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German Pages [324] Year 2006
Böh I a u
Susanne H o c h r e i t e r / U r s u l a Klingenböck (Hg.)
Literatur • Lehren • Lernen Hochschuldidaktik u n d germanistische Literaturwissenschaft
Böhlau Verlag W i e n • Köln • W e i m a r
ßibliografische Information Der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in Der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 3 - 2 0 5 - 7 7 5 4 0 - 6
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Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier
Druck: Dimograf, Poland Printed in Germany
Inhalt Susanne Hochreiter - Ursula Klingenböck Literatur • Lehren • Lernen. Eine Einführung
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1: Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik 1.1 Werner Wintersteiner (Klagenfurt) Die Literaturwissenschaft und ihre Didaktik. Prolegomena zu einer Hochschuldidaktik der Literaturwissenschaft
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1.2 Stefan Krammer (Wien) Produktive Verschränkungen. Vom Verhältnis zwischen Deutschdidaktik und Germanistik
39
1.3 Sigrid Thielking (Hannover) Lernen oder Studieren? Überlegungen zur universitären Ausbildung in Sachen Literaturvermittlung . .
55
1.4 Ulrich Welbers (Düsseldorf) Wenn ein Reisender in einer Wissenschaft... Vermittlung als Konstruktionsbedingung der (Llteratur-)Wissenschaft
73
2: Lernen und Lehren
2.1 Didaktische Inhalte und Currlcula 2.1.1 Herwig Gottwald (Salzburg) Literaturwissenschaftliche Lehre an der Universität. Grundsätzliche Überlegungen und Perspektiven
95
6
Inhalt
2.1.2 Elisabeth Stuck (Bern) Lehren und Lernen im institutionellen Kontext. Literaturwissenschaftliche Studiengänge in der Hochschullandschaft
109
2.1.3 Harro Müller-Michaels (Bochum) Curriculum und Kompetenz. Plädoyer für die Stufung des Studiums
123
2.2 Didaktische Methodik 2.2.1 Pia Janke (Wien) Lehren, Lernen und Öffentlichkeit. Projektorientierte Lehrveranstaltungen als Chance für die Geisteswissenschaften
143
2.2.2 Wernfried Hofmeister (Graz) Vom „Salon-Seminar" zum öffentlichen Seminar-Projekt: „Alte" und „neue" Methoden der Vermittlung literaturwissenschaftlicher Inhalte, verdeutlicht am Beispiel der germanistischen Mediävistik an der Karl-Franzens-Universität in Graz
157
2.2.3 Ursula Klingenböck (Wien) Rudern statt reden? Perspektiven einer Berufs- und Praxisorientierung im Germanistik-Studium am Beispiel außeruniversitärer Praktika
173
2.2.4 Susanne Hochreiter (Wien) Im Spiel: Handeln und Dialog. Modelle und Praxis von Theaterpädagogik in der Hochschullehre
205
2.2.5 Maria Spindler (Wien) Lernprozesse gestalten - im Spannungsfeld von Individualisierung und Vergemeinschaftung
231
Inhalt
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3: Ausbilden und Evaluieren 3.1 Herbert Schendl (Wien) Lehrerlnnenausbildung und Hochschuldidaktik: Versäumnisse und Chancen . 255 3.2 Johannes Wildt (Dortmund) Hochschuldidaktische Weiterbildung in Deutschland
269
3.3 Gunhild Sagmeister (Klagenfurt) Evaluation als Qualitätsverbesserungsbeitrag in Literaturwissenschaften? . . . 285
4: Ansichten - Blickwechsel 4.1 Wendelin Schmidt-Dengler (Wien) Ein listiges Ja zu Bologna. Überlegungen zu einem „europäischen Bakkalaureat"
303
4.2 Ursula Kubes-Hofmann (Wien) Die Kunst des Gedankens ist Erinnerung: Das Rosa-Mayreder-College in Wien
309
Autorinnen und Autoren
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Susanne Hochreiter - Ursula Klingenböck
Literatur • Lehren • Lernen Eine Einführung
Die Fragen nach den Bedingungen universitärer Lehre, nach ihren Inhalten, Methoden und Zielen, nach ihrer Bedeutung und nach den Möglichkeiten einer Qualitätssicherung haben in den letzten Jahren an Interesse gewonnen. Der vorliegende Band fokussiert mit Hochschuldidaktik und germanistischer Literaturwissenschaft auf einen Bereich, der - vom institutionellen Kontext einmal abgesehen - im Wesentlichen mit den Begriffen Literatur, Lehren und Lernen umrissen werden kann. Ihre vielfältigen Relationen werden bewusst offen gehalten im Hinblick auf die Diskussion(en) in den folgenden Beiträgen. Literatur als Gegenstand der (germanistischen) Literaturwissenschaft, Lehren und Lernen als Gegenstand der allgemeinen Erziehungswissenschaften und der Didaktik im Besonderen werden durch die einzelnen Beiträge und ihre unterschiedlichen Kontexte zueinander in Beziehung gesetzt. Das wachsende Interesse an universitärer Lehre hat sowohl inner- als auch außeruniversitäre Gründe: Eine Debatte über Reformen der Universitäten und Möglichkeiten für eine Umsetzung wird international bereits seit längerer Zeit, in Österreich vor allem seit dem Universitätsgesetz (UG) 2002 geführt. Sie ist im weiteren Kontext eines Europäischen Hochschulraumes (Stichwort „Bologna"-Prozess) zu sehen, der u.a. die Einführung einer dreistufigen Studienarchitektur mit Bakkalaureats-, Magister- und Doktoratsstudium und - als ihre notwendige Voraussetzung - die Modularisierung der Studiengänge vorsieht. Für viele Studienrichtungen in Österreich bedeutet das die zweite Inhalts- und Strukturreform innerhalb kurzer Zeit: Erst vor wenigen Jahren wurden u.a. für das Studium der Germanistik neue Curricula ausgearbeitet und (beispielsweise für die Universität Wien mit WS 2002/03) eingerichtet, die auf die veränderten Bildungsbiografien (Berufstätigkeit, Mobilität und Internationalisierung) und damit auf die Heterogenität der Studierenden mit neuen didaktischen Angeboten reagieren. Auf Grund mangelnder finanzieller, infrastruktureller und personeller Ressourcen können sie allerdings nur bedingt umgesetzt werden: das vor allem auch deshalb, weil die Zahl der Studierenden trotz der Einführung von Studiengebühren kontinuierlich steigt. Darüber hinaus sehen sich Österreichs Universitäten in einer bislang unbekannten Wettbewerbssituation mit neuen und noch zu gründenden Einrichtungen im
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Susanne Hochreiter - Ursula Klingenböck
tertiären Bildungsbereich. Nach der Installierung von Fachhochschulen wird nun eine Auslagerung der universitären Lehrerinnenausbildung an pädagogische Hochschulen diskutiert. Auch in anderen, v.a. bildungsökonomischen und gesellschaftlichen Kontexten werden die Universitäten mit dringlichen Anfragen konfrontiert: nach ihrer Aufgabe in einem sich verändernden Bildungsgefüge ebenso wie nach der Legitimation einzelner Fächergruppen - hier v.a. der „alten" Geisteswissenschaften bzw. der „neuen" Kulturwissenschaften und damit auch der (germanistischen) Literaturwissenschaft-, die ein „messbares" Ergebnis in ökonomischem Sinn vermissen lassen. Die Beiträge sind aus der aktuellen Situation entstanden, und sie thematisieren diese auch - allerdings nicht, um eine tatsächliche oder vermeintliche „Krise" der Universitäten im Allgemeinen und der universitären Lehre im Besonderen fortzuschreiben, sondern um sie - auch kritisch - zu reflektieren. Im Sinne eines produktiven Umgangs mit dem Bestehenden wird aus der Erfahrung berichtet, werden anhand konkreter Beispiele Alternativen aufgezeigt und Modelle für die künftige Praxis universitärer Lehre entworfen. Die Beiträge richten sich an Lehrende und Lernende an Universitäten und höheren Schulen ebenso wie an Fachwissenschaftierinnen und Didaktikerlnnen. Viele der Beiträge charakterisieren die universitäre Landschaft Österreichs (namentlich Graz, Salzburg und Wien); durch Autorinnen, die an den Universitäten Hannover, Bochum, Düsseldorf und, für die Schweiz, Fribourg und Bern forschen und lehren, wird die regionale Perspektive auf den gesamten deutschsprachigen Raum erweitert und dadurch neu kontextualisiert. Dem interdisziplinären Charakter des Gegenstandes und der Fragestellung entsprechend, unterscheiden sich die Beiträge in ihrer fachwissenschaftlichen Orientierung und in ihren methodischen Zugängen. Die Mehrzahl der Beiträgerinnen kommt aus der (germanistischen) Literaturwissenschaft (hier vor allem der Neueren, aber auch der Älteren; die Bereiche DaF/DaZ, Sprachwissenschaft und -didaktik werden dagegen nur peripher angesprochen - das auch deshalb, weil sie von der didaktischen Forschung bislang deutlich mehr Aufmerksamkeit erhalten haben als die Literaturwissenschaft) und aus den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, insbesondere aus der Fachdidaktik und aus der Hochschuldidaktik. Ihnen allen gemeinsam ist eine langjährige Erfahrung in der universitären Lehre und damit in einem Bereich, der gemäß UG 2002 § 1 (Ziele) zumindest nominell gleichberechtigt neben der Forschung steht. In der Praxis ist da noch viel zu tun: Unter anderem muss (universitäre) Lehre vermehrt zum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung gemacht werden, es sind Räume für Reflexion sowie für Ausund Weiterbildungsmöglichkeiten für Hochschullehrende zu schaffen und geeignete Instrumentarien für die Sicherung der Qualität der Lehre zu entwickeln. Neue lernthe-
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Eine Einführung
oretische Konzepte sind - auch über die derzeit viel gebrauchten Schlagwörter wie „Schlüsselqualifikationen", „Berufsvorbildung" und „lebenslanges Lernen" hinaus - zu diskutieren und auf ihre praktische Umsetzung in konkreten Lehr- und Lernsituationen zu prüfen. Selbstverständlich gibt es dahingehende Initiativen - in Österreich z.B. die Österreichische Gesellschaft für Hochschuldidaktik (ÖGHD), die Abteilung Hochschulforschung der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) bzw. des Instituts für Höhere Studien (IHS) sowie die universitären Bildungs- und Weiterbildungsangebote für Hochschullehrerinnen. Doch anders als in Deutschland und im Unterschied zur Fachdidaktik hat sich Hochschuldidaktik in Österreich bisher nur zaghaft etabliert. Die folgenden Beiträge verstehen sich daher als Impuls, die Diskussion um eine (germanistische) Hochschuldidaktik anzuregen bzw. weiterzuführen mit dem Ziel, universitäre Lehre auf dem Gebiet der germanistischen Literaturwissenschaft in Theorie und Praxis weiterzuentwickeln und zu verbessern. Am Beginn des Bandes stehen unter der Überschrift Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik grundlegende wissenschaftstheoretische Fragen nach dem Verhältnis zwischen (Fach-)Wissenschaft und (Fach-)Didaktik und nach der Beziehung der beiden Disziplinen zur Hochschuldidaktik. Dabei wird die historische Dimension dieser Verhältnisse mit einbezogen und vor allem das - sich wandelnde - Selbstverständnis sowohl der Literaturwissenschaft wie der Didaktik diskutiert. W E R N E R WINTERSTEINER
greift in seinem Beitrag die Tradition des Missverhältnisses
zwischen Literaturwissenschaft und ihrer Didaktik auf, um stattdessen die Didaktik als ,,selbstreflexive[] Komponente jeder Wissenschaft" zu etablieren. Die Gemeinsamkeiten zwischen schulischer und universitärer Literaturdidaktik versteht er als Chance - auch und gerade im Kontext einer Neugestaltung des universitären Studiums nach der Bologna-Architektur. Auf ähnliche Weise argumentiert
STEFAN KRAMMER,
wenn er in Bezug auf Deutschdi-
daktik und Germanistik von [p]roduktive[n] Verschränkungen spricht. Einen Ausweg aus dem krisenhaften Verhältnis von Deutschdidaktik (insbesondere in Österreich) und Fachgermanistik sieht der Autor u.a. in einer stärkeren institutionellen Verankerung der Fachdidaktik, in der Erweiterung ihres Selbstverständnisses sowie der fachdidaktischen Forschung. Dabei seien auch nicht-schulische Lernkontexte zu berücksichtigen - insbesondere der Bereich der Erwachsenenbildung und die Hochschuldidaktik, wo Didaktik und Wissenschaft einander am nächsten kämen. Mit der Frage, was universitäre Ausbildung in Sachen Literatur und Literaturvermittlung leisten kann und soll, befasst sich
SIGRID THIELKING.
In ihrem mit Lernen oder
Studieren? betitelten Text konstatiert sie die Notwendigkeit einer grundlegenderen Di-
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Susanne Hochreiter - Ursula Klingenböck
daktisierung und, damit verbunden, die Hinwendung zu „Output-Orientierung" und „Learning-Outcomes". Die bisherige „Content-Orientierung" verliere zunehmend an Einfluss, die Implementierung neuer Parameter wie „Employability" würde auch neue Anforderungen an das Fach und seine Vermittlung stellen. Für ULRICH WELBERS, der sich als Reisender in einer Wissenschaft auf die Spuren eines in Veränderung befindlichen Wissenschaftsbegriffs begibt, ist Wissenschaft ohne Verortung in ihren Vermittlungsbezügen systematisch gesehen ein unvollständiges Konstrukt. Er zeigt, dass Wissenschaft immer schon Vermittlung und von daher neu zu sehen ist. Als Gestaltungsmöglichkeiten eines vermittlungswissenschaftlichen Paradigmas, in dem Vermitteln als kulturelle Grundoperation verstanden wird, nennt der Autor exemplarisch den Bereich Schreiben und Schriftlichkeit, das Verständnis von Fachdidaktik als Kulturvermittlungswissenschaft sowie die Notwendigkeit hochschuldidaktischer Professionalisierung. Das zweite und umfangreichste Kapitel widmet sich dem Lernen und Lehren, seinen konkreten Bedingungen und Möglichkeiten. Im ersten Teil werden Didaktische Inhalte und Curricuia an einzelnen Beispielen und vor dem Hintergrund der europäischen Veränderungen im tertiären Bildungssektor diskutiert, im zweiten Ideen und Modelle zur Didaktischen Methodik vorgestellt. HERWIG GOTTWALD stellt grundsätzliche Überlegungen zur
Literaturwissenschaftli-
che[n] Lehre an der Universität am Beispiel des Fachbereichs für Germanistik an der Universität Salzburg an. Probleme ortet er einerseits im Fach selbst - wie z.B. in der Methodendiskussion seit Ende der 1960er Jahre - , andererseits in strukturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen, bei denen hochschuldidaktische Konzepte an ihre Grenzen stoßen: So gebe es mehr Pflicht und weniger Wahlmöglichkeiten bei gleichzeitiger Arbeitsvermehrung und -beschleunigung sowie steigender Erwerbstätigkeit unter Studierenden. Literaturwissenschaftliche
Studiengänge
im institutionellen Kontext der schweize-
rischen Hochschulen diskutiert ELISABETH STUCK. A m Beispiel der Lehramtsstudien stellt sie den staatlichen Einfluss auf die Universitäten dar und erörtert das Verhältnis von Fachhochschulen und Universitäten in seinen kooperativen und kompetitiven Dimensionen. Wissenschaftliche Qualifizierungsverfahren, Kanon- und Curriculumfragen sowie die Evaluation von Studienleistungen sind weitere Themen dieses Beitrags. In einer auch (bildungs)politisch geprägten Debatte über den Auftrag der Universitäten formuliert HARRO MÜLLER-MICHAELS ein Plädoyer für die Stufung des
Studiums.
Ein Propädeutikum soll den Wechsel von allgemeiner zu wissenschaftlicher Bildung, von schulischem Lernen zu wissenschaftlichem Arbeiten erleichtern und den Erwerb
13
Eine Einführung
grundlegender Kenntnisse des Faches ermöglichen. Während Polyvalenz und Vielfältigkeit das Bachelor-Studium kennzeichnen würden, sei das Master-Studium von Professionalität und Spezialisierung bestimmt. Für das gesamte Studium sei jedoch die Selbstbestimmtheit der Studierenden entscheidend. Eine Chance für die Geisteswissenschaften sieht
PIA JANKE
in projektorientierten
Lehrveranstaltungen. Was Harro Müller-Michaels bezüglich der (Selbst-)Ermächtigung der Studierenden anspricht, ist über Projekte, wie jenes von Pia Janke, gut realisierbar: Sie nützen das kreative und kritische Potenzial der Studierenden, ermutigen sie, Verantwortung für die gemeinsame Arbeit und für das eigene Lernen zu übernehmen. In einer Lehrveranstaltung über „Elfriede Jelinek und Österreich" ist es über eine gemeinsame Buchpublikation gelungen, Lehren und Lernen mit gesellschaftlicher Praxis und Öffentlichkeit zu verbinden. Auf eigenverantwortliches Arbeiten und öffentliche Präsentation der Ergebnisse setzt auch
WERNFRIED HOFMEISTER.
In seinem Beitrag über ,,[a]lte" und „neue" Metho-
den der Vermittlung literaturwissenschaftlicher Inhalte zeigt er am Beispiel der Grazer Mediävistik, auf welche Weise moderne Medien für einen anspruchsvollen und vielseitigen universitären Unterricht genützt werden können. „Kompakt-" und „ProjektSeminare", die Hofmeister in seiner Lehre entwickelt hat, erscheinen als geeignet, „Studierende zu Botschafterinnen ihrer Universitätsbildung zu machen". Mit dem ebenso aktuellen wie komplexen Feld außeruniversitärer Praktika beschäftigt sich
URSULA KUNGENBÖCK.
