schulbuch«27 liegen grundsätzlich noch sehr nahe beieinander, sind funktional noch nicht in der Breite deutlich gegeneinander ausdifferenziert. der breves sententiae zu den Disticha Catonis die Vorlage geliefert haben. Vgl. BOAS, Epistola Catonis, S. 27f. 26 Die Opuscula knüpfen, indem sie gleich mehrfach die Imagination eines Gegenübers von Älterem / Jüngerem in einer Unterweisungssituation transportieren, an bereits mittelalterlich wohletablierte Unterweisungsszenarien an. Speziell zur Vater-Sohn-Lehre stellt reiches Material bereit KÄSTNER, HANNES: Mittelalterliche Lehrgespräche. Textlinguistische Analysen, Studien zur poetischen Funktion und pädagogischen Intention, Berlin 1978 (Philologische Studien und Quellen 94); vgl. jetzt auch das Kapitel »Lehrdialoge« in: CARDELLE DE HARTMANN, CARMEN: Lateinische Dialoge 1200–1400. Literaturhistorische Studie und Repertorium, Leiden 2007 (Mittellateinische Texte und Studien 37), S. 58–103. 27 Erforderliche begriffliche Differenzierungen stelle ich zurück; vgl. einstweilen BALDZUHN, MICHAEL: »Schoolbooks«, in: Albrecht Claassen (Hrsg.), Handbook of Medieval Studies. Terms, methods, concepts, Berlin / New York 2011, S. 2061–2069.
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Im Falle der Opuscula lässt sich diese Nähe der Funktionen für die Seite des »gelehrten Benutzers« auch an der Herausstellung des castigare als weitere wesentliche Leistung der Opuscula des Erasmus erkennen, die der Herausgeber noch vor dem elucidare als seinen Beitrag hervorhebt. Der Titel von 1514 ordnet den castigator dem interpretator vor: […] Erasmo Roterodamo castigatore et interprete […].28 Und der Widmungsbrief an de Neve benennt im ersten Satz die Reinigung des Textes: Disticha moralia vulgo Catonis inscripta titulo, Neui theologorum decus, primum diligenter a mendis repurgauimus collata Planudis interpretatione, tametsi Graeculus ille Romani carminis sententiam saepenumero non assequitur.29 Erstellt wurde eben nicht nur ein Buch für den Lateinunterricht und ein Thesaurus antiker Sentenzenweisheit, sondern auch nicht weniger als der erste30 für nahezu das gesamte 16. Jahrhundert gültige »kritische« Text der Disticha Catonis überhaupt.31 Wer hingegen mutete heutzutage seinem gymnasialen Lateinanfänger die maßgebliche kritische Ausgabe eines Autors zu? Auf der anderen Seite werden unterrichtliche Erfordernisse nicht konzeptionell durchgreifend vorgezeichnet und reflektiert, sondern an die Praxis »vor Ort« delegiert. Das Gesamtangebot der Opuscula an Sentenzen wird die Anforderungen nicht allein der dritten Cato-Stunde in Nördlingen bei weitem überschritten haben – es ist überdies gar nicht zu erwarten, dass der ganze Band überhaupt vollständig hätte durchgearbeitet werden sollen: Der Unterricht muss selegieren. Diese Offenheit der Opuscula gegenüber der unterrichtlichen Praxis, der Verzicht auf jede Vorgabe etwa derart, die Paränesen nach Handlungsfeldern zu ordnen oder zu hierarchisieren, mag dem modernen Betrachter zunächst als Defizit erscheinen. Man darf jedoch die Leistung des Erasmus nicht übersehen, die dem konzeptionellen Durchgriff auf den Unterrichtsablauf en detail zunächst noch erst vorgeordnet ist: überhaupt Werke verschiedener Autoren nämlich zu einem inhaltlich-thematisch passenden 28
S. o. Anm. 2. Opus epistolarum, Bd. 2, S. 1f., Z. 1–4. 30 Vgl. BOAS, »Vergissing«, S. 281 (»die als eerste philologische editie kan gelten«) und S. 286 (»die als een mijlpaal in de Cato-recensie pleegt te worden beschouwd«). Wie sich die Leistungen des Herausgebers Erasmus in der Textgeschichte der übrigen aufgenommenen Werke ausnehmen, ist nicht untersucht. 31 Als Editor arbeitet er dabei im Prinzip so, wie das die wenigen humanistischen Kollegen vor ihm, Mancinelli in Italien etwa, mit dem Cato auch schon gemacht hatten: angeleitet von »besseren« Textzeugen, die allenfalls in summa als alte Manuskripte oder Codices angesprochen, aber noch nicht im Detail aufgeführt werden, und im Wesentlichen vertrauend auf die eigene lateinsprachliche Kompetenz. Vgl. für die zusammenfassende Charakterisierung des Herausgebers Erasmus FIDEL RÄDLE in PETER G. BIETENHOLZ [u. a.]: »Erasmus von Rotterdam (Desiderius Erasmus Roterodamus)«, in: Franz Josef Worstbrock (Hrsg.), Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, Berlin / New York 2005ff., Bd. 1, Sp. 658–804, hier Sp. 775–777 (»Der Editor«), für die Arbeitsweise speziell des Herausgebers der Disticha PERRAUD, »Erasmus’s commentary«, S. 86f. 29
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Verbund zusammengefügt zu haben. Als solche tritt sie freilich erst vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Unterrichtsbücher hervor. Unterrichtspraktisch betrachtet stabilisiert die Textzusammenstellung der Opuscula für jedes einzelne der aufgenommenen Werke dessen Lektürekontext. Der Lehrer kann, die Opuscula vor Augen, beispielsweise von den breves sententiae der Disticha umstandslos zu den Dicta springen und von dort in den Isokrates-Text und die verschiedenen Sentenzen aufeinander beziehen. Im Rückblick auf das 1514 noch kaum vergangene, mehrhundertjährige Manuskriptzeitalter des mittelalterlichen Schulbuchs stellen solche stabilisierten Lektürekontexte keine Selbstverständlichkeit dar. Die für den Trivialunterricht herangezogenen Texte begegnen in den Handschriften in der Regel in mannigfaltigsten Umgebungen; stabile Mitüberlieferungen, die über okkasionelle Textnachbarschaften hinausgehen und in Bestand und Reihefolge fest umrissen wären, sind durchaus die Ausnahme. Prominent sind unter diesen Ausnahmen der Liber Catonianus mit seiner Sechserreihe von Werken oder die Auctores octo mit gar einer Achterreihe. Jener freilich bildet sich erst im 13. Jahrhundert heraus und dieser gar erst im 15. Jahrhundert und erst im gedruckten Buch – und beide im französischen Sprachraum. Im deutschen Sprachraum dagegen bezeugen die Handschriften feste Textreihen von Unterrichtswerken im Umfeld des Trivialunterrichts allenfalls punktuell.32 Selbst noch im Buchdruck erscheinen Ausgaben etwa der Disticha Catonis, wie die beiden vor Erasmus unter den zweisprachig lateinisch-deutschen verbreitetsten des Sebastian Brant und des Ulmer Cato, bis 1500 (und darüber hinaus) ganz überwiegend nur mit diesem einen Text.33 Im Hinblick auf die von Beginn an für den Buchdruck erarbeitete Textreihe der Opuscula besteht freilich ein gewichtiger Unterschied zu den älteren, noch handschriftlich erstellten Textreihen. Diese stehen zumindest dann dem praktischen Unterricht sehr viel näher als eine entsprechende gedruckte Reihe, wenn sie von den Schülern selbst für eigene Zwecke geschrieben wurden, und dann noch einmal insbesondere dort, wo das Anfertigen einer Abschrift von Unterrichtstexten, etwa im Diktat, als solches bereits als Teil des Unterrichts, als allererster Schritt der Textaneignung fungiert. Erst der Buch 32
BALDZUHN, MICHAEL: »Textreihen in der Mitüberlieferung von Schultexten als Verschriftlichungsphänomen. Formen ihrer Herausbildung im Lateinischen (Liber Catonianus, Auctores octo) und in der Volkssprache (Cato / Facetus)«, in: Rudolf Suntrup / Jan Veenstra / Anne Bollmann (Hrsg.), Erziehung, Bildung, Bildungsinstitutionen. Education, training and their institutions, Frankfurt/M. [u. a.] 2006 (Medieval to early modern culture. Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 6), S. 19–54. 33 Vgl. für Brant die zwar ergänzungsbedürftige, aber insgesamt einen zuverlässigen Eindruck von den Ausgabentypen vermittelnde Übersicht bei WILHELMI, THOMAS: Sebastian Brant Bibliographie, Bern [u. a.] 1990 (Arbeiten zur mittleren Deutschen Literatur und Sprache 18,3), S. 93–100 (Nr. 266–296), sowie für den Ulmer Cato die Nachweise bei BALDZUHN, Schulbücher, S. 971–975.
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druck entlastet ja in der Breite den Schüler systematisch vom Schreiben – und erst er eröffnet dem Unterricht in der Breite die Möglichkeit, in den vorliegenden Unterrichtstexten hin und her zu springen, eine Auswahl aus Texten zu treffen, die nun bereits vor dem »eigentlichen Unterricht« vollständig vorliegen.34 Textreproduktion und Unterricht differenzieren sich mit dem Buchdruck deutlicher funktional gegeneinander aus. Erst wenn das zum Normalfall wird, kann auch selbstverständlicher darüber nachgedacht werden, nach welchen – etwa didaktischen – Gesichtspunkten Auswahlen aus dem vorliegenden Textangebot für die Schüler im Unterricht getroffen werden sollen. Dies freilich ist bei Erasmus noch nicht dahingehend der Fall, dass er den Vorgang der Auswahl konzeptionell reflektierte und in der Darbietung seiner Zusammenstellung entsprechend schriftlich abbildete. Seine Opuscula lösen sich als Textsammlung zwar von der medialen Reproduktion des einzelnen Autors / Werkes ab, bewegen sich jedoch vorerst noch in eine allgemeinere Richtung auf einen Thesaurus antiker Weisheit hin, den dann verschiedene Autoren auffüllen (Cato, Publilius, Isokrates), aber noch nicht in Richtung auf den Schüler hin, dem aus diesem Thesaurus exemplarisch etwas bereitgestellt werden könnte. Es überrascht vor diesem Hintergrund dann nicht, dass die generelle Funktionsbestimmung, die Erasmus mit seinen Opuscula für die Schüler im Blick hat, eine sehr herkömmliche bleibt. Auf die Ausbildung in den litterae und in den mores verweist er im Brief an de Neve. Das freilich ist eine Doppelformel, mit der man schon seit dem Hochmittelalter vielfach die Zielsetzungen des Lateinunterrichts beschreibt.35
4. Die bisher einzige Zusammenstellung der Ausgaben der Opuscula in der Bibliotheca Erasmiana van der Haegens verzeichnet über 100 Druckausgaben: bereits für das Erscheinungsjahr insgesamt vier, für das darauffolgende drei, bis 1520 insgesamt 21 und an zu Lebzeiten des Erasmus erschienenen nicht weniger als 54.36 Auch wenn Erasmus schon zum Zeitpunkt des Erscheinens
34 Vgl. zu diesem Effekt der Ablösung des handgeschriebenen durch das gedruckte Schulbuch BALDZUHN, Schulbücher, S. 119–134. 35 Opus epistolarum, Bd. 2, S. 2, Z. 37f. […] quos nulla neque litterarum neque morum barbarie sinis infici […]; vgl. auch a. a. O., S. 3, Z. 44f.: […] vt et animos adulescentum ad virtutes et linguas ad rectam eloquutionem forment […]. Vgl. für die mittelalterliche Verwendung etwa SUERBAUM, ALMUT: »›Litterae et mores‹. Zur Textgeschichte der mittelalterlichen Avian-Kommentare«, in: Klaus Grubmüller (Hrsg.), Schulliteratur im späten Mittelalter, München 2000 (Münstersche Mittelalter-Schriften 69), S. 383–434. 36 VAN DER HAEGHEN, FERDINAND: Bibliotheca Erasmiana. Répertoire des oeuvres d’Erasme, Gent 1893, Bd. 2, S. 14–18.
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der Opuscula unter den Gelehrten Europas einen klangvollen Namen hatte und man auf jede Ausgabe aus seiner Hand gewartet hat: der Erfolg seiner Opuscula beruht wesentlich darauf, dass ihr Herausgeber einen Bedarf richtig eingeschätzt und dann in der Umsetzung auch getroffen hat. Mit seinem Werk kommt »im 16. Jahrhundert ein neues Handbuch für den Schulunterricht in Gebrauch.«37 Genaue Zahlen zum Druckerfolg anzugeben allerdings wäre beim gegenwärtigen Forschungsstand gleich aus mehreren Gründen unseriös. So klaffen in der Liste der Bibliotheca Erasmiana die größten Lücken, sind Ergänzungen bereits ohne systematisch betriebene Recherchen leicht möglich. Beispielsweise sind für den Druckort Augsburg, der bei van der Haeghen gar nicht erscheint, allein schon anhand des Verzeichnisses der Drucke des 16. Jahrhunderts zwischen 1530 und 1600 zwanzig Ausgaben nachzutragen.38 Überdies beschränken sich die äußerst knappen Angaben der Bibliotheca Erasmiana auf Druckort, Jahr, Offizin und Format, bisweilen aber auch nur auf Druckort und Jahr, so dass sich gar nicht jede Edition verlässlich identifizieren lässt. Die knappen Angaben lassen zudem Druckausgaben unterschiedlichsten Zuschnitts gleichwertig erscheinen. So finden sich unter den zu ergänzenden Augsburger Drucken sowohl solche, die den oben skizzierten Textbestand der Opuscula im Kern unverändert bewahren,39 als auch solche, die ihn mehr oder weniger deutlich modifizieren40, erweitern41 oder auf einen Kern von Disticha Catonis und Scholien kürzen.42 Die Opuscula haben eine wechselhafte Textgeschichte, die das Verzeichnis der Bibliotheca Erasmiana nicht entfernt erschließt. Beispielsweise handelt es sich bei den letzten zwei dort aufgeführten Ausgaben von 1759 – »Catonis disticha de moribus ad filium. Amstel., Fr. Houttuyn, 1759. 8°«43 bzw. »Id. (Historia critica Catoniana, 37
DESMET-GOETHALS, »Kommentare«, S. 79. Vgl. im »Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts« (VD 16) – hier benutzt in der online über »http://www.vd16.de« zugänglichen Datenbank mit Stand vom 15.9.2010 – Nr. C 1622 (1530), C 1626 (1535), C 1630 (1540), C 1635 (1541), V 2131 (1541), C 1638 (1543/45), C 1639 (1545), C 1640 (1549), ZV 3163 (1550), C 1643 (1554), C 1645 (1558), C 1646 (1562), C 1648 (1565), C 1652 (1566), C 1655 (1571), C 1658 (1579), C 1660 (1581), C 1665 (1586), C 1668 (1588) und C 1671 (1595). Die Ausgaben VD 16 Nr. C 1622, ZV 2131, C 1640, C 1645 und alle Ausgaben seit 1566 wurden im Textbestand weitergehend verändert. 39 Vgl. etwa VD 16 Nr. C 1626. 40 Vgl. etwa VD 16 Nr. C 1671: Der Isokrates in der Übersetzung Agricolas und die Dicta sapientum fehlen; dafür ist Erasmus’ De civilitate morum aufgenommen. 41 Vgl. etwa VD 16 Nr. 1660: Der Isokrates in der Übersetzung Agricolas fehlt; ergänzt sind Sentenzensammlungen von Giano Anisio (Sententiae de moribus) und von Georg Fabricius (Sententiarum ex poetis antiquis similium liber I). 42 Vgl. etwa VD 16 Nr. 1622. 43 Der Titel lautet vollständig »DIONYSII CATONIS | DISTICHA | DE | MORIBUS AD FILIUM, | Praeter | Sedulam VARIANTIS LECTIONIS per omnia | Conlationem, | Lectissimis 38
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edid. G. Koenig a Koenigsthal). Amstel., Fr. Houttuyn, 1759. 8°«44 – um Ausgaben, die allein noch den Disticha Catonis gelten, die historisch-philologisch erschlossen werden. Erasmus erscheint in der ersten der beiden lediglich noch als Lieferant von Lesarten zum lateinischen Text, dem überdies noch Übersetzungen ins Griechische, Englische, Deutsche, Niederländische und Französische beigegeben sind. In der zweiten, der Historia critica Catoniana, firmiert er als kaum mehr noch denn als Lieferant von Scholien, die in einem gelehrten Anmerkungsapparat, der die gesamten Leistungen der älteren Cato-Philologie zusammenzuführen versucht, nahezu untergehen. Die ganz unzureichende Erschließungslage wird durch ergänzende Verzeichnisse nicht durchgreifend verbessert. Der Index Aureliensis etwa verzichtet ebenfalls auf genaue Titelaufnahmen;45 zudem sind dort die ErasmusAusgaben nicht separat, sondern unter »Cato, Dionysius« ausgewiesen, so dass unter den 302 für 1500 bis 1600 verzeichneten Drucken die über 130 Erasmus zweifelsfrei zuzuschreibenden viele bereits bei van der Haeghen erfasst sein mögen. Immerhin sind das für den fraglichen Zeitraum gleichwohl noch ein halbes Hundert mehr als in der Bibliotheca Erasmiana. Dem Verzeichnis der Drucke des 16. Jahrhunderts lassen sich zwar punktuell – siehe oben zu Augsburg – zahlreiche Nachträge entnehmen, dies aber nur für Druckorte des deutschen Sprachraums. Die Datenbank der Early English Books Online46 liefert zahlreiche Nachträge ebenfalls nur begrenzt für den englischsprachigen Raum. Weitere Findemittel wie die vom Erasmus Center for Early Modern Studies betriebene Erasmus Online Database47 oder der Bestandskatalog der Rotterdamer Stadtbibliothek zu den von Erasmus he etiam adornata | FLOSCULIS POETICIS. | Una cum | Singulis adposita Distichis, binorum quoque | Versuum, Idiomatum vero diversorum, | INTERPRETATIONE QUINCUPLICE. | Adjecta sunt | LEMMATA CATONIANA, | Suis quaeque restituta Distichis. | AMSTELAEDAMI, | Apud FRANCISCUM HOUTTUYN, | [1759].« Verfasser, Anlage und Zielsetzung der Ausgabe sind Gegenstand eines Beitrags von MARCUS BOAS, »Anonymus Amstelodamensis Catonianus«, in: Jaarboek van het Genootschap Amstelodamum 32 / 1935, S. 147–203. 44 Der Titel lautet vollständig »HISTORIA CRITICA | CATONIANA, | Per singulorum seriem consuetam | DIONYSII CATONIS | DISTICHORUM | ex ordine deducta. | Cui praemittuntur | MAXIMI PLANUDIS | METAPHRASIS GRAECA, | Cum Castigationibus JOSEPHI SCALIGERI | in eamdem perpetuis: | Itemque | DESIDERII ERASMI | CONCINNA EXPOSITIO. | Adnexae sunt Clarissimorum Virorum, | BARTHII, OPITII, DAUMII, WACHII, | BOXHORNII, CANNEGIETERII, WITHOFII, | & ARNTZENIORUM Fratrum, | ANIMADVERSIONES SELECTAE. | Addita quoque ad calcem Distichorum cuique | NOVA PARAPHRASIS. | AMSTELAEDAMI, | Apud FRANCISCUM HOUTTUIN. | [1759].« Vgl. zu Verfasser, Anlage und Zielsetzung dieser Ausgabe BOAS, »Anonymus Amstelodamensis Catonianus«. 45 Index Aureliensis. Catalogus librorum sedecimo saeculo impressorum. Baden-Baden 1962ff., Nr. 134.050–134.366. 46 Zugänglich über »http://eebo.chadwyck.com«. 47 Zugänglich über »http://www.erasmus.org«.
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rausgegebenen, übersetzten oder annotierten Werken48 steuern weitere Ausgaben bei, greifen aber ebenfalls nicht systematisch zu. Man darf die Vermutung wagen, dass systematische Recherche über den gesamten europäischen Raum die Zahl des bei van der Haeghen Aufgeführten mindestens verdreifachen dürfte. Was van der Haeghens Liste freilich jetzt schon zutreffend vermittelt, ist ein Eindruck von der zeitlichen und räumlichen Reichweite des Erfolgs der Opuscula. Sie sind ein »europäisches« Schulbuch, das im Raum der heutigen Niederlande und Belgiens – Druckorte sind Antwerpen, Amsterdam, Deventer, Gent, Löwen, Utrecht – ebenso wie im französischen – Hagenau, Lyon, Paris, Schlettstadt, Straßburg – und deutschsprachigen Gebiet – Basel, Hamburg, Köln, Leipzig, Linz, Nürnberg, Braunschweig, Zürich – für den Unterricht herangezogen wurde, dazu in England (London), Italien (Venedig) und Polen (Krakau). Lediglich spanische Druckorte listet van der Haeghen keine.49 Chronologisch betrachtet repräsentiert das Schulbuch des Erasmus mit 90 von 114 Nummern der Bibliotheca Erasmiana aus diesem Zeitraum am ehesten den Unterricht des 16. Jahrhunderts, wogegen die Ausgabenzahl im 17. Jahrhundert (10) dann deutlich einbricht. Ob freilich darüber hinaus auch noch zutrifft, was das Verzeichnis suggeriert, dass das Schulbuch des Erasmus bereits seit den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts an Attraktivität verliert, lässt sich beim gegenwärtigen Erschließungsstand schlicht nicht sagen. Auch aus diesem Grund sollte man die Bemerkung der Herausgeber der kanadischen Werk-Ausgabe, die Opuscula von Erasmus »were constantly republished (with minor adjustments)«,50 nicht auf sich beruhen lassen. Die Rede von »kleineren Anpassungen« mag allenfalls auf spätere Angleichungen der Opuscula noch aus Erasmus’ eigener Feder zutreffen (sie sind noch nicht erhoben). Den Blick auf die Überlieferung und Textgeschichte der Opuscula auf die Lebenszeit des Erasmus zu beschränken, bedeutet vor allem aber, den Aufschlusswert der Druckgeschichte der Opuscula für die Unterrichtsgeschichte der Frühen Neuzeit zu übersehen.
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MEYERS, JOHANNA B.: Authors edited, translated or annotated by Desiderius Erasmus. A short-title catalogue of the works in the city library of Rotterdam, Rotterdam 1982 (S. 46– 53 sind 29 zwischen 1515 und 1759 erschienene Ausgaben erfasst). 49 Das wird, wenn die durchgreifende Recherche es bestätigt, seinen Grund in der Aufnahme der Werke des Erasmus auf den Index librorum prohibitorum haben, die gerade in Spanien (und Italien) nicht ohne Folgen für ihre Verbreitung blieb; vgl. dazu zusammenfassend FRANZ JOSEF WORSTBROCK in BIETENHOLZ [u. a.], »Erasmus«, Sp. 799–804, hier besonders Sp. 800f. 50 FANTHAM, ELAINE: »Erasmus and the latin classics«, in: Elaine Fantham / Erika Rummel (Hrsg.), Collected works of Erasmus. Bd. 29: Literary and educational writings 7, Toronto / Buffalo / London 1989, S. XXXIV–L, hier S. XXXIX.
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5. Die ersten Ausgaben werden noch unter einem Titel publiziert, der die Textsammlung wie eine kleine Werkausgabe des Erasmus erscheinen lässt: Opuscula aliquot Erasmo Roterodamo castigatore et interprete.51 Diese Titelgebung wird jedoch sehr bald aufgegeben und ersetzt von Haupttiteln, die gleich zu Beginn den Inhalt der Sammlung deutlicher herausstellen. Das kann auf verschiedene Weisen geschehen: durch Angabe eines summierenden Oberbegriffs für den Inhalt (Sensa et disticha cum scholiis Erasmici […])52 oder durch ein Inhaltsverzeichnis (Contenta in hoc volumine sunt haec […]53 oder In hoc volumine haec continentur […]54) oder durch die Angabe eines Leittextes (Cato Erasmi. Opuscula aliquot Erasmo Roterodamo castigatore et interprete55 oder Catonis disticha / praecepta moralia / de moribus cum scholiis Erasmi […]56 – dieser Titel wird sich als einer der prominentesten einspielen). Rasch tritt damit der Herausgebername weiter in den Hintergrund und eher die Zweckbestimmung der Sammlung selbst hervor (die von den Namen der versammelten Werke einem potentiellen Buchkäufer eher signalisiert wird als lediglich von dem ihres Herausgebers): Die Funktion der Textsammlung, ihre Unterrichtsbindung wird gewissermaßen bereits auf dem Büchertisch sichtbar ausgestellt statt erst während seiner Verwendung im
51 Vgl. WOUTER NIJHOFF / M. E. KRONENBERG: Nederlandsche bibliographie van 1500 tot 1540, ’s-Gravenhage 1923–71, Nr. 534 (Löwen 1514) und Nr. 2603 (Löwen 1515) sowie VD 16 Nr. ZV 3151 (Köln 1514). 52 Vgl. MEYERS, »Authors edited«, S. 47 (Paris 1523), S. 49 (Paris 1533). 53 Vgl. etwa VD 16 Nr. C 1592 (Straßburg 1515); C 1593 (Straßburg 1515); C 1594 (Straßburg 1516); C 1595 (Straßburg 1516); C 1596 (Straßburg 1516); C 1600 (Straßburg 1517); C 1603 (Straßburg 1518); C 1605 (Straßburg 1519); C 1608 (Schlettstadt 1520); C 1609 (Straßburg 1520); ZV 3156 (Leipzig 1521). 54 Vgl. etwa MEYERS, »Authors edited«, S. 46 (Venedig 1522), S. 47f. (Venedig 1524) und S. 48 (Venedig 1526). 55 Vgl. etwa VD 16 Nr. ZV 3152 (Köln 1515), ZV 3154 (Köln 1517) und C 1604 (Köln 1519). 56 Vgl. etwa VD 16 Nr. C 1611 (Köln 1523), C 1612 (Köln 1523), C 1613 (Straßburg 1523), C 1614 (Köln 1524), C 1674 (Basel 1526), ZV 3157 (Hagenau 1528), C 1616 (Köln 1528), C 1623 (Straßburg 1530), ZV 3158 (Leipzig 1531), C 1675 (Basel 1533), C 1625 (Straßburg 1533), C 1626 (Augsburg 1535), C 1627 (Leipzig 1536), C 1629 (Straßburg 1537), C 1630 (Augsburg 1540), ZV 19221 (Leipzig 1540), C 1631 (Magdeburg 1540), C 1635 (Augsburg 1541), C 1637 (Zürich 1542), ZV 22021 (Basel 1544), C 1638 (Augsburg 1543/45), C 1639 (Augsburg 1545), C 1640 (Augsburg 1549), C 1641 (Magdeburg 1550), C 1542 (Zürich 1553), C 1643 (Augsburg 1554), C 1645 (Augsburg 1558), ZV 18267 (Erfurt 1559), C 1646 (Augsburg 1562), C 1648 (Augsburg 1565), C 1649 (Bautzen 1565), C 1653 (Jena 1569), C 1654 (Frankfurt/O. 1570), C 1678 (Köln 1571), C 1656 (Wolfenbüttel 1573), C 1661 (Hamburg 1583), C 1663 (Wolfenbüttel 1583), C 1665 (Augsburg 1586), C 1667 (Wolfenbüttel 1586), C 1668 (Augsburg 1588), ZV 3179 (Magdeburg 1591), ZV 15825 (Stettin 1594).
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Unterricht in den Händen der Benutzer. Das ist im Prinzip nicht neu, da ja in Schuldrucken bereits des 15. Jahrhunderts Holzschnitte mit Unterrichtsszenen dem Benutzer den Zweck des Buches vor Augen führen.57 Die Modifikationen der Titulatur zeigen aber die rasche Aufnahme der Sammlung für den Unterrichtsgebrauch, auf den die Drucker für ihren Absatz spekulieren konnten, ohne einen berühmten Namen an die erste Stelle setzen zu müssen. So wie ihre Titel, unterliegt auch die Textsammlung selbst bisweilen sehr weitgehenden Eingriffen. Der markanteste besteht in der Kürzung des Bestandes auf das schmale Unterrichtsheft allein mit dem Cato und seinen Scholien, also auf das prominente Hauptstück (Kürzungen demgegenüber auf den Publilius etwa oder andere Stücke auf der Grundlage der Opuscula sind mir nicht bekannt geworden). Seit den späten 20er Jahren werden solche Ausgaben im deutschen Sprachraum mehrfach und – soweit bisher zu sehen – bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein aufgelegt.58 Aus dem Sentenzen-Thesaurus wird damit ein bedeutend schmaleres Kollegheft, das ursprüngliche Handbuch wieder auf eine Form von Unterrichtsmaterial gebracht, wie sie in den Jahrzehnten zuvor im Lateinunterricht die verbreitete war. Zu klären bleibt, ob sich darin eine gewissermaßen praxisbezogenere Sichtweise auf Lateinunterricht widerspiegelt, ob sich diese nur in bestimmten Regionen und zu bestimmten Zeiten niederschlägt, ob sie, stratifikatorisch betrachtet, nur für bestimmte Typen von Unterricht greift, nicht zuletzt, ob sie dort den umfangreicheren Thesaurus ablöst oder von dessen funktionaler Spezifizierung begleitet wird derart, dass umfangreichere Ausgaben dem Unterricht fernrücken. Ganz ungeklärt ist auch, wann solche Hefte generell »aus der Mode« kommen. Eine Anpassung an lokale Unterrichtsgegebenheiten könnte auch dort vorliegen, wo den Disticha Catonis in den Opuscula der griechische Text der Distichen in der Übersetzung des Maximus Planudes beigegeben wird,59 die Erasmus zunächst allein zu textkritischen Zwecken herangezogen hatte: Da 57
Zahlreiche Beispiele bei KIRK, SABINE: Unterrichtstheorie in Bilddokumenten des 15. bis 17. Jahrhunderts. Eine Studie zum Bildtypus der ›Accipies‹ und seinen Modifikationen im Bildbestand der Universitätsbibliothek Helmstedt und des Augusteischen Buchbestandes der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, Hildesheim 1988 (Beiträge zur historischen Bildungsforschung 6). 58 Vgl. für frühe Beispiele etwa VD 16 Nr. C 1617 (Nürnberg 1528), C 1620 (Leipzig 1529), C 1622 (Augsburg 1530). Späte Beispiele: VD 16 Nr. C 1652 (Augsburg 1566), ZV 17606 (Nürnberg 1570), C 1655 (Augsburg 1571), C 1657 (Nürnberg 1576), ZV 3174 (Nürnberg 1583), C 1662 (Nürnberg 1583). 59 MAXIMUS PLANUDES: Disticha Catonis in graecum translata, hrsg. von Vincentius Ortoleva, Rom 1992 (Bibliotheca Athena 28). Vgl. zu Verfasser und Werk BOAS, MARCUS: »Planudes’ Metaphrasis der sog. Disticha Catonis«, in: Byzantinische Zeitschrift 31 / 1931, S. 241–257.
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mit würde der Bedarf des Griechischunterrichts abgedeckt, auf den die Drucker spätestens seit den zwanziger Jahren etwa in Basel und Köln reagieren.60 Die den Cato separierenden Hefte bewahren durchweg sowohl den vollständigen Verstext in der von Erasmus hergestellten Form als auch den vollständigen Scholienapparat, dem sie – Stichproben zufolge – weder etwas hinzufügen noch aus dem sie etwas streichen. Auch in den schmalen Heften bleiben kritisch-philologische Gelehrsamkeit und Unterricht aneinander gekoppelt: Es ist gleichzeitig die wissenschaftlich zuverlässigste Textausgabe, die den Schülern zur Lateinlektüre mit Scholien aufbereitet vorgelegt wird. CatoAusgaben nach Erasmus, die allein den Text des Erasmus ohne Scholien böten, die editorische Leistung also separierten, bleiben wohl Ausnahme.61 Das wird auch von einem Gegenbeispiel bestätigt. Der Erasmus-Schüler Maturin Cordier erarbeitet 1535 in Genf eine eigene Cato-Ausgabe, die er seinen Schülern vorzulegen gedenkt – und er erarbeitet dafür auch einen ganz eigenen, neuen Erschließungsapparat, der konzeptionell ganz anders als die Scholien des Erasmus ansetzt. Mit dem Fortfall der Scholien des Erasmus wird für Cordier gleichermaßen der Text des Erasmus »frei«: Dezidiert in Absetzung von seinem Lehrer erstellt er ihn neu.62 Erst seit dem dritten Viertel des 16. Jahrhunderts ändern sich allmählich – freilich zunächst von der gelehrten Seite, nicht von der Seite der Unterrichtserfordernisse her – Voraussetzungen, die diese Koppelung aufweichen. In Leiden erscheint 1598 die kritische Ausgabe der Disticha Catonis von Joseph Justus Scaliger ohne deutlich sichtbaren Unterrichtsbezug.63 1568 bereits hat der niederländische Philologe Théodore Poelman der Respublica litteraria seinen Cato mit kritischem Apparat und Lesarten vorgelegt.64 Vor diesem Hintergrund wird dann interessant, wann genau Erasmus-Text und Erasmus-Scholien auseinandertreten. Soweit bisher zu sehen, werden im deutschen Sprachraum die ersten Schritte erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts getan, indem der bis dahin vornehmlich der lateinischen Welt vorbehaltene Erasmus inklusive Scholien in Kontakt mit deutschen Übersetzungen gerät. Eine späte Ausgabe einer deutschen Cato-Übersetzung des Abraham Moterius, gedruckt Brieg 1610, 75 Jahre nach der Erstauflage des Moter-Textes, schaltet die Übersetzung in die Volkssprache zwi
60 Vgl. etwa VD 16 Nr. C 1673 (Köln 1521), C 1612 (Köln 1523), C 1674 (Basel 1526), C 1675 (Basel 1533), C 1676 (Basel 1535). 61 Mir ist einstweilen nur VD 16 Nr. V 2131 (Augsburg 1541) bekannt geworden. Hier werden die Disticha nach Erasmus ohne Scholien mit den Quaestiones in Donatum des Johannes Vogelsang verbunden. 62 Vgl. LE COULTRE, JULES: Maturin Cordier et les origines de la pédagogie protestante dans les pays de langue française (1530–1564), Neuchâtel 1926 (Mémoires de l’Université de Neuchâtel 5), S. 73–90, bes. S. 82; BALDZUHN, Schulbücher, S. 362–375, bes. S. 363f. 63 Vgl. die Angaben von BOAS in seiner Ausgabe der Disticha Catonis, S. LIIIf. 64 Vgl. die Angaben von BOAS in seiner Ausgabe der Disticha Catonis, S. LIII.
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schen die lateinischen Disticha und die Scholien.65 Ähnlich verfahren 1591 und 1617 zwei Ausgaben der Übersetzung des Zürcher Schulmeisters Johannes Fries von 1551.66 Um diesen Befund abschließend noch einmal auf die Lateinschüler in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu wenden: Die CatoAusgabe des Erasmus wird ihnen kaum je ausschließlich als ein »praktisches Instrument« zum Lernen von Latein oder als »Reservoir« von Lebensregeln vorgelegt worden sein. Sie musste sich in ihren Augen vielmehr immer auch mit dem Autorität heischenden Prestige zeitgenössisch-führender, gelehrter Lateinkompetenz verbinden. Lateinunterricht in der Frühen Neuzeit bedeutet frühzeitigste Teilhabe am gelehrten Diskurs. Das heben nicht zuletzt die zahlreichen Widmungsbriefe und Dedikationsgedichte ins Bewusstsein, mit denen die Opuscula von Anfang an und nach und nach in wechselnden Zusammenstellungen versehen werden. Da diese »Kleintexte« selbst in detaillierteren bibliographischen Beschreibungen wie denen des VD 16 nicht immer erfasst sind, ist hier eine verlässliche Textbasis in der Breite freilich nur durch Autopsie der Originale (oder digitaler Faksimiles) herzustellen. Punktuell wird gleichwohl bereits an Ausschnitten ersichtlich, dass Unterrichtsbücher sich immer auch als Medien der Selbstverständigung der gelehrten »community« präsentieren. Der Widmungsbrief des Erasmus an de Neve ebenso wie der Agricolas an seinen Stiefbruder geben durchaus für den Unterricht relevante Benutzungsanleitungen und benennen einschlägige Textfunktionen. Aber sie wenden sich nicht direkt an den Schüler, sondern stattdessen in lateinischer Sprache an ein entsprechend kompetentes Gegenüber. Der Lateinschüler hat sich die Beteiligung an der gelehrten Kommunikation überhaupt erst noch zu erarbeiten – als ideales Ziel wird ihm die Partizipation gleichwohl von Anfang an vor Augen gestellt. Entsprechend dürfen auch die in den lateinischen Bemerkungen, die Erasmus einer späteren Überarbeitung seiner Opuscula nachstellt, adressierten studiosi nicht als Lateinschüler missverstanden werden; mindestens mitgemeint sind diejenigen, die sich um die Vermittlung der Lehre in die öffentlichen Studien bemühen.67 Weitere Begleittexte wie die acht Verse eines Preisgedichts des Gerard Geldenhouwer aus Nijmwegen auf den nicht hoch 65
Nachweis des Drucks: »Verzeichnis der Drucke des 17. Jahrhunderts« (VD 17) – hier benutzt in der online über »http://www.vd17.de« zugänglichen Datenbank mit Stand vom 15.9.2010 – Nr. 1:043586H. Vgl. zur Moter-Übersetzung und ihrer Druckgeschichte ΒALDZUHN, Schulbücher, S. 335–342 und S. 984f. 66 Nachweis der Drucke: VD 16 Nr. 1718 bzw. VD 17 Nr. 1:043594Z. Vgl. zur FriesÜbersetzung und ihrer Druckgeschichte ΒALDZUHN, Schulbücher, S. 375–386 und S. 987f. 67 In meo Catunculo in quo mutarant ordinem leuis est iactura. Nec hic tam meum ago negocium, quam omnium eruditorum, qui suis laboribus de publicis studijs benemerentur (hier zitiert nach dem Basel 1526 bei Johann Froben aufgelegten Druck »CATONIS DISTICHA MO/ || ralia, cum scholijs DES. ERAS. ROT. || EADEM DISTICHA GRAECE, à Maximo Planude è Latino uersa. […]« [VD 16 Nr. C 1674], Bl. l 3rv).
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genug zu rühmenden Erasmus in mehreren Ausgaben vor 152068 oder die kleine Dankadresse des Erasmus selbst im Vorspann zu seiner Institutio hominis christiani an John Colet ergänzen das Bild zwanglos: Für die praktische Unterrichtsverwendung erscheinen solche Texte dysfunktional, für den Aufbau und die Pflege des Netzwerkes unter den Mitgliedern der Respublica litteraria hingegen zentral. Stichproben durch ein gutes halbes 100 (überwiegend digital) eingesehener (und überwiegend aus deutschen Druckereien stammender) Ausgaben zeigen zum einen, dass die entsprechende Praxis das ganze 16. Jahrhundert hindurch und noch darüber hinaus anhält. Auf der anderen Seite stellt sich jedoch bei der Durchsicht der über die Datenbank der Early English Books Online digital zugänglichen Ausgaben aus englischen Druckereien des 16. und 17. Jahrhunderts der (freilich schwer zu belegende) Eindruck ein, dass in insularen Ausgaben des 17. Jahrhunderts – von solchen lässt sich über die Datenbank etwa ein Dutzend online einsehen – diese gelehrte Pflege der Respublica litteraria vermittels kleinerer Begleittexte weniger betrieben wird. Das mag seinen Grund darin finden, dass sich auf der Insel zufällig eine bestimmte Textausgabe ohne Beiwerk als Leitausgabe in den Vordergrund gedrängt hat (was zu belegen freilich wiederum einstweilen der Überblick fehlt); es kann seinen Grund aber ebenso auch in einer nüchternerpragmatischeren Auffassung von einem »nützlichen Unterrichtsbuch« haben. Das wäre ein bildungsgeschichtlich gewichtiges und ausgesprochen erklärungsbedürftiges Faktum, das sich einstweilen jedoch (nur zufällig?) von der Tatsache stützen lässt, dass die Scholien des Erasmus zum Cato es allein auf der Insel auch zu einer Übersetzung in die Volkssprache gebracht haben.69
68 Hier benutzt in einer Straßburger Ausgabe von 1515 aus der Offizin Mathias Schürers (VD 16 Nr. C 1592), Bl. 1v; vgl. zur Person den Artikel von GILBERT TOURNOY in den Contemporaries of Erasmus, Bd. 2, S. 82–84. Unmittelbar voran geht eine Adresse des Druckers selbst an die lernende Jugend, die das überarbeitete Buch anpreist: Mathias Schurerius studiose iuuentuti salutem dicit. Erasmus Roterodamus libellum hunc saluberrimis praeceptis refertum in gratiam meam recognouit. Resecuit ab aliis addita, nominatim praefationis coronidem; adiecit nonnulla; emendauit omnia. Habetis igitur librum pro castigato castigatiorem, pro pauo meliorem et aliquando copiosiorem. Emito igitur, legito, ediscito et fruitor ac - valeto. 69 Übersetzer ist der Laienprediger Richard Taverner (1505–75). Die erste in den Early English Books Online erfasste Ausgabe (»CATONIS || DISTICHA MORALIA || EX CASTIGATIONE D. || ERASMI ROTERODAMI || una cum annotationibus & scholijs || Richardi Taverni anglico || idiomate conscriptis in || usum Anglicae iu=||uentutis«) erscheint im Selbstverlag London 1540; weitere folgen London 1553, 1555 und 1562. Die Ausgaben Taverners bieten neben englischen Scholien zum Cato auch Übersetzungen der Scholien zu den Dicta Sapientum und zum Publilius; auf den Isokrates der Opuscula ist hingegen vollständig verzichtet. Als Erasmus-Übersetzer ist Taverner zuvor bereits durch eine Ausgabe der Adagia des Erasmus (1539) und von dessen Encomium matrimonii (1532) ins Englische hervorgetreten. Vgl. zur Person YOST, JOHN K.: »German protestant humanism and the early English re-
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Auf eine weitere Form der Modifikation der Opuscula sei anhand einer Augsburger Ausgabe von 1579 hingewiesen. Sie hebt sich durch gleich zwei deutliche Eingriffe von den alten Opuscula ab. Für überholt erachtete ihr Drucker zum einen den Isokrates in der Agricola-Übersetzung. An seine Stelle tritt jetzt die Übersetzung des Begründers der deutschen Byzantinistik und (seit 1557) Rektors der Augsburger St. Annen-Schule, Hieronymus Wolf, die dieser bereits Ende der vierziger Jahre in Basel in den Druck gegeben hatte.70 Das ist gewissermaßen ein nach gestiegenen Ansprüchen aktualisierender Eingriff in die erasmianische Textreihe, die als solche aber akzeptiert bleibt. Die Anpassung verläuft nicht ganz ohne Folgen: In Augsburg wird die Ausgabe über knapp zehn Jahre hinweg mehrfach neu aufgelegt71 – soweit zu sehen aber auch nur dort. Die Veränderung durch »verbessernden Ersatz« verdankt sich ortsgebunden neuen Ansprüchen an die Isokrates-Übersetzung, die freilich lokal begrenzt, punktuell, an Ausbildung, Engagement und Kompetenz Einzelner gebunden bleiben. Indem man an einzelnen Positionen in der Textreihe ansetzte und diese durch Ergänzungen einschlägiger weiterer Werke ausbaute, versuchte man hingegen auch über Augsburg hinaus den alten Erasmus »noch besser zu machen«. Im Augsburger Druck von 1579 geschieht das durch Einschaltung einer weiteren Sentenzensammlung, zusammengestellt von Georg Fabricius, im Anschluss an den Publilius.72 Andere Ausgaben warten mit dem Enchiridion des Epiktet in der Übersetzung des Angelo Poliziano auf,73 mit Plutarchs Libellus de odio et invidio aus den Moralia,74 mit der Epistola paraenetica ad Valerianum de contemptu mundi des Bischofs formation: Richard Taverner and official translation«, in: Bibliothèque d’humanisme et renaissance 32 / 1970, S. 613–625. 70 VD 16 Nr. C 1658. Vgl. zur Vorgeschichte der Wolf-Übersetzung den Artikel zur Ausgabe von 1548 in: Griechischer Geist aus Basler Pressen, Basel 1992 (Publikationen der Universitätsbibliothek Basel 15), Katalognr. GG 216. 71 Augsburg 1581 (VD 16 Nr. C 1660), 1586 (VD 16 Nr. C 1665) und 1588 (VD 16 Nr. C 1668). 72 Es handelt sich um das Publilii Mimorum et sententiarum ex poetis antiquis similium liber 1, das von Fabricius zunächst gemeinsam mit den Elegantiarum ex Plauto et Terentio libri 2 für Unterrichtszwecke veröffentlich worden war. Ob auch der vorangehende erasmianische Publilius in Augsburg dem von Fabricius angepasst wird, ist nicht untersucht. Vgl. zu Autor und Werk zusammenfassend: WILHELM KÜHLMANN / ROBERT SEIDEL / HERMANN WIEGAND (Hrsg.): Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, lateinisch und deutsch, Frankfurt/M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 146; Bibliothek der Frühen Neuzeit, Abteilung 1, 5), S. 1311–1315 (mit weiterführender Literatur). 73 Etwa in VD 16 Nr. C 1595 (Straßburg 1516), Nr. C 1596 (Straßburg 1516), Nr. C 1599 (Leipzig 1517), Nr. C 1600 (Straßburg 1517), Nr. C 1602 (Leipzig 1518), Nr. C 1605 (Straßburg 1519), Nr. ZV 3155 (Schlettstadt 1520), Nr. C 1609 (Straßburg 1520), Nr. ZV 3156 (Leipzig 1521). 74 Etwa in VD 16 Nr. C 1595 (Straßburg 1516), Nr. C 1599 (Leipzig 1517), Nr. C 1602 (Leipzig 1518), Nr. C 1605 (Straßburg 1519), Nr. ZV 3156 (Leipzig 1521).
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Eucherius von Lyon mit den Scholien des Erasmus,75 mit einer weiteren Sentenzensammlung des Gianio Anisio76 und anderem mehr. Alle diese verschiedenen Ergänzungen eint im Prinzip, dass sie im Ergebnis weniger die Unterrichts- als eher die gelehrte Thesaurus-Funktion der alten Opuscula weiter ausbauen, indem sie den von Erasmus 1514 vorgegebenen Rahmen weiter ausfüllen.
6. Die Opuscula des Erasmus von 1514 wurden das ganze 16. Jahrhundert hindurch in weiten Teilen Europas immer und immer wieder neu für den Lateinunterricht aufgelegt und herangezogen. Sie zählen zweifellos zu den erfolgreichsten Schulbüchern der Frühen Neuzeit überhaupt. Ihre Text- und Überlieferungsgeschichte präsentiert sich bei näherer Betrachtung – wenn man sich im ersten Zugriff nicht gleich von der Vielzahl auch gleichbleibender Ausgaben entmutigen lässt – durchaus vielgestaltig. Sie liefert entsprechend vielfältige Einblicke in die Unterrichtspraxis dieser Zeit. Einige Aspekte hat der vorliegende Beitrag herauszustellen versucht – freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit und auf der eingeschränkten Basis eines bisher nur in Ansätzen erschlossenen Textkorpus. Insbesondere die konzeptionelle Offenheit frühneuzeitlicher Unterrichtsmaterialien gegen die Erfordernisse der praktischen Textarbeit im Lateinunterricht, die sich noch kaum in der schriftlichen Konzeption gespiegelt findet, sei abschließend noch einmal hervorgehoben. Sie einfach einer Gleichgültigkeit der Opuscula gegenüber dem lernenden Schüler im Klassenraum zuzuschreiben, ist sicher verfehlt. Dazu ist einem Erasmus eruditio ein zu ernstes Anliegen. Dazu bleiben seine Opuscula auch über viel zu lange Zeit in Verwendung, ohne dass man die Textsammlung, trotz ihrer Modifikationen im Detail, im 16. Jahrhundert irgendwann einmal wirklich als sprachendidaktisch vielleicht unpraktisch empfunden und verworfen oder wenigstens durchgreifend umgebaut hätte. Die Strategie, Details an die Praxis »vor Ort« zu delegieren, ist eine zeittypische. Ihr entspricht im übrigen genau eine weithin eben noch unzureichende funktionale Entkoppelung von litteraler Gelehrsamkeit (Handbuch- und Thesaurus-Funktion) und praktischer Heranführung an litterale Kompetenzen (Unterricht) auf der konzeptionellen Seite schriftlichen Textmaterials. Andere Unterrichtsbücher der Zeit für das Lateinstudium ste
75 Etwa in einer weiteren von Dirk Martens herausgegebenen Ausgabe Löwen 1517 und in einem Basler Druck von 1520 (VD 16 Nr. 1606). 76 Etwa in VD 16 Nr. C 1640 (Augsburg 1540), Nr. ZV 3154 (Zürich 1540), Nr. C 1658 (Augsburg 1579), Nr. C 1660 (Augsburg 1581), Nr. C 1665 (Augsburg 1586), Nr. C 1668 (Augsburg 1588).
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hen da dem Unterricht zweifellos näher als Erasmus und seine Adepten.77 Indes lässt sich erst vor dem Hintergrund des Erfolgs der Opuscula die (begrenzte) Repräsentativität konkurrierender Befunde angemessen einschätzen. Zudem zeigen Unternehmungen wie die Übersetzung der Scholien des Erasmus in die Volkssprache durch Taverner (sofern sich diese nicht ganz speziellen Anstößen verdankt), dass Annäherungen an Unterricht sich durchaus auch von der Verbreitung der erasmianischen Opuscula her in den Blick bringen lassen. Das mag man als Warnung vor leichtfertigen Generalisierungen nehmen. Vor allem mahnt es, der Text- und Überlieferungsgeschichte der Opuscula im Niederschlag ihrer wechselnden Ausgaben einmal systematischer nachzugehen, als es dem vorliegenden Beitrag möglich war.
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Beispiele bei PUFF, HELMUT: »Von dem schlüssel aller Künsten / nemblich der Grammatica«. Deutsch im lateinischen Grammatikunterricht 1480–1560, Tübingen / Basel 1995 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 70). Aus der Texttradition der Disticha Catonis ließe sich für den französischen Raum etwa auf Maturin Cordier, für den deutschen Sprachraum auf den Zürcher Schulmeister Johannes Fries verweisen (vgl. BALDZUHN, Schulbücher, S. 362–386).
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Art und Zweck der Lehrmethode Melanchthons Beobachtungen anlässlich der ersten Übersetzung seiner Initia doctrinae physicae Walther Ludwig Melanchthon (1497–1560) war ein didaktisches Genie. Seine Lehrerfolge sind in seiner gängigen Charakterisierung als Praeceptor Germaniae verdichtet. Zur Theologie und fast zu allen Disziplinen, die ein künftiger Magister artium zu studieren hatte, schrieb er Lehrbücher. Letztere wurden zuletzt anlässlich seines 500. Geburtstages in dem von Jürgen Leonhardt 1997 herausgegebenen Band Melanchthon und das Lehrbuch des 16. Jahrhunderts von verschiedenen Forschern neu beleuchtet.1 Sein Interesse an einer guten Unterrichtung der studierenden Jugend und seine Begeisterung für die Lehrtätigkeit waren so groß, dass er Vorlesungen nicht nur schrieb, um sie selbst zu halten, sondern auch, um sie seinen professoralen Schülern zur Verfügung zu stellen, so seine Anthropologie im Commentarius de anima für Jakob Milichius (1501– 1559) und seine naturphilosophische Einführung in den Initia doctrinae physicae für Paul Eber (1511–1569).2 In beiden Fällen hatten ihm die Betreffenden für einzelne Teile zugearbeitet.3 Auch viele einzelne von ihm verfasste 1
LEONHARDT, JÜRGEN (Hrsg.): Melanchthon und das Lehrbuch des 16. Jahrhunderts. Begleitband zur Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Rostock 25. April bis 13. Juli 1997, Rostock 1997 (Rostocker Studien zur Kulturwissenschaft 1). 2 Initia Doctrinae Physicae, Dictata in Academia Vuitebergensi. Philip. Melanth., Wittenberg 1549, Bl. Aiv–Aiir [im Folgenden zitiert: MELANCHTHON, Initia]. Zitiert wird der Text in der Interpunktion und Orthographie dieses Drucks. Benützt wurde ein derzeit in Privatbesitz befindliches, vermutlich in Wittenberg gebundenes Exemplar, das sich zuerst in Adelsbesitz befand und später zeitweise dem Kloster Unser Lieben Frauen in Magdeburg gehörte, in dem sich nach der Reformation ein Gymnasium befand, in dem es wohl für den Unterricht verwendet wurde. Diese Ausgabe liegt auch der einzigen neueren Ausgabe der Initia zugrunde, s. Philippi Melanchthonis Opera, quae supersunt omnia, ed. Carolus Gottlieb Bretschneider, Corpus Reformatorum vol. 7, Sp. 472–477, Leipzig 1840, und vol. 13, Leipzig 1846, S. 2 und Sp. 179–412. 3 Vgl. SCHEIBLE, HEINZ: Melanchthon: eine Biographie, München 1997, S. 94–99, und THÜRINGER, WALTER: »Paul Eber (1511–1569). Melanchthons Physik und seine Stellung zu
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Referate gab er anderen zum Vortrag, wie z. B. 1555 dem Wittenberger Magister Andreas Titander eine Stellungnahme zu der positiv beantworteten Quaestio An politica potestas debeat tollere haereticos (»Ob die staatliche Macht Ketzer beseitigen soll«).4 Wenig bekannt ist, dass Melanchthon auch verschiedene rhetorische Analysen der zehn Eklogen Vergils unter anderen seinen Schülern Johannes Marcellus genannt Regiomontanus (1510–1551) und Johannes Stigelius (Stigel, 1515–1562) zur Verwendung in ihren Unterrichtsveranstaltungen gegeben hatte. Sie wurden von seinem Schüler Stephanus Riccius (Reich, 1515–1588) gesammelt und mit dessen eigenem Kommentar 1546 zuerst gedruckt.5 Die Ausgabe wurde erweitert mehrmals wiederholt. Ein Exemplar des 1593 in Leipzig erschienenen Abdrucks, das ich vor einigen Jahren erwerben konnte,6 gelangte Ende des 16. Jahrhunderts nicht nur in den Besitz des evangelischen niederösterreichischen Freiherrn Hans Wilhelm Greiß zu Wald, sondern wurde im Zug der Gegenreformation zu Anfang des 17. Jahrhunderts sogar vom Jesuitenkolleg in Krems an der Donau übernommen und nach Auflösung des Copernicus«, in: Heinz Scheible, (Hrsg.), Melanchthon in seinen Schülern, Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Forschungen 73), S. 285–321. 4 Vgl. hierzu LUDWIG, WALTHER: Miscella Neolatina. Ausgewählte Aufsätze 1989–2003, vol. 2 edenda curavit Astrid Steiner-Weber, Hildesheim u.a. 2004 (Noctes Neolatinae. NeoLatin Texts and Studies 2.2), S. 565–566, und allgemein THÜRINGER, »Paul Eber«, S. 299: »Melanchthon hat auch sonst zahlreiche Schriften für Schüler und Kollegen verfasst. Erhaltene Autographen, Hinweise in seinem Briefwechsel und fremde Aussagen bezeugen dies.« 5 Die von Riccius zusammen mit eigenen Erläuterungen herausgegebenen Argumenta seu Dispositiones Rhetoricae Melanchthons zu Vergils Eklogen erschienen bis 1593 mit gewissen Veränderungen viermal. Sie sind nicht identisch mit den von Melanchthon selbst herausgegebenen Vergilscholien, auf die CLASSEN, CARL JOACHIM: Rhetorical criticism of the New Testament, Tübingen 2000, S. 170, hinwies. Riccius ließ die Texte zur Erklärung der Eklogen zuerst 1546 in Frankfurt am Main, dann 1565 in Weißenfels, danach 1568/1569 in Görlitz drucken. Diese letzte von ihm selbst besorgte Ausgabe wurde 1593 in Leipzig nachgedruckt. Vgl. HENRICUS ERNESTUS BINDSEIL, Corpus Reformatorum Vol. XIX, Braunschweig 1853, Sp. 295–298 (bibliographische Angaben) und Sp. 305–348 (Edition der Argumenta seu Dispositiones Rhetoricae nach den Ausgaben von 1565, 1568 und 1593 ohne die Paratexte). 6 In P. Virgilij Maronis Eclogas Argumenta seu Dispositiones Rhetoricae. Authore Philip. Melanth. Accessere item Paraphrases, Ecphrases, succinctae questiones, et brevia Scholia Textus in easdem Eclogas. Authore M. Stephano Riccio. Omnia denuo recognita et aucta, Leipzig 1593. Riccius berichtet dort auf Bl. A3v in seinem Widmungsbrief an Markgraf Georg Friedrich von Brandenburg, dass Melanchthon diese Vergilerläuterungen (es sind zu jeder Ekloge jeweils mehrere verschiedene Texte) verschiedenen Wittenberger Professoren zur Benützung in ihren Vorlesungen gegeben hatte (haec argumenta seu dispositiones Rhetoricas, quas clarissimus vir D. Philippus Melanchthon (piae memoriae) quondam doctissimis viris M. Iohanni Marcello Regiomontano, et M. Iohanni Stigelio, et aliis, tanquam publicis Professoribus bonarum artium in celeberrima Academia Vuittenbergensi diversis temporibus dictandas proposuit). Diese Worte widerlegen die sich im Österreichischen BV Gesamtkatalog findende Angabe, der Verfasser dieser Vergilerläuterungen sei »Melanchthon, Philipp ›der Jüngere‹«, d.h. der gleichnamige Sohn von Melanchthon.
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Ordens 1781 in die Bibliothek des dortigen Piaristengymnasiums eingereiht,7 womit der an sich unter die Erzketzer gestellte Melanchthon den Unterricht der Jesuiten und Piaristen noch über 200 Jahre nach seinem Tod bereichern durfte. Als ich vor ein paar Jahren auf Wunsch einer naturwissenschaftshistorischen Kollegin die erste gedruckte Fassung der Initia doctrinae physicae von 1549 übersetzte (diese erste Übersetzung in eine moderne Sprache erschien 2008),8 fiel mir auf, wie flüssig lesbar, auch bei komplizierten Sachverhalten klar und leicht verständlich, eingängig und spannend dieses zuerst für eine Vorlesung verfasste Lehrbuch geschrieben war und wie einprägsam und überzeugend es in seiner Zeit gewirkt haben muss. Es war zeitlichen Anspielungen zufolge, die in ihm enthalten sind, 1545–1549 geschrieben worden (das in Nürnberg erhaltene Druckmanuskript beweist, dass Paul Eber einzelne Teile verfasst hatte).9 Es wurde bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts mindestens achtzehnmal wieder aufgelegt und für die zweite Auflage von 1550 noch etwas revidiert.10 Sogar ein Einfluss bis auf Christian Wolf und Immanuel Kant wurde dem Buch nachgesagt.11 Das weckte in mir den Wunsch, einmal im
7 Das Exemplar hat die handschriftliche Besitzerangabe »Hans Wilhalm von Greyssen« auf dem Spiegel und HANS WIL|HELM VON GREY| […] auf dem Vorderdeckel des Halbschweinsledereinbandes. Es handelt sich um den evangelischen Freiherrn Hans Wilhelm Greiß zu Wald (bei Pyhra, BH St. Pölten), der bis 1611 auch die Herrschaft Sitzenberg (BH Tulln) besaß und in Karl Lechner (Hrsg.), Donauländer und Burgenland, Stuttgart 1970 (Handbuch der historischen Stätten Österreich 1), S. 486, als das »bedeutendste Mitglied der Familie« erwähnt und dort »Geschichtsschreiber« genannt wird. Die Greiß hatten die Pfarrei Pyhra evangelischen Predigern übergeben, die 1625 gegen den vergeblichen Widerspruch des Freiherrn Greiß vertrieben und durch katholische Pfarrer ersetzt wurden. Im Zusammenhang mit der Rekatholisierung Niederösterreichs scheint das Exemplar in den Besitz des 1616 gegründeten Jesuitencollegs in Krems gekommen zu sein, das auf der Titelseite den Eintrag »Collegij Soc. JESU Crembsij« und auf dem Spiegel das etwas spätere Etikett »E Bibliotheca Collegii Cremensis. Humanistae. Scrinium 7 Series 2 Numerus 597« hinterlassen hat. Nach Auflösung des Jesuitenordens wurde auf der Titelseite »Soc. JESU« gestrichen und darunter »Schol. piarum | 781« geschrieben. Der Schulorden der Piaristen hatte auch die Gebäude des Jesuitenkollegs übernommen. 8 PHILIPP MELANCHTHON: Initia Doctrinae Physicae, Dictata in Academia Vuitenbergensi. Die Anfänge der physikalischen Lehre, vorgetragen an der Universität Wittenberg. Übersetzt von Walther Ludwig, Rahden/Westf. 2008 (Subsidia Classica 11) [im Folgenden zitiert MELANCHTHON, Die Anfänge]. 9 Vgl. THÜRINGER, »Paul Eber«, S. 299–302. 10 Vgl. zu dem Werk insgesamt SCHEIBLE und THÜRINGER, »Paul Eber«, sowie BAUER, BARBARA: »Gott, Welt, Mensch und Sterne in Melanchthons Initia doctrinae physicae« in: Leonhardt (Hrsg.), Lehrbuch, S. 149–172, und DIES. (Hrsg.): Melanchthon und die Marburger Professoren (1527–1627), Marburg 1999, S. 371–376 (»Philipp Melanchthon: Initia doctrinae physicae. Wittenberg 1550«). 11 PLANCK, ADOLPH: Melanchthon, Praeceptor Germaniae. Eine Denkschrift zur dritten Säkularfeier seines Todes, Nördlingen 1860, S. 75.
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einzelnen festzustellen, weshalb das Buch didaktisch so wirksam war. Es ist also nicht mein Thema zu untersuchen, wieviel Paul Eber zu diesem Werk beigetragen hat.12 Ich gehe im allgemeinen von der Gestalt des Werkes aus, die Melanchthon für seine Veröffentlichung 1549 gutgeheißen und zum größten Teil selbst geschrieben hat. Es ist auch nicht mein Thema, das Verhältnis des Textes zu seinen antiken und humanistischen Quellen genauer zu bestimmen.13 Es ist ausschließlich mein Ziel, das Buch als ein Beispiel für die didaktischen Methoden Melanchthons auszuwerten, was bisher noch gar nicht unternommen wurde, wie überhaupt eine Einzeluntersuchung seines didaktischen Verfahrens aus neuerer Zeit trotz alles Preises des Praeceptor Germaniae bisher zu fehlen scheint.14 Von einem Schüler des Melanchthon, von David Chytraeus (1530–1600),15 gibt es dagegen in seiner Schrift De ratione discendi et ordine studiorum in singulis artibus recte instituendo, die 1562, zwei Jahre nach Melanchthons Tod, erstmals und dann bis 1600 noch zehnmal gedruckt wurde,16 eine Emp 12
Vgl. dazu die Hinweise von THÜRINGER, »Paul Eber«, S. 301 mit Anm. 112. Thüringer, S. 302, stellte auch fest, dass sich im Druckmanuskript außerdem verstreute Korrekturen in astronomischen Sachfragen durch den Melanchthonschüler und Wittenberger Mathematiker Erasmus Reinhold (1511–1553) finden. 13 BAUER in LEONHARDT (Hrsg.), Lehrbuch, S. 163, erwähnt, dass sie »eine ausführliche Synopse der antiken Quellen und Bibelbelege […] zu Melanchthons Initia« in ihrer Abhandlung »Der Weg wissenschaftlicher Aufklärung von den Gelehrten zu den Laien am Beispiel der Astronomie und Astrologie in der Frühen Neuzeit« erstellt hat (unveröffentlichte Habil.-Schrift München 1989). 14 Der Beitrag von SCHEIBLE, HEINZ: »Melanchthon als akademischer Lehrer. Einführung in das Arbeitsgespräch ›Melanchthon in seinen Schülern‹«, in: ders. (Hrsg.), Melanchthon in seinen Schülern, S. 13–3, hat nicht die didaktischen Methoden Melanchthons zum Gegenstand. Im Gegensatz dazu hat das Bildungsprogramm Melanchthons natürlich viel Aufmerksamkeit gefunden, vgl. z. B. SCHEIBLE, HEINZ: »Melanchthons Bildungsprogramm«, in: ders., Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, hrsg. von Gerhard May und Rolf Decot, Mainz 1996, S. 99–114. 15 Vgl. zu ihm allgemein KARL-HEINZ GLASER / HANNO LIETZ / STEFAN RHEIN (Hrsg.): David und Nathan Chytraeus – Humanismus im konfessionellen Zeitalter, Ubstadt-Weiher 1993, DÜCHTING, REINHARD UND KÖRKEL, BORIS: David Chytraeus: Kraichgau – De Creichgoia. Faksimile der Ausgabe Wittenberg 1561 mit Übersetzung und Nachwort, Ubstadt-Wieher 1999, und KARL-HEINZ GLASER / STEFFEN STUTH (Hrsg.): David Chytraeus (1530–1600). Norddeutscher Humanismus in Europa. Beiträge zum Wirken des Kraichgauer Gelehrten, Ubstadt-Weiher 1993, und dazu die Besprechung der drei Werke von WALTHER LUDWIG in: Südwestdeutsche Blätter für Familien- und Wappenkunde 21 / 1994, S. 105–106, Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 59 / 2000, S. 564–565, und 60 / 2001, S. 525–526, sowie DERS., Supplementa Neolatina, Ausgewählte Aufsätze 2003–2008, edenda curavit Astrid Steiner-Weber, Hildesheim u.a. 2008 (Noctes Neolatinae Neo-Latin Texts and Studies 10), S. 185–215. 16 David Chytraeus, seit 1551 Professor in Rostock, verfasste u. a. die beiden didaktischen Schriften Oratio de studio theologiae recte inchoando, zuerst wohl 1558 (nur durch den Widmungsbrief belegt), Wittenberg 1560 (danach, meist ohne das Titelwort Oratio 1561, 1562,
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fehlung der Lehrschriften Melanchthons, in der ihre hervorragende didaktische Eignung relativ eingehend herausgestellt wird und die deshalb hier zu Anfang auch im Wortlaut zitiert werden soll:17 Cum autem singularum Artium compendia et epitomae a multis scriptae extent: tamen in harum regionum scholis nunc usitatissimi, et per se discentium studiis maxime accomodati, et utiles sunt, Philippi Libelli, quibus admirationem et amorem omnium studiosorum merito conciliat: I. Prudentia et dexteritas, qua ex longissimis aliorum voluminibus, praecipuos et utilissimos locos seligit, ut velut gemmae ex turba inutilium aut obscurarum praeceptionum erutae clarius conspici possint. Et necessaria tantum praecepta, et ad formandum iudicium de maximis rebus imprimis utilia, omissis inanibus cavillationibus, et argutiis difficilioribus, propria et perspicua oratione, aptissimo ordine, et nervosa brevitate tradit et explicat, et usum in communi vita ostendit. II. Illustria exempla praeceptis adiungit, sumta ex optimis autoribus, et praesentium temporum controversiis, et continentia gravissimarum rerum doctrinam, in quibus artium usus, et vis ac utilitas praeceptorum, in iudicando, et dicendo, de maximis rebus vitae necessariis, conspici potest. III. Illecebras miscet ex quadam Historiarum, Dictorum, Sententiarum, similitudinum et aliarum allusionum dulcissima varietate: Quae cum natura animos capiant, et delectent, simul necessaria artium praecepta, etiam insuaviora, et doctrinam utilissimam, et in omnes vitae partes late manantem, singulari cum voluptate animis discentium instillant. Merito igitur, Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci [Hor. AP 343]. »Obwohl Kompendien und verkürzte Fassungen der einzelnen Artes, von vielen geschrieben, zur Verfügung stehen, so sind dennoch jetzt in den Hochschulen unserer Regionen am gebräuchlichsten und für die selbst Studierenden am angenehmsten und nützlichsten die Büchlein des Philippus, denen die Bewunderung und Liebe aller Studierenden mit Recht eingebracht hat 1. die Klugheit und Geschicklichkeit, mit der er aus den längsten Wälzern der anderen die wichtigen und nützlichsten Stellen auswählt, so daß sie wie Edelsteine, die aus der Menge unnützer und dunkler Lehren herausgegraben wurden, deutlicher betrachtet werden können. Und er überliefert und erläutert nur die notwendigen und für die Bildung eines Urteils über die wichtigsten Dinge besonders nützlichen Lehren unter Weglassung leerer Spitzfindigkeiten und schwierigerer Scharfsinnigkeiten mit normalen und durchsichtigen Worten, in bestens angepaßter Gliederung und in kräftiger Kürze und zeigt jeweils den Nutzen für das allgemeine Leben. 2. verbindet er mit den Lehren erleuchtende Beispiele, die er aus den besten Autoren und den Kontroversen der Gegenwart genommen hat und die Lehren zu den
1570, 1572, 1580, 1581, 1582 und 1590) und De ratione discendi et ordine studiorum in singulis artibus recte instituendo, Wittenberg 1562 (danach 1564 [nach dieser Ausgabe wird hier zitiert], 1566, 1567, 1576, 1583, 1586, 1592, 1593, 1595 und 1596). Nur wenige Jahre zuvor, 1556, war in Basel ein umfangreicher pädagogischer Sammelband von 804 Seiten veröffentlicht worden, der das Interesse der Zeit an solchen didaktischen und pädagogischen Darstellungen beleuchtet: PHILIPPUS BECHIUS (Hrsg.): Disciplina puerorum deque recte formandis eorum studiis et moribus, ac simul tam preceptorum quam parentum in eosdem officio: doctorum virorum libelli aliquot vere aurei ad ingenuorum adulescentum commoditatem atque usum collecti. Der Band enthält 27 einschlägige Werke, u. a. von Vives, Erasmus, Agricola, Melanchthon, Christoph Hegendorf, Otto Brunfels und Sebald Heyden. Die beiden Schriften von Chytraeus müssten auch auf diesem Hintergrund interpretiert werden. 17 CHYTRAEUS, De ratione discendi, Bl. B1r–2v.
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gewichtigsten Dingen enthalten und in denen der Nutzen der Artes und die Bedeutung und der Nutzen der Lehren für die Beurteilung und Besprechung der wichtigsten, für das Leben notwendigen Dinge gesehen werden kann. 3. mischt er verlockende Stellen der angenehmsten Unterschiedlichkeit in Form von Historien, Aussprüchen, Sentenzen, Gleichnissen und anderen Anspielungen hinein, die, da sie von Natur den Geist ergreifen und erfreuen, zugleich die notwendigen Lehren der Artes, auch die unangenehmeren, und die allernützlichste und sich auf alle Teile des Lebens erstreckende Lehre mit einem einzigartigen Lustgefühl in den Geist der Lernenden einträufeln. Mit Recht also gewann er den Beifall von allen, da er das Nützliche mit dem Angenehmen vermischte.«
Es ist beachtenswert, wie aufmerksam Chytraeus hier die didaktischen Strategien Melanchthons wahrnimmt. Er hat mit dieser Charakterisierung wichtige Gründe für dessen didaktischen Erfolg bewusst gemacht. Sie werden ihre Bestätigung finden, wenn wir uns nun speziell der Didaktik seiner Einführung in die doctrina physica18 zuwenden. Dabei werden wir die Feststellungen von Chytraeus auch ergänzen können. Melanchthon schrieb die Initia für »Anfänger«. Damit sind freilich keine Erstsemester gemeint, sondern Studenten, die das Studium für den Baccalaureus artium absolviert hatten, die nun den Grad des Magister anstrebten und dazu erstmals Naturphilosophie zu studieren hatten. Für sie schrieb er keinen Kommentar zu einem klassischen Werk und auch keine Zusammenfassungen solcher Werke, sondern eine frei und mit eigenem Urteil verfasste Monographie über den Weltaufbau, für die er aber eben solche klassischen Werke benützte.19 Gedacht war, dass die Studenten, die sich der Naturphilosophie, den Physica, zuwandten, zuerst die Initia und Melanchthons andere dafür einschlägige Schrift De anima lasen und sich dann mit den naturphilosophischen Werken des Aristoteles beschäftigten (besonders mit De generatione et corruptione, den Meteorologica, mit De anima, den Parva naturalia und mit De animalibus). Daran konnten sie Theophrasts De Plantis und Dioscurides’ Historia stirpium anschließen.20 Melanchthon zitierte in seinen Initia auch viele
18 CHYTRAEUS, De ratione discendi, Bl. A 6v, definiert im Sinne Melanchthons ihren Gegenstand so: Doctrina Physica, considerans naturam et causas omnium rerum a Deo conditarum, ut coeli, stellarum, Elementorum, μετεώρωv, Plantarum, animantium, et in primis animae et corporum humanorum. 19 Insofern scheint mir der Ausdruck »Reader’s Digest«, den Bauer 1997, S. 150, und 1999, S. 374, als Charakterisierung der Schrift benützt, nicht passend. Die bekannte Zeitschrift Reader’s Digest hat sich darauf »spezialisiert, Artikel anderer Zeitschriften in gekürzter Form nachzudrucken« (Wikipedia). Melanchthon gibt aber keine Zusammenfassungen klassischer Schriften, sondern eine eigene Darstellung des Weltaufbaus und der Vorgänge in der Welt unter Benützung klassischer Schriften. 20 CHYTRAEUS, De ratione discendi, Bl. B2v, empfiehlt jedenfalls zunächst die Initia doctrinae physicae et de Anima von Melanchthon zu lesen, und teilt dann auf Bl. B8r mit: In Physicis, post cognita initia, Aristoteles potissimum legendus est, et illi in primis libri, qui utilissimas materias et disputationes continent, ut duo libri de Generatione et corruptione:
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andere prosaische und poetische Autoren der Antike und verwies insbesondere für die Astronomie neben Ptolemäus auch auf zeitgenössische Literatur.21 Gegliedert sind die Initia in drei libri. Ins Zentrum stellte Melanchthon auf den 95 Oktavblättern seines zweiten Buches eine Darstellung, die die Hauptthemen der aristotelischen Physik in der Reihenfolge ihrer acht Bücher zum Gegenstand hat. Melanchthon behandelt zuerst – analog zum ersten Buch der Physik – die principia, dann die verschiedenen causae in Entsprechung zum zweiten Buch, dabei auch fatum sowie casus et fortuna, danach gemäß dem dritten bis siebten Buch die motus unter Einschluss der Begriffe locus und tempus und schließlich den primus motor des achten Buches, wo Melanchthon sich dann auch mit den aristotelischen Argumenten für eine aeternitas mundi aus christlicher Perspektive kritisch auseinandersetzt. Die übrigen zwei Bücher Melanchthons schließen sich der Thematik und Struktur eines aristotelischen Werkes nicht so eng an. Sein drittes Buch erörtert auf 32 Blättern die elementa mit ihren qualitates und den Ursachen für ihre alterationes und mixtiones, im ganzen immerhin auf dem Hintergrund des aristotelischen Werkes De generatione et corruptione, jedoch auch unter gelegentlicher Einbeziehung von De generatione animalium, der Meteorologie und von Schriften des Theophrast und Galen. Dieses Buch ist nicht nur viel kürzer als die beiden ersten, sondern auch in einem erheblich knapperen und sich im Wesentlichen auf die Berichtsform beschränkenden Stil verfasst. Vermutlich sollte es ursprünglich auch noch die meteorologischen Abschnitte umfassen, die in dem im ersten Buch vorgestellten Gesamtprogramm am Ende angegeben werden und die das dritte Buch wohl auf die Größe der übrigen gebracht hätten. Melanchthon verzichtete aber dann darauf, ebenso wie auf die auch dort angegebenen Abschnitte zur Psychologie, unter anderem wohl, weil sein ausführlich angelegter Commentarius de anima schon gedruckt vorlag. Melanchthon ist sich bewusst, dass sein erstes, mit 120 Blättern umfangreichstes Buch unter der Überschrift Physik und im Kontext der eigentlichen quatuor de meteoris. Secundus et Tertius de Anima, et quae parva naturalia vocantur, et Aurei libri de animalibus, et Theophrasti de Plantis, et stirpium Historia Dioscoridis. 21 Vgl. z. B. MELANCHTHON, Initia, Bl. 67r, Die Anfänge, S. 67–68 (revidiert): »Diese gröbste Vorstellung genüge uns hier bei den physikalischen Dingen. Denn wir bemühen uns, dass die Anfänger durch diese Betrachtung (und gewissermaßen angeregt durch die wie immer beschaffene Zeichnung) später begieriger zu den Quellen der Lehre und zu den feineren Demonstrationen streben, die in den Theoricae [novae planetarum von Georg von Peuerbach, mehrere Ausgaben seit 1508, teilweise auch unter anderen Titeln, vgl. insbesondere: Theoricae novae planetarum Georgii Purbachii Germani cum praefatione Melanthonis, Wittenberg 1535] und sodann im Ptolemäus überliefert werden.« CHYTRAEUS, De ratione discendi, Bl. B2v und B6v, nennt die Theoricae Planetarum am Ende der in die Physica einführenden Literatur und Ptolemäus in der Literaturliste für die Mathemata.
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Physik des zweiten und dritten Buches etwas ungewohnt ist.22 Das erste Buch enthält zunächst als Eröffnung eine grundsätzliche Vorstellung der Physik und die programmatische Ankündigung der folgenden Fragen und Themen des Gesamtwerks. Das sachlich erste Kapitel bespricht dann Gott und seine Providenz sowie den Begriff der Kontingenz, das zweite die Welt in ihrer Gestalt, Bewegung und zeitlichen Dauer, das dritte beginnt mit den einfachen Körpern, zunächst denen des Himmels, und bringt eine relativ eingehende Darstellung der zehn sich bewegenden himmlischen Sphären, insbesondere der Bewegungen von Sonne, Mond und den übrigen fünf Planeten nach dem ptolemäischen System. Verschiedene aristotelische Werke werden in diesem Buch nur punktuell zitiert, ein paar Themen stimmen mit De caelo überein. Die soeben verwendete Kapiteleinteilung wurde der Übersicht halber von mir eingeführt. Der originale Druck kennt nur kleinere, mit Überschriften versehene Abschnitte, die häufig in die Form von Fragen gekleidet wurden, die in Lehrbüchern seit dem Mittelalter üblich sind. Insgesamt führt die Darstellung von Gott und den unveränderlich kreisenden Sternen herab bis zu den Veränderungen und Mischungen der vier Elemente auf der im Mittelpunkt der Welt ruhenden Erde, von dem handelnd eingreifenden Schöpfergott und den durch ihre Strahlen wirkenden Sternen bis zu den ihrem Einfluss ausgesetzten, aber einen freien Willen besitzenden Menschen, für die Gott die Welt geschaffen hat und die sich Gott zuwenden können, und er gibt so – anders als die gewohnten Darstellungen der Physik – ein vollständiges Weltbild. Der das Studium der Physik beginnende Student
22 Vgl. die mehrfache Begründung bei MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 13: »Obgleich aber die Hinzufügung der Lehre von den himmlischen Bewegungen und Wirkungen für diese Betrachtung der unteren Materie nützlich ist […], und die Zusammenbringung der Wissenschaften beides beleuchtet, so ist es dennoch, da beide Wissenschaften groß und sehr umfangreich sind, jetzt üblich, diejenige Lehre Physik zu nennen, die die nahen Ursachen der Veränderungen in den vermischten Körpern offenlegt, die durch die Bewegung und die Qualitäten dieser unteren Materie entstehen, […]. Aristoteles hat aber dennoch nicht den anderen Teil ganz beiseite gelassen, ich meine die Betrachtung der himmlischen Bewegungen […]«, S. 57: »Die Physiker beginnen meistens ihre Lehre bei der elementaren Materie. Und zu ihr eilen wir. Denn die Lehre von den himmlischen Kreisen und Bewegungen und von der Wirkung des Lichts ist aus anderen Büchern zu holen. Man hat nämlich die Lehren verteilt, da in einem Band nicht alle vollständig überliefert werden können. Aber dennoch, da es absurd ist, über die elementare Materie zu sprechen, die ständigen Veränderungen unterworfen ist, wenn der Hörer nicht zuvor wenigstens über die universalen Wirkungen, über Gott und die Bewegungen unterrichtet wird, die die erhaltenden Ursachen sind für die niederere Materie und sie auf gewisse Weise lenken […], werden wir also weniges über die Sphären und die himmlischen Bewegungen sagen« und S. 129 (am Ende des ersten Buchs): »Es wird einigen eine so ausführliche Erklärung der himmlischen Bewegungen, die anderswo genauer überliefert wird und von der physikalischen Lehre angeblich zu trennen ist, an diesem Ort unpassend erscheinen können. Aber wir haben viele Gründe gehabt, warum wir glaubten, diesen Bericht über die Bewegungen diesem physikalischen Teil hinzufügen zu müssen.«
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erhält eine erste Gesamtorientierung, und das ist auch bereits ein didaktisches Verfahren, das zur Attraktivität des Lehrbuches beiträgt.23 Diese thematische Zusammenstellung war vermutlich beeinflusst von der zuerst 1503 erschienenen Margarita philosophica (»Philosophische Perle«) des Freiburger Kartäusers Gregor Reisch (ca. 1470–1525), die 1533 und 1535 in der Bearbeitung durch den französischen Mathematiker Orontius Fineus (Finé, 1494–1555) in Basel neu gedruckt worden war. In dem aus zwölf, in der Form von Lehrer-Schüler-Dialogen verfassten Büchern bestehenden Werk bringen nach der Darstellung von Grammatik, Logik, Rhetorik, Arithmetik, Musik und Geometrie die Bücher sieben bis neun nacheinander: VII. Astronomia, tam ea quae vere mathematica et cosmographia est, tam quae iudiciaria Astrologia dicitur, VIII. Naturalis philosophiae principia, succincte collecta, worin unter anderem auch die causae sowie casus et fortuna behandelt werden, und IX. Naturalia rerum, cum simplicium, tum mixtarum origo, wonach noch zwei Bücher über die Anima vegetativa und rationalis und eines über die Moralis philosophia folgen. Die Bücher sieben bis neun entsprechen grundsätzlich inhaltlich den Büchern eins bis drei der Initia doctrinae physicae, wobei am Ende von Buch neun auch die Meteorologie erscheint, die Melanchthon ursprünglich an entsprechender Stelle geplant hatte. Zusätzlich zur Thematik von Buch sieben bis neun hat dieser in seinem ersten Buch die allgemeine Vorstellung der Physik einschließlich der Besprechung ihrer Sicherheit, Nützlichkeit und Methodik und das Anfangskapitel über Gott und die Providenz gegeben, das die folgende Weltdarstellung in die richtigen Relationen setzt. 23
THÜRINGER, »Paul Eber«, S. 301, vermutete für die starke Erweiterung des astronomischen Teils von Buch 1 gegenüber der ersten (nur handschriftlich überlieferten) Fassung der Physik von 1534, dass es »offenbar der Fortschritt der Wissenschaft auf diesem Gebiet durch Copernicus [war], der Melanchthon zur Umgestaltung seines Werkes bewogen hat.« Weder die von Copernicus neu beobachteten Sternorte noch seine heliozentrische Theorie können der Grund für die ausführlichere Darstellung der Planetenbewegungen gewesen sein, vielmehr hatte Melanchthon, wie die mehrfachen in Anm. 22 zitierten Begründungen zeigen, die Absicht, in diesem Band eine Gesamtdarstellung der Welt von Gott über die Sterne bis zu den Elementenmischungen auf der Erde zu geben und so in dem Ganzen die Zusammenhänge zwischen oben und unten sehen zu lassen. Für die Weglassung des astrologischen Abschnitts am Ende von Buch 1 in der Fassung von 1534 vermutet Thüringer ebenda: »Das Thema schien ihm für die Veröffentlichung anstößig zu sein.« Er habe deshalb astrologische Bemerkungen an weniger anstößiger Stelle in Buch 2 eingefügt. Dies verkennt, dass Melanchthon sich in diesem Werk durchweg zur Astrologie bekennt, d.h. zum Einfluss der Sterne auf die niedere Materie und die Möglichkeit, ihn mit Erlaubnis Gottes zu erkennen. Die Versetzung längerer astrologischer Erklärungen vom Ende des ersten in das zweite Buch (s. MELANCHTHON, Die Anfänge, besonders S. 166–190) dürfte darin begründet sein, dass die Einflüsse der Sterne auf die Menschen ihm besser in die Darstellung der Ursachen und Wirkungen zu passen schienen. Zur positiven Einstellung Melanchthons zur Astrologie im Rahmen seines Humanismus vgl. im übrigen insgesamt LUDWIG, Supplementa Neolatina, S. 131–183.
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Auch der Verfasser der Margarita wollte eine leicht fassliche Einführung für Anfänger schreiben, und auch die Margarita wurde im frühneuzeitlichen Schulbetrieb verwendet. Diese Zielsetzung und die große Verbreitung des Werkes schon in der Studentenzeit Melanchthons (1503–1517 erschienen acht Auflagen im südwestdeutschen Raum) machen es sicher, dass es diesem bei der Niederschrift der Initia wohlbekannt war. Ein sprachlicher, inhaltlicher und didaktischer Vergleich von Margarita sieben bis neun und Initia eins bis drei könnte also einen interessanten Beitrag zur Profilierung der Initia liefern, was hier jedoch zu viel Raum beanspruchen würde. Wir wollen uns mit der allgemeinen Feststellung begnügen, dass die wichtigsten Bezugspunkte der Initia sachlich der nach der Bibel modifizierte Aristoteles sowie für Astronomie und Astrologie Ptolemäus und didaktisch wohl die Margarita von Reisch waren. Das Werk Melanchthons beginnt mit einem auf den 29. September 1549 datierten Widmungsbrief Melanchthons an den Bürgermeister von Nordhausen Michael Meyenburg (ca. 1491–1555).24 Die eigentliche Widmung nimmt jedoch nur den letzten kurzen Absatz des Briefes ein. Der Brief setzt nach der Anrede im ersten Absatz mit zwei längeren durch ein Et verbundenen Satzperioden ein, die gleich die Hauptsache des ganzen Werkes, die Darstellung der planvoll geordneten Welt als Zeugnis Gottes für die Gotteserkenntnis des Menschen vor Augen führen. Damit wird der Leser gleich zu Anfang auf die Erkenntnis eingestimmt, auf die es Melanchthon in allererster Linie ankommt, und dieser Gedanke wird im Folgenden bei allen sich irgendwie bietenden Gelegenheiten, auch bei solchen, bei denen wir es nicht erwarten, wie z. B. zur Begründung der Epizykel der Planeten, wiederholt und eingeschärft, bis selbst der letzte Satz des ganzen Werkes wiederum ihm gewidmet ist. Dieser Gedanke ist das Leitmotiv des Werkes und seine absichtliche ständige Wiederholung ein didaktisches Prinzip. Seine erste Formulierung in den beiden ersten verbundenen Perioden des Widmungsbriefes sei hier nicht nur des Inhalts wegen zitiert, sondern auch, um ein Beispiel für die durchsichtig klare Gliederung der längeren Satzperioden Melanchthons zu geben, die einen wichtigen Beitrag zu seiner Verständlichkeit darstellt:25 Totum hoc pulcherrimum theatrum Coelum, Lumina, Stellae, Aer, Aqua, Terra, Plantae, Animantia et caetera mundi corpora,
24 Vgl. Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe, Bd. 5, Regesten 4530–5707 (1547–1549), bearbeitet von Heinz Scheible und Walther Thüringer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 519–520. (Nr. 5641). 25 MELANCHTHON, Initia, Bl. Aiv-Aiir. Der Text wird hier in einer seine Struktur verdeutlichenden Zeilengliederung zitiert.
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ideo tanta arte conditum est, ornatum specie, figura, harmonia motuum, efficacia virium, συμπάθεια, et ordine distributum, ut illustre testimonium sit de Deo opifice. Et collocatus est in hoc splendidum domicilium Homo, et insita ei de Deo, et de virtute noticia, ut et sese aspiciens, et oculos circumferens ad contuendum rerum ordinem, et considerandum totius aedificationis consilium, agnoscat et esse Deum, mentem aeternam, architectatricem totius huius operis, sapientem, bonam, veracem, iustam, beneficam, castam, liberrimam, et adesse huic suo operi, et conservare res conditas, et institutum ordinem, et sine ulla dubitatione vindicem esse, et atrocia scelera atrocibus poenis in hac vita punire, non solum ut generis humani societatem tueatur, sed etiam ut commonefaciat nos de se ipso, et cum agnoscimus esse iustum, veracem, beneficum, castum, discernamus eum a naturis iniustis, mendacibus, obscoenis, et oportere congruere nostros mores cum ipsius voluntate sciamus. »Dieses ganze allerschönste Theater, Himmel, Leuchten [d.h. Sonne und Mond], Sterne, Luft, Wasser, Erde, Pflanzen, Lebewesen und die übrigen Körper der Welt [das Bild des Theaters wird entschlüsselt durch die drei dreigliedrigen Substantivreihen, die die Welt vom Himmel bis zu den Lebewesen auf der Erde umfassen], ist deshalb mit so großer Kunst geschaffen, durch sein Aussehen, seine Gestalt, die Harmonie seiner Bewegungen, die Wirksamkeit seiner Kräfte und seine Sympathie geschmückt und in seiner Ordnung eingeteilt worden [die planvoll geordnete Schöpfung des Welttheaters wird in drei Satzteilen beschrieben], daß es ein leuchtendes Zeugnis sei für Gott den Schöpfer [der Begriff Deus erscheint pointiert am Ende der ersten Periode]. Und gesetzt wurde in dieses glänzende Haus der Mensch [der Begriff Homo nun ergänzend zu Beginn der zweiten Periode] und die ihm eingepflanzte Kenntnis von Gott und der Tugend [sie zeichnet ihn vor allen anderen Geschöpfen aus], damit er sowohl sich ansehend als auch seine Augen herumführend, um die Ordnung der Dinge zu betrachten und den Plan des ganzen Gebäudes zu bedenken, erkenne, sowohl daß es Gott gibt, einen ewigen Geist, der der Baumeister dieses ganzen Werkes ist, der weise, gut, wahrhaftig, gerecht, wohltätig, rein und [in seinem Handeln] völlig frei ist, als auch daß er bei diesem seinem Werk ist und die geschaffenen Dinge und die eingerichtete Ordnung bewahrt und daß er ohne jeden Zweifel ein Rächer ist und schreckliche Verbrechen mit schrecklichen Strafen in diesem Leben bestraft, nicht nur, um die Gemeinschaft des menschlichen Geschlechts zu schützen, sondern auch, um uns an ihn selbst zu erinnern, und damit wir, wenn wir erkennen, daß er gerecht, wahrhaftig, wohltätig und rein ist, ihn unterscheiden von den ungerechten, lügnerischen und obszönen Naturen [d.h. den Teufeln] und wissen, daß es nötig ist, daß unser
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Verhalten mit seinem Willen übereinstimmt [damit soll die Erkenntnis zu einem entsprechenden Handeln führen].«
Melanchthon kam es bei diesem trotz aller Länge durchsichtig gegliederten Satzgefüge26 darauf an, den Leser gleich zu Anfang mit dem Sinn und Zweck der folgenden Natur- und Weltbetrachtung bekannt zu machen und ihren Nutzen herauszustellen, und er wird, wie gesagt, immer wieder mehr oder weniger ausführlich auf diesen gleich an den Anfang gestellten Grundgedanken zurückkommen. Um in anderer Hinsicht keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: in der folgenden Darstellung benützte Melanchthon sehr oft kurze und leicht fassliche Sätze von nur wenigen Worten unter weitgehendem Verzicht auf Nebensätze. In dieser Art demonstriert Melanchthon z. B. die Sicherheit physikalischer, Erfahrung und Prinzipien verbindender Lehrsätze:27 Experientia manifeste ostendit in corporibus inferioribus, diversas esse qualitates, et diversos motus. In igni est calor, in terra et aqua frigiditas, et hae qualitates, inter se pugnant. Coelum movetur, circulari motu. Elementa vero, motu recto, levia sursum, gravia deorsum. Ad has experientias, adjungit Physicus principia, ut cum vult ostendere hunc Mundum, quamquam magnitudo oculis comprehendi non potest, tamen finitum quiddam esse, orditur ab hoc principio: Nullum corpus infinitum, movetur circulariter. Manifestum est autem coelum circumagi exiguo tempore, horis videlicet 24. Non est igitur infinitum. Maior ex principiis sumitur. Distantia infinita non potest finito tempore percurri. Et ubi diameter in infinitum currit, non potest fieri conversio ad idem punctum. Vera est igitur et firma conclusio, Coelum non esse corpus infinitum. »Erfahrung zeigt offenkundig an den unteren Körpern, daß ihre Qualitäten und Bewegungen verschieden sind. Im Feuer ist Wärme, in der Erde und im Wasser Kälte, und diese Qualitäten liegen miteinander im Streit. Der Himmel wird in kreisförmiger Bewegung bewegt, die Elemente aber in gerader Bewegung, die leichten nach oben, die schweren nach unten. Zu diesen
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BRÄUER, MIRIAM / LEONHARDT, JÜRGEN / SCHINDLER, CLAUDIA: »Zum humanistischen Vorlesungsbetrieb an der Universität Leipzig«, Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 23 / 2008 (2009), S. 201–216, hier 210–215, haben gezeigt, wie das Studium ciceronischer Reden einen solchen Periodenstil vermittelte. 27 MELANCHTHON, Initia, Bl. 15v–16r. Der Text wird wieder in einer seine Struktur verdeutlichenden Zeilengliederung zitiert.
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Erfahrungen fügt der Physiker Prinzipien. Wenn er zeigen will, daß diese Welt, obwohl ihre Größe mit den Augen nicht erfaßt werden kann, trotzdem etwas Begrenztes ist, so beginnt er bei diesem Prinzip: Kein unbegrenzter Körper wird kreisförmig bewegt. Es ist aber offenkundig, daß der Himmel in geringer Zeit herumgetrieben wird, nämlich in 24 Stunden. Also ist er nicht unbegrenzt. Der Obersatz wird von den Prinzipien genommen: eine unbegrenzte Distanz kann nicht in begrenzter Zeit durchlaufen werden, und wo der Diameter ins Unbegrenzte läuft, kann keine Umdrehung zum gleichen Punkt stattfinden. Wahr und fest ist also die Schlußfolgerung, dass der Himmel kein unbegrenzter Körper ist.«
Die zitierten längeren Perioden und die kürzeren Sätze mit ihren syllogistischen Beweisen sind zugleich Beispiele für die von Melanchthon mit Erfolg angestrebte immer klar verständliche lateinische Ausdrucksweise. Als Humanist erklärt er in seinem Widmungsbrief zu den Initia, er wolle dem gewohnten normalen Gebrauch der lateinischen Sprache folgen und nicht die »neuen« scholastischen Sprachformen benützen, da die so verdorbene Sprache auch die Sachen verdunkle.28 Er benützt durchweg die gebräuchlichen und keine in irgendeiner Hinsicht ungewöhnlichen Wörter, er sucht nicht zu verblüffen und nicht mit Pointen zu brillieren. Klarheit und Verständlichkeit sind immer sein stets erreichtes Ziel. Der Nutzen der jeweiligen Lehre wird im Folgenden immer wieder von Melanchthon ausgeführt und betont.29 Er soll ebenso wie der Hinweis auf das dulce der Betrachtung30 das Interesse der Studenten verstärken. Dazu dient auch, dass dem oft angesprochenen Anfänger wiederholt versichert wird, dass nur das Wichtigste oder Gröbste gesagt werden solle, Spitzfindigkeiten und sophistische Streitereien weggelassen werden und das Verständnis auch dunkel erscheinender Definitionen leicht gemacht werde. Der Anfänger wird mehrfach für ein weiteres genaueres Studium auf angeführte moderne Literatur verwiesen.31 Der Erleichterung der Aufnahme dient auch, dass beim Übergang von einem zum anderen Gegenstand immer rückschauende Zusammenfassungen und meist in Fragen gefasste Ankündigungen gegeben werden, dass bei Einführung neuer Begriffe zuerst der Wortgebrauch erklärt wird und Definitionen 28
MELANCHTHON, Initia, Bl. Avr–v: Studeamus et genere sermonis proprio uti, et non alieno a linguae latinae consuetudine. Nam qui recte loqui student, res intuentur, quibus nomina attributa sunt. Econtra cum sermo novus fingitur, plerumque et res mutantur, ut in Scoti et similium scriptis, non sermo tantum corruptus est, sed umbrae rerum seu somnia excogitata sunt, quibus novae appellationes attributae sunt. Mit genus proprium sermonis ist hier also nicht eine Abweisung gelegentlich metaphorischer Ausdrucksweise gemeint, sondern der Gebrauch des gewohnten klassischen Lateins und die Vermeidung des scholastischen Jargons mit seinen philosophischen Neologismen. 29 Der Begriff des Nutzens (ausgedrückt durch Formen von prodesse, utilis oder utilitas) erscheint in MELANCHTHON, Initia, nicht weniger als 125 Mal. 30 MELANCHTHON, Initia, Bl. Aiiv: Nec profecto quidquam homini non monstroso hac ipsa consideratione dulcius est. 31 Vgl. Anm. 21.
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(häufig solche des Aristoteles in lateinischer Übersetzung) gegeben werden, die Melanchthon anschließend immer durch eingehende Erläuterungen dem Verständnis seiner Leser erschließt. Dabei kann er nach Abschluss einer Erklärung auch sagen: »Ein kürzlicher Hörer verlangte, als diese kurze Beschreibung gegeben worden war, […], eine noch durchsichtigere Erklärung«,32 um dann nochmals zu einer Erklärung auszuholen. Der Klarheit dienen die vielen Syllogismen mit angeschlossenen Erklärungen des Ober- oder Untersatzes und die zahlreichen Einteilungen mit durchnummerierten und anschließend erläuterten Begriffen oder Argumenten. In den Erklärungen greift Melanchthon meist zu mehreren illustrierenden Beispielen, für die sowohl Stellen aus der antiken Geschichte und Stellen aus antiken Schriftstellern angeführt werden als auch Ereignisse aus der näher stehenden zeitgenössischen Geschichte des 16. Jahrhunderts und Erfahrungen aus dem Alltagsleben. Melanchthon folgt allgemein den Regeln seiner »Dialektik«,33 und er praktiziert, was er in seiner von ihm eigens um ein Genus didascalicum erweiterten »Rhetorik« dargelegt hatte.34 Der Umstand, dass die Studenten diese beiden Werke zuvor für den Erwerb des Baccalaureus-Grades studieren mussten,35 erhöhte ihre Aufnahmefähigkeit für die Initia und erleichterte ihnen das Verständnis des neuen Textes, in dem Dialektik und Rhetorik in der von Melanchthon geforderten Weise nun als via docendi et dicendi vereint worden sind. Ferner können in den Initia auch Stellen aus bekannten antiken Dichtern und aus der Bibel zum Beleg für eine naturphilosophische Auffassung oder These herangezogen oder diskutiert werden.36 Griechische Zitate werden um der allgemeinen Verständlichkeit willen, wenn sie in der Originalsprache zi 32
MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 142. PHILIPP MELANCHTHON: De Dialectica libri quatuor, postremo recogniti et aucti, Straßburg 1542, S. 1, beginnt mit den Worten: Dialectica est ars ac via docendi: hac enim est proprie vis Dialecticae. Porro omnis docendi via ac ratio consisitit in definiendo, dividendo, et argumentando. Definimus autem, cum aut nomen interpretamur, aut quid res sit exponimus. Dividimus, cum membra aut partes enumeramus. Argumentamur, cum aliam sententiam ex alia ratiocinamur. S. besonders auch S. 101 De Syllogismo, beginnend mit: Syllogismus est oratio in qua ex duobus pronunciatis conclusio necessario sequitur, und S. 142 De Exemplo, beginnend mit: Exemplum inter formas argumentorum certa de causa numerant und vgl. GÜNTER FRANK: »Melanchthons Dialektik und die Geschichte der Logik«, in: Leonhardt (Hrsg.), Lehrbuch, S. 125–145. 34 Vgl. zu ihr OLAF BERWALD: »Philipp Melanchthons Rhetoriklehrbücher«, in: Leonhardt (Hrsg.), Lehrbuch, S. 111–122. 35 In überlieferten Exemplaren der »Dialektik« und »Rhetorik« Melanchthons finden sich häufig Spuren einer intensiven Durcharbeitung in Form von alten handschriftlichen Bemerkungen. 36 Homer z. B. wird in MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 22, 34, 60, 164, 174, zitiert, Vergil S. 61, 160, 174, 196, 226, die Psalmen S. 39, 41, 43, 49, 53, 224. 33
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tiert wurden, immer auch ins Lateinische übersetzt, obgleich Melanchthon von seinen Studenten das Studium des Griechischen erwartete. Melanchthon achtete speziell darauf, dass Fragen, die das Leben der Studenten unmittelbar betrafen und sie deshalb besonders interessieren konnten, angesprochen wurden. Um der Aktualität willen wurde noch 1549, im Jahr des Drucks, der folgende astrologische Passus eingefügt: »Die Entfernung und Nähe dieser [oberen] Planeten verändert die scheinbare Größe von ihnen und ihre Farben etwas, wie wir im vergangenen Jahr, das von Christi Geburt das Jahr 1548 war, zu Ende des Sommers den Stern des Jupiter viel größer und strahlender als sonst sahen, und zwar deshalb, weil er damals um den Ort der Erdnähe seines exzentrischen Kreises im Widder stand und der Sonne entgegengesetzt war, außerdem auch in der Erdnähe seines Epizykels war, und es war in diesem Sommer eine so große Fruchtbarkeit der Felder, dass wegen der größeren Ernte der Marktpreis [des Getreides] plötzlich sank.«37 Rücksicht auf das Erkenntnisinteresse der Hörer bzw. Leser leitete Melanchthon auch bei vielen Darlegungen und den die abstrakten Begriffe illustrierenden Beispielen. So führte er etwa bei der Behandlung eines Themas aus dem zweiten Buch der aristotelischen Physik (Aristoteles bespricht dort die Qualität von τύχη und αὐτόματον) die anscheinend »zufälligen«, der Fortuna zugeschriebenen Ereignisse auf folgende sechs Ursachen zurück:38 erstens auf Gott, der einmal allgemein mit den folgenden Ursachen in der von ihm eingerichteten Ordnung handele und zweitens auch immer speziell durch eine neue Intervention, z. B. bei wunderbaren Rettungen oder bei Bestrafungen von Übeltätern handeln könne; zweitens auf gute Engel, unter deren Schutz insbesondere die Kirche und die Regierenden stünden; drittens auf die Teufel, die das Rasen der Unfrommen und die Grausamkeit der Tyrannen verstärkten, Polykrates und Krösus durch den Ring und das Orakel betrogen und 1530 in Nürnberg einen Priester zu Tode gebracht hätten, dem sie in einer Kristallkugel einen Schatz in einer Höhle gezeigt hätten; viertens auf die Sterne, die die Temperamente, d.h. hier den leibseelischen Zustand der Menschen, und ihre Neigungen und Studien beeinflussten, wofür wieder mehrere zeitgenössische Beispiele angeführt werden;39 fünftens auf das Verhalten der 37
MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 105. MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 163–171. 39 Unter anderem wird eine bessere oder schlechtere dichterische Begabung bei zeitgenössischen Humanisten mit dem Einfluss der Sterne begründet, s. ebenda, S. 167: »Musiker, Dichter, Redner werden klangvoll, angenehm und glanzvoll, wenn ihnen Sonne, Mond, Venus und Merkur glücklich gestellt sind, und umgekehrt abstoßend und amusisch, wenn sie von Saturn und Mars gehindert werden. Was also den Umstand betrifft, dass sich dem [Johannes] Stigel, wenn er ein Gedicht schreibt, die lieblicheren Figuren und die angenehmeren Rhythmen wie von selbst einstellen, dem [Caspar] Ursinus [Velius] aber, einem gelehrten und mit noch größerem Eifer sich mühenden Mann, nicht ebenso, sagen wir, dass es Zufall sei. Aber die Ursache durch sich ist die Stellung der Sterne, die diese glückliche Nei38
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Menschen aufgrund ihrer freien Willensentscheidung, und sechstens auf die Bewegungen der Materie der unteren Körper wie bei vererbten Krankheiten, bei Epidemien, Kriegen und Überschwemmungen, bei denen die universellen Ursachen nach Ptolemäus stärker seien als die partikulären individuellen. Die Astrologie war zuvor als eine Fortführung und Ergänzung der Arbeiten des Aristoteles eingeführt worden.40 Damit erzeugte Melanchthon bereits ein günstiges Vorurteil für sie. Als er später unter dem Begriff des physikalischen Schicksals (fatum physicum) die Sterneneinflüsse ausführlicher begründet und dabei auch die angeblichen »Spitzfindigkeiten« des astrologiekritischen Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) kurz als bedeutungslos bezeichnet,41 wird als letztes Erfahrungsbeispiel eines genannt, bei dem er annehmen konnte, dass viele Studenten aufhorchten, und auch wir horchen bei der überraschend romantisch klingenden Äußerung auf: »Die Übereinstimmung der Sterne ist auch die Ursache dafür, dass in einer einzigen Stadt zwar viele Mädchen sind, aber nur eine einzige in Liebe zu einem einzigen entzündet wird und nicht auf die anderen sieht. Die Ursache für solche unähnlichen Neigungen kann in der Stellung der Sterne erblickt werden.«42 Ein Sachverhalt in der Natur kann auch als Gleichnis und zugleich als Appell für bestimmte politische Zustände dienen, wodurch der Sachverhalt an Bedeutung und Interesse gewinnt. So sagt Melanchthon nach seiner Widerlegung des von den Epikureern behaupteten leeren Raums: »Dieser Wahnwitz ist zurückzuweisen, da es ein offenkundiges Zeichen gibt, dass die Natur vor dem Leeren zurückschreckt, da sie vor der Unterbrechung der Körper flieht. Durch dieses Beispiel der Natur selbst ermahnt, sollen wir wissen, dass im bürgerlichen Leben Klüfte zwischen den Ständen zu vermeiden und ihre Verbindung zu schützen ist.«43 gung oder diesen glücklichen Drang in diese Natur hineingoss; und durch diese Neigung wird der Geist bewegt, so dass er Schöneres schneller sieht und an sich reißt.« Studenten, denen es nicht leicht fiel, Verse zu machen, fanden hier eine Erklärung. Freilich konnten sie dann auch das wenig später folgende auf sich beziehen (ebenda, S. 185): »Bei den Sitten und dem Studium der Wissenschaften machen auch die Erziehung und die Disziplin einen gewissen Unterschied aus, aber diese zwei gehören zum […] Willen.« 40 MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 15: »Diese Zeugnisse [Arist. GC 336a31, Meteor. 1, 2, 339a31, De cael. 289a20, Phys. 194b13] zeigen an, dass Aristoteles die Bewegung des Himmels als die universale Ursache, die die untere Materie antreibt, erfasst. Er geht nicht viel weiter, aber die Astrologen untersuchen die speziellen Wirkungen, die einen mehr, die anderen weniger, d.h. wie die einen und die anderen Bewegungen der Sterne verschiedene Qualitäten bewirken. Diese Lehre von den speziellen Wirkungen der Sterne lässt die aristotelische Physik weg, und sie ist mit dieser allgemeinen ersten Ermahnung zufrieden, dass die Sterne eine universale wirkende Ursache sind und die Materie durch ihre Bewegung und ihr Licht regieren.« 41 MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 176. 42 MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 179. 43 MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 216.
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Bei komplizierten Sachverhalten kann zum Zwecke einer Veranschaulichung zu einer metaphorischen Anthropomorphisierung gegriffen werden, so z. B. bei der dem Leser volle Aufmerksamkeit abfordernden Beschreibung und Erklärung der ptolemäischen Epizykeltheorie der Planetenbewegungen, die nicht als Hypothese, sondern als der Realität entsprechend dargestellt wird. Ein Vergleich der Sonne und den ihre Epizykel durchlaufenden oberen Planeten mit einem König und seinen Hofbeamten erleichtert hier die Anschaulichkeit:44 »Denn es gibt ein beständiges Gesetz, nach dem diese [oberen] Planeten so herumgetrieben werden, daß ihre Bewegung in den Epizyklen bestens zusammenstimmt mit dem Herankommen und Zurückweichen der Sonne, die sie wie ihren König zu verehren und zu pflegen scheinen. Denn so oft sie mit ihr in Konjunktion sind, so oft werden sie den höchsten Bogen ihres Epizykels haltend erfaßt, gleich als ob sie aus Ehrfurcht vor einem so großen Gast zum äußersten Ende ihres Herrschaftsbezirks gegangen wären, um dem gegenwärtigen König Raum zu geben und aus einem geringen Zwischenraum mit Ehrfurcht Aufträge und Kräfte von ihm zu empfangen. Wenn darauf die Sonne, deren Bewegung schneller ist, nach der Konjunktion zurückweicht, steigen sie selbst von der Burg ihres Epizykels herab, gewissermaßen um pflichtgemäß dem abgehenden König Geleit zu geben, und sie folgen so der Sonne, bis sie durch den dritten Teil des Tierkreises weggegangen ist, d.h. bis sie den Zwischenraum von vier Tierkreiszeichen von ihnen entfernt ist […]. Dann erst, als ob sie ihrer Pflicht Genüge getan hätten, bleiben sie einige Tage unbeweglich stehen, wie wenn sie dem König Lebewohl sagten und dem abgehenden noch länger nachblickten. Bald darauf beginnen sie zurückzuschreiten, und sie lassen sich in die untersten Teile ihres Epizykels hinab, sooft die Sonne ihnen direkt entgegen gesetzt ist, so daß sie gewissermaßen die Abwesenheit ihres Königs zu betrauern und seine Rückkehr kniefällig zu begehren scheinen. Wenn sie danach die Sonne nach ihrer Opposition auf sich zugehen sehen, steigen sie noch gegen die Reihenfolge der Tierkreiszeichen von dem untersten Teil ihres Epizykels empor und eilen, dem König entgegen zu gehen, und während dieser noch den Zwischenraum von vier Zeichen […] entfernt ist, empfangen sie ihn gewissermaßen, um ihn zu begrüßen, und bleiben einige Tage in dieser Position stehen, worauf sie in geradem Lauf gemäß der Reihenfolge der Zeichen der sich nähernden Sonne vorauseilen und mit Freude auf die Gipfelhöhe ihrer Burg streben, um der ganz nahe befindlichen Sonne Platz zu machen. Diese beständige Harmonie der Bewegungen der Sonne und der drei oberen Planeten enthält schönste Bilder der Tugenden und ist der Betrachtung und Bewunderung in höchstem Maße wert.«45
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MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 102–103. Das Bild wird bei der Beschreibung der Epizyklen der unteren Planeten Venus und Merkur ebenda, S. 124 wieder aufgenommen: »Ständig also wie Satelliten [d.h. Leibwächter], die dem Dienst und der Bewachung des königlichen Körpers vorgesetzt worden sind, drehen sie sich um die Sonne und kommen ihr bald näher, wie um Aufträge zu empfangen oder irgendeinen Dienst zu erweisen, und laufen bald von ihr weg, als ob sie als Späher ausgesandt worden sind, um die Gefahren des Weges zu erkunden, von wo sie aber, damit sie nicht allzu lange von der Bewachung des Königs abschweifen, bald wieder zurückgerufen zur Sonne eilen.« Die beiden Stellen gehörten zu den im Druckmanuskript von Paul Eber niedergeschriebenen Abschnitten (s. THÜRINGER, »Paul Eber«, S. 301), entsprechen aber auch dem Stil des Metapherngebrauchs bei Melanchthon. Allerdings ist es die ausgedehnteste metaphorische Anthropomorphisierung in den Initia. 45
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Zu dem vorher gekennzeichneten Leitmotiv, der Welt als Beweis für einen planenden und ständig frei handelnden Schöpfergott, gehören ex negativo die gleichfalls mehrfach wiederholten Ablehnungen der dieser Vorstellung widersprechenden Auffassungen der Epikureer einerseits und der Stoiker andererseits. Sie werden bereits im Widmungsbrief und dann immer wieder entschieden verworfen. Bei Demokrit und den Epikureern ist es die Auffassung, dass die Welt durch Zufall entstanden sei und vergehe, bei den Stoikern die, dass der erste Beweger, nachdem er seinen ersten Anstoß gegeben hat, aus dem sich alle folgenden Bewegungen mit Notwendigkeit ergeben, in den folgenden Ablauf in keiner Weise mehr eingreift und eingreifen kann. Die erste Auffassung muss Melanchthon in toto ablehnen, und er tut dies nicht nur wiederholt, sondern auch mit den stärksten Ausdrücken, indem er die Auffassung der Epikureer als »kyklopischen Wahnsinn« (Cyclopicus furor)46 bezeichnet und von ihren »monströsen Meinungen« (portentosae opiniones), von ihren somnia und deliramenta spricht, vor denen die »gesunden« Geister ihre Ohren und Herzen verschließen sollen.47 Die zweite Auffassung erkennt zwar wie Melanchthon selbst einen ersten Beweger und die von ihm ausgehende Kausalkette (Kontingenz) der folgenden Ursachen an, legt Gott jedoch in »Fesseln«,48 wirft ihn in einen »Kerker«49 und nimmt ihm so die Möglichkeit, diese Kausalkette zu durchbrechen. Das sind wieder nur deliramenta.50 Die Stoiker leugnen, dass der allmächtige Gott die für den Christen Melanchthon unabdingbare jederzeitige Freiheit des Handelns und der ständig möglichen Intervention in seiner Schöpfung hat. Dass deshalb »ihre wahnsinnigen Behauptungen zu verurteilen und zu verwünschen sind« (hi furores damnandi et execrandi sunt),51 erfährt der Leser mehrmals. Wenn man die richtigen Grundlagen erkenne, »kann man sich leicht aus den stoischen Labyrinthen herauskämpfen« (facile est eluctari ex labyrinthis Stoicis),52 womit die Fallstricke ihrer Logik gemeint sind. Die »stoischen Fesseln« (Stoica vincula)53 muss man beseitigen, da sie sowohl erfunden sind als auch die Anrufung Gottes im christlichen Sinn verhindern.54 Die wiederholte lautstarke Verdammung dieser mit dem christlichen Glauben unvereinbaren Ansichten soll die 46
MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 33, Initia, Bl. 33v. MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 53. 48 MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 37. 49 MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 185. 50 MELANCHTHON, Initia, Bl. 21r, 40v. 51 MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 37, 41, Initia, Bl. 36v, 40v. 52 MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 45, Initia, Bl. 44r. 53 MELANCHTHON, Initia, Bl. 44r. 54 Die Vorstellung der Stoiker, die Gott »in einen Kerker einschließen« und damit einem christlichen Gebet die Grundlage entziehen, wird von Melanchthon und seinem Kreis wiederholt in Gedichten und in Prosa entschieden verworfen, vgl. LUDWIG, Supplementa Neolatina, S. 156–164. 47
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Studenten davor bewahren, auch nur einen Gedanken an die Möglichkeit ihrer Richtigkeit zu verschwenden. An strukturell wichtigen Stellen wendet Melanchthon sich direkt im Gebet an Gott bzw. fordert seine Hörer bzw. Leser auf, sich zusammen mit ihm bittend an Gott zu wenden. So am Anfang, wo er am Ende seines Vorlesungsprogramms sagt: »Da beim Unternehmen aller guten Dinge die Hilfe Gottes zu erbitten ist, besonders aber in dieser Betrachtung der Natur, bitten wir, dass unser Geist von Gott, dem ewigen Vater unseres Herrn Jesus Christus, dem Baumeister der gesamten Natur, gelenkt werde.«55 Und am Abschluss der Ursachenlehre schreibt er: »Entfernen wir also aus der Kirche die stoischen Meinungen und bitten wir mit glühenden Gebeten auch jetzt, da so viele Zeichen große Katastrophen ankündigen, Gott als den ewigen Vater unseres Herrn Jesus Christus und als den Schöpfer des Menschengeschlechts und seiner Kirche, dass er wegen seinem Sohn, unserem Herrn Jesus Christus, von dem er wollte, dass er für uns ein Opfer sei und ein Mittler und Bittflehender, die Kirche bewahre und sie mit dem Heiligen Geist regiere und die gastlichen Herbergen der Kirche bewahre und die Strafen mildere und die literarischen Studien und die Zucht beschütze.«56 Das war einerseits gewiss Melanchthons Überzeugung. Andererseits hatte es auch eine didaktische Wirkung, die ihm bewusst war, denn er wollte und wusste, dass die Gebetsaufforderung eine Wirkung auf die Adressaten hatte. Das Hineinnehmen der Hörer und Leser in das gemeinsame Gebet vermittelt diesen zugleich eine ernste Haltung und verankert ihre naturwissenschaftlichen Bemühungen in ihrem christlichen Glauben. Es lag Melanchthon nahe, bei wissenschaftlichen Auffassungen, die seinem christlichen Glauben widersprachen, diese nicht einfach zu widerlegen, sondern ihre Vertreter zunächst verbal zu verunglimpfen und zu verdächtigen und dadurch beim Hörer oder Leser ein ungünstiges Vorurteil zu schaffen, ehe er sich mit der Auffassung selbst auseinander setzte. Dies war auch an der berühmten Stelle der Fall, wo er den Gedanken an ein heliozentrisches Weltbild abwies, ohne den für astronomische Beobachtungen sonst von ihm geschätzten Nicolaus Copernicus (1473–1543) hier zu nennen. Er warf 1549 denen, die neuerdings behaupteten, dass die Erde und nicht die Sonne sich bewege, Liebe zur Neuheit, Prahlerei mit ihren intellektuellen Fähigkeiten sowie die Erdichtung von Gedankenspielen und Absurditäten vor.57 Diese negativen Bewertungen wurden in der zweiten Ausgabe von 1550 offenbar 55
MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 29. MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 199. 57 MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 49. Die Veröffentlichung der betreffenden Stelle im Druckmanuskript durch THÜRINGER, »Paul Eber«, S. 319–320, zeigt, dass die Fassung von 1549 bereits eine gegenüber der ersten Niederschrift abgemilderte Fassung darstellte. Melanchthon ließ zunächst seiner Empörung gegen die Neuerer noch freieren Lauf. 56
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aus Rücksicht auf die Copernicusanhänger unter seinen Freunden beseitigt.58 Substantiell blieb Melanchthon bei seiner ablehnenden Auffassung. Er begründete sie primär durch fünf alttestamentliche Bibelstellen (Ps. 18 [19], 5– 7; 105 [104], 5; Eccles. 1, 4–6; Jos. 10, 13; Jes. 38, 8), die er als völlig ausreichende und unumstößliche Zeugnisse für die wahre Realität betrachtete,59 ehe er noch zusätzlich einen negativ argumentierenden, aus der angeblichen Unmöglichkeit einer sich bewegenden Erde gezogenen Beweis dafür lieferte, dass die Erde in der Mitte des Universums ruhe.60 Eine ähnliche Zurückhaltung gegenüber der Verunglimpfung eines Andersdenkenden findet sich aber auch bereits 1549, als er am Ende seines zweiten Buches die aristotelischen Argumente für die Ewigkeit der Welt widerlegt.61 Hier hinderte ihn seine Verehrung für den großen Philosophen, dessen Werke nach den von ihm verfassten Einführungen gelesen werden sollten, 58
Vgl. dazu wieder SCHEIBLE, Melanchthon: eine Biographie, S. 96. Etwa zweihundert Jahre später konnte der jesuitische Physiker und Vertreter des kopernikanischen Systems Leopold Gottlieb Biwald (1731–1805) die Berufung auf die Autorität der Heiligen Schrift zugunsten des geozentrischen Systems mit wenigen Worten abweisen und die betreffenden Stellen als volkstümliche Redeweise erklären. S. LEOPOLD GOTTLIEB BIWALD S. J.: Physica generalis, quam auditorum philosophiae usibus accomodavit, editio secunda, Graz 1766, S. 392–393 (zitiert nach dem Facsimile in: FAUSTMANN, CORNELIA: Der astronomische Teil von Leopold Gottlieb Biwalds Physica Generalis. Übersetzung und terminologische Untersuchungen, Diplomarbeit Universität Wien 2008, S. 150–152): Denique sacrarum literarum authoritatem oggerunt, praecipuo ex libro Josuae haustam, in quo (cap. 10) haec habentur: Steteruntque Sol et Luna, stetit itaque Sol in medio coeli, et non festinavit occumbere. Verum hunc scripturae locum haudquaquam in sensu literali capiendum esse Copernicani systematis defensores contendunt, cum constet scripturam captui vulgi in rebus naturalibus se accomodare. Illud videtur negari haud posse, Iosue, etiamsi motum telluris cognitum habuisset, non alia tamen ad suos locutione uti potuisse, metu, ne suis deridiculo haberetur, uti Astronomi moderni Copernicano systemati addictissimi non modo Solem oriri, occidere, ad meridiem attingere, in vulgari sermone dicunt, verum suis etiam ephemeridibus tempus, quo Sol oritur, occidit etc., inferunt, ut communi hominum usui se accommodent. 60 MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 50–51. Ebd., S. 129, begründet Melanchthon am Ende des ersten Buches noch einmal sein Festhalten am System des Ptolemäus: »Bis hierher ist die Theorie der Bewegungen erklärt worden, durch die die beiden Himmelslichter und die übrigen fünf Sterne getragen werden, die wegen der Verschiedenheit ihrer Läufe in der Antike ›Planeten‹ genannt wurden. Wir folgten aber bei ihrer Beschreibung den Hypothesen des Ptolemäus, die durch das Zeugnis so vieler Jahrhunderte gebilligt und befürwortet wurden und nicht allzu rasch außer Kraft gesetzt werden sollten.« Er drückt sich hier vorsichtiger aus als zuvor, bekräftigt seine Leser an dieser Stelle aber dennoch nochmals, sich nicht durch neue Theorien irre machen zu lassen. Vgl. im Übrigen die ausführliche Stellungnahme zum Verhältnis von Melanchthon zu Copernicus bei THÜRINGER, »Paul Eber«, S. 302–318. Die negative Äußerung Melanchthons zum Copernicanischen System ist die in der bisherigen Forschung am meisten und oft allein diskutierte Stelle der Initia. 61 MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 225–229. 59
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schärfer gegen den Vertreter dieser unchristlichen These vorzugehen.62 Auch hatte er schon zugestanden, dass »die menschliche Vernunft nicht von sich aus herausfinden kann, ob die Welt seit unendlicher Ewigkeit gewesen ist oder ob sie [im Jahr 1545] vor 5507 Jahren geschaffen worden ist«. »Da dies von der Vernunft nicht gefunden werden kann, sollen wir zufrieden sein mit der Lehre, die Gott mit sicheren und klaren Zeugnissen überlieferte.« »Es gibt vieles, woran die Vernunft heftig Anstoß nimmt, wenn ein so junger Anfang der Welt behauptet wird. Dennoch ist die menschliche Neugier zu zügeln und der menschliche Geist ist innerhalb der Grenzpfähle, mit denen Gott uns umgeben hat, zu halten«. Alles andere sind »Träumereien«.63 Hörer und Leser werden so immer wieder nachdrücklich an den in allen Dingen gültigen Vorrang der göttlichen Offenbarung in den Heiligen Schriften und an die Grenzen der Vernunft in der physikalischen Wissenschaft erinnert. Melanchthon wollte den Studenten auf Interesse weckende und leicht fassliche Weise die kompletten und als bleibend verstandenen Grundzüge des physikalischen Weltbilds geben und ihnen erstens zeigen, dass die Kenntnis dieses Weltbilds für alle von ihnen von großem Nutzen ist, und ihnen zweitens die Überzeugung vermitteln, dass diese Erkenntnisse in wissenschaftlicher und religiöser Hinsicht völlig gesichert und verlässlich sind. Dies dürfte ihm gelungen sein. Seine Lehre ist klar, übersichtlich und so entschieden, dass sie keinem Zweifel Raum gibt. Sie öffnete den Weg zu detaillierteren Studien mit Hilfe von anderen, teilweise ausdrücklich von ihm genannten Büchern, aber sie ist prinzipiell ebenso endlich und in sich geschlossen wie die Welt, von der sie handelt. Substantielle Veränderungen dieses Weltbilds auf dem Weg weiterer Forschungen wurden durch diese Lehre verbarrikadiert. Das sind die selbst gesetzten Grenzen von Melanchthons Didaktik.
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Zu Melanchthons Verhältnis zu Aristoteles vgl. SCHEIBLE, HEINZ: »Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform. Zum Quellenwert von Lutherbriefen«, in: Michael Beyer / Günther Wartenberg (Hrsg.), Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anlässlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997, Leipzig 1997, S. 123–144. 63 MELANCHTHON, Die Anfänge, S. 54–55.
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Disputationen als Medium der Theologie- und Kirchenreform in der Reformation Zur Transformation eines akademischen Mediums Volker Leppin Als dann ietz ein guotte zytt har vil tzwittracht unnd tzweyung sich erhept tzwüschent denen, so an der kantzel das gotswortt dem gemeinen mentschen verkundent, ettlich vermeinend, das euangelium trüwlich unnd gantz gepredigett haben, andre scheltens, als ob sy nit geschickt unnd formlich handlent unnd dargegen ouch die andern widerumb die als irseyer, ferfuorer unnd ettwan ketzer nennent, die aber alweg mit göttlicher geschrifft einem ieden des begerenden rechnung unnd bescheid zuo geben sich erpiettend, darumb im aller besten unnd voruß umb gottes eer, fryden unnd einickeit willen, so ist unnser befellich, will unnd meinung, das ir pfarrer, seelsorger, predicanten gemeinlich unnd ieder insonders, oder ob sust sonderig priester hierzuo ze reden willens werent, inn unnser statt Zürich oder usserthalb in unsern gepietten (…) verpfruondt, so dann vermeintend, den andern teil zuo schelten oder anders zuo unnderrichten, uff den nechsten tag nach keyser Karlus tag, daß ist der nün und tzwentzgist tag deß manotz jenner, zuo fruoger radtszytt in unnser statt Zürich unnd daselbs in unserm rathuß vor unns erschinent unnd das, so ir widerfechtend, mit warhaffter göttlicher geschrifft in thütscher zungen und sprach anzögend. Da wir mit allem fliß mit ettlichen gelertten – ob es unns bedunckt – uffmerken, unnd nachdem mit gottlicher geschrifft unnd warheitt sich erfindt, werden wir ein ieden heimschicken mit bevelch fürzefaren oder abzeston, dadurch nit für unnd für ein ieder alles, das in guot bedunckt, on grund der rechten göttlichen gschrifft an der kantzel predige.1
Mit diesem Ausschreiben lud der Zürcher Rat zur Zürcher Disputation ein, die bis heute zu Recht als das Datum der Durchsetzung der Reformation in Zürich gilt.2 Nicht nur die Pfarrer von Stadt und Landschaft waren hierzu gebeten, sondern auch der eigentlich kirchenrechtlich für die Aufsicht über die Predigt zuständige Bischof von Konstanz, dem sogleich zugestanden wurde, dass er auch einen Vertreter senden dürfe. Dieser kam in Gestalt seines Generalvikars Johannes Fabri, dessen einzige Aufgabe es allerdings war, die Legitimität der Veranstaltung zu bestreiten. So hatte Zwingli zu den 67 Konklusionen, die er 1
Huldreich Zwinglis Sämtliche Werke, hrsg. v. Egli, Emil u. a. Bd. 1, Berlin 1905 (Corpus Reformatorum 88), 466,15–467,16. 2 LOCHER, GOTTFRIED W.: Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen / Zürich 1979, S. 110–115.
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vorlegte, keinen angemessenen Gegner, und binnen kurzer Zeit konnte der Rat zu dem Ergebnis kommen, Zwingli sei nicht widerlegt worden und dürfe weiter predigen. So könnte man also sagen: Die Disputation fand nicht statt – und doch war sie ein Ereignis von herausragender Bedeutung für die Reformationsgeschichte und fand in den folgenden Jahren der Städtereformation vielfache Nachahmung. Sie selbst soll, so ist es gelegentlich zu lesen, eine »Erfindung« Zwinglis gewesen sein.3 Eine solche Einschätzung passt zu der Emphase, mit der Reformationshistoriker gelegentlich die Neuheit und Andersartigkeit ihres Gegenstandes gegenüber dem Mittelalter herauszustreichen suchen. Tatsächlich kann man die Zürcher Disputation als Flucht- und Gipfelpunkt einer Entwicklung sehen, in deren Verlauf die Form der Disputation immer mehr aus dem akademischen in einen öffentlichen Kontext getragen wurde – nicht die Tatsache einer solchen Öffentlichkeitswirksamkeit der Disputation als solche ist dabei bemerkenswert, denn dergleichen gab es auch im Mittelalter immer wieder, sondern die Dynamik des Verlaufs, die der Reformation eine enorme Schlagkraft verlieh. Dass ein akademisches Genre eine solche Wirkung entfalten konnte, hat natürlich zunächst und vor allem damit zu tun, dass die Anfänge der Reformation, vor allem in ihrer Wittenberger Ausrichtung, die Gestalt einer Theologiereform besaßen: Martin Luther und seine Gefährten wollten zunächst nicht mehr, freilich auch nicht weniger, als eine Änderung des Theologiestudiums in einem Sinn, den Martin Luther am 18. Mai 1517 seinem Ordensbruder Johannes Lang eröffnete: »Unter Gottes Beistand machen unsere Theologie und Sankt Augustin gute Fortschritte und herrschen an unserer Universität. Aristoteles steigt nach und nach herab und neigt sich zum nahe gerückten ewigen Untergang. Auf erstaunliche Weise werden die Vorlesungen über die Sentenzen verschmäht, so dass niemand auf Hörer hoffen kann, der nicht über diese Theologie, d.h. über die Bibel, über Sankt Augustin oder über einen anderen Lehrer von kirchlicher Autorität lesen will.«4
Diese methodisch-inhaltliche Reform, der Verzicht auf Aristoteles zugunsten von Bibel und Kirchenvätern, bediente sich von Anfang an jenes Mediums, das sich im Mittelalter während des 12. Jahrhunderts etabliert hatte, um die bis dahin vorwiegend auf kontinuierliche Autoritätenexegese ausgerichtete Lehrweise zu ändern und stärker auf systematische Fragestellungen auszurichten. Als paradigmatisch für diese innermittelalterliche Innovation kann
3 MOELLER, BERND: Zwinglis Disputationen. Studien zu den Anfängen der Kirchenbildung und des Synodalwesens im Protestantismus, Tübingen 22012. 4 WA.B 1, 99,8–13 (Nr. 41): Theologia nostra et S. Augustinus prospere procedunt et regnant in nostra universitate Deo operante. Aristoteles descendit paulatim inclinatus ad ruinam prope futuram sempiternam. Mire fastidiuntur lectiones sententiariae, nec est, ut quis sibi auditores sperare possit, nisi theologiam hanc, id est bibliam aut S. Augustinum aliumve ecclesiasticae auctoritatis doctorem velit profiteri.
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man das Gegenüber von Anselm von Laon und seinem zeitweiligen enttäuschten Hörer Abaelard benennen: Bei Anselm5 war noch die fortlaufende Interpretation vor allem des Bibeltextes das entscheidende didaktische Medium gewesen, bei Abaelard6 stand die quaestio im Mittelpunkt, die Sachfrage, der Autoritäten zuzuordnen waren. Diese Methode der quaestio7 entwickelte sich im Zuge der Entstehung der europäischen Universität zu rituell festgelegten Verfahren einer Debattenkultur mit dem Gegenüber von opponens und respondens, die die Breite der argumentativen Möglichkeiten aufrissen, und mit einem vorsitzenden magister, der die Frage einer Entscheidung zuführte. Die sich hierbei abspielenden Debatten hat William J. Courtenay einmal mit dem mittelalterlichen Turnierbetrieb verglichen8 – und damit jedenfalls so viel getroffen, dass man nicht ohne Weiteres aus dieser oder jener Aussage in einer Disputation auf die Auffassungen dessen zurückschließen kann, der sie vertreten hat. Doch konnte sich die Turniersituation gelegentlich auch, um im Bild zu bleiben, zur echten Schlacht wandeln, das heißt zu einer intellektuellen Auseinandersetzung, deren Ziel es nicht allein war, zu zeigen, wer über bessere Argumentationstechniken verfügte, sondern auch festzustellen, wo die Wahrheit lag – oder die zuvor geglaubte Wahrheit zu erweisen: So erging es bei der Verwendung der (gegebenenfalls modifizierten) Disputationsform für Gespräche mit Juden. Die Disputation wurde dabei freilich vielfach gerade ihres eigentlich offenen Gesprächscharakters beraubt und den beteiligten Juden kaum eine angemessene Möglichkeit zur Verteidigung gegeben.9 Dennoch konnte die Argumentation von jüdischer Seite in Einzelfällen Christen nachhaltig irritieren – das berühmteste Beispiel ist der Dialog Gilbert Crispins mit einem Juden, der den Abt von Westminster so verunsichert hat, dass er seine gewiss gefärbte Niederschrift Anselm von 5
Zu ihm: GIRAUD, CÉDRIC: Per verba magistri. Anselme de Laon, son école et le mouvement théologique du XIIe s., Diss. masch. Paris 2006. 6 Zu ihm: CLANCHY, MICHAEL T.: Abaelard. Ein mittelalterliches Leben, Darmstadt 2000; ERNST, STEPHAN: Petrus Abaelardus (Zugänge zum Denken des Mittelalters 2), Münster 2003; KLITZSCH, INGO: Die »Theologien« des Petrus Abaelardus. Genetisch-kontextuelle Analyse und theologiegeschichtliche Relektüre (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 29), Leipzig 2010. 7 BAZAN, BERNARDO C.: La quaestio disputata, in: Les genres littéraires dans les sources théologiques et philosophiques médiévales. Définition, critique et exploitation, Louvain-laNeuve 1982, S. 31–49; LAWN, BRIAN: The Rise and Decline of the Scholastic »quaestio disputata«, with Special Emphasis on its use in the Teaching of Medicine and Sciences (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 2), Leiden u. a. 1993. 8 COURTENAY, WILLIAM J.: Schools and Scholars in Fourteenth-Century England, Princeton 1987, S. 30. 9 MAIER, JOHANN: Geschichte der jüdischen Religion. Von der Zeit Alexanders des Großen bis zur Aufklärung mit einem Ausblick auf das 19. / 20. Jahrhundert, Berlin / New York 1972, S. 398.
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Canterbury zur Würdigung vorlegte10 – was diesen wiederum zur produktiven Weiterführung darin enthaltener Anstöße in seiner Schrift Cur Deus homo veranlasste.11 Es war eben der Aspekt möglicher ernsthafter Verwendung, der zunehmend Bedeutung für die reformatorische Bewegung gewann. Diesen Prozess kann man in vier Stufen des Umgangs mit Disputationen nachzeichnen, die sich freilich nicht einfach nach und nach entwickeln, sondern sich phasenweise zeitlich überlappen: 1. Affirmative Lehrmitteilung: Die Disputationen scheinen in Wittenberg von früh an als ein Genre der affirmativen Mitteilung der neuen Lehre verwendet worden zu sein. Dies gilt bereits für die erste umfassend bekannte Disputation aus dem Bereich von Luthers Lehrbetrieb, die Quaestio de viribus hominis sine gratia disputata.12 In ihr stellte Bartholomäus Bernhardi aus Feldkirch im September 1516 Thesen zusammen, die er aus der Römerbriefvorlesung Luthers gewonnen hatte. Damit stand die augustinische Gnadenlehre, wie sie Luther zu diesem Zeitpunkt vor allem in der Perspektive eines Gegensatzes von menschlichen Kräften und göttlichem Wirken verstand und entfaltete, im Mittelpunkt, eben jene Theologie also, deren Durchsetzung an der Universität Wittenberg Luther seinem Ordensbruder Lang so stolz mitteilte. Eine ähnliche, freilich schon viel offensivere Funktion besaß die später als Disputatio contra scholasticam theologiam titulierte Thesenreihe, die am 4. September 1517 Franz Günther aus Nordhausen zu debattieren hatte.13 Sie bot eine Mischung aus Offenlegung der neuen Weise, Theologie zu treiben, und materialen Aussagen, vor allem aus dem Bereich der Gnadenlehre. Im Vergleich mit den gleichzeitigen Vorlesungen Luthers lässt sich begründen, dass es sich hierbei tatsächlich auch um eine affirmative Darlegung der eigenen Theologie handelte, die im Blick auf das Genre der Disputation eine gewisse Zwischenstellung einnahm. Der Ort für die Diskussion und Etablierung neuer Thesen war traditionell eher die Quodlibet-Diskussion, in der ein Magister in großer Freiheit seine eigenen neuen Erkenntnisse zur Diskussion stellen konnte. Die Disputatio contra scholasticam theologiam aber diente nicht dieser freien Entfaltung, sondern stand, wie es bei den meisten Disputationen der Fall war, im Rahmen eines Prüfungsverfahrens, was deutlich machte, dass die hier artikulierten Thesen bzw. die mit ihnen verbundenen Argumenta 10
CRISPIN, GILBERT: Disputatio iudaei et christiani. Disputatio christiani cum gentili de fide Christi. Lat.-dt. (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters 1), hrsg. v. Wilhelm, Karl-Werner und Wilhelmi, Gerhard, Freiburg u. a. 2005. 11 SOUTHERN, RICHARD W.: Saint Anselm. A Portrait in a Landscape, Cambridge 1990, S. 198–202. 12 WA 1,145–151. 13 WA 1,224–228; zu ihr s. v. a. GRANE, LEIF: Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio contra scholasticam theologiam (Acta theologica Danica 4), Kopenhagen 1962.
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tionsmuster jedenfalls im Wittenberger Kontext der Sache nach durchaus nicht als gänzlich offen galten, sondern einem Prüfling abverlangt werden konnten. 2. Entscheidung über fragliche Wahrheit: Wenige Wochen nach der Disputatio contra scholasticam theologiam folgte eine Ausdehnung der Möglichkeiten der Disputation durch die Ablassthesen, mit der Luther wohl Anregungen weiterführte, die zuvor schon Karlstadt entwickelt hatte.14 Bis heute besteht nur eine relativ hohe Sicherheit, dass eine Disputation über die Ablassthesen nicht wirklich stattgefunden hat – ob Luther dies gleichwohl beabsichtigt hatte, ist unklar. Keineswegs dürfte er eine Disputation im normalen Rahmen angestrebt haben. Dies machte schon seine Einladung deutlich: Amore et studio elucidande veritatis hec subscripta disputabuntur Wittenberge, Presidente R. P. Martino Lutther, Artium et S. Theologie Magistro eiusdemque ibidem lectore Ordinario. Quare petit, ut qui non possunt verbis presentes nobiscum disceptare agant id literis absentes. In nomine domini nostri Hiesu Christi. Amen15
Dieser Text weist mehrere signifikante Abweichungen von der sonst von Luther bevorzugten Form der Einladung auf. Das gilt zum einen schon für die religiöse Einkleidung der intitulatio, die nicht nur mit dem Appell an amor et studium veritatis begann, sondern, ganz ungewöhnlich für solche Einladungen, mit einem Amen schloss. Noch bemerkenswerter ist, dass Luther nicht nur Anwesende, sondern auch Abwesende einlud – das war für die normale universitäre Disputation unnötig und gehört zu den vielen Punkten, die es fraglich machen, ob Luther zu dieser Disputation überhaupt vermittels eines Anschlags an die Wittenberger Kirchentüren einlud oder nicht vielmehr auf brieflichem Weg, von dem wir wiederum durch ein Schreiben Luthers an Johannes Lang wissen, dem er am 11. November die Thesen mit Bitte um Stellungnahme zusandte. Ganz gleich wie man diese Einzelheiten einschätzt: Erkennbar ist, dass Luther mehr anstrebte als die universitätsübliche Disputation – und dies, weil das Thema, um das es ihm ging, von besonderem Gewicht war. Das äußert sich auch darin, dass er die Ablassthesen an die Bischöfe von Mainz und Brandenburg versandte.16 Damit wurde der für die offene Disputation bestimmte akademische Freiraum überschritten und die kirchliche Hierarchie eingebunden, der es oblag, über Missstände in der kirchlichen Praxis, aber auch über die Frage von Wahrheit oder Häresie zu entscheiden. Die durch die Ablassthesen angesprochene Frage wurde damit in Gestalt der Disputations 14
S. hierzu MOELLER, BERND: Thesenanschläge, in: Ott, Joachim / Treu, Martin (Hrsg.), Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, Leipzig 2008, S. 9–31. 15 WA 1,233,1–9. 16 WA.B 1,110–112.
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form in einen weiterreichenden Diskurs eingegeben – dies ist der für die weitere Entwicklung maßgebliche Vorgang, der freilich nicht ganz vorbildlos ist. Herbert Grundmann berichtet davon, dass in Köln im 12. Jahrhundert Vertreter der vita-apostolica-Bewegung anboten, ihre Auffassungen in einer Disputation zu vertreten.17 Ähnliches hat mit Petrus Abaelard auch einer der Meister des Disputationswesens versucht beziehungsweise erhofft. Als er 1140, fast zwei Jahrzehnte nach seiner ersten Verurteilung in Soissons,18 auf Betreiben Bernhards von Clairvaux erneut, nun nach Sens, vorgeladen wurde, erwartete er bei dieser Gelegenheit offenbar eine disputationsartige Auseinandersetzung, der freilich Bernhard ein juristisch hoch fragwürdiges Häretisierungsverfahren entgegensetzte.19 Auch in anderen Häresieverfahren sind solche Zwischenstufen bekannt. So wurden Wilhelm von Ockham von seinem Orden, als sich der Prozess gegen ihn anbahnte, jedenfalls Thesen vorgelegt, die auf einem Ordenskapitel in England verhandelt werden sollten, wobei freilich nicht bekannt ist, ob hier die Form der Disputation gewählt wurde.20 Im folgenden Jahrzehnt griffen in Oxford dann akademische Disputation und die Anfänge der Reformansätze Wyclifs ineinander.21 Dass die akademische Disputationsform auch im kirchlichen Kontext zur Wahrheitsfindung gebraucht wurde, war also durchaus schon verschiedentlich vorgekommen – Luther nutzte diese in der Form liegende Möglichkeit nun besonders offensiv. Was dann freilich noch die Brisanz seines Agierens erhöhte, war der sich steigernde Öffentlichkeitscharakter, der durch die Möglichkeiten des Drucks eine entscheidende Veränderung gegenüber jenen hoch- und spätmittelalterlichen Beispielen mit sich brachte. Binnen weniger Monate lagen von den ursprünglich wohl nur handschriftlich versandten und weiterverbreiteten Ablassthesen drei Drucke vor, und Luther selbst war über die enorme Aufregung, die er mit ihnen auslöste, überrascht. Vor diesem Hintergrund wurden die folgenden Disputationen, die Etappen der reformatorischen Entwicklung markieren, schon in sich öffentliche Ereignisse. Dies trifft auf die eigentliche Disputation zu, die im Wittenberger Raum tatsächlich der Suche nach der Wahrheit zwischen Vertretern des alten und
17 GRUNDMANN, HERBERT: Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik, Darmstadt ³1978, S. 19. 18 S. zu dieser eine markante Neubewertung bei KLITZSCH, Die »Theologien« des Petrus Abaelardus, S. 165–239. 19 CLANCHY, Abaelard, S. 365–411. 20 ETZKORN, GERALD: Ockham at a Provincial Chapter: 1323. A Prelude to Avignon, in: Archivum Franciscanum Historicum 83 / 1990, S. 557–567; vgl. LEPPIN, VOLKER: Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch, Darmstadt 22012, S. 111–114. 21 COWDREY, HERBERT E. J.: Art. Oxford, in: Theologische Realenzyklopädie 25, Berlin / New York 1995, S. 568–575, 569.