Während an mehreren deutschen Universitäten Pra-
xismodelle erfolgreich umgesetzt werden, gibt es an den germanistischen Instituten in Österreich derzeit kaum Angebote - und das, obwohl der Umstieg auf die Europäische Studienarchitektur u.a. mit Berufsvorbildung und „Employability" der Absolventinnen argumentiert wird. Am Beispiel der Universitäten Greifswald und Düsseldorf diskutiert die Autorin exemplarisch Probleme und Chancen unterschiedlicher Praxismodelle und erörtert Varianten für die Umsetzung an der Universität Wien. Für mehr Theater an der Universität plädiert
SUSANNE HOCHREITER,
die Modelle und
Praxis von Theaterpädagogik in der Hochschullehre vorstellt. Szenisches Lernen verbindet Kreativität und Eigenverantwortlichkeit der Studierenden. Das Besondere am Einsatz theatraler Methoden liegt im Probehandeln, im (Er-)Finden von Rollen, in der Erweiterung des eigenen Erfahrungshorizonts und des individuellen Handlungsrepertoires. Damit verbunden ist ein anderer Umgang sowohl der beteiligten Studierenden und Lehrenden miteinander als auch mit literarischen Texten, die spielerisch als Impuls und Material für das eigene Denken und Handeln nutzbar gemacht werden. Mit der Planung und Durchführung von Lernprozessen im Allgemeinen befasst
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Susanne Hochreiter - Ursula Klingenböck
sich
MARIA SPINDLER.
Didaktische Tricks, „Zauberkunststücke", gibt es zwar ebenso
wenig wie die richtige Methode, aber es lassen sich anhand von Fragen z.B. nach Interessen, Wissen, Hintergründen der Studierenden sowie in der Erprobung anderer Arbeitsformen als Vortrag und Referat Reflexionshilfen entwickeln, die für die Gestaltung und Steuerung von Lernsituationen hilfreich sind. Dabei sind die universitären Rahmenbedingungen für die Unterrichtsplanung ebenso zu berücksichtigen wie die unterschiedlichen Interessen und Anforderungen in einem gemeinsamen Lehr- und Lernraum. Im dritten Kapitel - Ausbilden und Evaluieren - werden Fragen nach der Ausbildung von Lehrerinnen, nach hochschuldidaktischer Weiterbildung und den Aufgaben von Evaluation diskutiert. Für den Verbleib der Lehrerinnenausbildung an den Universitäten plädiert SCHENDL
HERBERT
in seinem Beitrag Lehrerinnenausbildung und Hochschuldidaktik. Durch die
Etablierung der geplanten fachdidaktischen Zentren sei eine weitere Verbesserung der didaktischen Qualifikation künftiger Lehrerinnen zu erwarten. Allerdings fehlt eine verpflichtende systematische hochschuldidaktische Ausbildung jener, die die künftigen Lehrerinnen unterrichten. Sinnvoll erscheint daher die Bündelung bestehender hochschuldidaktischer Projekte zu hochschuldidaktischen Zentren, die mit den fachdidaktischen Zentren vernetzt werden sollten, um gemeinsam Weiterbildungsangebote zu entwickeln. JOHANNES WILDTS
Ausführungen über Hochschuldidaktische Weiterbildung machen
deutlich, dass - anders als in Österreich - hinsichtlich der Verbreitung und Qualität der Weiterbildungsmaßnahmen in Deutschland seit den 1990er Jahren von einer Erfolgsstory gesprochen werden kann. Diese findet ihren Ausdruck in den bundesweiten „Leitlinien" zur Modularisierung und Zertifizierung von Weiterbildung, die im März 2006 beschlossen worden sind. Diese Entwicklung entspricht dem internationalen Trend vergleichbarer OECD-Staaten. Was Evaluation bedeutet und wie sie als Beitrag zur Verbesserung von Qualität in der Hochschullehre wirksam werden kann, erörtert
GUNHILD SAGMEISTER
im dritten und
letzten Beitrag dieses Kapitels. Um eine sinnvolle Evaluation durchführen zu können, müsse zunächst ein Ziel mit erfüll- und erkennbaren Leistungsparametern definiert werden, das dann im Sinne einer notwendigen Vertrauensbasis auch offenzulegen sei: Geht es um gemeinsame Qualitätsentwicklung oder sollen beispielsweise Argumente für den Weiterbestand oder die Schließung eines Instituts gefunden werden? Schließlich seien geeignete Verfahren zur Feststellung von Qualität in literaturwissenschaftlicher Forschung und Lehre zu entwickeln.
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Eine Einführung
Unter der Überschrift Ansichten - Blickwechsel sind zwei Beiträge platziert, die das Thema Literatur • Lehren • Lernen. Hochschuldidaktik und germanistische Literaturwissenschaft um alternative Zugänge und Überlegungen ergänzen. Sie scheinen gleichermaßen geeignet, das Buch abzuschließen und die (weitere) Diskussion zu eröffnen. Ein listiges Ja zu Bologna sagt
WENDELIN SCHMIDT-DENGLER,
wenn er ein „Europä-
isches Bakkalaureat" vorschlägt, um die hinsichtlich ihrer Relevanz insbesondere für geistes- und kulturwissenschaftliche Studien immer wieder stark kritisierten Bakkalaureatsstudiengänge als Chance zu begreifen: durch eine Öffnung der (philologischen) Fachgrenzen, durch einen Fokus auf Sprachausbildung, verbunden mit historischen, politischen, wirtschaftlichen Kenntnissen, die die Absolventinnen befähigen sollen, sich in ihrer weiteren Aus- und Weiterbildung sowie in ihrer Berufspraxis in Europa zu bewegen. URSULA KUBES-HOFMANN erörtert am Beispiel des Rosa-Mayreder-College in Wien Bildungskonzeptionen an der Schnittstelle von Universität und außeruniversitärer Erwachsenenbildung. Bildungsangebote wie das Feministische Grundstudium sind nicht nur wegen ihrer gesellschafts- und bildungspolitischen Relevanz Impulsgeber, sondern auch auf Grund ihrer innovativen didaktischen Konzeption. Die in diesem Beitrag zentrale Auseinandersetzung mit der Bildungsökonomisierung im Zuge wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse ist für die Diskussion der Situation und die Entwicklung universitärer Forschung und Lehre von größter Bedeutung.
Werner Wintersteiner (Klagenfurt)
Die Literaturwissenschaft und ihre Didaktik. Prolegomena zu einer Hochschuldidaktik der Literaturwissenschaft'
„ Diese Vorlesung macht mir nun keine freude, aber viel mühe; ich musz mich besinnen, was den Studenten aus meinem kram taugt, und es für sie ordnen und einrichten. Ich lerne nichts dadurch. Das auftreten zu bestimmter stunde auf dem catheder hat etwas theatralisches und ist mir zuwider. "2 (Jacob Grimm, Professor in Göttingen, 1831)
Welche Didaktik kann man von einer Wissenschaft erwarten, über deren Lehre sich schon einer ihrer Begründer derart negativ geäußert hat? Und zwar nicht ironisch oder kokett, sondern in dem Moment, als er sich einen Seufzer aus tiefstem Herzen erlaubt hat. Wird hier nicht bereits ein langfristiger Gegensatz, Wissenschaft versus Lehre, erstmals konstruiert? Wird hier nicht auch schon eindeutig Partei ergriffen in diesem unseligen Streit? Andererseits: Ist nicht die Germanistik als Wissenschaft aus politisch-volksbildnerischen Gründen entstanden - Bildung der Nation durch nationale Bildung? Hat nicht einer der brillantesten Köpfe des 20. Jahrhunderts, zu dessen zahlreichen Metiers auch die Literaturwissenschaft gehörte, den Wert der Didaktik herausgearbeitet, sie nachgerade zum Mittelpunkt des Faches erklärt? „Dabei kommt es vielleicht weniger auf eine Erneuerung des Lehrbetriebs durch die Forschung als der Forschung durch den Lehrbetrieb an. Denn mit der Krise der Bildung steht ja in genauem Zusammenhang, dass die Literaturgeschichte die wichtigste Aufgabe, mit der sie als .Schöne Wissenschaft' ins Leben getreten ist - die didaktische nämlich - , ganz aus den Augen verloren hat."3 Es geht also, noch immer, wieder einmal, um die Beziehung (Literatur-)Wissenschaft und (Literatur-)Didaktik, die auch nach jüngeren Befunden ein „noch immer ungeklärte[s] Verhältnis"4 miteinander haben, aberoffen1
Ich danke Hubert Lengauer, Literaturwissenschaftler, für die kritische Durchsicht einer ersten Version dieses Beitrags.
2
Grimm, Jacob, zit. nach Vogt, Jochen: Einladung zur Literaturwissenschaft. München 1999 (= UTB Literaturwissenschaft Bd. 2072), 34.
3
Benjamin, Walter: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft. In: Tiedemann-Bartels, Hella (Hg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Bd. III. Frankfurt am Main 1972, 290.
4
Burdorf, Dieter: Literatur studieren, ohne sich zu verlieren. Einige Orientierungspunkte. In: Lecke, Bodo
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
bar mehr neben- als miteinander leben. Und immer noch scheint es auch notwendig zu sein, mit einer Klärung der Begriffe zu beginnen, denn in der Vergangenheit sind sehr viele Auseinandersetzungen über die Definition der Schlüsselbegriffe gelaufen. Ich werde mich also, aus meiner Perspektive eines Literaturdidaktikers, dieser Thematik zunächst etwas allgemeiner zuwenden müssen, bevor ich auf die eigentliche hier zur Debatte stehende Frage der literaturwissenschaftlichen Hochschuldidaktik eingehen kann. Ich knüpfe dabei wie insgesamt bewusst an die heute nicht mehr sehr präsenten Diskussionen der 1980er Jahre in Österreich an, um sichtbar zu machen, dass die literaturdidaktisch-literaturwissenschaftliche Debatte auch hierzulande doch gewisse Traditionen aufweist.
1. Drei Begriffe von Didaktik und ein Gegenentwurf Die schematische Gegenüberstellung von Fachwissenschaft (Literaturwissenschaft) und Didaktik (Literaturdidaktik) verstellt den Blick auf die vielfältigen Verbindungslinien. Sie tut außerdem so, als gäbe es nur einen einzigen Begriff von Didaktik, wobei darunter meist eine auf die Schule bezogene Fachdidaktik gemeint ist. Die Sache ist aber wesentlich komplexer. In unserem Zusammenhang kommen zunächst drei Begriffe von Didaktik ins Spiel. Traditionell gilt Didaktik als „Theorie des Unterrichts, d.h. des planmäßig geleiteten bzw. bewirkten Lernens, wie es vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich in Schulen stattfindet".5 Diese Allgemeine Didaktik konstituiert sich als ein Gleichgewicht dreier „heterogener Aspekte, wie sie im Denkmodell des .didaktischen Dreiecks' dargestellt sind: die normativ zu begründenden Leit- und Nahziele, die empirisch zu ermittelnden Voraussetzungen bei den Schülern in ihrer Jndividuallage', die sachlogischen Anforderungen des jeweiligen Unterrichtsgegenstandes".6 Davon zu unterscheiden (aber nicht unbedingt strikt zu trennen) ist Fachdidaktik als eine „doppelte Subdisziplin", nämlich der Pädagogik bzw. der Allgemeinen Didaktik wie auch des jeweiligen Wissenschaftsfaches, die nach dem Bildungswert ihres Faches für den schulischen Unterricht, aber auch für Jugendarbeit und Erwachsenenbildung fragt sowie nach den (der Zielgruppe) entsprechenden Methoden sucht bzw. diese kritisch prüft. „Fachdidaktiken haben gleich engen Bezug zur Pädagogik (Hg.): Literaturstudium und Deutschunterricht auf neuen Wegen. Frankfurt am Main 1996 (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts Bd. 27), 32. 5 6
Glöckel, Hans: Didaktik/Methodik. CD-ROM der Pädagogik. Baltmannsweiler 1996, Abstract. Ebd.
Die Literaturwissenschaft und ihre Didaktik
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wie zur jeweiligen Fachwissenschaft. Allgemeine Didaktik vermittelt zwischen ihnen, klärt ihre spezielle Funktion im Rahmen des Ganzen wie auch ihren gemeinsamen Bestand an Begriffen und Problemen".7 Hochschuldidaktik wiederum ist die spezifische Anwendung der didaktischen Fragestellungen auf das universitäre Lehren und Lernen, die Frage nach seinen Begründungen, seinen Inhalten, den Methoden und - nicht zu unterschätzen - den realen Umständen, unter denen dieses Lehren und Lernen stattfindet, einschließlich der subjektiven Rezeption der Studierenden. Alle drei Dimensionen, Aspekte bzw. Teildisziplinen sind vielfach miteinander verschränkt. Es macht keinen Sinn, sie gegeneinander auszuspielen. Deswegen schlage ich hier eine weitere Definition vor. Didaktik sollte meines Erachtens in einem sehr allgemeinen Sinne als eine selbstreflexive Komponente jeder Wissenschaft definiert werden, eine Selbstreflexion, die von der Frage nach der Vermittlungsfähigkeit der jeweiligen Disziplin inspiriert ist und wieder zu dieser zurückführt: „Wir müssen also die Notwendigkeit der Didaktik nicht erst begründen, sie ist der wissenschaftlichen Tätigkeit vorausgesetzt, und es ist eines ihrer wichtigsten Geschäfte, die Wissenschaft stets neu über deren historische Relevanz zu unterrichten."8 Jede Didaktik - als eine Art implizite Meta-Wissenschaft - setzt sich mit dem Wozu, dem Was und dem Wie ihres Gegenstandes auseinander. Damit wäre eine Verbindung - in unserem Falle - von Literaturwissenschaft, Literaturdidaktik und literaturwissenschaftlicher Hochschuldidaktik bereits konzeptionell gegeben. Diese Verbindung ist auch notwendig, um die Möglichkeiten von Kooperationen auszuloten und konkret anstehende Probleme zu lösen. Um diese gemeinsame Problemlösungskompetenz - speziell im Bereich der hochschuldidaktischen Literaturwissenschaft oder der literaturwissenschaftlichen Hochschuldidaktik - soll es im folgenden Beitrag gehen, wobei ich nicht mehr beanspruchen kann, als eine vorläufige Annäherung an die Thematik zu bieten.
2. Warum Hochschuldidaktik gerade jetzt Konjunktur hat Hochschuldidaktik steht gegenwärtig hoch im Kurs. „War hochschuldidaktische Weiterbildung lange Anliegen vereinzelter Initiativen, ist neuerdings eine deutliche Ver7
Ebd.
8
Moser, Manfred/Tietze, Walter/Zenkl, Maria: Fach und Didaktik oder Fachdidaktik? In: Altrichter, Herbert/ Fischer, Roland/Posch, Peter u.a. (Hg.): Fachdidaktik in der Lehrerbildung. Wien 1983 (= Bildungswissenschaftliche Fortbildungstagungen an der Universität Klagenfurt Bd. 2), 96.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
breiterung, Intensivierung und auch Institutionalisierung in diesem Bereich festzustellen",9 stellt eine neuere Publikation zufrieden fest und betont im gleichen Atemzug, woher der Wind weht: „Personalentwicklung ist heute einer der Schlüsselbereiche nicht nur in Qualitäts- und Produktivitätssteigerungskonzepten von Wirtschaftsunternehmen, auch an Hochschulen [...] wird hier zunehmend eine der zentralen Entwicklungsaufgaben gesehen. Im Bereich der Verbesserung der Qualität des Lehrens und Lernens"10 ist damit die Hochschuldidaktik angesprochen. Was diese Thematik gerade heute so aktuell macht, scheinen zwei Entwicklungen zu sein. Zum einen der gezielte Zwang von außen, in Form von hochschulpolitischen Vorgaben und Maßnahmen zur Rationalisierung und Ökonomisierung des Bildungswesens. Die Lissabon-Strategie der Europäischen Union hat sich ja schon im obigen Zitat im Wortungetüm von den „Qualitäts- und Produktivitätssteigerungskonzepten"11 angekündigt. Wer sich anschickt, Bildung als Ressource im weltweiten wirtschaftlichen Konkurrenzkampf zu funktionalisieren, muss die Qualität der Ware Bildung mithilfe von Standards und permanenter Evaluation sicherstellen. Ähnlich wie in der Milchwirtschaft geht es nun offenbar auch in der Wissenschaft um Pasteurisierung (eine gezähmte Wissenschaft), Homogenisierung (in allen Ländern) und Standardisierung (immer das gleiche Niveau des Produkts). Diese Anforderungen werden heute offensiv als Rechte der Kundinnen - der Studierenden - formuliert: „Die Studierenden haben einen Anspruch auf eine exzellente Ausbildung, intensive Betreuung und international wettbewerbsfähige Studienabschlüsse, die erfolgreich für den Berufseinstieg qualifizieren",12 heißt es in einer aktuellen Aussendung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. Aus dem Recht auf Bildung ist sozusagen ein Recht auf Gebildetwerden geworden. Und die Konsequenzen aus diesem Paradigmenwechsel treten heute als (gar nicht so stummer) Zwang der Verhältnisse an die Lehrenden der Universität heran. Evaluation heißt das Zauberwort, und weil im Prinzip niemand dagegen argumentieren kann, dass Wissenschaftlerinnen für ihre Arbeit rechenschaftspflichtig sind, werden uns nun schematische Schemata der Evaluation von Lehrveranstaltungen verordnet, mit rigider Meldepflicht und Veröffentlichung der Ergebnisse. Sicherung der Qualität? Vielleicht. Doch zugleich stellen diese Maßnah9
Welbers, Ulrich: Hochschuldidaktische Aus- und Weiterbildung: Stand, Strukturen, Perspektiven. In: Welbers, Ulrich (Hg.): Hochschuldidaktische Aus- und Weiterbildung. Grundlagen - Handlungsformen - Kooperationen. Bielefeld 2003, 12.
10 Ebd., 11 f. 11
Vgl. z.B. http://europa.eu.int/comm/lisbon strategy/intro en.html
12 Österreichische Forschungsgemeinschaft. Einladung zu einem Workshop im März 2006. Brief vom 27.1.2006.