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des neuen Glaubens galt: die Leipziger Disputation im Jahre 1519.22 Sie fand nicht nur vor universitärem Publikum statt, sondern auch in Gegenwart des Herzogs und vor Vertretern des Hofs, überschritt also deutlich den begrenzten Rahmen bloß universitärer Öffentlichkeit. In ihr disputierte der Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck mit Andreas Karlstadt und mit Luther selbst – und er nutzte diese Möglichkeit, um als geschickter Disputator Luther zu Aussagen zu nötigen, die in der Konsequenz seiner bisherigen Lehre lagen, ohne dass er sie offensiv hätte vertreten wollen. Die gut dokumentierte Disputation lässt die Dynamik des argumentativen Geschehens erahnen, das nun keineswegs turnierhaft innerhalb eines definierten Rahmens erfolgte, sondern sich auch als Gespräch über die Grundlagen von Theologie überhaupt entwickelte. Eck begegnete Luther über die von diesem wenig forcierte Frage nach dem Kirchenverständnis und dem Primat des Papstes. Auf die biblische Aussage Luthers, dass Christus das Haupt der Kirche sei, antwortete er mit der Lehre, dass Petrus und mit ihm sein Nachfolger Haupt der irdischen Kirche sei. Als Luther dies folgerichtig bestritt, konfrontierte Eck ihn damit, dass zu den verurteilten Sätzen des Jan Hus auf dem Konzil von Konstanz auch die Bestreitung eben dieser Auffassung von Petrus als dem Haupt der Kirche gehörte – erst nach und nach begriff Luther, dass er aufgrund dieser Sachlage zu der Konsequenz gelangen musste, dass Konzilien irren konnten: Also gibt man uns ins Maul, daß wir, wir wollen oder wollen nit, sagen müssen: Das Concilium hat geirret,23 hat Luther dies später seinem Kurfürsten gegenüber begründet. Inhaltlich aber bedeutete gerade diese Disputation, in der Eck den notorisch häretischen Charakter von Luthers Häresie erweisen wollte, für die reformatorische Seite einen entscheidenden Entwicklungsschritt hin zum Prinzip der Schrift allein als Grundlage heilsverbindlicher Lehre. Die Leipziger Disputation ist auch für den eingangs angesprochenen Zürcher Kontext von Bedeutung, denn mit ihr verbindet sich erstmals, dass Zwingli Luther zur Kenntnis nimmt, und dies gleich in einer äußerst hervorgehobenen Weise: Er pries den Wittenberger Reformator als den wiedergekommenen Elia.24
22 SEITZ, OTTO (Hrsg.): Der authentische Text der Leipziger Disputation (1519). Aus bisher unbenutzten Quellen, Berlin 1903; vgl. SELGE, KURT-VICTOR: Der Weg zur Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck, in: Moeller, Bernd / Ruhbach, Gerhard (Hrsg.), Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte. Kirchenhistorische Studien, Tübingen 1973, 169–210; DERS.: Die Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 86 / 1975, S. 26–40; BRECHT, MARTIN: Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart ³1990, S. 285–307; LEPPIN, VOLKER: Martin Luther, Darmstadt 22010, S. 144–151. 23 WA.B 1,471,218f. (Nr. 192). 24 Corpus Reformatorum 94,114,7.
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Will man denn die Zürcher Disputation als »Erfindung« Zwinglis apostrophieren, wird man dies schwerlich in der Perspektive tun dürfen, die diese Erfindung als eine Neuschöpfung versteht. Was Zwingli in Zürich erbrachte, lässt sich eher als eine sachte weitere Transformation verstehen. Die Leipziger Disputation knüpfte noch an den akademischen Rahmen des Genres an, erweiterte ihn aber schon allein durch den öffentlichen Charakter und die Tatsache, dass die Universität Leipzig lediglich den Rahmen dafür gab, dass drei Personen, die ihrem Lehrköper nicht angehörten, über die Wahrheit disputierten. Insbesondere der öffentliche Charakter wurde nach Zürich übertragen, und auch dies nicht durch Zwingli allein: Als der Chorherr Hofmann wohl Ende 1521 oder Anfang 152225 eine Klagschrift gegen ihn einreichte, endete diese mit dem von altgläubiger Seite kommenden Angebot, die Gründe in Auseinandersetzung mit den Gegnern darzulegen: so will ich umb gottes willenn und eines gemeinen nutzens willen / grosße widerwerttigkeit und ergerniss in christenlicher lere zefürkomen oder zewenden / die arbeit uff mich nehmen / das ich nach minem vermögen / will fürgeben und erscheinen ursachen meiner yetzgemeltten articklen und meinungen (so vil not wirt sein /) vor minen heren Bropst und Capitel und vor allen gelertten hie zürich / und vor einem gantzen Rat die dar by wellent sin in einer offenlichen statt, die dar zuo geschickt und tuglich ist / uff einen gestimptten tag / der minem her lütpriester einen Monat dar vor verkünt sye und mir ouch / in gegenwirttigkeit eines offnen Notari / dar zuo verordnet / in sömlichen geding und fuog / das min her lütpriester Meister uorich zwingli und sine anhenger / und ander die siner meinung sind / ouch fürgebent und erscheinent ursachen / iren articklen und meinungen / die wider mine artickel und meinungen syent // unnd wenn dann sömlichs beschächen ist / und also bede teil verhört sind / das dann mine herren Bropst und Capitel / Burgermeister und Rat / die sach trülich ze handen nemendt / und unßerem gnedigen heren von Costents fürbringent / darinn ze handlen wie ziemlich / billich und fruchtbar sind mag / nach gelegenheit der sach.26
Das Szenario erinnert auffällig an das, was später im Ausschreiben des Rates stand und dann tatsächlich in Zürich stattfand – freilich mit der markanten Abweichung, dass es zum einen Zwingli war, der nun seine Thesen darlegte, und zum anderen, ungleich wichtiger: dass die Entscheidung nach Hofmanns Plan nicht beim Rat, sondern beim Bischof liegen sollte. Dennoch macht dieses Anerbieten Hofmanns deutlich: An der vermeintlichen »Erfindung« Zwinglis hatte sein ärgster Feind mindestens einen gewissen Anteil.27
25 EGLI, EMIL (Hrsg.): Actensammlung zur Geschichte der Zürcher Reformation in den Jahren 1519–1533, Zürich 1879 (= Aalen, Nieuwkoop 1973), S. 65, gibt Ende 1521 an. Etwas weiter der Zeitraum bei SCHINDLER, ALFRED: Das Anliegen des Chorherrn Hofmann, in: Zwingliana 23 / 1996, S. 63–82, 69. 26 Die Klagschrift des Chorherrn Hofmann gegen Zwingli, hrsg. v. Schindler, Alfred, in: Zwingliana 19/1 / 1991–1992, S. 325–359, 352,13–353,1. 27 Dieser Umstand war auch schon lange vor der Edition der Klagschrift durch Alfred Schindler bekannt: Schon Egli verwies darauf (EGLI, Actensammlung zur Geschichte der Züricher Reformation, S. 65), und auch OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS: Werden und Wertung der Reformation, Tübingen ²1979, S. 286 Anm. 69, hat darauf aufmerksam gemacht.
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Wie nahe ein solches Vorgehen lag, zeigt auch die Tatsache, dass die Zürcher Disputation, die gemeinhin als die erste gezählt wird, tatsächlich nicht die erste in Zürich war. Heiko Augustin Oberman hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sie bereits im Jahr 1522 ein Vorbild hatte. Anlass war eine gezielte Provokation Zwinglis selbst: Als der Franziskaner Franz Lambert von Avignon im Zürcher Fraumünster über die Fürbitte Mariens und der Heiligen predigte, unterbrach Zwingli ihn lauthals: bruoder, da irrest du!28 Das sah Lambert selbst anders – und der Rat zog die Entscheidung an sich. Mit Hilfe einer Debatte zwischen Zwingli und den Lesemeistern der Bettelorden in Zürich wollte der Rat eine Entscheidung in der strittigen Angelegenheit finden und erkannte am Ende ebenso wie einige Monate später bei der großen Disputation darauf, dass Zwingli weiter predigen dürfe wie bisher. Gerade der defensive Charakter, in dem er sich bei diesem ersten Disputationsereignis befand, zeigt, dass das Verfahren der Disputation im öffentlichen Raum schwerlich als seine Erfindung angesehen werden kann – die sich hier vollziehende Transformation eines Genres hatte viele Autoren. 3. Die Propagierung: Noch während die Disputation der Klärung der offenen Wahrheitsfrage diente, hatte sich die Funktion dieses Mediums bereits weiter gewandelt. Sie war zum Mittel demonstrativer Durchsetzung der eigenen Überzeugungen geworden. Den Übergang hierzu kann man 1518, im Jahr vor der Leipziger Disputation, mit der Heidelberger Disputation verbinden.29 Sie liegt in gewisser Weise noch auf der Linie der Disputationen zur Wahrheitsfindung, insofern sich in ihr der Orden der Augustinereremiten, ähnlich wie die Franziskaner im Falle Wilhelms von Ockham zweihundert Jahre zuvor, bemühte, dem prominenten Angehörigen ein Forum für die Darlegung seiner Auffassungen zu geben. Da die Disputation im April 1518 aber in den Räumlichkeiten der Artistenfakultät stattfand,30 war jedenfalls der inneruniversitäre Zulauf groß, und der einzige Augenzeugenbericht von Martin Bucer lässt erkennen, wie sehr sich diese Veranstaltung zu einer Präsentation vor allem Luthers entwickelte, in der gegnerische Argumente nicht der Rede wert waren. Bucer lobte die mira in respondendo suavitas, in audiendo incomparabilis longanimitas des Wittenberger Professors31 und gab dann vor allem dessen Argumente wieder. Der Erfolg war entsprechend überwältigend: Die 28
Die Chronik des Bernhard Wyss 1519–1530, hrsg. v. Finsler, Georg, Basel 1901, S. 16. ZUR MÜHLEN, KARL-HEINZ: Die Heidelberger Disputation Martin Luthers vom 26. April 1518. Programm und Wirkung, in: Doerr, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386. 1986. Bd. 1: Mittelalter und Frühe Neuzeit 1386–1803, Heidelberg u. a. 1985, 188–212. 30 SCHEIBLE, HEINZ: Die Universität Heidelberg und Luthers Disputation, in: ders., Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, hrsg. v. May, Rudolf und Decot, Rolf, Mainz 1996 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beih. 41), S. 371–391. 31 WA 9, 162, 2f. 29
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Disputation stellte den Funkenschlag in den Südwesten dar, durch den Luther in weiten humanistischen Kreisen rezipiert wurde.32 Sehr konsequent hat dann 1521/22 Andreas Karlstadt Disputationen in Wittenberg durchgeführt, um anstehende Fragen des reformatorischen Prozesses zu klären und seine Ergebnisse hierzu, insbesondere zur Frage des Zölibats, aber auch der Abendmahlspraxis, zu propagieren.33 Eine eigene Brisanz gewann dies dadurch, dass es im Rahmen einer Bewegung stattfand, deren häretischer Charakter eben offiziell durch den Papst festgestellt worden war. 4. Demonstrative Durchsetzungsstrategie: Von hier aus war es ein kleiner, freilich wichtiger Schritt zur Zürcher Disputation. Mit ihr – nicht der singulären Erfindung eines einzelnen Mannes, sondern dem konsequenten Ergebnis einer Transformation und zuspitzenden Aneignung möglicher mittelalterlicher Entwicklungen – hatte die Reformation ein Medium gefunden, das, entstanden im Milieu der mittelalterlichen Universität, den städtischen Veränderungen Schub und Legitimation verlieh.
Quellen- und Literaturverzeichnis BARGE, HERMANN: Andreas Bodenstein von Karlstadt. Bd. 1: Karlstadt und die Anfänge der Reformation, Nieuwkoop ²1968. BAZAN, BERNARDO C.: La quaestio disputata, in: Les genres littéraires dans les sources théologiques et philosophiques médiévales. Définition, critique et exploitation, Louvain-laNeuve 1982, S. 31–49. BRECHT, MARTIN: Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart ³1990, S. 285–307. CLANCHY, MICHAEL T.: Abaelard. Ein mittelalterliches Leben, Darmstadt 2000. COURTENAY, WILLIAM J.: Schools and Scholars in Fourteenth-Century England, Princeton 1987. COWDREY, HERBERT E. J.: Art. Oxford, in: Theologische Realenzyklopädie 25, Berlin / New York 1995, S. 568–575. CRISPIN, GILBERT: Disputatio iudaei et christiani. Disputatio christiani cum gentili de fide Christi. Lat.-dt. (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters 1), hrsg. v. Wilhelm, Karl-Werner und Wilhelmi, Gerhard, Freiburg u. a. 2005. Die Chronik des Bernhard Wyss 1519–1530, hrsg. v. Finsler, Georg, Basel 1901. Die Klagschrift des Chorherrn Hofmann gegen Zwingli, hrsg. v. Schindler, Alfred, in: Zwingliana 19/1 / 1991–1992, S. 325–359. EGLI, EMIL (Hrsg.): Actensammlung zur Geschichte der Zürcher Reformation in den Jahren 1519–1533, Zürich 1879 (= Aalen, Nieuwkoop 1973). ERNST, STEPHAN: Petrus Abaelardus (Zugänge zum Denken des Mittelalters 2), Münster 2003.
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S. hierzu LEPPIN, Martin Luther, S. 126–135. BARGE, HERMAN: Andreas Bodenstein von Karlstadt. Bd. 1: Karlstadt und die Anfänge der Reformation, Nieuwkoop ²1968, S. 289f., 316f. 33
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Philipp Melanchthons Loci communes Systematisierung, Vermittlung und Rezeption gelehrten Wissens zwischen Humanismus, Reformation und Konfessionspolitik (1521–1590) Thomas Töpfer Professor Dr. Manfred Rudersdorf zum 60. Geburtstag
1. Universalmethode, didaktischer Leitfaden oder Bekenntnisschrift? Zur Entstehung und Konzeption der Loci communes Philipp Melanchthons Wie vielleicht kein anderes Lehrbuch des 16. Jahrhunderts verkörpert Melanchthons erstmals 1521 erschienene Schrift Loci communes rerum theologicarum die enge Verbindung von Humanismus und Reformation.1 In diesem einflussreichen Werk hatte der junge Wittenberger Professor zunächst anhand des Römerbriefes die Theologie Martin Luthers einer grundlegenden Aufarbeitung nach rhetorischen Ordnungsbegriffen unterzogen. Sowohl die Wahl der Textgattung, deren sich Luther nie bediente, als auch die Aufbereitung 1
Corpus Reformatorum. Philippi Melanthonis Opera quae supersunt omnia […] post Carolus Gottlieb Bretschneider edidit Henricus Ernestus Bindseil, Vol. 21, Braunschweig 1854 (ND New York 1963 / 64), S. 81–230; Melanchthons Werke in Auswahl, hrsg. von Robert Stupperich, Bd. 2, Teil 1: Loci communes von 1521; Loci praecipui theologici von 1559, bearb. von Hans Engelland, fortgef. von Robert Stupperich, 2., neubearb. Aufl. Gütersloh 1978; MELANCHTHON, PHILIPP: Loci communes 1521. Lateinisch-deutsch. Übers. und mit kommentierenden Anm. vers. von Horst Georg Pöhlmann. Hrsg. vom Lutherischen Kirchenamt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, 2., durchges. und korr. Aufl. Gütersloh 1997. Zur ersten Orientierung vgl. OELZE, ANDREAS: »Philipp Melanchthon: Loci communes«, in: Rebekka A. Klein / Christian Polke / Martin Wendte (Hrsg.), Hauptwerke der systematischen Theologie. Ein Studienbuch, Tübingen 2009, S. 129– 146; PETERS, CHRISTIAN: »Loci communes«, in: Michael Eckert / Eilert Herms / Bernd J. Hilbrandt / Eberhard Jüngel (Hrsg.), Lexikon der theologischen Werke, Stuttgart 2003, S. 478–480; TÖPFER, THOMAS: Art. »Loci communes«, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, Stuttgart 2008, Sp. 982–984.
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und Durchdringung des biblischen Stoffes stellte eine höchst eigenständige geistige Leistung Melanchthons dar.2 Es waren erstens didaktische Zielsetzungen, die ihn bewogen haben, im Rückgriff auf vorreformatorische Loci – vor allem die des Rudolf Agricola und des Erasmus von Rotterdam –, einen stark nach rhetorischen Gesichtspunkten strukturierten Leitfaden der neuen Bibeltheologie vorzulegen, wobei der Schwerpunkt auf die Darstellung der »Wohltaten Christi« und der reformatorischen Heils- und Gnadenlehre gelegt wurde.3 Zudem ging es Melanchthon zweitens darum, die gewählte Textgattung auf ein sowohl theologisch als auch methodisch neues Fundament zu stellen und etwa gegenüber den spätmittelalterlichen Sentenzenwerken (z. B. des Petrus Lombardus) abzugrenzen.4 Die Loci wurden dabei nicht losgelöst von der Heiligen Schrift, sondern streng aus dem biblischen Stoff heraus entwickelt.5 Melanchthon vollzog den Übergang zu einem Verständnis der Loci sowohl als »inhaltliche Begriffsordnung« als auch als rhetorische Leitbegriffe. Damit wurde die neuzeitliche Textgattung der Loci begründet.6 Die Urfassung der Loci von 1521 spiegelt 2
Vgl. STOLLE, VOLKER: »Erkennen nach Gottes Geist. Die Bedeutung des Römerbriefes des Paulus für Melanchthons Loci communes von 1521«, in: Lutherische Theologie und Kirche 21 / 1997, S. 190–219; KIEFFER, RENÉ: »Die Auslegung des Römerbriefes in Melanchthons Loci communes von 1521«, in: Philipp Melanchthon und seine Rezeption in Skandinavien. Vorträge eines internationalen Symposions anläßlich seines 500. Jahrestages an der Königlichen Akademie der Literatur, Geschichte und Altertümer in Stockholm (Konferenser / Kungliga Vitterhets, Historie och Antikvitets Akademien 43), Stockholm 1998, S. 51–65. 3 PETERS, Loci Communes, S. 479. 4 Zu diesen Motiven äußert sich Melanchthon in einem Brief an Johann Heß, 27.04.1520, MBW 1, Nr. 84, S. 192, sowie in der Widmungsvorrede der Loci an den Stolberger Pfarrer Tilemann Platner. Vgl. erläuternd MATZ, WOLFGANG: Der befreite Mensch. Die Willenslehre in der Theologie Philipp Melanchthons, Göttingen 2001, S. 40: »Melanchthons Ziel ist die Darstellung der Lehre Christi in den wichtigsten Hauptpunkten und die Abwehr der sich aus der Philosophie ergebenden aristotelicae argutiae, die er überall in der Theologie gegenwärtig sah.« Zum Einfluss der spätmittelalterlichen Sentenzenwerke, vor allem des Lombardus, vgl. BRÄUER, SIEGFRIED: »›Mehr ein Bekenntnisbuch‹. Melanchthons Loci communes von 1521«, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte 68 / 2001, S. 345–362, hier S. 352–355. Melanchthon habe »in den scholastischen Aufriß eingegriffen, wenn er mit den reformatorischen Erkenntnissen kollidierte«. 5 Generell zu Melanchthons Verständnis der Loci vgl. BREEN, QUIRINUS: »The terms ›Loci communes‹ and ›Loci‹ in Melanchthon«, in: Church history 16 / 1947, S. 197–209; VASOLI, CESARE: »Loci communes and the rhetorical and dialectical traditions«, in: Joseph C. MacLelland / Paul F. Grendler (Hrsg.), Peter Martyr Vermigli and Italian reform. Papers presented at the Conference ›the Cultural Impact of Italian Reformers‹, hosted by the Faculty of Religious Studies of McGill Univ., Waterloo 1980, S. 17–28; BRÄUER, Loci Communes, S. 351f. 6 Vgl. hierzu SCHMIDT-BIGGEMANN, WILHELM: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983, S. 19f. Schmidt-Biggemann
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zudem das Ringen Melanchthons einerseits um theologische Fragen – insbesondere die Suche nach den biblischen Kernaussagen und deren begriffliche Repräsentation in den Loci – sowie andererseits im Hinblick auf die Textgattung und deren innere Struktur wider.7 Das Werk begründete bei den Zeitgenossen den Ruhm Melanchthons als Theologe, was nicht zuletzt die Haltung Luthers zeigt, der die Loci sogar zu den eigenständigen reformatorischen Offenbarungen zählte.8 Die späteren Neubearbeitungen der Loci (1535 und 1543/59)9 trugen dieser hohen Wertschätzung, aber auch dem kontinuierlichen Ringen Melanchthons mit der neuen Theologie Rechnung, indem – über den Römerbrief hinaus – nach und nach der gesamte biblische Stoff einbezogen wurde. Damit ging allerdings auch eine Veränderung des ursprünglichen Konzepts einher. Zielte Melanchthon ursprünglich darauf, dem Leser – nicht zuletzt seinen Studenten – eine keineswegs vollständige Hilfe zum Verstehen, zur begrifflichen und argumentativen Gliederung und Erschließung von biblischen Kernaussagen an die Hand zu geben, trat in der Neubearbeitung der 1530er Jahre eine umfassendere Auswahl aus der Heiligen Schrift in den Vordergrund, die mittels Loci gegliedert und argumentativ im Sinne der reformatorischen Lehre erschlossen wurde. In der letzten Neubearbeitung der Loci communes (1543/59) nimmt die theologische Stofffülle – durch die Einbeziehung aller Teilbereiche der Dogmatik, der Lehre von den letzten Dingen sowie von Fragen der weltlichen und geistlichen Obrigkeit – weiter zu. In Folge dieser über mehr als drei Jahrzehnte gestreckten Umgestaltung der Loci von einem didaktischen Hilfsmittel zur frühen Form evangelischer Dogmatik – hier verstanden als Zusammenfassung der geltenden kirchlichen Lehre – verlor das aus der Rhetorik gespeiste Ordnungsmodell der Loci formal an Bedeutung. In der Spätfassung Melanchthons fungierten sie vorrangig als Hilfsmittel zur Gliederung des Textes in Kapitel. Neben dem dogmatischen Grundzug trat auch der Bekenntnischarakter der Schrift immer stärker hervor.10 spricht davon, Melanchthon habe die noch bei Erasmus von Rotterdam wirksame Vorherrschaft der Dialektik über die Loci endgültig »eliminiert«. 7 Vgl. PETERS, Loci communes, S. 479. Zu den Loci als aus der Textexegese gewonnene Hilfsbegriffe vgl. MAURER, WILHELM: »Melanchthons Loci communes von 1521 als wissenschaftliche Programmschrift. Ein Beitrag zur Hermeneutik der Reformationszeit«, in: Lutherjahrbuch 27 / 1960, S. 1–50, hier S. 3; ders., »Zur Komposition der Loci Melanchthons von 1521«, in: Lutherjahrbuch 25 / 1958, S. 146–180. 8 Vgl. KOLB, ROBERT: Bound choice, election, and Wittenberg theological method. From Martin Luther to the Formula of Concord, Grand Rapids, Mich. [u.a.] 2005, S. 76f., 84f., 171f. 9 Corpus Reformatorum Vol. 21, S. 253–560, S. 601–1106. 10 Vgl. KOLB, ROBERT: »Die Anordnung der Loci Communes Theologici. Der Aufbau der Dogmatik in der Tradition Melanchthons«, in: Lutherische Theologie und Kirche 21 / 1997, S. 168–190; ders., »The ordering of the ›Loci Communes Theologici‹. The structuring of the
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Vor dem Hintergrund dieser hier nur knapp umrissenen Wandlungsprozesse wird verständlich, warum die Charakterisierung und Einordnung der Loci communes Philipp Melanchthons bis in die aktuellen theologie- und reformationsgeschichtlichen Forschungsdiskurse höchst unterschiedlich ausfällt: »humanistisch-logisches Grundbuch«,11 abstraktes Wissenschaftssystem,12 frühe reformatorische Dogmatik,13 »exegetisches Grundprinzip der Reformationstheologie«14 oder Lehrbuch der neuen »Theologie der Bibel«,15 bzw. »erste[s] evangelische[s] Lehrbuch«.16 Entweder wird die formal-methodische Dimension der Loci als Prototyp einer neuen Lehrbuchgattung betont oder aber die Bedeutung des Werkes für die Entfaltung der Reformation und damit der genuin theologische Charakter dieser Schrift hervorgehoben. Dabei ist entscheidend, welche Fassung der Loci in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt wird, da Melanchthon seinen Text über mehr als zwei Jahrzehnte beständig überarbeitet hat. Zudem erschienen eine Reihe von Übersetzungen ins Deutsche, als deren wichtigste die 1536 in Wittenberg gedruckte Übertragung Justus Jonas’ gelten kann.17 Es ist unübersehbar, dass die theologischen Loci für Melanchthon kein unveränderliches Schema oder eine homogene Universalmethode darstellten. Ganz im Gegenteil band er – wie bereits erwähnt – die Struktur und den Charakter der Loci untrennbar an den zu erschließenden Inhalt. Veränderte sich dessen Zuschnitt, wie es bei Melanchthons Neubearbeitungen der Fall war, mußten auch Form und Funktion der Loci angepaßt werden. Ebenso forderte er auch seine Wittenberger Schü Melanchthonian dogmatic tradition«, in: Concordia journal 23 / 1997, S. 317–337. Zu diesen Veränderungen vgl. auch die knappen Ausführungen bei PETERS, Loci communes, S. 479. 11 HAMMERSTEIN, NOTKER: Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, München 2003, S. 104. 12 JOACHIMSEN, PAUL: »Loci communes. Eine Untersuchung zur Geistesgeschichte des Humanismus und der Reformation (1926)«, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Aalen 21983, S. 387–442. 13 Vgl. BAUKE-RUEGG, JAN: »›Hoc est Christum cognoscere beneficia eius cognoscere‹. Melanchthons ›Loci communes‹ von 1521 und die Frage nach dem Proprium reformatorischer Dogmatik«, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 42 / 2000, S. 267–298. 14 MAURER, Melanchthons Loci communes, S. 1–50. 15 JUNGHANS, HELMAR: »Philipp Melanchthons Loci theologici und ihre Rezeption in deutschen Universitäten und Schulen«, in: Günther Wartenberg (Hrsg.), Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert, Leipzig 1999, S. 9– 30. 16 Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. 3: Reformation, ausgew. und kommentiert von Volker Leppin, Neukirchen-Vluyn 2005, S. 53f. 17 Corpus Reformatorum., Vol. 22, 1855 (ND 1963/64), S. 45–636. Vgl. hierzu SCHILLING, JOHANNES: »Melanchthons Loci communes deutsch«, in: Michael Beyer / Günther Wartenberg (Hrsg.), Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anläßlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997, Leipzig 1998, S. 337–353, hier S. 340f.
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ler auf, nicht nur die Loci im Unterricht zu verwenden, sondern ebenso eigene Bearbeitungen bzw. Beispiele dieser Textgattung in Angriff zu nehmen.18 Melanchthons Bemühungen um die Weiterentwicklung der Textgattung führten dazu, dass die Loci communes aus einer abstrakten, topischen Tradition herausgelöst, stärker rhetorisch verstanden und eng an dem jeweils zu gliedernden Stoff ausgerichtet wurden. Damit ging zwar gewissermaßen ein Verlust des universellen Zuschnitts der Loci einher, doch bekamen diese »als Konstitutionsbegriffe von Einzelwissenschaften […] erneut eine tragende, kategoriale Bedeutung«.19 Im Jahr 1553, anläßlich der Neufassung der als »Hauptartikel christlicher Lehre« bezeichneten deutschen Loci communes, äußerte sich Melanchthon über seine Motive und Ziele, die ihn zum Verfassen und wiederholten Überarbeiten dieses Werks bewogen hatten. In seiner an die Gattin seines Leipziger Schülers und Kollegen Joachim Camerarius gerichteten Widmung betont er vor allem das didaktische und katechetische Profil der deutschen »Hauptartikel«, die vor allem auf seinen langjährigen Visitationserfahrungen aufbauen. Diese anleitunge, Locos theologicos, zusammen zu ziehen […] ist auch mein Gemut nicht anders, denn die einige Lere, die in den sechsischen Kirchen, laut der Confession, die zu Augsburgk, Anno 1530 durch vnsere Kirchen vberantwort ist, zu erzelen. Habe also diese anleitunge dem jungen Volke, zur erklerunge der fürnemsten Namen, gleich als einen Catechismum, zusamen gezogen.20 Im Unterschied zu den Spätfassungen der lateinischen Loci, deren mehr und mehr dogmatische Ausrichtung dem Anspruch Melanchthons geschuldet war, der Weiterentwicklung, aber auch den Kontroversen um die Wittenberger Theologie Rechnung zu tragen, blieb die ursprüngliche stark didaktischpädagogische Zielsetzung seiner Schrift in Gestalt der deutschen »Hauptartikel« erhalten.
18 Vgl. KAUFMANN, THOMAS: »Martin Chemnitz (1522–1586). Zur Wirkungsgeschichte der theologischen Loci«, in: Heinz Scheible (Hrsg.), Melanchthon in seinen Schülern, Wiesbaden 1997, S. 183–252. 19 SCHMIDT-BIGGEMANN, Topica universalis, S. 20. 20 Corpus Reformatorum, Vol. 22, S. 46f. (Widmungsbrief an Anna Camerarius vom 24. Februar 1553). Vgl. MELANCHTHON, PHILIPP: Heubtartickel Christlicher Lere. Melanchthons deutsche Fassung seiner Loci theologici, nach dem Autograph und dem Originaldruck von 1553. Hrsg. von Ralf Jenett und Johannes Schilling, Leipzig 2002. Zu Melanchthons eigenem Anteil am Zustandekommen dieser Ausgabe vgl. STUPPERICH, ROBERT: »Melanchthons ›Theologia germanica‹. Ein Beitrag zur Geschichte seiner lang verschollenen eigenhändigen deutschen Bearbeitung der Loci theologici von 1553«, in: Kerygma und Dogma 4 / 1958, S. 47–58; DERS.: Melanchthons deutsche Bearbeitung seiner loci, Amsterdam 1973.
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2. Damit die Jugendt an des Herrenn Philippi art zureden gewonet werde. Die Rolle der Loci communes im Kontext der Auseinandersetzungen um das Erbe Philipp Melanchthons nach 1560 Im Unterschied zu dem breiten Spektrum von Untersuchungen, die sich Philipp Melanchthon als Person oder der Entstehung und inneren Struktur seiner Loci communes widmen, ist die Zahl der rezeptionsgeschichtlichen Untersuchungen für die Zeit nach Melanchthons Tod nach wie vor überschaubar. Die Frage, in welcher Form und Nachhaltigkeit die Loci im akademischen Lehrbetrieb verwendet wurden, kann aufgrund der vielgestaltigen lokalen Überlieferungen und geringer Vorarbeiten bislang nur in Ansätzen beantwortet werden.21 Freilich lassen Einzelstudien auf eine weite Verbreitung des Werks – selbst über Konfessionsgrenzen hinaus – in Europa schließen.22 Mit seiner letzten Bearbeitung des lateinischen Textes hatte Melanchthon – wie bereits erwähnt – den Loci eindeutig den Charakter einer evangelischen Dogmatik bzw. einer Bekenntnisschrift gegeben. Diese Arbeit muß im Zusammenhang mit den Bemühungen Melanchthons um einen innerprotestantischen Ausgleich bzw. die Einigung auf eine verbindliche Lehrgrundlage gesehen werden, die der Reformator in den letzten Jahren vor seinem Tod verfolgte. Die von ihm im sogenannten »Frankfurter Rezeß« 1558 vorgeschlagene Erarbeitung eines verbindlichen Corpus Doctrinae wurde zu seinen Lebzeiten nicht mehr realisiert. Vielmehr entstanden auf territorialer Ebene eine Reihe von Zusammenstellungen der zentralen Lehrschriften der Reformation, wobei Melanchthons Schriften in unterschiedlichem Maße herangezogen wurden.23 Eine klare Dominanz erlangte die Tradition Melanchthons im albertinischen Kurfürstentum Sachsen, wo 1559/60 mit dem Corpus Doctrinae Philippicum eine Sammlung seiner Schriften erschien, in der sich auch die Loci communes befanden und die schließlich zur Bekenntnisgrundlage des Landes erhoben wurde.24 In den Jahren nach Melanchthons Tod erlangten die Lehre und die Schülerschaft Melanchthons, die in der Rückschau häufig mit 21
Zum Forschungsstand vgl. JUNGHANS, Philipp Melanchthons Loci theologici. Zur Rezeption der Werke Melanchthons, darunter vor allem der Loci, jetzt GÜNTER FRANK u.a. (Hrsg.), Melanchthon und Europa, Bd. 1: Skandinavien und Mittelosteuropa, Stuttgart 2001, Bd. 2: Westeuropa, Stuttgart 2002. Zur Memorialfunktion der Loci unter den Wittenberger Studenten vgl. exemplarisch SALOMON, RICHARD G.: »The Teuffenbach Copy of Melanchthon’s ›Loci Communes‹«, in: Renaissance News 8 / 1955, S. 89–85. 23 Auf ausführliche Hinweise zur Forschungsliteratur wird hier verzichtet. Vgl. einführend mit detaillierten bibliographischen Angaben KOCH, ERNST: »Konkordienformel«, in: Theologische Realenzyklopädie 19 / 1990, S. 476–483. 24 Vgl. hierzu KOCH, ERNST: »Der kursächsische Philippismus und seine Krise in den 1560er und 1570er Jahren«, Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – das Problem der zweiten Reformation, Gütersloh 1986, S. 60–77. 22
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dem Gruppennamen »Philippisten« bezeichnet wurden, eine beherrschende Stellung nicht nur an den beiden Landesuniversitäten in Leipzig und Wittenberg, sondern ebenso in einflussreichen Positionen in der Nähe des Kurfürsten August in dessen Dresdner Residenz. August vertrat auch in der auswärtigen Politik einen Kurs, der dieser theologischen Richtung verpflichtet war, etwa gegenüber den im benachbarten ernestinischen Herzogtum Sachsen vorherrschenden sogenannten Gnesiolutheranern um Matthias Flacius.25 So sehr diese verfeindeten Parteien in theologischen Lehr- bzw. konfessionspolitischen Streitfragen und nicht zuletzt hinsichtlich der Autorität der Reformatoren differierende Ansichten vertraten, bestanden natürlich auch gemeinsame Traditionen.26 Hierzu zählen auch die Loci communes Melanchthons, die freilich nur nach den kursächsischen Normen in den Rang einer offiziellen Bekenntnisschrift erhoben worden waren. Der abrupte Abbruch dieser spezifisch theologischen Tradition, der auf den Sturz der als »Kryptocalvinisten« verunglimpften Anhänger und Schüler Philipp Melanchthons am landesherrlichen Hof und an den Universitäten in Kursachsen im Jahr 1574 folgte, hatte auch Konsequenzen für die weitere Verwendung der Loci communes.27 Dabei erwies sich der bereits eingangs thematisierte komplexe Doppelcharakter dieser Schrift als didaktisches Lehrwerk einerseits und als Dogmatik bzw. Bekenntnisschrift andererseits sowohl als Ansatzpunkt für die Melanchthonkritik als auch für die Bemühungen, die mit dem orthodoxen Luthertum »konformen« Seiten Melanchthons zu bewahren. 25
Hierzu jetzt GEHRT, DANIEL: Ernestinische Konfessionspolitik. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung und dynastische Identitätsstiftung vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577, Leipzig 2011, S. 368–374, 438–454. 26 Zurecht verweist Robert Kolb auf die fließenden Übergänge und Gemeinsamkeiten zwischen diesen Gruppen: »The lines between the two groups cannot always be drawn tightly; they did not have membership cards.« KOLB, ROBERT: »Dynamics of Party Conflict in the Saxon Late Reformation: Gnesio-Lutherans vs. Philippists«, in: The Journal of Modern History 49 / 1977, S. D1289–D1305, Zitat D1290. 27 Zu diesen Ereignissen insgesamt vgl. aus der älteren Literatur noch immer: CALINICH, ROBERT: Kampf und Untergang des Melanchthonismus in Kursachsen in den Jahren 1570– 1574 und die Schicksale seiner vornehmsten Häupter. Aus den Quellen des königlichen Hauptstaatsarchivs zu Dresden, Leipzig 1866; KLUCKHOHN, AUGUST: »Der Sturz der Kryptocalvinisten in Sachsen 1574«, in: Historische Zeitschrift 18 / 1867, S. 77–127. Aus kirchenbzw. profanhistorischer Sicht: HASSE, HANS-PETER: Zensur theologischer Bücher in Kursachsen im konfessionellen Zeitalter. Studien zur kursächsischen Literatur- und Religionspolitik in den Jahren 1569–1575, Leipzig 2000, S. 137–182; BRUNING, JENS: »Caspar Peucer und Kurfürst August. Grundlinien kursächsischer Reichs- und Konfessionspolitik nach dem Augsburger Religionsfrieden (1555–1586)«, in: Hans-Peter Hasse / Günther Wartenberg (Hrsg.), Caspar Peucer (1525–1602). Wissenschaft, Glaube und Politik im konfessionellen Zeitalter, Leipzig 2005, S. 157–173.
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Dass die Beschreibung und Bewertung der Loci communes Melanchthons – wie bereits im ersten Teil dieser Untersuchung gezeigt – bis heute so unterschiedlich ausfallen, hängt meinem Eindruck nach nicht zuletzt mit dieser krisenhaften Erschütterung der Theologie melanchthonscher Prägung am Ende des 16. Jahrhunderts zusammen. Dimensionen und Tragweite dieser Erschütterung sollen im Folgenden ebenso kurz skizziert werden wie die am Ende der 1580er Jahre nachweisbaren Bestrebungen, die alte Bedeutung Melanchthons für die Ausbildung an den sächsischen Universitäten zu restituieren. Die Frage, welchen Einfluss konfessionspolitische Entscheidungen auf das Lehren und Lernen an den sächsisch-albertinischen Universitäten Leipzig und Wittenberg im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts ausübten, verdient im Kontext des vorliegenden Tagungsbandes also durchaus Beachtung, nicht zuletzt, weil es sich hierbei um die beiden meistfrequentierten Hohen Schulen des Alten Reiches handelte. Im Mittelpunkt steht dabei der Zeitraum zwischen dem Sturz der sogenannten »Philippisten« 1574 und dem Tod Kurfürst Christians I. von Sachsen (1591). Das Ende der Philippisten und der von Kurfürst August betriebene tiefgreifende Personalwechsel ist als konfessions- und universitätsgeschichtliche Zäsur hinlänglich bekannt und vergleichsweise gut erforscht. Dies gilt nur zum Teil für den während der kurzen Regierungszeit Kurfürst Christians (1586–1591) vorgenommenen konfessionspolitischen Richtungswechsel – weg von der strengen lutherischen Orthodoxie, hin zu einer gewissen Öffnung und Annäherung gegenüber dem Calvinismus –, der auch Folgen für die Lehre und das Lernen an den Universitäten des Landes hatte. Deren Abhängigkeit von den konfessionspolitischen Entscheidungen im Land soll insbesondere im Spiegel der Universitätsordnungen von 1580 und 1588 untersucht werden. Im Mittelpunkt steht dabei insbesondere die Frage, inwiefern sich die enge Symbiose von reformatorischer Theologie und humanistischer Wissenschaft in der akademischen Lehre, für die sich Philipp Melanchthon in prägender Weise eingesetzt hatte, unter den Bedingungen der konfessionspolitischen Verwerfungen um 1580 behaupten konnte. Mithin geht es also um den Stellenwert Melanchthons für die lutherische Theologie sowie um deren Verhältnis zu den philosophischen Disziplinen und Methoden. Die Antrittsrede des Theologieprofessors Martin Oberndörfer an der Universität Wittenberg – Anfang November 1574 – war ein in mehrfacher Hinsicht überschattetes Ereignis. Der Vorgänger Oberndörfers, der Melanchthonschüler Christoph Pezel, war wenige Wochen zuvor nach seiner Absetzung durch den sächsischen Kurfürsten August der drohenden Verhaftung durch Flucht entkommen. An der Universität wurde auf Befehl des Landesherrn ein umfassender Personalwechsel vorbereitet, der vor allem die Theologische Fakultät tiefgreifend veränderte. Die bis dahin vorherrschende, auf Philipp
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Melanchthon zurückgehende theologische Richtung, sowie dessen Schüler – die Philippisten – hatten das Vertrauen des Kurfürsten verloren und wurden gewaltsam aus den Ämtern gedrängt. Unter den Wittenberger Studenten trafen diese Maßnahmen auf Mißbilligung, die bis hin zu Störungen der Lehrveranstaltungen und gewaltsamen Ausschreitungen reichte. Auch der neue Theologieprofessor Oberndörfer war mit solchen Unmutsäußerungen konfrontiert. Während seiner Antrittsrede – so berichtet die Universität am 2. November 1574 an den Kurfürsten – wurde er mehrfach durch Scharren, Husten und andern Ungebärden unterbrochen.28 Regelrechten Protest erzeugte seine Verteidigung der personellen Säuberungen, die von den Studenten als Infragestellung der bisherigen Grundlagen des Wittenberger Studiums verstanden wurden. Zum Jahresbeginn 1575 kam die kleine Universitätsstadt an der Elbe über mehrere Wochen nicht zur Ruhe. Anonyme Schriften, Ausschreitungen und Gewalttaten zwangen Rat, Universität und Landesherrn zu entschlossenen Maßnahmen. Dennoch wurden die Lektionen vernachlässigt. Studenten verließen die Stadt. Erst in der Mitte des Folgejahres trat zunächst eine gewisse Ruhe ein.29 Mit der Auswechslung des Hochschulpersonals war freilich auch das Lehrgefüge der Universität insgesamt in eine Krise geraten. Im Februar 1575 erklärte der Kurfürst gegenüber seinen Räten, dass er die Wiederherstellung des »originalen« Luthertums in der universitären Lehre und in der Landeskirche wünsche. Dies war zunächst nicht gegen die Person bzw. die Lehrtradition Melanchthons gerichtet, weshalb auch die Gültigkeit des Corpus Doctrinae vorerst unangetastet blieb. Melanchthons Schüler und deren Einfluss auf die Theologie erschienen Kurfürst August nach Jahren der Förderung und Unterstützung – vor allem im Streit gegen die Flacianer – aber nun als Calvinische[r] sacramenschwarm, der mit der wurzel aussm grunde möchte ausgerottet werden.30 Nach einer kurzen Phase der konfessionspolitischen Unklarheit wurden die normativrechtlichen Grundlagen der sächsischen Universitäten deshalb ebenso wie die 28
WALTER FRIEDENSBURG (Hrsg.): Urkundenbuch der Universität Wittenberg, Bd. 1: 1502–1611 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, N.R. Bd. 31), Magdeburg 1926, Nr. 360, S. 395f. Zu diesem Ereignis vgl. HASSE, HANS-MARTIN: »Lutherische Memorialkultur als Krisenbewältigung: die Antrittsrede des Wittenberger Theologieprofessors Martin Oberndorfer über die Geschichte der Universität Wittenberg (1574)«, in: Irene Dingel / Günther Wartenberg (Hrsg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502–1602, Leipzig 2002, S. 87–112. Zur Berufung Oberndorfers siehe LUDWIG, ULRIKE: Philippismus und orthodoxes Luthertum an der Universität Wittenberg. Die Rolle Jakob Andreäs im lutherischen Konfessionalisierungsprozeß Kursachsens (1576–1580), Münster 2009, S. 104f. Oberndorfer verteidigte sich mit dem Hinweis, er habe nicht die Philippisten, sondern die Flacianer angreifen wollen. Ebd., S. 128. 29 Vgl. die quellennahe Schilderung bei LUDWIG, Philippismus, S. 128–130. 30 FRIEDENSBURG, Urkundenbuch, Nr. 364, S. 397f.
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Grundlagen von Lehre und Studium auf landesherrlichen Druck einer umfassenden Revision unterzogen. Diese wurde maßgeblich durch den 1576 nach Kursachsen berufenen Kanzler der Universität Tübingen Jakob Andreä geplant und vollzogen und gipfelte in der 1580 eingeführten Universitätsordnung, die Teil der neuen kursächsischen Kirchenordnung war, sowie in der im gleichen Jahr abgeschlossenen Konkordienformel, die zur allgemein gültigen Bekenntnisgrundlage im Sinne der neuen lutherischen Orthodoxie gemacht wurde.31 Wie diese hier zunächst nur knapp geschilderten Ereignisse zeigen, waren »Lehren und Lernen« im Zeitalter der Reformation alles andere als »herrschaftsfreie Räume«. Dies galt zumal für die mitteleuropäischen Universitäten, die im Zeichen der konfessionellen Spaltung nicht nur eine beträchtliche quantitative Erweiterung, sondern auch eine tiefgreifende Veränderung ihrer inneren Verfassung und gesellschaftlichen Einbindung erfuhren. Der bekannte Universitätshistoriker Peter Baumgart spricht sogar von einem eigenständigen »Universitätstypus«, der im Zeichen der Reformation entstanden und durch drei charakteristische Elemente geprägt worden sei – nämlich durch die »Dominanz der Landesherrschaft« gegenüber den Universitäten, die »konfessionsgebundene« Orientierung der Hochschulen sowie durch das konfessionsübergreifende Band der humanistischen Bildungs- und Wissenschaftskultur.32 31
Zur Konkordienbewegung und der Rolle Andreäs vgl. KOCH, Konkordienbuch. Zu den Verhältnissen in Sachsen: HASSE, HANS-PETER: »›Es ist leider der Mangel, dass itzo kein Doktor Martinus lebet!‹ Bildungspolitik im 16. Jahrhundert: Kurfürst August von Sachsen und die Universität Wittenberg«, in: Peter Freybe (Hrsg.), »Recht lehren ist nicht die geringste Wohltat.« Wittenberg als Bildungszentrum 1502–2002. Lernen und Leben auf Luthers Grund und Boden. Wittenberger Sonntagsvorlesungen im Evangelischen Predigerseminar 2002, Wittenberg 2002, S. 127–156; RUDERSDORF, MANFRED: »Tübingen als Modell? Die Bedeutung Württembergs für die Vorgeschichte der kursächsischen Universitätsreform von 1580«, in: Armin Kohnle / Frank Engehausen (Hrsg.), Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2001, S. 67–85; LUDWIG, FRANK: Die Entstehung der kursächsischen Schulordnung von 1580 auf Grund archivalischer Studien, Berlin 1907. LUDWIG, Philippismus. 32 BAUMGART, PETER: Vorwort, in: Ders., Universitäten im konfessionellen Zeitalter. Gesammelte Beiträge, Münster 2006, S. VII–X, hier VIIf. DERS.: »Die deutschen Universitäten im Zeichen des Konfessionalismus«, in: ebd., S. 5–30. Ergänzende typologische Überlegungen: HAMMERSTEIN, NOTKER: »Universitäten und Reformation« [1994], in: Ders., Res publica litteraria. Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, hrsg. von Ulrich Muhlack / Gerrit Walther, Berlin 2000, S. 388–401; GRENDLER, PAUL F.: »The Universities of the Renaissance and Reformation«, in: Renaissance Quarterly 57 / 2004, S. 1–42; TÖPFER, THOMAS: »Landesherrschaft, fürstliche Autorität, korporative Universitätsautonomie. Zur frühen Geschichte der Universität Wittenberg (1502–1525)«, in: Karlheinz Blaschke / Detlef Döring (Hrsg.), Universitäten und Wissenschaften im mitteldeutschen Raum in der Frühen Neuzeit. Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Günter Mühlpfordt, Stuttgart 2004, S. 27–54.
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Die Verdrängung Melanchthons aus der Theologie, die Beschränkung des Studiums seiner Schriften und Ideen auf die Philosophische Fakultät war ein Grundanliegen des seit 1576 mit der Erarbeitung einer Kirchen- und Universitätsordnung in Kursachsen betrauten Jakob Andreä. Im Sinne der persönlichen Wünsche seines Auftraggebers, Kurfürst Augusts, hielt Andreä eine notfalls gewaltsame Reinigung der kirchlichen Lehre und eine strikte Ausrichtung am authentischen Luthertum für unumgänglich. Der aus seiner Sicht verwerfliche Einfluss calvinistischer Lehren sowie der Philosophie auf das theologische Studium sollte strikt unterbunden werden. Dass es dabei im Unterschied zu den ersten Monaten nach dem Sturz der Philippisten vor allem um die Zurückdrängung Melanchthons und seiner Lehre ging, zeigt eine wichtige Predigt, die Andreä im Juni 1579 in Wittenberg hielt. Diese sollte vor allem der Vorstellung und Begründung der neuen Kirchenordnung dienen, die kurz vor der Veröffentlichung stand.33 Der Auftritt in der Wittenberger Stadtkirche geriet aber zu einem Eklat. Andreä griff Melanchthon zwar nicht persönlich an, er erklärte aber das Corpus doctrinae christianae, also die 1559/60 veröffentlichte Sammlung der von Melanchthon verfaßten Bekenntnisschriften wiederholt als bubenstück.34 In einem Bericht der Universität an den Kurfürsten heißt es, Andreä habe diese Aussage mehrfach geschriehen, worauf sich plötzlich und ganz unvorsehens in der kirchen sich ein rauschen, scharren, getummel und gemörmel erhoben, das nicht allein der herr doctor Jacobus sich fast darüber entsatzt und verferbet, sondern wir semptlich zum höchsten erschrocken, auch etzliche viel von weibern und gemeinem volk herausgelaufen.35 Mit dem Corpus Doctrinae gerieten auch die darin aufgenommenen Loci communes plötzlich in das Fadenkreuz der Kritik. Es überrascht nicht, dass Andreä schließlich dafür sorgte, dass Melanchthons Loci nicht in den Kreis der im Zuge der Konkordienbewegung 1580 kodifizierten Bekenntnisschriften aufgenommen wurden.36 33
Wittenberg war dabei nur eine Station. Ähnliche Predigten hielt er auch in Leipzig und Dresden. ANDREÄ, JAKOB: Fuenff Predigen. Von dem Wercke der Concordien. Vnd endlicher Vergleichung der vorgefallenen streitigen Religions Artickeln. Auch welcher gestalt die Hohen / Fuersten / vnd Particular Schulen / Kirchen / derselbigen Visitationen, Consistoria, Synodi, vnd was sollichen mehr anhanget, Im Hochloeblichen Churfuerstenthumb Sachssen angestelltet: Zu Dreßden/ Leiptzig vnd Wittembergk / […] gehalten, Dresden 1580. (VD16 A 2629), Druckausgabe Universitätsbibliothek Leipzig St. Nicolai 638, Pred. 94-d, MikroficheAusg. München u. a. 1990, die Wittenberger Predigt Bl. V IVv–dv. 34 ANDREÄ, Fuenff Predigen, Bl. Zv. Vgl. erläuternd jetzt LUDWIG, Philippismus, S. 274– 276; HASSE, Bildungspolitik, S. 137. 35 FRIEDENSBURG, Urkundenbuch, Nr. 402, S. 489f. Bericht der Universität vom 24. Juni 1579. 36 Vgl. JUNGHANS, Philipp Melanchthons Loci theologici, S. 17, 20f.
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Es war allerdings dem Drängen der Universität geschuldet – die wiederholt auf Melanchthon als unverzichtbare Autorität neben Luther bestanden hatte –, dass die Loci nicht völlig aus dem akademischen Lehrplan verschwanden. Die Universitätsordnung von 1580 ordnete an, dass sowohl in Wittenberg als auch in Leipzig der rangniedrigste Theologieprofessor die Loci seinen Vorlesungen zugrunde legen sollte.37 Freilich zeigte sich in den folgenden Jahren, dass Melanchthons Werke mehr und mehr gemieden wurden und schließlich weitgehend aus dem Unterrichtsbetrieb verschwanden. Die Universitätsordnung von 1580 unterwarf insbesondere das Lehr- und Unterrichtsprofil an den Theologischen Fakultäten weitreichenden Veränderungen. In der Tradition Melanchthons in Wittenberg und Joachim Camerarius’ in Leipzig hatten die humanistischen Disziplinen einen selbständigen Wert gegenüber der Theologie besessen. Die theologische Ausbildung war mit den artistischen Fächern schon wegen der Ausbildung in den Alten Sprachen eng verbunden worden. Die Gegner der melanchthonischen Tradition indes setzten sich in den späten 1570er Jahren für eine die stärkere Besinnung auf die genuinen theologisch-praktischen Disziplinen (Predigt, Seelsorge) ein, die vor einem zu weitschweifigen, humanistisch inspirierten Gelehrtentum schützen sollte. So heißt es in der Universitätsordnung von 1580, es gehe nicht um scharfsinniges Spekulieren, sondern um die Bewahrung der »reinen, unverfälschten Lehre des Glaubens«. Deshalb sollte der Einfluss der humanistischen Disziplinen und insgesamt der Philosophischen Fakultät auf die Theologenausbildung begrenzt werden. Beispielsweise wurden die Lektionen der Universitätstheologen präziser als zuvor bestimmt und auf die Bibelexegese konzentriert. Hauptziel war es, den Studenten bis zum Ende des Studiums eine umfassende Erklärung aller Teile der Heiligen Schrift zu bieten.38 Zur Reinhaltung der Theologie von anderen Einflüssen wurde das Disputationswesen wieder intensiviert und einer strengen Zensur unterworfen. Beabsichtigt war nicht der gelehrte Streit über die »reine unverfälschte Lehre«, sondern nur deren Erläuterung. Zugang hatten nur noch Theologen. Der Ein
37 Vgl. zur Genese und Struktur der Universitätsordnung ausführlich LUDWIG, Philippismus, hier S. 339. 38 Des Durchleuchtigsten / Hochgebornen Fuersten vnd Herrn / Herrn Augusten / Hertzogen zu Sachsen […] Churfuersten […] Verordnung / Wie es in seiner Churf. G. beyden Vniuersiteten / zu Leipzig und Wittenberg / mit lahr / disciplin / vnd sonsten allenthalben / jetzo und kuenfftig / gehalten werden sol, 1580. Ausgabe Universitätsbibliothek Leipzig Jus. sax.16-o, hier die einleitenden Passagen des Abschnitts über die Theologische Fakultät, S. CCCLXXXIf. Richtungweisend für die Einrichtung des Theologiestudiums an den beiden sächsischen Universitäten war die Rede, die Jakob Andreä im April 1577 in Wittenberg hielt (Oratio de instauratione studii theologici, Wittenberg 1577). FRIEDENSBURG, Urkundenbuch, Nr. 382, 458. Vgl. zu den Veränderungen des Theologiestudiums HASSE, Bildungspolitik, S. 139–141.
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fluss der Philosophischen Fakultät – sowohl personell als auch thematisch – auf das theologische Disputationswesen wurde ausgeschlossen: Sonderlich aber sollen die Professores Theologiae jhre Discipulos mit fleis vnd ernst erinnern vnd vermanen / das sie in den Theologischen disputationibus keine Philosophische subtilitates […] so in die Philosophische Schul gehoerig […] einbringen / sondern alleine Realia, was in Geistlichen sachen recht oder vnrecht / zuglauben oder nicht zuglauben […] fuertragen.39
Hier ging es eindeutig um die Ausgrenzung der Philosophie aus dem theologischen Studium, das in erster Linie der Verteidigung der orthodox-lutherischen Lehre dienen sollte. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass Andreä die weitgehende »Theologisierung« des landesherrlichen Stipendienwesens anstrebte. Dies schloß die Verpflichtung zum Besuch theologischer Lehrveranstaltungen ebenso ein wie die Verpflichtung zur Wahrnehmung eines Kirchen- oder Schulamtes nach dem Ende des Studiums.40 Diese Strategie, die auf die Trennung von Philosophie und Theologie zielte, hatte zunächst Erfolg. Melanchthon wurde allenfalls als Philologe und Didaktiker geschätzt, als theologischer und selbst als philosophischer Autor regelrecht verachtet. Wehr Philippum nicht angreifen thut, werde für Calvinisch geachth, heißt es im Bericht einer 1587 durchgeführten Visitation der Universität Wittenberg.41 Melanchthons Schriften wurden bei den Ordinationsexamen nicht mehr herangezogen; seine Loci verschwanden trotz der Bestimmungen der Universitätsordnung von 1580 aus dem Lehrprogramm. Erst die Veränderung der konfessionspolitischen Ausrichtung Kursachsens in der kurzen Regierungszeit Christians I. (1586–1591) brachte zeitweilig eine Restauration der Stellung Melanchthons an den sächsischen Universitäten mit sich. Die Universitätsordnung von 1580 wurde nicht aufgehoben, aber auf Grundlage einer gründlichen Visitation durch eine eigenständige Verordnung ergänzt: die Reformatio Christiani.42 Neben konfessionspolitischen Regelun 39
Des Durchleuchtigsten […] Herrn Augusten […] Verordnung / Wie es in seiner Churf. G. beyden Vniuersiteten/ zu Leipzig und Wittenberg […] gehalten werden sol, S. CCCLXXXVIII. 40 Freilich war die Umsetzung dieser Anordnungen keineswegs flächendeckend erfolgreich. Vgl. GÖSSNER, ANDREAS: Die Studenten an der Universität Wittenberg. Studien zur Kulturgeschichte des studentischen Alltags und zum Stipendienwesen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Leipzig 2003, S. 116; RATAJSZCZAK, THERESA: Landesherrliche Bildungspolitik und bürgerliches Mäzenatentum. Das Stipendienwesen an der Universität Leipzig 1539–1580, Leipzig 2009, S. 84f. 41 FRIEDENSBURG, Urkundenbuch, Nr. 439, S. 543. 42 Ordnung für Wittenberg: FRIEDENSBURG, Urkundenbuch, Nr. 449, S. 555–568. Ordnung für Leipzig: Universitätsarchiv Leipzig, Rektor B 19: Reformatio Christiani 1588 (notariell beglaubigte Abschrift). Abschrift davon in: Universitätsarchiv Leipzig, Rektor B 3, Bl. 167r–203v. Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung, Ms 0271m, Bl. 15v– 30v.
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gen, wie der Abschaffung der Verpflichtung zur Eidesleistung auf die Konkordienformel sowie praktischen und organisatorischen Neuregelungen, die die universitäre Autonomie gegenüber dem Landesherrn stärkten, ging es vor allem um die Stellung Melanchthons. Das Ansehen des Reformators sollte erhöht werden. Deshalb wies der neue Kurfürst an, dass bei aller Kritik an Melanchthons Theologie persönliche Angriffe und Schmähungen künftig unterbleiben sollten.43 So geht die 1588 erlassene Ordnung für die Universität Wittenberg ausführlich darauf ein, dass in den zurückliegenden Jahren zwischen etzlichen theologen und andern professorn uber des herren Philippi sehligen nutzlichen scriptis zank und streit erreget […] dehero dan erfolget, daz man diese streit, ungeachtet das sie auf die canzel nicht gehörig, in vielen predigten gerüret, dieselben auch der jugend seltzam eingebildet, dadurch sie zu unruhe beweget.44 Diese Auseinandersetzungen sollten künftig verhindert werden, weil die gemeine Gottes [dadurch, T. T.] nicht erbauet / Sondern viel mehr zerstöret vnd zertrennet wirdt. Die Prediger sollen deshalb nicht Ihre eigene affect oder auch andere Händel, so in die Schule gehoren vff die Cantzel bringen.45 In dem der Theologischen Fakultät gewidmeten Abschnitt findet sich eine lange Passage, die sich mit Melanchthons Loci communes beschäftigt. Diese Schrift Melanchthons wurde in ihrer Bedeutung spürbar aufgewertet, im Falle Leipzigs sogar dem ersten Theologieprofessor zugewiesen und gleichberechtigt neben die Schriften Luthers gestellt. So heißt es in der Leipziger Verordnung: Dieweil wir aber vermargkt / Das die Loci communes Philippi Melanchthonis vnangesehen, das es in der neuen Ordnungen ausdrücklich bevohlen / bishero wenig gelesen worden / Vnnd solchs buch des Herren Doctoris Martini Lutheri zeugnuss nach eine vortrefflich vnd der gleichen werck ist als in Theologia bishero nicht viel geschrieben / So wollen vnd ordnen wir / das bemeltes buch hinfuro durch D: Zacharians Schiltern / oder weme wir es kunfftig son-
43
Zu den Reformbemühungen der Regierungszeit Christians I. siehe jetzt KUSCHE, SEBA»Konfessionalisierung und Hochschulverfassung. Zu den lutherischen Universitätsreformen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts«, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 13 / 2010, S. 27–44. Für die Universität Leipzig vgl. RUDERSDORF, MANFRED: »Weichenstellung für die Neuzeit. Die Universität Leipzig zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg 1539–1648/60«, in: Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit 1409–1830/31, Leipzig 2009, S. 331–515, hier S. 429–437. Zum Problemfeld Universität und Herrschaftswechsel TÖPFER, THOMAS, »Universitäten und Herrschaftswechsel. Beobachtungen zum Zusammenhang von dynastischer Konkurrenz, territorialer Politik und gelehrter Bildung in der Mitte des 16. Jahrhunderts«, in: Blanka Zilynská (Hrsg.), Universitäten, Landesherren und Landeskirchen. Das Kuttenberger Dekret von 1409 im Kontext der Epoche von der Gründung der Karlsuniversität 1348 bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555 (Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis, Tomus XLIX, Fasc. 2), Praha 2010, S. 205–217. 44 FRIEDENSBURG, Urkundenbuch, Nr. 449, S. 558f. 45 Universitätsarchiv Leipzig, Rektor B 19, Bl. 4r. STIAN:
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sten beuehlen möchten offendtlich / vnd derselben / nach rechtem verstande / wie es der Author selbst gemeint / vnd in seinen andern Büchern er leret / auch ohne einmischung der frembden ergerlichen streite expliciret / vnd solnsten in den Lectionibus vnd Disputationibus / die Lehrschriften Lutheri et Philippi vleissig inculciret / vnnd die Jugendt an des Herrenn Philippi art zureden gewonet werde. 46
Weitere wichtige Regelungen der Reformatio Christiani betrafen das Ordinationsexamen, das künftig wieder nach Melanchthons Anleitung durchgeführt werden sollte, sowie das Disputationswesen. Die Zahl der Disputationen wurde deutlich auf vier im Jahr verringert und grundsätzlich für alle Universitätsangehörigen geöffnet. Die Regelung von 1580, nach der Mitglieder der Philosophischen Fakultät von den theologischen Disputationen ausgeschlossen waren und philosophische Themen dort nichts zu suchen hatten, wurde also aufgehoben. Der Schriftwechsel zwischen den Universitäten und der Dresdner Regierung in den Monaten nach dem Erlaß der Reformatio Christiani zeigt, dass die erlassenen Regelungen auch zügig umgesetzt wurden. Melanchthon und seine Schriften erlangten auf diesem Wege jedenfalls normativ ihre einstige Bedeutung auch für die Theologie kurzzeitig zurück. Diese Bestrebungen richteten sich allerdings nicht nur gegen den seit der Vertreibung der Philippisten und der Neuausrichtung der Wittenberger Theologie vorherrschenden Geist der sich formierenden lutherischen Orthodoxie. Die Universitätsordnung von 1588 zeigt ebenso wie die zuvor durchgeführten Visitationen, dass Melanchthon und seinen Schriften noch aus einer ganz anderen Richtung Konkurrenz erwachsen war. So wurde festgestellt, dass an den Philosophischen Fakultäten sowohl in Wittenberg als auch in Leipzig etliche den Methodum Philippi Melanchthonis, vnd seine Dialecticam zu impugniren vnd darkegen des Rami Dialecticam vnd Methodum ein zufuren sich vnterstehen sollen. Diese verbreitete Wertschätzung des Petrus Ramus und seiner Schriften sei gegen die Scripta Aristotelis vnd Philippi die Statuta vnd der Methodus in legendo gerichtet. In der Reformatio Christiani wird diese Bevorzugung zwar kritisiert, aber nur zum Teil verboten. Die Ramisterij habe in publicis praelectionibus zwar nichts zu suchen, es sei aber gestattet, dass die Opponenten in Disputationibus aus des Rami buchern oder sonsten wieder die vorgegebenen Theses etwas vorbringen. Diese Pluralität der Lehrmittel und Autoren wurde mit Hinweis auf die ingenia der Studenten gerechtfertigt.47 46
Universitätsarchiv Leipzig, Rektor B 19, Bl. 4v. Universitätsarchiv Leipzig, Rektor B 19, Bl. 12r–v. Zur Konkurrenz zwischen den Werken Melanchthons und Ramus’ vgl. grundlegend FREEDMAN, JOSEPH S.: »Melanchthon’s Opinions of Ramus and the Utilization of Their Writings in Central Europe«, in: Mordechai Feingold / Joseph F. Freedman / Wolfgang Rother (Hrsg.), The Influence of Petrus Ramus. Studies in Sixteenth and Seventeenth Century Philosophy and Sciences, Basel 2001, S. 67– 91. Freedman bietet eine Reihe von Beispielen für die gemeinsame Benutzung der Werke beider Autoren: »In publications on grammar, rhetoric, and logic that arose from such in47
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Der überraschende Tod Kurfürst Christians I. 1591 beendete diese kurze Phase der Rückbesinnung auf Melanchthon und der damit einhergehenden vorsichtigen Öffnung und Pluralisierung der Lehrgrundlagen. Die für die unmündigen Söhne des Kurfürsten eingesetzte Administrationsregierung kehrte sofort zur lutherisch-orthodoxen Konfessionspolitik zurück. Dies betraf nicht nur die Dresdner Landesverwaltung, in der Verhaftungen vorgenommen wurden, sondern ebenso die Universitäten, an denen wiederum eine Entlassungswelle zu verzeichnen war, insbesondere an den Theologischen Fakultäten, aber auch unter den Professoren an den Philosophischen Fakultäten. Die Universitätsordnung von 1588 wurde in den die Lehre betreffenden Fragen aufgehoben und das alte Regelwerk von 1580 wieder eingesetzt. Als drängende Kraft erwiesen sich hier insbesondere die Landstände, denen die Rückkehr zum originalen Wittenberger Luthertum und die Bekämpfung auswärtiger Einflüsse auf die Lehre in Kursachsen ein besonderes Anliegen war.48 Die in den Folgejahren durchgeführten Visitationen zeigen, wie wirksam dieses Ziel erreicht wurde. Der Verdacht, sich dem Calvinismus anzunähern, genügte, um entlassen oder von der Universität vertrieben zu werden. Dies betraf einen erheblichen Teil der Lehrkräfte, aber auch Studenten.49 Die in der Universitätsordnung von 1588 vorsichtig vorgenommene Pluralisierung der Lehre, die sich in der Aufwertung Melanchthons und der bedingten Zulassung der Schriften des Petrus Ramus niederschlug, wurde abgebrochen. Nach der Visitation der Universität Leipzig 1602 berichtete die Kommission an den sächsischen Kurfürsten: Vor dieser Zeit ist ein Ramist und Calvinist des orts gewesen M. Camerus, der viel Zankes und unruhe unter den Professoribus und bey der ganzen universität angerichtet. Aber sind [seit T. T.] der hinweg ist, ist gott lob wieder die Ramisterey mit Wurzel und Stammen ausgerottet.50 structions, both Calvinist and Lutheran authors found it useful to utilize the writings of Melanchthon and Ramus in concert with one another« (S. 91). Allerdings erwiesen sich die Lehrbücher Melanchthons häufig gegenüber den Curricula der mitteleuropäischen Universitäten als passfähiger (S. 83–86). Generell zur Ausbreitung der ramistischen Schriften siehe HOTSON, HOWARD: Commonplace Learning. Ramism and its German Ramifications 1543–1630, Oxford 2007, hier speziell zum Verhältnis zwischen den Schriften Melanchthons und Ramus’ S. 56f., S. 102–112. 48 Vgl. KUSCHE, Lutherische Universitätsreformen, S. 36f. 49 So wurden im September 1592 in Wittenberg etwa 20 ungarische Studenten ausgewiesen, da sie »dem Calvinismus sonderlich verwandt sein sollen«. Zu den Entlassungen unter dem Hochschulpersonal vgl. RUDERSDORF, Weichenstellung für die Neuzeit, S. 437–440; KUSCHE, Lutherische Universitätsreformen, S. 36f. Eine detaillierte Untersuchung der Universitätspolitik während der sogenannten Kuradministrationszeit bietet demnächst die Dissertation von Sebastian Kusche, die am Historischen Seminar der Universität Leipzig kurz vor dem Abschluß steht. 50 Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftensammlung, Ms 0188 (olim 2143), (Acta Visitationis Lipsensis, Witebergensis academiarum) […], Anno MDCII, Bl. 19v.
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Vnnd solchs buch des Herren Doctoris Martini Lutheri zeugnuss nach eine vortrefflich vnd der gleichen werck ist als in Theologia bishero nicht viel geschrieben. Diese Charakterisierung der Loci Communes Philipp Melanchthons ist der Leipziger und Wittenberger Universitätsordnung des Jahres 1588 entnommen, deren wesentliche Intention die Restituierung Melanchthons als theologische Lehrautorität war. Die Argumente, mit denen die erneuerte Wertschätzung der Loci gerechtfertigt wurde, verdienen Beachtung. Als nach wie vor unübertroffen und unersetzlich werden die Loci des Wittenberger Reformators gepriesen und deren Auslegung und Vermittlung zu einer wesentlichen Aufgabe der akademischen Theologie erklärt. Dass dieses Ziel langfristig nicht erreicht wurde, lag an den veränderten konfessionspolitischen Rahmenbedingungen nach dem Herrschaftswechsel von 1591. Die an der Theologischen Fakultät verankerte lutherische Orthodoxie vermochte mit Unterstützung der Landesobrigkeit und insbesondere der Landstände ihre beherrschende Stellung nicht zuletzt gegenüber der niederen Philosophischen Fakultät zu zementieren. Melanchthons Loci communes verloren einerseits ihren Charakter als Bekenntnisschrift und als grundlegendes Kompendium der Wittenberger Theologie. Als Lehrwerk wurden sie allerdings auch an der Theologischen Fakultät weiter verwendet. Vor allem methodisch blieben die Loci richtungweisend und dienten als Vorlage für die wichtigen Lehrbücher des orthodoxen Luthertums. Hier ist vor allem auf Leonhard Hutters Compendium locorum theologicorum von 1610 hinzuweisen, dessen Index formal die Tradition der Loci weiterführte und in zentralen Fragen auch direkte Anleihen bei Melanchthon nahm.51 Während Melanchthon als theologische Autorität nach 1591 wieder rasch an Bedeutung verlor und seine Lehrbücher verdrängt wurden, hatten seine Loci als »Instrument der rationale[n] Erörterung theologischer Dogmen« weiterhin eine erhebliche methodische Vorbildwirkung.52
51 Siehe hierzu KOLB, ROBERT: »Melanchthonian Method as a Guide to Reading Confessions of Faith: The Index of the Book of Concord and Late Reformation Learning«, in: Church History 72 / 2003, S. 504–524, speziell zur Gestaltung des Index S. 522. 52 HAMMERSTEIN, Bildung und Wissenschaft, S. 48. Auch hier bestätigt sich der von Eike Wolgast für Heidelberg festgestellte Befund, dass die Konfessionalisierung nicht in jedem Fall dazu führte, bestimmte methodische Verfahren, Lehren oder Autoren auszuschließen. Vgl. WOLGAST, EIKE: »Geistiges Profil und politische Ziele des Heidelberger Späthumanismus«, in: Christoph Stroh / Joseph S. Freedman / Herman J. Selderhuis (Hrsg.), Späthumanismus und reformierte Konfession. Theologie, Jurisprudenz und Philosophie in Heidelberg an der Wende zum 17. Jahrhundert, Tübingen 2006, S. 1–25.