Die Literaturwissenschaft und ihre Didaktik
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men einen Akt der Kontrolle und Vorbereitung auf einen gar nicht so fernen Moment dar, wo vollkommene Durchrationalisierung und Standardisierung die Grundlage für „Leistungsvereinbarungen" mit dem Ministerium werden. Zum anderen gilt gerade für die Literaturwissenschaft, dass ihre Rolle im Konzert der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften heute nicht mehr selbstverständlich ist wie früher. So gelten etwa Medienwissenschaften - nach Ende der Dominanz der Buchkultur - als attraktiver und scheinen auch mehr Berufschancen zu bieten. Literaturwissenschaft steht also, wohl erstmals seit ihrer Etablierung vor 200 Jahren, vor der Notwendigkeit für sich zu werben - eine Einsicht, die der Literaturwissenschaftler Jochen Vogt am Ende seiner „Einladung" betitelten Einführung in die Literaturwissenschaft so formuliert: „Mehr als je zuvor müssen wir [...] heute die Inhalte, Ziele, Verfahren und Instrumente des literaturwissenschaftlichen Studiums erst plausibel
machen
- in gewisser Weise für sie werben [Hervorhebung im Original]." 13 Vogts Buch ist das beste Beispiel dafür: Es steht im Gegensatz zu herkömmlichen Einführungen, die sich auf die innere sachlogische Gliederung der Literaturwissenschaft beschränken und bestenfalls einmal einen Ausflug in neuere Gefilde wie feministische Literaturwissenschaft wagen (vgl. etwa Klausnitzer, 2004 oder Petersen/Wagner-Egelhaaf, 2006), wo aber Literaturtheorie insgesamt sehr unterbelichtet bleibt (Ausnahme: Neuhaus, 2003). Denn seine Einführung ist bewusst didaktisch konzipiert, und das heißt nicht nur, dass sie sehr übersichtlich und leicht verständlich geschrieben ist, sondern vor allem, dass sie im Bemühen um Verständigung verfasst wurde. Dazu muss sich der Autor auf die Grundfragen einlassen, die sich einer oder einem nachdenklichen Studierenden stellen - also nicht nur: Was ist der Gegenstand der Germanistik?, sondern vor allem: Wieso wurde Germanistik zum Gegenstand? Nicht bloß: Welche Methoden verwendet die Literaturwissenschaft?, sondern: Gibt es Methoden in der Literaturwissenschaft?
3. Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik sind aufeinander angewiesen. Bloß bemerken sie es nicht immer Damit ergibt sich bereits eine größere Nähe zwischen Literaturwissenschaft und schulischer Literaturdidaktik, die immer schon darauf angewiesen war, Begründungen für die Beschäftigung mit Literatur zu liefern, und das hieß immer zweierlei:
13 Vogt, Einladung, 263.
24 -
1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
(auf wissenschaftlicher Basis, aber in populärer Form) den Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft einsichtig zu machen,
-
(durch entsprechende Methoden der Leseförderung) für die Schülerinnen einen unmittelbaren Lebensbezug von Literatur, und das heißt zugleich: einen Literaturbezug in ihrem Leben, erfahrbar zu machen.
Beide Aspekte gewinnen nun auch für eine literaturwissenschaftliche Hochschuldidaktik an Relevanz, gerade weil die gesellschaftliche Rolle der Literatur nicht mehr selbstverständlich und unumstritten ist wie wohl noch zur Zeit der Begründung der Germanistik. Franz Kuna, Literaturwissenschaftler der Universität Klagenfurt, geht ebenfalls von diesem Gleichklang schulischer und universitärer Didaktik aus und stellt dazu programmatisch fest: „Seit den 60er Jahren stellt das Verlangen nach Ausrichtung des schulischen und universitären Literaturunterrichts an gesellschaftspolitischen Zielsetzungen auch heute noch eine der Hauptforderungen dar."' 4 Nachdem er verschiedene Antworten auf diese Fragen gewogen und für zu leicht befunden hat, gibt er schließlich mit Nietzsches Satz „nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt"15 die Richtung an, die über „gesellschaftspolitische Zielsetzungen" freilich weit hinausgeht: „Inwiefern und in welcher Form unsere Welt auch gerade nach einer ästhetischen Rechtfertigung verlangt, dies zu ergründen wäre eine der vornehmsten Aufgaben einer der Literaturwissenschaft zugeordneten Didaktik."16 Hier soll nicht Kunas Begründung für die Notwendigkeit der Kunst selbst zur Debatte stehen. (Zweifelsohne enthält sein Vorschlag noch Reste einer Theodizee. Man müsste die Bedeutung des Ästhetischen wohl eher mithilfe der historischen Anthropologie ergründen.) Wichtig ist, dass Kuna hier einen Didaktikbegriff wählt, der sich nicht auf schulische Literaturdidaktik beschränkt und meiner Definition von Didaktik als einer Reflexionsinstanz der Literaturwissenschaft sehr nahe kommt. Dass Literaturdidaktik in dieser Frage auf anthropologische, kulturtheoretische und literatursoziologische Erkenntnisse angewiesen ist, scheint mir selbstverständlich zu sein. Dass sie umgekehrt auch einiges beitragen kann, diese Erkenntnisse hervorzubringen, dürfte hingegen
14 Kuna, Franz: Die Rolle der Literaturwissenschaften in der Lehrerbildung. In: "Hetze, Walter/Enzinger, Hildegard/Havranek, Gertraud u.a. (Hg.): Die Rolle der Universität in der Lehrerbildung. Wien/Köln/Graz 1988, 64. 15 Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. In: Schlechta, Karl (Hg.): Friedrich Nietzsche. Werke in drei Bänden. Bd. 1. München 196B, 40. 16 Ebd., 64.
Die Literaturwissenschaft und ihre Didaktik
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eine weniger verbreitete Einsicht sein. Doch sobald sich Literaturwissenschaft nicht mehr ausschließlich der Produktion von Literatur zuwendet, sondern auch ihre Rezeption ins Blickfeld nimmt, kann sie Literaturdidaktik als eine Art „ethnologische" Hilfswissenschaft entdecken, die ihr darüber Auskunft gibt, wie nicht-professionelle Leserinnen mit Literatur umgehen, wie sich ästhetisches Empfinden und ästhetisches Denken von Jugendlichen entwickelt und vieles andere mehr. Sich von der Literaturdidaktik inspirieren zu lassen, heißt aber auch, den Umgang der Studierenden mit Literatur als Erkenntnisquelle zu nutzen. Dann wird sich bald herausstellen, was ohnehin jede/r weiß: Man kann auch ihr Interesse an der Literaturwissenschaft nicht einfach als ein für allemal gegeben voraussetzen, sondern muss ebenfalls größten Wert darauf legen, dass sie nicht nur einen professionellen, sondern auch einen persönlichen Zugang zur Literatur finden bzw. erhalten. Eine meiner Studentinnen hat das Problem kürzlich so formuliert: „In der Schule meinen die Lehrer, sie müssen den Schülerinnen was bieten, und bemühen sich, den Literaturunterricht möglichst interessant zu machen. An der Uni hingegen denken sich die Dozenten manchmal: Ihr seid ja ohnehin da, weil ihr Literatur lernen wollt, also brauchen wir euch nicht mehr zu motivieren."17 Damit sind wir bereits bei den Aufgaben einer literaturwissenschaftlichen Hochschuldidaktik.
4. Hochschuldidaktik ist ein gemeinsames Anliegen von Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik finden in der Hochschuldidaktik ein gemeinsames Arbeitsfeld und ein gemeinsames Anliegen. Und das aus drei Gründen: 1) Wie bereits oben ausgeführt, arbeiten sie an der gleichen Gesamtaufgabe, pathetisch gesprochen eben der „ästhetischen Rechtfertigung der Welt", oder, profaner formuliert: der gesellschaftlichen und anthropologischen (im Sinne einer historischen Anthropologie) Rolle von (Sprache und) Literatur. 2) Die Ausbildung von Fachgermanistinnen und Deutschlehrerinnen verläuft, aus sachlichen wie aus Kostengründen, weitgehend parallel. Somit ist der Bereich der 17
Wintersteiner, Werner: Interview mit S. K., 18.1.2006, Universität Kiagenfurt.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
literaturwissenschaftlichen Ausbildung von Lehramtskandidatinnen das gemeinsame hochschuldidaktische Feld beider Disziplinen. Dieselben Gesichtspunkte, die den hochschuldidaktischen Überlegungen und Bemühungen der Germanistik bzw. Literaturwissenschaft zugrunde liegen, gelten auch für die Ausbildung von Lehrerinnen: - Schriftkultur: Lesen und seine Funktionen - als allgemeinster Ausgangspunkt von Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik, - Erörterung des (gesellschaftlichen und persönlichen) Wozu der Beschäftigung mit Literatur, - Diskussion der Rolle der Literatur, speziell in der Mediengesellschaft, - Grundlegende Methoden und Verfahrensweisen und ihre jeweilige Reichweite, - Aneignung eines Stocks an Basiswissen von und über Werke (Kanon, Literaturgeschichte). Es handelt sich um grundlegende Fragen und basale Kompetenzen, vor allem um die Kompetenz, diese Fragen sozusagen „von außen" zu stellen, d.h. die Reflexionsfähigkeit über den eigenen Forschungs- und Arbeitsbereich herzustellen. Dazu genügt es nicht, dass diese Themen im Laufe der Ausbildung vorkommen, entscheidend ist, wie sie vorkommen, ob ihrer Erörterung genug Platz eingeräumt wird und ob die Studierenden Gelegenheit bekommen, diese Grundlagen zu problematisieren. Diese Gemeinsamkeiten zu postulieren heißt nicht, dass alle Aufgaben für beide Disziplinen die gleichen wären. Für die Zwecke der (schulischen) Literaturdidaktik sind zum Beispiel einige Bereiche besonders relevant, die es für andere Literaturwissenschaftlerlnnen vielleicht auch sein können, aber nicht zwingend sein müssen (wobei die Vorstellung zurückzuweisen ist, dass Themen deshalb, weil für Literaturdidaktik wichtig, für andere automatisch nicht wichtig wären). Diese Bereiche ergeben sich, wie die gesamte Literaturdidaktik, aus dem Zusammenspiel dreier Faktoren: a) der Sache: die Literatur, b) der Adressatinnen: Kinder und Jugendliche, c) der Ziele: Literatur (ästhetische Bildung) als Persönlichkeits- und politische Bildung. Ausgehend davon wird für (künftige) Lehrkräfte besonders der Bereich der literarischen Sozialisation relevant: -
Lesen und literarische Sozialisation von Kindern und Jugendlichen,
-
Kenntnisse über Kinder- und Jugendliteratur,
-
„Umgangsformen" mit Literatur und Methoden der Literaturvermittlung,
-
Intermedialität und Interkulturalität als die wesentlichsten Rahmenbedingungen sowohl heutiger literarischer Sozialisation wie heutigen literarischen Lebens.
Die Literaturwissenschaft und ihre Didaktik
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Hinzu kommt noch ein Aspekt, der meist zu wenig berücksichtigt wird: Das Wie - das heißt, der universitäre Umgang mit Literatur - ist ein entscheidender Faktor für die eigene Fähigkeit der künftigen Lehrkräfte, Literatur zu vermitteln. Neben den eigenen Schul-Erlebnissen, die (wie ich mich in zahlreichen Gesprächen mit meinen Studentinnen überzeugen konnte) einen unglaublich langfristig prägenden Einfluss ausüben,18 wirkt besonders die Art der universitären Literaturvermittlung als „heimlicher Lehrplan". Die Art, wie im Seminar Literatur präsentiert, interpretiert und diskutiert wird, wirkt als Muster, als „Methodenvorrat" für die künftige schulische Arbeit der Lehramtsstudierenden. Je vielfältiger die Formen des universitären Umgangs mit Texten sind, desto lebendiger, so steht zu hoffen, wird auch der schulische Umgang sein. Von da her hat Literaturdidaktik ein elementares Interesse an einer guten Hochschuldidaktik gerade in den „nicht-didaktischen" literaturwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen. 3) Schließlich wird die Literaturdidaktik mit ihren speziellen Kompetenzen als Impulsgeberin für literaturwissenschaftliche Hochschuldidaktik gesehen. Ganz in diesem Sinne meint der Literaturwissenschaftler Johann Holzner: „Die Deutschdidaktik hat sich keineswegs nur als Mittler zwischen den Universitäten und Schulen zu bewähren; es muss auch weiterhin eine ihrer Hauptaufgaben sein, Simulator zu bleiben für die Germanistik und das gesamte Lehramtsstudium." 19 Mit Holzner, aber vielleicht noch etwas deutlicher, könnte man sagen, dass diese Maxime nicht nur auf das Lehramtsstudium, sondern auf das Literaturstudium insgesamt gemünzt ist. Das reichhaltige Methodenspektrum, das die Literaturdidaktik in den letzten Jahren entwickelt (oder wieder entdeckt) hat, nicht zuletzt die Kombination von analytischen und produktiven Verfahren, könnte mit Gewinn auch auf universitärem Niveau eingesetzt werden (siehe unten).
5. Abwehrkämpfe und Annäherungen Trotz dieser zutage liegenden Affinitäten hat die Kooperation keineswegs immer so geklappt wie gewünscht. Während heute - z.B. im Rahmen der Österreichischen Ge-
18 So hat sich zum Beispiel zu meiner Verblüffung immer wieder gezeigt, dass die Vorstellungen der Studierenden von einem schulischen Literatur-Kanon wesentlich stärker von ihren eigenen schulischen Erfahrungen geprägt sind als von den Kenntnissen, die sie im Laufe ihres Literaturstudiums erworben haben. 19 Holzner, Johann: Deutschdidaktik: Stimulator für die Germanistik. In: Stimulus (2003), Themenheft: Deutsch - Didaktik - Dialog, 13.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
sellschaft für Germanistik - die Fachdidaktik voll integriert und anerkannt ist, ist die Geschichte der Beziehung von (germanistischer) Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik auch eine Geschichte von Missverständnissen, Gleichgültigkeit, Abwehr und Schuldzuweisungen. Diesen, nicht immer produktiven, Auseinandersetzungen scheint auch die Hochschuldidaktik weitgehend zum Opfer gefallen zu sein. Ein wesentliches Objekt von zahlreichen Scharmützeln im jahrzehntelangen „Didaktik-Streit" der 1970er und 1980er Jahre war die Frage, in welchem Verhältnis Germanistik, Deutschdidaktik und Pädagogik zueinander stehen. Dabei wird man vielleicht eine erste Phase unterscheiden, in der man meinte, diese Beziehungsfrage durch ein schlichtes „Wir haben miteinander nichts zu tun" lösen zu können. Das wurde begründet mit der These vom Primat der fachlichen Ausbildung, die de facto die Einheit von universitärem und schulischem Literaturunterricht unterstellt. Es mag vielleicht einen historischen Moment dieser Einheit gegeben haben, als die Inhalte der Germanistik auch Inhalte des Deutschunterrichts waren und die Methodik der germanistischen Universitätslehre das Muster für schulischen Deutsch- bzw. Literaturunterricht darstellte. Im Bewusstsein der Deutschdidaktik war das das 19. Jahrhundert. Im Bewusstsein mancher Vertreter der Germanistik hat dieses „goldene Zeitalter" wesentlich länger gedauert: Karl Otto Conrady hat vor gerade einmal 30 Jahren postuliert, dass sich an dieser Einheit nie etwas geändert habe, als er in seiner Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft meinte: „Die Universität hat nicht die Aufgabe, die Studenten als Lehrer auszubilden, sondern sie Wissenschaft zu lehren. Das ist nicht widersinnig, sondern im Gegenteil die einzig sinnvolle Vorbereitung auf den Beruf. [...] Fragen der Didaktik im weitesten Sinne können erst dann fruchtbar werden, wenn zuvor die Sache selbst [...] erkannt worden ist. Wer anderes wünscht, sollte die Konsequenzen ziehen und eine Fachschule für die Ausbildung von Studienräten fordern und sollte die Notwendigkeit wissenschaftlicher Vorbildung für diesen Beruf bestreiten."20 Meines Erachtens verabsolutiert Conrady hier einen an sich richtigen Gedanken - nämlich dass es sinnvollerweise keine Literaturdidaktik ohne gründliche Beschäftigung mit Literaturwissenschaft geben kann, also Punkt a) in meiner obigen Triade. Aus genau diesem Grunde trägt die in Klagenfurt herausgegebene DeutschdidaktikZeitschrift ide seit ihrer Gründung den Untertitel Zeitschrift für den deutschunterricht in Wissenschaft und schule. Dennoch stellt die Literaturwissenschaft keineswegs „die
20 Conrady, Karl Otto, zit. nach Ivo, Hubert: Zur Wissenschaftlichkeit der Didaktik der deutschen Sprache und Literatur. Frankfurt am Main 1977, 81f.
Die Literaturwissenschaft und ihre Didaktik
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einzig sinnvolle Vorbereitung auf den Beruf" dar. Ebenso unverzichtbar sind b), die Zielgruppe (Kinder und Jugendliche), und das Ziel c), die normativen Vorgaben literarästhetischer Bildung. Es leuchtet ein, dass künftige Lehrkräfte für alle drei Aspekte der einen Aufgabe eine wissenschaftliche Ausbildung benötigen. Conrady hingegen konstruiert einen Gegensatz zwischen der Ausbildung zum Lehrberuf und zur/zum Wissenschaftlerln, den er allerdings gleich wieder als relativ irrelevant erklärt, wenn er die (fach)wissenschaftliche Ausbildung als die für ihn einzige universitäre Aufgabe darstellt. Eine pädagogisch-wissenschaftliche Ausbildung oder gar eine wissenschaftliche Fachdidaktik kann er sich nicht vorstellen. Wie man sieht, legt Conrady seinem Argument einen sehr reduzierten Begriff von Didaktik zugrunde, als etwas, das mit dem „Erkennen der Sache selbst" nichts zu tun hat, sondern danach äußerlich hinzutritt. Genau das ist aber der Irrtum. Auch noch in den 1980er Jahren war in Österreich die Frage, welche Rolle der Fachdidaktik zukommt, umstritten. Dabei entwickelte sich im Wesentlichen folgende Konfliktkonstellation: Während die Germanistik gegen eine inhaltsneutrale bzw. inhaltsleere Pädagogik bzw. Didaktik zu Felde zog und unbeirrbar auf der Abhängigkeit der Lernmöglichkeiten von den jeweiligen Gegenständen, ihren Inhalten und Strukturen, bestand, stellte sich für die Vertreterinnen von Pädagogik und Didaktik das Szenario wie folgt vor: Eine pädagogisch verantwortungsvolle und lebensnahe Didaktik bzw. Pädagogik belagern und bekämpfen den Elfenbeinturm der immanenten Wissenschaft, in dem die verstaubten Bildungsgüter einer ausgedienten Vergangenheit lagern. Man muss hinzufügen: Es geht ihnen keineswegs darum, diesen Schatz zu erobern, sondern vielmehr ist ihr Anliegen, ihn ein für allemal zu zerstören. Der blinde Fleck der damaligen Scharmützel scheint die Hochschuldidaktik geblieben zu sein, obwohl man - aus heutiger Perspektive betrachtet - doch sehr nahe an der Frage dran war. So formuliert z.B. Wendelin Schmidt-Dengler (1988) auf einer Tagung über „Fachdidaktik in der Lehrerbildung", in der er sich entschieden gegen eine „allgemeine", d.h. von den zu vermittelnden Inhalten abstrahierende Didaktik verwahrt, einen Anspruch an die literaturwissenschaftliche Ausbildung, die er - im Gegensatz zu Conrady - gleichzeitig sehr konkret auch auf die Anforderungen des Lehrberufs bezieht, der „für den akademischen Lehrer wie für den Lehrer der Allgemeinbildenden Höheren Schule" 21 gilt. „Schließlich wäre durch das Studium etwas
21
Schmidt-Dengler, Wendelin: Von der Erheblichkeit des Unerheblichen. Zum gespannten Verhältnis von Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik. In: Tietze, Walter/Enzinger, Hildegard/Havranek, Gertraud u.a. (Hg.): Die Rolle der Universität in der Lehrerbildung. Wien/Köln/Graz 1988 (= Bildungswissenschaftliche Fortbildungstagungen an der Universität Klagenfurt Bd. 6), 19.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
zu vermitteln, das den Studenten diskursfähig in Sachen Literatur macht, das ihm die Fähigkeit gibt, sich etwas anzuarbeiten, was dem Nicht-Fachmann nicht oder nur schwer möglich ist. Gerade der Literaturlehrer sieht sich in permanenter Konfrontation mit anderen, die auch, aber nicht als Fachleute, am Diskurs Literatur partizipieren. [...] Es ist vor allem die Reaktionsfähigkeit des Studierenden auf Texte, auf sprachlich Geformtes zu schulen, er ist dahingehend diskursfähig zu machen [...], daß er auf Texte reagieren kann, seine Reaktion begründen lernt und argumentativ dafür eintritt."22 Schmidt-Dengler betont, dass die literarwissenschaftliche Beschäftigung nicht identisch ist mit dem - natürlich genauso legitimen - laienhaften Umgang mit Literatur. Und ihm ist zuzustimmen, dass dieses professionelle Wissen und Können für künftige Lehrkräfte ebenso wichtig ist wie für alle anderen literaturwissenschaftlichen Berufe, auch wenn es für Lehrkräfte mehr die Voraussetzung für ihren Beruf darstellt als ihren Beruf selbst ausmacht. Er vertritt damit eine Position, die auch der Schriftsteller Milan Kundera (allerdings in einer starken Überspitzung) einfordert. Aufgabe der Wissenschaft sei nicht so sehr das Erklären des Textes für Laien (was der Schriftsteller als unnötige Zwischeninstanz zwischen Buch und Leserin interpretiert) als vielmehr die Beschreibung seiner Funktion im (autonom gedachten) Universum der Literatur: „Um ein Kunstwerk zu verstehen, braucht man keinen Spezialisten. Jedermann, ist er nicht dumm oder unsensibel, kann Madame Bovary oder Das Schloß verstehen, und deshalb verärgern uns Fachleute so sehr, die zu erklären versuchen, was der Dichter sagen wollte. Im Gegensatz dazu sind Kenntnisse und höchste Kompetenz nötig, um den Wert eines Werks zu erfassen, und deshalb verärgern uns Dilettanten noch mehr, die gern ohne die geringste Bescheidenheit Werturteile von sich geben. Definiert man den Wert eines Romans oder eines Films, so versucht man zu erfassen, was diese an Neuem, Unersetzlichem brachten, welche bislang unbekannten Aspekte der Existenz sie entdeckten. Betrachten wir den Kritiker also als Entdecker von Entdeckungen [Hervorhebung im Original]."23 Um die angesprochene „Reaktionsfähigkeit auf Texte" zu erlernen, ist laut Schmidt-Dengler zweierlei nötig: -
inhaltliche Kompetenz in Bezug auf literarische Formen und Entwicklungen, was auch eine bestimmte wissenschaftliche Terminologie einschließt,
-
„historische Analysefähigkeit" von Texten, was ein Überblickswissen und eine
22
Ebd., 20.
23
Kundera, Milan: Über die Kritik. In: Lettre international 2 (1988), 95.
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Gesamtschau (Kanon, Literaturlisten) erfordert, wobei man sich gleichzeitig der Problematik jeder literarhistorischen Einteilung bewusstsein muss. Damit ist bereits ein hochschuldidaktisches Programm skizziert, das aber als solches nicht weiter verfolgt wird, da bei Didaktik fast immer nur an (schulische) Fachdidaktik gedacht wird. „Wer heute Germanistik an einer Universität unterrichtet, hat es mit dieser .Bifurkation' zu tun, die auf beiden Seiten zu einem sehr frühen Einverständnis mit der déformation professionelle [sie] führt: Hier die Forscherpersönlichkeit, die sich um den Preis der Wirkungslosigkeit in der Lehre den Ruhm des Spezialisten einhandelt, dort die Lehrerpersönlichkeit, die mit dem Alltag fertig werden muß und sich von den Ergebnissen des allenfalls vorhandenen wissenschaftlichen Fortschritts nur im Bedarfsfalle berühren läßt."24 Was bei der „Bifurkation" Hochschule - Schule aus dem Blick gerät, ist die Tatsache, dass die Gefahr dieser déformation professionnelle auch für die universitäre Arbeit selbst gilt. Auch an den Universitäten finden sich die beiden von Schmidt-Dengler karikierend vorgeführten Prototypen, der Forschende ohne Interesse an der Lehre und der Lehrende ohne wissenschaftliche Ambitionen. Natürlich gilt gerade für das akademische Leben das Ideal der forschungsgeleiteten Lehre. Es sollte darum gehen, auf Qualität der Lehre Wert zu legen, ohne deswegen den wissenschaftlichen Fortschritt zu vernachlässigen. Dazu aber bedarf es eines hochschuldidaktischen Diskurses, den es hierzulande offenbar erst anzuregen und zu etablieren gilt. (Nicht nur) bei den „Spielräumen der Gegenwartsliteratur" werden, das muss ich selbstkritisch einbekennen, über „Dichterstuben", „Messehallen" und „Klassenzimmern" die Hörsäle mitunter glatt vergessen.25
6. Gemeinsame Wege. Eine kleine Road Map Die Neugestaltung der universitären Studien entsprechend der Bologna-Architektur gibt einen zusätzlichen Anlass, nicht nur über neue Inhalte der Bakkalaureats- und Magister-Studien nachzudenken, sondern die Reflexion auch auf die Methodik der
24 Schmidt-Dengler, Wendelin: Für die Theorie bei der Praxis Rat holen. Zum Verhältnis von Fachdidaktik und Fachwissenschaft. In: Stimulus 1995, H. 2, 7. 25 Vgl. Aspetsberger, Friedbert/Wintersteiner, Werner (Hg.): Spielräume der Gegenwartsliteratur. Dichterstube - Messehalle - Klassenzimmer. Innsbruck/Wien 1999 (= Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde Bd. 9).
32
1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
Lehre zu erstrecken. Ich mahne fünf Gesichtspunkte inhaltlicher wie methodischer Natur ein, die an den einzelnen Universitäten Österreichs wohl unterschiedlich realisiert sind: -
Methodenpluralismus im Umgang mit Literatur in den Lehrveranstaltungen selbst (aus den oben genannten Gründen),
-
Verbindung von literarischer Produktion und Rezeption, nicht um Germanistinnen zu Dichterinnen auszubilden, sondern um eine zusätzliche Möglichkeit der Annäherung an Texte zu erschließen,
-
mehr Reflexionswissen und Reflexionskapazität durch Erhöhung des Anteils an literaturtheoretischen Lehrveranstaltungen, um relevante und aktuelle Antworten auf die Frage nach der „Notwendigkeit der Kunst" 26 geben zu können,
-
Literatur im medialen und gesellschaftlichen Gesamtgefüge: Auch wenn die Pläne der 1970er Jahre, die Literaturwissenschaft in einer allgemeinen Medienwissenschaft aufgehen zu lassen, nicht verwirklichbar waren, muss es der Anspruch der Literaturwissenschaften selbst sein, ihren Platz in einer allgemeinen Medientheorie zu bestimmen,
-
deutschsprachige Literatur in einer mehrsprachigen Gesellschaft: Ich behaupte, dass die germanistische Literaturwissenschaft heute nur mehr germanistische Literaturwissenschaft sein kann, wenn sie als Aspekt einer allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft betrieben wird. 27
Was die Methodik der Lehrveranstaltungen im Detail betrifft, so üben wohl auch die neuen Medien einen gewissen Innovationsdruck aus. Computer und Internet erlauben optisch aufbereitete, mit viel Bildmaterial versehene Vorträge und sie bieten auch die Chance auf interaktive Kommunikation zwischen Lehrenden und Studierenden innerhalb und außerhalb der Lehrveranstaltung. Und wie immer werden aus neuen Möglichkeiten bald neue Notwendigkeiten. Sobald neue Präsentations- und Kommunikationsformen leicht eingesetzt werden können, steigt die Erwartung, dass sie auch eingesetzt werden. Das ist in der Hochschule nicht anders als in der Schule. Ein paar Beispiele sollen die (bisher) kaum wahrgenommene Chance, die Gemeinsamkeiten zwischen schulischer und universitärer Literaturdidaktik zu bearbeiten, abschließend illustrieren.
26
Fischer, Ernst: Von der Notwendigkeit der Kunst. Frankfurt am Main 1985.
27
Vgl. Wintersteiner, Werner: Poetik der Verschiedenheit. Literatur, Bildung, Globalisierung. 2006.
Klagenfurt
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Die Literaturwissenschaft und ihre Didaktik
6.1. Literaturwissenschaft als empirische
Rezeptionsforschung
Die Cultural Studies haben nicht nur zu einer Erweiterung des Kulturbegriffs beigetragen, sie haben auch die Leistungsfähigkeit der in den Literaturwissenschaften stark vernachlässigten Rezeptionsforschung demonstriert. So findet sich im Sammelband mit der bangen Frage Wozu noch Germanistik?2S erst ganz am Ende ein eigenes Kapitel „Germanistik als Kulturarbeit. Bericht über Projekte". Dort ist von Literatur in der Erwachsenenbildung die Rede, von der Schreibbewegung und von Jugendkulturen und Jugendkulturarbeit. In diesem vermutlich kaum beachteten kurzen Kapitel werden aber genau die Fragen gestellt, die auch hochschuldidaktisch relevant wären: Wie gehen die Rezipientlnnen mit den Texten um? Was passiert mit ihnen? Wie eignen sie sich die Texte an? Was machen sie daraus? Welche Bedeutung hat das für ihr Leben? Ich bin der Meinung, dass es in jedem Literaturstudium Raum dafür geben muss, dass sich die Studierenden diese Fragen selbst stellen, einfach, um für Fragen der Literatursoziologie und Literaturanthropologie eine größere Sensibilität zu erlangen. Darüber hinaus wäre es interessant, Rezeptionsforschungsprojekte mit literaturdidaktischen Intentionen zu realisieren. Die Leserezeption von Jugendlichen in ihrer Freizeit wird seit einiger Zeit erforscht, ihre Rezeption im institutionalisierten Kontext der Schule scheint aber nach wie vor ein wenig beachtetes Kapitel zu sein (vgl. Wintersteiner, 1991 und 1996). Am spannendsten scheinen Projekte zu sein, bei denen universitärer und schulischer Literaturunterricht miteinander verglichen werden, wie bei einem Projekt an der Universität Klagenfurt, an dem sich Literaturwissenschaftlerlnnen unterschiedlicher Fächer beteiligten (vgl. Delanoy u.a., 1996). Ein Blick auf die Forschungslage zeigt, dass die deutschsprachige Literaturdidaktik dabei viel von der fremdsprachlichen Literaturdidaktik lernen kann (vgl. Legutke u.a., 2002 oder Bredeila u.a., 2004). Denn hier wird „Theorie und Praxis als Dialog" konzipiert (vgl. Delanoy, 2002).
6.2. „Literarische Geselligkeit" als Einheit von Produktion und Rezeption Die Literaturdidaktik argumentiert, in ihren besten Argumenten, literaturwissenschaftlich. Gundel Mattenklott rekapituliert in ihrem Buch „Literarische Geselligkeit und Schreiben in der Schule" (1979) jene historische Phase der deutschen Öffentlichkeit, in der ein kleiner, aber hochaktiver und gesellschaftlich relevanter Kreis von Litera-
28 Förster, Jürgen/Neuland, Eva/Rupp, Gerhard (Hg.): Wozu noch Germanistik? Wissenschaft, Beruf, Kulturelle Praxis. Stuttgart 1989.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
tlnnen-Rezipientlnnen eine bestimmte Art von „literarischer Geselligkeit" herstellte: die lesenden Produzentinnen, mit geschultem Blick und einem gesellschaftlichen Anliegen. Mattenklotts literaturdidaktisches Programm orientiert sich an dieser Verbindung von eigenem Schreiben und kritischer Lektüre. Sie möchte dieses Modell in die Schule und Unterrichtssituation übertragen, zugleich aber auch an den Universitäten realisiert wissen. Seither hat der „Produktive Literaturunterricht" in den Klassenzimmern einen Siegeszug gefeiert, während er - meiner Beobachtung nach - an den Universitäten immer noch auf Misstrauen stößt. Offenbar sieht man in produktiven Verfahren eher eine Spielwiese, eine Vorbereitung auf die ernstere und eigentliche Aufgabe der Interpretation. Dass literarische Produktion (z.B. Kontrafaktur, Überarbeitung, Inszenierung, Verfremdung) aber eine Methode der Interpretation sein kann, haben vor allem die Arbeiten von Günter Waldmann deutlich nachgewiesen (vgl. Waldmann, 1984, 1988, 1992). Ich sehe keinen sachlichen Grund, dieses Potenzial nicht auch hochschuldidaktisch stärker zu nutzen.
6.3. Literaturdidaktik
transdisziplinär,
multimedial,
interkulturell
Es besteht, speziell für die schulische Literaturdidaktik, ein dringendes Bedürfnis nach einem doppelten Paradigmenwechsel im Umgang mit Literatur: -
Statt der Beschränkung auf „Schöne Literatur", wie sie de facto nach wie vor vorherrscht, sollte eine interdisziplinäre und intermediale Betrachtung erfolgen, die die „ästhetische Rechtfertigung der Welt" im Sinne Kunas in den Mittelpunkt stellt und dabei besonders die heute veränderte Rolle von Literatur in der gesamten kulturellen Landschaft beleuchtet.
-
Statt der immer noch gegebenen Einteilung der Literaturen nach nationalen Kriterien sollte eine transkulturelle Sichtweise Einzug halten, wie sie von einer interkulturellen Germanistik zwar ansatzweise geleistet wird, aber wohl eher bei einer modernen Komparatistik zu finden ist. Es gibt zweifelsohne literaturdidaktische Ansätze, doch solange diese querstehen zu einer an der Nationalliteratur orientierten Literaturwissenschaft, wird sich im Bewusstsein der Studierenden nicht viel ändern.
6.4. Literarhistorie.
Überblickswissen
versus Erhaltung
der
Komplexität
Ein entscheidendes Feld der Konvergenz zwischen Universität und Schule ist das Gebiet der Literaturgeschichte. Zu Recht hält Hannes Höller fest, dass deren problematische Existenz sich hauptsächlich aus didaktischen Gründen rechtfertigt: „Literatur-
Die Literaturwissenschaft und ihre Didaktik
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geschichten sind Konstruktionen, aus verschiedenen Absichten und zu verschiedenen Zwecken geschrieben, die, denkt man die lang dominierende deutschnationale Literaturgeschichtsschreibung, meist nicht die besten waren. Trotzdem wird niemand in der Schule auf Literaturgeschichte verzichten wollen, und die didaktische Verwendung der Literaturgeschichte ist sowieso die plausibelste und fruchtbarste."29 Selbstverständlich erstreckt sich diese „didaktische Verwendung" auch auf den universitären Bereich. Je problematisierender die künftigen Lehrkräfte bereits in ihrem Studium an Fragen der Literarhistorie herangegangen sind, desto eher werden sie sich hüten, in den Schulen bloß die platten Ergebnisse literaturgeschichtlicher Festschreibungen zu präsentieren, statt ihr aufregendes Zustandekommen und die unvermeidlichen Differenzen und Kontroversen um sie darzustellen. So wie es bei der Diskussion von Texten nicht um die Interpretation als Produkt, sondern um das Interpretieren als geistigen Akt gehen sollte, so müsste es bei der Literaturgeschichte nicht um das Geschriebene, sondern - in Ansätzen - auch um das Schreiben gehen, um das Nachdenken über Parallelen, Zusammenhänge und Kategorien. Ohne die Schwierigkeiten schulischer Literaturvermittlung unterschätzen zu wollen, vermag ich doch hier nur graduelle, nicht prinzipielle Unterschiede zwischen den Aufgaben schulischer und universitärer Literaturdidaktik zu erkennen. Mit diesem Punkt schließe ich meine Andeutungen und Annäherungen. Es bleibt wohl hervorzuheben, dass die eigentliche Aufgabe damit kaum benannt, geschweige denn getan ist. Sie besteht darin, einen wissenschaftlichen Diskurs über die Praxis der Hochschuldidaktik, vor allem auch über die konkreten Inhalte, Methoden und Erfahrungen in den Vorlesungen, Proseminaren, Seminaren, Workshops und anderen Kursen, in Österreich überhaupt erst zu eröffnen. Literatur Altrichter, Herbert/Fischer, Roland/Posch, Peter u.a. (Hg.): Fachdidaktik in der Lehrerbildung. Wien 1983 (= Bildungswissenschaftliche Fortbildungstagungen an der Universität Klagenfurt Bd. 2). Amann, Klaus/Lengauer, Hubert: Unvorgreifliche Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der Literaturdidaktik. In: Altrichter, Herbert/Fischer, Roland/ Posch, Peter u.a.: Fachdidaktik in der Lehrerbildung. Wien 1983 (= Bildungswissenschaftliche Fortbildungstagungen an der Universität Klagenfurt Bd. 2), 41^16.