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Philipp Melanchthons ›Loci Communes‹
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Philipp Melanchthons ›Loci Communes‹
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Zum besseren vnd gründtlicheren verstandt des Catechismi Lutheri Das Kleine Corpus Doctrinae des Matthäus Judex Daniel Gehrt
I. Einleitung Die lutherische Reformation war anfänglich eine akademische Bewegung. Mit ihr ging eine tiefgreifende Reform der Theologie an der Universität einher, die entscheidende Impulse vom deutschen Frühhumanismus erhielt. Sich von der Scholastik abwendend, richteten der Wittenberger Theologieprofessor Martin Luther und seine Kollegen den Fokus der Soteriologie auf Christus. Die neue Lehre fand ihre systematische Darstellung bereits in den Loci communes rerum theologicarum seu Hypotyposes theologicae, die Philipp Melanchthon 1521 auf der Grundlage seiner Vorlesung zum Römerbrief veröffentlichte.1 Das Werk war in zweierlei Hinsicht bahnbrechend.2 Entsprechend dem reformatorischen Schriftprinzip, das die Bibel zur einzigen zuverlässigen Erkenntnisquelle der göttlichen Dinge erhob, verzichtete Melanchthon auf die gängige Praxis, Sentenzen der Kirchenväter und anderer Auslegungsautoritäten der Bibel zu kompilieren und zu kommentieren. Vielmehr beruhte seine Exegese unmittelbar auf der Heiligen Schrift. Innovativ war ebenfalls die Anwendung der aus der antiken Rhetorik stammenden Loci-Methode, um theologische Inhalte unter Schlüsselbegriffen zu erfassen. Unter dem Titel Loci communes theologici baute Melanchthon das Werk 1535 zu einer umfassenden Dogmatik aus und entwickelte sie bis 1559 zu den Loci praecipui
1 MELANCHTHON, PHILIPP: Loci communes 1521. Lateinisch – Deutsch, übersetzt und mit kommentierenden Anmerkungen versehen von Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh 21997. 2 Zum Diskurs der Forschung über die Deutung der Loci communes vgl. JUNGHANS, HELMAR: »Philipp Melanchthons Loci theologici und ihre Rezeption in deutschen Universitäten und Schulen«, in: Günther Wartenberg (Hrsg.), Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert. Tagung anlässlich seines 500. Geburtstages an der Universität Leipzig (= Herbergen der Christenheit, Sonderband 2), Leipzig 1999, S. 9–30, insbesondere S. 9–15.
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theologici weiter.3 Sie wurden zum bedeutendsten Lehrbuch für das Theologiestudium an den lutherischen Universitäten. Im Laufe der Reformation entstanden weitere neue Formen der systematischen Darstellung der Glaubenslehre wie etwa biblische Kommentarwerke und Kompendien, Katechismen und Bekenntnisschriften.4 Die Wittenberger Reformation war in ihrer Breitenwirkung viel mehr als ein rein akademisches Phänomen. Im Kern ging es Luther um das Seelenheil jedes Christen. Die Ansicht, dass das Elementarwissen über den Glauben heilsnotwendig sei, regte die Reformatoren an, neue pädagogische Konzepte, Institutionen und Lehrbücher für die religiöse Unterweisung der Kinder, Jugendlichen und Laien zu entwickeln. Als Reaktion auf Luthers Appell in der Vorrede zur Deutschen Messe und in seinen Katechismuspredigten war eine Vielzahl von entsprechenden Lehrbüchern erschienen, bevor Luther selbst seinen Großen und Kleinen Katechismus 1529 veröffentlichte.5 Luther knüpfte in Bezug auf den Lehrstoff größtenteils an die mittelalterliche Tradition der Katechese an. Dieser bestand seit dem Frühchristentum vorwiegend aus dem Credo und dem Vaterunser. Mit Einführung der jährlichen Kommunions- und Beichtpflicht durch einen Beschluss des Vierten Laterankonzils 1215 wurde auch der Dekalog zum zentralen Bestandteil. Luther ergänzte diesen Lehrkanon für den nachzuholenden Taufunterricht mit Erläuterungen zu den Sakramenten, schloss aber zugleich das im Spätmittelalter hinzugekommene Ave Maria aus. Da am Anfang des 16. Jahrhunderts der Kenntnisstand der Katechismusstoffe sowohl bei Laien als auch bei Klerikern desolat war, förderten die Wittenberger Reformatoren die Benutzung des Katechismus für die religiöse Erziehung durch Hausväter, Schullehrer und Geistliche. Er diente zudem als Lehrbuch für das Selbststudium der unzulänglich gebildeten Pfarrer bzw. derjenigen, die mit der lutherischen Theologie nur wenig oder gar nicht in Berührung gekommen waren. Der Kleine Katechismus wurde rasch zur Norm der religiösen Unterweisung in den lutherischen Häusern, Schulen und Kirchen. Die Anzahl und Vielfalt der evangelischen Katechismen, die sich in der Folgezeit an das Vorbild Luthers anlehnten oder wesentliche Ergänzungen dazu boten, ist enorm. Doch genoss kaum ein katechetisches Werk in der zweiten Hälfe des 16. und im gesamten 17. Jahrhundert eine so breite Wir 3
Druck beider Fassungen: CR, Bd. 21, Sp. 331–560, 561–1106. FILSER, HUBERT: Dogma, Dogmen, Dogmatik. Eine Untersuchung zur Begründung und zur Entstehungsgeschichte einer theologischen Disziplin von der Reformation bis zur Spätaufklärung (= Studien zur systematischen Theologie und Ethik, 28), München 2000, S. 168– 170. 5 Vgl. BRECHT, MARTIN: Martin Luther, Bd. 2. Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, S. 267–273; FRAAS, HANS-JÜRGEN: Katechismustradition. Luthers kleiner Katechismus in Kirche und Schule (= Arbeiten zur Pastoraltheologie, 7), Göttingen 1971, S. 11–18. 4
Das ›Kleine Corpus Doctrinae‹ des Matthäus Judex
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kung wie das erstmals 1564 erschienene Kleine Corpus Doctrinae des Dogmatikers und Kirchenhistorikers Matthäus Judex. Wie der Kleine Katechismus war es für den Elementarunterricht bestimmt. Judex vermittelte jedoch die theologischen Inhalte nicht auf der Grundlage von Credo, Vaterunser und Dekalog, sondern analog zu Melanchthons Loci communes theologici nach Sachverhalten. Das Kleine Corpus Doctrinae erlebte insgesamt mehr als hundert Ausgaben bzw. Auflagen in mehreren mittel- und nordeuropäischen Sprachen. Die hochdeutsche Urfassung wurde in den niederdeutschen Dialekt, die Vernakularsprachen Niederländisch, Schwedisch, Finnisch und Estnisch, die Gelehrtensprache Latein und die biblischen Sprachen Griechisch und Hebräisch übertragen. Sein breiter Wirkungsraum umfasste schließlich auch eine reformierte Gemeinde in der Neuen Welt. Trotz der imponierenden Anzahl der Ausgaben gelten viele überlieferte Exemplare dieser kleinformatigen Gebrauchsliteratur als Raritäten. Die Existenz einiger Auflagen ist lediglich durch Hinweise in zeitgenössischen Quellen oder in der älteren Forschungsliteratur bekannt. Erst in jüngster Zeit wurde ein Exemplar der Erstausgabe nachgewiesen, die mehrere Jahrhunderte lang als unauffindbar galt.6 Zum Entstehungskontext des Kleinen Corpus Doctrinae ist die von Andreas Schoppe7 verfasste Rede über das Leben und Werk des Judex grundlegend. Sie wurde im Jahre 1578 im Anhang eines Kommentars zu Judex’ Sonn- und Festtagspredigttexten veröffentlicht, den seine beiden Söhne Matthäus d. J. und Johannes nach seinem Tod herausgegeben hatten.8 Durch die Heirat mit Judex’ Witwe Anna konnte Schoppe sowohl auf den schriftlichen Nachlass seines Vorgängers als auch auf die Erinnerungen seiner Frau und ihrer Söhne zurückgreifen. Aufschluss über die Entstehung, Rezeption und sich wandelnde Gestalt des Kleinen Corpus Doctrinae geben Vorreden zu den Ausgaben, die Caspar Melissander 1590, Graf Johann VII. von Oldenburg 1599, Johannes Judex 1616 und Johann Bellin 1660 herausgaben. Die erste historiographische Darstellung des Kleinen Corpus Doctrinae ist Teil der mit dem Frühchristentum beginnenden Historiae Catecheticae des Stralsunder Superintendenten Gregor Langemack von 1740.9 Bis ins frühe 19. 6
Siehe Anhang Nr. 1. Zu seiner Biographie vgl. JACOBS, EDUARD: »Schoppe: M. Andreas (Schoppe)«, in: Allgemeine Deutsche Biographie 32 / 1891, S. 369–372. 8 SCHOPPE, ANDREAS: »ORATIO DE VITA M. MATTHÆI IVDICIS […]«, in: Matthäus Judex, EPISTOLARVM FESTIVALIVM, QUÆ IN PRÆCIPVIS SANCTORVM FERIIS A DOMINICA TRINITAtis usque ad primam Dominicam Adventus, Ecclesiæ proponi solent. Explicatio […], Eisleben: Andreas Petri und Matthäus Gisecke, [1578], Bl. l8r–n8v (VD 16 R 2244). Druck: Thomae Crenii Animadversionum Philologicarum et Historicarum Pars VI. […], 1620, S. 48–74. 9 LANGEMACK, GREGOR: […] Historiæ Catecheticæ oder gesammleter Nachrichten zu einer catechetischen Historie, dritter Theil. Worin die andere Helffte von denen Catechismis 7
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Jahrhundert hinein finden sich kleine Beiträge zu diesem Werk in verschiedenen allgemeinen und theologischen Literaturberichten.10 Moderne Studien beleuchten das Kleine Corpus Doctrinae vor allem unter Aspekten der Druckund niederdeutschen Sprachgeschichte. Der Mecklenburger Germanist Carl Michael Wiechmann publizierte 1865 ein Faksimile des ersten niederdeutschen Drucks11 und führte mehrere Textvarianten anderer Ausgaben an.12 Im Nachwort wies er den schulischen Gebrauch des Lehrbuchs vor allem im Herzogtum Mecklenburg, aber auch in Pommern, Preußen, Livland, Erfurt und in der Grafschaft Isenburg nach. Zum Schluss erstellte Wiechmann eine Bibliographie der ihm bekannten Ausgaben des Kleinen Corpus Doctrinae mit zum Teil detaillierten Inhaltsangaben. 1911 gab Johannes Wilhelm Pont eine Edition der ersten niederländischen Ausgabe von 1564 mit einer Einleitung heraus.13 1927 ergänzte Johann Michael Reu sowohl bibliographisch als auch wirkungsgeschichtlich Wiechmanns grundlegende Studie in seinem groß angelegten Editionswerk Quellen zur Geschichte des Katechismusunterrichts.14 Die letzte Publikation zum Kleinen Corpus Doctrinae erschien 1970.15 Der Direktor der Landesbibliothek Oldenburg Armin Dietzel gab ein Faksimile der niederdeutschen Ausgabe von 1599 heraus, die mit dem Kleinen Katechismus gedruckt worden war. Als der erste, aus einer Oldenburger Offizin stammende Druck ist die Schrift von besonderem bibliophilen und lokalhistorischen Interesse. In einem Nachwort fasste Dietzel den Forschungsstand un der Lehrer unserer Evangelischen Lutherischen Kirchen fortgesetzet wird, nebst andern hieher gehörigen Materien […], Stralsund 1740, S. 39–45. 10 BAUER, JOHANN JACOB: Bibliotheca librorum rariorum universalis […], Supplementband 2, Nürnberg 1774, S. 164; BAUMGARTEN, SIEGMUND JAKOB: Nachrichten von merkwürdigen Büchern, Bd. 4, Halle 1753, S. 19; WALCH, JOHANN GEORG: Bibliotheca Theologica Selecta Litterariis Adnotationibus, Tomus Primus, Jena 1757, S. 464f.; MANTZEL, ERNST JOHANN FRIEDRICH: Die bützowschen Ruhestunden, Tl. 3, Bützow 1761, S. 71–75; FEUERLEIN, JAKOB WILHELM: Bibliotheca symbolica evangelica Lutherana, Bd. 1, Nürnberg 1768, S. 376; KOPPE, JOHANN CHRISTIAN: Wissenschaftliches Jahrbuch der Herzogthümer Mecklenburg, Rostock 1808, Intelligenzblatt, Nr. 4, S. 14; VEESENMEYER, GEORG: Literarisch-bibliographische Nachrichten von einigen evangelischen catechetischen Schriften, Ulm 1830, S. 159. 11 KCD, Rostock 1565 (VD 16 R 2265). 12 JUDEX, MATTHÄUS: Das Kleine Corpus Doctrinae von Matthäus Judex. Ein Katechismus aus Meklenburg. Nach der Rostocker Ausgabe von 1565. Carl Michael Wiechmann (Hrsg.), Schwerin 1865. 13 PONT, JOHANNES WILHELM: »Het kleine Corpus Doctrinae van D. Mattheus Judex«, in: Nieuwe Bijdragen tot Kennis van de Geschiedenis en het wezen van het Lutheranisme in de Nederlande 4 / 1911, S. 1–47. 14 Vgl. Quellen zur Geschichte des Katechismus-Unterrichts. Dritter Teil: Ost-, Nord- und Westdeutsche Katechismen, Erste Abteilung. Historisch-bibliographische Einleitung, Erste Hälfte. Johann Michael Reu (Hrsg.), Gütersloh 1927, S. 444–472. Edition der niederdeutschen Ausgabe von 1565 in: ebd., Zweite Abteilung. Texte, Gütersloh 1916, S. 349–364. 15 LUTHER, MARTIN: De Klene Catechismus. Armin Dietzel (Hrsg.), Oldenburg 1970.
Das ›Kleine Corpus Doctrinae‹ des Matthäus Judex
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ter besonderer Berücksichtigung von Ludwig Schauenburgs Oldenburger Kirchengeschichte von 1897 zusammen.16 Anhand neu erschlossener Quellen17 und durch einen geschärften Blick auf kirchenhistorische Aspekte und Beziehungsnetze lässt sich die Entstehung, konfessionspolitische Brisanz und Rezeption des Kleinen Corpus Doctrinae im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts neu beleuchten. Zu diesem Zweck werden zunächst die geistigen Wurzeln in früheren Werken des Judex gesucht. Die anschließende Darstellung der Erstausgabe und der Vergleich mit frühen Varianten ermöglichen es, Fragen zu den inhaltlichen Besonderheiten, zur ursprünglichen Intention des Autors sowie zur Verfasserschaft einzelner Teile nachzugehen. Schließlich werden die Kommunikationslinien und -netzwerke rekonstruiert sowie die kirchenpolitischen Bedingungen erörtert, die die Verbreitung des Kleinen Corpus Doctrinae in den Schulen und Kirchen förderten. Während sich die bisherige Forschung auf die Rezeption im norddeutschen Raum konzentriert hat, liegt der geographische Schwerpunkt dieser Studie auf Mitteldeutschland.
II. Die geistigen Wurzeln Die geistigen Wurzeln des Kleinen Corpus Doctrinae, das Judex wenige Monate vor seinem Tod veröffentlichte, sind in seiner frühen Wirkungsstätte, der Reichsstadt Magdeburg, zu suchen. Geboren 1528 als Matthias bzw. Matthäus Richter in der Stadt Dippoldiswalde im albertinischen Sachsen, besuchte er Schulen in Dresden, Wittenberg und Magdeburg.18 Zwei Monate nach dem
16 SCHAUENBURG, LUDWIG: Hundert Jahre Oldenburgischer Kirchengeschichte von Hamelmann bis auf Cadovius (1573–1667). Ein Beitrag zur Kirchen- und Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts, Bd. 2, Oldenburg 1897. 17 Siehe Anhänge. 18 Die oben erwähnte Rede von Andreas Schoppe über Judex bildete die Grundlage für alle späteren Lebensskizzen. Judex wird zusammen mit anderen Jenaer Professoren behandelt in: BEIER, ADRIAN: Syllabus rectorum et professorum Jenae in studio generali: judicium in judicio provinciali: ordinariorum in facultate juridicia: pastorum & diaconorum in templo […], [Jena] 1659, S. 459f.; ZEUMER, JOHANN KASPAR: Vitae professorum theolog. omnium, qui in illustri Academia Ienensi ab ipsius fundatione ad nostra usque tempora vixerunt […], Jena [nach 1700], S. 57–60; STRUBBERG, JOHANN ANTON: Series professorum theologiae, qui in illustri acad. Jenensi ab illius fundatione ad nostra usque tempora vixerunt et adhuc vivunt, Jena 1720, S. 15; GÜNTHER, JOHANNES: Lebensskizzen der Professoren der Universität Jena seit 1558 bis 1858. Eine Festgabe zur dreihundertjährigen Säcularfeier der Universität am 15., 16. und 17. August 1858, Jena 1858, S. 10; HEUSSI, KARL: Geschichte der Theologischen Fakultät zu Jena, Weimar 1954, S. 48f. Zudem wurde Judex in die einschlägigen Nachschlagewerke aufgenommen: »Judex, oder Richter, (Matthaeus)«, in: Allgemeines Gelehrten-Lexicon […], Tl. 2. Christian Gottlieb Jöcher (Hrsg.), Leipzig 1750, Sp. 2009f.; KÜLB, PHILIPP HEDWIG, »Judex, Matthäus«, in: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste,
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Tod Martin Luthers am 18. Februar 1546 wurde er an der Leucorea in Wittenberg immatrikuliert.19 Sein ursprünglich auf die Jurisprudenz und später gleichzeitig auf die Theologie hin orientiertes Studium musste er infolge des Schmalkaldischen Krieges 1546/47 unterbrechen. Dennoch gelang es dem intellektuell begabten, aber lebenslang kränklichen jungen Gelehrten im Alter von 21 Jahren am 15. Oktober 1549 den Magistergrad zu erlangen.20 Bis Ostern 1554 war er als Konrektor am Ratsgymnasium und anschließend als Diakon an der Ulrichskirche in Magdeburg tätig. Spätestens in dieser Zeit kam Judex in engen Kontakt mit den sich um Matthias Flacius scharenden Theologen der Stadt. In diesem Kreis entfaltete er sein kirchenhistorisches und dogmatisches Interesse. Zugleich wurde diese Gruppe prägend für seine theologische Orientierung in der Autoritäts- und Identitätskrise des Luthertums seit Ende der 1540er Jahre. Nach dem Schmalkaldischen Krieg war Magdeburg die letzte Bastion des Schmalkaldischen Bundes. Die zwischen 1547 und 1551 unter der Reichsacht stehende Elbestadt wurde in diesen Jahren zum Refugium mehrerer Kritiker des so genannten »Augsburger Interims«. Nachdem Kaiser Karl V. durch den Krieg in seiner Machtposition erheblich gestärkt worden war, wollte er mit Hilfe dieses Gesetzes eine modifizierte Rekatholisierung der evangelischen Städte und Territorien durchsetzen. Die Magdeburger Theologen publizierten zahllose Flugschriften nicht nur gegen das kaiserliche, sondern insbesondere gegen das so genannte »Leipziger Interim«.21 Diese polemische Bezeichnung Sect. 2, 27 / 1850, S. 347–349; FRANK, GUSTAV: »Judex, Matthäus«, in: Allgemeine Deutsche Biographie 14 / 1881, S. 655; JUNGHANS, HELMAR: »Judex, Matthias«, in: Neue Deutsche Biographie 10 / 1974, S. 639; TENBERG, REINHARD: »Judex, Matthäus«, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 3 / 1992, Sp. 770f.; KOCH, ERNST: »Judex (Richter), Matthäus«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 44 / 2001, Sp. 643. Einige Studien über die Magdeburger Zenturien leisten wesentliche Beiträge zum Leben und Wirken des Judex: SCHAUMKELL, ERNST LUDWIG AUGUST KARL: Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Magdeburger Centurien, Ludwigslust 1898, S. 46–58; SCHEIBLE, HEINZ: Die Entstehung der Magdeburger Zenturien, Gütersloh 1966, S. 50–58; DIENER, RONALD ERNST: The Magdeburg Centuries: A bibliothecal and Historiographical Analysis, theol. Dissertation, Harvard University, 1978, S. 9–12, 206–257 passim. 19 Judex wurde als »Mathias Richter Dippolswalden« immatrikuliert. Vgl. Album Academiae Vitenbergensis ab A. Ch. MDII usque MDCII, Bd. 1. Karl Eduard Förstemann (Hrsg.), Leipzig 1841, S. 230. 20 Vgl. Die Baccalaurei und Magistri der Wittenberger Philosophischen Facultät 1548– 1560 und die öffentlichen Disputationen derselben Jahre aus der Facultätsmatrikel. Julius Köstlin (Hrsg.), Halle 1891, S. 9. Judex wurde von der Graduierungsgebühr befreit: »M. Gratis M. Matthäus Richter Typpolswaldensis«. Von einer späteren Hand aus den 1570er Jahren wird Judex am Rande der Fakultätsmatrikel als »Flacianus insignis« bezeichnet. 21 Vgl. MORITZ, ANJA: Interim und Apokalypse. Die religiösen Vereinheitlichungsversuche Karls V. im Spiegel der magdeburgischen Publizistik 1548–1551/52 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 47), Tübingen 2009.
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bezog sich auf die Leipziger Landtagsvorlage vom Dezember 1548,22 die Bestandteil der Hinhaltepolitik des neuen albertinischen Kurfürsten Moritz von Sachsen gegenüber dem Kaiser war.23 Das Dokument stellte einen Alternativvorschlag zum kaiserlichen Religionsgesetz dar. Es war seinem dogmatischen Gehalt nach protestantischen Grundsätzen verpflichtet, kam in liturgischen Fragen jedoch katholischen Vorstellungen sehr nahe. Die demonstrative Verhandlungsbereitschaft des Kurfürsten wurde theologisch legitimiert, indem Philipp Melanchthon und andere albertinische Theologen zahlreiche römischkatholische Zeremonien und Bräuche den Adiaphora, d.h. soteriologisch irrelevanten Mitteldingen zuordneten. Nikolaus von Amsdorf, Matthias Flacius und andere Kritiker sahen in dieser Religionspolitik dagegen einen Verrat des Evangeliums und den Beginn einer Rekatholisierung. Dem Streit um die Adiaphora folgten mehrere innerlutherische Lehrkonflikte über die zentralen Fragen der Rechtfertigung des Menschen vor Gott und zu den Sakramenten. Dabei bildeten sich zwei Hauptströmungen heraus, die in der protestantischen Theologie- und Kirchengeschichtsschreibung häufig als »Gnesiolutheraner« und »Philippisten« bezeichnet werden. Vertreter der ersten Gruppe, denen die Magdeburger Theologen zugeordnet werden, gelten als treue Schüler Luthers, die sich besonders für die Bewahrung von dessen theologischem Erbe engagierten. Die »Philippisten« hingegen sollen sich stärker an Melanchthon orientiert haben. Beide Zuschreibungen konstituieren keine in sich geschlossenen Gruppen, und die Grenzen zwischen ihnen erweisen sich bei mehreren spätreformatorischen Theologen als fließend.24 Die Übernahme des Diakonats an der Ulrichskirche markierte für Judex den Beginn einer langjährigen engen Zusammenarbeit mit dem dortigen Pfarrer Johann Wigand.25 Beide bildeten ein außerordentlich produktives Gespann, was sich insbesondere durch eine Reihe gemeinsamer Publikationen 22
Landtagsvorlage von Kurfürst Moritz, präsentiert am 21. Dezember 1548 in Leipzig. Druck: PKMS 4, Nr. 212, S. 254–260 = CR 7, Nr. 4409, Sp. 215–221 = MBW, Nr. 5359. 23 Vgl. WARTENBERG, GÜNTHER: »Philipp Melanchthon und die sächsisch-albertinische Interimspolitik«, in: Lutherjahrbuch 55 / 1988, S. 60–82, hier S. 70; ISSLEIB, SIMON: »Das Interim in Sachsen 1548–1552«, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 15 / 1894, S. 193–226. 24 Vgl. KELLER, RUDOLF: »Gnesiolutheraner«, in: Theologische Realenzyklopädie 13 / 1984, S. 512–519; KOCH, ERNST: »Der kursächsische Philippismus und seine Krise in den 1560er und 1570er Jahren«, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der »Zweiten Reformation« (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 195), Gütersloh 1986, S. 60–77, hier S. 66. 25 Zu seiner Biographie vgl. BRUNNERS, MICHAEL: »Johann Wigand (1523–1587), lutherischer Geistlicher und Gelehrter in Wismar von 1562–1568 – ein Homo Universalis – Hauptautor der Centurien«, in: Eckhart W. Peters (Hrsg.), Die Magdeburger Centurien. Bd. 1: Die Kirchengeschichtsschreibung des Flacius Illyricus, Dößel 2007, S. 91–108; KAWERAU, GUSTAV: »Wigand, Johann«, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 21, Leipzig 31908, S. 270–274.
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zeigte. Von den so genannten Magdeburger Zenturien und einem daraus hervorgegangenen theologischen Kompendium des neuen Testaments ist aus methodischer und inhaltlicher Sicht eine Verbindungslinie zum Kleinen Corpus Doctrinae zu ziehen. In dem spätestens seit Dezember 1554 zusammenwirkenden Arbeitskreis zur Verwirklichung der von Flacius initiierten und konzipierten Kirchengeschichte waren Wigand und Judex die Hauptverfasser. Die Magdeburger Zenturien sollten vor dem Hintergrund des vermeintlichen Ab- und Verfalls der römisch-katholischen Kirche eine Traditionskette der »Wahrheitszeugen« von Christus bis Luther vorführen. Sie stellten die erste monumentale Kirchengeschichte aus der Sicht der lutherischen Konfessionskirche dar. Entsprechend der humanistischen Loci-Methode, die Melanchthon den Mitarbeitern des Geschichtswerkes als ehemaligen Wittenberger Studenten vermittelt hatte, wurde die Kirchengeschichte in Jahrhunderte unterteilt und jede Zenturie grundsätzlich in 16 Loci gegliedert. Der vierte Abschnitt thematisierte den jeweiligen Zustand der Kirchenlehre. Theologische Zeugnisse aus der Vergangenheit wurden in Leitsätze abstrahiert und nach vorgegebenen Loci geordnet. Die Grundlage für den vierten Abschnitt der apostolischen Zeit bildete das Σύνταγμα, seu Corpus doctrinae Christi, ex novo Testamento. Wigand und Judex hatten diese Schrift 1558 veröffentlicht und brachten sie 1560 in einer erweiterten Zweitauflage bei Johannes Oporinus in Basel heraus.26 1559 wurde dieses dogmatische Kompendium in das vierte Kapitel der ersten und zweiten Hälfte der ersten Zenturie aufgenommen. Biblisch-theologisch vorgehend und auf philosophische Argumentation verzichtend, die Melanchthons Loci communes theologici prägte, ordneten sie Beweisstellen im ersten Teil aus den Evangelien und im zweiten Teil aus den übrigen neutestamentlichen Büchern einer eigenen theologischen Systematik zu. Analog zu Melanchthons analytischer Herangehensweise definierten sie den Sachverhalt der einzelnen Kategorien weiter mit Hilfe der aristotelischen Dialektik. Ihre Systematik war jedoch formal unabhängig von den durch Melanchthon 1521 bzw. 1535 eingeführten Loci. Durch ihre Dogmatik untermauerten Wigand und Judex ihre streng an Luther ausgerichtete Theologie und bibliozentrische Hermeneutik in bewusster Abgrenzung gegenüber einigen theologischen Akzentuierungen
26 Zu diesem Werk vgl. KOLB, ROBERT: »The Advance of Dialectic in Lutheran Theology: The Role of Johannes Wigand (1532–1587)«, in: Jerome Friedman (Hrsg.), Regnum, Religio et Ratio. Essays Presented to Robert M. Kingdon, Kirksville / Missouri 1987, S. 93–102, hier S. 96, 99–101. Nachdruck: DERS.: Luther’s Heirs Define His Legacy. Studies on Lutheran Confessionalization, Great Yarmouth / Norfolk 1996, Nr. XVI; RITSCHL, OTTO: Dogmengeschichte des Protestantismus. Grundlagen und Grundzüge der theologischen Gedanken- und Lehrbildung in den protestantischen Kirchen, Bd. 1. Prolegomena, Biblicismus und Traditionalismus in der altprotestantischen Theologie, Leipzig 1908, S. 133–141.
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Melanchthons.27 Als Verfasser des Syntagma gelten Wigand und Judex als die beiden bedeutendsten Dogmatiker der zweiten Generation der Wittenberger Reformation neben Nikolaus Selnecker und Martin Chemnitz.28 Im April 1560 folgten Wigand und Judex Berufungen als Theologieprofessoren nach Jena, wo Flacius bereits seit 1557 tätig war. Im gleichen Jahr gerieten sie in Streit mit Herzog Johann Friedrich II. von Sachsen um Kompetenzbereiche innerhalb des landesherrlichen Kirchenregiments.29 Judex wurde im Oktober 1561 entlassen, weil er seine aufrührerische Schrift Der Ewigen/ Allmechtigen Göttlichenn Mayest. Mandat/ vnd ernstlicher Befelch/ wes sich ein yeder Christ/ nach seinem beruff vnnd stande/ gegen dem offenbarten Antichrist/ das gantze Babstumb/ halten solle,30 die die bestehende bikonfessionelle Parität im Reich konterkarierte, außerhalb des Herzogtums ohne Vorzensur veröffentlicht hatte. Ende des Jahres wurden auch Flacius und Wigand ihrer Ämter enthoben. Bis zu seinem Lebensende fand Judex keine weitere dauerhafte Anstellung. Er folgte Wigand nach Wismar, wo dieser am Michaelistag 1562 das Amt des Superintendenten antrat. In Wismar wurde der größte Teil der Magdeburger Zenturien verfasst, jedoch nur eineinhalb Jahre lang mit der Unterstützung des Judex. Der 35jährige Theologe starb bereits am 15. Mai 1564 während eines Aufenthalts an der Universität Rostock.
III. Die Erstausgabe Den unmittelbaren Entstehungskontext des Kleinen Corpus Doctrinae bildete die Hausandachtspraxis der Familie Judex in Wismar 1563.31 Als der erstgeborene Sohn, Matthäus d. J., das siebte Lebensjahr erreicht hatte, wurde das Auswendiglernen der Fragen, Antworten und Erläuterungen im Kleinen Katechismus ein zentraler Bestandteil seiner religiösen Erziehung. In Ergänzung 27
Vgl. ebd., S. 134. Das Syntagma wird von Ritschl als »die erste orthodoxe lutherische Dogmatik« und von Scheible als die erste neutestamentliche Dogmatik bezeichnet. Vgl. ebd., S. 133; SCHEIBLE, Die Entstehung, S. 52. 29 Vgl. GEHRT, DANIEL: Ernestinische Konfessionspolitik. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung und dynastische Identitätsstiftung vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577 (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 34), Leipzig 2011, S. 165–176, 195–212. 30 JUDEX, MATTHÄUS: Der Ewigen/ Allmechtigen Göttlichenn Mayest. Mandat/ vñ ernstlicher befelch/ wes sich ein yeder Christ/ nach seinem berůff vnnd stande/ gegen dem offenbarten Antichrist/ das gantze Babstumb/ halten solle/ widerholet vnd erkleret/ […], s.l. 1561 (VD 16 R 2246). 31 Vgl. SCHOPPE, »Oratio«, Bl. m8r. Zum Entstehungsort vgl. die Vorrede von Johannes Judex in: KCD, Leipzig 1616 (VD 17 23:665501W). 28
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dazu formulierte Judex kurze Definitionen der Hauptartikel der Heiligen Schrift, die sein Sohn beim Tisch zu rezitieren hatte. Der Vater führte sowohl prägnante Bibelstellen an, von denen die Definitionen abgeleitet wurden, als auch die entsprechenden Stellen im Kleinen Katechismus. Judex schrieb diesen ergänzenden Lehrstoff für die Katechese seines Sohnes in Form von Fragen und Antworten nieder. Noch vor der Drucklegung ließ Judex entweder sein eigenes Manuskript oder Abschriften davon zirkulieren.32 Das Druckmanuskript ist nicht überliefert. Aus einem Brief von Andreas Schoppe, der den Nachlass des Judex verwaltete, geht jedoch hervor, dass das Autograph einige Veränderungen von der Hand des Andreas Corvinus enthielt, der auch an den Magdeburger Zenturien mitgearbeitet hatte.33 Johann Wigand hatte seinen Schwager Corvinus 1564 für das Unternehmen nach Wismar geholt. Demzufolge ist das Kleine Corpus Doctrinae in seiner Endform wie viele frühere Werke des Judex als Produkt der engen Zusammenarbeit innerhalb des Projektkreises anzusehen. Das Kleine Corpus Doctrinae wurde bei dem Rostocker Drucker Stephan Möllemann auf 28 Blättern im Oktavformat publiziert.34 Judex hatte es am 25. Dezember 1563 den jungen Söhnen Herzog Johann Albrechts I. von Mecklenburg, Johannes d. J. und Sigismund Augustus, gewidmet. Der Hauptteil des Werkes gliedert die christliche Lehre nach der Loci-Methode in 29 Artikel, beginnend mit dem Gottesbegriff und endend mit der Eschatologie. Der Lernstoff wurde in Form von Antworten auf Fragen und Imperative formuliert. Zum Beispiel lautet der relativ lange Artikel über die Sünde folgendermaßen: Was ist die Sünde? Antwort. Die Sünde ist die vertorbene natur/ vnd alles/ was wir gedencken vnd thun/ das wider Gottes gebot ist/ verdienet Gottes zorn/ vnd ewige straffe/ wo sie nicht vergeben wirt. Sage einen Spruch dauon. 1. Johan: 3. Die Sünde ist was wider Gottes gebot ist. Vnd Ephe: 2. Wir waren von natur Kinder des zorns. Wie vielerley ist die Sünde? Antwort. Zweierley. Die Erbsünde/ vnd Wirckliche sünde. Was ist die Erbsünde? Antwort. Die Erbsünde ist die verderbung vnd verunreinung der natur/ darin wir von Adam her empfangen vnd geboren sind/ daraus alle sünde fliessen/ darumb vns Gott verwirfft vnd verdampt/ wo wir nicht durchs wort vnd den Geist wider new geboren werden. Sage einen Spruch dauon. Psal: 51. Sihe ich bin aus sündlichem samen gezeuget/ vnd meine Mutter hat mich in sünden empfangen. Was ist Wirckliche sünde?
32
Vgl. KCD, Rostock 1564 (VD 16 ZV 13254), Bl. A2v. Siehe Edition im Anhang Nr. 3. 34 Siehe Anhang Nr. 1. 33
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Antwort. Wirckliche sünde/ ist alles was wir gedencken/ rethen/ vnd thun/ das wider Gottes gebot ist. Wie werden die Wircklichen sünden vnterschieden? Antwort. Jn verdamliche/ vnd vnuerdamliche sünden. Was sind die verdamliche sünden? Antwort. Die verdamliche Sünden sindt alle sünden/ so in den Gottlosen/ vnd vngleubigen befunden werden. Was sind die vnuerdamliche sünden? Antwort. Vnuerdamliche Sünden sind in den Gleubigen die gebrechligkeiten/ welchen sie widerstehen im glauben/ vnd im teglichen gebet/ Vergib vns vnser schult/ Gott abbitten. Woraus erkennet man die sünde? Antwort. Aus den Zehen Gebotten/ die man nennet das Gesetz. Sage einen Spruch dauon. Roma: 3. Das Gesetz ist ein erkentnus der Sünde.35
Der Aufbau des Kleinen Corpus Doctrinae entspricht im Wesentlichen der thematischen Gliederung des Syntagma. Allerdings fehlen unter anderem die Artikel über die Verbalinspiration und Menschentradition, die Prädestination und die Wunder. Aufgrund der Übereinstimmungen lässt sich feststellen, dass sowohl Wigand als auch Judex jeweils ein Lehrbuch verfassten, um Inhalte ihrer Dogmatik auch für Schüler zugänglich zu machen. Denn bereits 1557 hatte Wigand im Zusammenhang mit dem Syntagma seinen Methodus oder Heuptartikel Christlicher Lere zunächst auf Deutsch und dann in Latein für die höheren Klassen veröffentlicht.36 Das Kleine Corpus Doctrinae entstand als Pendant dazu für die unteren Unterrichtsstufen. Die augenfällige Komplementarität beider Werke ist ein Indiz dafür, dass Judex’ Schrift von Anfang an Teil eines größeren pädagogischen Konzepts für den Religionsunterricht der Laien und der heranzubildenden Geistlichen war. An den Hauptteil des Kleinen Corpus Doctrinae schließen sich zwölf Fragen zum Zweck und Nutzen des Lehrbuchs an. Die erste Frage und Antwort lauten: Wor zu dienet diese Lehr? Antwort. Zum ersten/ Das wir die fürnemesten stück der Christlichen lere wissen/ vnd mit glauben annemen vnd selig werden. Zum andern/ Das wir alle falsche Lere können vrtheilen vnd fliehen. Zum dritten/ das wir vns in vnserm gantzen leben darnach richten.37
Die zehn folgenden Fragen beschäftigten sich mit dem zweiten Punkt und zwar mit der Ablehnung der Religionen des Judaismus und Islam, der Abgrenzung von der römisch-katholischen und der calvinistischen bzw. reformierten Konfessionskirche sowie der Verurteilung von verschiedenen religiösen Randgruppen und mehreren theologischen Richtungen innerhalb des Lu 35 36
KCD, Rostock 1564, Bl. A6r–A7v (VD 16 ZV 13254). VD 16 W 2798–2805. Zu diesem Werk vgl. KOLB, »The Advance of Dialectic«, S. 99–
101. 37
KCD, Rostock 1564, Bl. C2v (VD 16 ZV 13254).
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thertums, die nach dem Augsburger Interim entstanden waren. Sie werden entsprechend der zeitgenössischen Polemik als Juden, Türken, Papisten, Sakramentierer, Wiedertäufer, Adiaphoristen, Majoristen, Synergisten, Osiandristen und Antinomisten bezeichnet. Bei diesen Etiketten handelt es sich nicht um Eigenbezeichnungen, sondern um konstruierte Gruppen, die in der verzerrten und überspitzten Form, in der die theologischen Positionen dargelegt werden, nie existierten. Die zehn Fragen dienten dazu, bei den Lernenden eine lutherische Identität mit innerkonfessionellen Differenzierungen zu stiften und zugleich – um die Wortwahl in Judex’ Schrift Der Ewigen/ Allmechtigen Göttlichenn Mayest. Mandat von 1561 aufzugreifen – einen »Hass« gegen die Andersgläubigen und -lehrenden »einzupflanzen«.38 Die kompromisslose Haltung, die vehemente Polemik und die zugespitzten Entstellungen kommen deutlich zum Ausdruck in der Antwort auf die Frage »Was fechten die Adiaphoristen an?«: Sie haben den Papisten zu gefallen viele Artickel der reinen lere verfelschet. Jn dem Artickel von der Rechtfertigung haben sie die Exclusiuam sola gantz ausgelassen/ vnd offentlich bedinget/ das sie von dem worte sola/ nicht streiten/ sonder das auch vnsere gute wercke zur gerechtigkeit vnd seligkeit nötig sein. Das auch der Mensch nach dem fall aus seinen natürlichen krefften zu seiner selbst bekerung vnd seligkeit mit wircke. Von der Busse vnd lesten Olung/ redeten sie auff gut Papistisch. Der lere von Mitteldingen handelten sie gar zu wider. Wollten sich mit dem Antichrist/ welcher die ware lere des Euangelij vorfolget/ vergleichen in Ceremonien/ auff das sie das creutz Christi nicht dürfften tragen/ Lereten je neher dem Bapst/ je besser. Die Lere vom Antichristi war bey jnen vergessen/ […]. 39
Ähnlich wie in anderen Schriften der Gnesiolutheraner verurteilte Judex die Wittenberger und Leipziger Theologie seit dem Augsburger Interim summarisch mit der Bezeichnung »Adiaphoristen«. Denn an erster Stelle der Kritik steht nicht der Streit um die Adiaphora bzw. ethisch indifferenten Mitteldinge, sondern der Streit um die Rechtfertigungslehre, der den Kern der lutherischen Theologie betraf. Den Wittenberger und Leipziger Theologen wurde zudem unterstellt, ein Geheimbündnis mit dem Papst bzw. Antichrist eingegangen zu sein. Dieser verschwörerische Grundton ist ebenfalls typisch für die Polemik der Gnesiolutheraner. Die letzte der zwölf Fragen und Antworten stellt Mt 6,33 »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen« als goldene Regel des christlichen Lebens dar. Dem Hauptwerk wurden vier kurze Schriftstücke beigefügt: Ein Gebedt vber die kinder/ welche von erst zum gebrauch des Nachtmals des heren gelassen werden/ vnd den Catechismum fur der Kirchen auffgesaget haben von Johann Wigand, die vom Mansfelder Prediger Michael Caelius verfasste 38 39
JUDEX, Der Ewigen Allmechtigen Göttlichenn Mayest. Mandat, Bl. K4r. KCD, Rostock 1564, Bl. C4r–v (VD 16 ZV 13254).
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Vermanung an die so beichten/ vnd die heilige Absolution empfahen wollen/ Auff frag vnd antwort gestellt, die Martin Luther zugeschriebene Vermanung an die/ So das Hochwirdige Sacrament empfahen wollen sowie ein abschließendes Gebet. Die intendierten Benutzungszwecke und Zielgruppen sind verschiedenen Teilen der Erstausgabe zu entnehmen. Aus dem Titel geht explizit hervor, dass das Kleine Corpus Doctrinae in erster Linie für die Unterweisung der Kinder in der Schule und zu Hause gedacht sei. So reduzierte Judex die Hauptartikel der christlichen Lehre auf ihre einfachste Form, um sie für die Jugend verständlich und einprägsam zu machen. In diesem Sinne widmete Judex die Schrift zwei Mecklenburger Prinzen, die in jenem Alter waren, in dem sie Teile des Kleinen Katechismus täglich auswendig lernen und rezitieren mussten. Judex äußerte die Hoffnung, dass die Kinder durch das regelmäßige Auswendiglernen und Wiederholen die christliche Lehre für das gesamte Leben verinnerlichten.40 Mit Blick auf den Inhalt sollte das Buch die Kinder im Sinne einer streng lutherischen Identität mit klarer Abgrenzung gegen andere Lehrmeinungen führen. Das Kleine Corpus Doctrinae war jedoch nicht nur für den Gebrauch durch Kinder konzipiert. Es richtete sich ebenso an Schullehrer und Eltern, die die Hausandacht mit ihren Kindern praktizierten. Aus der Auswahl der beigefügten Kurzschriften lässt sich schließen, dass es wie der Kleine Katechismus auch für die Vorbereitung auf die Beichte und den Empfang des Abendmahls verwendet werden konnte. Das Werk sollte elementare theologische Kenntnisse vermitteln und der Vertiefung der allgemeinen Frömmigkeit dienen.
IV. Die Frühausgaben Bereits in den Jahren 1564 und 1565 folgte dem Erstdruck eine Reihe neuer Ausgaben mit wesentlichen Abweichungen und Ergänzungen. Aufgrund der hier aufzuzeichnenden Unterschiede erhoben sich schon 1566 Fragen darüber, welche Formulierungen unmittelbar von Judex stammten. Auch Wiechmann und Reu, für die die Erstausgabe unauffindbar blieb, stellten in ihren modernen Studien zum Kleinen Corpus Doctrinae Spekulationen über die Autorschaft einiger Teile an. Durch einen Vergleich der verschiedenen Versionen und die Analyse der überlieferten Äußerungen zu diesen Veränderungen aus dem Jahr 1566 soll diesen Fragen nachgegangen werden. In der Hansestadt Wesel, die im niederländischen Sprachgebiet der vereinigten Herzogtümer von Jülich-Kleve-Berg lag, erschien 1564 eine niederlän 40
Vgl. ebd., Bl. A2r–v.
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dische und 1565 eine deutsche Ausgabe des Kleinen Corpus Doctrinae.41 Es ist wohl kein bloßer Zufall, dass die erste just in den Zeitraum fällt, in dem sich der Theologe Tilemann Heshusius ohne Amt in seiner Heimatstadt Wesel aufhielt.42 Heshusius war mit Wigand und Judex befreundet. Als Pfarrer der Johanniskirche in Magdeburg hatte er 1562 versucht, den Kirchenvorstand von St. Ulrich dazu zu bewegen, Wigand nach seiner Entlassung in Jena wieder in sein ehemaliges Pfarramt in Magdeburg zu berufen. Heshusius geriet infolgedessen in Konflikt mit dem Rat der Magdeburger Altstadt und wurde seiner Ämter enthoben.43 Die enge Beziehung zu Wigand und Judex und die zeitliche und örtliche Übereinstimmung zwischen dem Aufenthalt des Theologen und dem Druck sind Indizien dafür, dass die Veröffentlichung des Kleinen Corpus Doctrinae in Wesel hauptsächlich auf das Engagement des Heshusius zurückzuführen ist. Im Jahre 1565 wurden deutsche Ausgaben in Oberursel bei Frankfurt am Main und in Erfurt44 sowie eine vermutlich von Wigand herausgegebene niederdeutsche Ausgabe in Rostock gedruckt.45 Da die Existenz der Oberurseler Ausgabe lediglich durch ihre Erwähnung in einem zeitgenössischen Katalog zur Frankfurter Messe belegt ist, können nur die beiden Weseler, die Erfurter und die Rostocker Ausgabe im folgenden Vergleich berücksichtigt werden.46 Von allen Ausgaben steht die niederdeutsche Rostocker Ausgabe von 1565 der Erstausgabe am nächsten. Sie stellt im Wesentlichen eine wortwörtliche Übertragung der Urfassung in den niederdeutschen Dialekt dar und enthält dieselben beigefügten Kurzschriften. Lediglich die Definition der Sünde wurde verkürzt und der Artikel Van dem Crütze hinzugefügt.
41 KCD, Wesel 1564 (VD 16 00); KCD, Wesel 1565 (VD 16 R 2250). Vgl. REU, Quellen, Tl. 3/1/1, S. 447, 450–454. 42 Zu Heshusius’ Zeit in Wesel zwischen Mai 1563 und November 1564 vgl. KRÜGER, THILO: Empfangene Allmacht. Die Christologie Tilemann Heshusens (1527–1588) (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 87), Göttingen 2004, S. 126–128. Zu seiner Biographie vgl. auch BARTON, PETER: »Heshusius, Tilemann (1527–1588)«, in: Theologische Realenzyklopädie 15 / 1986, S. 256–260; DERS.: Um Luthers Erbe. Studien und Texte zur Spätreformation (= Untersuchungen zur Kirchengeschichte 6), Witten 1972; FROTSCHER, GERHARD: Tilemann Heshusen. Ein Leben im Dienst der Lehre Luthers 1527–1588. Versuch einer kirchenpolitisch-familiengeschichtlichen Würdigung zu seinem 350. Todestag von einem Enkel XIII. Generation, Plauen 1938; MAGER, INGE: »Tilemann Heshusen (1527– 1588). Geistliches Amt, Glaubensmündigkeit und Gemeindeautonomie«, in: Heinz Scheible (Hrsg.), Melanchthon in seinen Schülern, Wiesbaden 1997, S. 341–358; LEUCKFELD, JOHANN GEORG: Historia Heshusiana […], Quedlinburg 1716. 43 Vgl. KRUEGER, Empfangene Allmacht, S. 124–126. 44 Vgl. REU, Quellen, Tl. 3/1/1, S. 447–449. 45 Vgl. ebd., S. 448f., 454–457. 46 Zu den Unterschieden zwischen der niederdeutschen Ausgabe aus Rostock und der Erfurter Ausgabe vgl. ebd., S. 457–459.
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Sowohl die niederländische und deutsche Ausgabe aus Wesel als auch die deutsche Ausgabe aus Erfurt enthalten die gleiche verkürzte Definition der Sünde und den zusätzlichen Artikel Vom Creutze. Neben mehreren veränderten Formulierungen weisen sie drei weitere wesentliche Unterschiede zur Erstausgabe auf. Erstens beziehen sie sich auf den Kleinen Katechismus, indem im Anschluss an fast jeden Artikel gefragt wird, wo die entsprechende Lehre dort zu finden sei. Für die Taufe und das Abendmahl, welche zwei der fünf Hauptteile des Kleinen Katechismus bilden, waren solche Verweise obsolet. Die Bezüge heben die Komplementarität zwischen dem Kleinen Katechismus und Kleinen Corpus Doctrinae deutlich hervor. Zweitens kam zu den zwölf abschließenden Fragen eine weitere hinzu. An zweiter Stelle steht die Frage: Ists auch recht/ das ein Christ in der Jugendt falsche Lere/ so zu vnser Zeit im Schwange gehet/ nach dem Catechismo/ vnd Gottes Wort lerne vrtheilen/ vnd verwerffen? In der namentlichen Verurteilung von zwei Religionen, zwei Konfessionen und anderen theologischen Richtungen in einem katechetischen Werk für Kinder und Jugendliche lag die Radikalität des Kleinen Corpus Doctrinae. Dieser Aspekt bedurfte weiterer Legitimierung. Im Vergleich zu anderen Teilen ist diese aus fünf längeren Argumenten bestehende Antwort besonders umfangreich und zum Auswendiglernen wenig geeignet. Dass die Jugend explizit dazu befähigt wird, auch Differenzen innerhalb der eigenen Konfession zu beurteilen, entspricht den Kompetenzen, die die strengen Lutheraner jedem Christen zugestanden.47 Drittens wurden die drei genannten Ausgaben ohne beigefügte Kurzschriften gedruckt. Schließlich enthalten sie neue Formulierungen und Textergänzungen unter anderem in der Definition des Kreuzes, der Papisten, Adiaphoristen und Osiandristen. Teilweise dienen diese Veränderungen zur deutlichen Verschärfung der Polemik. Vermeintliche Opponenten der Rechtgläubigkeit werden verteufelt und als »falsche Brüder«, »falsche Propheten« und »Tyrannen« bezeichnet.48
47 Vgl. zum Beispiel den Abschnitt Von einem jeden Christen vnd gemeinen Zuhörer/ Was der in Religionssachen zuthun schüldig in: [ROSINUS, BARTHOLOMÄUS], Confessionschrifft: Etlicher Predicanten in den Herrschafften/ Graitz/ Geraw/Schonburg/ vnd anderer hernach vnterschriebenen: […], s.l. 1567, Bl. M4r–O2r, insbesondere Bl. M4r–v (VD 16 M 5038): EJnes jeden Christen Ampt/ Er sey Eheman/ oder Ehefrawe/ Eltern oder Kinder […] Stehet fürnemlich in dem/ Erstlich/ Das er Gottes Wort sol fleissig hören/ Lernen/ vnd Behalten/ seinen Glauben vnd Leben darnach richten/ Auch seine PfarHerr vnd Prediger Ehren vnd Nehren. Darnach/ Das er zu dieser letzten fehrlichen zeit/ nicht allein seines Glaubens vnd Christlicher Lehre/ guten Grund wissen vnd haben/ vnd dauon Rechenschaft geben soll/ jederman/ der es fodert/ Sondern soll auch die jetzt schwebenden Schwermereyen vnd Verführungen/ vnd alle Falsche Lehre vnd Lehrer/ derer biß daher gedacht/ nach Gottes Wort richten/ vrtheilen/ erkennen/ verstehen/ verewerffen/ verbannen/ widerlegen/ fliehen vnd meiden/ auch andere dafür warnen/ vmb der Ehre Gottes willen/ ja auch bey vorlust seiner Seelen Heil vnd Seligkeit. 48 In den folgenden Beispielen aus der Erfurter Ausgabe von 1565 stehen jene Textstellen in Kursivschrift, die sich weder in der Erstausgabe noch in der niederdeutschen Rostocker
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Die gleichlautenden deutschen Ausgaben, die 1565 in Wesel und Erfurt gedruckt wurden, weisen ein weiteres besonderes Merkmal gegenüber der Erstausgabe sowie der niederländischen und niederdeutschen Ausgabe auf. Der Schlussteil wird mit zwei zusätzlichen Fragen und Antworten ergänzt, die gegen die so genannten »Stenckfelder« und »Interimisten« gerichtet sind. Erstere Bezeichnung ist eine Anspielung auf die »Schwenkfelder«. Gegenüber der Ansicht des Mystikers Caspar Schwenkfeld, dass der Mensch die Fähigkeit zur transzendenten Erkenntnis göttlicher Offenbarungen habe, verteidigten die Herausgeber das lutherische Schriftprinzip. Unter den ebenfalls pejorativen Begriff »Interimisten« wurden diejenigen subsumiert, die das Augsburger Interim von 1548 nicht explizit verurteilten. Der Vergleich der fünf bekannten Ausgaben aus den Jahren 1564 und 1565 erlaubt einige Spekulationen über Fragen der Autorschaft und der Beziehung der Ausgaben zueinander. Schoppe berichtet, dass Judex zwar nach der Drucklegung das Kleine Corpus Doctrinae korrigiert habe. Die nach dem Ableben des Autors in Wesel und Erfurt entstandenen Ausgaben seien aber vom überarbeiteten Werkmanuskript abgewichen.49 Da die niederdeutsche Ausgabe im Grunde eine wörtliche Übersetzung der Erstausgabe ist, ist es plausibel, dass die Ergänzung des Artikels Vom Creutze noch von Judex stammte. Auch wenn die Formulierungen dieses Artikels in der Weseler und Erfurter Ausgabe vor allem durch eine Ergänzung von der Rostocker Ausgabe abweichen, ist eine gemeinsame Textgrundlage erkennbar.50 Obgleich die Bezüge auf den Kleinen Katechismus in beiden Rostocker Ausgaben fehlen, ist nicht auszuschließen, dass sie eventuell auch von Judex stammen. Zum einen kommen sie bereits in der niederländischen Ausgabe von 1564 vor. Zum anderen berichtet Schoppe, dass Judex seinem Sohn nicht nur Definitionen zum Auswendiglernen vorschrieb, sondern ihm auch erklärte, an welchen Stellen sie im Katechismus erläutert sind.51 Festzustellen ist, dass die Definition des Kreuzes in der niederländischen und niederdeutschen Ausgabe ausgesprochen ähnlich formuliert ist, so dass sich für beide eine gemeinsame Grundlage annehmen lässt. Dennoch enthält die niederländische Ausgabe eigene Besonderheiten. Die gleichlautenden Weseler und Erfurter Ausgaben nahmen diese und weitere Ergänzungen auf. Die Unterschiede zwischen den Ausgaben sorgten für Unklarheit über die Verfasserschaft mehrerer Textstellen und Formulierungen. Andreas Schoppe, Ausgabe von 1565 befinden bzw. neutraler formuliert sind. DAS Creutz ist allerley Vnglück/ welches den Christen vom Teuffel/ falschen Brüdern/ vnd Tyrannen widerferet/ vnd wegen der Warheit/ vnd Gerechtigkeit/ zur prüfung jres Glaubens. KCD, Erfurt 1565, Bl. C4v (VD 16 R 2249). Welches sind die falschen Propheten/ die zu vnser zeit die Kirche Gottes jrre machen? Ebd., Bl. D3r. 49 Siehe Edition des Briefes im Anhang Nr. 3. 50 Siehe Anm. Nr. 48. 51 Vgl. SCHOPPE, »Oratio«, Bl. m8r.
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der Rektor der Martinsschule in Halberstadt, wurde dadurch veranlasst, am 31. Juli 1566 einen Brief an den Pfarrer der St. Peter- und Paulskirche in Eisleben, Christoph Irenäus, zu schreiben.52 Der adlige Laientheologe im Erzstift Magdeburg Andreas von Meyendorf53 hatte ihm empfohlen, ein Gutachten vom Eislebner Superintendenten Hieronymus Mencel, vom Generaldekan der Grafschaft Mansfeld Cyriacus Spangenberg und von Irenäus einzuholen. Da Schoppes Frau Anna letzteren durch ihren ersten Ehemann Judex persönlich kannte, wandte er sich mit seinem Anliegen an ihn. Schoppe machte den Eislebner Geistlichen darauf aufmerksam, dass die Ausgaben, die in Wesel und Erfurt gedruckt wurden, sowohl vom handschriftlichen Druckmanuskript, das sich in seinem Besitz befand, und der Erstausgabe als auch voneinander abwichen. Er wies insbesondere auf die unterschiedlichen Definitionen der Sünde hin. Er hielt die Formulierung in der Erstausgabe Die Sünde ist die vertorbene natur, die in allen folgenden Ausgaben ausgelassen wurde, für die Befürwortung der umstrittenen These peccatum originis est substantia hominis, die Matthias Flacius 1560 in der Weimarer Disputation mit Victorin Strigel aufgestellt hatte.54 Das Konfliktpotential, das dieser These innewohnte, erreichte seine volle Brisanz erst nach der Veröffentlichung des Traktats De peccati originalis aut veteris Adami appellationibus et essentia, das Flacius seinem bibelexegetischen Kompendium Clavis scripturae sacrae von 1567 beilegte.55 Die Position des Flacius wurde im Laufe des argumentativen Schlagabtausches in der polemischen Publizistik stark verzerrt, so dass ihm unterstellt wurde, den Teufel zum Schöpfer des Menschen zu machen und die frühchristliche Häresie des Manichäismus wiederzubeleben. Bereits in der Frühphase dieses Streits zwischen 1560 und 1567 fand die Substanzthese in Schriften einiger Freunde des Flacius Aufnahme. Dazu gehörten laut Schoppe ein Brief von Judex und das 1566 handschriftlich erstellte und anschließend von zahlreichen Theologen eigenhändig approbierte Glaubensbekenntnis des Adligen des Erzstifts Magdeburg Joachim von Alvensleben.56 Wigand und Heshusius gehörten jedoch von Anfang an zu den 52
Siehe Edition des Briefes im Anhang Nr. 3. Zu Meyendorfs kirchenhistorischer Bedeutung vgl. MAGER, INGE: Die Konkordienformel im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Entstehungsbeitrag – Rezeption – Geltung, Göttingen 1993, S. 46f., Anm. 64. 54 Zum Streit über die flacianische Erbsündenlehre vgl. PREGER, WILHELM: Matthias Flacius Illyricus und seine Zeit, Bd. 2, Erlangen 1861, S. 310–412; RITSCHL, OTTO: Dogmengeschichte des Protestantismus. Orthodoxie und Synkretismus in der altprotestantischen Theologie, Bd. 2, Leipzig 1912, S. 423–454; SCHMID, EDUARD: »Des Flacius Erbsünde-Streit. Historisch-literarisch dargestellt«, in: Zeitschrift für die historische Theologie 13 / 1849, S. 1– 78, 175–217. 55 FLACIUS, MATTHIAS: CLAVIS SCRIPTVRAE S. seu de Sermone Sacrarum literarum […], Basel: Johann Oporinus und Eusebius Episcopius, 1567 (VD 16 F 1307–1308). 56 Siehe Edition des Briefes im Anhang Nr. 3. 53
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heftigsten Kritikern des Flacius im Erbsündenstreit.57 Schoppe schloss sich ihrer Position an.58 Der Vergleich der Frühausgaben des Kleinen Corpus Doctrinae bietet einen bisher singulären Beleg dafür, dass die Meinungen der eng befreundeten Theologen Wigand und Judex in der Erbsündenkontroverse auseinandergingen. Auf Schoppes Anregung hin59 erschien 1566 in Eisleben eine neue Version des katechetischen Werks.60 Im Wesentlichen dienten die Weseler und Erfurter Ausgabe als Textgrundlage. Die ursprüngliche Definition, die Judex von der Sünde gibt, wurde jedoch beibehalten. Dies überrascht nicht, da Spangenberg und Irenäus später zu den publizistisch engagierten Apologeten der Substanzthese des Flacius gehörten.61 Hinzu kamen in der Eislebner Ausgabe Veränderungen in den Definitionen der falschen Kirche und des Antichrists, da Schoppe den Eislebner Theologen auf die deutlicheren Formulierungen im Manuskript des Judex aufmerksam gemacht hatte.62 Beigefügt wurden Lu 57
Vgl. SCHMID, »Des Flacius Erbsünde-Streit«, S. 61f. Schoppe beteiligte sich später an der publizistischen Kampagne von Wigand und Heshusius gegen die flacianische Erbsündenlehre in Jena: [SCHOPPE, ANDREAS]: Bericht Ob die Erbsünde sey ein Wesen/ Aus dem Catechismus/ durch einen fromen Christen geschrieben. Mit einer Vorrede D. Johannis Wigandi Superintendenten zu Jhena, Jena: Donat Ritzenhan, 1571 (VD 16 B 1838); LUTHER, MARTIN: D. Martini Lutheri Sprüche vnd Zeugnis. Das Die Erbsünde nicht sey das Wesen des Menschen/ sondern dauon zu vnterscheiden. Durch M. Andream Schoppium Pastorn zu Arxleben in Sachsen zusammen verzeichnet, Jena: Donat Ritzenhan, 1572 (VD 16 L 3527); SCHOPPE, ANDREAS: Rettung Des Heiligen Catechismi wider den Schwarm der newen Manicheer und Substantijsten. Durch M. Andream Schoppium. Mit einer Vorrede D. Johannis Wigandi/ Superintendenten vnd Professorn zu Jhena, Jena: Donat Ritzenhan, 1572 (VD 16 S 3876). 59 Schoppe erklärte sich vorab bereit, 100 Exemplare abzunehmen, falls die Eislebner eine neue Ausgabe veröffentlichten. Siehe Anhang Nr. 3. 60 KCD, Eisleben 1566 (VD 16 ZV 24294). Zwei Neuauflagen erschienen in Eisleben ohne Druckjahr. Terminus ante quem für die Auflage mit Druckernamen (VD 16 ZV 13252) ist 1572. In diesem Jahr wurde ein Exemplar mit drei anderen Drucken in einem Sammelband Prinz Friedrich Wilhelm von Sachsen-Weimar geschenkt (FB Gotha, 8° Theol. 344/2). 61 Vgl. SCHMID, »Des Flacius Erbsünde-Streit«, S. 233–236, 242–257. 62 Ursprüngliche Definition der falschen Kirche im 17. Artikel »Von der Christlichen Kirchen«: Die falsche Kirche ist der hauffe der Gottlosen/ welche Gottes wort vnd die Sacramenta nicht rein haben/ oder fallen abe von erkanter warheit/ vnd helffen reine lere/ vnd rechte Christen verfolgen. KCD, Rostock 1564, Bl. B5v–B6r (VD 16 ZV 13254). Veränderte Version: Die Falsche Kirche ist die Versammlung vnd Gemeinschafft der Gottlosen vnd Heuchler/ welche entweder Gottes Wort vnd die Sacramenta nicht Rein haben/ oder mit abfal/ verleugnung/ oder verfolgung der Diener Gottes/ vnd anderm Gottlosem wesen anzeigen/ das sie nicht Schaffe Christi/ sondern Böcke/ vnd aus dem Teuffel sein. KCD, Eisleben 1566, Bl. C2r (VD 16 ZV 24294). Ursprüngliche Definition des Antichrists im 22. Artikel : Der Antechrist ist das gantze Bapstthumb/ vom Teuffel gestifftet/ darin man die lere Christi verkeret/ die todten Heiligen anbetet/ verbeut die Ehe/ und die Speise/ vnd fehret in die Helle mit allen seinen gesellen so nicht bekeret werden. KCD, Rostock 1564, Bl. B7v–B8r (VD 16 ZV 13254). Veränderte Version: DER Antichrist ist das gantze Bapstum/ vom Teuffel gestifftet/ 58
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thers Etliche Christliche Fragstücke/ Mit jhren Antworten/ Für die/ so zum Sacrament gehen wollen und seine sich auf Joh 8,41–44 beziehende Warnung vor den Lügen und Verführungen des Teufels in deutschen Versen.63 Innerhalb von drei Jahren entstand eine Palette unterschiedlicher Ausgaben des Kleinen Corpus Doctrinae. Auf dieser heterogenen Grundlage wurden bis ins 19. Jahrhundert hinein zahlreiche Neuauflagen sowie weitere Hybriden mit neuen Formulierungen und Elementen veröffentlicht. Die Erbsündenkontroverse zog sich auch durch die neuen Drucke. Während zum Beispiel Josua Opitz 1583 die Substanzthese des Flacius verteidigte,64 war Caspar Melissanders Neuausgabe von 1590 eine Reaktion auf diese Position.65 Auch der Wismarer Rektor Johann Bellin begründete 1675 seinen Versuch, die ursprüngliche Fassung des Kleinen Corpus Doctrinae zu rekonstruieren, unter anderem mit dem Hinweis auf die Helmstädter Ausgabe von 1611, die diese vermeintliche Irrlehre des Flacius bestätigte.66
V. Die Rezeption Das Kleine Corpus Doctrinae wurde rasch zum »Bestseller«. Caspar Melissander beschrieb 1590 die Rezeption des katechetischen Werks im und außerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation folgendermaßen: Darumb es auch der Christlichen Kirchen ein sehr angenehmes vnd liebes Büchlein worden ist/ Welches daher erscheinet/ das diß kleine Corpus Doctrinae, nicht allein in Christlichen Häusern/ sondern auch fast in allen Christlichen Schulen vnd Kirchen Deutscheslandes/ nach Doctor Luthers Catechismo/ nu mehr in die 25. Jahr lang/ sehr bekant vnd breuchlich ist/ Wie es auch fast allenthalben in Deudschlanden an sehr vielen orten/ hin vnd wider/ gar offt vnd viel tausend Exemplarien/ nachgedruckt worden/ vnd noch teglich geschiht/ Auch in viel auslendische Sprachen/ zu gemeinem vnd sonderm brauch der Schulen vnd Hauskirchen/ verdolmetschet ist.67
Das Ausmaß der Verbreitung war immens. Dennoch bedarf Melissanders Aussage einiger einschränkender Qualifizierungen. Das Kleine Corpus Doctrinae wurde natürlich nicht in den römisch-katholischen Teilen des Reichs benutzt. Es fand aber auch nicht in allen lutherischen Städten und Territorien Aufnahme. welchs sich erhebet vber Gott/ Seine Kirche/ vnd die Oberkeit/ braucht beide Schwert/ das Weltliche vnd Geistliche/ Verbeut die Ehe/ vnd die Speise/ vnd feret in die Helle/ mit allen seinen Gesellen/ so sie nich bekeret werden/ vnd von jm ausgehen. KCD, Eisleben 1566, Bl. C5r (VD 16 ZV 24294). 63 WA 48, Nr. 196, S. 149–152. 64 KCD, Oberursel 1583 (VD 16 R 2264). 65 KCD, Eisleben 1590 (VD 16 ZV 13260). 66 Vgl. KCD, Wismar 1675, Bl. B2r–B3r (VD 17 00). 67 KCD, Eisleben 1590, Bl. E1v (VD 16 ZV 13260).
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Ein differenziertes Rezeptionsbild lässt sich anhand einer breit angelegten Spurensuche des Gebrauches des Lehrbuchs in Schulen und anderen Bildungskontexten ermitteln. Da eine vollständige Rekonstruktion der Rezeption im Rahmen dieser Studie kaum zu leisten ist, wird der Schwerpunkt auf das Reich im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts gelegt. Bereits in den ersten Jahren wurde deutlich, dass die Mobilität und Interaktion eines engen Netzwerks von Freunden zur Entstehung neuer Ausgaben und Auflagen an verschiedenen Orten führte. Im Folgenden gilt es, weiteren Verbindungen dieses Netzwerkes sowie fördernden und hemmenden Faktoren für die Verbreitung des Kleinen Corpus Doctrinae nachzugehen. Die frühsten Belege für die schulische Verwendung des Kleinen Corpus Doctrinae sind in seinem Entstehungsraum zu finden. Im Zusammenhang mit einer Reform des Schweriner Domkapitels gründete der Administrator des Stifts, Herzog Ulrich von Mecklenburg, eine Lateinschule am Dom, die am 7. April 1565 feierlich eröffnet wurde.68 Einem späteren Bericht des Rostocker Theologieprofessors und Superintendenten Simon Pauli ist zu entnehmen, dass neben dem Kleinen Katechismus auch das Kleine Corpus Doctrinae für die unterste und mittlere von drei Klassen verwendet wurde.69 Die oberste Stufe setzte sich allerdings mit der Catechesis des Rostocker Theologieprofessors David Chyträus auseinander.70 Gleichfalls sah der Lehrplan des Wismarer Rektors der Lateinschule, Johann Walbom, aus dem Jahre 1566 vor, dass die beiden mittleren von vier Klassen das Kleine Corpus Doctrinae für den religiösen Unterricht benutzen sollten.71 Sicherlich spielte der damals in Wismar amtierende Superintendent Wigand keine geringe Rolle bei der Einführung des Werkes in die beiden Schulen. Die sieben nachgewiesenen niederdeutschen Drucke aus Rostock zwischen 1565 und 1584 stellen ein Indiz für die weite Verbreitung des Werkes im Herzogtum Mecklenburg dar.72 In einer Revision der Kirchenordnung von 1552 ordnete Herzog Ulrich 1602 für das gesamte Territorium die Benutzung des Kleinen Corpus Doctrinae in der zweiten Klasse an.73 Diese Ordnung wurde 68
Stiftungsdokument, Güstrow 4. Februar 1565. Druck: WEX, FRIEDRICH KARL: Zur Geschichte der Schweriner Gelehrtenschule. Eine Hinweisung auf das am 4. August 1853 zu feiernde dreihundertjährige Jubiläum […], Schwerin 1853, S. 31f. 69 Vgl. ebd., S. 32. 70 CHYTRÄUS, DAVID: CATECHESIS IN ACADEMIA Rostochiana ex praelectionibus […], Rostock: Ludwig Dietz, 1554 (VD 16 C 2514–2546). 71 Vgl. SCHRÖDER, DIETER: Kirchen-Historie des evangelischen Meklenburgs vom Jahr 1518 bis 1742, Tl. 2, Rostock 1788, S. 515. 72 Siehe Anhang Nr. 2. 73 ULRICH, HERZOG VON MECKLENBURG: Revidirte Kirchenordnung: Wie es mit Christlicher Lehre/ reichung der Sacrament/ Ordination der Diener des Evangelii/ ordentlichen Ceremonien in der Kirchen/ Visitation/ Consistorio und Schulen: Im Hertzogthumb Meckelnburg/ etc. gehalten wirdt, Rostock: Stephan Müllmann 1602, Bl. 262v (VD 17 39:129937B).