29
Hölier, Hannes: Die entscheidenden sechziger Jahre. Thomas Bernhards Werk in der österreichischen Literaturgeschichte nach 1945. In: informationen zur deutschdidaktik (ide) 4 (2005), 11.
36
1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
Aspetsberger, Friedbert/Wintersteiner, Werner (Hg.): Spielräume der Gegenwartsliteratur. Dichterstube - Messehalle - Klassenzimmer. Innsbruck/Wien 1999 (= Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde Bd. 9). Benjamin, Walter: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft. In: TiedemannBartels, Hella (Hg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Bd. III. Frankfurt am Main 1972,283-290. Bentfeld, Anne/Delabar, Walter (Hg.): Perspektiven der Germanistik. Neue Ansichten zu einem alten Problem. Opladen 1997. Bredeila, Lothar/Delanoy, Werner/Surkamp, Carola (Hg.): Literaturdidaktik im Dialog. Tübingen 2004. Burdorf, Dieter: Literatur studieren, ohne sich zu verlieren. Einige Orientierungspunkte. In: Lecke, Bodo (Hg.): Literaturstudium und Deutschunterricht auf neuen Wegen. Frankfurt am Main 1996 (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts Bd. 27), 19-34. Delanoy, Werner: Fremdsprachlicher Literaturunterricht. Theorie und Praxis als Dialog. Tübingen 2002. Delanoy, Werner/Rabenstein, Helga/Wintersteiner, Werner (Hg.): Lesarten. Literaturdidaktik im interdisziplinären Vergleich. Innsbruck/Wien 1996. Fischer, Ernst: Von der Notwendigkeit der Kunst. Frankfurt am Main 1985. Förster, Jürgen/Neuland, Eva/Rupp, Gerhard (Hg.): Wozu noch Germanistik? Wissenschaft, Beruf, Kulturelle Praxis. Stuttgart 1989. Glöckel, Hans: Didaktik/Methodik. CD-ROM der Pädagogik. Baltmannsweiler 1996. Hansel, Dagmar: Prinzipien für die Reform der Lehrerbildung, verdeutlicht an einem Reformprojekt der Universität Bielefeld. In: Beiträge zur Lehrerbildung 2 (1994), 197-205. Holzner, Johann: Deutschdidaktik: Simulator für die Germanistik. In: Stimulus (2003), Themenheft: Deutsch - Didaktik - Dialog, 13. Höller, Hannes: Die entscheidenden sechziger Jahre. Thomas Bernhards Werk in der österreichischen Literaturgeschichte nach 1945. In: Informationen zur deutschdidaktik (ide) 4 (2005), 11-19. Ivo, Hubert: Zur Wissenschaftlichkeit der Didaktik der deutschen Sprache und Literatur. Frankfurt am Main 1977. Ivo, Hubert: Blick zurück nach vorn. Zum Verhältnis von „Wissenschaftlichkeit" und „Praxisbezug" am Beispiel der Professionalisierung der Sprachdidaktik. In: Förster, Jürgen/Neuland, Eva/Rupp, Gerhard (Hg.): Wozu noch Germanistik? Wissenschaft, Beruf, Kulturelle Praxis. Stuttgart 1989, 22-37.
Die Literaturwissenschaft und ihre Didaktik
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
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Stefan Krammer (Wien)
Produktive Verschränkungen. Vom Verhältnis zwischen Deutschdidaktik und Germanistik
Mit der Konsolidierung der Deutschdidaktik als universitäre Disziplin in den 70er Jahren ist ihre Positionierung innerhalb des wissenschaftlichen Feldes keineswegs fixiert, vielmehr beginnt damit erst richtig die Diskussion darüber, was ihr Gegenstand eigentlich ist und welche Rolle sie im wissenschaftlichen Diskurs der etablierten Fächer wie der Germanistik oder der Pädagogik einnehmen kann. Vor allem hochschulpolitische Gründe mögen der Motor für die anfangs recht hitzig geführten Debatten über das eigene Selbstverständnis gewesen sein, ging es schließlich um eine strukturelle Entscheidung, sich entweder als germanistische Teildisziplin mit Akzent auf schulischem Lehren und Lernen oder als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin mit Schwerpunkt auf sprachlichem und literarischem Lehren und Lernen zu begreifen. Die Unentschlossenheit spiegelt sich in der unterschiedlichen Ansiedelung der Deutschdidaktik in den verschiedenen Universitäten des deutschsprachigen Raums, w o sie einmal der Germanistik, ein anderes Mal der Pädagogik zugeordnet wird. Der universitären Konformität, die allzu gerne Disziplinen jenseits des institutionellen Fächerkanons unter ein Dach und Fach stellt, zum Trotz, treibt die Unentschlossenheit, die dem interdisziplinären Charakter der Deutschdidaktik geschuldet ist, schließlich die Diskussion um die Selbstbestimmung als wissenschaftliche Disziplin voran. In den letzten Jahren ist die Debatte darüber, was denn die Deutschdidaktik nun wirklich zu leisten vermag, wieder laut geworden. In Handbüchern und Sammelbänden zur Literatur- und Sprachdidaktik werden erste Befunde einer jungen und heterogenen Wissenschaft, wie sie die Deutschdidaktik nun einmal ist, geliefert. Diese lassen aber keinen Zweifel darüber, dass es die Deutschdidaktik im Gefüge der universitären Fachrichtungen nach wie vor schwer hat, insbesondere was ihre Akzeptanz als wissenschaftlichen Gegenstand betrifft.1 Folgende Bemerkungen verstehen sich als Beitrag zur Standortbestimmung der Deutschdidaktik (insbesondere in Österreich), vor allem was ihr Verhältnis zur und ihre Rolle innerhalb der Germanistik betrifft. Mit Augenmerk auf die Literatur als Ge-
1
Vgl. Bredel, Ursula/Günther, Hartmut/Klotz, Peter u.a. (Hg.): Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. Band 1. Paderborn/München/Wien u.a. 2003, 11.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
genstand, der sowohl in der Literaturwissenschaft wie auch in der Didaktik verhandelt wird, soll die keineswegs unproblematische Beziehung zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaft diskutiert werden.
1. Widerspenstige Disziplinierung der Deutschdidaktik Wenn Juliane Eckhardt in ihrer Antrittsvorlesung an der Universität Paderborn im Februar 1998 die Deutschdidaktik als „wissenschaftliches Schmuddelkind" bezeichnet, das „zwischen allen (Lehr)stühlen" 2 sitzt, weil sie im universitären Fächer- und Fachbereichsspektrum keinen klar umrissenen Standort hat, dann wird die Krise, in der sich heute die Deutschdidaktik befindet, metaphorisch auf den Punkt gebracht. Die Didaktik ist zwar eine junge Wissenschaft, sie steckt aber längst nicht mehr in den Kinderschuhen. Sie ist groß geworden und muss sich langsam als das profilieren, was sie seit ihren Anfängen programmatisch verspricht. Durch die Sozialisation im universitären Umfeld fehlt es nicht an wissenschaftlichen Vorbildern und Bezugspunkten. Dabei sind an erster Stelle die Germanistik und die Pädagogik als Fachrichtungen zu nennen, die der Didaktik nicht nur institutionell Unterschlupf bieten, sondern sie auch in theoretischer Hinsicht stimulieren. Um allerdings nicht im Schatten dieser etablierten Wissenschaften stehen zu bleiben, sind die Autonomiebestrebungen der Fachdidaktik verständlich. So tritt beispielsweise Peter Posch für eine institutionelle Trennung von Fachdidaktik und Fachwissenschaften ein, weil sich die Fachdidaktik erst durch organisatorische Trennung von den fachwissenschaftlichen Instituten zu emanzipieren vermag: „Wesentlich für die Entwicklung der Fachdidaktik scheint daher die institutionelle Verselbständigung der Fachdidaktik und damit die Zuerkennung akademischer Rechte und Ressourcen für die Fachdidaktik zu sein. [...] Zusammenarbeit mit den Fachwissenschaften wird dadurch nicht unmöglich, aber sie geschieht zwischen gleichberechtigten Partnern." 3 Eine derartige Argumentation ist allein strategisch im Zusammenhang mit hochschulpolitischen Forderungen der Fachdidaktik zu verstehen: denn mit der eigenständigen institutionellen Verankerung der Fachdidaktik an der Universität würden sich auch der Status, die personelle Lage und die Arbeitsbedingungen für fachdidaktische Forschung und Lehre wesentlich verbessern.
2
Vgl. Eckhardt, Juliane: Die germanistische Didaktik: Ein wissenschaftliches „Schmuddelkind" zwischen allen (Lehr)stühlen. Paderborn 1998 (= Paderborner Universitätsreden Bd. 61), 6.
3
Posch, Peter: Fachdidaktik in der Lehrerbildung. In: Altrichter, Herbert/Fischer, Roland/Posch, Peter u.a. (Hg.): Fachdidaktik in der Lehrerbildung. Wien/Köln/Graz 1983, 3 1 - 3 2 .
Produktive Verschränkungen
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Ob die institutionelle Trennung zwischen Fachwissenschaft und Didaktik dem Gegenstand, den Inhalten und Methoden des Faches wirklich dienlich ist, ist allerdings zu bezweifeln. Die inhaltlichen Bedürfnisse des Dialogs zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaft, die in einem institutionellen Rahmen leicht befriedigt werden können, werden dabei allzu gerne übersehen. Denn was ist schließlich eine Fachdidaktik ohne ihr Fach? Der propagierte Abnabelungsprozess der Fachdidaktik führt vor allem eines vor Augen: die Identitätskrise, in der die Deutschdidaktik steckt. Will sie sich nicht weiterhin durch die Fachwissenschaften disziplinieren lassen, muss sie sich als eigene Disziplin profilieren. Die Zwischenposition innerhalb der Fachwissenschaften macht es der Deutschdidaktik dabei nicht gerade leicht. Als Tumult bezeichnet Cornelia Rosebrock diese Stellung der Deutschdidaktik zwischen den (Lehr-)Stühlen, denn als bewegte Form der Unordnung entsteht er dort, wo im Feld der Wissenschaften die Normierungen des Diskurses noch nicht disziplinar stabilisiert beziehungsweise diszipliniert sind. Die Vielstimmigkeit, mit der aus unterschiedlichsten Perspektiven und vor verschiedenen Horizonten die Identität der Deutschdidaktik proklamiert und konstruiert wird, kann aber als Bereicherung gewertet werden, weil dadurch ein Paradigmenwechsel eingeleitet wird, der als Ausgangspunkt der Neukonstitution eines disziplinaren Selbstverständnisses vonnöten ist.4 Ähnlich positiv bewertet Werner Wintersteiner die Position der Deutschdidaktik als „das institutionalisierte Dazwischen" 5 . Die sachlich bedingte und unaufhebbare Zwischenposition der Deutschdidaktik, wie unkomfortabel sie auch manchmal zu sein scheint, birgt seines Erachtens große Chancen für das Fach selbst, weil dadurch dynamische Prozesse in Gang gesetzt werden, die für einen spannenden wissenschaftlichen Diskurs unabdingbar sind. Die Gefahr besteht dabei allerdings, dass der Deutschdidaktik allein eine Mittlerrolle zugewiesen wird, indem sie gemeinsame Reflexionen und Kooperationen von Disziplinen, die wissenschaftsorganisatorisch getrennt sind, zwar anregt, am geführten wissenschaftlichen Dialog allerdings nicht mehr teilnimmt. Der Versuch, die Deutschdidaktik als eine Integrationswissenschaft, welche die etablierten Bezugswissenschaften zusammenführt, zu modellieren, 6 greift daher sicherlich zu kurz. Die Fachdidaktik müsste über ihre 4
Vgl. Rosebrock, Cornelia: Einleitung. In: Rosebrock, Cornelia/Fix, Martin (Hg.): Tumulte. Deutschdidaktik zwischen den Stühlen. Baltmannsweiler 2001 (= Diskussionsforum Deutsch Bd. 6), 5.
5
Wintersteiner, Werner: Immer nur Brücke und Scharnier? Zur Positionierung der Deutschdidaktik zwischen Germanistik, Pädagogik und Deutschunterricht. In: Stimulus (2004), Themenheft: Deutsch - Didaktik - Dialog, 14.
6
Vgl. Ivo, Hubert: Zur Wissenschaftlichkeit der Didaktik und der deutschen Sprache und Literatur. Vorüberlegungen zu einer „Fachunterrichtswissenschaft". Frankfurt am Main/Berlin/München 1977, 40.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
integrative Kraft hinaus eigene theoretische Positionen beziehen oder - um es mit Jakob Ossner zu sagen - einen eigenen „Denkstil" 7 entwickeln, um sich in der Welt der Wissenschaft durch aktive Teilnahme an dieser behaupten zu können. Zumindest ist es der Deutschdidaktik gemäß den wissenschaftlichen Gepflogenheiten gelungen, mit fachdidaktischen Zeitschriften8, Handbüchern 9 und Symposien10 auf sich aufmerksam zu machen, ihre Position zu stärken und den wissenschaftlichen Diskurs voranzutreiben. Es wäre wohl zu viel verlangt, dadurch bereits eine Einigung über die theoretische Denkrichtung der Deutschdidaktik erzielen zu können, vielmehr sind es Vorschläge, der Deutschdidaktik eine Struktur zu verleihen und damit eine Identität zu verschaffen. Der Erfolg dieser Bemühungen wird innerhalb universitärer Systeme zumal daran gemessen, ob eine institutionelle Verankerung und Disziplinierung durch Besetzung von Lehrstühlen realisiert ist. Als Wissenschaft zwischen den Stühlen positioniert zu sein, würde ja gleichsam bedeuten, auf den begehrten Lehrstuhl verzichten zu müssen. Einige Universitäten und pädagogische Hochschulen in Deutschland müssen das nun nicht mehr, die Institutionalisierung der Deutschdidaktik mit entsprechenden Professuren" ist dort zumindest auf hochschulpolitischer Ebene geglückt. In Österreich wird als verspätete Reaktion der Entwicklungen in Deutschland und als Folge einer intensiven Diskussion, wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Tagungen und Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik geführt wird, 12 nun an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt ein nationales 13 Kompetenzzentrum
7
Vgl. Ossner, Jakob: Elemente eines Denkstils für didaktische Entscheidungen. In: Rosebrock, Cornelia/Fix, Martin (Hg.): Tumulte. Deutschdidaktik zwischen den Stühlen. Baltmannsweiler 2001 {= Diskussionsforum Deutsch Bd. 6), 17.
8
U.a. Der Deutschunterricht, Praxis Deutsch, Didaktik Deutsch und die österreichische Zeitschrift ide. Informationen zur Deutschdidaktik.
9
Insbesondere das zweibändige Handbuch zur Sprachdidaktik von Bredel, Ursula/Günther, Hartmut/Klotz, Peter u.a. (Hg.): Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. Paderborn/München/Wien u.a. 2003, das Handbuch zur Literaturdidaktik von Bogdal, Klaus-Michael/Korte, Hermann (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München 2002 sowie Kämper-van den Boogaart, Michael (Hg.): Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003.
10 Hervorzuheben sind die Tagungen des Vereins „Symposion Deutschdidaktik e.V.", der seit 1974 regelmäßig deutschdidaktische Symposien, zunächst im kleinen Kreis, nunmehr im großen Rahmen, veranstaltet. 11
Beispielsweise an der Humboldt-Universität zu Berlin, an der Universität zu Köln, an der Ludwig-Maximilians-Universität München, an der Universität Augsburg, an der Universität Bremen, an der Universität Lüneburg, an der Universität Paderborn, an der Universität Passau, an der Universität Bayreuth, an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg sowie an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
12 Vgl. dazu die letzten beiden Ausgaben des „Stimulus", der Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik, Themenhefte Deutsch - Didaktik - Dialog (2004) und Lehramt Deutsch - wohin? (2005). 13 Die unglücklich gewählte Bezeichnung „national" soll wohl unterstreichen, dasses innerhalb von Österreich nur ein solches Kompetenzzentrum geben soll.
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der Deutschdidaktik samt Professur eingerichtet. Damit wird ein wichtiger Grundstein in der Entwicklung der Deutschdidaktik in Österreich gelegt, der konstitutiv auf das Selbstverständnis des Faches wirkt. Dass diese Aufwertung der Fachdidaktik nicht nur symbolischen Charakter besitzt, bleibt allerdings zu hoffen. Aufbruchsstimmung herrschtauf jeden Fall.
2. Unausgeglichene Beziehungen: Germanistik und Deutschdidaktik Ob die Anerkennung durch derartige hochschulpolitische Maßnahmen die Deutschdidaktik in der Tat zu einer gleichwertigen Dialogpartnerin mit anderen Wissenschaften macht, wird zu beobachten sein. Denn dass das Verhältnis zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaften stark von hierarchischen Strukturen geprägt ist, lässt sich nicht verleugnen und wird am Beispiel der unausgeglichenen Beziehung zwischen Deutschdidaktik und Germanistik evident. Die Beschreibungen der Deutschdidaktik, was ihr Verhältnis zur Germanistik betrifft, reichen dabei vom „Parasiten am Baum der Erkenntnis"' 4 über ein im Schatten der Germanistik stehendes „Anhängsel"' 5 bis hin zur „kleinen Schwester der Sprach- und Literaturwissenschaft, die nur zu nehmen, nicht aber zu geben vermag"' 6 . In sprachlichen Bildern werden allzu mächtig die Machtverhältnisse benannt und dadurch auch festgelegt: Einer dominanten Germanistik steht eine untergeordnete Deutschdidaktik gegenüber. Vor allem die Personifizierung der Deutschdidaktik als „kleine Schwester" ist in ihrer sprachlichen Verfasstheit für das hierarchische Verhältnis symptomatisch. Die Trope unterstreicht zwar die verwandtschaftliche Verbindung der beiden Disziplinen, markiert aber zugleich die Unterlegenheit der Deutschdidaktik im doppelten Sinne: Sie ist nicht nur klein, sondern auch weiblich. Diese geschlechtsspezifische Zuschreibung mag einerseits grammatikalisch begründet, andererseits auch einem rhetorischen Gestus geschuldet sein, der die untergeordnete Rolle durch den Verweis auf die Funktion des „Weiblichen" innerhalb einer männlichen Hegemonie, die insbesondere in der Wissenschaft vorherrscht, unterstreicht. Die Germanistik ist hier wohl, ihrem grammatikalischen Geschlecht zum Trotz, als „großer Bru-
14 Moser, Manfred/Tietze, Walter/Zenkl, Maria: Fach und Didaktik oder Fachdidaktik. In: Altrichter, Herbert/Fischer, Roland/Posch, Peter u.a. (Hg.): Fachdidaktik in der Lehrerbildung. Wien/Köln/Graz 1983, 88. 15 Hölzer, Johann: Deutschdidaktik: Simulator für die Germanistik. In: Stimulus (2004), Themenheft: Deutsch - Didaktik - Dialog, 13. 16 Rastner, Eva Maria/Wintersteiner, Werner: Deutschdidaktik im Dialog. In: Stimulus (2004), Themenheft: Deutsch - Didaktik - Dialog, 5.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
der" zu verstehen, der in dieser Familienkonstellation das Sagen hat. Allein vor der Anhänglichkeit, die so kleine Geschwister mit sich bringen, ist Vorsicht geboten, da diese allzu schnell als lästige „Anhängsel", als „Parasiten" empfunden werden können. Demnach muss der große Bruder als strategische Schutzmaßnahme auf Segregation setzen, indem er wenig Interesse an der kleinen Schwester zeigt und sie einfach sich selbst überlässt. Vielleicht ist sie auch deswegen zum „Schmuddelkind"'7 verkommen. Für das ungleiche Verhältnis zwischen Deutschdidaktik und Germanistik mögen verschiedenste Gründe verantwortlich sein: Zum einen ist die hierarchische Struktur sicherlich historisch gewachsen. Als junge Wissenschaft mit einer Geschichte von weniger als vierzig Jahren mag sich die Deutschdidaktik wahrhaftig „klein" vorkommen, im Vergleich zu einer Germanistik, die sich bereits Anfang des 19. Jahrhunderts als selbstständige Wissenschaft und Universitätsdisziplin etablieren konnte. Damit eng verbunden ist die unterschiedliche wissenschaftliche Positionierung der Germanistik und der Deutschdidaktik. Als Sprach- und Literaturwissenschaft ist der Germanistik ihre Wissenschaftlichkeit bereits durch den Namen verliehen. Im Vergleich dazu wird der Deutschdidaktik diese abgesprochen. Insofern nimmt es nicht wunder, dass in der Literatur immer wieder auf die wissenschaftliche Deutschdidaktik verwiesen wird. Eine derartige Überbetonung lässt auf den Minderwertigkeitskomplex der Deutschdidaktik in Bezug auf ihr wissenschaftliches Selbstverständnis schließen. Den Grundstein für ein solches legt Helmers bereits 1966 mit seiner Didaktik der deutschen Sprache™, indem er mit der Ablöse der praxisorientierten Methodik durch die theoretische Didaktik ein programmatisches Zeichen setzt, das für die Wissenschaftlichkeit des Faches garantieren soll. Indem sich die Deutschdidaktik allerdings mit einem praktischen Feld, nämlich dem Deutschunterricht, beschäftigt, wird der theoretische Rahmen, innerhalb dessen sich die Fachdidaktik bewegt und der sie letztlich als Wissenschaft auszeichnet, nicht wahrgenommen. Deutschdidaktik wird nach wie vor mit Praxis assoziiert, die Theorie scheint für andere Wissenschaften, zu denen sich auch die Germanistik zählt, reserviert. In der hierarchisch strukturierten Dichotomie von Theorie und Praxis ist die Deutschdidaktik auf der schwächeren, weniger prestigeträchtigen Seite zu finden und dadurch der Germanistik klar unterlegen. Eine stärkere Positionierung der Deutschdidaktik als „praktische Wissenschaft"19, die eine Einheit zwischen Theorie
17 Vgl. Eckhardt, Die germanistische Didaktik, 6. 18 Helmers, Hermann: Didaktik der deutschen Sprache. Eine Einführung in die muttersprachliche und literarische Bildung. Darmstadt 1997. 19 Ossner, Jakob: Praktische Wissenschaft. In: Bremerich-Vos, Albert (Hg.): Handlungsfeld Deutschunterricht im Kontext. Festschrift für Hubert Ivo. Frankfurt am Main 1993, 186-199.
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und Praxis impliziert, ja voraussetzt, könnte aber zu einer Auflösung dieses hierarchischen Gefälles führen, weil sie die Binarität, die dieser Ordnung zugrunde liegt, selbst in Frage stellt. Der Mangel an wissenschaftlichem Selbstbewusstsein von Seiten der Deutschdidaktik könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass sie an vielen Universitäten - die Universität Wien sei hier exemplarisch genannt - weniger als Forschungsbereich als ein für Lehramtsstudierende spezifisches Lehrangebot wahrgenommen wird. Die universitäre Profilierung ist der Deutschdidaktik damit - zumindest in Ansätzen - vor allem im Bereich der Lehre gelungen. Seit dem neuen Studienplan, der an der Universität in Wien mit Wintersemester 2002/03 in Kraft getreten ist, müssen Lehramtsstudierende immerhin dreizehn Semesterwochenstunden an fachdidaktischen Lehrveranstaltungen absolvieren. Das Angebot reicht von Einführungsveranstaltungen zur Methodik und Didaktik des Deutschunterrichts bis zu Seminaren zur Textproduktion, Sprachreflexion, Lesekompetenz und Mehrsprachigkeit in einem integrativen Deutschunterricht.20 Dass die fachdidaktische Lehre dabei fast zur Gänze von externen Lehrbeauftragten abgedeckt wird, bleibt dabei symptomatisch in dieser Entwicklung. Neben der Lehre kommt aber die Forschung, die für das wissenschaftliche Selbstverständnis so wichtig wäre, entschieden zu kurz. Allein quantitativ ist der ForschungsOutput, den die Deutschdidaktik liefert, verglichen mit der Menge an sprach- und literaturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten verschwindend klein. Dass der fachdidaktischen Forschung zuweilen auch mangelnde Qualität vorgeworfen wird, mag an der Normorientiertheit der Arbeiten liegen, die im Gegensatz zu den deskriptiven Arbeiten der Sprach- und Literaturwissenschaftlerlnnen dementsprechend weniger wissenschaftliche Anerkennung und wissenschaftliches Interesse finden.2' Dabei wäre es besonders wichtig, im Bereich der Deutschdidaktik eine Forschungsoffensive zu starten, die auf einer breiten Basis gegründet ist. Dafür sind meines Erachtens hochschuldidaktische Maßnahmen im Bereich der (nicht nur) fachdidaktischen Lehre vonnöten. Dem Prinzip einer forschungsgeleiteten Lehre auch im Bereich der Deutschdidaktik folgend, sollten die Studierenden in die aktuelle Forschungsarbeit einbezogen werden. Schließlich sind sie es auch, die im Rahmen von Diplomarbei-
Nähere Informationen können dem Studienplan entnommen werden: Studienplan Unterrichtsfach Deutsch: Vgl. dazu Wintersteiner, Immer nur Brücke und Scharnier, 18: „Dass die allgemeine Germanistik deskriptiv auftreten kann (d. h. über ihre Wertentscheidungen meist nicht offen reden muss), was ebenfalls als Ausweis höherer Wissenschaftlichkeit gilt, während die Didaktik notwendig normorientiert ist, mag ein zusätzlicher Grund für ihr mangelndes Prestige sein."
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
ten und Dissertationen den Grund für ein breit angelegtes diskursives Forschungsfeld schaffen. Dass die Deutschdidaktik in Österreich auf Grund der fehlenden fachspezifisch Habilitierten bei der Betreuung solcher Arbeiten auf die Gunst der sprach- und literaturwissenschaftlichen Kolleginnen angewiesen ist, denen mitunter das Interesse und auch das spezifische Wissen an deutschdidaktischen Fragestellungen fehlen, ist bezeichnend für den Status der Deutschdidaktik innerhalb der Germanistik. Der Mangel an fachkundiger Betreuung ist letztlich auf das Fehlen entsprechender Planstellen an Österreichs Universitäten zurückzuführen, die für Fachdidaktikerinnen vorgesehen sind, die nicht nur in der Lehre eingesetzt werden, sondern sich auch im Bereich der Forschung profilieren können. Den externen Lehrbeauftragten ist dies nur beschränkt und mit großen zeitlichen Belastungen möglich, weil sie hauptberuflich zumeist an Schulen oder sonstigen Bildungsanstalten arbeiten, die berufsbedingt keinen Forschungsanspruch stellen. Die viel zu wenigen Fachdidaktikerinnen, die hingegen hauptberuflich an der Universität arbeiten, sind oft mit einer zu hohen Lehrverpflichtung eingedeckt und an ihren Instituten meistens allein für alle administrativen Aufgaben, die im Bereich der Fachdidaktik und Lehrerinnenausbildung anfallen, zuständig, sodass kaum mehr Zeit für Forschungstätigkeit bleibt. Viele an österreichischen Universitäten tätigen Fachdidaktikerinnen werden allein durch ihre Dienstverträge, die an das Gehaltsschema der Lehrerinnen an höheren Schulen angepasst sind, in ihrer Beschäftigung auf die Lehre reduziert; was dennoch an Forschungsarbeit geleistet wird, entspringt oft nur dem persönlichen Engagement über das Anstellungsverhältnis hinaus. Im Grunde werden sie aber für ihre Lehrtätigkeit bezahlt und dementsprechend wird ihre Tätigkeit ein- und wertgeschätzt. Dass der Lehre in der Welt der Wissenschaft weniger Prestige als der Forschung zukommt, unterstreicht wiederum die untergeordnete Stellung der Fachdidaktik. Die Bedeutung einer Wissenschaftlehn /eines Wissenschaftlers wird nun einmal an ihrer/seiner Forschungsarbeit gemessen, die Dichte an Publikationen wird wohl eher zum universitären Karrieresprung verhelfen als ihr/sein Engagement im Bereich der Lehre. Mit der Aufwertung der universitären Lehre, wie sie in diesem Sammelband u.a. propagiert wird, könnte auch der auf Lehre verpflichteten Deutschdidaktik ein wichtiger Dienst erwiesen werden. In dem unausgeglichenen Verhältnis zwischen Deutschdidaktik und Germanistik spielt aber vor allem die schulische Lehre, auf die die Deutschdidaktik gerne reduziert wird, eine wesentliche Rolle. Die Deutschdidaktik hat sich gleichsam zwischen die historisch gewachsene, hierarchisch klar strukturierte Zweierbeziehung zwischen Germanistik und Deutschunterricht gedrängt. Werner Wintersteiner sieht in der bloßen Existenz der Deutschdidaktik die hierarchische Ordnung zwischen beiden gesprengt,
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„indem sie Kompetenzen beider, von Fachwissenschaft und Schule, an sich zieht"22. Der dekonstruktive Prozess, der die festgefahrenen Hierarchien idealerweise aufheben würde, ist allerdings nicht ganz geglückt. Denn der Status, den die Schule im Vergleich zur Universität einnimmt, ist ungebrochen niedrig, auch wenn die Fachdidaktik in beiden institutionellen Feldern agiert und dadurch wieder einmal ihre integrative Kraft unter Beweis stellt. Trotz der Zwischenposition, die die Deutschdidaktik in dieser hierarchischen Ordnung einnimmt, wird sie als Einheit mit dem Deutschunterricht betrachtet, was ihre untergeordnete Stellung zur Germanistik einzementiert. Die Transdisziplinarität, mit der die Deutschdidaktik jenseits von herkömmlichen wissenschaftlichen Disziplinen operiert, macht es ihr auch nicht gerade leicht, sich wissenschaftlich positionieren zu können. Denn der Fokus auf transdisziplinäre Forschung ist vielen Wissenschaften fremd und setzt sich nur langsam als wissenschaftliche Prämisse durch. Die meisten Forschungsprogramme - die EU-Rahmenprogramme für Forschung und technologische Entwicklung fungieren hier als Vorbild -verlangen jedoch zunehmend, komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen mit transdisziplinären Forschungen zu begegnen. Dafür fehlen aber in vielen Fällen noch die theoretischen, methodischen und methodologischen Grundlagen.23 Wichtige Anregungen dafür könnte die Fachdidaktik liefern, die seit jeher transdisziplinär arbeitet. Demnach werden auch die Literatur- und Sprachwissenschaft davon profitieren, dass die Deutschdidaktik längst ein methodisches Instrumentarium entwickelt hat, das unterschiedlichste Formen von Wissen in den Blick nimmt und auf wechselseitigen Lernprozessen und gemeinsamen Problemlösungen basiert. Eine der wichtigsten konzeptionellen Voraussetzungen transdisziplinären Arbeitens besteht wohl darin, dass der Austausch zwischen den unterschiedlichsten Wissensformen, wie sie die Wissenschaften, aber auch die Schule produzieren, als wechselseitiger Prozess aufgefasst wird. Die Schule wird demnach nicht nur als Nutznießerin der Forschungsergebnisse von Deutschdidaktik wie Sprach- und Literaturwissenschaft verstanden, sondern ist auch als Teilnehmerin in den Forschungsprozess mit einbezogen. Wenn transdisziplinäre Forschung von gleichberechtigten Partnerinnen ausgeht, die unterschiedlichste, aber dennoch gleichwertige Wissensformen in eine Kooperation einbringen, kann auch die bestehende Hierarchie zwischen Universität und Schule eingeebnet werden.
22 Wintersteiner, Immer nur Brücke und Scharnier, 16. 23 Zum Begriff der Transdisziplinarität vgl. Arlt, Herbert (Hg.): Kulturwissenschaft - transdisziplinär, transnational, online: zu fünf Jahren INST-Arbeit und Perspektiven kulturwissenschaftlicher Forschungen. St. Ingbert 2001 (= Österreichische und internationale Literaturprozesse Bd. 6).
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
Die Wechselseitigkeit der Wissenserkenntnisse ist dabei von besonderer Bedeutung für die Deutschdidaktik. Forschungsergebnisse sollen nicht nur im Deutschunterricht angewandt oder in der Lehrerinnenbildung vermittelt werden, sondern müssen ebenso in die Arbeit der Literatur- und Sprachwissenschaft einfließen: „Fachdidaktik zeigt dann ihre kläglichsten Resultate, wenn sie in nur scheinbarer, aber nicht wirklich aktiver Teilnahme an der Wissenschaft sich zum Enddarm für die Verarbeitungsprozesse der Wissenschaft hergibt, welcher deren vermeintliche Ergebnisse portioniert hinter den Schulpforten ablagert."24 Mit Klaus Amann und Hubert Lengauer lässt sich die Forderung unterstreichen, dass die Deutschdidaktik nur dann zu den für das Fach und seine Vermittlung sinnvollen Resultaten kommen kann, wenn sie auf die in der Fachwissenschaft entwickelten und durch die Praxis stimulierten Erkenntnisvorgänge gleichermaßen konstitutiv wirkt.
3. Literatur zwischen Didaktik und Wissenschaft Die transdisziplinäre Dreiecksbeziehung zwischen Germanistik, Deutschdidaktik und schulischem Deutschunterricht ergibt sich aus dem gemeinsamen thematischen Feld: (deutsche) Literatur und Sprache. Entsprechend dieser beiden Bereiche haben sich in der Germanistik die Fachrichtungen der Literatur- und Sprachwissenschaft entwickelt, in der Deutschdidaktik die Bereiche der Literatur- und Sprachdidaktik, die erweitert um die Mediendidaktik das deutschdidaktische Feld abstecken. Der Deutschunterricht verbindet die Bereiche zu einem integrativen Gegenstand.25 Am Beispiel der Literaturdidaktik, verstanden als Theorie des Lehrens und Lernens von Literatur in Lernkontexten, soll nun gezeigt werden, wie sich die Deutschdidaktik durch ein transdisziplinäres Verständnis innerhalb der Literaturwissenschaft stärker zu positionieren vermag. Literaturdidaktik in einem umfassenden, transdisziplinären Theorierahmen platzierend, streicht Klaus-Michael Bogdal sowohl die wissenschaftliche Erkenntnisleistung als auch die soziale Leistung für die Gesellschaft hervor, welche die Literaturdidaktik zu erbringen hat. Als philologisch fundierte Wissenschaft siedelt er die Literaturdidaktik als Fachgebiet der Literaturwissenschaft an und betont dabei die Vermittlerinnen-
24 Amann, Klaus/Lengauer, Hubert: Unvorgreifliche Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der Literaturdidaktik. In: Altrichter, Herbert/Fischer, Roland/Posch, Peter u.a. (Hg.): Fachdidaktik in der Lehrerbildung. Wien/Köln/Graz 1983, 42. 25 Vgl. Klotz, Peter: integrativer Deutschunterricht. In: Kämper-van den Boogaart, Michael (Hg.): Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, 46-59.