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1650 unverändert neu aufgelegt.74 Im Zusammenhang mit der Schulreform in der Residenzstadt Güstrow wurde 1602 neben dem Kleinen Katechismus auch der Gebrauch des Kleinen Corpus Doctrinae vorgeschrieben.75 In die unter Herzog Gustav Adolf 1662 revidierte Fassung der Kirchenordnung ging es ebenfalls ein.76 Außerdem ist die Benutzung für die kirchliche Katechese belegt. Der Prediger Friedrich Frilius verlas und erläuterte das katechetische Werk des Judex nachweislich 1641 von der Kanzel in der Wismarer Marienkirche.77 Laut der 1666 unter schwedischer Herrschaft erlassenen Wismarer Konsistorialordnung sollten die Geistlichen jährlich in allen Kirchen der Stadt auf der Grundlage des Kleinen Katechismus und Kleinen Corpus Doctrinae predigen und den Inhalt der Jugend vollständig erläutern.78 Explizit erwähnt wird diese Tradition im Titel der zweiten Auflage des Kleinen Corpus Doctrinae, die der Wismarer Rektor Johann Bellin 1675 veröffentlichte. Nicht zuletzt wegen seiner identitätsstiftenden Bedeutung für die Region übte das Kleine Corpus Doctrinae eine besonders breite und nachhaltige Wirkung in Mecklenburg aus. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch mehrere Bezüge zum Herzogtum, die durch den Entstehungsort, die Widmung an die Prinzen und die Übertragung in den regionalen Dialekt gegeben sind. Bis 1696 erlebte das Kleine Corpus Doctrinae mehrere Neuauflagen in Rostock und Wismar.79 Für das angrenzende Herzogtum Pommern ist der Gebrauch durch die Stralsunder Schulordnungen von 1591, 1617 und 1643 belegt.80 Druck: Das Unterrichtswesen der Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Strelitz, Bd. 1. Urkunden und Akten zur Geschichte des mecklenburgischen Unterrichtswesens. Mittelalter und das Zeitalter der Reformation. Heinrich Schnell (Hrsg.), Berlin 1907, Nr. 13, S. 169–227. 74 VD 17 12:121755D. 75 HERZOG ULRICH VON MECKLENBURG: Schulordnung für die Stadt Güstrow, Güstrow [1602]. Druck: Das Unterrichtswesen der Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin, Bd. 1, Nr. 55, S. 410–488, hier S. 440. 76 HERZOG GUSTAV ADOLF VON MECKLENBURG-GÜSTROW, Schulordnung für die Stadt Güstrow, Güstrow [24. November 1662]. Druck: Ebd., Nr. 56, S. 410–488, hier S. 439. 77 Vgl. LANGEMACK, Historiae Catecheticae, Tl. 3, S. 43. 78 Weil zu solchem Zweck gereichet, daß die catechetica Doctrina & Examina unabläßig getrieben werden, ohne daß in den Schulen die Anstalt zu machen, daß die Jugend den Catechismum Lutheri, Corpus Doctrinae und solche Frag=Stücke und Sprüche, aus Gottes=Wort, worinnen der Grund der Seeligkeit bestehet, lernen, soll jährlich in allen Kirchen=Spielen in unser Stadt Wismar, als zu S. Marien acht Tage nach Ostern, zu S. Nicolai nach S. Johannis, und S. Jürgen nach Michaelis, die summarische Erklärung des Catechismi von dem Ministerio erzehlet, und nach jedweder Predigt von denselbigen die Jugend in der Kirchen aus dem Stück, so geprediget, und dessen Verstand, und was aus der Predigt behalten, examiniret, von den Eltern, und die an dero statt, die Kinder, so unter zwülff Jahren zur Kirchen und beregten Examine geschicket, […]. Zitiert nach LANGEMACK. Ebd., S. 479f. 79 Siehe Anhang Nr. 2. 80 Vgl. ZOBER, ERNST HEINRICH: Urkundliche Geschichte des Stralsunder Gymnasiums von seiner Stiftung 1560 bis 1860. In sechs Beiträgen, Stralsund, 1860, 2. Beitr., Nr. 1, S. 35– 56, hier S. 38; 3. Beitr., Nr. 1, S. 44–48, hier S. 46f.; Nr. 3, S. 48–61, hier S. 58.
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Schon früh breitete sich das Kleine Corpus Doctrinae über das Erzstift Magdeburg nach Süden bis in die Grafschaft Mansfeld aus. Andreas Schoppe folgte zwischen 1564 und 1565 einer Berufung von Rostock nach Halberstadt als Rektor der Martinsschule. Von dort aus verkehrte er mit den beiden Adligen, Andreas von Meyendorf und Joachim von Alvensleben, die zu den führenden Kräften der ständischen Opposition gehörten, die Widerstand gegen das Augsburger Interim mobilisiert hatte und der Reformation im Erzstift in den 1560er Jahren zum Durchbruch verhalf.81 Meyendorf hatte den Kontakt zwischen Schoppe und den Eislebner Theologen vermittelt. Die Provenienz des einzigen bekannten Exemplars der Erstgabe des Kleinen Corpus Doctrinae tangiert dieses Beziehungsnetz. Es war ein Geschenk des Caspar Leunculus, der Prediger an der Rostocker St. Jakobskirche war, an Meyendorf und gelangte nach kurzer Zeit in die Bibliothek von Alvensleben.82 Seinem Brief an Irenäus ist zu entnehmen, dass Schoppe über den Inhalt und die theologischen Approbationen des 1565 erstellten Glaubenbekenntnisses von Alvensleben informiert war, an dessen Entstehung Meyendorf beteiligt war.83 Schoppes enge Verbindung zu diesen Adligen zeigte sich schließlich dadurch, dass Joachim von Alvensleben ihn als Pfarrer nach Erxleben berief und ihm die Verwaltung seiner Bibliothek im dortigen Schloss übertrug.84 Meyendorf und Alvensleben nahmen zahlreiche Asyl suchende Gnesiolutheraner auf und waren auch zentrale Glieder dieses Kommunikationsnetzwerkes.85 In Mitteldeutschland war neben der Grafschaft Mansfeld der Thüringer Raum von besonderer Bedeutung für die Verbreitung des Kleinen Corpus Doctrinae. Die kurmainzische Stadt Erfurt war zwischen 1565 und 1593 der 81
Zu Alvenslebens Biographie vgl. Joachim von Alvensleben’s Christliches Glaubensbekenntniß nebst Approbationen der vornehmsten Theologen seiner Zeit. Jm Jahre 1566 für seine lieben Kinder und Nachkommen zur gottseligen Nachfolge aufgestellt, Stendal 1854. Nachdruck. Die Familie von Alvensleben e.V. (Hrsg.), Freiburg 1986, S. 3–16. Zu seiner Religionspolitik und Bibliothek vgl. HAHN, PETER-MICHAEL: Fürstliche Territorialhoheit und lokale Adelsgewalt. Die herrschaftliche Durchdringung des ländlichen Raumes zwischen Elbe und Aller (1300–1700), Berlin / New York 1989, S. 146–150. 82 Siehe Anhang Nr. 1. 83 Siehe Anhang Nr. 3. 84 Zur Bibliothek vgl. ARNOLD, WERNER: »Adelsbildung in Mitteldeutschland. Joachim von Alvensleben und seine Bibliothek«, in: Ders. (Hrsg.), Bibliotheken und Bücher im Zeitalter der Renaissance (= Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 16), Wiesbaden 1997, S. 167–194, hier S. 191f. 85 Vgl. GERNHARD, BARTHOLOMÄUS: DE EXILIIS. […], Eisleben: Urban Gaubisch, 1575, Bl. B3r–v, F4v (VD 16 G 1592). Aus diesem Grund nannte Schoppe Meyendorff einen »Abadias«. Siehe Anhang Nr. 3. Dies war ein geläufiger Ehrentitel für diejenigen, die vertriebenen Predigern Beistand leisteten. Der Name bezieht sich auf den israelitischen Hofmeister, der hundert Propheten versteckte und mit Brot und Wasser versorgte, als das königliche Herrschaftspaar Ahab und Isebel versuchte, die jüdische Religion durch den Baalkult zu verdrängen (I Kön 18).
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Hauptdruckort. Dort wurde 1573 die erste lateinische Übersetzung von Wendelin Fulda publiziert.86 Laut Widmungsvorrede an seine Schüler benutzte Fulda, der an der Schule an der Thomaskirche lehrte, seine Übersetzung seit drei Jahren im Unterricht.87 Basilius Faber, der Rektor des 1561 im Erfurter Augustinerkloster gegründeten evangelischen Ratsgymnasiums, empfahl das Schulbuch in einem zweiten Vorwort weiter.88 Dennoch ist der Gebrauch des Kleinen Corpus Doctrinae in den bekannten Schulordnungen des Ratsgymnasiums von 1571, 1583, 1588, 1616, 1624, 1643 und 1679 nicht nachweisbar.89 Wendelin hatte die zwölf Fragen und Antworten am Schluss des Werkes nicht übersetzt, wollte aber dieses Unterfangen zu einem geeigneten Zeitpunkt nachholen.90 Die erste vollständige lateinische Übersetzung erschien 1577 in Erfurt.91 Sie stammte von Nikolaus Leo, dem Superintendenten in der kleinen westthüringischen Grafschaft Gleichen-Tonna. Laut Widmungsvorrede vom 27. November 1576 an die elf- bzw. zehnjährigen Prinzen Johann Ludwig und Georg von Gleichen hatte er die Schrift bereits etliche Jahre zuvor für ihren ältern Bruder Graf Sigismund ins Lateinische übersetzt.92 Offenbar wurde durch Leo das Kleine Corpus Doctrinae neben dem Kleinen Katechismus zum zentralen Lehrbuch für die religiöse Unterweisung und die Vermittlung elementarer Lateinkenntnisse bei der Prinzenerziehung in der gräflichen Familie. 1570 wurde das Kleine Corpus Doctrinae in das ernestinische Thüringen eingeführt. Es spielte eine wichtige Rolle in der Konfessionspolitik des seit 1567 alleinherrschenden Herzogs Johann Wilhelm von Sachsen. Seit den überterritorialen Einigungsversuchen der evangelischen Reichsstände in den 1550er Jahren gehörten die verbindliche Anerkennung der Schmalkaldischen Artikel und die explizite Verurteilung der vermeintlich irrigen theologischen Positionen, die im ernestinischen Konfutationsbuch von 1559 und in den abschließenden Fragen und Antworten des Kleinen Corpus Doctrinae benannt wurden, zum Grundbestand der ernestinischen Konfessionspolitik.93 Auf 86
KCD, Erfurt 1573 (VD 16 R 2278). Vgl. ebd., Bl. A3v–A4r. 88 Vgl. ebd., Bl. A2r–A3r. 89 Zu den Ordnungen vgl. BIEREYE, JOHANNES: Geschichte des Erfurter Gymnasiums unter Berücksichtigung des gesamten höheren Bildungswesens in Erfurt, Erfurt 1911, S. 32, Anm. 1; THIELE, RICHARD: Die Gründung des evangelischen Ratsgymnasiums zu Erfurt (1561) und die ersten Schicksale desselben. Ein Beitrag zur Schul- und Gelehrtengeschichte des 16. Jahrhunderts, Erfurt 1896, passim. 90 Vgl. KCD, Erfurt 1573, Bl. 31r (VD 16 R 2278). 91 KCD, Erfurt 1577 (VD 16 R 2279). Leo widmete Graf Philipp Ernst von GleichenTonna die Zweitauflage: KCD, Erfurt 1580 (VD 16 R 2280). Zu beiden Auflagen vgl. REU, Quellen, Tl. 2/1, S. 67f. 92 Vgl. KCD, Erfurt 1577 (VD 16 R 2279), Bl. A2r–A6r. 93 Vgl. GEHRT, Ernestinische Konfessionspolitik, S. 61–68, 129–137. 87
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grund dieser innerkonfessionellen Exklusivität geriet der Herzog im Laufe seiner Regierung zunehmend in politische Isolation. Politische Partner fand er jedoch in den Herzögen von Mecklenburg, den Grafen von Mansfeld und den Pfalzgrafen von Zweibrücken. Aus diesen Territorien gewann er drei Theologen für zentrale geistliche Stellen im ernestinischen Thüringen, die an der frühen Verbreitung des Kleinen Corpus Doctrinae beteiligt waren. Der Eislebner Pfarrer Christoph Irenäus wurde 1566 Hofprediger in Coburg und später in Weimar, der Wismarer Superintendent Johann Wigand 1568 Superintendent und 1569 Theologieprofessor in Jena sowie der Hofprediger in Neustadt an der Donau, Tilemann Heshusius, 1569 dritter Theologieprofessor an der Salana. Auch Graf Georg II. von Gleichen-Tonna, dessen Söhnen Nikolaus Leo seine lateinische Übersetzung des Kleinen Corpus Doctrinae gewidmet hatte, betrieb eine ähnliche Konfessionspolitik. Aus diesem Grund hatte Johann Wilhelm ihn während seines Feldzuges 1568 im französischen Hugenottenkrieg zum Statthalter in Weimar gemacht. Die Ernestiner kooperierten konfessionspolitisch ebenfalls eng mit den östlich angrenzenden Kleinterritorien Reuß und Schönburg. So ist eine gemeinsame theologische Ausrichtung zwischen dem ernestinischen Konfutationsbuch von 1559 und der reußisch-schönburgischen Bekenntnisschrift von 1567 offensichtlich.94 Mit Bartholomäus Rosinus, Simon Musäus und Georg Autumnus berief Herzog Johann Wilhelm alle drei führenden Kräfte hinter der Entstehung dieser Bekenntnisschrift als Superintendenten nach Weimar, Coburg und Saalfeld. In der Herrschaft Reuß, jüngere Linie, wurde der Gebrauch des Kleinen Corpus Doctrinae als Schulbuch für die elementare Religionsunterweisung nach der Einrichtung der ersten Offizin in Gera durch Martin Spieß Anfang des 17. Jahrhunderts und der Gründung des fürstlichen Gymnasiums Rutheneum 1608 unter Heinrich Postumus aktenkundig.95 Durch diese Beispiele wird die
[ROSINUS, BARTHOLOMÄUS]: Confessionschrifft: Etlicher Predicanten in den Herrschafften/ Graitz/ Geraw/Schonburg/ vnd anderer hernach vnterschriebenen: Gestellet Zu Notwendiger Ablenunge vieler Ertichten Calumnien vnd Lesterungen/ vnd dagegeu zu erklerunge vnd beförderung der Warheit/ […], Eisleben: Andreas Petri, 1567 (VD 16 M 5038, ZV 10917, 10919). Zur Bekenntnisschrift vgl. AUERBACH, HEINRICH BERTHOLD: »Die reussische Konfession, ihr Gedankengang und ein neuer Beitrag zu ihrer Geschichte«, in: Thüringer Kirchliches Jahrbuch 10 / 1904, S. 17–66; MEUSEL, HEINRICH OTTO: »Die Reussische oder Reussisch-Schönburgische Konfesssion von 1567«, in: Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte 14 / 1899, S. 149–187; 800 Jahre Christentum im Greizer Land. Einblicke in die reußische Kirchengeschichte, bearbeitet von Stefan Michel, Greiz 2009, S. 36–38. 95 1615 gab der Geraer Superintendent Friedrich Glaser eine lateinische, deutsche und lateinisch-deutsche Ausgabe auf der Grundlage der Melissander-Ausgabe von 1590 heraus: KCD, Gera 1615 (VD 17 00). 1623 wurde die deutsche Ausgabe neu aufgelegt: KCD, Gera 1623 (VD 17 00). Das Werk wird 1615 im Lehrplan des Rutheneums erwähnt. Vgl. BÜTTNER, RICHARD: Geschichte des Fürstlichen Gymnasiums Rutheneum zu Gera. Festschrift zur Feier des 300jährigen Bestehens des Gymnasiums, Gera 1908, S. 159. 94
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enge Korrelation zwischen einer spätreformatorischen Minderheitsposition innerhalb des deutschen Luthertums und der Beförderung des Kleinen Corpus Doctrinae deutlich erkennbar. Der Gebrauch des Kleinen Corpus Doctrinae wurde bereits im Zusammenhang mit der Generalvisitation von 1569/70 zur theologischen Fortbildung amtierender Pfarrer und für Lateinschulen im ernestinischen Territorium angeordnet. Nach Angaben der Visitatoren besaßen 17 Prozent aller Geistlichen zur Führung ihres Amtes unzureichende Kompetenzen.96 Diejenigen, deren theologische Kenntnisse nicht genügten, wurden aufgefordert, das Kleine Corpus doctrinae oder Wigands Methodus zu studieren.97 Auf Anordnung der Visitatoren wurde in den Coburger, Weimarer und Jenaer Lateinschulen Chyträus’ Catechesis durch den Methodus ersetzt.98 Im Juni 1570 hatten die Weimarer Schullehrer den Visitatoren eine Abschrift ihrer seit dem 14. Januar 1562 geltenden Schulordnung zur Begutachtung überreicht.99 Die Visitatoren fügten an den entsprechenden Stellen den Methodus für die drei oberen der sechs Klassen ein100 und schrieben vor, dass in den unteren Klassen der Latinische vndt teutsche Catechismus Lutheri gelerett werdenn. Später hinzugefügt wurde die Ergänzung: samptt dem kleinem corpore doctrinae M. Mathej Judicis.101 Das Buch wurde auch an der Universität Jena102 und in anderen ernestinischen Schulen verwendet. Der Pfarrer von Friedrichroda, Cyriacus Schneegaß, bezeugte zum Beispiel in der Vorrede zu seinen Catechetica von 1595 den langjährigen Gebrauch des Kleinen Corpus Doctrinae in seiner Gemeinde am Fuße des Thüringer Waldes, der mit seinem Amtsvorgänger, Heinrich 96
Vgl. die Berichte von den Gesamtergebnissen der Visitation in: ThHStA Weimar, EGA, Reg. N 381 und N 578. 97 Vgl. ThHStA Weimar, EGA, Reg. Ii 54, Bl. 251v, 275v. Visitationsprotokolle von 1569 für die Ämter Bürgel und Eisenberg; Reg. N 516, Bl. 79r. Visitationsprotokolle von 1570 für die Superintendentur Ronneburg. 98 Vgl. ThHStA Weimar, EGA, Reg. Ii 55, Bl. 659r. Visitationsprotokolle von 1570 für die Superintendentur Weimar; StA Coburg, LA B 2461, Bl. 144r. Visitationsprotokolle von 1569 für die Superintendentur Coburg. Vgl. auch REU, Quellen, Tl. 2/1, S. 63f. 99 ThHStA Weimar, EGA, Reg. Ii 55, Bl. 7r–21v. »ORDO LECTIONVM IN SCHOLA VINARIENSI«. Druck: WENIGER, LUDWIG: »Weimarische Schulordnung von 1562«, in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 7 / 1897, S. 172–187. 100 Vgl. ThHStA Weimar, EGA, Reg. Ii 55, Bl. 12r–v. 101 Vgl. ebd., Bl. 657r–659v, Zitate Bl. 695r. Verordnungen der Visitatoren über das Schulwesen in Weimar. 102 Im Examensprotokoll vom 19. Januar 1570 für den jungen Jenaer Stipendiaten Wolf von Kötteritz vermerkten die Professoren, dass dieser ex Catechismo Lutherj Latino vndt Germanico fertig, desgleichen wol ex corpore Matthaei Judicis p[iae] memoriae de discrimine legis et Euangelij, auch wol ex Grammaticis lectionibus respondiret, Methodum Wigandj hat er noch nit gehoret. Vgl. UA Jena, Bestand A 1381 (unfoliiert).
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Kießling, begonnen hatte und durch ihn seit 1573 fortgesetzt wurde.103 Dieses Beispiel lässt eine Verbreitung des Kleinen Corpus Doctrinae im gesamten Territorium vermuten. Erstaunlich ist die ununterbrochene Verwendung des Buches nach den tiefgreifenden politischen Veränderungen, die Kurfürst August seit 1573 im ernestinischen Thüringen vornahm. Die Beziehung zwischen beiden wettinischen Linien hatte mit dem gescheiterten Einigungsversuch beim Altenburger Religionsgespräch 1568/69 und der polemischen Publizistik der ernestinischen Theologen gegen ihre Kollegen an den albertinischen Universitäten Wittenberg und Leipzig einen neuen Tiefpunkt erreicht. Kurfürst August benutzte seine neu errungene Machtposition nach dem Tod Herzog Johann Wilhelms 1573, um mehr als 120 ernestinische Geistliche zu entlassen.104 Nicht nur die bis dahin geltende territoriale Lehrnorm, das so genannte Corpus Doctrinae Thuringicum von 1570, sondern auch die Schulbücher von Wigand und Judex wurden abgeschafft. Gegen diese Maßnahme protestierten die Weimarer Schullehrer 1573.105 Die neue Schulordnung, die für alle ernestinischen Lateinschulen gelten sollte, sah wie im albertinischen Kursachsen in den beiden unteren Klassen den Kleinen Katechismus und in der obersten Klasse Melanchthons Loci communes theologici und Examen Theologicum als Grundlage der theologischen Unterweisung vor.106 Der weitere Gebrauch des Kleinen Corpus Doctrinae in Friedrichroda nach 1573 ist vermutlich seiner Lage an der Peripherie des Territoriums zu verdanken. Die Witwe Johann Wilhelms, Herzogin Dorothea Susanna von SachsenWeimar, setzte während der albertinischen Vormundschaft zwischen 1573 und 1586 die ernestinische Konfessionspolitik im Rahmen der ihr als fürstlicher Witwe zustehenden Handlungsmöglichkeiten fort.107 Um die theologische und konfessionspolitische Orientierung der Dynastie entsprechend dem Corpus Doctrinae Thuringicum auf die nächste Generation zu übertragen, bemühte sie sich sorgfältig um die Bestimmung des Lehrinhaltes der Erziehung ihrer drei minderjährigen Kinder. Einen Monat nach dem Ableben ihres 103
SCHNEEGASS, CYRIACUS: CATECHETICA: Das ist/ Einfeltige vnnd Christliche Fragstück/ von den Ständen der Haustaffel/ Jharfesten/ vnd fürnembsten Wercken Gottes. Sampt schönen Gebeten/ auff die Heuptfeste vnd etliche Sontage. Für die liebe Jugend zusamen getragen/ Durch M. Cyriacum Schneegaß/ Pfarrherrn vnd Adiunctum zu Friedrichroda. Mit einer Vorrede des Ehrwirdigen […] Herrn D. Antonij Probi, F. Säch. General Superintendenten zu Weimar, Schmalkalden: Michael Schmuck, 1595, Bl. B8v (VD 16 ZV 23076). Vgl. dazu REU, Quellen, Tl. 2/1, S. 75. 104 Vgl. GEHRT, Ernestinische Konfessionspolitik, S. 350–368. 105 Vgl. FB Gotha, Chart. A 52, Bl. 351r–352v, hier Bl. 352r. Bericht über die Verhandlungen der kursächsischen Visitatoren mit den Weimarer Schullehrern, Weimar 9. Juli 1573. 106 RATIO ADMINISTRANDI SCHOLAS TRIVIALES PROPOSITA IN VISITATIONE ECCLESIARVM ET SCHOLARVM SVB Ducatu Iuniorum principum Saxoniæ, Jena: Donat Ritzenhan, 1573 (VD 16 R 346). Zur Schulordnung vgl. REU, Quellen, Tl. 2/1, S. 66. 107 Vgl. GEHRT, Ernestinische Konfessionspolitik, S. 438–525.
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Gemahls, am 24. März 1573, instruierte sie den Prinzenerzieher Caspar Melissander und den Hofmeister Heinrich von Erffa, dafür zu sorgen, dass ihr zehnjähriger Sohn Friedrich Wilhelm wie bisher neben dem Kleinen Katechismus die Hauptartikel der christlichen Lehre anhand des Kleinen Corpus Doctrinae auswendig lerne.108 Friedrich Wilhelm besaß nachweislich bereits 1572 ein Exemplar der Eislebner Ausgabe, in dem die umstrittenen Phrasen in der Definition der Sünde bis zur Unleserlichkeit mit schwarzer Tinte ausgestrichen wurden. Es befindet sich in einem Sammelband mit drei anderen religiösen Schriften, die Timotheus Kirchner, Hieronymus Homberger und Caspar Melissander dem Prinzen anlässlich ihrer gemeinsamen Promotion zu Doktoren der Theologie an der Universität Jena schenkten.109 Der Prinz hatte die Feierlichkeiten am 20. Mai 1571 in Begleitung seiner Eltern miterlebt. Unter der kursächsischen Vormundschaft wurde Friedrich Wilhelm vor allem wegen Fragen der religiösen Erziehung jahrelang aus der Obhut der Mutter genommen. Dennoch behielt sie das Erziehungsrecht für ihren damals dreijährigen Sohn Johann und ihre einjährige Tochter Maria. Ihrer Instruktion für den Erzieher Wolfgang Wonne ist zu entnehmen, dass beide Kinder neben dem Kleinen Katechismus das Kleine Corpus Doctrinae stückweise auswendig lernen mussten.110 Letzteres erschien 1588 mit Illustrationen im Spruchund Gebetbuch der Prinzessin Maria, das aller Wahrscheinlichkeit nach im Auftrag der Mutter entstand.111 Das Werk wurde somit ein wichtiges Medium, 108
Vgl. FB Gotha, Chart. A 49, Bl. 27r–58v, hier Bl. 32v. Instruktion Herzogin Dorothea Susannas für Melissander und Erffa, Weimar 24. März 1573. 109 FB Gotha, Theol. 8° 344/2. Es enthält Wigands Methodus (VD 16 ZV 15532), Judex’ Kleines Corpus Doctrinae (VD 16 ZV 13252), Andreas Fabricius’ Das letzte selige Stündlein (VD 16 F 271) und Martin Fabers Eine tröstliche Predigt: Von dem Kampff des heiligen Patriarchen IACOBS/ mit dem Sohn Gottes (VD 16 F 107). Handschriftliche Widmung auf dem Vorderspiegel. 110 Vgl. PISCHEL, FELIX: »Zur Geschichte der Sachsen-Ernestinischen Prinzenerziehung am Ende des 16. Jahrhunderts«, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde 39 / 1918, S. 253–287, hier Nr. 4., S. 280–287. Die langjährige Verwendung des Kleinen Corpus Doctrinae für die religiöse Erziehung Johanns wird durch den Bericht des Prinzenerziehers Wolfgang Monner von 1580 und eine Erziehungsordnung von 1583 belegt. Vgl. MÜLLER, GEORG: »Zwei Unterrichtspläne für die Herzöge Johann Friedrich IV. und Johann zu Sachsen-Weimar«, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 11 / 1890, S. 245–262, hier S. 262; KEHRBACH, KARL: »Studierordnung der Herzogin Dorothea Susanna von Weimar für ihren Sohn, den Herzog Johann von Sachsen-Weimar, aus dem Jahre 1583«, in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 3 / 1893, S. 29–45, hier S. 37f. 111 Christliche/ einfeltige Sprüche vnd Gebetlein/ So die durchlauchtige Hochgeborne Fürstin vnd Frewlein/ Frewlein MARIA Geborne Hertzogin zu Sachsen/ […] in jrer jugend teglich gesprochen vnd gebetet hat/ aus des hern Doctoris Martini Lutheri seligen/ vnd anderer trewen/ reinen Lehrer schrifften […] zusamen gebracht vnnd gelesen, Jena: Tobias Steinmann, 1588 (VD 16 C 2318). Vgl. REU, Quellen, Tl. 2/1, S. 68f. Das Privatexemplar Marias, dessen Vor- und Nachsatzblätter zahlreiche eingeklebte Porträts von Verwandten ent-
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um die Identität der ernestinischen Dynastie in ihrer theologischen und konfessionspolitischen Ausprägung weiter zu tradieren. Der verwitweten Herzogin Dorothea Susanna diente das Kleine Corpus Doctrinae auch als persönliches Bekenntnisbuch. Zeitgenössischen Rollenzuweisungen wurde sie gerecht, indem sie sich in der 1575 erstellten Endfassung ihres umfangreichen Glaubenbekenntnisses, das in Anknüpfung an das ernestinische Konfutationsbuch von 1559 ihre Stellungnahme auch in Antithesen zu mehreren Lehrpositionen darlegte, lediglich auf den Kleinen Katechismus bezog.112 Andererseits umging sie die gesellschaftlichen Schranken, die Frauen aus der Domäne der Theologie ausschlossen, indem sie auf das auch im Kleinen Corpus Doctrinae formulierte Recht jedes Christen verwies, anhand katechetischen Elementarwissens vermeintliche Irrlehren zu verurteilen. Auch indem sie Mitte 1575 den Kleinen Katechismus und das Kleine Corpus Doctrinae in den Turmknopf des von ihr erbauten Roten Schlosses in Weimar einlegte, wollte Herzogin Dorothea Susanna der Nachwelt ihr Bekenntnis ablegen. Sie begründete diesen Akt in einem Eintrag in den Katechismus folgendermaßen: […] das wir darmitt zu Ewigen Zeitten bezeugen wollen, das wir nicht allein der rechten wharen Lutherischen, das ist, Gottlicher Lehre, wie die Jnn diesem kleinen Catechismo grundlich gefassett, von grund vnsers hertzen zugethan, Sondern auch aller gegenlehre vnd zuforderst den Rotten vnd Secten, wie die Inn dem andern diesen Buchlein den kleinen Corpore Doctrinae zu ende angezogen sindt von gantzen hertzen feindt vnd entgegen seind, vnd vermittelst der gnedigen erhaltung deß heyligen Geists zuentgegen bleiben wollen Jnn alle Ewigkeit, dessen zum vnwiderufflichen zeugnus wie dieses mitt vnser eignen hand hierein schreyben haben wollen, […].113
Für Herzogin Dorothea Susanna und andere Vertreter der zweiten Generation des Luthertums besaß das Kleine Corpus Doctrinae starken symbolischen Wert in Bezug auf ihr persönliches Bekenntnis, da es in prägnanter Weise und in Ergänzung zum Kleinen Katechismus mehrere als irrig erachtete nachinterimistische Lehren verurteilte. In der Vorrede zu seiner Ausgabe von 1590 berichtete der ehemalige Prinzenerzieher und seit 1578 als Altenburger Gene halten, befindet sich in: FB Gotha, Chart. B 1508. Vgl. dazu RATHGEBER, GEORG: Beschreibung der Herzoglichen Gemälde-Gallerie zu Gotha und vieler im Chinesischen Kabinet, in der Sammlung der Abgüsse von Bildwerken, im Münzkabinet Gotha befindlichen Gegenstände, Gotha 1835, S. 194, 219f., 260–262. 112 Das Privatexemplar des Glaubensbekenntnisses der Herzogin mit den eigenhändigen Approbationen zahlreicher Theologen in: FB Gotha, Theol. 2° 304/1 (1). Druck: Fortgesetzte Sammlung von alten und neuen theologischen Sachen, Büchern, Uhrkunden, Controversien, Veränderungen, Anmerckungen und Vorschlägen u.d.g. […] nützl. Nachricht ertheilet wird […], Leipzig 1746, S. 486–522, 652–676, 911–943; Leipzig 1747, S. 33–45, 337–341, 843– 845; Leipzig 1748, S. 822–828; Leipzig 1749, S. 631–635; Leipzig 1750, S. 649–663, 828– 834, 968–975; Leipzig 1751, S. 459–479. 113 FB Gotha, Chart. B 35, Bl. 246v–247r.
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ralsuperintendent amtierende Caspar Melissander, dass viele Christen in Testamenten ihren Kindern beide Schriften empfahlen und auf dem Sterbebett ihren Glauben auf sie bezogen.114 Da das ernestinische Territorium zahlreiche Förderer des Kleinen Corpus Doctrinae beherbergte, führte die Absetzung und erzwungene Migration von rund 120 Geistlichen im Jahre 1573 zur weiteren Verbreitung des Werkes an neuen Orten. Die Jenaer Theologieprofessoren Heshusius und Wigand fanden zunächst Asyl bei Andreas von Meyendorff115 und dann in Königsberg im Herzogtum Preußen. Heshusius übernahm Ende 1573 das evangelische Bischofsamt von Samland, Wigand trat eine Theologieprofessur an der Universität Königsberg an. Wahrscheinlich waren sie es, die 1573 den erstmaligen Druck des Kleinen Corpus Doctrinae in Königsberg veranlassten116 und dafür sorgten, dass die Schrift weitere Teile Preußens und Livlands erreichte.117 Auch in Regensburg erschien das Kleine Corpus Doctrinae zum ersten Mal 1573, ein Jahr vor der Entlassung von drei Stadtgeistlichen und dem Schulrektor infolge des Streites um die flacianische Erbsündenlehre.118 Da dieser Konflikt hauptsächlich unter Gnesiolutheranern ausgetragen wurde, bedeutete der Personalwechsel keine Unterbrechung im Gebrauch des Kleinen Corpus Doctrinae. Vielmehr wurde eine weitere Schlüsselperson für die Verbreitung des Buches mobil. An die Stellen der Entlassenen berief der Stadtmagistrat ehemalige ernestinische Prediger und Schullehrer, den Weimarer Superintendenten Bartholomäus Rosinus, den Rektor der Weimarer Lateinschule Johannes Wolf und vier weitere Geistliche. Dass das neue geistliche Ministerium den Gebrauch des Kleinen Corpus Doctrinae förderte, brachte Rosinus durch seine Empfehlung in der Vorrede zu seiner 1581 in Regensburg erschienenen Schrift Kurtze Fragen vnnd antwort/ vber die sechs Heubtstück des Heiligen Catechismi Doctoris Martini Lutheri zum Ausdruck.119 Der 1574 entlassene Regensburger Superintendent Josua Opitz wurde Prediger der evangelischen Landstände in Wien und 1578 Pfarrer in Büdingen in der Grafschaft Isen-
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Vgl. KCD, Eisleben 1590, Bl. E1v–E2r (VD 16 ZV 13260). Vgl. KRÜGER, Empfangene Allmacht, S. 135. 116 KCD, Königsberg 1573 (VD 16 R 2254). 117 Vgl. KCD, Leipzig 1616 (VD 17 23:665501W). Die Widmungsvorrede an den Verleger Henning Grosse d. Ä. 118 KCD, Regensburg 1573 (VD 16 ZV 13258). 119 VD 16 L 5151. Druck: Quellen zur Geschichte des Katechismus-Unterrichts, Bd. 1. Süddeutsche Katechismen. Johann Michael Reu (Hrsg.), Gütersloh 1904, S. 743–755, hier S. 743. 115
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burg.120 1583 gab er eine lateinisch-deutsche Ausgabe für die Schüler in Büdingen heraus.121 Bereits der Titel der von Jeremias Homberger122 publizierten Ausgabe von 1582 Vehiculum peregrinantis123 weist auf die enge Verbindung zwischen Exil und Export hin. Infolge theologischer Konflikte wurde er seines Amtes als Rektor der Lateinschule in Frankfurt am Main enthoben. Laut Widmungsvorrede, die auf 1569 datiert ist, hatte Homberger das katechetische Werk des Judex auf der Reise ins »Exil« extemporär in lateinische Verse übertragen.124 Er widmete dem Regensburger Stadtrat dieses zunächst lediglich in handschriftlicher Form vorliegende Beispiel gelehrter Dichtkunst, weil er auf Empfehlung des Superintendenten Nikolaus Gallus hin als Rektor an die dortige Lateinschule berufen worden war. Er nahm diese Bestallung jedoch nicht an, sondern folgte stattdessen der Berufung zum Generalsuperintendenten nach Oettingen. Bereits 1569 wurde er Professor an der von Pfalzgraf Wolfgang von Zweibrücken gegründeten Hohen Schule in Lauingen in der Neupfalz. Dort wurde das Kleine Corpus Doctrinae zweimal aufgelegt.125 Beide Auflagen datieren jedoch in die Zeit, nachdem Homberger die Berufung an die Stiftskirche und -schule in Graz angenommen hatte, die die evangelischen Stände der Steiermark gegründet und 1574 eröffnet hatten. Dort entdeckte er seine versifizierte Ausgabe unter seinen Papieren wieder und veröffentlichte sie 1582.126 Der Gebrauch des Kleinen Corpus Doctrinae lässt sich im Erzherzogtum Österreich mehrfach nachweisen. Obwohl die Habsburger eine römisch-katholische Einheitskirche für ihre Erblande anstrebten, erreichte die seit Mitte der 1540er Jahre mehrheitlich evangelische Ständeopposition die öffentliche Duldung ihres Bekenntnisses durch geschickten Einsatz ihres Steuerbewilligungsrechts. Die Stände pflegten enge Kontakte mit den Städten und Territorien des Reichs, die sich zur Confessio Augustana bekannten. Sie waren auf ihre Unterstützung angewiesen, zumal es ihnen nicht gelang, eine Landeskirche mit Superintendenturen, Konsistorien, eigenen Universitäten und mit kla 120
Vgl. RAUPACH, BERNHARD: Presbyterologia Austriaca […], Hamburg 1741, S. 132–
136. 121
KCD, Oberursel 1583 (VD 16 R 2264). Weitere Auflagen: KCD, Erfurt 1590 (VD 16 ZV 25207); KCD, Magdeburg 1611 (VD 17 23:272632L). 122 Zu seiner Biographie vgl. »Homberger, Jeremias«, in: Allgemeine Deutsche Biographie 13 / 1881, S. 40; ILWOF, FRANZ: »Homberger, Jeremias (2. Artikel)«, in: Ebd. 50 / 1905, S. 458–461. 123 KCD, Heidelberg 1582/83 (VD 16 H 4585-4586). Die Ausgabe enthält die ersten 30 Artikel einschließlich der Bezüge auf den Kleinen Katechismus und die beiden Fragen und Antworten zum Nutzen des Werkes. Vgl. REU, Quellen, Tl. 3/1/1, S. 463f. 124 Vgl. KCD, Heidelberg 1582, Bl. A2r–A4v (VD 16 H 4585). 125 KCD, Lauingen 1584 (VD 16 R 2261); 1593 (VD 16 00). 126 Vgl. KCD, Heidelberg 1582, Bl. A5r–v (VD 16 H 4585).
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rer Bekenntnisbildung nach dem Modell der frühmodernen Territorialstaaten in Deutschland aufzubauen.127 Da ihnen Predigerseminare fehlten, die eine Selbstrekrutierung von Geistlichen ermöglicht hätte, nahmen sie zahlreiche lutherische Prediger auf, die infolge der nachinterimistischen Kontroversen ihre Ämter verloren hatten. So fand das Kleine Corpus Doctrinae Aufnahme in die Loosdorfer Schulordnung vom 28. April 1574.128 Die obersten der fünf Klassen dieser von Hans Wilhelm von Losenstein gegründeten Partikularschule in Niederösterreich besaßen hochschulähnlichen Charakter.129 Im Religionsunterricht wurden der Kleine Katechismus in den ersten vier Klassen und das Kleine Corpus Doctrinae in der dritten und vierten Klasse verwendet, um theologische Kenntnisse nach der Loci-Methode zu vermitteln: Die volgende drey tag [donnerstags, freitags und samstags] aber wirdt jhnen ein Locus Theologicus, auß dem kleinen vnd deutschen Corpore doctrinæ Matthæi Iudicis, mit fleiß außwendig zulernen furgegeben/ biß auff die Antitheses vnd erzelung der Secten/ welches Büchlein fur vnd fur/ in der Schulen/ mit den obersten dreyen oder vier classibus, Deutsch vnd nicht Lateinisch getriben vnd repetirt werden solle. Dan diß Büchlein zum besseren vnd gründtlicheren verstandt des Catechismi Lutheri/ den Præceptoribus vnd discipulis sehr nutzlich ist/ weil sonderlich in demselbigen nit allein die Loci communes vnd Hauptartickel Christlicher lere/ auf den kleinen Catechismum Lutheri/ vnd diser widerumb auff jhene/ die Locos, fein ordenlich vnnd einfeltig gerichtet. Sondern auch gute kurtze Definitiones vnnd Diuisiones locorum communium, so die Kinder vnd junge Knaben leichter vnnd fruchtbarlicher in deutscher/ dann in Lateinischer sprach lernen vnd fassen/ vnd die auch denen/ so mit der zeit Prediger werden wollen/ in vil weg nutz sein/ begriffen.130
Das Bildungsprogramm in Loosdorf richtete sich streng nach den notwendigen Kenntnissen für das Predigtamt. Aus diesem Grund sollte das Kleine Corpus Doctrinae ausschließlich in der Vernakularsprache unterrichtet werden. Im Vergleich zu den bisher betrachteten Lehrplänen kam dem Kleinen Katechismus und dem Kleinen Corpus Doctrinae eine besondere Bedeutung zu, da in Loosdorf auf den Gebrauch von lateinischen dogmatischen Kompendien wie etwa Wigands Methodus oder Chyträus’ Catechesis für die mittleren und Melanchthons Loci communes oder Examen ordinandorum für die obersten Stufen verzichtet wurde. Stattdessen lernten die Schüler in der vierten Klasse
127 Vgl. SCHINDLING, ANTON / ZIEGLER, WALTER (Hrsg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 1. Der Südosten, Münster 1989, S. 125. 128 VON LOSENSTEIN, HANS WILHELM: Loßdorffische Schulordnung. […], [Augsburg: Valentin Schönig], 1574 (VD 16 ZV 18867). Faksimile-Druck der Fa. Ytong, Loosdorf 1974. 129 Zur Schule vgl. MIKLAS, HELENE: Die Geschichte der »Hohen Schule« zu Loosdorf 1574–1627. Meilenstein auf dem Weg der reformatorischen Pädagogik in Österreich oder eine bloße Episode? (= Dissertationen der Universität Wien, 70), Wien 2001, insbesondere S. 92. 130 LOSENSTEIN, Loßdorffische Schulordnung, Bl. C3v–C4r.
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Griechisch anhand der entsprechenden Übersetzung des Kleinen Katechismus und die Hauptartikel der christlichen Lehre in Deutsch oder Latein anhand von Bibelstellen. In der fünften Klasse lernten die Schüler Hebräisch und die wichtigsten Loci, wie etwa de peccato, de lege Dei, de gratia et fide iustificante, de bonis operibus, de magistratu und de libertate Christiana, anhand des Römerbriefes im griechischen Original.131 Balthasar Masco, auf den diese Schulordnung zurückgeht, verfolgte einen bibliozentrischen hermeneutischen Ansatz, der für die Gnesiolutheraner charakteristisch war und auch dem Kleinen Corpus Doctrinae zugrunde lag. Sowohl Masco als auch der einzige für die Zeit bis 1580 namentlich bekannte Lehrer Wolfgang Schumann132 unterhielten Verbindungen zu den bisher aufgezeigten Beziehungsnetzen. Masco wurde 1569 von Nikolaus Gallus in Regensburg ordiniert und Schumann hatte jahrelang in der Superintendentur Weimar als Pfarrer gedient, bevor er 1573 seine Entlassung erhielt.133 Die Loosdorfer Schule genoss eine breite regionale Anziehungskraft und wurde 1592 zu einer von den evangelischen Ständen finanzierten Landschaftsschule erhoben. Die Schulordnung von 1574 diente als Vorbild für die von Veit Albrecht von Puchheim als Patron der Pfarrei erlassene und am 1. Januar 1578 in Kraft getretene Ordnung für die Stadtschule Horn.134 Der Unterricht an dieser Schule sah drei Klassen vor und bezog das Kleine Corpus Doctrinae ein. An der Erstellung der Kirchen-, Schul- und Spitalordnung in Horn war der einstige ernestinische Pfarrer Lorenz Becher beteiligt.135 Vor seiner Entlassung im Jahre 1573 war er Diakon in Altenburg und danach Pfar-
131
Ebd., Bl. D7r. Zu seiner Biographie vgl. RAUPACH, Presbyterologia Austriaca, S. 247. 133 Schumann, geboren 1548 in Dundorf in Thüringen, studierte an den Universitäten Erfurt und Jena. Als Pfarrer in Kleinbrembach leistete er erfolgreich mit anderen Pfarrern in der Superintendentur Weimar Widerstand gegen die Declaratio Victorini. Vgl. eigenhändig verfasste ablehnende Stellungnahme zur Declaratio Victorini in: FB Gotha, Chart. A 38, Bl. 62r– v. Schumann war Unterzeichner der kollektiven Protestnoten in der Superintendentur Weimar 1563. Vgl. ThHStA Weimar, EGA, Reg. N 389; Reg. N 388, Bl. 44r–57v, 31r–41r. Zur Visitation von 1562 vgl. GEHRT, Ernestinische Konfessionspolitik, S. 217–246; DERS., »Strategien zur Konsensbildung im innerlutherischen Streit um die Willensfreiheit. Edition der Declaratio Victorini und der ernestinischen Visitationsinstruktion von 1562«, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 63 / 2009, S. 143–190. Zu Schumanns Bewertung in der Visitation von 1569 und Entlassung 1573 als Pfarrer von Kleinrudestedt vgl. ThHStA Weimar, EGA, Reg. N 506, Bl. 7r; Reg. Ii 57, Bl. 25r. 134 REINGRABNER, GUSTAV: »Die Reformation in Horn«, in: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 85 / 1969, S. 20–95, hier S. 48–50. 135 Zu seiner Biographie vgl. ebd., S. 27f.; RAUPACH, Presbyterologia Austriaca, S. 7f. 132
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rer in Nobitz gewesen.136 Während seines Aufenthalts in Wien erhielt er 1576 die Berufung von Puchheim. Die erste Polyglottausgabe des Kleinen Corpus Doctrinae ist auf den seit 1550 in der Klosterschule Ilfeld wirkenden Schulrektor Michael Neander137 zurückzuführen. Bereits zu Beginn seiner Tätigkeit in der Grafschaft Stolberg im Südharz hatte er Kontakt zum Flaciuskreis in Magdeburg.138 Seinen Freund Judex139 hatte er nach dessen Weggang von Jena vorübergehend beherbergt. Die mehrsprachige Übersetzung des Kleinen Corpus Doctrinae fügte sich ganz hervorragend in das pädagogische Konzept Neanders, der Bildungsziele des Bibelhumanismus verfolgte und in Ilfeld neben Latein auch Griechisch und Hebräisch lehrte.140 Seiner Ansicht nach mangelte es an Schulbüchern, die das Erlernen dieser Sprachen erleichterten, indem sie die Fülle der grammatikalischen Regeln auf einzelne praecepta reduzierten. Deshalb verfasste er griechische Grammatiken und gab neue Anthologien von lateinischen und griechischen Texten heraus. Zugleich legte Neander besonderen Wert auf die Entwicklung der pietas, die er durch das Auswendiglernen von religiösen Büchern fördern wollte. Bereits 1558 hatte er den Kleinen Katechismus ins Griechische übersetzt,141 damit fortgeschrittene Schüler die an
136 Zu Bechers Bewertung in der Visitation von 1569 als Diakon in Altenburg und seiner Entlassung 1573 als Pfarrer von Nobitz vgl. ThHStA Weimar, EGA, Reg. N 516, Bl. 5r–v; Reg. Ii 57, Bl. 142v. 137 Zu seinem Leben und Werk vgl. COHRS, FERDINAND: »Neander, Michael«, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 324 / 1913, S. 235–238; HEINECK, HERMANN: Aus dem Leben Michael Neanders. Festvortrag zum 400jährigen Geburtstag im Nordhäuser Geschichts- und Altertumsverein, Nordhausen 1925; KOCH, ERNST: »Michael Neander (1525–1595) als Theologe. Zur Vorgeschichte der Konkordienformel«, in: Bekenntnis zur Kirche. Festgabe für Ernst Sommerlath zum 70. Geburtstag, Berlin [1960], S. 112–125. 138 Vgl. die deutsche Übersetzung eines lateinischen Briefes von Neander an Otto vom 29. Juli 1554 bei: HEINECK, Aus dem Leben Michael Neanders, S. 10f. 139 Zur Freundschaft vgl. SCHOPPE, »Oratio«, Bl. m7v. Die beiden Gelehrten kannten einander wahrscheinlich seit ihrer gemeinsamen Studienzeit in Wittenberg. 140 NEANDER stellt seine Pädagogik insbesondere in folgender Schrift vor: Bedencken […], Wie ein Knabe zu leiten/ vnd zu vnterweisen/ Das er […] vom sechsten Jahr seines alters an/ biss auff das achtzehende […] lernen möge Pietatem, linguam Latinam, Graecam, Hebraeam, artes, vnd endlich vniuersam Philosophiam. […], Eisleben: Urban Gaubisch, 1581 (VD 16 N 348). Druck: Die Evangelischen Schulordnungen des sechszehnten Jahrunderts. Reinhold Vormbaum (Hrsg.), Gütersloh 1860, S. 746–761; und in einer handschriftlich überlieferten historischen Darstellung von 1589. Druck: »Michael Neander’s Bericht vom Kloster Ilfeld. Ein Beitrag zur Geschichte des 16. Jahrhunderts«, in: Rudolf Bouterwek (Hrsg.), Jahresbericht über das Königliche Pädagogium zu Ilfeld von Ostern 1872 bis Ostern 1873, Nordhausen 1873, S. 1–47, insbesondere S. 35–39. Neander weist auf seine Polyglottausgabe des KCD hin in: Ebd., S. 37f. Vgl. auch die Vorrede Neanders zu seiner Polyglottausgabe: KCD, Wittenberg 1582 (VD 16 R 2248), Bl. A1v–A7v. 141 VD 16 L 5959.
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tike Sprache anhand eines leicht verständlichen und gut strukturierten Erbauungstextes besser erlernen konnten. Auf Neanders Anraten hin142 gaben seine einstigen Schüler Johann Volland und Theodosius Fabricius 1581 eine griechische und hebräische Ausgabe des Kleinen Corpus Doctrinae in Leipzig bzw. Wittenberg heraus.143 Im folgenden Jahr ließ Neander beide Übersetzungen und seine deutsch-lateinische Fassung zusammen in einer Polyglottausgabe in Wittenberg drucken.144 Die Ausgabe weist einige Besonderheiten auf. Zum einen wurden die Fragen in thematische Überschriften umgewandelt, sodass das Werk nur noch aus Definitionen bestand. Zum anderen wurden die fünf polemischen Etiketten »Adiaphoristen«, »Majoristen«, »Synergisten«, »Osiandristen« und »Antinomer«, die vermeintlich irrige theologische Richtungen innerhalb des Luthertums bezeichneten, durch die neutralen Indefinitivpronomina »andere« oder »etliche« ersetzt. Die Kollektivbezeichnungen »Juden«, »Türken«, »Papisten«, »Wiedertäufer«, »Sakramentierer«, »Stenckfelder« (Schwenkfelder) und »Interimisten« für die Glaubensgemeinschaften außerhalb der Konfession wurden weiterhin verwendet. Diese Veränderungen erfolgten vor dem Hintergrund des von Jakob Andreä maßgeblich gestalteten und von Kurfürst August von Sachsen geförderten Einigungswerks der lutherischen Städte und Territorien im Reich, das mit dem Konkordienbuch von 1580 einen Meilenstein gesetzt hatte. Die Konkordienformel von 1577, die in Bezug auf die seit dem Augsburger Interim entstandenen innerkonfessionellen Kontroversen Lehrpositionen in Thesen und Antithesen formulierte, verzichtete auf die namentlichen Bezeichnungen, um die Einigungsgrundlage konsensfähig zu machen. Dementsprechend gestalteten Neander und seine Schüler ihre Ausgaben des Kleinen Corpus Doctrinae um. Da die Bezeichnungen »Adiaphoristen«, »Majoristen« und »Synergisten« vorwiegend Kritik an den albertinischen Theologen zum Ausdruck brachten, waren solche Veränderungen für die Publikation der neuen Ausgaben in den Universitätsstädten Leipzig und Wittenberg unabdingbar. Das Konkordienbuch stellte für die zweite Generation des Luthertums eine Verarbeitung der Interimskrise dar und bildete einen vorläufigen Abschluss der daraus entstandenen Kontroversen. Das Kleine Corpus Doctrinae, insbesondere der polemische Schlussteil, war eine Antwort auf die theologischen Konflikte dieser Zeit. Vor allem als prägnante elementare Darlegung streng lutherischer Theologie entfaltete es auch in den folgenden Generationen Breitenwirkung. 142
Vgl. »Michael Neander’s Bericht«, S. 38. KCD, Leipzig 1581 (VD 16 R 2281); KCD, Wittenberg, 1581 (VD 16 ZV 17524). 144 KCD, Wittenberg, 1582 (VD 16 R 2248). Druck des deutschsprachigen Teils: Quellen zur Geschichte des Katechismus-Unterrichts. Zweiter Teil: Mitteldeutsche Katechismen, Zweite Abteilung. Texte. Johann Michael Reu (Hrsg.), Gütersloh 1911. Nr. 27, S. 349–357. 143
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Dafür sorgte nicht zuletzt der jüngere Sohn des Judex Johannes, der als Beichtvater und Hofprediger Graf Johanns VII. von Oldenburg tätig war. Während dessen Vorgänger Graf Anton I. den evangelischen Glauben nur toleriert hatte, wurden 1573 unter Johann VII. die lutherische Konfession und Kirchenstruktur für das Territorium konstitutiv.145 Zum Zeichen dieser Konfessionspolitik und seines Selbstverständnisses als frommer Landesvater ließ er als ersten Druck der 1599 in Oldenburg eingerichteten Offizin eine niederdeutsche Ausgabe des Kleinen Katechismus publizieren, der die ersten 30 Artikel des Kleinen Corpus Doctrinae beigegeben waren.146 Die Vermutung liegt nahe, dass Johann Judex als Vertrauensmann des Grafen und Sohn des Verfassers für den Anhang verantwortlich war.147 Aus eigener Initiative gab Judex 1616 bei dem Leipziger Verleger Henning Grosse d. Ä. eine überarbeitete deutsche Ausgabe der ersten 31 Artikel mit Teilen des Kleinen Katechismus und einem Kommunikantenbüchlein von Andreas Osiander d. Ä. heraus.148 Anhand der nachgewiesenen Drucke ist erkennbar, dass das Kleine Corpus Doctrinae bis zum Beginn der pietistischen Bewegungen Ende des 17. Jahrhunderts intensiv im Gebrauch war. Sein Wirkungsraum erstreckte sich seit Ende des 16. Jahrhunderts bis in die schwedische Herrschaft, unter der Finnland und Estland standen, und wurde in die entsprechenden Sprachen übersetzt.149 Die niederländische Ausgabe des ostfriesischen Theologen Johann Ligarius wurde zweieinhalb Jahrhunderte in der lutherischen Gemeinde in Amsterdam sowie auch von holländischen Auswanderern in der reformierten Gemeinde in Neu-Amsterdam, später New York, verwendet.150
145
Vgl. die Kirchenordnung vom 29. September 1573. Druck: Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 7. Niedersachsen, 2. Hälfte. Die außerwelfischen Lande, 2. Halbband, 1. Tl. Stift Hildesheim, Stadt Hildesheim, Grafschaft Oldenburg und Herrschaft Jever. Emil Sehling (Hrsg.), Tübingen 1980. 146 KCD, Oldenburg 1599 (VD 16 R 2277). Druck: SCHAUENBURG, Hundert Jahre Oldenburgischer Kirchengeschichte, Bd. 2, Nr. 1, S. 542–586. Faksimile-Ausgabe mit Nachwort: LUTHER, De Klene Catechismus. Als Vorlage für die Ausgabe diente: KCD, Hamburg 1597 (VD 16 R 2275). Vgl. ebd., S. 9. 147 Vgl. ebd., S. 15; SCHAUENBURG, Hundert Jahre Oldenburgischer Kirchengeschichte, S. 124f. 148 KCD, Leipzig 1616 (VD 17 23:665501W). Widmungsvorrede an Henning Grosse d. Ä. 149 KCD, Greifswald 1587 (VD 16 R 2282); KCD, Stockholm 1642. Vgl. REU, Quellen, Tl. 3/1/1, S. 467–469. 150 Erste Ausgabe: KCD, [Woerden: Peeter Gevaerts?, ca. 1589]. Vgl. REU, Quellen, Tl. 3/1/1, S. 466f.; GARRELTS, HEINRICH: Johannes Ligarius. Sein Leben und seine Bedeutung für das Luthertum Ostfrieslands und der Niederlande, Emden 1915, S. 136–139.
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VI. Schlussbetrachtung Die geistigen Wurzeln des Kleinen Corpus Doctrinae reichen bis auf das monumentale Projekt der Magdeburger Zenturien zurück. Mit der Intention, die Lehre der apostolischen Zeit darzulegen, verfassten Wigand und Judex eine biblizistische Dogmatik der lutherischen Theologie. Ihr Syntagma stellte eine bewusste Abgrenzung von der theologischen Systematik dar, die Melanchthons Loci communes theologici zugrunde lag. Den unmittelbaren Entstehungskontext des Kleinen Corpus Doctrinae bildete die Hausandacht. In Erfüllung seiner väterlichen Erziehungspflichten reduzierte Judex sein mit Wigand gemeinsam verfasstes theologisches Kompendium auf einen leicht verständlichen und einprägsamen Kernbestand für die religiöse Unterweisung seines Sohnes. Doch war das Werk von vornherein nicht nur für den Haus-, sondern auch den Kirchen- und Schulgebrauch konzipiert. Es war Teil eines größeren pädagogischen Programms. Ausgehend von dem an ein akademisches Publikum gerichteten Syntagma verfasste Wigand den Methodus als Propädeutik für angehende Theologiestudenten in höheren Schulklassen und Judex das Kleine Corpus Doctrinae für die Elementarbildung. Beide Schriften wurden auch für die Weiterbildung bereits im Amt befindlicher Pfarrer und in der Prinzenerziehung verwendet. Von Anfang an galt das Kleine Corpus Doctrinae als Ergänzung zum Kleinen Katechismus. Während Luther theologische Inhalte auf der Grundlage traditioneller katechetischer Lehrstoffe wie Dekalog, Credo, Vaterunser und Sakramentslehre vermittelte, formulierte Judex Glaubensartikel, die unmittelbar von der Heiligen Schrift abgeleitet waren. Das Werk sollte den Schülern den Zugang zu komplexeren dogmatischen Themen erleichtern. Dabei brachte es eine streng lutherische Positionierung in den aktuellen nachinterimistischen Kontroversen deutlich zum Ausdruck. Die namentliche Verurteilung von zwei Religionen, zwei Konfessionen und anderen theologischen Richtungen in einem katechetischen Werk für Kinder und Jugendliche stellt eine Besonderheit dieser Schrift dar. Sie war intendiert als Medium der Indoktrination und der Stiftung einer ausgeprägten lutherischen Identität mit innerkonfessionellen Differenzierungen. Aus der Auswahl der beigefügten Schriften in den einzelnen Ausgaben lässt sich erkennen, dass das Werk den Laien als erbauliche Hilfe dienen sollte, um sich auf die Beichte und den Empfang des Abendmahls seelisch vorzubereiten. Für viele Einzelpersonen, wie etwa Herzogin Dorothea Susanna von Sachsen-Weimar, nahm es zudem die Funktion eines Bekenntnisbuches an. Verbreitet wurde das Kleine Corpus Doctrinae im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts durch ein Netzwerk von Freunden, die unter anderem durch ge-
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meinsame theologische Ansichten verbunden waren. Viele von ihnen folgten mehrfach neuen Berufungen und erlebten nicht zuletzt wegen ihrer besonderen Konfliktbereitschaft auch erzwungene Migration. Ihre Mobilität war ein wichtiges Moment für die Ausdehnung des Rezeptionsraums. Teile der verzweigten Verbreitungslinien des Kleinen Corpus Doctrinae korrelieren mit den wechselnden Wirkungsstätten einzelner Theologen. Die Orte und Regionen der Rezeption entsprachen der damaligen konfessionspolitischen Topographie im Reich. Denn die Träger fanden vor allem in jenen Städten und Territorien Aufnahme bzw. neue Anstellungen, die bei den innerevangelischen Einigungsbemühungen in den 1550er Jahren bis zur Konkordienformel 1577 versuchten, eine kompromisslose, streng lutherische Position und die öffentliche Verurteilung anderer theologischer Ausprägungen der Wittenberger Reformation durchzusetzen. Der Gebrauch des Kleinen Corpus Doctrinae als Schulbuch entsprach der Konfessionspolitik der Herzöge von Mecklenburg und Sachsen, der Pfalzgrafen von Zweibrücken, der Grafen von Mansfeld und Gleichen-Tonna, der Herren von Reuß und des Rats der Reichsstadt Regensburg. Wegen der brisanten Schlussfragen und -antworten ist der Gebrauch zum Beispiel in der Kurpfalz, Kursachsen, Kurbrandenburg, Herzogtum Württemberg, Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel und in der Landgrafschaft Hessen gar nicht oder nur beschränkt nachzuweisen, da die Fürsten dieser lutherischen bzw. reformierten Territorien eine eher vermittelnde Position in den Reichsreligionsversammlungen einnahmen. Aufgrund der expliziten innerkonfessionellen Lehrabgrenzungen, die das Rezeptionsbild stark prägten, wurde das Kleine Corpus Doctrinae zum wichtigen Schul- und Bekenntnisbuch der Gnesiolutheraner. Als prägnante systematische Darlegung lutherischer Theologie für die Elementarbildung erlebte es eine breite und nachhaltige Wirkung bis Ende des 17. Jahrhunderts in Mitteleuropa.
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»Michael Neander’s Bericht vom Kloster Ilfeld. Ein Beitrag zur Geschichte des 16. Jahrhunderts«, in: Rudolf Bouterwek (Hrsg.), Jahresbericht über das Königliche Pädagogium zu Ilfeld von Ostern 1872 bis Ostern 1873, Nordhausen 1873, S. 1–47. MIKLAS, HELENE: Die Geschichte der »Hohen Schule« zu Loosdorf 1574–1627. Meilenstein auf dem Weg der reformatorischen Pädagogik in Österreich oder eine bloße Episode? (= Dissertationen der Universität Wien 70), Wien 2001. MORITZ, ANJA: Interim und Apokalypse. Die religiösen Vereinheitlichungsversuche Karls V. im Spiegel der magdeburgischen Publizistik 1548–1551/52 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 47), Tübingen 2009. MÜLLER, GEORG: »Zwei Unterrichtspläne für die Herzöge Johann Friedrich IV. und Johann zu Sachsen-Weimar«, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 11 / 1890, S. 245–262. NEANDER, MICHAEL: Bedencken […], Wie ein Knabe zu leiten/ vnd zu vnterweisen/ Das er […] vom sechsten Jahr seines alters an/ biss auff das achtzehende […] lernen möge Pietatem, linguam Latinam, Graecam, Hebraeam, artes, vnd endlich vniuersam Philosophiam. […], Eisleben: Urban Gaubisch, 1581 (VD 16 N 348). Niederdeutsche Bibliographie. Gesamtverzeichnis der niederdeutschen Drucke bis zum Jahre 1800, Bd. 2: 1601–1800. Nachträge, Ergänzungen, Verbesserungen, Register, Conrad Borchling und Bruno Claussen (Hrsg.), Neumünster 1931–1936. Philippi Melanthonis opera quae supersunt omnia, hrsg. v. Carl Gottlieb Bretschneider, Braunschweig 1834ff. Nachdruck New York / London / Frankfurt am Main 1963. PISCHEL, FELIX: »Zur Geschichte der Sachsen-Ernestinischen Prinzenerziehung am Ende des 16. Jahrhunderts«, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde 39 / 1918, S. 253–287. Politische Korrespondenz des Herzogs und Kurfürsten Moritz von Sachsen, 5 Bde., hrsg. v. der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, bearbeitet v. Johannes Herrmann und Günther Wartenberg, Berlin 1982–1998. PONT, JOHANNES WILHELM: »Het kleine Corpus Doctrinae van D. Mattheus Judex«, in: Nieuwe Bijdragen tot Kennis van de Geschiedenis en het wezen van het Lutheranisme in de Nederlande 4 / 1911, S. 1–47. PREGER, WILHELM: Matthias Flacius Illyricus und seine Zeit, Bd. 2, Erlangen 1861, S. 310– 412. Quellen zur Geschichte des Katechismus-Unterrichts, 3 Tle. Johann Michael Reu (Hrsg.), Gütersloh 1904–1927. RATHGEBER, GEORG: Beschreibung der Herzoglichen Gemälde-Gallerie zu Gotha und vieler im Chinesischen Kabinet, in der Sammlung der Abgüsse von Bildwerken, im Münzkabinet Gotha befindlichen Gegenstände, Gotha 1835. Ratio Administrandi Scholas Triviales Proposita In Visitatione Ecclesiarvm Et Scholarvm Svb Ducatu Iuniorum principum Saxoniæ, Jena: Donat Ritzenhan, 1573 (VD 16 R 346). RAUPACH, BERNHARD: Presbyterologia Austriaca […], Hamburg 1741. RAUSCHER, HIERONYMUS: LOCI COMMVNES DOCTRINAE CHRISTIANAE […], Nürnberg: Johann vom Berg und Ulrich Neuber, 1563 (VD 16 R 410). REGIUS, URBAN: Seelen Ertzney für die gesunden vnd krancken/ in todes nöten […], Wittenberg: Veit Kreutzer, 1561 (VD 16 R 1928). REINGRABNER, GUSTAV: »Die Reformation in Horn«, in: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 85 / 1969, S. 20–95. RITSCHL, OTTO: Dogmengeschichte des Protestantismus. Grundlagen und Grundzüge der theologischen Gedanken- und Lehrbildung in den protestantischen Kirchen, Bd. 1. Prolegomena, Biblicismus und Traditionalismus in der altprotestantischen Theologie, Leipzig 1908.
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–: Dogmengeschichte des Protestantismus. Orthodoxie und Synkretismus in der altprotestantischen Theologie, Bd. 2, Leipzig 1912. [ROSINUS, BARTHOLOMÄUS]: Confessionschrifft: Etlicher Predicanten in den Herrschafften/ Graitz/ Geraw/Schonburg/ vnd anderer hernach vnterschriebenen: Gestellet Zu Notwendiger Ablenunge vieler Ertichten Calumnien vnd Lesterungen/ vnd dagegen zu erklerunge vnd beförderung der Warheit/ […], Eisleben: Andreas Petri, 1567 (VD 16 M 5038, ZV 10917, 10919). SCHAUENBURG, LUDWIG: Hundert Jahre Oldenburgischer Kirchengeschichte von Hamelmann bis auf Cadovius (1573–1667). Ein Beitrag zur Kirchen- und Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts, Bd. 2, Oldenburg 1897. SCHAUMKELL, ERNST LUDWIG AUGUST KARL: Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Magdeburger Centurien, Ludwigslust 1898. SCHEIBLE, HEINZ: Die Entstehung der Magdeburger Zenturien, Gütersloh 1966. SCHINDLING, ANTON (Hrsg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, 7 Bde., Münster 1989–1997. SCHMID, EDUARD: »Des Flacius Erbsünde-Streit. Historisch-literarisch dargestellt«, in: Zeitschrift für die historische Theologie 13 / 1849, S. 1–78, 175–217. SCHNEEGASS, CYRIACUS: CATECHETICA: Das ist/ Einfeltige vnnd Christliche Fragstück/ von den Ständen der Haustaffel/ Jharfesten/ vnd fürnembsten Wercken Gottes. Sampt schönen Gebeten/ auff die Heuptfeste vnd etliche Sontage. Für die liebe Jugend zusamen getragen/ Durch M. Cyriacum Schneegaß/ Pfarrherrn vnd Adiunctum zu Friedrichroda. Mit einer Vorrede des Ehrwirdigen […] Herrn D. Antonij Probi, F. Säch. General Superintendenten zu Weimar, Schmalkalden: Michael Schmuck, 1595 (VD 16 ZV 23076). [SCHOPPE, ANDREAS]: Bericht Ob die Erbsünde sey ein Wesen/ Aus dem Catechismus/ durch einen fromen Christen geschrieben. Mit einer Vorrede D. Johannis Wigandi Superintendenten zu Jhena, Jena: Donat Ritzenhan, 1571 (VD 16 B 1838). –: »Oratio de vita M. Matthæi Ivdicis […]«, in: Matthäus Judex, Epistolarvm Festivalivm, quæ in præcipvis sanctorvm feriis a Dominica Trinitatis usque ad primam Dominicam Adventus, Ecclesiæ proponi solent. Explicatio […], Eisleben: Andreas Petri und Matthäus Gisecke, [1578], Bl. l8r–n8v (VD 16 R 2244). –: Rettung Des Heiligen Catechismi wider den Schwarm der newen Manicheer und Substantijsten. Durch M. Andream Schoppium. Mit einer Vorrede D. Johannis Wigandi/ Superintendenten vnd Professorn zu Jhena, Jena: Donat Ritzenhan, 1572 (VD 16 S 3876). SCHRÖDER, DIETER: Kirchen-Historie des evangelischen Meklenburgs vom Jahr 1518 bis 1742, Tl. 2, Rostock 1788. STRUBBERG, JOHANN ANTON: Series professorum theologiae, qui in illustri acad. Jenensi ab illius fundatione ad nostra usque tempora vixerunt et adhuc vivunt, Jena 1720. TENBERG, REINHARD: »Judex, Matthäus«, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 3 / 1992, Sp. 770f. THIELE, RICHARD: Die Gründung des evangelischen Ratsgymnasiums zu Erfurt (1561) und die ersten Schicksale desselben. Ein Beitrag zur Schul- und Gelehrtengeschichte des 16. Jahrhunderts, Erfurt 1896. Thomae Crenii Animadversionum Philologicarum et Historicarum Pars VI. […], 1620. ULRICH, HERZOG VON MECKLENBURG: Revidirte Kirchenordnung: Wie es mit Christlicher Lehre/ reichung der Sacrament/ Ordination der Diener des Evangelii/ ordentlichen Ceremonien in der Kirchen/ Visitation/ Consistorio und Schulen: Im Hertzogthumb Meckelnburg/ etc. gehalten wirdt, Rostock: Stephan Müllmann 1602 (VD 17 39:129937B). Das Unterrichtswesen der Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Strelitz, Bd. 1. Urkunden und Akten zur Geschichte des mecklenburgischen Unterrichtswesens. Mittelalter und das Zeitalter der Reformation. Heinrich Schnell (Hrsg.), Berlin 1907.
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VEESENMEYER, GEORG: Literarisch-bibliographische Nachrichten von einigen evangelischen catechetischen Schriften, Ulm 1830. WALCH, JOHANN GEORG: Bibliotheca Theologica Selecta Litterariis Adnotationibus, Tomus Primus, Jena 1757. WARTENBERG, GÜNTHER: »Philipp Melanchthon und die sächsisch-albertinische Interimspolitik«, in: Lutherjahrbuch 55 / 1988, S. 60–82. Weimarer Ausgabe der Werke Luthers, Weimar 1883ff. WENIGER, LUDWIG: »Weimarische Schulordnung von 1562«, in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 7 / 1897, S. 172–187. WEX, FRIEDRICH KARL: Zur Geschichte der Schweriner Gelehrtenschule. Eine Hinweisung auf das am 4. August 1853 zu feiernde dreihundertjährige Jubiläum […], Schwerin 1853. ZEUMER, JOHANN KASPAR: Vitae professorum theolog. omnium, qui in illustri Academia Ienensi ab ipsius fundatione ad nostra usque tempora vixerunt […], Jena [nach 1700]. ZOBER, ERNST HEINRICH: Urkundliche Geschichte des Stralsunder Gymnasiums von seiner Stiftung 1560 bis 1860. In sechs Beiträgen, Stralsund 1860.
Anhänge 1. Bibliographie der Erstausgabe des ›Kleinen Corpus Doctrinae‹ Das einzige bekannte Exemplar der Erstausgabe des Kleinen Corpus Doctrinae befindet sich heute in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel unter der Signatur S: Alv.: Ei 168a (3). Es war ursprünglich ein Geschenk des Rostocker Predigers an der St. Jakobskirche Caspar Leunculus151 an Andreas von Meyendorf.152 Es gelangte in kurzer Zeit in den Besitz von Joachim von Alvensleben und wurde die dritte Schrift eines Sammelbandes mit Exemplaren von Martin Luthers Kleinem Katechismus, Hieronymus Rauschers Loci Commvnes Doctrinae Christianae und Urban Regius’ Seelen Ertzney.153 Auf beiden Deckeln des Ganzledereinbandes sind die Initialen des Besitzers I V A und das Bindejahr 1565 goldgeprägt. Joachim von Alvensleben gilt als Stifter der im Schloss Erxleben gegründeten Bibliothek der Adelsfamilie Alvensle
151 Leunculus stammte aus Sellin und wurde im Mai 1560 an der Universität Rostock immatrikuliert, wo er 1564 den Magistergrad erlangte. Er starb im September 1565. Vgl. Die Matrikel der Universität Rostock, Tl. 2. Mich. 1499-Ost. 1611. Adolph Hofmeister (Hrsg.), Rostock 1891, S. 140, 154. Interessanterweise war das Haus des Leunculus der vom Rostocker Rektor bestimmte Versammlungsort für die Studenten, die sich zum Begräbnis des Judex am 17. Mai 1564 begaben. Vgl. SCHOPPE, »Oratio«, Bl. n7v. 152 Vgl. eigenhändige Widmung auf dem Titelblatt: nobili uiro Andr[eae] a Meiendorff d[ono] d[edit]. Caspar Leuncu[lus]. Die letzten drei Buchstaben der Namen Andreas und Leunculus fehlen, da das Exemplar beim Einbinden beschnitten wurde. 153 LUTHER, MARTIN: Der Kleyne Catechismus für die Gemeyne Pfarhern vnd Prediger […], Straßburg: Samuel Emmel, 1560 (VD 16 L 5092); RAUSCHER, HIERONYMUS: LOCI COMMVNES DOCTRINAE CHRISTIANAE […], Nürnberg: Johann vom Berg und Ulrich Neuber, 1563 (VD 16 R 410); REGIUS, URBAN: Seelen Ertzney für die gesunden vnd krancken/ in todes nöten […], Wittenberg: Veit Kreutzer, 1561 (VD 16 R 1928).
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ben, die der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1975 als Dauerleihgabe übergeben wurde.154 Im Folgenden wird die Erstausgabe bibliographisch und inhaltlich beschrieben. Die eckigen Klammern bezeichnen Ergänzungen, die bereits in den frühen Ausgaben aus den Jahren 1564 und 1565 vorkamen und in späteren Ausgaben häufig übernommen wurden.155 Das Kleine || CORPVS DOCTRINÆ || Das ist/|| Die Heuptstücke vnnd || summa Christlicher lere/ für die || Kinder in Schulen vnd Heu=||sern/ auffs einfeltigst ge=||stellet/ durch || MATTHÆVM IVDICEM. || Psal: 119. || Wie wird ein Jüngling seinen || weg vnstrafflich gehen? || Antwort. || Wenn er sich helt nach deinem Wortt. || Rostock || Durch Stephan Molle=||man getruckt. || M. D. LXIIII. || 28 Oktavblätter. VD 16 ZV 13254. Bl. A1v: leer Bl. A2r–A3r: Widmungsvorrede an die unmündigen Söhne Herzog Johann Albrechts I. von Mecklenburg, Johannes d. J. und Sigismund Augustus. Datiert: Wismar in den Heiligen Weinachten. Anno 1564 [25. Dezember 1563].156 Bl. A3v–C5v: Von Gott. Von der Schepfung. Von den Engeln. Von dem Menschen. Von der Sünde. Von Gottes wort. Von dem Gesetze. Vom Euangelio. Von der Gerechtigkeit. Vom Glauben. Von dem newen Gehorsam/ oder guten Wercken. Von der Busse. Von dem Gebete. Von der Tauffe. Von den Schlüsseln. Vom Abendmal. Von der Christlichen Kirchen. Vom Predigtampte. Von der Christlichen Freiheit. Von den Adiaphoren vnd Mitteldingen. Von den Ergernissen. Vom Antechrist. [Vom Creutze.] 157
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Zur Bibliothek vgl. ARNOLD, »Adelsbildung«, S. 167–194. Ergänzungen entsprechen orthographisch KCD, Erfurt 1565 (VD 16 R 2249). 156 Es war im 16. Jahrhundert gängige Praxis, Weihnachten als den Beginn des neuen Kalenderjahres zu betrachten. 155
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Vom Ehestande. Von der Oberkeit. Vom Tode. Von der Aufferstehung der todten. Vom Jüngesten tage. Von der Helle. Vom ewigen Leben. Worzu dienet diese Lehr? [Ists auch recht/ das ein Christ in der Jugendt falsche Lere/ so zu vnser Zeit im Schwange gehet/ nach dem Catechismo/ vnd Gottes Wort lerne vrtheilen/ vnd verwerffen?] 158 Welche Leute leren falsch zu vnser zeit? Welche Artickel fechten die Jüden vnd Türcken an? Welche Artickel verkeren die Papisten? Welche Artickel haben die Sacramentirer nicht rein? Welche Artickel fechten die Widerteuffer an? [Wider welche Artickel streitten die Stenckfelder?] 159 [Was thun die Jnterimisten?] 160 Was fechten die Adiaphoristen an? Worin jrren die Maioristen? Worinne jrren die Synergisten? Worinn jrren die Osiandristen? Worinn jrren die Antinomer edder Gesetz schender? Was ist die Regel/ darnach sich ein Mensch richten sol? Bl. C6r–v: Ein Gebedt vber die kinder/ welche von erst zum gebrauch des Nachtmals des heren gelassen werden/ vnd den Catechismum fur der Kirchen auffgesaget haben. Johan. Wigand. Bl. C6v–D2r: Vermanung an die so beichten/ vnd die heilige Absolution empfahen wollen/ Auff frag vnd antwort gestellt. Michael Celius. Bl. D2v–D4r: Vermanung an die/ So das Hochwirdige Sacrament empfahen wollen. Bl. D4v: Gebet.
2. Verzeichnis der Drucke des ›Kleinen Corpus Doctrinae‹ Folgendes Verzeichnis enthält alle bisher bekannten Ausgaben oder Auflagen des Kleinen Corpus Doctrinae als eigenständiger Druck oder als Teil einer anderen Schrift mit Angaben zum Druckort, Drucker und Erscheinungsjahr
157 Aufgenommen in: KCD, Wesel, 1564 (VD 16 00); KCD, Rostock 1565 (VD 16 R 2265); KCD, Erfurt 1565 (VD 16 R 2249); KCD, Wesel 1565 (VD 16 R 2250). 158 Aufgenommen in: KCD, Wesel, 1564 (VD 16 00); KCD, Erfurt 1565 (VD 16 R 2249); KCD, Wesel 1565 (VD 16 R 2250). 159 Aufgenommen in: KCD, Erfurt 1565 (VD 16 R 2249); KCD, Wesel 1565 (VD 16 R 2250). 160 Aufgenommen in: KCD, Erfurt 1565 (VD 16 R 2249); KCD, Wesel 1565 (VD 16 R 2250).
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sowie zur Sprache und gegebenenfalls zum Herausgeber (Hrsg.).161 Die Mehrheit ist bereits in Wiechmanns umfangreichen Titel- und Inhaltbeschreibungen (abgekürzt W mit Seitenangabe) und/oder in dem von Reu ergänzten und nach Sprachen geordneten Überblicksverzeichnis (abgekürzt R mit Bezug auf Kategorie- und Reihenfolgenummer) nachgewiesen.162 Wenn eine Ausgabe oder Auflage nicht im VD 16 oder 17 verzeichnet ist, wird die Signatur eines nachgewiesenen Exemplars oder ein entsprechender Literaturverweis angeführt. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30.
Rostock: Stephan Möllemann, 1564. Dt. (W 31, R 1/1, VD 16 ZV 13254) Wesel: Hans de Braeker, 1564. Niederl. (W 92f., R 8/1, LBMV Schwerin: Mkl h 850/2) Erfurt: Georg Baumann d. Ä., 1565. Dt. (W 32, R 1/2, VD 16 R 2249) Oberursel: Nicolaus Heinrich d. Ä., 1565. Dt. (W 32, R 1/3) Rostock: Stephan Möllemann, 1565. Niederdt. (W 75, R 2/1, VD 16 R 2265) Wesel: Johann von Münsters Erben, 1565. Dt. (W 33, R 1/4, VD 16 R 2250) Eisleben: Andreas Petri, 1566. Dt. (VD 16 ZV 24294) Erfurt: Georg Baumann d. Ä., 1566. Dt. (Reu 1/5, VD 16 R 2251) Erfurt: Konrad Dreher, 1568. Dt. (W 33f., Reu 1/6, VD 16 R 2252) S.l., 1568. Dt. (Bibliotheca Palatina: F 123) S.l., 1569. Dt. (R 1/7, ThULB Jena: 8 Theol. XXXVI, 11(2)) Eisleben: Andreas Petri, [ca. 1570]. Dt. (R 1/12, VD 16 ZV 13252) [Eisleben: Andreas Petri, ca. 1570]. Dt. (VD 16 R 2253) Erfurt: Georg Baumann d. Ä., 1571. Dt. (R 1/8, VD 16 ZV 13256) Lübeck: Johann Balhorn d. Ä., 1571. Niederdt. (VD 16 R 2266) Oberursel: Nikolaus Heinrich d. Ä., 1571. Dt. (VD 16 ZV 13257) Rostock: Johann Stöckelmann und Andreas Gutterwitz, 1571. Niederdt. (W 78f., R 2/2, VD 16 R 2267) Erfurt: Georg Baumann d. Ä., 1573. Lat. (W 98–100, R 3/1, VD 16 R 2278) Königsberg: Hans Daubmann, 1573. Dt. (R 1/10, VD 16 R 2254) Regensburg: Johann Burger, 1573. Dt. (W 34–36, R 1/9, VD 16 ZV 13258) Regensburg: Johann Burger, 1574. Dt. (Staatl. Bibliothek Regensburg: 999/Theol. syst. 1118(1)) Oberursel: Nikolaus Heinrich d. Ä., 1575. Dt. (VD 16 R 2255) Rostock, 1575. Niederdt. (VD 16 R 2268) S.l., 1576. Dt. (R 1/11, VD 16 R 2256) Erfurt: Georg Baumann d. Ä., 1576. Dt. (W 38f., R 1/11, SLUB Dresden: Theol. ev. cat. 155–1576) Erfurt: [Georg Baumann d. Ä.], 1577. Lat. Hrsg.: Nicolaus Leo. (W 101, R 3/4, VD 16 R 2279) Oberursel: Nikolaus Heinrich d. Ä., 1577. Dt. (W 39f., R 1/13, VD 16 R 2257) Erfurt: Georg Baumann d. Ä., 1578. Dt. (VD 16 R 2258) Oberursel: Nikolaus Heinrich d. Ä., 1578. Dt. (R 1/14, VD 16 R 2259) Rostock: August Ferber d. Ä., 1578. Niederdt. (W 79f., R 2/3, VD 16 R 2269)
161
Meine Kollegin in der Forschungsbibliothek Gotha, Frau Franziska König, unterstützte mich dankenswerterweise bei der Erstellung dieser Bibliographie. 162 Vgl. WIECHMANN, Das Kleine Corpus Doctrinae, S. 31–112; REU, Quellen, Tl. 3/1/1, S. 469–472.
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31. Rostock, 1579. Niederdt. (VD 16 R 2270) 32. S. l., 1579. Dt. (Katalog des Antiquariats Turszynski, München, 2011) 33. [Erfurt: Georg Baumann d. Ä.], 1580. Lat. Hrsg.: Nicolaus Leo. (W 102f., R 3/5, VD 16 R 2280) 34. Frankfurt/Main, 1581. Dt. (W 40f., R 2/4) 35. Leipzig: Georg Deffner, 1581. Griech. Hrsg.: Johann Volland. (W 108; R 5/1, VD 16 R 2281) 36. Rostock: Stephan Möllemann, 1581. Niederdt. (W. 80f., R 2/4, VD 16 R 2271) 37. Wittenberg: Johann Krafft d. Ä. Erben, 1581. Hebr. Hrsg.: Theodor Fabricius. (W109f., R 6/1, VD 16 ZV 17524) 38. Heidelberg: Johann Spies, 1582. Lat. Verse. Hrsg.: Jeremias Homberger. (VD 16 H 4585) 39. Heidelberg: Johann Spies, 1583. Lat. Verse. Hrsg.: Jeremias Homberger. (VD 16 H 4586) 40. Wittenberg: Johann Krafft d. Ä. Erben, 1582. Dt.-Lat.-Griech.-Hebr. Hrsg.: Michael Neander. (W 111, R 7/1, VD 16 R 2248) 41. Hamburg: Hans Binder, 1583. Niederdt. (W 81–83, R 2/5, VD 16 R 2272) 42. Oberursel: Nikolaus Heinrich d. Ä., 1583. Lat.-Dt. Hrsg.: Josua Opitz. (W 104ff., R 4/1, VD 16 R 2264) 43. S.l., 1584. Dt. (W 42f., R 1/18, VD 16 R 2260) 44. Lauingen: Leonhard Reinmichel, 1584. Dt. (W 41f., R 1/16, VD 16 R 2261) 45. Rostock: Stephan Möllemann, 1584. Niederdt. (VD 16 R 2273) 46. Erfurt: Georg Baumann d. Ä., 1587. Dt. (W 43f., R 1/19, VD 16 R 2262) 47. Greifswald: Augustin Ferber d. Ä., 1587. Schwed. (VD 16 R 2282) 48. Jena: Tobias Steinmann, 1588. Dt. (W 44–46, R 1/20, VD 16 C 2318) 49. [Woerden, Peeter Gevaertsz?, ca. 1589]. Niederl. Hrsg.: Johannes Ligarius. (R 8/2) 50. Eisleben: Urban Gaubisch, 1590. Dt. Hrsg.: Caspar Melissander. (W 46f., R 1/22, VD 16 ZV 13260) 51. Eisleben: Urban Gaubisch, 1590. Lat. (W 106, R 4/3) 52. Erfurt: Jakob Singe, [ca. 1590]. Lat.-Dt. Hrsg.: Josua Opitz. (Reu 4/2, VD 16 ZV 25207) 53. Hamburg: Heinrich Binder, [ca. 1590]. Niederdt. (W 83f., R 2/6, VD 16 R 2274) 54. Königsberg: Georg Osterberger, 1592. Dt. (R 1,23; Nationalbibl. Warschau, als Film in d. BVB München vorh.) 55. Erfurt: Georg Baumann d. Ä., 1593. Dt. (UB Greifswald: 542/Fr 171) 56. Lauingen, 1593. Dt. (W 47f., R 1/24) 57. [Oberursel: Nikolaus Heinrich d. Ä.], 1595. Dt. (W 48f., R 1/25, SUB Göttingen: 8 TH TH I, 470/49) 58. Rostock, 1595. Dt./Niederdt.?. (W 48, R 1/26) 59. Hamburg: Jakob Lucius, 1597. Niederdt. (W 84–86, R 2/7, VD 16 R 2275) 60. Wolfenbüttel: Konrad Horn, 1597. Dt. (W 50f., R 1/28, VD 16 R 2263) 61. Hamburg: Theodosius Wolder, [ca. 1598]. Niederdt. (W 86–88, R 2/8, VD 16 R 2276) 62. Magdeburg: Johann Francke, 1598. Dt. (W 51f., R 1/29, Zürich: E 372) 63. Oldenburg: Warner Berendts Erben, 1599. Niederdt. Hrsg.: Graf Johann VII. von Oldenburg. (W 88f., R 2/9, VD 16 R 2277) 64. Oberursel: Nikolaus Heinrich d. Ä. für Hans Gottfriedt, 1599. Dt. (W 52, R 1/30, Staatl. Bibliothek Regensburg: 999/Theol. syst. 1118(3)) 65. Wittenberg: Johann Krafft d. J., 1599. Dt.-Lat.-Griech.-Hebr. (W 112, R 6/2, VD 16 ZV 13261) 66. Frankfurt/Main, 1602. Dt. (W 53, R 1/31) 67. Leipzig: Bartholomäus Voigt, 1602. (Domstift Brandenburg: G: 5,4,3)
196 68. 69. 70. 71. 72.
Daniel Gehrt
Hamburg: Philipp von Ohr, 1603. Niederdt. (R 2/10, LBMV Schwerin: Mkl h 850/1:K) Lübeck, 1603. Niederdt. (W 90, R 2/11) Hamburg: Johann Wolder, 1607. Niederdt. (VD 17 75:654925D) Braunschweig: Andreas Duncker, 1608. Dt. (W 53f., R 1/32, VD 17 23:646583M) Hamburg: Heinrich Dose, 1610. Niederdt. (Niederdeutsche Bibliographie. Gesamtverzeichnis der niederdeutschen Drucke bis zum Jahre 1800, Bd. 2: 1601–1800. Nachträge, Ergänzungen, Verbesserungen, Register, Conrad Borchling und Bruno Claussen (Hrsg.), Neumünster 1931–1936, Sp. 1238, Nr. 2891) 73. Magdeburg: Johann Francke, 1611. Lat.-Dt. Hrsg.: Josua Opitz. (VD 17 23:272632L) 74. Helmstedt: Jakob Lucius, 1611. Dt. Hrsg.: Josua Opitz. (W 54f., R 1/33) 75. Amsterdam: Paulus van Ravesteyn, 1612. Niederl. (Evan. Predigerseminar Wittenberg 8° Ph 459 (2)) 76. Leipzig: Bartholomäus Voigt, 1613. Lat.-Dt. Hrsg.: Josua Opitz. (W 106f., R 4/4) 77. Gera: Johann Spieß, 1615. Lat. Hrsg: Friedrich Glaser. (Stadtmuseum Gera: P I d 51) 78. Gera: Johann Spieß, 1615. Dt.. Hrsg: Friedrich Glaser. (Stadtmuseum Gera: P I d 51a) 79. Gera: Johann Spieß, 1615. Lat.-Dt. Hrsg: Friedrich Glaser. (vgl. Büttner, Geschichte des Fürstenlichen Gymnasiums Rutheneum zu Gera, S. 159. 80. Leipzig: Henning Grosse, 1616. Dt. Hrsg.: Johann Judex. (W 55ff., R 1/34, VD 17 23:665501W) 81. Gera, 1623. Dt. Hrsg.: Friedrich Glaser. (vgl. Büttner, Geschichte des Fürstlichen Gymnasiums Rutheneum zu Gera, S. 159) 82. Amsterdam: Paulus Stoobant Witwe, 1629. Niederl. (FB Gotha: Cant. spir. 8° 325(2)) 83. Amsterdam, 1631. Niederl. (R 8/3) 84. Stockholm: Ignatius Meurer, 1642. Dt.-Lat.-Schwed.-Finn. (W 97, R 10/1, HAB Wolfenbüttel: Tf 73) 85. Rostock: Joachim Wilde, 1659. Dt. (W 62f., R 1/36, UB Rostock: Fi-3127) 86. Wismar, 1660. Dt. Hrsg.: Johann Bellin. (W 64, R 1/37) 87. Reval: Adolph Simon, 1662. Dt.-Estn. Hrsg.: Christoph Blum. (SUB Göttingen: 8 TH TH I, 470/45 Rara) 88. Amsterdam, 1666. Niederl. (W 93, R 8/4) 89. Amsterdam, 1671. Niederl. (R 8/5) 90. Lübeck: Ulrich Wettstein, 1673. Dt. (R 1/38, VD 17 32:678543D) 91. Rostock: Johann Keyl, 1675. Dt. (W 68f., R 1/40) 92. Wismar: Joachim Georg Recht, 1675. Dt. Hrsg.: Johann Bellin. (W 64–68, R 1/39, LBMV Schwerin: Mkl h 851) 93. Greifswald: Daniel Benjamin Starcke, 1682. Dt. (W 69f., R 1/42, UB Greifswald: 520/Ft 404) 94. Greifswald: Daniel Benjamin Starcke, o. J. Dt. (W 70–72, R 1/42, UB Greifswald: 520/Ft 404) 95. Rostock, 1682. Dt. (W 69, R 1/41) 96. Rostock: Jakob Riechel, 1696. Dt. (W 72ff., R 1/44, LBMV Schwerin: Mkl h 850: P) 97. Reval, Christoph Brendeken, o. J. Schwed. (R 9/1) 98. Halle: Johann Christian Hendel, 1735. Dt. (ULB Halle: AB 153292 (5)) 99. Amsterdam: Gysbert de Groot Keur, 1744. Niederl. Hrsg.: Adolf Visscher. (VU Amsterdam: XI.05627) 100. Dresden: Friedrich Heckel, 1747. Dt. (KB Den Haag: 2 E 14 [4]) 101. Amsterdam: Hendrik Burgers, [1722–1751]. Niederl. Hrsg.: Adolf Visscher. (UB Amsterdam: OTM: O 60-4643) 102. Amsterdam: Johannes Kannewet, 1766. Niederl. (UB Amsterdam: OTM: OK 99-193(7))
Das ›Kleine Corpus Doctrinae‹ des Matthäus Judex
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103. Amsterdam: Adam Meyer, 1805. Niederl. (KB Den Haag: 1087 H 21) 104. Amsterdam: Schalekamp, 1827. Niederl. (UB Maastricht: MU Wa 224 A 9f.)
3. Brief von Schoppe an Irenäus 1566 Generell wurde diplomatisch getreu transkribiert. Mit Ausnahme von Eigennamen und Satzanfängen wurde im Zweifelsfall die Kleinschreibung vorgezogen. Die Interpunktion wurde beibehalten mit Ausnahme des Satzendes, das jeweils mit einem Punkt gekennzeichnet wird. Ligaturen und Abkürzungen werden aufgelöst und die Ergänzungen durch eckige Klammern gekennzeichnet. Andreas Schoppe: Brief an Christoph Irenäus, Halberstadt, 31. Juli 1566. Autograph mit Siegelspur. FB Gotha, Chart. A 70, Bl. 107r–108v. [108v] Reuerendo & clarissimo viro D[omino] Christophoro Ireneo, Ecclesiastæ apud Islebienses fidelissimo, Domino suo plurimum colendo. [107r] Gratiam & pacem à Deo p[er] Christu[m] Jesum, Amen. Reuerende & clarissime vir ac frater in Christo, Non dubito te præclaris donis S[piritus] Sancti ornatu[m] hinc inde p[er] multa colligere signa, vnde diuines intra paucos annos Germania[m] Ægyptiacis tenebris iter[um] inuoluendam. Summu[m] [e]n[im] est reuelatæ doctrinæ cœlestis fastidium & contemptus: pij & constantes curatores animar[um] à lupis & vulpibus eijciunt[ur] in exilium, Errores p[er]tinaciter co[n]tra conscientia[m] excusant[ur] & defendu[n]t[ur] & q[ui]s mala, quibus horrenda[m] cæcitate[m] meremur, singillatim referre potest? Ad retinendas aut[em] scintillas veritatis diuinæ cum alia facient tum Catechismi crebra & pia repetitio & inculcatio, quemadmodu[m] vestra Ecclesià illustri exemplo est alijs, quod in ea singulis diebus dominicis doctrina Catechistica enodatur. Etsi autem inter catechismos huius temporis facilè primas tenet catechismus Lutheri: tamen ab alijs pijs viris compositos libellos, q[ui] summa[m] doctrinæ christianæ continent, haud contemnendos censeo, ac multis pijs viris p[er]placuit paruu[m] corpus doctrinæ à D[omino] Mattheo Judice p[iae] m[emoriae] anteceßore meo in coniugio, contextum anno 1564, & excusu[m] Rostochij.163 Etsi aut[em] autor id correxit: tamen Exemplaria Wesaliae164 et Erphurdiae165 impressa et ab αυτογραϕω (quod manu D[omini] Judicis et partim manu D[omini] Andreæ Coruini Affinis D[omini] Wigandi exaratu[m] meu[m] habeo) & inter sese discrepant. Quo cognito Dolui quæda[m] omissa, nonulla [107v] mutata. Cum D[omino] Wigando conferre ea de re non licuit, quòd rarius hinc illuc eatur, & is nunc longo tempore abfuerit domo. Nup[er] autem generosus & pijssimus Abadias D[ominus] Andreas Meiendorpius mihi autor fuit, vt exemplum cum alijs editionibus et αυτογραϕω collatu[m] illuc mitterem & iudicium reuerendis & orthodoxis viris D[omino] Hieronymo Mencelio, D[omino] Cyriaco Spangenbergio, ac tibi p[er]mitterem, vos enim ea sapientia p[rae]ditos, vt γνησια ab adulterinis & p[er]iculosè dicta a sanis facilè essetis discreturi. Cum aut[em] reliq[uii]s clarissimis venerandis viris & facie & nomine forsan, ignotus, ad te verò ante annu[m] literas, suasu charißimae coniungis D[omini] Judicis viduæ, tibi familiariter notæ, oblato co[m]modo homine mittere malui. Ac reuerenter & veheme[n]ter peto, vt hanc scriptione[m] & petitionem candidè accipias. Exemplaria Erphurdiensis editionis istic extare audio, αυτόγραφον ipsu[m] mitto, sed ea conditione, vt huic
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KCD, Rostock 1564 (VD 16 ZV 13254). KCD, Wesel 1564 (VD 16 00) und KCD, Wesel 1565 (VD 16 R 2250). 165 KCD, Erfurt 1565 (VD 16 R 2249). 164
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Daniel Gehrt
homini ad me referendu[m] detur. Nam ne litera[m] quidem mihi abalienare licet de bibliotheca pijssimi antecessoris. Hic vero tantu[m] doctrinæ cœlestis p[ro]pagationem & conseruatione[m] in Eccl[es]ia libelli p[er]breuis & longè vtilissimi quæro. Quamq[uam] autem vobis discrimina exemplarium diiudicanda relinquo; tamen de vno atq[ue] alieno loco vobiscum [108r] amicè confero. In editione Rostochiensi (a[nn]o 64 impressa) d[e]t[u]r, quod p[ec]c[a]t[u]m sit corrupta natura &c.166 quae definitio ead[e]m incurreret in voculas quorundam studiosorum. D[ominus] Judex epistola quadam ea tuetur, vtq[ue] rationes & verba ipsius autoris recti[us] p[rae]cipiatis totam ep[isto]lam his literis adiunxi. Eandem phrasin & in confessione Meiendorpij multor[um] doctor[um] calculo approbata nup[er] inueni.167 Videtur aut[em] astipulari sententiæ illor[um], q[ui] contendunt p[ec]c[a]t[u]m esse substantiam, in qua[m] se haud esse ait in hoc ep[isto]lio d[ominus] Judex. Deinde p[ec]c[a]t[u]m actuale q[ui]da[m] diuidunt in mortale & veniale,168 & ea distinctio in veteri, in Erph[urdiensi] & in Wesal[iensi] editione habetur, veru[m] si rectè volumus iudicare, est noua diuisio; sicut & in Catechismo Chytraei, d[e]t[u]r. Nam vnius rami in surculos partitio, no[n] admittit diuisionem vicini rami. Definitiones falsæ Ecclesiæ, & Antichristi vident[ur] etia[m] illustriores in αυτογραϕω, sed q[ui]d sus Mineruam. Quod si vestra autoritate editio apud vos impetrari possit, centu[m] exemplaria emerem, quam primu[m] de absoluto op[er]e impressionis certior fierem. Postremo missu[m] exemplum vesaliense etiam diligenter custodi peto. Aliud enim hic neq[ue] habeo, neq[ue] vidi. Vale fœliciter in D[omi]no, vir ornatissime, cum reuerendis & doctissimis viris D[omino] Hiero[nymo] Mencelio, D[omino] Cyriaco Spangenbergio & alijs, quos peto meis verbis reuerenter salutari. Dat[ae] Halberst[adensis] pridie Calend[as] Augusti Anno 1566. Tuam reuerentia[m] studiosè colens M[agister] Andrèas Schoppius Rector Martinianus.
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Die vollständige Definition lautet: Die Sünde ist die vertorbene natur/ vnd alles/ was wir gedencken vnd thun/ das wider Gottes gebot ist/ verdienet Gottes zorn/ vnd ewige straffe/ wo sie nicht vergeben wirt. KCD, Rostock 1564, Bl. A6v (VD 16 ZV 13254). Die frühen Ausgaben weichen davon ab, zum Beispiel KCD, Erfurt 1565, Bl. A8r (VD 16 R 2249): Die Sünde ist alles/ das wider Gottes Gebot ist/ verdienet Gottes zorn/ vnd ewige straffe/ wo sie nicht vergeben wird. 167 Bezug auf das Glaubensbekenntnis, das Joachim von Avensleben in Auftrag gab und an dessen Entstehung Andreas von Meyendorf beteiligt war. Original in: HAB Wolfenbüttel, Cod. Alvens. DL 204. Druck: Alvensleben’s Christliches Glaubensbekenntniß. Zwischen dem 22. Februar und 17. Juli 1566 hatten 14 Theologen es eigenhändig approbiert: Joachim Mörlin (Braunschweig, 22. Februar 1566), Martin Chemnitz (Braunschweig, 1. März 1566), Johann Wigand und David Chyträus (Rostock, 24. März 1566), Simon Musäus (Gera, 25. April 1566), Tilemann Heshusius (Augsburg, 9. Mai 1566), Bartholomäus Rosinus (23. April 1566), Hieronymus Mencel (Eisleben, 27. Juni 1566), Cyriacus Spangenberg (Mansfeld, 28. Juni 1566), Johannes Aurifaber (Eisleben, 28. Juni 1566), Christoph Irenäus (29. Juni 1566), Timotheus Kirchner (im Hause Ummendorfs, 11. Juli 1566), Fabian Keyn (8. Juli 1566) und Elias Hofmann (Calbe an der Milde, 17. Juli 1566). 168 Bezug auf die sich in allen Ausgaben befindliche Unterscheidung der wirklichen Sünden in verdammliche und unverdammliche Sünden. Siehe den Abdruck des Artikels »Von der Sünde« oben.
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Verwendete Abkürzungen in den Fußnoten CR = Corpus Reformatorum = Philippi Melanthonis opera quae supersunt omnia, hrsg. v. Carl Gottlieb Bretschneider, Braunschweig 1834ff. Nachdruck New York / London / Frankfurt am Main 1963. EGA = Ernestinisches Gesamtarchiv FB = Forschungsbibliothek HAB = Herzog August Bibliothek KCD = Kleines Corpus Doctrinae MBW = Melanchthons Briefwechsel: kritische und kommentierte Gesamtausgabe, im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hrsg. von Heinz Scheible. Abt. Regesten, bearb. v. Heinz Scheible und Walter Thüringer, Bd. 1 ff Stuttgart-Bad Cannstatt 1977ff. PKMS = Politische Korrespondenz des Herzogs und Kurfürsten Moritz von Sachsen, 5 Bde., hrsg. v. der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, bearbeitet v. Johannes Herrmann und Günther Wartenberg, Berlin 1982–1998. StA = Stadtarchiv ThHStA = Thüringisches Hauptstaatsarchiv UA = Universitätsarchiv WA = Weimarer Ausgabe der Werke Luthers, Weimar 1883ff.
Vocabularien im Musikunterricht um 1500 Franz Körndle Bis ins hohe Mittelalter wurden schwierige Wörter oder Ausdrücke zunächst am Rand von Texten erklärt oder auch zwischen den Zeilen erläutert. Solche Erklärungen konnten auch zusammengetragen und in so genannten Glossaren gesammelt werden. Seit etwa dem 12. Jahrhundert entwickelten sich die alten Glossare zu regelrecht lexikographischen Wörterbüchern, die man Vocabularien zu nennen pflegte; schon früh ragten unter diesen der Vocabularius Ex quo und die Gemmula Vocabulorum, später auch als Vocabularius optimus verbreitet, hervor. Sie gehörten zu den Wörterbüchern, die wegen ihrer Beliebtheit gegen Ende des 15. Jahrhunderts bereits in gedruckten Ausgaben verbreitet wurden.1 Es soll das Anliegen dieses Beitrags sein, der Verwendung von Wörterbüchern im Lehr- und Lernbetrieb des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts nachzuspüren und die musikspezifischen Einträge auszuwerten. Der Unterricht im Fach Musik veränderte sich gerade im deutschen Sprachgebiet von der Zeit der ersten Universitäten bis gegen 1600 nur unwesentlich. Das haben die inzwischen schon etwas betagten, aber immer noch nicht ersetzten, materialreichen Studien von Gerhard Pietzsch und Joseph Smits van Waesberghe anhand der Statuten, der Lehrpläne und der Bücherkataloge zeigen können.2 Nahezu ungebrochen wurde über die Jahrhunderte im Unterricht der quadrivialen Musik die Musiklehre des Johannes de Muris aus dem frühen 13. Jahrhundert eingesetzt, in der Regel unter dem Titel Musica Muris.3 Damit waren die einfachsten Dinge der Musik erfasst: das Tonsystem, die Intervalle, die Tonarten und ihre Anwendung. Die Arten der schrift 1
STERKENBURG, PIET G. J. VAN: Van woordenlijst tot woordenboek. Inleiding tot de geschiedenis van de Nederlandse taal, Leiden 1984, S. 14f.; DERS.: A practical guide to lexicography, Amsterdam / Philadelphia 2003, S. 8–11. 2 PIETZSCH, GERHARD: Zur Pflege der Musik an den deutschen Universitäten bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Nachdruck mit Vorwort, Ergänzungen und neuer Literatur, Hildesheim 1971; SMITS VAN WAESBERGHE, JOSEPH: Musikerziehung (Musikgeschichte in Bildern, Bd. 3, Teil 3), Leipzig 1969. Ursprünglich publiziert in: Archiv für Musikforschung 1 / 1936, S. 257–292 und S. 424–451; AfMf 3 / 1938, S. 302–330; AfMf 5 / 1940, S. 65–83; AfMf 6 / 1941, S. 23–56; AfMf 7 / 1942, S. 90–110 und S. 154–169. 3 MICHELS, ULRICH: Die Musiktraktate des Johannes de Muris (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 8), Wiesbaden 1970, S. 17–24.
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lichen Fixierung von Melodien konnten ebenfalls Bestandteil des Unterrichts sein. Allerdings wurden die musikalische Mehrstimmigkeit und die Möglichkeiten rhythmischer Notation, also die so genannte Mensuralmusik, nicht behandelt. Diese Bereiche der Theorie sowie die praktische Unterweisung am Instrument waren bis ins 16. Jahrhundert an den deutschen Universitäten außerhalb des akademischen Betriebs angesiedelt.4 Das Studium der zahlreich überlieferten Wörterbücher, sowohl in der handschriftlichen Überlieferung wie auch in den frühen gedruckten Ausgaben, bestätigt diese Einteilung. Für meine Untersuchung habe ich folgende Bücher einbezogen: 1.) Der Vocabularius Ex quo, dessen Bezeichnung, wie schon erwähnt, von den beiden eröffnenden Wörtern herrührt. Wir haben es hier mit dem am weitesten verbreiteten und in einer Vielzahl von Quellen überlieferten Text zu tun. Die gedruckte Überlieferung setzt 1479 (Speyer) ein. Seit wenigen Jahren liegt dieser Vocabularius in einer Ausgabe von Klaus Grubmüller vor.5 2.) Der Vocabularius optimus ist ebenfalls in zahlreichen Handschriften und gedruckt ab 1495 (Deventer) dokumentiert. Eine moderne Ausgabe liegt vor.6 3.) Aus der Zeit vor oder um 1450 stammt ein bisher nirgendwo ausgewerteter Vocabularius in den Beständen aus dem Regensburger Kloster St. Emmeram in der Bayerischen Staatsbibliothek.7 4.) Ungefähr gleich alt dürfte ein Vocabularius der Kölner Dombibliothek sein.8 5.) Am Ende des 15. Jahrhunderts verfasste Wenzeslaus Brack einen Vocabularius, der seit 1489 (Straßburg) in gedruckten Ausgaben vorliegt, an die sich die moderne Edition anschließt.9
4
SCHLÜTER, MARIE: Musikgeschichte Wittenbergs im 16. Jahrhundert. Quellenkundliche und sozialgeschichtliche Untersuchungen (Abhandlungen zur Musikgeschichte 18), Göttingen 2010, S. 88. 5 Vocabularius Ex quo. Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe, gemeinsam mit Klaus Grubmüller herausgegeben von Bernhard Schnell, Hans-Jürgen Stahl, Erltraud Auer und Reinhard Pawis, Bd. I: Einleitung, Tübingen 1988; zur Datierung der einzelnen Redaktionen des Vocabularius Ex quo: S. 113, 119, 136, 165, 176, 185 und 206. 6 Vocabularius optimus. Dieses mittelalterliche Wörterbuch geht auf den Luzerner Schulmeister Johannes Kotmann d. J. (um 1428 / 29) zurück. BREMER, ERNST: Vocabularius optimus, Bd. I: Werkentstehung und Textüberlieferung, Register; Bd. 2: Edition (unter Mitwirkung von Klaus Ridder), Tübingen 1990; hier Bd. I, S. 55. Als historisches Exemplar wurde die gedruckte Ausgabe von 1495 benützt. 7 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14610, fol. 169r und 169v; fol. 178v; fol 183r; fol. 186v. 8 Köln, Dombibliothek, Cod. 1004, 15. Jahrhundert.
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Als Vergleichsmaterial dienen Vocabularien des 15. Jahrhunderts aus Frankreich. Davon liegen zwei in modernen Ausgaben vor.10 Ein dritter Vocabularius (Aalma) wurde im Internet zur freien Recherche verfügbar gemacht.11 Zu den musikhistorisch interessantesten lexikographischen Texten zählt noch der hier zu Vergleichen herangezogene Traktat des Paulus Paulirinus aus Prag vom Ende des 15. Jahrhunderts.12 Für das methodische Vorgehen muss in unserem Kontext gefragt werden, von welchen Kreisen die bekannten Vocabularien genutzt wurden. Allein die aus den zahllosen erhaltenen Exemplaren und den Druckexemplaren in zahlreichen Auflagen bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts ablesbare weite Verbreitung lässt eine reiche Rezeption erahnen. Die verschiedenen Redaktionen des Vocabularius Ex quo beziffern einen Gesamtbestand von heute noch fast 280 Handschriften, dazu kommen frühe Inkunabeln und weitere gedruckte Ausgaben seit dem späten 15. Jahrhundert.13 Auch vom Vocabularius optimus existieren immerhin noch 20 Manuskripte.14 Dennoch erlaubt die bloße Anzahl noch keine Rückschlüsse auf den Bildungshorizont und die Einsatzbereiche seiner Benutzer. 1985 konnte Klaus Grubmüller den Kontext für den Vocabularius Ex quo im Hinblick auf Überlieferung und Verwendung etwas präziser bestimmen.15 9
PLEUGER, NINA: Der Vocabularius rerum von Wenzeslaus Brack. Untersuchung und Edition eines spätmittelalterlichen Kompendiums (Studia Linguistica Germanica 76), Berlin / New York 2005. 10 Dictionarius Familiaris et Compendiosus. Dictionnaire Latin-Français de Guillaume le Talleur, édité par William Edwards et Brian Merrilees (Corpus Christianorum, Continuatio Medievalis, Series in-4° III : Lexica Latina Medii Aevi), Turnhout 2002; Firmini Verris Dictionarius. Dictionnaire Latin-Français de Firmin le Ver, édité par Brian Merrilees et William Edwards (Corpus Christianorum, Continuatio Medievalis, Series in-4° III : Lexica Latina Medii Aevi), Turnhout 1994. 11 http://www.chass.utoronto.ca/~merrilee/2003/aalma.html. 12 REISS, JOSEF: »Pauli Paulirini de Praga Tractatus de musica (etwa 1460)«, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 7 / 1924–25, S. 261–64; HOWELL, STANDLEY: »Paulus Paulirinus of Prague on Musical Instruments«, in: Journal of the American Musical Instument Society 5 / 1979, 6 / 1980, S. 9–36. 13 Vocabularius Ex quo, Bd. I, S. 119, 136, 165, 176, 185 und 206; Hierzu auch: SCHNELL, BERNHARD: »Spätmittelalterliche Vokabularienlandschaften. Ein Beitrag zur Text- und Überlieferungsgeschichte des ›Vocabularius Ex quo‹, des ›Vocabularius Lucianus‹ und des ›Liber ordinis rerum‹«, in: Helmut Tervooren / Jens Haustein (Hrsg.), Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft zum Band 122: Regionale Literaturgeschichtsschreibung, Berlin 2003, S. 158–177, hier: S. 159. 14 BREMER, Vocabularius optimus, Bd. I, S. 5. 15 GRUBMÜLLER, KLAUS: »teutonicum subiungitur. Zum Erkenntniswert der Vokabularien für die Literatursituation des 15. Jahrhunderts«, in: Kurt Ruh (Hrsg.), Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, Tübingen 1985, S. 246–261. Für den Hinweis auf diesen Beitrag danke ich Christoph Fasbender herzlich.
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Eine nicht geringe Anzahl der einschlägigen Bücher wurde von Schülern oder Studenten nach Diktat niedergeschrieben.16 Manche Lehrer bestritten ihren Unterricht sogar mit dem Vorlesen eines solchen Wörterbuchs. Für die mitschreibenden Schüler war das sicher nicht das erhebende Vergnügen, das daraus resultierende Buch aber später immerhin für Nachschlagezwecke aller Art hilfreich. Als Besitzer solcher Vocabularien konnte Grubmüller Weltpriester, Schulmeister sowie Klosterbibliotheken ermitteln.17 Weiterhin wies er nach, dass auch Musiker wie der Pforzheimer Kantor Burkard von Esslingen über einen Vocabularius Ex quo verfügten.18 Bernhard Schnell grenzte für einen Überlieferungsstrang (»K-Redaktion«) den Redaktions- und Benutzerkreis auf Klöster im Bereich des heutigen Südbayern und Österreich ein.19 Die Vocabularien aus dem deutschsprachigen Raum enthalten entweder zu den lateinischen Begriffen auch lateinische Erklärungen, d. h. sie verlassen die lateinische Sprache nicht, sondern dienen lediglich als Nachschlagewerk. Oder sie bringen zu den lateinischen Originalbegriffen deutsche Übertragungen. Dieser Unterschied in der Art der Wörterbücher ist wichtig im Hinblick auf das Publikum, das damit arbeitete. Generell suchen die Vocabularien mit deutschen Übersetzungen ein breiteres Publikum zu erreichen, das in der Regel wenig oder keine Kenntnisse des Lateinischen besaß. Dagegen können wir bei den rein lateinischen Wörterbüchern mit einem eher gebildeten Kreis rechnen. Diese Leute benötigten ein Lexikon, wenn sie Informationen zu einem wenig gebräuchlichen Terminus suchten. Die französischen Vocabularien verwenden – soweit mir bisher ersichtlich – ausschließlich knappe Übersetzungen in die Landessprache, enthalten aber sonst keine weiteren Erläuterungen. Wir können diese Vocabularien also als frühe Übersetzungswörterbücher betrachten. Da der Informationsgehalt dabei meistens gering ist, dienten diese Vocabularien lediglich einer Kontrolle der Befunde aus den Wörterbüchern des deutschen Sprachraums. Im Aufbau gehen die Vocabularien nach zwei unterschiedlichen Methoden vor. Die eine Gruppe ist systematisch nach Themenbereichen angeordnet, d. h. nach Sachgebieten, zum Beispiel nach den Artes, Handwerken, Liturgie oder Alltagsgebrauch, wobei gerne Musik, Theater, Spiel und Tanz nebeneinander zu finden sind. Bei der Auswertung können daher die relevanten Begriffe bequem nebeneinander gefunden werden. Allerdings enthalten auch andere thematische Bereiche Informationen zu Musik, etwa die Rubrik Gottesdienst und Liturgie. In diesen Fällen müssen also die der Musik verwandten Bereiche ebenfalls durchsucht werden. Die zweite Gruppe ist wegen der wesentlich umfangreicheren Anzahl von Stichworten alphabetisch ange 16
GRUBMÜLLER, »teutonicum subiungitur«, S. 250. GRUBMÜLLER, »teutonicum subiungitur«, S. 253–257. 18 GRUBMÜLLER, »teutonicum subiungitur«, S. 250. 19 SCHNELL, Spätmittelalterliche Vokabularienlandschaften, S. 168–175. 17
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ordnet, wobei oft zunächst die Substantive erscheinen, später die Verben. Bei diesen Vocabularien ist die Benutzung also einfach, wenn man weiß, welche Begriffe gesucht werden sollen. Wie nicht anders zu erwarten, enthalten die Vocabularien Begriffe, die sehr unterschiedliche Bereiche der spätmittelalterlichen Musik betreffen. Allerdings fällt die Menge der Lemmata zu musikalischen Gattungen sehr gering aus. Das Fehlen von Stichwörtern wie Motetus bzw. Mutetus vermittelt aber einen Eindruck von der Relevanz. Dem Alltagsgebrauch war ein solcher Fachbegriff offenbar ebenso fremd wie dem Wortschatz gebildeter Kleriker und Akademiker. Im Hinblick auf die seit dem späten 15. Jahrhundert auch in Deutschland zunehmende Verbreitung von Kompositionen dieser Art scheint signifikant, dass entsprechende Einträge auch in die Druckausgaben nicht aufgenommen wurden. Ebenfalls relativ schwach vertreten ist die Musiktheorie; sie ist nur mit Grundbegriffen präsent, die in einem allgemeinen Musikunterricht Verwendung finden könnten. Gerade weil die im Vocabularius Ex quo aufgenommenen Stichwörter Erklärungen für ein breites Publikum enthalten, sind die wenigen musiktheoretischen Begriffe besonders wertvoll, weil sie darauf hindeuten, welche Bedeutung sie im Musikleben hatten, vor allem mit Hinweisen auf mehrstimmige Praktiken. Bekanntlich ist der deutschsprachige Raum noch im 15. Jahrhundert recht arm an Quellen mit mehrstimmiger Musik. Tatsächlich finden wir in den Vocabularien ebenfalls nur ganz wenige Andeutungen, die sich auswerten lassen. Ein so spezieller Begriff wie Contrapunctus ließ sich erwartungsgemäß nicht finden, aber Discantus kommt doch gelegentlich vor. Die Vocabularien Ex quo und St. Emmeram enthalten dafür als Äquivalent allerdings nur das eingedeutschte Wort Discant.20 Immerhin zeigt das im Ex quo benachbarte Wort discantare neben der Übertragung Discant singen auch das erläuternde übersingen.21 Damit gemeint ist die Praxis, zu einer gegebenen (Choral-)Melodie eine darüber liegende Stimme (Discantus) zu singen. Im Gegensatz zur Musiktheorie scheint das mittelalterliche Musikinstrumentarium die Autoren von Vocabularien stärker interessiert zu haben. Aber auch hier sollte vorsichtig vorgegangen werden. In allen herangezogenen Vocabularien ist der lateinische Begriff Cithara mit Harfe, harpf, herpf oder ähnlich wiedergegeben, im Französichen als harpe, die verwandten Bezeichnungen citharista, citharedus und citharisare für Harfner und Harfe spielen bestätigen dies. Paulus Paulirinus dagegen verwendet den Begriff Cithara eindeutig nicht für die Harfe, sondern für die Laute.22 Dieses Instrument beschreibt er mit einem Saitenbezug von fünf verdoppelten Chören, die über ei 20
Clm 14610, fol. 169r. Vocabularius Ex quo, Bd. III, S. 793. 22 REISS, »Tractatus«, S. 263; HOWELL, »Paulus Paulirinus«, S. 16. 21
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nen Hals laufen, der durch neun Bünde abgeteilt ist. Die Harfe gibt es bei Paulirinus ebenfalls, jedoch unter dem offenbar neu kreierten Stichwort Arfa.23 Ich deute diese Abweichung so, dass Paulirinus unter Cithara die Laute beschreibt, weil sie in der (weltlichen) mehrstimmigen Musik seiner Zeit eine zunehmende Rolle übernahm. Dafür zieht er die populäre Bezeichnung Cithara heran. Die Vocabularien folgen dagegen der Tradition, die sich mit der Erklärung von Begriffen aus der Bibel befasst. Dabei musste König David selbstverständlich als Harfenspieler gelten. Die Übereinstimmung mit der ikonographischen Tradition war sicher ebenso wichtig. Selbstverständlich kennen die Vocabularien die Laute sehr wohl, dann allerdings unter erfundenen lateinischen Namen wie Ligutta,24 Lutina25 oder Luta26 bzw. Lutta.27 Bei Organum28 besteht in allen Vocabularien Übereinstimmung, dass es sich um ein instrumentum musicum im Allgemeinen handeln muss und um die Orgel im Besonderen, es sei denn, es wäre eine körperliche Extremität wie ein Arm oder ein Finger gemeint.29 Die allgemeine Bedeutung im Sinne von Werkzeug war zwar noch geläufig, aber dafür wurde eher instrumentum verwendet, für Musikinstrument konsequenterweise instrumentum musicum. Mehrstimmige Musik oder auch die Gattung gleichen Namens konnte in dem speziellen musiktheoretischen Kontext mit organum nicht bezeichnet werden. Jedenfalls sollte das für das allgemeine Verständnis gelten. Die immer wieder auftretende Formulierung cantare in organis kann somit kaum als Organumsingen oder als Aufführung von mehrstimmiger Musik gelten, sondern benennt das Orgelspielen.30 Bemerkenswert ist das Auftreten des Clavichords31 bereits in den frühen Quellen des Vocabularius Ex quo.32 Anders als bei vielen anderen Instrumenten liegen hier keine Rückgriffe auf biblische Texte vor, so dass die Eintragungen als Erstbelege gelten können. Man beachte dabei das Fehlen des Stichworts im Vocabularius optimus. Im 15. Jahrhundert hatte sich das In 23
REISS, »Tractatus«, S. 262. HOWELL, »Paulus Paulirinus«, S. 16. Vocabularius optimus, Bd. II, S. 380: Lawtt. 25 Ebenda: Lawtt. 26 Vocabularius Ex quo, Bd. IV, S. 1538: Eyn lute, et est instrumentum musicale. 27 Clm 14610, fol. 169r: Lautt. 28 Hierzu auch: RECKOW, FRITZ: Art. Organum; in: Hans Heinrich Eggebrecht / Albrecht Riethmüller (Hrsg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Bd. IV (1971): »Seit dem früheren 14. Jahrhundert hat der Terminus organum außerhalb der Instrumentennomanklatur KEINE AKTUELLE AUFGABE MEHR.« 29 PLEUGER, Vocabularius rerum, S. 257v; Vocabularius optimus, Bd. II, S. 374. 30 KÖRNDLE, FRANZ: Das zweistimmige Organum »Crucifixum in carne« und sein Weiterleben in Erfurt (Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 49), Tutzing 1993, S. 169–174. 31 Art. clavichordium; in: Michael Bernhard (Hrsg.), Lexicon Musicum Latinum Medii Aevi, 5. Faszikel, München 2001, Sp. 520–522. 32 Vocabularius Ex quo, Bd. II, S. 538. 24
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strument soweit etabliert, dass es – wie Paulirinus beschreibt – als Übeinstrument für das Orgelspiel eingesetzt wurde.33 Dementsprechend finden wir den Begriff auch in den Vocabularien des Wenzeslaus Brack34 und St. Emmeram35. Die französischen Vocabularien enthalten das Stichwort Clavichord dagegen nicht. Im Unterricht löste das Clavichord nach und nach ein älteres didaktisches Werkzeug ab, das Monochord. Wie der Name sagt, sind bei dieser Art Instrument nur eine, manchmal auch zwei oder drei Saiten über einen quaderförmigen Korpus gespannt. Damit arbeitete man im Unterricht, um die musikalischen Proportionen zu demonstrieren. Aus den Verhältnissen, die sich bei der Teilung einer Saite ergeben, entstehen die musikalischen Intervalle. Teilt man etwa eine Saite mit einem Steg in der Mitte, also im Verhältnis 1:2, entsteht die Oktave, teilt man die Saite im Verhältnis 2:3, entsteht die Quinte usw. Um die Intervalle besser miteinander vergleichen zu können, ist dabei eine zweite oder sogar eine dritte Saite recht hilfreich. Anhand der demonstrierten Intervalle konnten auch Hilfen beim Erlernen von Melodien gegeben werden. Die Vocabularien zeigen nun, dass für das lateinische Monochordium der deutsche Begriff Schyt oder Scheit geprägt wurde. Silke Berdux hat in ihrer – noch nicht publizierten – Dissertation darauf hingewiesen, dass bis etwa zum Ende des 16. Jahrhunderts unter einem Trumscheit in der Regel das Monochord verstanden wurde und seine Funktion damit im Bereich des Unterrichts zu suchen sein sollte.36 Wesentlich einfacher zur Vorführung eignete sich das Clavichord. Trotzdem finden wir erst am Ende des 15. Jahrhunderts Hinweise auf den Einsatz in der Ausbildung, etwa wenn Konrad von Zabern schreibt,37 dass man das an vielen Orten verfügbare Clavichord nehmen solle, wenn ein Monochord nicht vorhanden sei. Dazu müssten fünf Bedingungen erfüllt sein: 1. Der Umfang muss stimmen, unten beginnend bei A, falls das Gamma-Ut (= G) nicht vorhanden ist. 2. Die Obertasten mit Ausnahme der zwei b-Tasten und auch die oberste Taste muss man rechtzeitig aus dem Clavichord herausnehmen oder mit einer auffälligen Farbe kennzeichnen, weil man sie für die-
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REISS, »Tractatus«, S. 262. HOWELL, »Paulus Paulirinus«, S. 15 und S. 25f. PLEUGER, Vocabularius rerum, S. 258. 35 Clm 14610, fol. 169r. 36 BERDUX, SILKE: »Sie liept mir für alles trumelscheit«. Zur Geschichte des Trumscheits im deutschsprachigen Raum, Diss. maschr. Universität München 2001. Vgl. BERDUX, SILKE: Tremmel, Erich, Art. Trumscheit / Tromba marina; in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 9, Kassel / Stuttgart 1998, Sp. 771–782. 37 GÜMPEL, KARL-WERNER: Die Musiktraktate Conrads von Zabern (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Jahrgang 1956, Nr. 4) Wiesbaden 1956, S. 218. 34
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sen Zweck nicht braucht.38 3. Wenn die Melodie (des Cantus), was selten geschieht, bis zum Gamma-Ut geht, muss die Oktave genommen werden. 4. Wenn das Clavichord nicht ordentlich gestimmt ist, und man selbst nicht in der Lage ist zu stimmen, muss ein Kundiger zum Stimmen geholt werden. 5. Im Winter darf das Instrument nicht von einem warmen Ort an einen kalten gebracht werden oder umgekehrt; so bleibt es nämlich gestimmt. – Allein aus der Maßnahme, einen Großteil der Tasten aus dem Instrument herauszunehmen, wird ersichtlich, dass nicht kunstvolles Spiel die Absicht des beschriebenen Vorgangs sein konnte, sondern lediglich der didaktische Zweck. Trotz des Einsatzes von Monochord und später auch Clavichord blieb die instrumentale Ausbildung aus dem allgemeinen Unterricht ausgespart. Das ist signifikant für die sich stetig weiter ausbreitende Orgel.39 Von der katholischen Kirche lediglich toleriert, konnte um 1500 bereits jede Stifts- oder Klosterkirche über wenigstens eine Orgel verfügen. Mit virtuosem Orgelspiel dürfen wir aber wohl nur in wenigen Fällen rechnen. Meist konnte sich ein des Lateinischen kundiger Kleriker die nötigen Informationen zum Erlernen des Instruments aus knappen Orgelspiellehren aneignen. Die in solchen Texten gelegentlich auftauchenden Fingersätze illustrieren, dass man damit gerade einfache und einstimmige Melodien hervorbringen konnte. Das genügte, um die der Orgel überlassenen Teile des Gregorianischen Chorals abwechselnd mit dem Gesang vorzutragen. Weiter wäre man nur durch Ausbildung bei einem ordentlichen Lehrer gekommen. Dem rasch angestiegenen Bedarf an Spielern entsprachen die Möglichkeiten des Unterrichts noch lange nicht. Gerade aber die Gegebenheiten des protestantischen Gottesdienstes, die sogar ein Vor- und ein Nachspiel explizit vorsahen, forderten und förderten eine Verbesserung. Wie das vor sich gehen konnte, geht aus Briefen hervor, die im Jahr 1556 zwischen Nürnberg und Leipzig wechselten. Christof Kress kam aus Nürnberg nach Leipzig zum Studieren und konnte dort bei Joachim Camerarius wohnen. Da der junge Kress bereits mit dem Orgelunterricht in Nürnberg begonnen hatte, richtete Vater Kress an Camerarius folgenden Brief:40 Und kann darneben E. E. nit pergen, nachdem ich ihn gelegener Zeit zu unserem organisten Paulusen Lautensack geen vnd uf dem instrument lernen lassen, damit er, do ime die Zeit vnd gelegenheit zugelassen wurde, nit in leichtfertigkeit oder müssiggeen verzeren möchte, were an E. E. mein pit, ime ein virginal oder dergleichen instrument zuhaben zuvergünstigen, uf
38 Ebenso beschreibt es VIRDUNG, SEBASTIAN: Musica getutscht und ausgezogen, Straßburg 1511, ohne Seiten- oder Folio-Angabe; Bogen E iii recto und verso. 39 KÖRNDLE, FRANZ: »Die Ausbreitung von Orgeln und Orgelmusik im 15. Jahrhundert. Hintergründe eines wenig erforschten Phänomens«, in: Marianne Danckwardt / Johannes Hoyer (Hrsg.), Neues Musikwissenschaftliches Jahrbuch 11 / 2002 / 2003, Franz Krautwurst zum 80. Geburtstag, Augsburg 2003, S. 11–30. 40 PIETZSCH, Zur Pflege der Musik, S. 71.
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daß er sich wie gemellt, (doch ohne verhinderung seines studio) üben künte und desselben ufgewendten unkosten nit gar ohne frucht abgieng.
Camerarius versprach Kress, sich um Unterricht und Übeinstrument zu kümmern. Am 28. Mai 1556 schrieb dann Christof Kress:41 Des instruments halben las ich dich wissen, dass sihe hie tewr sindt, doch hoff ich in kurzen stunden eins zu bekommen, dan man hat ir jetzund auf dem marckt fil fail. Auch so hab ich mich erkundigt, das ein organist nicht minder dan im monat ein taller oder villeicht mer nimbt. Derhalben wan du wider schreibst, wolst michs wissen lassen, ob ich weiter zu einem gen sol oder nicht.
Und nochmals am 6. Mai des Jahres:42 Lieber vatter, ich fueg dir zuwissen, das ich ein zimlich guts instrument bekommen hab, aber nicht neher dan umb acht taller, das hat mir der Pfintzing bezalt, damit das ich nur eins bekömme, vnd das ichs nicht vergeß, dan meines herrn halben het ich lancksam eines bekommen, dan ich vermerck wol, das er mir nict gern so vil gelts wol werth vnd sei nicht zu deur vnd ist ungeuerlich ein wenig grosser weder das daheim.
Am 14. Dezember scheint der Unterricht endlich geregelt:43 fueg dir aber hiemitt zuwissen, das ich alhie bei einem organisten lern, an dem ich noch kein mangel hab, sondern mich fleißig vnd treulich des tags ein halbe stundt vnterweist. Was aber den lohn bedrifft, weis ich nicht, was man im geben soll, hat gleichwol meines herren sun gesagt, wol mich eim andern gleichhalten vnd von mir, was billich vnd recht sei, nehmen.
Allem Anschein nach war es auch in der Universitätsstadt Leipzig nicht so einfach, einen guten Lehrer für das Orgelspielen zu finden. Und schon damals galt, was wir auch heute noch kennen, dass eine Ausbildung am Instrument eben außerhalb des schulischen oder universitären Unterrichts erfolgte und den sozial besser gestellten Schichten vorbehalten bleiben musste.
Quellen- und Literaturverzeichnis BERDUX, SILKE: »Sie liept mir für alles trumelscheit«. Zur Geschichte des Trumscheits im deutschsprachigen Raum, Diss. maschr. Universität München 2001. –: Tremmel, Erich, Art. Trumscheit / Tromba marina; in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 9, Kassel und Stuttgart 1998, Sp. 771–782. Dictionarius Familiaris et Compendiosus. Dictionnaire Latin-Français de Guillaume le Talleur, édité par William Edwards et Brian Merrilees (Corpus Christianorum, Continuatio Medievalis, Series in-4° III : Lexica Latina Medii Aevi), Turnhout 2002. Firmini Verris Dictionarius. Dictionnaire Latin-Français de Firmin le Ver, édité par Brian Merrilees et William Edwards(Corpus Christianorum, Continuatio Medievalis, Series in-4° III : Lexica Latina Medii Aevi), Turnhout 1994.
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Ebenda. PIETZSCH, Zur Pflege der Musik, S. 72. 43 Ebenda. 42
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GRUBMÜLLER, KLAUS: »teutonicum subiungitur. Zum Erkenntniswert der Vokabularien für die Literatursituation des 15. Jahrhunderts«, in: Kurt Ruh (Hrsg.), Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, Tübingen 1985, S. 246–261. GÜMPEL, KARL-WERNER: Die Musiktraktate Conrads von Zabern (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Jahrgang 1956, Nr. 4) Wiesbaden 1956. HOWELL, STANDLEY: »Paulus Paulirinus of Prague on Musical Instruments«, in: Journal of the American Musical Instument Society 5 / 1979, 6 / 1980, S. 9–36. KÖRNDLE, FRANZ: »Die Ausbreitung von Orgeln und Orgelmusik im 15. Jahrhundert. Hintergründe eines wenig erforschten Phänomens«, in: Marianne Danckwardt / Johannes Hoyer (Hrsg.), Neues Musikwissenschaftliches Jahrbuch 11 / 2002 / 2003, Franz Krautwurst zum 80. Geburtstag, Augsburg 2003, S. 11–30. –: Das zweistimmige Organum »Crucifixum in carne« und sein Weiterleben in Erfurt (Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 49), Tutzing 1993. MICHELS, ULRICH: Die Musiktraktate des Johannes de Muris (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 8), Wiesbaden 1970. PIETZSCH, GERHARD: Zur Pflege der Musik an den deutschen Universitäten bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Nachdruck mit Vorwort, Ergänzungen und neuer Literatur, Hildesheim 1971. PLEUGER, NINA: Der Vocabularius rerum von Wenzeslaus Brack. Untersuchung und Edition eines spätmittelalterlichen Kompendiums (Studia Linguistica Germanica 76), Berlin / New York 2005. RECKOW, FRITZ: Art. Organum; in: Hans Heinrich Eggebrecht / Albrecht Riethmüller (Hrsg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Bd. IV (1971). REISS, JOSEF: »Pauli Paulirini de Praga Tractatus de musica (etwa 1460)«, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 7 / 1924–25, S. 261–64. SCHLÜTER, MARIE: Musikgeschichte Wittenbergs im 16. Jahrhundert. Quellenkundliche und sozialgeschichtliche Untersuchungen (Abhandlungen zur Musikgeschichte 18), Göttingen 2010. SCHNELL, BERNHARD: »Spätmittelalterliche Vokabularienlandschaften. Ein Beitrag zur Textund Überlieferungsgeschichte des ›Vocabularius Ex quo‹, des ›Vocabularius Lucianus‹ und des ›Liber ordinis rerum‹«, in: Helmut Tervooren / Jens Haustein (Hrsg.), Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft zum Band 122: Regionale Literaturgeschichtsschreibung, Berlin 2003, S. 158–177. SMITS VAN WAESBERGHE, JOSEPH: Musikerziehung (Musikgeschichte in Bildern, Bd. 3, Teil 3), Leipzig 1969. STERKENBURG, PIET G. J. VAN: A practical guide to lexicography, Amsterdam / Philadelphia 2003. –: Van woordenlijst tot woordenboek. Inleiding tot de geschiedenis van de Nederlandse taal, Leiden 1984. VIRDUNG, SEBASTIAN: Musica getutscht und ausgezogen, Straßburg 1511. Vocabularius Ex quo. Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe, gemeinsam mit Klaus Grubmüller herausgegeben von Bernhard Schnell, Hans-Jürgen Stahl, Erltraud Auer und Reinhard Pawis, Bd. I: Einleitung, Tübingen 1988. Vocabularius optimus, Bd. I: Werkentstehung und Textüberlieferung, Register; Bd. 2: Edition (unter Mitwirkung von Klaus Ridder), Tübingen 1990.
Musik im frühen Theater der Jesuiten Franz Körndle Zu vielen Schuldramen des Jesuitenordens hat einst Musik gehört.1 Ihre Bedeutung ist von Seiten der Literatur- und Theater-Forscher zwar mit einer steten Regelmäßigkeit hervorgehoben, jedoch sogleich in den Kompetenzbereich der Musikwissenschaft verwiesen worden;2 diese konnte aber wegen eines Mangels an erhaltenem Material kaum eine ausführlichere Beschreibung vornehmen. Immerhin wissen wir aus den Textbüchern und Periochen, dass es in vielen Spielen umfangreiche Chorpartien gegeben hat, so im Samson, im Lazarus resuscitatus und im Gottfried von Bouillon, alle aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Zum berühmten Triumphus Divi Michaelis Archangeli Bavarici aus dem Jahr 1597 hat wohl der Musik-Präfekt der Michaelskirche, Georg Victorin, die Musik geschaffen; sie gilt jedoch als verloren.3 Wenig wissen wir über die Theatermusik der Jesuitencollegien in Köln4 oder Mainz5 und Trier. Geringe Anhaltspunkte haben wir in Koblenz und Fulda.6 Dagegen glaubte man wieder jede Note verloren bei den Dramen der 1
WITTWER, MAX: Die Musikpflege im Jesuitenorden unter besonderer Berücksichtigung der Länder deutscher Zunge, Greifswald 1934, S. 77–100. 2 JANNING, VOLKER: Der Chor im neulateinischen Drama (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, Bd. 7), Münster 2005, S. 78f. 3 HAUB, RITA: »Georg Victorinus und der Triumphus Divi Michaelis Archangeli Bavarici«, in: Musik in Bayern 51 / 1995, S. 79–84. 4 SCHMITZ, ARNOLD: Kölner Jesuitenmusik im 17. Jahrhundert, Habilitationsschrift Bonn 1921; DERS.: »Archiv-Studien über die musikalischen Bestrebungen der Kölner Jesuiten im 17. Jh.«, in: Archiv für Musikwissenschaft 3 / 1921, S. 421–446. 5 MICHEL, WALTER: »Das Jesuitendrama Daniel von 1565 in Mainz«, in: Mainzer Zeitschrift: Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte 82 / 1987 S. 123– 149. 6 RÄDLE, FIDEL: »Acolastus – Der verlorene Sohn: Zwei lateinische Bibeldramen des 16. Jahrhunderts«, in: Theodor Wolpers (Hrsg.), Gattungsinnovation und Motivstruktur. Bericht über Kolloquien der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1986–1989, Teil II, (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 199), Göttingen 1992, S. 15–34.
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Jesuiten in Graz.7 Etwas günstiger sieht es aus bei den Collegien in Linz und Wien für Österreich und Dillingen bzw. Ingolstadt im süddeutschen Bereich.8 Jüngere Archivstudien brachten in den letzten Jahren neues Material zum Vorschein, das unsere Kenntnis über die Musik im frühen Jesuitenspiel wesentlich erweitern dürfte. Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie wir uns aus dem wenigen Erhaltenen ein Bild machen dürfen über den musikalischen Anteil in den Dramen. Eine wichtige Spielstätte der Jesuiten war München. Die Annuae litterae9 des Münchner Collegs, die wenigstens für die Jahre 1574, 75, 76, 80, 81, 91, 93 und 94 sowie für die Folgezeit einigermaßen lückenlos erhalten sind, verweisen regelmäßig auf die Aufführung größerer Dramen (Josaphat & Barlaam, Constantinus Magnus, S. Clemens, Nabuchodonosor, Cassian Martyr). Sehr sorgfältig registrieren diese Jahresberichte die lebhafte Anteilnahme des herzoglichen Hofes an den Aufführungen. Schon wegen dieser Verbindung liegt es nahe, eine Beteiligung des Hofkapellmeisters Orlando di Lasso zu vermuten. Aber außer den Titeln und gelegentlich erhaltenen Textbüchern besitzen wir auch zu München wenig weitere Informationen. Im Jahr 1577 wurde als öffentliches Schauspiel an Plätzen der Altstadt die Hester, Comoedia sacra ex biblicis historijs desumpta, ein geistliches Spiel aus biblischen Geschichten entlehnt, gegeben.10 Im Textbuch findet sich auf fol. 157ff. ein Verzaichnus des ganntzen Aufzugs der vorsteenden comoedie, in dem sich die Mitwirkung von Trompetern, Paukern, Zinken, Posaunen, Sackpfeifern, Trommlern und Pfeifern aufgelistet findet. Beteiligt waren nach dem von Horst Leuchtmann bereits beschriebenen Manuskript clm 524 der Bayerischen Staatsbibliothek wohl wenigstens neun Trompeter und die fünf Stadtpfeifer, außerdem sind ein Musikwagen, der Präfekt der Sänger mit drei Knaben sowie Musiker mit Instrumenten und Büchern genannt.11 Ob bei jener spektakulären Aufführung Lassos Motette mit Bezug zum Esther-Stoff12 O 7
FLOTZINGER, RUDOLF: »Musik im Grazer Jesuitentheater«, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 15 / 1984, S. 9–26; hier: S. 9. 8 FOCHT, JOSEF: »Die Musik im Umkreis der Jesuiten-Universität«, in: Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger. Stationen und Aspekte einer Hochschule in Schwaben: Festschrift zum 450jährigen Gründungsjubiläum, in Zusammenarbeit mit Rudolf Poppa hrsg. von Rolf Kießling, Dillingen/Donau 1999, S. 532–558. 9 München, Archiv der oberdeutschen Jesuitenprovinz, XIII. Hc. 10 REINHARDSTÖTTNER, KARL VON: »Zur Geschichte des Jesuitendramas in München«, in: Jahrbuch für Münchener Geschichte 3 / 1889, S. 53–176; hier: S. 73. 11 Currus cum Musica; Cantorum praefectus, cum tribus pueris clausa instrumenta, et libros portantes Musicos. LEUCHTMANN, HORST: Orlando di Lasso: Sein Leben, Wiesbaden 1976, S. 193f. 12 Ebenda. WELLER, PHILIP: »Lasso, Man of the Theatre«, in: Ignace Bossuyt / Eugeen Schreurs / Annelies Wouters (Hrsg.), Orlandus Lassus and his Time: Colloquium Proceedings Antwerpen 24.–26.08.1994, Peer 1995, S. 89–127; hier: S. 105–110.