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rolle, die der Literaturdidaktik und der Literaturwissenschaft gleichermaßen zukommt: „Sie legen Archive des Wissens über Literatur an und sichern ihren Fortbestand, sie leisten einen wichtigen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft und geben die elaborierten Fähigkeiten im Umgang mit komplexen sprachlich-ästhetischen Gebilden weiter, die literarische Werke nun einmal sind."26 Es ist die systematische und reflektierte Vermittlung von Literatur, die Bogdal als eine wesentliche Aufgabe der Germanistik sieht, die arbeitsteilig zu leisten ist: durch Textanalysen, Literaturtheorien, Literaturgeschichtsschreibung, Editionen und auch durch Literaturdidaktik. Das Desiderat, die Deutschdidaktik als Fachbereich innerhalb der Literaturwissenschaften zu verankern, ist so neu nicht. Der Grundstein dafür ist schon in den Anfängen der Didaktik gelegt worden. Denn bereits in seinem 1969 erschienenen Kritischen Deutschunterricht27 tritt Hubert Ivo für ein enges Zusammenspiel zwischen Literaturwissenschaft und -didaktik ein und prognostiziert dabei, dass die Didaktik nur als Teildisziplin der Literaturwissenschaft Bestand haben könne. Denn seines Erachtens sind „die Fragen der Literaturwissenschaft und der Literaturdidaktik im Grundsatz identisch"28, vor allem was die Reflexion des literarischen Kommunikationsprozesses betrifft. Erste Anknüpfungspunkte bieten schließlich eine rezeptionsorientierte Literaturwissenschaft, die Leserinnen (und damit auch die lesenden Schülerinnen) forschend wahrnimmt, wie auch die Empirische Literaturwissenschaft29, die durch empirisch-deskriptive Verfahren der Literaturdidaktik einen methodischen Rahmen vorgibt. In den letzten Jahren hat die Literaturdidaktik die Dekonstruktion als literarisches Verfahren für sich entdeckt. Literatur als „Ort des Verkennens"30 wird nun auch zur Herausforderung einer poststrukturalistischen Literaturdidaktik. Die Bemühungen, in den unterschiedlichsten literaturwissenschaftlichen Diskursen
26
Bogdal, Klaus-Michael: Literaturdidaktik im Spannungsfeld von Literaturwissenschaft, Schule, Bildungs- und Lerntheorie. In: Bogdal, Klaus-Michael/Korte, Hermann (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München 2002, 13. Bogdal macht der Literaturwissenschaft den Vorwurf, dass sie auf Grund eines „akademischphilologischen Purismus" auf die Aufgabe des Vermitteins vergisst und dabei den Orientierungspunkt, den sie für das Selbstverständnis ihrer Arbeit benötigt, aus den Augen verliert.
27 Vgl. Ivo, Hubert: Kritischer Deutschunterricht. Frankfurt am Main 1969. 28
Ebd., 119.
29 Vgl. Schmidt, Siegfried J.: Grundriss der Empirischen Literaturwissenschaft. Band 2. BraunschweigA/Viesbaden 1982 (= Konzeption Empirische Literaturwissenschaft Bd. 1). Schmidt will hier aber die Literaturdidaktik nicht als literaturwissenschaftliche Teildisziplin konzipiert wissen, denn „Literaturdidaktik als konstitutiv anwendungsbezogene Disziplin kann und sollte nicht allein an eine Literaturwissenschaft (welchen Typs auch immer) angebunden sein, um nicht die Besonderheiten ihres interdisziplinären Status zwischen Literaturwissenschaft, Psychologie, Pädagogik, Soziologie usw. zu verdecken", 185. 30 Vgl. Kammler, Clemens: Neue Literaturtheorien und Unterrichtspraxis. Positionen und Modelle. Baltmannsweiler 2000 (= Deutschdidaktik aktuell Bd. 8).
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
eine deutschdidaktische Position zu beziehen und dadurch auch theoretisch ein eigenes Forschungsfeld für sich in Anspruch zu nehmen, sind kaum von Erfolg gekrönt. Dementsprechend ist die Literaturdidaktik in den gängigen literaturwissenschaftlichen Einführungen auch nicht vertreten: Nimmt man beispielsweise Brackerts und Stückraths Literaturwissenschaft3^ zur Hand, kommt die Deutschdidaktik als wissenschaftlicher Fachbereich nicht vor, allein der Deutschunterricht wird (zumindest) im Rahmen von literarischen Institutionen wahrgenommen und diskutiert.32 Auch Arnolds und Deterings Grundzüge der Literaturwissenschaft33 kommen ohne Deutschdidaktik aus. Als Reaktion darauf ist Bogdals und Kortes Einführung Grundzüge der Literaturdidaktik3i zu lesen, die in Gestalt und Aufbau ihrer literaturwissenschaftlichen Vorlage folgt. Mit dem formalen Annäherungsversuch setzen die Autoren zwar ein klares Zeichen, die Literaturdidaktik als Fachdisziplin innerhalb der Literaturwissenschaft zu positionieren; das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Integration der Literaturdidaktik innerhalb der Literaturwissenschaft noch nicht stattgefunden hat. So sehr sich die Literaturdidaktik auch darum bemüht, von Seiten der Literaturwissenschaft als potenzielle Partnerin wahrgenommen zu werden, sie dürfte nicht das größte Interesse bei ihr erwecken. Die Fehler werden kaum bei sich selbst gesucht, vielmehr wird der Literaturwissenschaft mangelnde Offenheit vorgeworfen. „Deutschdidaktik als offene Instanz [...] ist ihrerseits auf offene Partner angewiesen"35, konstatiert Werner Wintersteiner. Die Offenheit, die für die Literaturwissenschaft eingefordert wird, zielt auch darauf ab, dass sie sich innerhalb einer „ausgefransten Germanistik"36 stärker als Kulturwissenschaft profiliert. Ähnlich sieht das Harro Müller-Michaels, der für die Zugehörigkeit der Literaturdidaktik zu einer zur allgemeinen Kulturwissenschaft weiterentwickelten Germanistik eintritt. Er erwartet integrative Bemühungen in erster Linie von der Literaturwissenschaft (bzw. auch von der Sprachwissenschaft), denn schließlich brauche die Germanistik ihre Didaktik: „Fachdidaktik erweist sich als notwendiges (wenn auch nicht hinreichendes) Element auf der Skala germanistischer Forschungen. Fehlt es, dann verliert die Wissenschaft ihre Verbindung zur Lebenswelt und schließt sich von allen Relevanzfragen aus. Wissenschaft wird zum Selbstzweck, der nur noch der Vermehrung eines Wissens für 31
Brackert, Helmut/Stückrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 2001.
32 Vgl. dazu den Beitrag von Eggert, Hartmut: Deutschunterricht. In: Brackert, Helmut/Stückrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 2001, 4 1 7 - 4 2 8 . 33 Arnold, Heinz Ludwig/Detering, Heinrich (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 2002. 34 Bogdal, Klaus-Michael/Korte, Hermann (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München 2002. 35 Wintersteiner, Immer nur Brücke und Scharnier, 19. 36 Rastner/Wintersteiner, Deutschdidaktik im Dialog, 7.
Produktive Verschränkungen
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Archive dient. Fachdidaktik als Reflexion von Praxis schafft der Theorie jene Legitimation, die Ressourcen für ausdifferenzierte Forschung sichert."37 Wie wichtig eine derartige Positionierung der Deutschdidaktik innerhalb der germanistischen Forschung auch ist, sie darf nicht allein durch ihren Praxisbezug legitimiert sein. Dass die Reflexion von Praxis dabei fast ausschließlich auf den schulischen Deutschunterricht bezogen ist, stellt meines Erachtens eine fachliche Einengung dar. Die für die Fachwissenschaft eingeforderte Offenheit ist demnach auch für die Deutschdidaktik angesagt. Will sie nicht nur als Methodenlehre für den schulischen Unterricht oder als empirische Unterrichtsforschung wahrgenommen und darauf reduziert werden, darf sie sich nicht nur auf Beobachtungen in der Institution Schule beschränken. Die Deutschdidaktik sollte auch Lernkontexte untersuchen, die jenseits der Schule liegen. Nicht nur Arbeitsfelder wie Medien oder Verlage könnten dabei von Relevanz sein, sondern insbesondere auch der Bereich der Erwachsenenbildung. Ein besonders wichtiges Anliegen der Deutschdidaktik müsste die Hochschuldidaktik sein, weil sich hier Didaktik und Wissenschaft wohl am nächsten kommen. Schließlich wird auch in den fachwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen an den germanistischen Instituten Wissen über Sprache und Literatur vermittelt, allerdings von Lehrenden, die mit Didaktik meist wenig anfangen können. Ihre Domäne ist die Wissenschaft, zum Lehren ausgebildet sind sie meist nicht. Auf eigene Initiative werden zwar vereinzelt universitäre Fortbildungen im Bereich der Hochschuldidaktik besucht, verpflichtend sind diese allerdings keineswegs. Der Auffassung, dass hervorragende Wissenschaftlerinnen auch notwendigerweise gute Lehrende sind, ist entschieden zu widersprechen. Dass Lehren aber auch gelernt werden kann, ist eine Prämisse der Didaktik, die sich so manche Wissenschaftlerin/so mancher Wissenschaftler zu Herzen nehmen sollte. Wichtig wäre aber nicht nur eine allgemeine Hochschuldidaktik, die sich fächerübergreifend beispielsweise mit wissenschaftlichem Schreiben oder mit dem neuerdings in Mode gekommenen E-Learning beschäftigt, sondern auch eine fachbezogene Hochschuldidaktik, die fachdidaktische Fragestellungen entwickelt, die für einen guten fachbezogenen Unterricht an der Universität entscheidend sind. Wichtige Erkenntnisse der Sprach- und Literaturvermittlung, wie sie die Deutschdidaktik aus der Praxis des schulischen Deutschunterrichts gewinnt und auch an Lehramtsstudierende als künftige Lehrerinnen weitergibt, könnten eine Bereicherung für die Lehre an
37 Müller-Michaels, Harro: Deutschunterricht im Spannungsfeld von Wissenschaft, Kultur und Leben. In: Rosebrock, Cornelia/Fix, Martin (Hg.): Tumulte. Deutschdidaktik zwischen den Stühlen. Baltmannsweiler 2001 {= Diskussionsforum Deutsch Bd. 6), 39.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
den Universitäten sein. Nur müssen diese auch von den Fachwissenschaftierinnen als solche wahrgenommen werden. Wenn Hochschuldidaktik nicht nur als Randerscheinung von Forschung und Lehre an den Universitäten aufgefasst wird, dann profitiert davon auch die Deutschdidaktik in ihrem Verhältnis zur Literatur- und Sprachwissenschaft. Die kritische Beschäftigung mit hochschuldidaktischen Fragen, die sich auch in fachwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen ergeben, ist nicht nur Aufgabe der Deutschdidaktik, sondern auch der Fachwissenschaft. Der Dialog muss beginnen. Die fachlichen Verschränkungen, die sich hier notwendigerweise ergeben, könnten dabei durchwegs produktiv genutzt werden, und zwar gleichermaßen von Didaktik und Wissenschaft.
Literatur Amman, Klaus/Lengauer, Hubert: Unvorgreifliche Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der Literaturdidaktik. In: Altrichter, Herbert/Fischer, Roland/ Posch, Peter u.a. (Hg.): Fachdidaktik in der Lehrerbildung. Wien/Köln/Graz 1983, 41-46. Arlt, Herbert (Hg.): Kulturwissenschaft-transdisziplinär, transnational, online: zu fünf Jahren INST-Arbeit und Perspektiven kulturwissenschaftlicher Forschungen. St. Ingbert 2001 (= Österreichische und internationale Literaturprozesse Bd. 6). Arnold, Heinz Ludwig/Detering, Heinrich (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 2002. Bogdal, Klaus-Michael: Literaturdidaktik im Spannungsfeld von Literaturwissenschaft, Schule, Bildungs- und Lerntheorie. In: Bogdal, Klaus-Michael/Korte, Hermann (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München 2002, 9-29. Bogdal, Klaus-Michael/Korte, Hermann (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München 2002. Brackert, Helmut/Stückrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 2001. Bredel, Ursula/Günther, Hartmut/Klotz, Peter u.a. (Hg.): Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. Band 1. Paderborn/München/Wien u.a. 2003. Eckhardt, Juliane: Die germanistische Didaktik: Ein wissenschaftliches „Schmuddelkind" zwischen allen (Lehr)stühlen. Paderborn 1998 (= Paderborner Universitätsreden Bd. 61). Helmers, Hermann: Didaktik der deutschen Sprache. Eine Einführung in die muttersprachliche und literarische Bildung. Darmstadt 1997.
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Holzer, Johann: Deutschdidaktik: Stimulator für die Germanistik. In: Stimulus (2004), Themenheft: Deutsch - Didaktik - Dialog, 13. Ivo, Hubert: Kritischer Deutschunterricht. Frankfurt am Main 1969. Ivo, Hubert: Zur Wissenschaftlichkeit der Didaktik und der deutschen Sprache und Literatur. Vorüberlegungen zu einer „Fachunterrichtswissenschaft". Frankfurt am Main/Berlin/München 1977. Kämper-van den Boogaart, Michael (Hg.): Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003. Kammler, Clemens: Neue Literaturtheorien und Unterrichtspraxis. Positionen und Modelle. Baltmannsweiler 2000 (= Deutschdidaktik aktuell Bd. 8). Klotz, Peter: Integrativer Deutschunterricht. In: Kämper-van den Boogaart, Michael (Hg.): Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, 46-59. Moser, Manfred/Tietze, Walter/Zenkl, Maria: Fach und Didaktik oder Fachdidaktik. In: Altrichter, Herbert/Fischer, Roland/Posch, Peter u.a. (Hg.): Fachdidaktik in der Lehrerbildung. Wien/Köln/Graz 1983, 88-104. Müller-Michaels, Harro: Deutschunterricht im Spannungsfeld von Wissenschaft, Kultur und Leben. In: Rosebrock, Cornelia/Fix, Martin (Hg.): Tumulte. Deutschdidaktik zwischen den Stühlen. Baltmannsweiler 2001 (= Diskussionsforum Deutsch Bd. 6), 33-40. Ossner, Jakob: Elemente eines Denkstils für didaktische Entscheidungen. In: Rosebrock, Cornelia/Fix, Martin (Hg.): Tumulte. Deutschdidaktik zwischen den Stühlen. Baltmannsweiler 2001 (= Diskussionsforum Deutsch Bd. 6), 17-32. Ossner, Jakob: Praktische Wissenschaft. In: Bremerich-Vos, Albert (Hg.): Handlungsfeld Deutschunterricht im Kontext. Festschrift für Hubert Ivo. Frankfurt am Main 1993, 186-199. Posch, Peter: Fachdidaktik in der Lehrerbildung. In: Altrichter, Herbert/Fischer, Roland/ Posch, Peter u.a. (Hg.): Fachdidaktik in der Lehrerbildung. Wien/Köln/Graz 1983, 19-33. Rastner, Eva Maria/Wintersteiner, Werner: Deutschdidaktik im Dialog. In: Stimulus (2004), Themenheft: Deutsch - Didaktik - Dialog, 5-9. Rosebrock, Cornelia: Einleitung. In: Rosebrock, Cornelia/Fix, Martin (Hg.): Tumulte. Deutschdidaktik zwischen den Stühlen. Baltmannsweiler 2001 (= Diskussionsforum Deutsch Bd. 6), 2-5. Schmidt, Siegfried J.: Grundriss der Empirischen Literaturwissenschaft. Band 2. Braunschweig/Wiesbaden 1982 (= Konzeption Empirische Literaturwissenschaft Bd. 1).
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
Stimulus (2004), Themenheft: Deutsch - Didaktik - Dialog. Stimulus (2005), Themenheft: Lehramt Deutsch - wohin? Wintersteiner, Werner: Immer nur Brücke und Scharnier? Zur Positionierung der Deutschdidaktik zwischen Germanistik, Pädagogik und Deutschunterricht. In: Stimulus (2004), Themenheft: Deutsch - Didaktik - Dialog, 14-30.
Link: 7 Studienplan Unterrichtsfach Deutsch: http://mitteilungsblatt.univie.ac.at/basisdbdocs/mtbl/pdf/26.06.2002.pdf (Zugriff: 9.3.2006)
Sigrid Thielking (Hannover)
Lernen oder Studieren? Überlegungen zur universitären Ausbildung in Sachen Literaturvermittlung ,„Ich lerne'. Das ist nun wieder ein Lieblingswort des Verfassers. Schriftsteller nennen es meist ,studieren' wie sie sich einer Stadt nähern. Zwischen diesen Worten liegt eine Welt. Studieren kann jeder, lernen nur, wer aufs Dauernde aus ist. [...] Erlebnis will das Einmalige und die Sensation, Erfahrung das Immergleiche. "' „Der Universitätsprofessor ist ein Held, denn er kämpft mit Ungeheuern: mit den Paradoxien der Bildung. Und auch alle anderen, die mit Erziehung und Bildung, Pädagogik und Didaktik zu tun haben, sind heute von Paradoxien umstellt."2
1. Selbstlernen und Umlernen auf Dauer: „Shift from Teaching to Learning" Die Überlegungen zur Lern- und Vermittlungskultur stehen erst ganz am Anfang, nicht etwa verdrossen am Ende einer fehlgeschlagenen Entwicklung - anders als das populäre Bild von den letzten Abenteurern am Pult3 oder dem unerschrockenen Drachenkämpfer gegen Paradoxien evozieren mag.4 Wichtig sind die Hinweise auf die wachsende Bedeutung rhetorischer Schulungsangebote und die unausweichliche Entscheidung für Verbindlichkeiten. Oder wie Norbert Bolz pointiert: „Bildungsprozesse müssen sich an den Standards moderner Wissenschaft messen lassen; alles andere wäre ein Rückfall in vormoderne .religiöse Erziehung'."5
1
Benjamin, Walter: Die Wiederkehr des Flaneurs. In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. III. Frankfurt am Main 1991, 198.
2
Bolz, Norbert: Der Professor als Held. Gedanken über den Hochschullehrer der Zukunft. In: Forschung & Lehre 7 (1998), 340.
3
Vgl. Apel, Hans Jürgen: Das Abenteuer auf dem Katheder. Zur Vorlesung als rhetorische Lehrform. In: Zeitschrift für Pädagogik 45 (1999) H.1, 61-79.