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decus celsi erklungen ist, wissen wir genauso wenig wie, ob der Praefectus den Hofkapellmeister meint oder den Musikpräfekten der Jesuiten. Ein anderes Drama hat die Lasso-Forschung noch mehr bewegt als die Esther von 1577, der Samson des Andreas Fabricius, der 1568 im Rahmen der Feierlichkeiten zur Hochzeit Wilhelms V. mit Renata von Lothringen gegeben wurde.13 Am 6. Januar des Jahres hatte Fabricius an den bayerischen Kanzler Simon Eck einen Brief gerichtet, in dem er darum bittet, die Texte der Chöre an Orlando di Lasso weiterzugeben, damit dieser die Musik dazu fertigen könne:14 Adiunxi illa quae desiderabantur in nostro Samsone; poterit tempore debito ad Jesuitas transmittere. […] Chori autem erunt ipsi Orlando tradendi, ut, explicata per praedicatorem aut aliquem alium vi verborum, convenientem Musicam accomodet, quae etiam plus gratiae habuerit, si applicatio ad Christum sit distincta ab ipsis Samsonis factis, et ideo pari numero versuum typum et rem significatam expressi. »Ich habe hinzugefügt, was in unserem Samson benötigt wurde; er kann es zu gegebener Zeit den Jesuiten übermitteln. […] Die Chöre aber muss man dem Orlando selbst geben, damit er dazu die geeignete Musik einrichte, nachdem ein Prediger oder jemand anderer den Sinn des Textes erläutert hat. Die Musik wird wohl noch mehr gefallen, wenn die Übertragung auf Christus sich von Samsons Taten selbst abhebt, und so habe ich das Bild und die bezeichnete Sache mit der gleichen Anzahl an Versen zum Ausdruck gebracht.«
Aus den Andeutungen zum Auftrag an Lasso, die Chöre zu komponieren, kann freilich nicht mit Sicherheit entschieden werden, ob die Musik tatsächlich geliefert wurde. Daneben enthält der Brief noch die hier zu deutende Stelle, dass der Text dem Komponisten von einem Prediger erläutert werden sollte. Es wäre gewiss ebenfalls vorschnell, hieraus auf eine generelle Praxis schließen zu wollen, also dass ein Motettentext immer zuerst professionell ausgelegt worden sei, bevor er vertont wurde. Ich meine eher, diese Stelle auf die komplizierte Konstellation im Samson beziehen zu dürfen. Samson fungiert im Sinne einer Concordantia novi et veteris testamenti als Praefiguration Christi, was Fabricius in seinem Brief auch zum Ausdruck bringt. Vielleicht sollte Lasso dieser Zusammenhang, der sich im Text der Chöre niederschlägt, klargemacht werden. Generell sind aber in den neulateinischen Spielen manche Texte sprachlich derart schwierig, dass sich die Bemerkung von Fabricius 13
ANDREAE FABRICII LEODII SAMSON, TRAGOEDIA NOVA, EX SACRA IVDICVM HISTORIA DESUMPTA, praemissis ad eius illustrationem insignibus orthodoxorum Patrum sententijs. Coloniae, Apud Maternum Cholinum Anno M.D.LXIX. Acta ludis nuptialibus Illustrissimi Principis ac Domini, D. Vuilhelmi, Comitis Palatini ad Rhenum, & vtriusque Bauariae Ducis, Othone Augustano Cardinale, Imperatoris Maximiliani, & Philippi Regis Hispaniarum legatis, Ferdinando & Carolo Archiducibus Austriae, Ioanne Iacobo Archiepiscopo Salizburgensi, pluribusqué alijs Principibus cùm Germaniae, tum caeterarum Nationum praesentibus. 14 LEUCHTMANN, Lasso, S. 193; WELLER, »Lasso, Man of the Theatre«, S. 104f.
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auch darauf beziehen ließe. Wie gut Lasso Latein beherrschte, wissen wir allerdings nicht. Mit den Beobachtungen zu Esther und Samson stieß die Lasso-Forschung auf kaum überwindliche Probleme. Sollte Lasso die gewünschten Chöre zum Samson des Fabricius komponiert haben, dann müssen wir sie als verloren ansehen, denn der Text keines einzigen der Chöre aus dem Samson findet sich im erhaltenen Motettenschaffen des Meisters wieder.15 Und umgekehrt führt das Fehlen des von Lasso vertonten Textes O decus celsi im Esther-Drama von 1577 zu der Überlegung, ob derartige Motetten überhaupt integrierter Bestandteil jesuitischer Theaterstücke waren, oder ob sie nicht eher einfach als Zwischenaktmusik eingeschoben worden sind. In diesem Fall sind sie so gut wie nicht zu identifizieren, da dazu die Angaben in den Textbüchern viel zu ungenau sind. In der Regel lauten sie fit cantus oder fit musica.16 Nur selten finden sich weitergehende Formulierungen, die etwa einen Engelsgesang fordern, der ein Marienlied sein könnte, oder einen Gesang vom Fest des behandelten Heiligen, einen kunstvollen Gesang, ein Echo oder etwas Doppelchöriges: Canunt Angeli. Potest ex quocumque cantio de B. Virg. Canitur aliquid de festo; Nunc dimittis uel aliud Canitur aliquid artificiosum, Echo, uel duo chori alternatim. Aue Maria Omnes canunt hymnum B. Virginis.
Das sind seltene Ausnahmen.17 Regelrechte Glücksfälle sind die in einigen Handschriften dokumentierten Regieanweisungen, die manchmal die zusätzlich eingeführte Musik mit festhalten. Der Lazarus resuscitatus von Jakob Gretser aus dem Jahr 1584 ist mit mehreren solchen Regiemarginalien versehen.18 Das Ende des zweiten Aktes
15 Benutztes Exemplar der Universitätsbibliothek München, P. lat. rec. 171, das aus der »Bibl. Acad. Ingolstad.« stammt. Auf S. 1 findet sich folgende handschriftliche Anmerkung: Clarißimo ac Magnifico uiro Simonj Eckio, Illmi Bauariae Ducis Alberti Cancellario, Dno suo obseruandiso , autor DD. Demnach handelt es sich wohl um ein Geschenk von Fabricius an Eck. 16 Clm 611 (Hercules in bivio), fol. 58v und fol. 59r. 17 Clm 197572 , S. 318 und 329 (Cyriacus) sowie S. 344 und S. 358 (Rosarium Beatae Virginis Mariae). 18 Dillingen, Studienbibliothek, Cod. XV 223, fol. 29v, 52r und 58v. FIELITZ, SONJA / GRETSER, JAKOB: Timon. Comoedia imitata (1584), Erstausgabe von Gretsers Timon-Drama mit Übersetzung und einer Erörterung von dessen Stellung zu Shakespeares Timon of Athens (Münchener Universitätsschriften. Philosophische Fakultät. Texte und Untersuchungen zur Englischen Philologie 18), München 1994, S. 91, 122, 385–392 mit Transkriptionen des Notenmaterials; MEYER, HEINZ: »Nutzen und Wirkungsabsicht des Theaters nach Paratexten lateinischer Dramen der frühen Neuzeit«, in: Frühmittelalterliche Studien 41 / 2007, Berlin / New York 2008, S. 207–248.
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notiert, es solle im Theater eine angenehme und freudige Cantio gesungen werden, die Freude anzeigt: canatur in lymbo cantio suauis ac iucunda, quae laetitiam indicet
Am Ende des vierten Aktes ist festgehalten, hier solle die sechsstimmige Motette Fremuit spiritus von Lasso gesungen werden, die sich im Thesaurus finde, oder ein Stück von Palestrina, der zum selben Stoff Motetten komponierte: Hic cantetur cantio Orlandi Fremuit spiritus Jesus quae est in Thesauro 24 6 uocum vel Praenestini qui de eadem materia cantiones composuit.
Schließlich ist nach der fünften Szene dieses Aktes vorgeschrieben, dass eine Motette zum ewigen Gastmahl musiziert werde: Post istam Scenam cantetur cantio quo conuiuium sit diuturnius.19
Bei der an zweiter Stelle genannten Cantio handelt es sich um die Motette Fremuit spiritus Jesus von Orlando di Lasso, die erstmals im sog. Antwerpener Motettendruck 1556 erschienen war.20 Gretser – wenn er denn auch der Verfasser der Regieanweisungen gewesen ist – kannte die Komposition allerdings aus einer anderen Publikation, dem 1564 bei Montanus und Neuber erschienenen Thesaurus musicus. Tomus tertius. Auf welche Motetten Palestrinas hier angespielt sein soll, lässt sich im Moment nicht erkennen. In seiner Studie über die Dramen Jakob Gretsers machte Anton Dürrwaechter darauf aufmerksam, dass 1587 für die Ingolstädter Aufführung des Dialogus de Vdone Archiepiscopo ein Trinklied ex Orlando vorgesehen gewesen sei.21 Die von Dürrwaechter angesprochene Quelle aus der Studienbibliothek Dillingen22 enthält den Udo Gretsers23 in einer ersten Fassung, die an der fraglichen Stelle den lasterhaften Bischof mit seinen Kumpanen in ein Wirtshaus führt, wo man sich dem Wein und der Musik hingibt, schließlich sei – so Udo selbst – ein Bischof ja ein Mensch und kein Engel. Dann werden die Musiker gefordert aufzuspielen: Vos Ludiones, citharoedi atque Musicj Ludite, canite, hodiernus laetitiae dies Sacer erit, etiam crastinus et perendinus Et quotquot nobis fata illucescere uolent.
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Dillingen, Studienbibliothek, Cod. XV, 223, fol. 29v, fol. 52r, fol. 58v. Il primo libro di mottetti, 5, 6vv, Antwerpen 1556. 21 DÜRRWAECHTER, ANTON: Jakob Gretser und seine Dramen, Freiburg i.Br. 1912, S. 135. 22 Cod. XV, 227. 23 Neuausgabe: FIDEL RÄDLE (Hrsg.): Lateinische Ordensdramen des XVI. Jahrhunderts, mit deutschen Übersetzungen, Berlin / New York 1979, S. 368–433. 20
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Dazu können nach dem Marginaleintrag folgende Gesänge vorgetragen werden: Canatur Ex Orlando: Omnis enim homo. Aut: Fertur in conuiuijs. Aut: A solis orto sidere. Aut: Si bene perpendi aut alia laeta cantio. Episcopus interim cum suis exclamat io io, dies est laetitiae.24
Die Szene enthält im Text aber noch mehr Anspielungen auf Musikstücke. Nachdem der Schmarotzer Phormio dem Bischof zugeprostet hat, verfällt der Geselle Gnatho in die deutschen Verse Aus – so wirdt ein frölicher man drauß,25 ein leicht abgewandeltes Zitat aus dem Lied Ist keiner hie, das 1570 in Vertonungen von Christian Hollander26 und Ivo de Vento27 erschienen ist, wo es am Ende heißt: trincks gar auß suffs gar auß so wird ein voller bruder drauß. Die Antwort Udos Vinum quae pars, verstehst du das etc. mit der Regieanweisung Cantat unum aut alterum versiculum28 nennt genau das gleichnamige Lied Ivo de Ventos von 1571.29 Abschließend soll ein weiteres Trinklied erklingen, Dummel dich guottes weinle,30 das in einem Satz von Jakob Meiland bekannt ist. Während Udo von Magdeburg wegen seiner Verfehlungen am Ende in einer tatsächlich geschmacklosen Szene vor Christi Thron enthauptet und vom Teufel geholt wird,31 bleibt dem verlorenen Sohn aus dem bekannten biblischen Gleichnis ein solches Schicksal nicht nur erspart, er wird im Gegenteil von seinem Vater in Gnaden wieder angenommen. Gleichwohl fehlt es im Fuldaer Acolastus (Der Zügellose oder Der Verschwender) aus dem Jahr 1576 nicht an einer vergleichbaren Passage, die den verlorenen Sohn mit den beiden Mädchen Lais und Flora sowie seinen commilitones bei einem Gelage 24
Fol. 169r., RÄDLE (Hrsg.), Lateinische Ordensdramen, S. 398–403. RÄDLE (Hrsg.), Lateinische Ordensdramen, S. 400, Z. 268. 26 HOLLANDER, CHRISTIAN: Newe teutsche, geistliche und weltliche Liedlein, 4–8vv, München 1570, Neuauflage 1574 als: Neue ausserlesene teutsche Lieder. 27 VENTO, IVO DE: Sämtliche Werke, Bd. 3, hrsg. v. Nicole Schwindt: Newe teutsche Liedlein mit fünff Stimmen, München 1569, Neue teutsche Lieder viern, fünff und sechs Stimmen, München 1570, (Denkmäler der Tonkunst in Bayern, Neue Folge, Bd. 14), Wiesbaden 2002, S. XXVI und S. LXXVII. 28 RÄDLE (Hrsg.), Lateinische Ordensdramen, S. 400, Z. 269. 29 VENTO, IVO DE: Newe teutsche Lieder, mit vier stimmen sampt zwayen Dialogen, München 1571. Vgl. IVO DE VENTO: Sämtliche Werke, Bd. 4, hrsg. v. Nicole Schwindt: Newe Teutsche Lieder Mit vier stimmen sampt zwayen Dialogen, München 1571, Schöne außerlesene newe Teutsche Lieder mit 4. Stimmen, München 1572, Newe Teutsche Lieder Mit dreyen stimmen, München 1572, Teutsche Lieder mit fünff stimmen, sampt einem Dialogo mit achten, München 1573 (Denkmäler der Tonkunst in Bayern, Neue Folge, Bd. 15), Wiesbaden u. a. 2003, S. XXXV. 30 RÄDLE (Hrsg.), Lateinische Ordensdramen, S. 402. 31 RÄDLE (Hrsg.), Lateinische Ordensdramen, S. 573, Kommentar: »Die Grenze des Geschmacks ist in dieser Szene weit überschritten.« 25
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zeigt. Die darauf folgende Regieanweisung sieht dabei vor, es solle die Cantio des Orlando gesungen werden, deren Anfang sei Ave color vini.32 Chorus hoc loco canit cantionem sumptam ex Horlando, cuius initium est Ave color vini.
Die Verwendung dieser lustigen Cantiones, die uns auf den ersten Blick passend erscheint, gerät in ein neues Licht, wenn man erkennt, dass immerhin drei davon in den 1590er Jahren von dem Münchner Jesuiten-Rektor Ferdinand Alber auf einen Index33 gesetzt wurden, mit dem sich 2009 David Crook eingehend befasste.34 Dieser Index stellt eine präzise Ausführungsbestimmung zu den bereits 1575 erlassenen Vorschriften des Ordens-Generals Everardus Mercurian dar. Darin hatte es geheißen, Gesänge, die in Text und Musik oder deren Gesangsart schändlich seien, die man auch für obszön oder eitel halte, sollten verbrannt werden.35 § 2. Quae turpem habent dictionem et sonum, sive eum cantandi modum, cui etiam subesse obscaena, aut vana putentur, comburantur.
Die drei Cantiones quae ad textum et notas prohibitae, nämlich Jam lucis orto, Ave color vini clari und Fertur in convivijs, hat man – nach ihrer Verwendung in den Dramen zu schließen – für schlecht genug gehalten, um nach ihrem Genuss in der Hölle schmoren zu dürfen. Der Aufforderung, der Zensur Folge zu leisten und die Stücke zu verbrennen, ist man aber nicht gefolgt. Das Jahr 1585 bot den Münchner Jesuiten Gelegenheit, ihre in den Theaterstücken inszenierte Weltsicht einem internationalen Publikum, darunter der Botschafter des spanischen Königs und der österreichische Erzherzog Ferdinand, zur Schau zu stellen. Am Fronleichnamstag dieses Jahres (20. Juni) wurde Herzog Wilhelm V. in Landshut feierlich in den Orden vom goldenen Vlies aufgenommen. Nach den Zeremonien und dem Schauessen fand abends auf dem Platz vor der Residenz ein beachtliches Spektakel statt, das nach einem Feuerwerk eine halbdramatische Vorführung jesuitischer Prägung einschloss. Dazu hatte man einen Bühnenaufbau (machina) errichtet mit einer riesigen Weltkugel in der Mitte. Im Scheitel dieser Welt thronte die Religio. Links und rechts waren die Provinzen angeordnet sowie Pax und Iustitia. Wie 32
Fulda, Hessische Landesbibliothek, C 18, fol. 18r–18v. RÄDLE, FIDEL: »Über mittelalterliche lyrische Formen im neulateinische Drama«, in: Michael Borgolte / Herrad Spilling (Hrsg.), Litterae Medii Aevi, Festschrift für Johanne Autenrieth zu ihrem 65. Geburtstag, Sigmaringen 1988, S. 339–362; hier: S. 348–350. DERS., »Acolastus – Der Verlorene Sohn«, S. 29. 33 München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 9237, S. 31f.; WITTWER, Die Musikpflege, S. 13–15. 34 CROOK, DAVID: »A Sixteenth-Century Catalogue of Prohibited Music«, in: Journal of the American Musicological Society 62 / 2009, S. 1–78. 35 München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 9201, fol. 8r. Außerdem in clm 9237, S. 31 und Dillingen, Studienbibliothek, XV, 227, fol. 3v.
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die Beschreibung dieser Inszenierung angibt, musizierte zwischen den Texten der genannten Figuren die im Aufbau der Welt untergebrachte Hofkapelle novas cantiones ab Orlando compositas. Leider können wir von diesen Stücken lediglich eine Komposition identifizieren, die Huldigungsmotette Ergo rex vivat auf den spanischen König Philipp II.36 Während man also in den genannten Spielen an passenden Stellen bereits vorhandene oder eventuell sogar neu geschaffene Musikstücke nach Bedarf einfügte, was wohl auch für andere Gelegenheiten vermutet werden darf, stellen die eigentlichen Chöre eine davon völlig verschiedene Spezies dar. Sie finden sich zwar ebenfalls meist am Akt- oder wenigstens am Szenenende, doch folgen sie in der Regel einem klassischen Versmaß, etwa dem Anapäst oder dem sapphischen Strophenbau. Sie sind, zweifellos dem antiken Drama nachempfunden, feste Bestandteile eines Dramas und wohl auch von dessen Verfasser selbst geschaffen. Musik zu solchen Chören kennt man bisher kaum. Die Annahme, dass man sich diese Gebilde ungefähr vorzustellen habe, wie man es von den Humanistenoden her kennt, war als Anhaltspunkt daher durchaus nahe liegend.37 Und doch lassen sich gelegentlich in den Textbüchern Noteneintragungen finden, die eine präzisere Beschreibung ermöglichen. Drei solche Handschriften finden sich in den Beständen der Studienbibliothek Dillingen.38 Codex XV, 223 enthält drei Chöre, von denen die beiden aufeinander folgenden Plute tu solus und Cordaque curis als repräsentativ gelten können.39 An den Notenschlüsseln ist zu erkennen, dass die Realisierung dieser Chöre überwiegend durch Knabenstimmen vorgenommen werden sollte, in Cod. XV, 245 steht sogar ein Satz für vier Soprane. Die durchgehend blockartige, zur syllabischen Textunterlegung vorgesehene Anlage entspricht exakt der sapphischen Strophe, wie der Vorspann auf fol. 73r angibt: Ad plutum oda sapphica quam symphoniaci in theatro canunt. Auch mehrere Handschriften aus dem Jesuitenkolleg Fulda weisen Eintragungen von Noten auf. Einige Chöre gehörten zum Drama Acolastus (Fulda, Hessische Landesbibliothek, 4° C 18, fol. 4v und fol. 9v). Im gleichen Manuskript stehen weitere Stücke mit Chören, etwa Philomusus (fol. 47r, 50v und 54r, jeweils Apollo cum tribus gratijs) oder Narcissus, der einen Chorus Musicus mit Echo-Effekten enthält (fol. 74v); andere bilden ein musikalisches Huldigungsstück (Fulda, Hessische Landsbibliothek, 4° B 15, fol. 221v–224v,
36 KÖRNDLE, FRANZ: »Orlando di Lasso’s ›Fireworks Music‹«, in: Early Music 32 / 2004, S. 96–116. 37 WELLER, PHILIP: »Lasso, Man of the Theatre«, S. 108–110. 38 Cod. XV, 221, fol. 97v–98r, Cod. XV, 223, fol. 27v–28r sowie 73v–75r und Cod. XV, 245, fol. 183v–186r. Vgl. FIELITZ, GRETSER: Timon, S. 91, 122, 385–392 mit Transkriptionen des Notenmaterials. 39 Fol. 73v–75r.
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fol. 230r, 231r/v sowie fol. 235v, 230r und 231r/v) mit einfachen Kompositionen zu drei, vier und acht Stimmen. Auch hier zeigt die Art der Schlüssel teilweise eine Besetzung allein mit Knabenstimmen an. Diesen schlichten Gebilden gelegentlich auch andere, ebenfalls strophisch gebaute Gedichte zu unterlegen, stellt nun kein Problem dar. Vor allem – wie hier – bei sapphischen Versen, aber auch bei anapästischen Systemen kann damit gearbeitet werden. Demgegenüber ist etwa bei Hexametern ein strophischer Textaustausch überhaupt nicht möglich. Wenn also die Chöre in den neulateinischen Dramen im Gegensatz zu einer gewissen Vielfältigkeit des Versbaus beim gesprochenen Text häufig sapphische oder Hymnen-Strophen aufweisen, könnte dies wohl auch mit der Mehrfachverwendung der Musik zusammenhängen. Wie viele solcher Sätze es einst gegeben hat, wird sich sicher nicht mehr eruieren lassen, doch darf man sich die wenigen erhaltenen durchaus in verschiedenen Theaterstücken eingesetzt vorstellen.40 Freilich sollte man sich von dieser Art der Vertonung nicht dazu verleiten lassen anzunehmen, die Chöre seien stets derart simpel konzipiert. Bei anderen zugrunde liegenden Dichtungen können die Verhältnisse völlig anders geartet erscheinen, so dass durchaus auch Imitationen und Mensurwechsel auftreten. Kompositionen mit neulateinischen Texten sind im Magnum Opus Musicum, der aus dem Jahr 1604 stammenden historischen Gesamtausgabe der Motetten von Orlando di Lasso ungewöhnlich zahlreich. Deshalb hatte auch Franz Xaver Haberl es mit einer Reihe von solchen Werken zu tun, die er 1908 in Band XIX seiner Neuausgabe als »weltliche Gelegenheitskompositionen« ansprach. Wegen der damals auftretenden Probleme bei der Textlesung und Interpunktion zog Haberl den Altphilologen Dr. Alois Patin zu Rate, der die Textredaktion vornahm und eine Übersetzung anfertigte. Patin nahm über seine Aufgabe hinausgehend an, die Texte Flemus extremos und Heu, quis armorum sowie Heu, quos dabimus und Tragico tecti müssten eine Einheit bilden.41 Als weitere Motetten mit neulateinischem Text wurden in diesen Band der Gesamtausgabe Tibi progenies, Momenta quaevis und Vos, quibus rector aufgenommen. Die genannten Motetten behandelte Philip Weller in seinem Beitrag für das Antwerpener Lasso-Symposium 1994. Dabei griff er die Idee Wolfgang
40 KÖRNDLE, FRANZ: »Die Chöre in Jacob Bidermanns Cenodoxus.« in: Helmut Gier (Hrsg.), Jakob Bidermann und sein »Cenodoxus«. Der bedeutendste Dramatiker aus dem Jesuitenorden und sein erfolgreichstes Stück (Jesuitica, Bd. 8, Quellen und Studien zu Geschichte, Kunst und Literatur der Gesellschaft Jesu im deutschsprachigen Raum, hrsg. v. Gunter Hess, Julius Oswald SJ, Ruprecht Wimmer, Reinhard Wittmann; zugleich Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen Bd. 25), Regensburg 2005, S. 119–128. 41 LASSO, ORLANDO DI: Sämmtliche Werke, ed. Franz Xaver Haberl und Adolf Sandberger, Bd. 19, Leipzig 1908, Vorwort.
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Boettichers42 auf, in diesen Werken Chöre zu erblicken, die zu Schauspielen gehören müssten.43 Für seine Überlegungen konnte Weller damals freilich keine Belege vorweisen, es fehlten sozusagen die Kronzeugen, die Dramen selbst, für die Lasso diese Motetten komponiert hätte. Inzwischen ist es gelungen, die Zugehörigkeit dieser Kompositionen zu einem großen Theaterstück zu ermitteln.44 Es handelt sich um Stefano Tuccis Christus Iudex. Die früheste Aufführung, die wahrscheinlich die Chöre Lassos einbezog, fand am 14. Mai 1589 auf der Jesuitenbühne in Graz statt.45 Als Text-Quellen des Dramas liegen folgende Handschriften vor: – München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 24674, fol. 93r – 129r, 17. Jh. – München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 197572, S. 25 – 119, 16.–17. Jh. – Dillingen, Studienbibliothek, Cod. XV, 219, S. 1077–1135, 16. Jh. – Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vind. 13918, fol. 69–79, 16. Jh. Das Spiel des italienischen Jesuiten Stefano Tucci war 1569 in Messina und 1574 in Rom aufgeführt worden.46 Über eine Beteiligung von Musik an den Inszenierungen ist bisher nichts bekannt. In Deutschland kam Christus Iudex wohl erstmals 1585 in Trier auf die Bühne.47 Tuccis Drama behandelt in den ersten drei Akten und in den Szenen eins bis drei des vierten Aktes das Erscheinen des Antichrists und das Wirken der Propheten Elias, Enoch und Johannes, das mit ihrer Tötung endet. Die verbleibende vierte Szene des vierten Aktes und der fünfte Akt sind dann dem jüngsten Gericht gewidmet. Die Motetten Lassos sind in das Drama wie folgt eingegliedert: 42
BOETTICHER, WOLFGANG: Orlando di Lasso und seine Zeit, 1532–1594, Kassel 1958, S. 571: »Sie sind freie Dichtung mit großem szenischen Aufwand und scheinen Reste zur Frühgeschichte der Oper darzustellen.« S. 572: »vielleicht […] zu einem verschollenen szenischen Werk um 1585 gehörig.« 43 WELLER, »Lasso, Man of the Theatre«, S. 89–127. 44 KÖRNDLE, FRANZ: »›Ad te perenne gaudium‹. Lassos Musik zum ›Vltimum Judicium‹«, Mf 53 / 2000, S. 68–70; Ders., »Lassos Musik für das Theater der Münchner Jesuiten«, in: Musik in Bayern 72 / 2007, 73 / 2008, S. 147–158. 45 VALENTIN, JEAN-MARIE: Le théâtre des jésuites dans les pays de langue allemande. Répertoire chronologique des pièces représentées et des documents conservés (1555–1773), 2 Bde., Stuttgart 1983–1984, hier: Bd. 1, S. 32f. 46 AICHELE, KLAUS: Das Antichristdrama des Mittelalters, der Reformation und der Gegenreformation, Den Haag 1974, S. 86–89. 47 RÄDLE, FIDEL: »Italienische Jesuitendramen auf bayerischen Bühnen des 16. Jahrhunderts«, in: Acta Conventus Neo-Latini Bononiensis: Proceedings of the Fourth International Congress of Neo-Latin Studies, Bologna 26 August to 1 September 1979, ed. R. J. Schoeck, Binghamton, New York 1985, S. 303–312.
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Chorus Prophetarum Flemus extremos hominum labores Sybillarum chorus Heu quis armorum furor in tyranno est? Hymnus Heliae, Enoch, et Joannis, antequam obtruncantur Quas tibi laudes meritas canemus Elias, Enoch, Joannes (Hymnus ascendentium in coelum) Ad te perenne gaudium Chorus Angelorum Tragico tecti Chorus nocent[ium] Heu quos dabimus miseranda cohors Chorus (Ascendunt beati cum choro canentes primam stropham) Tibi progenies unica patris Chorus (Ascendunt beati canentes reliquas strophas) Tu quae uersat sydera mundus [II. und III. Pars von Tibi progenies] Das Drama weist demnach nicht weniger als sieben Chöre auf, von denen sich sechs zweifelsfrei als Motetten Lassos identifizieren lassen. Neben den oben bereits genannten begegnen wir überraschenderweise der dreistimmigen Komposition Ad te perenne gaudium, über deren Funktion sich die Lasso-Forschung bisher unschlüssig gewesen ist.48 Nunmehr wird klar, dass diese äußerst kurze Motette mit zwei weiteren Strophen versehen ist. Ihre Dreistimmigkeit dürfte wohl darauf zurückzuführen sein, dass sie von drei Personen vorzutragen ist, den drei Propheten Elias, Enoch und Johannes, die drei Tage nach ihrer Tötung auferstehen und in den Himmel auffahrend diesen Hymnus singen.49 Vor ihrer Ermordung haben die drei Propheten ebenfalls einen Hymnus vorzutragen, Quas tibi laudes. Eine Motette mit diesem Text findet sich allerdings nicht im Magnum Opus Musicum. Grundsätzlich könnte dort eine solche Komposition mit anderem Text erscheinen. Wegen der Anlage in sapphischen Versen wäre hier an die relativ einfach zu realisierende Möglichkeit eines Textaustausches zu denken. Aufgrund der Parallele zum dreistimmigen Ad te, perenne gaudium, das von den drei Propheten gesungen wird, sollte eine weitere dreistimmige Motette dafür in Frage kommen. Unter den dreistimmigen Motetten Lassos existiert allerdings keine einzige, die einen Text in sapphischen Versen vertont, so dass wir dieses Stück im Moment als verloren ansehen müssen. Mit der Zuordnung der genannten Motetten Lassos zum Drama Christus Iudex tritt eine weitere Fragestellung in den Raum. Die Texte Heu quos dabimus, Tragico tecti und Tibi progenies hat Lasso zweimal vertont. Da eine
48 BERGQUIST, PETER: »Why Did Orlando di Lasso not Publish his Posthumous Motets?«, in: Festschrift für Horst Leuchtmann zum 65. Geburtstag, Tutzing 1993, S. 13–25, hier: S. 14f; SCHLÖTTERER, REINHOLD: »Quintstruktur, aber keine Quintparallelen (Zu Lassos Ad te, perenne gaudium)« in: Bernhold Schmid (Hrsg.), Orlando di Lasso in der Musikgeschichte: Bericht über das Symposion der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München, 4.–6. Juli 1994, München 1996, S. 243–249, bes. S. 249. 49 JANNING, Der Chor, S. 76.
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selbständige Verwendung außerhalb des Theaters bei solchen Motetten schwerlich vorstellbar ist, müssen wir damit rechnen, dass auch die jeweils zweite Komposition eigentlich zum Spiel vom jüngsten Gericht gehört. Im Moment sehe ich auf diese Frage nur eine mögliche Antwort, nach der diese zweiten Kompositionen für eine weitere Aufführung des Dramas angefertigt worden wären. In der Tat hat es schon in Graz eine Wiederholung gegeben. Darüber berichteten einst die Annuae litterae des dortigen Jesuitenkollegs, die inzwischen wohl verloren sind. In eine Chronik der Universität Graz von 1719 sind jedoch Auszüge der damals noch vorhandenen Jahresberichte eingearbeitet, die damit teilweise wiederzugewinnen sind.50 Die Aufführung am 14. Mai 1589 muss demnach auf die Besucher einen ungeheuren Eindruck gemacht haben.51 Als zwei Monate später Maximiliana von Bayern, die Schwester der Erzherzogin Maria, in Graz zu Besuch weilte, ließ Erzherzog Karl auf seine Kosten dieses Schauspiel wiederholen. Vielleicht hat man zu dieser Gelegenheit Lasso beauftragt, die Musik an einigen Stellen aufwändiger neu zu gestalten. Immerhin hat Herzog Wilhelm V., Lassos Dienstherr, rege Anteil an der Grazer Angelegenheit genommen, weshalb er am 8. August 1589 bei der Schwester Maria in Graz nachfragt‚ wie die Comedj abgangen, will Ich gern hörn.52 Ein Antwortschreiben Marias ist nicht erhalten, vielleicht hat sie mündlich bei einem Besuch in München darüber berichtet. Wenigstens könnte man mit einem Auftrag erklären, warum Heu quos dabimus neben der sechsstimmigen eine siebenstimmige, Tragico tecti und Tibi progenies neben der fünfstimmigen eine sechsstimmige Fassung erhielten. Diese Deutung setzt voraus, dass die jeweils geringerstimmige Version auch die ältere darstellte. Freilich ist für die Zweitkompositionen auch eine Aufführung des Christus Iudex an anderer Stelle, etwa in München denkbar. Zwar lässt sich wegen des Verlustes der Annuae litterae für den Zeitraum von 1582 bis 1590 daraus keine Klarheit mehr erreichen,53 doch zeigt die Anordnung der Dramen in clm 197572 eine Reihenfolge, die in den Nummern 3 bis 14 mit nachweisbaren Aufführungen in München korrespon-
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Lustrum primum almae ac celeberrimae Universitatis Graecensis, Societatis Jesu. Graz, apud Haeredes Widmanstadij 1719, S. 38–39. KÖRNDLE, »Lassos Musik«, S. 152f. 51 PEINLICH, RICHARD: Geschichte des Gymnasiums in Graz, Graz 1869, (Jahresbericht des kaiserl. königl. Ober=Gymnasiums zu Graz 1869), S. 33. 52 München, Geheimes Hausarchiv, Korr. Akt 597, VII. Schon bei: WALLNER, BERTHA ANTONIA: Musikalische Denkmäler der Steinätzkunst des 16. und 17. Jahrhunderts nebst Beiträgen zur Musikpflege dieser Zeit, München 1912, S. 103. Bei Wallner ist allerdings die Signatur, wohl wegen eines Druckfehlers, nicht korrekt. 53 RÄDLE, Italienische Jesuitendramen, S. 305.
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diert.54 Der an erster Stelle eingetragene Christus Iudex könnte damit 1594 oder sogar noch früher auch in München gegeben worden sein.55 Selbst wenn Tuccis Stück in München selbst nicht aufgeführt worden sein sollte, man kannte den Christus Iudex dort sehr wohl. Die Handschrift Clm 197572 enthält ab S. 561 als Nummer 11 den bekannten Triumphus Divi Michaelis Archangeli Bavarici, der 1597 zur Einweihung der Münchner Michaelskirche aufgeführt wurde.56 Die Musik des Dramas soll von Georg Victorin stammen.57 Da sie jedoch verschollen ist, kann über die Autorschaft keine weitere Gewissheit erzielt werden. Am Ende des Stückes erklang allerdings möglicherweise erneut ein Chor Lassos, nämlich die bereits im jüngsten Gericht als Abschluß stehende Motette Tibi progenies (S. 709 und S. 712: Actus V. Scena IX. Chorus Sanctorum). Lasso hat die Motette ganz sicher nicht für den Triumphus geschaffen, er war ja bereits 1594 verstorben. Die Planungen dürften kaum bis in diese Zeit zurückgereicht haben. Da aber von Lasso der Text in zwei Vertonungen für den Christus Iudex bereits vorlag, konnte sich der uns nicht bekannte Verfasser des Triumphus daran bedienen, d. h. er hat diesen Text – wohl mitsamt der Musik Lassos – aus dem Christus Iudex übernommen.58 Die Handschrift clm 197572 hält das Drama vom jüngsten Gericht in einer außerordentlichen Bearbeitung fest. Der in Dillingen und Augsburg wirkende Jesuit Wolfgang Starck übertrug die ursprünglichen Hexameter Tuccis fast komplett in jambische Senare.59 Dass dabei die gesamten Chöre von der Neuversifizierung ausgenommen geblieben sind, kann eigentlich nur einen Grund haben. Offensichtlich wollte man sich der vorhandenen Musik Lassos bedienen. Sollte diese Version nicht bereits um 1594 in München aufgeführt worden sein, kommt dafür auch – eventuell dann zum zweiten Mal – der 24. Februar 1597 in Frage.60 Nur wenige Monate vor der Einweihung der Münchner Jesuitenkirche St. Michael bot sich auf dem Reichstag zu Regensburg im Februar 1597 eine weitere Gelegenheit für das Drama vom Jüngsten Gericht. Knapp ein Jahr nach der bei Ignatius Agricola61 beschriebenen Aufführung des Dramas vom Jüngsten Gericht spielte die Regensburger Jesuitenbühne erneut ein größeres Theaterstück mit Musik. Am 2. Februar 1598 (Rosen 54
BARBARA BAUER / JÜRGEN LEONHARDT (Hrsg.): Triumphus Divi Michaelis Archangeli Bavarici. Triumph des heiligen Michael, Patron Bayerns (München 1597): Einleitung – Text und Übersetzung – Kommentar (= Jesuitica Bd. 2), Regensburg 2000, S. 86f. 55 KÖRNDLE, »Lassos Musik«, S. 150. 56 BAUER / LEONHARDT (Hrsg.), Triumphus, S. 87. 57 Die Jesuiten in Bayern 1549–1773, S. 178. 58 BAUER / LEONHARDT (Hrsg.), Triumphus, S. 96f. 59 RÄDLE, Italienische Jesuitendramen, S. 305. 60 Ebenda. 61 AGRICOLA, IGNATIUS SJ: Historia Provinciae Societatis Jesu Germaniae Superioris 1591–1600, Augsburg, München 1729, Bd. II. S. 186.
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montag) wurde der Herodes defunctus, der Tod des Herodes aufgeführt. Das originale Manuskript des Textes ist der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien unter der Signatur Cod. Vind. 13231 erhalten geblieben. Es umfaßt 92 Textseiten. Auf Seite 1 belegt eine Inschrift Datum und Anlaß für die Präsentation: SA. Caesae. Mtis Rudolphi II Dnj nostrj clementissimi fratrj et ad Imperij comitia universalia legato Maximo dignissimo Principj Serenissimo ac Domino D[omi]no Matthiae Archiducj Austriae, Ducj Burgundiae, Stiriae, Carinthiae et Carnioliae Comiti Habspurgj et Tyrolis etc. […] Domino item Clementissimo Hanc de infelicis Herodis tyranni interitu Tragoediam Humillimae observantiae ergo Societatis Ratisponae Gymnasium offert dicatque Anno Salutis M DXCVIII. 3. Non. Febr.
Wie in den jesuitischen Manuskripten in Fulda und Dillingen findet sich die Musik zu den Chören im Textbuch selbst. Genauer gesagt handelt es sich hier um ein Heftchen, das im hinteren Buchdeckel eingelegt ist. Auf acht Seiten (fol. 48v–52r) sind die Noten zu den – wieder sehr schlichten – Chören festgehalten. Leicht einzusehen ist, dass solche nicht fest eingebundenen Blätter im Laufe der Zeit sehr leicht abhanden kommen können; dies würde verständlich machen, warum bei ähnlich angelegten Dramenhandschriften mit zahlreichen unwiederbringlichen Verlusten gerechnet werden muss. Die bisher spärlich aufgetauchten Kompositionen können daher nur einen kleinen Einblick gewähren, wie die musikalische Gestaltung der jesuitischen Dramen einst ausgesehen hat.
Quellen- und Literaturverzeichnis AGRICOLA, IGNATIUS SJ: Historia Provinciae Societatis Jesu Germaniae Superioris 1591– 1600, Augsburg, München 1729. AICHELE, KLAUS: Das Antichristdrama des Mittelalters, der Reformation und der Gegenreformation, Den Haag 1974. BERGQUIST, PETER: »Why Did Orlando di Lasso not Publish his Posthumous Motets?«, in: Festschrift für Horst Leuchtmann zum 65. Geburtstag, Tutzing 1993, S. 13–25. BOETTICHER, WOLFGANG: Orlando di Lasso und seine Zeit, 1532–1594, Kassel 1958. CROOK, DAVID: »A Sixteenth-Century Catalogue of Prohibited Music«, in: Journal of the American Musicological Society 62 / 2009, S. 1–78. DÜRRWAECHTER, ANTON: Jakob Gretser und seine Dramen, Freiburg i.Br. 1912. FIDEL RÄDLE (Hrsg.): Lateinische Ordensdramen des XVI. Jahrhunderts, mit deutschen Übersetzungen, Berlin / New York 1979. FIELITZ, SONJA / GRETSER, JAKOB: Timon. Comoedia imitata (1584), Erstausgabe von Gretsers Timon-Drama mit Übersetzung und einer Erörterung von dessen Stellung zu Shakespeares Timon of Athens (Münchener Universitätsschriften. Philosophische Fakultät. Texte und Untersuchungen zur Englischen Philologie 18), München 1994. FLOTZINGER, RUDOLF: »Musik im Grazer Jesuitentheater«, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 15 / 1984, S. 9–26.
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Franz Körndle
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Lehren ›in lebendigen Bildern‹: zum pädagogischen Impetus des frühneuzeitlichen Theaters Ein Projektbericht Christel Meier Wenn hier Gattung und Medium des Theaters oder vielmehr das Theater in seiner multimedialen Ausformung als eine Art Massenveranstaltung der Frühen Neuzeit1 auf seine pädagogischen Funktionen hin vorgestellt werden soll, kann es nicht mehr darum gehen, diese zu behaupten, zu rechtfertigen oder zu entschuldigen wie in älterer Forschung, die noch eine Stellungnahme leisten musste gegen die früheren Verdikte des frühneuzeitlichen Theaters. Diese resultierten aus einer Orientierung an anderen ästhetischen Maßstäben, d. h. an der klassischen und nachklassischen europäischen Dramatik, und sie kritisierten gerade die Lehrhaftigkeit in Renaissance-, Reformations- und Barocktheater. Sie kennzeichneten es mit Wertungen wie »lederne Moral«,2 »Lehrstücke mit dem unerträglich drohenden Zeigefinger«3 oder sprechen vom »allzu starke(n) hervortreten des didactischen elements, das […] die handlung übermäßig aufhält«.4 Die Tendenzhaftigkeit des Theaters ist inzwischen akzeptiert und wurde durch seine Funktionen in der vormodernen Gesellschaft hinreichend erklärt.5
1 BAUER, BARBARA: »Multimediales Theater. Ansätze zu einer Poetik der Synästhesie bei den Jesuiten«, in: Heinrich Franz Plett (Hrsg.), Poetik der Renaissance, Berlin / New York 1994, S. 197–238. 2 KREISLER, EMIL: Die dramatischen Werke des Peter Probst (1553–1556), Halle a. d. Saale 1907, S. VIII. 3 BRETTSCHNEIDER, WERNER: Die Parabel vom verlorenen Sohn. Das biblische Gleichnis in der Entwicklung der europäischen Literatur, Berlin 1978, S. 27. 4 PALM, HERMANN: Paul Rebhuns Dramen, Stuttgart 1859, S. 181. 5 Z. B. WASHOF, WOLFRAM: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren und protestantische Theologie im lateinischen und deutschen Bibeldrama der Reformationszeit, Münster 2007, passim, bes. S. 42ff.; MEYER, HEINZ: »Nutzen und Wirkungsabsicht des Theaters nach Paratexten lateinischer Dramen der Frühen Neuzeit«, in: Frühmittelalterliche Studien 41 / 2007, S. 207–248; an die Ergebnisse dieses Aufsatzes knüpft die Darstellung des Abschnitts 2 unmittelbar an.
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Die Irritationen der älteren Forschung hinsichtlich der weithin pädagogischen Zweckbindung des frühneuzeitlichen Theaters sind also überwunden; diese veränderte Wertung ist auch durch die Rehabilitation der Rhetorik bedingt, die immer Sprachkunst und Zweckbindung kombinierte. Künstlerische Autonomie ist ebenso wenig wie der individuelle, der Kontingenz ausgesetzte Charakter im Interesse der Träger und Schöpfer dieser Dramatik.
1. Schultheater – Institutionenbindung Von zentraler Bedeutung für die Thematik dieses Bandes ist die an sich bekannte Tatsache, dass das Theater der Frühneuzeit institutionell ganz überwiegend Schultheater ist. Es ist eine Einrichtung der protestantischen Schulen oder der katholischen Ordensschulen, vor allem der Jesuiten. Die Anteile des sonstigen Stadtschul-Theaters, der Höfe, der Wandertruppen sind lange Zeit relativ gering.6 Das heißt, dass auch die Autoren der Dramen überwiegend Pädagogen, also Lehrer oder auch Pfarrer sind (75–80% in den ersten Jahrzehnten des protestantischen Schultheaters).7 Das Publikum setzt sich weitgehend aus der Schülerschaft, den Eltern und den höheren Funktionsträgern vor Ort zusammen. Das Theater hat in den Curricula der Schulen einen festen Platz. Über diese lange bekannten Fakten hinaus hat die 2010 erschienene umfangreiche Untersuchung von Frank Pohle exemplarisch für das Rheinland minutiös und schulenvergleichend diese Grundkonstellation des Theaters aus dem Material von mehr als vierzig Archiven neu untersucht.8 In den folgenden Überlegungen verwende ich eigene Forschungsergebnisse, wie auch – namentlich bezeichnet – die der übrigen Mitglieder der von mir, zusammen mit Heinz Meyer, geleiteten Projektgruppe zum Theater im 6
Die Forschung hat hier allerdings noch erhebliche Lücken, so dass eine endgültige Beurteilung zur Zeit nicht möglich ist; vgl. z. B. JAHN, BERNHARD: »Die Augsburger Theatersituation im 16. Jahrhundert – Kulturelle Austauschprozesse und Abgrenzungen«, in: Meier / Kemper (Hrsg.), Europäische Schauplätze, S. 57–76, mit weiterführender Literatur; s. auch PAUL, MARKUS: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2002. 7 WASHOF, Die Bibel auf der Bühne, S. 23; dazu s. die Rechtfertigung des Dichtens von Dramen durch Geistliche bei GWALTHER, RUDOLF: Nabal. Ein Züricher Drama aus dem 16. Jahrhundert, hrsg. und übers. v. Sandro Giovanoli, Bonn 1979, S. 14: Num ergo praeter officium videri possum fecisse, quod ista hoc tempore tractanda sumpserim? quando omnes pene hominum ordines docendo in viam redigi et in officio retineri maxime necessarium est: qua in re quantum Comicarum actionum aculei valeant, nemo vere sapientium ignorare potest; dazu ausführlicher Washof, ebd. S. 56–59. 8 POHLE, FRANK: Glaube und Beredsamkeit. Katholisches Schultheater in Jülich-Berg, Ravenstein und Aachen (1601–1817), Münster 2010.
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Sonderforschungsbereich 496 Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution (Münster). Für eine Thematik, die auf die Vermittlung von Werteordnungen in der theatral-symbolischen Kommunikation ausgerichtet war, ergab sich die Konzentration auf das didaktische Potential des Theaters notwendig.9
2. Autoren zur besonderen didaktischen Wirkung des Theaters Vorweg ist zu fragen, ob die Autoren selbst Gründe für die besondere Eignung des Theaters zur Lehre anführen und, wenn ja, welche? Die Beantwortung dieser Frage kann hier nur in exemplarischer Auswahl von paratextuellen dramatischen Zeugnissen erfolgen. Danach werden im Blick auf das Pädagogische folgende Aspekte für die Faktur der Dramen selbst zu erörtern sein: thematische und formale Merkmale, das Exemplarische bis hin zur letzten Konsequenz der Handlungsverläufe, das Emblematische und das Affektische sowie Spezifika der Sprachgestaltung. Zuerst also zu den Gründen, die die Autoren, welche in Paratexten vielfach zu ihrer Arbeit Stellung nehmen, für die besondere Eignung des Theaters zur Belehrung, zu seiner spezifisch didaktischen Potenz anführen. Es sind drei Hauptargumente, die wiederkehren: 1. die Einhüllung der Lehre in eine angenehme und packende Handlung bzw. – mit altem Bild – die Versüßung bitterer Medizin der Moral mit dem Honig des festlichen Schauspiels; 2. die stärkere Wirkung des mit den Augen Gesehenen gegenüber dem nur Gehörten oder Gelesenen; 3. die Lebendigkeit des Spiels im Agieren von Personen, mit Hilfe auch der oft aufwändigen Ausstattung (Bühnenbild, Musik, Tanz, Flugmaschinen usf.). In den Paratexten häufen sich die Wörter zur Bezeichnung der didaktischen Zielsetzung der Stücke, wie docere, condocere, instruere, instituere, informare, discere, exercere, resipiscere, adducere ad usf.10 Schon Nicholas Trevet erläutert in seinen Kommentaren zu Senecas Dramen die Wirkabsicht der
9 Die im Literaturverzeichnis angegebenen Arbeiten des Projekts (s. *) belegen dieses Interesse unter den verschiedenen Aspekten, die im Folgenden erläutert werden. 10 Als ein Beispiel für viele sei genannt GWALTHER, RUDOLF: Nabal. Ein Züricher Drama aus dem 16. Jahrhundert, hrsg. v. Sandro Giovanoli, Bonn 1979, S. 10: Nec sufficere puto ut in loco religioni et divinis cultibus sacro illud fiat, nisi eadem doctrina et foro et curiae et compitis et theatris etiam inferatur: ut ibi quoque vel inviti sapere discant homines, unde peccatorum et scelerum occasiones desumi consueverunt.
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Dramen mit moralischer Korrektur des Publikums durch Beispiele: finis eius est correctio morum per exempla hic posita.11 Besonderes Gewicht neben der Wirkung auf das Publikum legt Frischlin auf die Ausbildung der Schüler bei ihren Schauspielübungen, wenn er in der Vorrede zu seiner Dido-Tragödie deren damit erworbene Fähigkeit, öffentlich aufzutreten, hervorhebt: Volo enim iuuentutem exercere in mea schola Poetica, ut primo ediscant Virgilij phrasin et genus illud dicendi grandiloquum ac numeris vinctum. Deinde volo illos haec eadem, quae edidicerunt, in scena recitare: vt non solum memoria illorum crebro vsu acuatur: sed etiam decori gestus et apta pronunciatio condoceatur. Volo denique animum accendi et excitari in tenera aetate, vt aliquando viri facti promptius et cordatius coram alijs, praesertim in coetibus et conuentibus publicis, loquantur.12
Dazu wenige Beispiele: Rudolf Gwalther, der Zürcher Humanist und reformierte Theologe, bekräftigt, dass man ungern die Lehre unverhüllt (doctrina […] nuda simplexque) annimmt; besser ist es, wenn die bittere Medizin mit Honig versüßt oder ein süßes Gewürz der Speise beigegeben wird.13 Diese Begründung war seit der Antike für die belehrende Dichtung generell verwandt worden im Sinne des horazischen prodesse et delectare (im Bild des mit Honig bestrichenen Bechers bitterer Medizin).14 Für das Theater sind solche Aussagen besonders spezifisch, die seinen ganz eigenen Charakter zur Begründung heranziehen: die eindrückliche Wahrnehmung über die Augen, die lebendigen Personen und Handlungen auf der Bühne, das Zusammenwirken von Spielern und Zuschauern (collusio). Konrad Celtis drückt die Lebendigkeit des Theaters in seiner Ingolstädter Antrittsvorlesung 1492 aus (was er ähnlich schon 1486 in der Ars versificandi et carminum gesagt hatte) mit den viva simulacra oder den lebendigen Vorbildern (viva exempla).15 Samuel Junius beschreibt die besondere pädagogi 11
TREVET, NICHOLAS: L. Annaei Senecae ›Hercules furens‹ et Nicolai Treveti expositio, hrsg. v. Vincentius Ussani Jr., Rom 1959, Bd. 2, S. 4f. (im Zuge der Erläuterung der Tragödie nach vier Accessus-Kategorien, die den vier causae der Aristotelesrezeption entsprechen). 12 FRISCHLIN, NICODEMUS: Hildegardis Magna. Dido. Venus. Helvetiogermani, hrsg., übers. und komm. v. Nicola Kaminski, Bd. 1, Bern / Berlin [u. a.] 1995, S. 246. 13 GWALTHER, RUDOLF, Nabal, S. 10. NICHOLAS TREVET, Il Commento al Tieste di Seneca, hrsg. v. Ezio Franceschini, Mailand 1938, S. 9: Cuius (sc. Senecae) doctam maturitatem in arduo virtutum culmine obversantem ad scribendum tragedias reor inclinatam, ut more prudentium medicorum, qui amara antidota melleo involuta dulcore, gustu inoffenso ad humorum purgamentum et sanitatis fomentum transmittunt, ethica documenta fabularum oblectamentis immersa cum iocunditate mentibus infirmis ingereret, per que, eruderatis vitiis, uberem virtutum segetem iniectis seminibus procrearet; dazu auch JUNGE, REBEKKA: Nicholas Trevet und die Octavia Praetexta. Editio princeps des mittelalterlichen Kommentars und Untersuchungen zum pseudosenecanischen Drama, Paderborn [u. a.] 1999, S. 132f. 14 HORAZ, Ars poetica (Epist. ad Pisones), V. 333 und 343f.; z. B. auch LUKREZ: De rerum natura libri sex, hrsg. und komm. v. C. Bailey, I 931ff. und IV 6ff. 15 CELTIS, KONRAD: Panegyris ad duces Bavariae, hrsg., übers. und komm. v. Joachim Gruber, Wiesbaden 2003, 10,4; DERS.: Ars versificandi et carminum, Leipzig 1486.
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sche Wirkung im Widmungsbrief zur Tragödie Lucretia: ut vivis veluti coloribus virtutum cultores et vitiorum asseclae et eorundem praemia ac poenae illustrantur et ante oculos cuiusvis sortis hominibus proponantur.16 Besonders zugespitzt und drastisch formuliert den Gegensatz von Theaterspiel und einfacher Lektüre Nicolaus Avancini in der Vorrede zur Poesis Dramatica: […] quae in scena aguntur, viva sunt et animata; quae leguntur, mera ossa et cadavera.17 Aus dem Rückblick auf die jesuitische Dramatik und seine eigene Vorstellung vom Meditationstheater sagt Franciscus Lang zu den Lehrinhalten: quia […] ea vivis rerum et personarum imaginibus per sermonem, actionem et cantum spectantium sensibus proponebantur, efficacius inde ad animos itura cum motu.18 Die synästhetische Wirkung des Theaters – so auch Martin Delrio 1593 und im 17. Jahrhundert noch Claude-François Menestrier mit Bezug auf die zeitgenössische Wahrnehmungspsychologie – affiziert besonders stark die Augen und damit die Einbildungskraft und das Gemüt des Menschen: Tragici per oculos etiam quasi vi in animos spectantium viam aperiunt. minimum movere solent, quae per aures tantum intrant, plurimum quae sunt oculis subiecta fidelibus.19 Gegenüber anderen literarischen Formen der Didaxe übertrifft das Drama, zumal in seiner Aufführung, deren Wirkungspotential also erheblich. Heinz Meyer hat in seiner Studie zu Nutzen und Wirkungsabsicht des Theaters in Anlehnung an die Accessus-Kategorie utilitas 2007 weitere Zeugnisse dieser Art präsentiert.20 Unter diesen Prämissen soll nun grundsätzlich und systematisch gefragt werden, was die Bindung an die didaktischen Ziele für die Formierung der Gattung bedeutete, welche Konsequenzen sie für die Gestaltung hatte.
16
JUNIUS, SAMUEL: Lucretia. Tragoedia nova […], Straßburg 1599, Epistula Nuncupatoria, fol. A2r–A3r. Vgl. auch DÜRR, JOHANN CONRAD: Compendium Theologiae Moralis […]. Editio altera, Altdorffi 1675, S. 246 verlangt eine starke didaktische Komponente, wenn das Theater für christliche Bürger als Schauspieler oder Zuschauer empfehlenswert sei: […] illustrandae Dei gloriae, depingendis variis hominum moribus et negociorum eventibus, exprimendis vivis coloribus virtutum pulchritudini et vitiorum turpitudini, incitandisque spectatoribus ad illarum studium, ad horum fugam serviant. 17 AVANCINI, NICOLAUS: Poesis dramatica, Pars I, Köln 1675, Vorrede ›Ad Lectorem‹; s. auch RÄDLE, FIDEL: »Lateinisches Theater für das Volk. Zum Problem des frühen Jesuitentheaters«, in: Wolfgang Raible (Hrsg.), Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema ›Mündlichkeit und Schriftlichkeit‹, Tübingen 1988, S. 133–148, S. 139. 18 LANG, FRANCISCUS: Theatrum solitudinis asceticae, München 1717, in der Vorrede an den Leser; BAUER, »Multimediales Theater«, S. 230. 19 DELRIUS, MARTINUS ANTONIUS: Syntagma tragoediae latinae, in tres partes distinctum, Antwerpen 1593, Pars I, S. 6; dazu auch BAUER, »Multimediales Theater«, S. 207. 20 MEYER, »Nutzen und Wirkungsabsicht«, S. 229–231; vgl. DERS., »Intentio auctoris, utilitas libri. Wirkungsabsicht und Nutzen literarischer Werke nach Accessus-Prologen des 11. bis 13. Jahrhunderts«, in: Frühmittelalterliche Studien 31 / 1997, S. 390–413.
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3. Die Themen Auch wenn das Themenspektrum des frühneuzeitlichen Theaters breit ist und Probleme der Gesellschaftsordnung, der Ethik, der Wissenschaften und vor allem der Religion umfasst, fällt doch die Häufung der Schul- und Erziehungsdramen in der frühen Zeit auf – von der Poliscena des Leonardo della Serrata über Wimphelings Stylpho (1480),21 Johannes Kerckmeisters Codrus (1485),22 Heinrich Bebels Comoedia (1501)23 bis zu mehreren Stücken des Georg Macropedius (†1558) (Rebelles und Petriscus)24 – und bestätigt damit die didaktischen Intentionen der Gattung. Es geht ebenso um die Wahl des besten Lehrers, um die richtigen Lernstoffe und -methoden, um die Ziele der Ausbildung wie um die damit zu erreichende Berufslaufbahn, doch auch um Gefahren und Fehlentwicklungen in der Erziehung – dies alles wird vorgeführt vivis quasi simulacris. Zum Codrus Kerckmeisters, einer dieser Schulkomödien, ist gerade die Dissertation von Elmar Rickert erschienen, die den kritischen Text, die Übersetzung und eine Untersuchung des Stücks im Rahmen des nordwestdeutschen Humanismus umfasst; auf die Bildungsthematik legt sie besonderes Gewicht.25 Die Lehrthemen der Dramen beschränken sich jedoch nicht auf das Schulmilieu. Fidel Rädle hat einen wichtigen Anstoß gegeben mit Theater als Predigt. Formen religiöser Unterweisung in lateinischen Dramen der Reformation und Gegenreformation (1997)26 und, diesem Ansatz folgend, Wolfram Washof unter dem Titel Die Bibel auf der Bühne konsequent (und vielleicht etwas gewagt) die Hauptpunkte der protestantischen Dogmatik und Ethik in den Bibeldramen bis ca. 1580 aufgesucht und darin ein Panorama theologischer Grundfragen vom Sündenfall über die Rechtfertigung bis zu den letzten Dingen gefunden, ebenso die ethischen Modellfälle von der Einrichtung der 21
SERRATA, LEONARDO DELLA: Poliscena Comedia humanistica latina, hrsg. v. Antonio Arbea, Santiago de Chile 2000. 22 KERCKMEISTER, JOHANNES: »Codrus«, hrsg. v. Elmar Rickert: vgl. unten Anm. 25. 23 BEBEL, HEINRICH: Comoedia de optimo studio iuvenum. Über die beste Art des Studiums für junge Leute, hrsg. und übers. v. Wilfried Barner, Stuttgart 1982. 24 MACROPEDIUS, GEORG: Two Comedies. Rebelles. Bassarus, hrsg. v. Yehudi Lindeman, Nieuwkoop 1983, S. 21–105; DERS.: Petriscus, Köln 1540. Vgl. MEIER, CHRISTEL: »Die Inszenierung humanistischer Werte im Drama der Frühen Neuzeit«, in: Dies. / Meyer, Heinz / Spanily, Claudia (Hrsg.), Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation, Münster 2004, S. 249–264. 25 RICKERT, ELMAR: Johannes Kerckmeisters Schulkomödie ›Codrus‹ (1485) als Zeugnis für den Humanismus im nordwestdeutschen Raum. Mit Erstdruck (1485), Neuedition, Übersetzung und Interpretation, Münster 2011, bes. S. 206ff. »Das Bildungsprogramm im ›Codrus‹«, S. 218ff. »Der ›Codrus‹ als Lehrbuch«. 26 RÄDLE, FIDEL: »Das Theater als Predigt. Formen religiöser Unterweisung in lateinischen Dramen der Reformation und Gegenreformation«, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 16 / 1997, S. 41–60.
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gottgewollten gesellschaftlichen Ordnung bis zu den im Dramenpersonal inkorporierten Pflichtenlehren, die für die verschiedenen sozialen Stände und Funktionsträger vom Kirchenregiment über die Amtsträger der Politik bis zum Haus als privatem Kosmos von Ämtern und Pflichten gelten.27 Bemerkenswert ist die Affinität des Theaters zu den Wissensspeichern der Gesellschaft und damit zur Lehre, wenn Naturkundliches, Geographisches oder Medizinisches zum Sujet von Dramen wird (was eine spätere Dramenästhetik ganz ausgeschlossen hätte). Für diese Wissensgebiete sind die dramatischen Actus der Breslauer Schulen aus dem 17. und 18. Jahrhundert besonders zu nennen.28 Ein schönes früheres Beispiel ist jedoch auch die Komödie Melancholicus Christian Bachmanns von 1611, die die Krankheit der Melancholie und ihre Heilung auf amüsante Weise behandelt, und das mit der vollen Absicht, Gegenstände der Naturwissenschaften in Dramen zu präsentieren nach dem Horazischen prodesse und delectare der Dichtung. In der Vorrede sagt Bachmann:29 »Es ist nicht meine Absicht, geneigter Leser, den Vorzug und den Nutzen der Beschäftigung mit der Komödie ausführlicher darzustellen. Denn wenn ich sie ihrem Ansehen gemäß verherrlichen wollte, müsste ich ganze Wagenladungen an Vorträgen zusammenstellen. Es ist nämlich ein unglaublich weites Redefeld, das sich anbietet, und ich sehe wirklich nicht, welche Lehre, Kunst oder Wissenschaft es geben sollte, die nicht dem dramatischen Spiel angepasst werden könnte. Über die Moralphilosophie gibt es keinen Zweifel, weil alle Komödien des Plautus und Terenz übervoll sind von Vorschriften und Anweisungen hinsichtlich der Regeln von Sitte und Anstand. Auch der sogenannte theoretische Teilbereich der Philosophie kann problemlos mit lebenden Personen dargestellt werden, wenn ein gewisser Aufwand an Fleiß und Urteilsvermögen hinzukommt. Wenn du die anderen Schriftsteller vielleicht außer Acht lässt, nimm, wenn du willst, ein Beispiel aus meinem kleinen Stück, in dem ich eine durchweg medizinische Untersuchung den Anhängern dieser Wissenschaft vor Augen führen wollte, wie ich es weiter unten darlegen werde. Niemand könnte schließlich daran zweifeln, dass es möglich ist, auch jenen dritten (abstrakten) Teilbereich der Philosophie, die Mathematik, in der Komödie zu behandeln. Obwohl dies freilich bislang (soviel ich weiß) von niemandem unternommen worden ist, bin ich trotzdem sicher, dass jemand, der die Stärke seiner Begabung und seiner Einsicht erproben wollte, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und die anderen mathematischen Disziplinen in einem dramatischen Werk darstellen könnte. Ein praktisches Beispiel auf diesem Gebiet würden vielleicht, sofern sie noch vorhanden wären, die bekannten Rätsel der Pythagoreer darstellen, von denen man erzählt, dass sie ihre Philosophie darin verborgen hätten. Ebenso könnten auch in der Naturlehre die Geschichten der Dichter eine gewisse Handreichung zur Behandlung von Naturgegenständen entsprechend den Vorschriften und Gesetzmäßigkeiten der Komödie sein, obgleich ein gewisser prinzipieller Unterschied besteht. Was ich über die Philosophie gesagt habe, kann man auch auf die
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WASHOF, Die Bibel auf der Bühne, bes. S. 141–463. GAJEK, KONRAD (Hrsg.): Das Breslauer Schultheater im 17. und 18. Jahrhundert. Einladungsschriften zu den Schulactus und Szenare zu den Aufführungen ›förmlicher Comödien‹ an den protestantischen Gymnasien, Tübingen 1994. 29 BACHMANN, CHRISTIAN: Melancholicus. Comoedia nova (1611), hrsg., übers. und erläutert v. Nicole Fabisch, Berlin 2003. 28
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höheren Wissenschaften übertragen. In der Theologie findest du das Phasma von Frischlin und unzählige andere Beispiele. In der Rechtslehre hat Jacob Ayrer, Doktor beider Rechte, einen vollständigen Gerichtsprozess in einer kunstvollen Komödie dargestellt. In der Medizin könnte jemand sprechende Kräuter in einer Szene auftreten lassen, ganz zu schweigen von der Geschichtswissenschaft, den Sprachen oder was auch immer man sich in der Natur ausdenken kann. Alles nämlich kann mit der Komödie verbunden werden. Soviel in aller Kürze zur Würde der Beschäftigung mit der Komödie, die (wie man sagt) im Gegenstand selbst liegt. Der Nutzen aber, der von daher für uns entsteht, ist hauptsächlich die Erkenntnis von Wahrheit auf lustige Weise. Unter Wahrheit magst du sowohl Ethik wie Metaphysik verstehen. Die Komödie kann nämlich beide behandeln. Übrigens ist die äußere Form der Wahrheit, soweit sie die Komödie betrifft, die Erheiterung. Diese bildet ja zusammen mit der Wahrheit den Endzweck der Komödien, woher der genannte Nutzen rührt. Dass Dichter Nutzen bringen sollen, bedeutet eben, dass sie Wahres lehren, und dass sie erfreuen sollen, bedeutet, dass sie Erheiterndes hinzufügen. Wen würde daher ein solcher Vorteil nicht anlocken, diese Beschäftigung zu lieben? Wer wollte nicht belehrt werden, wer aber sich nicht besonders gern mit Vergnügen belehren lassen?«30
30 Ebd. S. 15/17. Consilium mihi non est, benigne lector, praestantiam atque utilitatem studii comici uberius demonstrare, quas si pro dignitate amplificare debeam, plaustra orationum mihi contexenda forent. Incredibile enim est, quantus dicendi campus sese offerat, nec enim video, quae disciplina, ars aut scientia extet, quae non ludo dramatico accommodari possit. De morali philosophia dubium non est, cum omnes Plauti et Terentii fabulae praeceptis atque institutis morum abundent. Ea etiam pars philosophiae, quam contemplatricem vocant, commode personis vivis exhiberi potest, si quidam industriae ac iudicii labor accedat. Huius rei exemplum, si alios forte praetereas, ex mea hac fabella, si placet, sumas, in qua disquisitionem omnino physicam eius scientiae cultoribus proponere volui, ut paulo post planum faciam. Nec est, quod quis dubitet, an etiam tertia illa abstractiva philosophiae pars, mathesis, possit comico more tractari. Quanquam enim hactenus a nemine illud (quod ego sciam) tentatum est, nullus tamen dubito, quin, si quis ingenii sui ac iudicii vim experiri vellet, arithmetica, geometrica, astronomica et alia matheseos praecepta opere dramatico exprimere posset. Modum quendam huius rei monstrarent fortasse aenigmata illa Pythagoreorum, quibus philosophiam suam illi occultasse perhibentur, si extarent, quemadmodum in physicis poetarum fabulae manuductio quaedam esse possunt comico ad pertractandum res naturales iuxta praecepta et leges comoediarum, tametsi quaedam diversitatis ratio intercedat. Quae dicta sunt de philosophia, ad superiores quoque disciplinas referas licet. In theologia habes Phasma Frischlini et infinita alia, in iurisprudentia artificiose absolutum iuris processum comice persecutus est Iacobus Airerus I U D, in medicina herbas loquentes aliquis in scenam introducere posset. Taceo historias, linguas et quicquid in natura excogitari potest. Omnia enim ad comoediam adstringi possunt. Haec strictim pro dignitate studii comici, quae in ipso subiecto (ut loquuntur) residet. Utilitas vero, quae inde ad nos proficiscitur, summatim est veritatis cum iucunditate perceptio. Veritatem accipias vel ethicam vel metaphysicam, utramque enim comoedia complectitur. Caeterum formalis ratio veritatis, qua comicum concernit, iucunditas est. Haec enim cum veritate finem ultimum comoediarum constituit, unde haec utilitas petita est. Sane quod prodesse dicuntur poetae, vera docent, quod delectare, iucunditatem admiscent. Haec ergo utilitas quem non ad amorem huius studii alliceret? Quis doceri nollet? At doceri quam cum iucunditate doceri quis mallet? (Ebd. S. 14/16)
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Die Auswertung der wissenschaftlich-medizinischen Quellen wird nun in der Vorausschau auf die Szenen des Dramas erläutert, doch auch die Veränderung bei dem Gattungswechsel einsichtig gemacht. Mit einem ausdrücklichen Quellenbezug erhärtet der Autor zugleich die propagierte Nähe von Wissenschaft und Komödie und die Relation zwischen solchen Theatrum-Werken und dem Theater: »Wenn diese Dinge jemandem albern erscheinen, mag er weit Seltsameres in Zwingers Theatrum und in den Schriften anderer Autoren lesen, die Einbildungen von Personen, die von der Melancholie befallen waren, gesammelt haben.«31
Der Wunsch nach entsprechenden weiteren Dramen beendet den Paratext der Vorrede Ad Lectorem: »Ich wünschte, dass irgendjemand uns die Temperamente des Phlegmatikers, Cholerikers oder Sanguinikers in einer Dichtung nach dem Beispiel der vorliegenden beschreiben würde. Ich kann dir noch keine Hoffnung machen, ob ich dies später einmal selbst leisten kann, zumal in Unkenntnis deines Urteils über diesen Melancholicus.«32
4. Die Formen Innerhalb der Dramenstruktur gibt es theatrale Elemente, die augenscheinlich für didaktische Zielsetzungen vor andern geeignet und offen sind. Diese sind – wie schon im antiken Drama – Prolog und Epilog, dann die Chöre und ein Teil der konzeptionellen Diskussions- und Streitdialoge unter den Antagonisten der Stücke. Prologe und Epiloge haben wie andere Paratexte der Dramen (etwa Widmungsbriefe, Theaterzettel) seit langem die Aufmerksamkeit als Schlüsseltexte für die jeweilige Konzeption des Autors auf sich gezogen und wurden erneut von Heinz Meyer auf Aussagen zum Nutzen und zur Wirkungsabsicht des Theaters überprüft33 mit dem Ergebnis einer überwältigend großen Zeugnismenge zur moralischen Belehrung, die hier systematisch differenziert werden konnte. Die Chöre als Theaterelement sui generis wurden in der Monographie über den Chor im neulateinischen Drama 2005 von Volker
31 Ebd. S. 20f.: Si cui haec fortasse futilia videantur, legat longe mirabiliora in Zvvingeri ›Theatro‹ et aliorum scriptis, qui imaginationes congesserunt bile atra corruptorum. 32 Ebd. S. 22f: Optarem, ut quis phlegmatis, cholerae aut sanguinis temperamenta in figmento aliquo ad huius exemplum nobis ostenderet. Quod ipsum an ego tibi praestare possim posthac, iam spem facere nequeo, ignarus utique tui super hoc ›Melancholico‹ iudicii […]. Vgl. MEIER, CHRISTEL: »Enzyklopädie und Welttheater. Zur Intertheatralität von Universalwissen und weltpräsentierender Performanz«, in: Martin Schierbaum (Hrsg.), Enzyklopädistik zwischen 1550 und 1650 – Typen und Transformationen. Tagung des SFB 573, 8.– 11.9.2005, Münster 2009, S. 3–39. 33 MEYER, »Nutzen und Wirkungsabsicht«, passim (mit Lit.).
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Janning untersucht,34 der neben der Gestaltungsfunktion in Strukturierung und ästhetischer Variation besonders die Vermittlungsleistung und die Belehrung des Zuschauers herausgestellt hat und dies mit einer ausführlichen Darstellung der Themen, Topoi und Argumentationsformen der Chorlieder belegt: etwa zu Bedingungen und Gefährdungen des menschlichen Lebens, der Moralität (Tugenden / Laster) und der Stellung des Menschen zu Gott sowie schließlich kontrovers-theologischen Fragen.35 Den Kommentierungen und Bewertungen der Bühnenhandlung, den Appellen, Warnungen und Belehrungen an das Publikum liegt wiederum ein starkes didaktisches Potential zugrunde, das durch die besonderen lyrischen Formen zusätzliche affektische Wirkungen freisetzt. Stellt man die stark affekthaltigen den eher sachlich-belehrenden Chorpartien in den Dramen Jakob Schöppers gegenüber, so sind Schlüsse für die verschiedenen Methoden der Rezeptionssteuerung und Belehrung schon in diesem einen Theaterelement zu begreifen.36 Kommentierende und die Haupthandlung deutende Funktion haben auch ausgebildete Intermedien, Vor- und Zwischenspiele, die als lebende Bilder oder als Szenen komplementäre Inhalte präsentieren und dem Publikum neue Perspektiven auf die Haupthandlung des Dramas öffnen.37 Die oft am Höhepunkt des Dramas angesiedelten Streitdialoge zwischen den Antagonisten über divergente Werteordnungen ziehen den Zuschauer in einen Entscheidungsvorgang hinein und veranlassen ihn zur eigenen Positionsbestimmung, was ich unter dem Thema Wertkonflikt als Wortstreit untersucht habe.38
5. Das Exemplarische Das Theater der Frühneuzeit stellt noch nicht das Individuum und individuelles Handeln im eigentlichen Sinn dar. Seine Akteure – so die Ergebnisse eines internationalen Kolloquiums unseres Theatersprojekts Akteure und Aktionen, erschienen 2008 – sind Typen, sei es aus dem antiken Drama, der Bibel, der Mythologie, der Geschichte oder der jeweiligen Gegenwartsgesellschaft, und
34 JANNING, VOLKER: Der Chor im neulateinischen Drama. Formen und Funktionen, Münster 2005. 35 Ebd. S. 97–241. 36 Ebd. S. 243–256 zum Chor als nüchternem Kommentator und Belehrer bei Schöpper. 37 JANNING, VOLKER: »Formen und Funktionen des Chorus symbolicus«, in: Meier / Meyer / Spanily (Hrsg.), Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, S. 367–390. 38 MEIER, CHRISTEL: »Wertkonflikt als Wortstreit. Agonale Dialogszenen im lateinischen Drama der Frühen Neuzeit«, in: Barbara Stollberg-Rilinger / Thomas Weller (Hrsg.), Wertekonflikte – Deutungskonflikte. Internationales Kolloquium des SFB 496, 19.–20. Mai 2005, Münster 2005, S. 227–249.
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sie stellen Vorbilder oder abschreckende Beispiele dar.39 Oder es sind Personifikationen und übernatürliche Mächte, die auf den Menschen einwirken (s. u. unter 8.). Dieses Dramenpersonal tritt in exemplarischer Funktion auf die Bühne, ganz wesentlich um das Publikum zu belehren. Mit Luthers und Melanchthons entsprechenden Empfehlungen des Theaters war dieses im Protestantismus sanktioniert. Luther sieht nicht nur das Buch Judith als eine biblische dramatische Dichtung,40 sondern lässt Theateraufführungen auch als einen nützlichen Ständespiegel gelten, wenn er sagt: daß in Comödien […] abgemalet und fürgestellet werden solche Personen, dadurch die Leute unterrichtet und ein Iglicher seines Amts und Standes erinnert und vermahnet werde, was einem Knecht, Herrn, jungen Gesellen und Alten gebühre, wol anstehe, und was er thun soll; ja, es wird darinnen furgehalten und für die Augen gestellt aller Dignitäten Grad, Aemter und Gebühre, wie sich ein Iglicher in seinem Stande halten soll im äußerlichen Wandel, wie in einem Spiegel.41 Melanchthon hat entsprechend in seiner Einleitung zur Terenz-Ausgabe von 1545 nicht nur für das antike Drama, sondern auch für Neuschöpfungen plädiert, die der Vermittlung der Erkenntnis von den Bedingungen des menschlichen Lebens, seiner Kontingenz und von den Möglichkeiten ihrer Beherrschung durch die Adaptation einer aristotelisch-christlichen Ethik dienen.42 Die Entwicklung seiner Lehre von der lex naturalis und ihren principia practica, die den erfolgreichen Unterricht in der Tugend durch die Annahme eingeborener Ideen (notitiae naturales) ermöglichen und mit der Methode der Auffindung und Verwendung von loci communes auch in der Dichterlektüre und bei der Abfassung von Literatur solcherart Lebens- und Tugendhilfe garantieren, hat eine neue systematische, d. h. erkenntnistheoretisch abgesicherte Pädagogik begründet, die gleichermaßen das Antiken-Studium wie einen humanistisch-christlichen Ethik-Unterricht fundieren konnte. Sie ermöglichte die Einübung in richtige Urteile, die letztlich einen tugendhaften Habitus ausbilden. Die Literatur enthält in der Form von Exempeln solche loci und
39 MEIER, CHRISTEL / RAMAKERS, BART / BEYER, HARTMUT (Hrsg.): Akteure und Aktionen. Figuren und Handlungstypen im Drama der Frühen Neuzeit, Münster 2008; zur Exemplarizität der Figuren und Handlungstypen s. die Einleitung von Meier / Ramakers. 40 LUTHER, MARTIN: »Vorrede«, in: Weimarer Ausgabe, Deutsche Bibel, Bd. 12, S. 6f.; auch in: SOMMERFELD, MARTIN (Hrsg.): Judith-Dramen des 16./17. Jahrhunderts. Nebst Luthers Vorrede zum Buch Judith, Berlin 1933; MICHAEL, WOLFGANG FRIEDRICH: »Luther and the Religious Drama«, in: Daphnis 7 / 1978, S. 365–367. 41 LUTHER, MARTIN: »Tischreden«, Weimarer Ausgabe, Bd. 1, Nr. 867, S. 430–432. 42 MELANCHTHON, PHILIPP: »Praefatio. Epistola Phil. Mel. de legendis Tragoediis et Comoediis«, in: Opera quae supersunt omnia, hrsg. v. Carl Gottlieb Bretschneider (Corpus Reformatorum V), Halle 1838, Nr. 3108, Sp. 567–572; dazu MEIER, CHRISTEL: »Die Inszenierung humanistischer Werte im Drama der Frühen Neuzeit«, in: Dies. / Meyer / Spanily (Hrsg.), Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, S. 249–264, hier: S. 251–253.
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leitet auch an zur Suche nach exemplarischen Stoffen und deren dichterischer Gestaltung (in Referenz auf die Begriffe, loci communes). In den Arbeiten von Bernd Roling 200443 und Eick Sternhagen 200744 wurde dieser Zusammenhang von Drama und Erkenntnistheorie sowie Ethik bei Melanchthon untersucht.
6. Das Aktionale: Die Konsequenzen des Handelns Neben den zahlreichen paratextuellen Aussagen der Autoren zu ihrer Absicht der correctio morum und der in dieser Hinsicht direkt belehrenden Partien der Dramen (Chöre, Epiloge u. a.) hat das Theater noch eine andere, den Zuschauer sicher von der Richtigkeit seiner Lehre überzeugende Strategie, die zum Beispiel Ethik-Traktate und andere belehrende Lese-Literatur weniger besitzen. Der Zuschauer bekommt die Konsequenzen falschen und richtigen Handelns unmittelbar im Verlauf des Stücks und besonders in seinem Ausgang vorgeführt. Die Lehre von den Wirkungen der Tragödie in der Poetik des Aristoteles hat – auch wenn die Erforschung der Rezeptionsgeschichte dazu noch keineswegs abgeschlossen ist – in ihrer Adaptation im 16. und 17. Jahrhundert eine signifikante Wandlung erfahren:45 phobos, eleos und katharsis wurden gemäß dem pädagogisch-ethischen Verständnis des Dramas einer moralischen Umdeutung unterzogen, so dass misericordia, terror und purgatio zu einer Reinigung von Leidenschaften und Lastern wurde, die durch ihre Bösartigkeit auf der Bühne Abschreckung von solcher Haltung bewirkte.46 Diese Art von Reinigung und Mäßigung beschreibt etwa Melanchthon: ut rudes ac feros animos consideratione atrocium exemplorum et casuum flecterent ad moderationem,47 und Samuel Junius führt das in der Widmungsepistel zur Lucretia (1599) weiter: Quis, qui atrocia scelera atrocibus puniri poenis 43
ROLING, BERND: »Exemplarische Erkenntnis: Erziehung durch Literatur im Werk Philipp Melanchthons«, in: Meier / Meyer / Spanily (Hrsg.), Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit, S. 289–365 (S. 300–311 zur lex naturalis und den principia practica, S. 319–324, 340–344, 353–362 zu den loci communes, S. 344ff. zum Theater als ›Schule des Lebens‹). 44 STERNHAGEN, EICK: Ethik und Drama bei Philipp Melanchthon, Diss. im Netz der Universitätsbibliothek Münster 2007 (http://deposit.ddb.de/cgibin/dokserv?idn=98348056(2007). 45 Dazu GEORGE, DAVID E.: Deutsche Tragödientheorien vom Mittelalter bis zu Lessing. Texte und Kommentare, München 1972, bes. S. 42–132; FUHRMANN, MANFRED: Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, S. 291–301, kritisch zu Lessings AristotelesInterpretation für die Wirkungsabsichten der Tragödie. 46 BAUER, »Multimediales Theater«, S. 203f.; MEYER, »Nutzen und Wirkungsabsicht«, S. 224–226. 47 MELANCHTHON, »Praefatio. Epistola […] de legendis Tragoediis et Comoediis«, Sp. 567.
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coram conspicatus, non ad virtutem et modestiam ac froenendas cupiditates sese suscitet?48 Hierin liegt der erzieherische Impetus, den die Stücke erfüllen wollen. Pontanus formuliert ganz entsprechend (nach Giovanni Antonio Viperano):49 Tragoedia est poesis virorum illustrium per agentes personas exprimens calamitates, ut misericordia et terrore animos ab iis perturbationibus liberet, a quibus huiusmodi facinora tragica proficiscuntur.50 Es geht also durch Betrachtung des Dramengeschehens um die Befreiung von solchen Leidenschaften, aus denen die tragischen Verbrechen entstehen. Besonders gute Beispiele für solche wirksamen Dramenschlüsse und deren moralisch-kathartische Wirkung sind die konträr zueinander stehenden Schlussszenen von Jacob Bidermanns Cenodoxus, der in der Verdammung endet,51 und seinem Philemon Martyr, der mit heiteren Sinnes ertragenem Martyrium den ewigen Lohn erwirbt.52 Der spätere Herausgeber von Bidermanns Dramen schildert in seiner Praemonitio zur Edition lebendig solche Wirkungen der Aufführungen beim Publikum.53
7. Das Emblematische Alle Kommunikationsformen, die sich indirekter, symbolischer und über die Sinne erfahrbarer Vermittlungsarten bedienten, wurden wegen ihrer besonderen didaktischen Wirksamkeit in Pädagogik, Rhetorik und Poetik der Frühen Neuzeit, vor allem der Jesuiten, hoch geschätzt.54 Dem entspricht das Theater in hervorragendem Maß; denn seine emblematische Komponente, über die für 48
JUNIUS, SAMUEL: Lucretia. Tragoedia nova […], Straßburg 1599, fol. A2r–A3r. VIPERANUS, JOHANNES ANTONIUS: De poetica libri III, Antwerpen 1579, Nachdruck München / Allach 1967; MEYER, »Nutzen und Wirkungsabsicht«, S. 225. 50 PONTANUS S. J., JACOBUS: Poeticarum institutionum libri III, Ingolstadt 1600, S. 108; dazu BIELMANN, JOSEPH: »Die Dramentheorie und Dramendichtung des Jakobus Pontanus S. J. (1542–1626)«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 3 / 1928, S. 45–85; GEORGE, Deutsche Tragödientheorien, S. 75–84. 51 BIDERMANN, JAKOB: Cenodoxus. Comico-Tragoedia, hrsg., übers. und komm. v. Christian Sinn, Konstanz 2004 (der lateinische Text nach der Ausgabe 1666). 52 BIDERMANN, JACOB: Philemon Martyr, hrsg. und übers. v. Max Wehrli, Köln 1960 (der lateinische Text nach der Ausgabe von 1666). 53 BIDERMANN, JAKOB: Ludi theatrales sacri sive opera comica posthuma, München 1666, hrsg. v. Rolf Tarot, Tübingen 1967; RÄDLE, FIDEL, »Die Praemonitio ad Lectorem zu Jakob Bidermanns Ludi theatreales (1666) deutsch«, in: James Hardin / Jörg Jungmayr (Hrsg.), ›Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig‹. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Gert Roloff […], Bern / Berlin [u. a.] 1992, Bd. 2, S. 1131–1171; vgl. HESS, GÜNTER: »Spectator – Lector – Actor. Zum Publikum von Jakob Bidermanns Cenodoxus […]«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1 / 1976, S. 30–106. 54 BIDERMANN, JAKOB: »Praemonitio«, hrsg. v. Rädle, S. 1146–1148. 49
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das deutsche Theater zuerst A. Schöne 1964 gehandelt hat,55 wird auf allen Ebenen des Spiels realisiert: in den Figuren, Aktionen, Dingen, Orten, in Bühnenbildern und in der Sprache selbst mit ihren Gleichnissen, Allegorien, ihrem Metapher- und Emblemgebrauch. Jakob Masen erkennt als bedeutender Dichtungstheoretiker der Art literarischer Stoffe die höchste Stufe von drei Genera der Fiktion zu, die durch verhüllende Allegorie oder Symbolik einen verborgenen Sinn vermittelt.56 Ein Drama mit »allegorischen Personen, emblematischen Kulissen und […] allegorischen Reihen« war höher zu bewerten als ein »Drama, dessen Fabel eindimensional und zielstrebig auf die Katastrophe zusteuerte«.57 Das Bildhafte bewirkt besondere Eindringlichkeit, die anspielungsreiche und entschlüsselungsbedürftige Faktur weckt Interesse, setzt Denkprozesse in Gang, erfordert ›Witz‹ (Klugheit). Der Gebrauch von Sinnbildern, die symbolischen Darstellungsweisen durchdringen die Dramen auf vielfältige Weise, was hier wieder nur exemplarisch ausgeführt werden kann. Besondere Merkmale oder Strategien der emblematischen Konfiguration der Stücke sind einmal die zahlreichen Personifikationen, die in dieser Zeit die Bühne bevölkern und Werteordnungen sinnlich darstellen (dazu unten), zum andern eigene Verfahren der Präsentation von Sinnbildern in der Unterbrechung der Spielhandlung im Akt oder den sog. Intermedien, Zwischenspielen, die häufig auch als chorus symbolicus bezeichnet werden und eine Chorszene darstellen, »worin ein Sachverhalt durch Symbole, Zeichen, Figuren, Gleichnisse, Sinnbilder, Exempelgeschichten sowie allegorische und mythologische Szenen vorgestellt und erläutert wird«, parallel zur Haupthandlung.58 Heinz Meyer hat dies 2004 mit Beispielen aus dem Corpus der Periochen von Szarota und mit theoretischen Aussagen der Epoche illustriert. So wird etwa in einem Eichstätter Maria Stuart-Drama von 1709 der Gang in die Katastrophe begleitet von Sinnbildern in den Chören: dem Bild des Schiffbruchs an der Küste Englands, dann eines gefällten Baumes und schließlich eines gefangenen und geschlachteten Wilds, wodurch auf die Hinrichtung der schottischen Königin verwiesen wird.59 In den Spielen zur Heiligsprechung des jesuitischen Ordensgenerals Franciscus Borgia finden sich vor allem in der Münchener Version (1671) zahlreiche emblematische Anspielungen (bekannt sind 39 Spiele dieser Thematik).60 Der Held dieses Stückes, in der Konfrontation mit der Leiche der mächtigen 55
SCHÖNE, ALBRECHT: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 31993. MASEN, JAKOB: Palaestra Eloquentiae Ligatae, Köln 1664, Bd. 2, S. 102. 57 BAUER, »Multimediales Theater«, S. 218. 58 MEYER, HEINZ: »Zur Präsentation und Deutung von Sinnbildern auf der Jesuitenbühne«, in: Meier / Ders. / Spanily (Hrsg.), Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, S. 391–421, hier S. 402. 59 Ebd. S. 402f. 60 MEYER, »Sinnbilder auf der Jesuitenbühne«, S. 409, Anm. 74. 56
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und schönen Kaiserin Isabella durch die Fragilität menschlichen Lebens erschüttert und zur Bekehrung veranlasst, wendet sich aus dieser vanitas-Erfahrung heraus dem Orden in contemptus mundi zu. Am Ende des vierten Aktes tritt die Memoria Mortis als allegorische Figur auf, begleitet von weiteren Figuren. Sie tragen emblematische picturae mit vanitas-Symbolen wie Asche, Luftblase, verwelkender Blume, zerbrechendem Glas, verglühendem Docht u. ä.61 Die Emblemata-Schau stellt eine lehrhafte Persuasionsstrategie dar, die durch den visuellen Eindruck und den Entschlüsselungsreiz bedingt ist und durch ihre Evidenz nachhaltige Überzeugungskraft besitzt. Wenn so auf verschiedenen Ebenen, der Haupthandlung, den emblematischen Bildern und ihrer Erläuterung, dieselbe Botschaft vermittelt wird, die in dieser Form auch der Schaulust und curiositas des Publikums Rechnung trägt, so ist ihre dauerhafte Haftung im Gedächtnis wahrscheinlich. Jakob Masen fasst die emblematische Faktur des frühneuzeitlichen Dramas dieser Art mit Recht zusammen: Ac proinde talis Dramatum adumbratio similis est emblemati sive imagini figuratae, quae aliud quam tabula proponit mystice significat.62
8. Das Affektische Dass Theater nicht nur den Intellekt anspricht, sondern durch seinen Gebrauch der verschiedenen Mittel und Medien der Inszenierung, neben der Sprache durch die Personenmimik und -gestik, Kostüme, Requisiten, Bühnenbild, Licht, Musik, Tanz über gesteigerte Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, die wesentlich auch auf das Gefühl der Zuschauer Einfluss gewinnen und affektive Reaktionen evozieren, ist vor allem für das Jesuitentheater erörtert und auf die pädagogischen Einsichten und Ziele dieses Ordens zurückgeführt worden.63 61
Borgia Deliberans Inter Naturam Et Gratiam. Comoedia Data Ludis Apotheoticis […], in: SZAROTA, ELIDA MARIA: Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet. Eine PeriochenEdition, 4 Bde., München 1979–1987, hier Bd. II, IV, 9; Bd. II, 2, S. 1395; MEYER, »Sinnbilder auf der Jesuitenbühne«, S. 409–414. Vgl. auch RAMAKERS, BART: »Allegorisch-emblematische Bildlichkeit im Rederijker-Drama. Die Spiele des Haarlemers Louris Jansz«, in: Meier / Meyer / Spanily (Hrsg.), Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, S. 205–227. 62 MASEN, Palaestra Eloquentiae Ligatae, Pars III, Köln 1657, II 19, S. 179; SCHÖNE, Emblematik und Drama, S. 231. 63 So insbesondere bei BAUER, »Multimediales Theater«; vgl. ferner MEYER, HEINZ: »›Theatrum Affectuum Humanorum‹ bei Franciscus Lang. Ein Hinweis zu den Affekten auf der Jesuitenbühne«, in: Poeschke, Joachim / Weigel, Thomas / Kusch, Britta (Hrsg.), Tugenden und Affekte in der Philosophie, Literatur und Kunst der Renaissance, Münster 2002, S. 155–171; JANNING, VOLKER: »Zur Darstellung, Erregung und Kontrolle von Affekten im Chor des neulateinischen Dramas«, in: ebd., S. 125–153; DERS., Der Chor, S. 83–86 u. ö.; SPANILY, CLAUDIA: »Affekte als Handlanger des Teufels und Mittler des Heils in der ›Erfurter Moralität‹«, in: ebd., S. 109–124.
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Auch andere Theaterinstitutionen der Frühen Neuzeit nutzten affektinduzierende Mittel zur nachhaltigen Belehrung. Denn für die Lebendigkeit des Theatererlebnisses und seine Effizienz in der Beeinflussung des Publikums sind Affekterregung und -steuerung bei den Zuschauern maßgeblich. Bereits Aristoteles hatte in seiner Poetik den wirkungsästhetischen Aspekt zum Hauptpunkt der Tragödientheorie gemacht: die Erregung von Schaudern und Jammer zur Reinigung (Katharsis) der Gefühle.64 Wie schon erwähnt, deuten die Theoretiker des frühneuzeitlichen Dramas gemäß ihrem pädagogisch-ethischen Theaterverständnis, seiner moralischen Zweckbindung, die aristotelische Wirkungstrias um, so dass Mitleid und Schrecken in der emotionalen Beteiligung der Rezipienten zu Sympathie mit den tugendhaften Figuren und Abschreckung gegenüber den lasterhaften mutieren.65 Meine Überlegungen zum Affektischen möchte ich auf eine besondere Strategie der Affekteinduktion und -evaluation konzentrieren: den vielfältigen Einsatz von Personifikationen als Spielfiguren, einer Personenspezies, die für 300 Jahre die Bühnen Europas zu Scharen bevölkert hat, um dann ganz wieder zu verschwinden. Diese Allegorien können interne psychische Vorgänge durch Verkörperung der sie lenkenden Kräfte nach außen verlagern, um Prozesse von Motivation, Entscheidungsfindung, Werteabwägung dem Publikum im Wortsinn unmittelbar einsichtig zu machen. In einem Zusammenspiel von Erkenntnis und Gefühl soll das Publikum aus den dargestellten komplexen psychischen Vorgängen selbst urteilen und eine neue ethische Disposition entwickeln. Schon Levin Brecht beschreibt 1549 in seiner Dramen-Vorrede den Prozeß derart induzierter Verhaltensänderung, einer Konversionssequenz des Publikums mit der Verbenabfolge: inspicere – agnoscere – exhorrere –
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ARISTOTELES, Poetik, Kap. 6; dazu FUHRMANN, Dichtungstheorie, S. 16–19, 25–28 u. ö. (s. Reg.), S. 291–301 zu Lessings und seiner Vorgänger Umdeutung der Wirkungsbegriffe. 65 Z. B. sagt MELANCHTHON, »Praefatio. Epistola«, Sp. 567: [Graeci] initio Tragoedias populo proposuerunt, nequaquam ut vulgo existimatur, tantum oblectationis causa, sed multo magis, ut rudes ac feros animos consideratione atrocium exemplorum et casuum flecterent ad moderationem […]. Non enim movetur populus levium aut mediocrum miseriarum cogitatione, sed terribilis species obiicienda est oculis, ut de causis humanarum calamitatum cogitent, et singuli se ad illas imagines conferant; eindringlicher noch formuliert SAMUEL JUNIUS, Lucretia. Tragoedia nova […], Straßburg 1599, Epistola nuncupatoria, fol. A2r–A3r: Quis enim est, qui insignium et tragicorum casuum imagines, non in theatro solum oculis perspicacibus, verum etiam animo attento contuens, non cohorrescat toto corpore? Quis, qui atrocia scelera atrocibus puniri poenis coram conspicatus, non ad virtutem et modestiam ac froenendas cupiditates sese suscitet? Quis, qui de multis officiis commonefactus, quasi calcaribus quibusdam adhibitis, ad vitam recte et laudabiliter instituendam non exstimuletur? Wieder folgt die Bemerkung, dass nicht etwa, wie allgemein angenommen, das Theater dem Vergnügen diene, sondern dass es in hohem Maß zur Erziehung beitrage.
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damnare – odisse – relinquere – deplorare.66 Dieser Problematik ist die 2009 erschienene Monographie Allegorie und Psychologie. Personifikationen auf der Bühne des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit Claudia Spanilys in der Interpretation zahlreicher Dramen nachgegangen.67 Aus der Fülle der verschiedenen allegorischen Figuren hat sie den Sektor des Emotionalen ausgewählt, weil er für die Wirkabsichten des Theaters, für seine Entwicklung in der Frühneuzeit und endlich für den Übergang zu neuen Theaterformen der Aufklärung und Klassik, in denen dieser Figurentyp von der Bühne verschwindet, besonders aufschlussreich ist.
9. Die Sprache Wenn die Dramatiker und Theatertheoretiker ganz knapp den didaktischen Nutzen der Gattung beschreiben, führen sie neben der correctio morum meist die Verbesserung der Sprachbeherrschung im Lateinischen an, die den Spielern, fortgeschrittenen Schülern, durch die Aufführungen zuteil wird. So hebt Melanchthon die rhetorische Erziehung hervor: […] ad eloquentiam. Summus est enim splendor verborum et gestus maxime incurrentis in oculos ad omnes animorum motus ciendos accommodati.68 Wilfried Barner formulierte in seiner ›Barockrhetorik‹: »Mit memoria, actio, pronunciatio, linguae, eruditio, iudicium und alacritas als pädagogischen Zielen ist das Schultheater fest in den Rhetorikbetrieb der Gelehrtenschule integriert«;69 er sieht in den Unterund Mittelklassen die Vorbereitungsphase durch Terenz- und Plautus-Lektüre, während die Oberklassen mit auswendigem Rezitieren dieser Autoren die Fähigkeit zur Dramen-Aufführung erwerben.70 Interessant wird das Sprachenproblem dort, wo nicht mehr fraglos nach den Schulrichtlinien nur das Lateinische die Spiele dominiert, sondern wie 66
BRECHT, LEVIN: »Euripus. Tragoedia Christiana«, hrsg. und übers. v. Fidel Rädle, Lateinische Ordensdramen des 16. Jahrhunderts, Berlin / New York 1979, S. 1–277, hier S. 6f.: »Der Stoff, den wir hier behandeln, ist nämlich mitten aus dem menschlichen Leben genommen, und er zielt vor allem darauf hin, dass die Jugend, die meist blind und von schwankendem Sinn ist, die Unbeständigkeit, Eitelkeit und Abscheulichkeit ihres Lebens wie in einem Spiegel sorgfältig betrachte, sie erkenne und davor erschrecke, nach dieser Erkenntnis ein solches Leben zu verdammen und zu hassen lerne und das so verdammte und verhasste Leben aufzugeben und in dauernder Reue zu beweinen sich bemühe«; dazu SPANILY, CLAUDIA: »Lust und Reue: Affekte als Personentypen im Drama der Frühen Neuzeit«, in: Meier / Ramakers / Beyer (Hrsg.), Akteure und Aktionen, S. 33–61, hier S. 36f. 67 SPANILY, CLAUDIA: Allegorie und Psychologie, Münster 2009. 68 MELANCHTHON, »Praefatio. Epistola«, Sp. 568. 69 BARNER, WILFRIED: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 22002, S. 307. 70 Ebd. S. 307f.
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schon früh bei den spanischen Jesuiten Kombinationen von Latein und Volkssprache gefunden werden. Zu dieser bisher kaum beachteten Problematik hat Christiane Pérez González gerade eine Dissertation unter dem Titel Sprachenfrage und Schultheater. Latein und Volkssprache auf der spanischen Jesuitenbühne des 16. und 17. Jahrhunderts vorgelegt.71
Fazit Das Theater der Frühen Neuzeit hat sich damit als komplexes Medium der Belehrung erwiesen. Es hat Strategien entwickelt, die Lehre effizient und nachhaltig werden zu lassen. Diese Zweckbindung, die auch der Legitimation des Theaters in verschiedenen Institutionen diente, hat die Produktion und Faktur der Stücke fundamental geprägt. Gleichwohl resultiert daraus nicht Einförmigkeit; es werden vielmehr ganz verschiedene Mittel mit großer Vielfalt, Phantasie und Kunst eingesetzt: thematische, formale, sprachliche, inszenatorische. Zudem werden Aspekte geltend gemacht, wie Exemplarizität, aktionale, emblematische und affektische Qualität, die auf ein ausgeprägtes pädagogisches Bewußtsein der Autoren und Veranstalter sowie auf eine tiefgreifende didaktische Zielrichtung des Theaters für das Publikum schließen lassen, das als bedeutende Kraft der Gesellschaft deren Symbol- und Wertesysteme in der theatralen Vermittlung vertritt. Man wird jedoch für die Intensität und Ausprägung der beschriebenen Strategien und Aspekte zeitliche und institutionenbedingte Differenzierungen genauer ermitteln können.
Quellen- und Literaturverzeichnis (Literatur, die aus dem Münsteraner Theaterprojekt hervorgegangen ist, wird mit * gekennzeichnet) BACHMANN, CHRISTIAN: Melancholicus. Comoedia nova (1611), hrsg., übers. und erläutert v. Nicole Fabisch, Berlin 2003. BARNER, WILFRIED: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 22002. BAUER, BARBARA: »Multimediales Theater. Ansätze zu einer Poetik der Synästhesie bei den Jesuiten«, in: Heinrich Franz Plett (Hrsg.), Poetik der Renaissance, Berlin / New York 1994, S. 197–238. BEBEL, HEINRICH: Comoedia de optimo studio iuvenum. Über die beste Art des Studiums für junge Leute, hrsg. und übers. v. Wilfried Barner, Stuttgart 1982.
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PÉREZ GONZÁLEZ: Sprachenfrage und Schultheater, Diss. Münster 2011 (in Druckvorbereitung).
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BEYER, HARTMUT: »Tragik und Weltverachtung im frühhumanistischen Drama Italiens«, in: Frühmittelalterliche Studien 40 / 2006, S. 297–325.* –: Das politische Drama im Italien des 14. und 15. Jahrhunderts. Humanistische Tragödien in ihrem literarischen und funktionalen Kontext, Münster 2008.* –: »Divinatio in zwei lateinischen Dramen des 15. Jahrhunderts aus Ferrara und Rom«, in: Meier / Ramakers / Ders. (Hrsg.), Akteure und Aktionen, S. 435–460.* –: »Negative Emotionen in neulateinischen Tragödien des 14. und 15. Jahrhunderts. Kontinuität und Modifikation des Motivs furor«, in: Das Mittelalter. Zeitschrift des Mediävistenverbandes 14 / 2009, 1, S. 120–137.* BIDERMANN, JACOB: Philemon Martyr, hrsg. und übers. v. Max Wehrli, Köln 1960 (der lateinische Text nach der Ausgabe von 1666). BIDERMANN, JAKOB: Cenodoxus. Comico-Tragoedia, hrsg., übers. und komm. v. Christian Sinn, Konstanz 2004 (der lateinische Text nach der Ausgabe 1666). –: Ludi theatrales sacri sive opera comica posthuma, München 1666, hrsg. v. Rolf Tarot, Tübingen 1967. BIELMANN, JOSEPH: »Die Dramentheorie und Dramendichtung des Jakobus Pontanus S. J. (1542–1626)«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 3 / 1928, S. 45–85. Borgia Deliberans Inter Naturam Et Gratiam. Comoedia Data Ludis Apotheoticis […], in: Elida Maria Szarota, Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet. Eine Periochen-Edition, 4 Bde., München 1979–1987, hier Bd. II, IV, 9; Bd. II, 2, S. 1395. BRECHT, LEVIN: »Euripus. Tragoedia Christiana«, hrsg. und übers. v. Fidel Rädle, Lateinische Ordensdramen des 16. Jahrhunderts, Berlin / New York 1979, S. 1–277. BRETTSCHNEIDER, WERNER: Die Parabel vom verlorenen Sohn. Das biblische Gleichnis in der Entwicklung der europäischen Literatur, Berlin 1978. CELTIS, KONRAD: Panegyris ad duces Bavariae, hrsg., übers. und komm. v. Joachim Gruber, Wiesbaden 2003. FRISCHLIN, NICODEMUS: Hildegardis Magna. Dido. Venus. Helvetiogermani, hrsg., übers. und komm. v. Nicola Kaminski, Bd. 1, Bern / Berlin [u. a.] 1995. FUHRMANN, MANFRED: Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973. GAJEK, KONRAD (Hrsg.): Das Breslauer Schultheater im 17. und 18. Jahrhundert. Einladungsschriften zu den Schulactus und Szenare zu den Aufführungen ›förmlicher Comödien‹ an den protestantischen Gymnasien, Tübingen 1994. GEORGE, DAVID E.: Deutsche Tragödientheorien vom Mittelalter bis zu Lessing. Texte und Kommentare, München 1972. GWALTHER, RUDOLF: Nabal. Ein Züricher Drama aus dem 16. Jahrhundert, hrsg. und übers. v. Sandro Giovanoli, Bonn 1979. HESS, GÜNTER: »Spectator – Lector – Actor. Zum Publikum von Jakob Bidermanns Cenodoxus […]«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1 / 1976, S. 30–106. JAHN, BERNHARD: »Die Augsburger Theatersituation im 16. Jahrhundert – Kulturelle Austauschprozesse und Abgrenzungen«, in: Meier / Kemper (Hrsg.), Europäische Schauplätze, S. 57–76. JANNING, VOLKER: »Zur Darstellung, Erregung und Kontrolle von Affekten im Chor des neulateinischen Dramas«, in: Poeschke / Weigel / Kusch (Hrsg.), Tugenden und Affekte, S. 125–153.* –: »Formen und Funktionen des ›Chorus symbolicus‹: Zu sinnbildlichen Darstellungen in den Chören des Jesuitentheaters«, in: Meier / Meyer / Spanily (Hrsg.), Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, S. 367–390.* –: Der Chor im neulateinischen Drama. Formen und Funktionen, Münster 2005.*
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Christel Meier
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Lehren ›in lebendigen Bildern‹
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–: »›Theatrum affectuum humanorum‹ bei Franciscus Lang. Ein Hinweis zu den Affekten auf der Jesuitenbühne«, in: Poeschke / Weigel / Kusch (Hrsg.), Tugenden und Affekte, S. 155– 171.* –: »›David poenitens‹ als Exempelfigur des Jesuitentheaters«, in: Nine Miedema / Rudolf Suntrup (Hrsg.), Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. u. a. 2003, S. 841–862.* –: »Zur Präsentation und Deutung von Sinnbildern auf der Jesuitenbühne«, in: Meier / Ders. / Spanily (Hrsg.), Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, S. 391–421.* –: »Nutzen und Wirkungsabsicht des Theaters nach Paratexten lateinischer Dramen der Frühen Neuzeit«, in: Frühmittelalterliche Studien 41 / 2007, S. 207–248.* –: »Sapiens Salomon redivivus. Exempelfiguren und symbolische Aktionen des Salomonspiels der Osnabrücker Jesuiten zur Universitätsgründung 1630/32«, in: Meier / Ramakers / Ders. (Hrsg.), Akteure und Aktionen, S. 269–288.* MICHAEL, WOLFGANG FRIEDRICH: »Luther and the Religious Drama«, in: Daphnis 7 / 1978, S. 365–367. PALM, HERMANN: Paul Rebhuns Dramen, Stuttgart 1859. PAUL, MARKUS: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2002. PÉREZ GONZÁLEZ, CHRISTIANE: »Lateinische Aktions- und Szenentypen im spanischen Jesuitentheater«, in: Meier / Ramakers / Beyer (Hrsg.), Akteure und Aktionen, S. 509–537.* –: »Lateinisch oder Spanisch: Übersetzung und Sprachenfrage im spanischen Jesuitentheater am Beginn des Siglo de Oro«, in: Christoph Strosetzki (Hrsg.), Übersetzung: Ursprung und Zukunft der Philologie? Akten der Tagung Münster 15.–18. Juli 2007, Tübingen 2008, S. 101–123.* –: »Juan Bonifacio und Nebrija. Zum Grammatikdiskurs auf der spanischen Jesuitenbühne«, in: Revista TeatrEsco. Antiguo Teatro Escolar Hispanico 2 / 2007 (elektronische Zeitschrift).* –: »Komik und Sprachgebrauch im spanischen Jesuitentheater«, in: Meier / Kemper (Hrsg.), Europäische Schauplätze, S. 255–274.* –: Sprachenfrage und Schultheater, Diss. Münster 2011 (in Druckvorbereitung).* POESCHKE, JOACHIM / WEIGEL, THOMAS / KUSCH, BRITTA (Hrsg.): Tugenden und Affekte in der Philosophie, Literatur und Kunst der Renaissance, Münster 2002. POHLE, FRANK: Glaube und Beredsamkeit. Studien zum katholischen Schultheater in JülichBerg, Ravenstein und Aachen (1601–1817), Münster 2010. RÄDLE, FIDEL: »Lateinisches Theater für das Volk. Zum Problem des frühen Jesuitentheaters«, in: Wolfgang Raible (Hrsg.), Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema ›Mündlichkeit und Schriftlichkeit‹, Tübingen 1988, S. 133–148. –: »Die Praemonitio ad Lectorem zu Jakob Bidermanns Ludi theatreales (1666) deutsch«, in: James Hardin / Jörg Jungmayr (Hrsg.), ›Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig‹. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Gert Roloff […], Bern / Berlin [u. a.] 1992, Bd. 2, S. 1131–1171. –: »Das Theater als Predigt. Formen religiöser Unterweisung in lateinischen Dramen der Reformation und Gegenreformation«, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 16 / 1997, S. 41–60. RAMAKERS, BART: »Allegorisch-emblematische Bildlichkeit im Rederijker-Drama. Die Spiele des Haarlemers Louris Jansz«, in: Meier / Meyer / Spanily (Hrsg.), Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, S. 205–227.
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Christel Meier
RICKERT, ELMAR: Johannes Kerckmeisters Schulkomödie ›Codrus‹ (1485) als Zeugnis für den Humanismus im nordwestdeutschen Raum. Mit Erstdruck (1485), Neuedition, Übersetzung und Interpretation, Münster 2011.* ROLING, BERND: »Exemplarische Erkenntnis: Erziehung durch Literatur im Werk Philipp Melanchthons«, in: Meier / Meyer / Spanily (Hrsg.), Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit, S. 289–365.* –: »Der Engel als Spielfigur in den Dramen der Jesuiten Jakob Gretser (1562–1625), Jakob Bidermann (1578–1639) und Georg Bernardt (1595–1660)«, in: Meier / Ramakers / Beyer (Hrsg.), Akteure und Aktionen, S. 233–267.* –: »Valentin Merbitz und das protestantische Antikendrama in Dresden«, in: Meier / Kemper (Hrsg.), Europäische Schauplätze, S. 117–136.* SCHÖNE, ALBRECHT: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 31993. SERRATA, LEONARDO DELLA: Poliscena Comedia humanistica latina, hrsg. v. Antonio Arbea, Santiago de Chile 2000. SOMMERFELD, MARTIN (Hrsg.): Judith-Dramen des 16. / 17. Jahrhunderts. Nebst Luthers Vorrede zum Buch Judith, Berlin 1933. SPANILY, CLAUDIA: »Affekte als Handlanger des Teufels und Mittler des Heils in der ›Erfurter Moralität‹«, in: Poeschke / Weigel / Kusch (Hrsg.), Tugenden und Affekte, S. 109– 124.* –: »Der Mensch im Spannungsfeld guter und böser Kräfte in der ›Erfurter Moralität‹«, in: Meier / Meyer / Spanily (Hrsg.), Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit, S. 95–135.* –: »Lust und Reue: Affekte als Personentypen im Drama der Frühen Neuzeit«, in: Meier / Ramakers / Beyer (Hrsg.), Akteure und Aktionen, S. 33–61.* –: Allegorie und Psychologie. Personifikationen auf der Bühne des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Münster 2010.* STENMANS, ANNA: »William Gagers ›Ulysses redux‹ und die mythologische Figur der Penelope in der elisabethanischen Literatur«, in: Meier / Kemper (Hrsg.), Europäische Schauplätze, S. 203–243.* –: Penelope im Drama, Libretto und bildender Kunst der Frühen Neuzeit – Transformation eines Frauenbildes, Diss. Münster 2011 (in Druckvorbereitung).* STERNHAGEN, EICK: Ethik und Drama bei Philipp Melanchthon, Diss. im Netz der Universitätsbibliothek Münster 2007. (http://deposit.ddb.de/cgibin/dokserv?idn=98348056(2007).* TREVET, NICHOLAS: L. Annaei Senecae ›Hercules furens‹ et Nicolai Treveti expositio, hrsg. v. Vincentius Ussani Jr., Bd. 2, Rom 1959. TREVET, NICHOLAS: Il Commento al Tieste di Seneca, hrsg. v. Ezio Franceschini, Mailand 1938. WASHOF, WOLFRAM: »Drama als Gottesdienst. Homiletisch-katechetische Funktionen und liturgische Elemente des protestantischen Bibeldramas der Reformationszeit«, in: Meier / Meyer / Spanily (Hrsg.), Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit, S. 159– 170.* –: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren und protestantische Theologie im lateinischen und deutschen Bibeldrama der Reformationszeit, Münster 2007.*
Autorenverzeichnis Gerlinde Huber-Rebenich Professorin für Lateinische Philologie an der Universität Bern Ralf Koerrenz Professor für Historische Pädagogik und Erziehungsforschung am Institut für Bildung und Kultur der Friedrich-Schiller-Universität Jena Harald Müller Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der RWTH Aachen Michael Rupp Privatdozent für deutsche Literatur- und Sprachgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit an der TU Chemnitz Michael Baldzuhn Privatdozent, Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität Hamburg, Institut für Germanistik I, Ältere deutsche Literatur Walther Ludwig Emeritierter Professor für Klassische und Neulateinische Philologie an der Universität Hamburg Volker Leppin Professor für Kirchengeschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Reformationsgeschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen Thomas Töpfer Mitarbeiter am Historischen Seminar (Geschichte der Frühen Neuzeit) an der Universität Leipzig Daniel Gehrt Mitarbeiter an der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt / Gotha Franz Körndle Professor für Musikwissenschaft am Leopold-Mozart-Zentrum der Universität Augsburg Christel Meier Emeritierte Professorin für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Personenregister Abälard, Peter 117, 120 Agricola, Ignatius 223 Agricola, Johann 70, 74 Agricola, Rudolf 70f., 73f., 84, 128 Alber, Ferdinand 217 Alexander de Villadei 62 Alvensleben, Joachim v. 165, 170, 191 Amsdorf, Nikolaus v. 155 Anckarite, Anna 31, 39–42 Andreä, Jakob 135–139, 182 Anisio, Gianio 78, 87 Anselm v. Laon 117 Anselm v. Canterbury 117 Anton I., Gf. v. Oldenburg 183 Aristoteles 71, 96, 98, 100, 104–106, 111, 116, 238, 242 August, Kf. v. Sachsen 133–135, 137– 139, 174, 182 Augustinus 116 Ausonius 69 Autumnus, Georg 172 Avancini, Niccolò 231 Ayrer, Jakob 234 Bachmann, Christian 233 Bebel, Heinrich 232 Becher, Lorenz 180f. Bellin, Johann 151, 167, 169, 196 Benedikt, Hl. 31, 35 Bernhard v. Clairvaux 26, 120 Bernhardi, Bartholomäus 118 Bers, Jakob 25 Bidermann, Jakob 239 Bitterler, Walburga 29–32, 34, 37–39 Biwald, Leopold Gottlieb 110 Borgia, Franciscus 240 Brack, Wenzeslaus 202, 207 Brant, Sebastian 54f., 76 Brecht, Levin 242 Brunfels, Otto 95
Bucer, Martin 123 Burkard v. Esslingen 204 Budé, Guillaume 68, 71 Caelius, Michael 160 Camerarius, Joachim d. Ä. 131, 138, 208f. Celtis, Konrad 230 Chemnitz, Martin 157, 198 Christian I., Kf. v. Sachsen 134, 139f., 142 Chyträus, David 94–96, 168, 173, 179, 198 Cicero 26, 33, 43–45, 49, 62 Colet, John 69f., 85 Copernicus, Nicolaus 99, 109f. Cordier, Maturin 83, 88 Corvinus, Andreas 158 Crispin, Gilbert 117 Dasypodius, Petrus 21, 30, 33 Delrius, Martinus Antonius 231 Demokrit 108 Dioskurides 96 Donatus, Aelius 26, 33 Dorothea Susanna, Hzgin. v. SachsenWeimar 174–176, 184 Eber, Paul 91, 93f., 107 Eck, Johannes 121 Eck, Simon 213f. Ellenbog, Barbara 23, 28, 33, 35–37 Ellenbog, Johannes 26 Ellenbog, Nikolaus 21–33, 35, 37 Ellenbog, Ulrich (Vater von Nikolaus) 21 Ellenbog, Ulrich (Bruder von Nikolaus) 25f. Epiktet 86
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Personenregister
Erasmus v. Rotterdam 32f., 40, 51, 65– 88, 128f. Eucherius (Bf. v. Lyon) 87 Eustochium 28f., 32 Faber, Basilius 171 Fabri, Johannes 115 Fabricius, Andreas 175, 213f. Fabricius, Georg 78, 86 Fabricius, Theodosius 182 Ficino, Marsilio 26f. Filelfo, Francesco 26, 33 Fineus, Orontius 99 Flacius Illyricus, Matthias 133, 154– 157, 165–167 Friedrich Wilhelm I., Hzg. v. SachsenWeimar 166, 175 Fries, Johannes 84, 88 Frilius, Friedrich 169 Frischlin, Nikodemus 230, 234 Fulda, Wendelin 171 Furter, Michael 55 Galen 97 Gallus, Nikolaus 178, 180 Geldenhouwer, Gerard 84 Gellius, Aulus 71 Georg II., Gf. v. Gleichen-Tonna 172 Georg Friedrich, Mgf. v. Brandenburg 92 Gertrud v. Helfta 29f. Glaser, Friedrich 172 Hans Wilhelm, Frhr. Greiß zu Wald 92f. Gretser, Jakob 214f. Grosse, Henning d. Ä. 177, 183 Günther, Franz 118 Gustav Adolf, Hzg. v. MecklenburgGüstrow 169 Gwalther, Rudolf 230 Hauptmann, Margaretha 32 Hegendorf, Christoph 95 Heinrich v. Erffa 175 Heshusius, Tilemann 162, 165f., 172, 177, 198 Heß, Johann 128 Heyden, Sebald 95 Hieronymus 29, 32 Hofmaister, Johannes 26 Hollander, Christian 216
Homberger, Hieronymus 175 Homberger, Jeremias 178 Homer 71, 104 Hrotsvit v. Gandersheim 29f., 32, 40 Hus, Jan 121 Hutter, Leonhard 143 Irenäus, Christoph 165f., 170, 172, 197, 198 Isokrates 70, 73f., 77f., 85 Johann III., Hzg. v. Sachsen-Weimar 175 Johann VII., Gf. v. Oldenburg 151, 158, 183, 192 Johann Albrecht I., Hzg. v. Mecklenburg 158, 192 Johann Friedrich II., Hzg. v. Sachsen 157 Johann Wilhelm, Hzg. v. Sachsen 171f., 174 Johannes de Garlandia 62 Johannes de Muris 201 Jonas, Justus 130 Judex, Anna (= Schoppe, Anna) 151, 165 Judex, Johannes 151, 183 Judex, Matthäus d. Ä. 149, 151, 153– 162, 164–166, 169, 174f., 178, 181, 184, 191, 198 Judex, Matthäus d. J. 157, 164 Junius, Samuel 230, 238 Kant, Immanuel 93 Karl der Große 28, 36 Karl V., Ks. 38, 154 Karl II. Franz v. Innerösterreich, Ehzg. v. Österreich 222 Karlstadt, Andreas 119, 121, 124 Kerckmeister, Johannes 232 Kießling, Heinrich 174 Kindelmann, Kaspar 26 Kirchner, Timotheus 175, 198 Kötteritz, Wolf v. 173 Konrad v. Zabern 207 Kress, Christof 208f. Kröl, Veronika 30–32, 38–42 Lambert, Franz 123 Lang, Franciscus 231
Personenregister Lang, Johannes 116, 118f. Langemack, Gregor 151 Lasso, Orlando di 212–215, 219–223 Leo, Nikolaus 171f. Leontorius, Konrad 26 Leunculus, Caspar 170, 191 Ligarius, Johann 183 Losenstein, Hans Wilhelm v. 179 Luther, Martin 2, 4, 6–18, 116, 118– 121, 123f., 127, 129, 138, 140f., 143, 149f., 154–156, 161, 166f., 169, 173, 175, 177, 179, 184, 191, 197, 237 Macropedius, Georg 232 Mair, Johannes 26 Mancinelli, Antonio 75 Marcellus, Johannes (= Regiomontanus) 92 Martens, Dirk 65, 87 Masco, Balthasar 180 Masen, Jakob 240f. Maximiliana Maria, Prin. v. Bayern 222 Meiland, Jakob 216 Melanchthon, Philipp 91–97, 99f., 102– 111, 127–135, 137–143, 149, 151, 155–157, 174, 179, 184, 237f., 243 Melanchthon, Philipp d. J. 92 Melissander, Caspar 151, 167, 175, 177 Mencel, Hieronymus 165, 197f. Menestrier, Claude-François 231 Mercurian, Everardus 217 Meyenburg, Michael 100 Meyendorf, Andreas v. 165, 170, 177, 191, 198 Milichius, Jakob 91 Möllemann, Stephan 158 Monner, Wolfgang 175 Moritz, Kf. v. Sachsen 155 Morus, Thomas 49 Moterius, Abraham 83 Musäus, Simon 172, 198 Neander, Michael 181f. Neve, Jan de 65–67, 70–73, 75, 77, 84 Niavis, Paulus (= Schneevogel, Paul) 43–52, 54–57, 60–62 Oberndörfer, Martin 134f. Opitz, Josua 167, 177
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Oporinus, Johannes 156 Osiander, Andreas 183 Ovid 71 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 215 Paula 29, 32 Pauli, Simon 168 Paulirinus, Paulus 203, 205–207 Pellikan, Konrad 26 Petrus Lombardus 128 Peuerbach, Georg v. 97 Pezel, Christoph 134 Philipp II., Kg. v. Spanien 218 Philippus de Bergamo 72 Pico della Mirandola, Giovanni 106 Planudes, Maximos 82 Platner, Tilemann 128 Platon 22, 26–28, 33 Plautus 71, 233, 243 Plinius 71 Plutarch 86 Poelman, Théodore 83 Poliziano, Angelo 26, 33, 86 Pontano, Giovanni 239 Postumus, Heinrich 172 Ptolemäus 97, 100, 106, 110 Publilius Syrus 69, 71–73, 77, 82, 85f. Puchheim, Veit Albrecht v. 180f. Quintilian 43, 45 Ramus, Petrus 141f. Rauscher, Hieronymus 191 Reich, Stephan (= Riccius, Stephanus) 92 Regiomontanus, s. Marcellus, Johannes Regius, Urban 191 Reinerus Alemannicus 54 Reinhold, Erasmus 94 Reisch, Gregor 99f. Remigius v. Auxerre 62 Renata v. Lothringen 213 Reuchlin, Johannes 22, 27 Riccius, Stephanus, s. Reich, Stephan Ritius, Paulus 28 Robertus de Euremodio 72 Rosinus, Bartholomäus 172, 177, 198 Scaliger, Joseph Justus 83
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Personenregister
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 2 Schleinitz, Heinrich v. 51 Schneegaß, Cyriacus 173 Schneevogel, Paul, s. Niavis, Paulus Scholastika, Hl. 31, 35 Schoppe, Andreas 151, 153, 158, 164– 166, 170, 197 Schoppe, Anna, s. Judex, Anna Schöpper, Jakob 236 Schumann, Wolfgang 180 Schürer, Mathias 85 Schwenkfeld, Caspar 164 Seidel, Wolfgang 27 Selnecker, Nikolaus 157 Seneca 67, 71f., 229f. Serrata, Leonardo della 232 Sigismund Augustus, Hzg. v. Mecklenburg 158, 171, 192 Spangenberg, Cyriacus 165f., 197f. Spengler, Lazarus 8 Spieß, Martin 172 Starck, Wolfgang 223 Stigel, Johannes 92, 105 Stopel, Jakob 26 Strigel, Viktorin 165 Taverner, Richard 85, 88 Terenz 45, 71, 233, 237, 243 Thales 69 Theophrast 96f. Thomas v. Aquin 23 Titander, Andreas 92
Trevet, Nicholas 229 Tucci, Stefano 220, 223 Ulrich, Hzg. v. Mecklenburg 168 Velius, Caspar Ursinus 105 Vento, Ivo de 216 Vergil 71, 92, 104 Viktorin, Georg 211 Viperano, Giovanni Antonio 239 Vives, Juan Luis 95 Volland, Johann 182 Wagner, Alexius 22 Walbom, Johann 168 Wespech, Ursula 29f., 32, 36–38, 40f. Wick, Veit 27 Widenmann, Leonard 21 Wigand, Johann 155–160, 162, 165f., 168, 172–175, 177, 179, 184, 193, 197f. Wilhelm V., Hzg. v. Bayern 172, 174, 213, 217, 222 Wilhelm v. Ockham 120, 123 Wimpheling, Jakob 232 Wolf, Christian 93 Wolf, Hieronymus 86 Wolf, Johannes 177 Wolfgang, Pfalzgf. v. Zweibrücken 178 Wonne, Wolfgang 175 Wyclif, John 120 Zwingli, Huldrich 115f., 121–123
Ortsregister Altenburg 174, 180f. Amsterdam 80, 183 Antwerpen 80 Augsburg 78f., 86, 131, 133, 154, 160, 170, 182, 198, 223 – St. Annen-Schule 86 Avignon 123 Basel 26, 55, 80, 83, 86, 95, 99, 156, – Lateinschule 26 Belgien 80 Biberach, Landkreis 23 Brandenburg 119 Braunschweig 80 Breslau 233 Brieg 83 Büdingen 177f. – Lateinschule 178 Chemnitz 50 – Benediktinerkloster 51 – Lateinschule 48, 50 Coburg 172f. – Lateinschule 173 Deutschland 179, 205, 220 Deventer 80, 202 Dillingen 212, 215, 223f. Dippoldiswalde 153 Dresden 133, 137, 142, 153 Eger 48 Eisleben 165f. – St. Peter- und Paulskirche 165 England 80, 120, 240 Erfurt 152, 162–165, 170f. – Augustinerkloster 171 – Ratsgymnasium 171 Feldkirch 118 Frankfurt 92, 132, 162, 178 – Lateinschule 178
Frankreich 203 Fulda 171, 216, 224 – Jesuitenkolleg 218 Genf 83 Gent 80 Gera 172 – Gymnasium Rutheneum 172 Graz 212, 220, 222 – Stiftskirche und -schule 178 – Universität 222 Güstrow 169 Halberstadt 170 – Martinsschule 165, 170 Hagenau 80 Hamburg 80 Heggbach 24, 28–33, 36, 38–42 – Zisterzienserinnenkloster 23, 28 Heidelberg 21, 50, 123, 143 Hessen 185 Horn 180 – Lateinschule 180 Ilfeld 181 – Klosterschule 181 Ingolstadt 212, 215, 230 Isenburg 152 Italien 75, 80 Jena 157, 162, 166, 172 – Lateinschule 173 – Universität 157, 172f., 175, 177 Kleinbrembach 180 Koblenz 211 Köln 80, 83, 120 – Jesuitenkolleg 211 Königsberg 177 – Universität 177 Konstanz 115, 121 Krakau 21, 80
256 Krems an der Donau 92 – Jesuitenkolleg 92f. – Piaristengymnasium 93 Kulmberg 56 Kurbrandenburg 185 Kurpfalz 185 Kursachsen, s. Sachsen Lauingen 178 Leiden 83 Leipzig 48–50, 57, 80, 92, 121-123, 137f., 140f., 154f., 160, 174, 182f., 208f. – Universität 48f., 121f., 133f., 138– 140, 142f., 160, 174, 182 Linz 80, 212 Livland 152, 177 London 80, 85 – Schule von St. Paul’s 69 Loosdorf 179 – Partikularschule, später Landschaftsschule 179f. Löwen 65, 80 – Universität 66 Lyon 80 Magdeburg 153f., 162, 165, 170, 181 – Johanniskirche 162 – Kloster Unser Lieben Frauen 91 – Ratsgymnasium 154 – Ulrichskirche 154 Mainz 119, 211 – Jesuitenkolleg 211 Mansfeld 165, 170, 172, 185 Mecklenburg 152, 161, 168f., 172, 185 Memmingen – Lateinschule 26 Messina 220 Mitteldeutschland 153, 170 Montpellier 21 München 212, 222f., 240 Neu-Amsterdam, s. New York Neustadt an der Donau 172 New York 183 Niederlande 80 Niederösterreich 92f. – Partikularschule 179 Nijmwegen 84 Nobitz 181
Ortsregister Nordhausen 100, 118 Nördlingen 65f., 75 – Lateinschule 66, 73 Nürnberg 80, 93, 105, 208 Oberursel 162 Ochsenhausen 27 Oettingen 178 Oldenburg 153, 183 Ottobeuren 21–23, 27 – Benediktiner-Hochschule 27 – Kloster 37 Österreich 178, 204, 212 Oxford 120 – Universität 120 Paris 80 Pforzheim 204 Polen 80 Pommern 152, 169 Prag 203 Preußen 152, 177 Regensburg 38, 177f., 180, 185, 223 – Kloster St. Emmeram 202 – Lateinschule 178 Reuß 172, 185 Rheinland 228 Rom 45, 220 Rostock 94, 158, 162–164, 168–170 – St. Jakobskirche 170 – Universität 157, 191 Saalfeld 172 Sachsen 132f., 136f., 139, 142, 153, 174, 185 Samland 177 Schlettstadt 80 Schmalkalden 154, 171 Schönburg 172 Schwerin 168 – Lateinschule 168 Sens 120 Soissons 120 Spanien 80 Speyer 202 Steiermark 178 Stolberg 181 Stralsund 169 Straßburg 33
Ortsregister Tegernsee – Benediktinerabtei 27 Thüringen 171f., 174, 180 Trient 26 Trier 211, 220 – Jesuitenkolleg 211 Tübingen – Universität 136 Utrecht 80 Venedig 80 Weimar 172, 174, 177, 180 – Rotes Schloss 176 – Lateinschule 173f., 177 Wesel 161–165
257
Westminster 117 Wien 177, 181, 212 Wismar 157f., 167–169, 172 – Marienkirche 169 – Lateinschule 168 Wittenberg 91f., 94, 116, 118–121, 123f., 128, 130, 135, 137f., 141–143, 149f., 153f., 156f., 160, 181f. – Stadtkirche 137 – Universität 116, 117–119, 130, 133– 135, 137–140, 149, 154, 160, 174, 182 Württemberg 185 Zürich 80, 84, 88, 115, 121–124, 230
Sachregister Allegorik 239–241, 243 Allgemeinbildung 13 Anthropologie, s. Disziplinen → Philosophie Antike(wissen) 24f. Aristotelismus 97, 110, 156, 237 artes liberales, s. Disziplinen Astronomie, s. Disziplinen → artes auctores / antike Autoren 43, 45, 47, 71, 104 Augsburger Interim 154, 160, 164, 170, 182 Barbarismus, s. Disziplinen → Sprachen → Latein → humanistische vs. mittelalterliche Latinität Bekenntnis(schriften), s. auch Confessio Augustana und Konfessionspolitik 129, 132f., 137, 143, 150, 156, 170, 172 – Kursachsen 132f. Bibel, s. auch Disziplinen → Theologie → Exegese 15, 100, 104, 116, 149, 150, 156 Bibliotheken 5, 14f., 30f., 42, 170, 204 Bildungsprogramme (/ Lehrpläne / Lektürekanon / Luthers Schulschriften) 2, 4, 6–18, 26, 33, 94, 201, 228 Briefwechsel 21–42, 68, 92, 100 Buchdruck 76–78, 80–83 Calvinismus 134f., 142, 159 Confessio Augustana 178 curiositas 22 Dialektik, s. Disziplinen → artes Dialog, s. Lehrbücher Disputation, s. auch Lehrformen – Heidelberger Disputation (1518) 123
– Leipziger Disputation (1519) 121– 123 – Weimarer Disputation (1560) 165 – Zürcher Disputation (1523) 115, 121, 123f. Disziplinen – artes liberales 95f., 99, 138 – Astronomie / Astrologie, s. auch Disziplinen → Philosophie → Naturlehre 94, 98f., 105–107, 233 – deren Nützlichkeit, s. Funktionsorientierung → Bildung i. a. – Dialektik 104, 156 – Grammatik 26, 33, 38, 44, 68, 74 – Mathematik 27, 94, 233 – Musik 201–209, 211–224 – Contrapunctus 205 – Discantus 205 – Mehrstimmigkeit 202, 205f. – Mensuralmusik 202 – Motette 205, 212–215, 218– 223 – Notation, rhythmische 202 – Rhetorik 24–27, 43–61, 92, 104, 127–129, 149, 228, 230, 239, 243f. – rusticitas 24f. – usus 45–48, 55, 61f. – Philosophie 23f., 28, 139, 233 – Anthropologie 91 – Ethik 99 – Metaphysik – Naturlehre 91–111, 233 – als Mittel zur Gotteserkenntnis, s. auch Glaube und Bildung 100f. – Philosophenschulen – Demokrit 107
260
Sachregister
– Epikureismus 106f. – Stoa 107, 109 – Psychologie 97 – Sprachen 9, 24, 27, 138 – deren Nützlichkeit, s. Funktionsorientierung – Griechisch 22–24, 27, 29, 36, 82f., 104f., 180f. – Hebräisch 22, 24, 27–29, 32f., 36, 180f. – Latein 22, 24f., 28–33, 35f., 38–62, 65–88, 180f., 214, 243 – Germanismen 51f., 55 – humanistische vs. mittelalterliche Latinität 21, 103 – klassische Latinität vs. frühneuzeitlicher usus 43– 45, 47f., 56, 58f., 61f. – mündliche Kommunikation / Oralität 49, 55, 57f., 60f. – Theologie 7, 21, 91, 116, 121, 149 – Dogmatik 129–133, 149–185 – Ethik 232 – Exegese 117, 138, 149, 165 – Gnadenlehre 118 – praktische 138 – protestantisch 3, 127–143, 149– 185, 232 Dogmatik, s. Disziplinen → Theologie Drama, s. Lehrformen → Schuldrama Elementarunterricht 17 – Religion, s. auch Erziehung → in der Familie → Hausandacht u. Lehrformen → Katechese 150f., 159, 161, 172, 179, 184f. – Sprachen, s. Disziplinen → Sprachen eloquentia, s. Disziplinen → artes → Rhetorik Epistolographie 25, 28, 33 – Grußformeln 45, 49 Erziehung 2, 4–6 – in der Familie 7, 9–12, 14f., 150, 161, 184 – Hausandacht 157f., 161, 184 – Mädchenbildung, s. auch Nonnen(bildung) 175 – Prinzenerziehung 171f., 175f., 184
– Umgangsformen 53–55 – Tischzucht 54f. Erziehungstheorie, s. Pädagogik Ethik, s. auch Disziplinen → Philosophie 44, 230, 232f., 236, 238, 243 – christliche Ethik 232, 237 – Humanität / humanitas 7, 25, 32 – monastische Tugendlehre 26, 33 – Paränese, s. Lehrformen Exegese, s. Disziplinen → Theologie Familie, s. Erziehung Flacianer 135, 154, 166f., 177, 181 Frauen, gelehrte, s. Erziehung → Mädchenbildung u. Nonnen(bildung) Funktionsorientierung – Schule / Bildung / artes liberales i. a. 8, 13, 16f., 96 – Sprachen im bes. 21, 24, 30f., 33, 36, 60, 77, 84 Gegenreformation 92, 154f., 232 Generationen 2, 5, 12f., 15 Glaube und Bildung 109, 111 Glossare, s. Lehrbücher → Vokabularien Gnesiolutheraner 133, 155, 160, 170, 177, 180, 185 Gottesdienst 7, 16, 204, 208 Grammatik, s. Disziplinen → artes Grammatiken, s. Lehrbücher Griechisch, s. Disziplinen → Sprachen Häresie / Häretisierung 120, 124, 160, 163–165, 182, 184 Hebräisch, s. Disziplinen → Sprachen Hof / Höfe 121, 212, 217, 222, Humanismus / Humanisten 11f., 18, 21– 26, 32–34, 43f., 48, 54, 62, 75, 94, 99, 105, 124, 130, 136, 156 – Frühhumanismus 43, 149 – Humanismus und Reformation 43, 127, 134, 138, 181 Humanismuskritik 22 humanitas, s. Ethik imitatio, s. Lehrmethoden Index librorum prohibitorum 80, 217
Sachregister Islam 159
261
Judaismus / Juden 22, 27, 117, 159
Korrespondenz, s. Briefwechsel kulturelle Standards 2, 8, 16 Kulturtradierung 2, 3, 8–11, 14, 17
Karriereprofile 17, 139 Katechese / Katechismus, s. Lehrbücher u. Lehrformen Katholizismus 9, 11, 37, 159, 178 Kirchenordnungen – Kursachsen 136f. – Mecklenburg 168f. – Ordinationsexamen 139, 141 Kloster 21–42, 51, 61 Klostergemeinschaften / Orden – Augustinereremiten 123 – Benediktiner 21–27, 51 – Franziskaner 123 – Jesuiten 93, 110, 211–224, 228, 231, 239–241 – Eichstätt 240 – Fulda 211, 216, 218, 224 – Graz 212, 222 – Ingolstadt 212, 215 – Koblenz 211 – Köln 211 – Krems 92f. – Linz 212 – Mainz 211 – München 212, 217, 223, 240 – Regensburg 223 – Trier 211 – Wien 212 – Jesuitencollegien – Augsburg 223 – Dillingen 212, 215, 223f. – Jesuitentheater, s. auch Musik → Musikpraxis → Theatermusik u. Lehrformen → Schuldrama – Zisterzienser(innen) 23, 26, 28–32 Klosterschulen, s. Schulen → Schultypen Kommentare, s. Lehrbücher Konfession(spolitik), s. auch Bekenntnis(schriften) und Kirchenordnungen 133–135, 139, 142f., 152, 155, 171f., 174, 176, 183, 185 – Konkordienbewegung 136f. – Konkordienformel 136, 140, 182, 185
Latein / Latinität, s. Disziplinen → Sprachen Lateinschulen, s. Schulen → Schultypen → humanistische Schulen Lehrbücher 65–88, 91–111, 127–143, 150 – mittelalterliche vs. humanistische 67f., 76 – Anthologien 181 – Dialoge 45, 49, 51–55, 99 – Disticha Catonis 65–88 – Grammatiken 181 – Katechismus 69f., 149–185 – Kommentare 66, 71f., 79, 83–85, 88, 92, 150 – Kompendien 95, 150, 165, 179 – Kompilationen 149 – Musterbriefsammlungen 43, 46, 60 – Musterreden 43, 60, 61 – Scholien, s. Kommentar – Schülergesprächsbücher 43f., 46, 48–56, 61 – Sentenzen 69, 73–76, 78, 86f. – Sentenzenkommentar 128, 149 – Vokabularien 21, 30, 33, 42, 201– 209 Lehrer 5, 12, 16f., 30, 46, 50, 73, 76, 150, 161, 204, 208, 228, 232 Lehrformen – Brief 25f., 28–33, 37, 39–42 – Disputation 115–124, 138f., 141 – Quodlibet 118 – Katechese 11, 131, 150, 158, 180 – Paränese 70, 73 – Predigt 150 – Privatunterricht 14 – Quaestio 92, 117f. – Schuldrama, s. auch Musikpraxis → Theatermusik 211–224, 227–244 – didaktische Absicht 227, 229, 231f., 235f., 238 – Katharsis 238f. – Wirkung über Affekte 229, 236, 241–243 – Selbststudium 33, 150 – Vorlesung 91–93, 118, 138, 149
262
Sachregister
Lehrmethoden 94–96, 98f., 103–105, 107, 111 – Auswendiglernen 157, 161, 163f., 175, 181, 243 – Diktat 76, 204 – exempla 95, 104, 230, 236–240 – Frage – Antwort 157–159, 163 – imitatio 43–46, 48, 61 – loci communes 127–143, 149, 151, 156, 158, 179, 237f. – Paraphrasieren 71f. – Vorlesen 65, 73, 204 – Wiederholung 100, 161 Lehrpläne, s. Bildungsprogramme Leipziger Interim 154 Lektürekanon, s. Bildungsprogramme loci communes, s. Lehrmethoden Luthertum, s. auch Flacianer, Gnesiolutheraner, Philippisten 133– 137, 139, 142f., 154, 159f., 163f., 173, 176, 182–184 Mädchenbildung s. Erziehung Magdeburger Zenturien 154, 156–158, 184 Musik, s. auch Disziplinen → artes Musikpraxis 202 – Gesang 208 – Instrumente 212 – Cithara 205f. – Clavichord 206–208 – Harfe 205f. – Laute 205f. – Monochord 207f. – Orgel 206–209 – Trumscheit 207 – Kirchenmusik 208 – Theatermusik 211 – Chor 211, 213f., 218–221, 223f., 235 Musiktheorie, s. Disziplinen → artes → Musik Musterbriefsammlungen, s. Lehrbücher Naturphilosophie, s. Disziplinen → Philosophie → Naturlehre Nonnen(bildung) 23f., 28–33, 39 Obrigkeit, s. Regimenter → weltliches Orden, s. Klostergemeinschaften
Pädagogik 2, 5, 7f., 14f., 150, 159, 181, 184, 228, 237–239, 241–243 Pfarramt 16, 179 Philippisten 132–135, 137, 141, 155 Philosophie, s. Disziplinen Piaristen 93 Poetik 238f., 242 Predigt, s. auch Lehrformen 16, 115, 137f., 140, 150, 169, 179, 192 prodesse et delectare 230, 233f. Psychologie, s. Disziplinen → Philosophie Ramismus 141 Reformatio Christiani, s. Universitätsordnungen → kursächsisch Reformation 8, 12, 115–124, 127–143, 149–185, 232 Regimenter – geistliches 16 – weltliches 7, 10–13, 16, 17 Religionsunterricht, s. Elementarunterricht → Religion res publica litteraria 84f. Rhetorik, s. Disziplinen → artes Scholastik, s. auch Aristotelismus 103, 128, 149 – Terminologie 103 Scholien, s. Lehrbücher Schülergesprächsbücher, s. Lehrbücher Schulen – als Institution 1–18 – Schulbücher, s. Lehrbücher – Schulordnungen 66 – Erfurt, Ratsgymnasium 171 – Loosdorf 179f. – Nördlingen 65f., 73 – Stralsund 169 – Schulpflicht 10, 17 – Schulschriften, s. Bildungsprogramme – Schultypen – humanistische Schulen = Lateinschulen 11, 17, 26, 43, 49, 61, 173f. – Basel 26 – Büdingen 178 – Chemnitz 50
Sachregister – Coburg 173 – Erfurt, Ratsgymnasium 171 – Gera, Gymnasium Rutheneum 172 – Horn 180 – Jena 173 – London, St. Paul’s 69 – Loosdorf, s. Schulordnungen – Memmingen 26 – Nördlingen, s. Schulordnungen – Schwerin 168 – Weimar 173f. – Wismar 168 – Klosterschulen 11, 39 – Ilfeld 181 – Ottobeuren 22f., 27, 42 – Stiftsschule Graz 178 – mittelalterliche Schulen 9, 13 – öffentliche / städtische Schulen, s. auch Schultypen → humanistische 7, 9–18 – Trägerschaft 9–13 Sentenzen, s. Lehrbücher Sentenzenkommentare, s. Lehrbücher Sprachen, s. Disziplinen Stipendien 17, 139
– klassische Autoren 26f., 70, 86, 104 – Lehrbücher 73, 79, 82–85, 88, 130, 151f., 162–164, 169, 171f., 178, 180–183 Universitäten 43, 49, 61, 124, 136, 150 – Fakultäten 60 – Artistenfakultät 53, 60, 123 – Philosophische Fakultät 138f., 141–143 – Theologische Fakultät 134, 138, 142f. – Standorte – Graz 222 – Jena 157, 172f., 175, 177 – Königsberg 177 – Leipzig 48f., 121f., 133f., 138– 140, 142f., 160, 174, 182 – Löwen 66 – Oxford 120 – Rostock 157, 191 – Wittenberg 116, 118f., 130, 133– 135, 137–140, 149, 154, 160, 174, 182 – Universitätsordnungen 201 – kursächsisch 134, 136–139, 142 – Reformatio Christiani 139, 141f. – Leipzig 138, 140, 143 – Wittenberg 138, 140, 143
Theater, s. auch Lehrformen → Schuldrama 5 Theologie, s. Disziplinen
Vokabularien, s. Lehrbücher
Übersetzungen 105, 204
Weiterbildung 150, 173
263