4 5
Vgl. Bolz, Der Professor als Held, 340f. Ebd., 340.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
Entsprechend ist die Fachlernkultur der Germanistik bzw. des Faches Deutsch gewissermaßen eben erst dabei, ihre in diesem Sinne (hochschul)didaktischen Anteile und Potenziale in den Blick zu nehmen und zu entdecken. Sie tut dies in Zeiten, in denen Fragen von Sprachaufmerksamkeit, Intermedialität und „Medienkulturkompetenz" 6 dem Kerngeschäft der Literaturvermittlung, das traditionell unzureichend über den Gegenstandsbezug definiert wurde, den Rang abgelaufen zu haben scheinen. Sie tut dies zugleich aber auch unter Bedingungen, in denen Hochschulveranstaltungen in der kulturellen Erlebnissphäre nicht mehr konkurrenzlos sind, sondern als Veranstaltungsangebote unter vielen anderen aufgenommen werden.7 Zugleich wächst die Einsicht in die Notwendigkeit einer grundlegenderen Didaktisierung. Es tritt nun ein lebenslanges und unabgeschlossenes Lehren und Lernen in den Vordergrund jeder Profilbildung und damit die Gewissheit: „Je mehr man gelernt hat, um so mehr muß man noch lernen."8 Dabei legt gerade die erste Ausbildungsphase des Studiums an den Hochschulen eine ganz entscheidende Basis für den Eintritt in durables Lernen und dessen Habitualisierung. Und um es deshalb gleich vorwegzunehmen, werde ich nicht über irgendwelche Krisen welches Teilfaches auch immer reden, sondern die Frage „Was kann und soll universitäre Ausbildung in Sachen Literatur und Literaturvermittlung leisten?" aufgreifen und einige Impulse dazu geben. Eine vorläufige Antwort könnte demnach lauten: Literaturvermittlung kann und soll leisten, was man ihr allein und ihr am ehesten vor allem anderen zutraut - kapazitär und prospektiv. Im Zuge einer signifikanten Hinwendung zu Lernergebnislagen und Lernstandserhebungen, zu Prozessorientierung und Lernprogression („Output-Orientierung", „Learning-Outcomes") ist die traditionelle didaktische Orientierung und Fixierung an feste Lehrstoffe und Unterrichtsgegenstände zurückgefahren worden, oder, wie Johannes Wildt dazu anmerkt, die „in den Fachkulturen der Hochschule zumeist herrschende Lehre, dass es im didaktischen Geschehen auf die .Content-Orientierung', d.h. auf Darstellung und Vermittlung von Lehrinhalten ankommt, verliert zusehends an Einfluss".9 Das hat inzwischen die weniger gegenstandsbezogene Implementie-
Vgl. Schönert, Jörg: „Medienkuiturkompetenz" als Ausbildungsleistung der Germanistik? In: Der Deutschunterricht (1998) 6 (Themenheft: Umbrüche), 62-69. Vgl. Osterloh, Jürgen: Von der Belehrungs- zur Lernkultur. Motive, Probleme, Perspektiven der Innovation von Vgl. Bolz, Der Professor als Held, 340f. Wildt, Johannes: „The Shift from Teaching to Learning" - Thesen zum Wandel der Lernkultur in modularisierten Studienstrukturen. Bdf, 14.
http://www.u-asta.uni-freiburg.de/politikAiologna/texte/thesen-zum-wandel.
Lernen oder Studieren?
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rung weiterer generativ bedeutsamer Kompetenzen, darunter solche neuen Parameter wie „Citizenship" und „Employability", zur Folge gehabt. Gerade Letztere ist im Diskurs um Berufsbefähigung insbesondere für das Profil der Bachelor-Studiengänge von einigem Belang. Das Studium erschöpft sich nicht länger im Anlegen eines eher statischen und abschließbaren Ausgerüstetseins mit kanonisch-wissenschaftlichem Wissenserwerb von der Novizinnen- zur Expertinnenform, sondern es stellt für dynamischere, flexible Anforderungen einer längeren Erfahrung mit Lehr- und Lernstrategien entscheidende Weichen. Es geht mir insofern auch weniger, als das bei anderen Beiträgen dieses Bandes der Fall sein mag, um eine Bestandsaufnahme oder um Curricularvorschläge, sondern vielmehr um eher allgemeine Überlegungen zu einem noch wenig ausgeschöpften Ideenpool des Lernens und Lehrens, der für die Domäne der Literaturvermittlung von Bedeutung ist. In Österreich wie auch in der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz gab und gibt es eine Reihe von Anregungen und teils in Ansätzen stecken gebliebenen Überlegungen zum Stellenwert der Literatur als Wissensvermittlerin, die weiter zu bedenken wären. Die fach- und hochschuldidaktische Diskussion ist durchaus auch in der jüngeren Vergangenheit schon gut beraten gewesen und hat es hier an Anstößen nicht mangeln lassen. In Erinnerung bleiben sicherlich z.B. Robert Saxers Überlegungen zum Stellenwert der Deutschdidaktik als einer Berufswissenschaft10 oder jüngst Peter Siebers Konzept einer Lehr- und Lernwegedidaktik". Auch ist sie nicht unberührt geblieben durch jene Entfaltung des Lehrens und Lernens von Literaturvermittlung zum Zwecke einer selbstbewussten Positionierung als „Angewandte Germanistik", konkreter: als Handlungsfeld einer germanistischen Didaktikwissenschaft, wie sie vor Jahren verschiedentlich in die Diskussion eingebracht wurde.12 Diese vorwegnehmend weist Norbert Griesmayer m.E. zu Recht auf einschlägige Ideen des Österreichers Peter Heintel13 hin und lobt dessen Versuch in den späten 1970er Jahren, „jede Wissenschaft auf die ihr immanente fachdidaktische Dimension
10 Vgl. Saxer, Robert: Entwurf einer Deutschdidaktik. Klagenfurt 1980. 11
Vgl. Sieber, Peter: Neue Wege in der Lernkultur. In: ide-extra (2000), Bd. 8 (Themenheft: auflbrüche. Aktuelle Trends der Deutschdidaktik), 57-69.
12
Hebel, Franz: Handlungsfelder einer germanistischen Didaktikwissenschaft. In: Bremerich-Vos, Albert (Hg.): Handlungsfeld Deutschunterricht im Kontext. Festschrift für Hubert Ivo. Frankfurt am Main 1993, 200-215. Oder aber mit anderem Akzent bei Müller-Michaels, Harro: Literatur zum Zwecke der Bildung. Aspekte einer Literaturdidaktik als angewandter Germanistik. In: Lecke, Bodo (Hg.): Literaturstudium und Deutschunterricht auf neuen Wegen. Frankfurt am Main 1996, 35-49.
13 Vgl. Heintel, Peter: Modellbildung in der Fachdidaktik. Eine philosophisch-wissenschaftstheoretische Untersuchung. Klagenfurt 1978.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
aufmerksam machen"14 zu wollen. In der Tat faszinierend erscheint nicht allein Griesmayer darum Heintels treffsicheres Bild, das, wie er pointierte, „dazu einlud, alles von den Wissenschaften erarbeitete und verwaltete Wissen als .gefrorenes Lernen' zu denken, das bei seiner Vermittlung wieder .aufzutauen' sei".15 Griesmayer selbst hat den Faden dann aufgenommen und weitergesponnen, indem er diesen Belebensversuch betont als zentralen ,,Gedanke[n], der sich bereits bei germanistischen Einführungsveranstaltungen aufdrängen müßte, ja bei allen fachwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen, der aber meines Wissens nur zu institutsinternen Überlegungen geführt hat und in der Kümmerform hochschuldidaktischer Seminare für Universitätslehrer mehr abgeschoben als aufgehoben erscheint".16 Es gibt demnach Überlegungen zu hochschuldidaktischen Potenzialen, die es verdienten, erneut in den Blick zu kommen; Peter Heintels Analysen und Vorschläge gehören dazu, insbesondere seine Hellsicht angesichts der fachgrenzenübergreifenden Notwendigkeit didaktischen Vorgehens besticht bis heute: „Wie ist Wissens- und Fähigkeitsvermittlung theoretisch und praktisch so, dass eine individuelle und kollektive Identifizierung mit ihnen möglich ist, d.h. in ihnen zugleich erzogen und gebildet wird?"17
2. Aspekte einer Didaktik als Vermittlungswissenschaft: Literatur lehren und lernen 2.1. Interne Umbauten Es gibt seit längerem eine Diskussion über eine Veränderung der Umgangsformen des Lehrens und Lernens selbst, in deren Zentrum ein Überdenken von Organisationsformen und Anforderungsprofilen des universitären Unterrichtens steht.18 Dazu
14 Griesmayer, Norbert: Universitäre Fachdidaktik in Österreich seit den siebziger Jahren. Ein kursorischer Überblick. In: Wildner, Paul Peter (Hg.): Deutschunterricht in Österreich. Versuch eines Überblicks. Frankfurt am Main 1995, 21. 15 Ebd., 21. Vgl. auch Heintel, Modellbildung in der Fachdidaktik, 4 6 und 129. 16 Griesmayer, Universitäre Fachdidaktik, 33. 17 Heintel, Modellbildung in der Fachdidaktik, 11. 18 Vgl. Lenz, Werner/Brünner, Christian (Hg.): Universitäre Lernkultur. Lehrerbildung Hochschullehrerfortbildung Weiterbildung. Bericht einer Arbeitsgruppe der Österreichischen Rektorenkonferenz. Wien/Köln 1990; Arnold, Eva/Bos, Wilfried/Koch, Martina u.a. (Hg.): Lehren Lernen. Ergebnisse aus einem Projekt zur hochschuldidaktischen Qualifizierung des Mittelbaus. Münster/New York/München u.a. 1997; Osterloh, Jürgen: Hochschuldidaktische Weiterbildung nach dem Braunschweiger Ansatz. Modell und Aufbau, Inhalte und Methoden. In: Beiträge zur Hochschulforschung (1996), H. 4, 357-374; Winteler, Adi/Krapp, Andreas: Pro-
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gehört auch die Frage nach der Er- und Vermittlung eines adressatenkulturellen und passgenauen Präsentationsbedarfs bei eigenverantwortlichen Lehr- und Lerntätigkeiten. Dort, wo nicht bloß „Reparateure mit Regelungswut" 19 am Werke zu sein scheinen, sind einfache Innovationen in Lehre und Studienalltag angebracht und diese auch ohne viel Aufhebens im Literaturstudium in praxi umsetzbar. Diese werden, das kann jeder, der lehrt, bestätigen, zunehmend von den aktiven Studierenden selbst eingefordert, deren Verdruss über die Sackgasse des freudlosen Referierens ohne viel Resonanz wächst und sich artikuliert. „Die uns allen bekannte Eingangsformel in Seminarsitzungen .Welches Referat haben wir heute?' .Wer hat für heute das Referat übernommen?' ruft heute in der Regel allseits Beklemmungen hervor, nicht zuletzt deshalb, weil sie von der Phantasielosigkeit und der Langeweile gegenwärtiger Lehre, zumeist auch von einer gewissen professoralen Bequemlichkeit zeugt." 20 Walter Erhalts Einwände greifen insbesondere die hochschulüblichen Arbeits- und Präsentationsformen auf dem Hintergrund von unbrauchbarem Literaturwissen, von nachlassender Selbstkonstitution und gähnender Seminarroutine als problematisch auf. Insbesondere die Praxis des Referate-Präparierens und -Abhaltens erscheint als obsoletes, kaum reformierbares, im Grunde verzichtbares Lern- und Lehrformat. Die Beobachtung einer institutionell sich einschleichenden Dysfunktionalität gerade im so wichtigen Vermittlungsmodus gilt auch mit Blick auf die desaströse Folgewirkung bei dieser Art der Einübung in (vor-)berufliche Praxis: „Es geht in der Regel an den Anforderungen vorbei, die z.B. im Kulturbetrieb oder in der Öffentlichkeit an Kulturexperten gestellt wird [sie]."2' Ein Nachdenken über die reflektierte Vermittlungsnotwendigkeit von Wissensbeständen selbst sollte demnach mehr ins Zentrum von Hochschulausbildung einrücken, eine von Fall zu Fall probate „Passung" von vermittlungskulturellen Kommunikaten, ein Ermuntern zu zwanglosem Ausprobieren und, im günstigen Fall, die akkumulierende Anlage eines eigenen rhetorischen „Vermögens" erscheinen unentbehrlich. Bekannt ist dazu die Paralleldiskussion um die Ausbildung und Aktivierung von intelligentem statt trägem Wissen, das sich nicht länger an ein für allemal deklariertes, archivarisches Bestandsgut hält, sondern in der Schulung von Darstellungsfähigkeiten und der Erfahrung von lehr- und lernsigramm zur Förderung der Qualität der Lehre an Hochschulen. In: Zeitschrift für Pädagogik 45(1999), H. 1, 4 5 - 6 0 ; Magerl, Gottfried/Peterlik, Meinrad/Rumpler, Helmut (Hg.): Die Wissenschaft und ihre Lehre. Wien 1999 (= Wissenschaft - Bildung - Politik Bd. 3). 19 Mittelstraß, Jürgen: Reparateure mit Regelungswut. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 149 (1.7.1996), 40. 20
Erhart, Walter: Germanistik-Studium heute: Mißbildung statt Ausbildung? In: Germanisten. Tidskrift för svensk germanistik. Zeitschrift schwedischer Germanisten 2 (1997), H. 3, 5.
21
Ebd., 5.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
tuativer Prägnanz glänzt.22 Damit einher geht der Wunsch, anstelle von Rezeptivität und Bedienmentalität vor allem Selbstproduktivität zu prämieren und Schnelligkeit, Flexibilität zu fördern. Konsequenterweise ist damit die Aussetzung der Referatsstrukturen und die Aufgabe des Primats der wissenschaftlichen Hausarbeiten als Qualifizierungsprofile angepeilt worden. In den mehr prominent gemachten Raum einer
anderen und adäquateren Vermittlung könnten dann, mit Erhart gesprochen, „gut gemachte, vielleicht sogar multimediale Präsentationen" 23 einrücken und primär in der Leistungs-, eigentlich vor allem Begeisterungsfähigkeit ihrer spezifischen Vermittlungsqualitäten erprobt werden. Zu möglichen Vorteilen zählt eine Wahrnehmbarkeit von Kompatibilität und Effizienz, gedacht ist damit an die problemlose Integration in bestehende andere Strukturen, wie Erhart bereits auf dem Bonner Germanistentag 1997 hervorgehoben hat: „ W e n n wir darauf achten, daß unsere Studierenden auch das lernen, was außerhalb der wissenschaftlichen Kontexte von Nutzen sein wird, erst dann können wir guten Gewissens wieder sagen, daß wir als Universitätslehrer ausbilden. Dazu aber müssen scheinbar selbstverständlich bestehende Formen des akademischen Studiums erst verändert werden." 2 4
2.2. Chancen durch Modularisierung Formate gruppenspezifischer
und
Differenzierung
Individuelle Zuschnitte für unterschiedliche Nutzerinnengruppen spielen in der Frage der Vermittlung von „Literatur lehren und lernen" eine wesentlichere Rolle als jemals zuvor. Ein derzeitiger diversifizierender Modularisierungsumbau in den neu entstehenden Studiengängen hat darauf bereits reagiert. Zwar sind im Bereich des Bachelorstudiums selten genug ausreichend didaktische Fragen verankert, denn hier herrscht nahezu unwidersprochen das reibungslose Instruktionslernen zum raschen Erwerb eines kompakten fachlichen Grundlagenwissens vor. Erst die weiterqualifizierenden Studiengänge für den Lehrermaster (Master of Education) geben hier vor, künftig ausgefeilter und experimenteller sein zu wollen. Größere Bedeutung dürfte dabei der künftigen Neuregelung der Praktikumsgestaltung zukommen. Das gilt sowohl für eher engmaschige Umsetzungsversuche als auch für solche, die zumeist aus pragmatischen Gründen einer zu knappen Personaldecke, aus Kapazitätsgründen
22 Vgl. ebd., 5f. 23
Ebd., 6.
24
Ebd., 6.
Lernen oder Studieren?
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eher universalistisch multifunktionale Bausteine im Masterstudium festzulegen sich entschieden haben. Bedenklich muss erscheinen, dass die reinen Fächer-Masterstudiengänge sich dabei allzu leicht aus der Herausforderung, die mit Literatur lehren und lernen verbunden sind, verabschieden und allen genuinen Vermittlungsfragen entziehen könnten. Die Dispensierung dieser (hochschul)didaktischen Belange könnte zu dem Missverständnis führen, die besondere Rolle vermittlungswissenschaftlicher Bemühungen weniger anzuerkennen und an die Fachdidaktiken zu delegieren. Dies wäre fatal, gerade auch in Hinsicht auf Konzepte von dringend benötigter und zu reflektierender „Öffentlicher Didaktik", die noch viel zu wenig in ihrem Stellenwert und ihren Anschlusskommunikationen erkannt und gewürdigt worden ist. Eine Folge davon ist, dass die Notwendigkeit von Didaktik als Vermittlungswissenschaft beinahe ausschließlich mit dem Profil des Lehramtsstudiums und den Aufgaben des schulspezifischen Lehrerinnenberufs im engeren Sinne verquickt bleibt. Eine Parallele dazu ist etwa in der Diskussion um Leseförderung vorgezeichnet, die ebenso ausschließlich primär an die kindliche Lesesozialisation geknüpft ist, wodurch generative und gerontologische Aspekte ausgeschlossen bleiben. Gerade bei diesen Fragen einer Konturierung und Ausfaltung von Literaturvermittlung im Verständnis von „Öffentlicher Didaktik" gäbe es einen enormen Diskussionsund Verständigungsbedarf. Dies haben nicht zuletzt der im produktiven Sinne strittige Denkmalsdiskurs und seine Grundlegung in kulturell-literaler Gedächtniskonzeption25 und Erinnerungspolitik gezeigt, aber auch der jüngste „Karikaturenstreit"26 und seine auf Vermittlung und Verstehen zielende „Bearbeitung" für die Öffentlichkeit weisen hier dringlichen Bedarf auf. Von hier aus werden jene Forderungen verständlich, nicht bloß die Ausbildung zu Dokumentaristen- und Medienberufswirklichkeiten zu berücksichtigen, sondern eben kulturdidaktische „Vermittlungsvermittler" an den Universitäten auszubilden.
25 Vgl. ErlI, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlln/New York 2005. 26
Streit der Kulturen um eine eventuelle Verletzung religiöser Gefühle und die Zulässigkeit satirischer (literarisch-künstlerischer) Bearbeitungs- und Vermittlungsformen vor dem Hintergrund des verschieden ausgelegten Toleranzgedankens und einer divergenten Bewertung des Grundrechtes auf freie Meinungsäußerung.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
2.3. Lehr- und Lernvermittlungskulturen, neue und alte? Schließt Lehren und Lernen auch wieder eine stärkere Unbefangenheit gegenüber einer Kultur des Belehrens und Belehrtseins ein? Eine angemessene und offensive Belehrungskultur gehörte traditionell zum festen Bestand universitären Unterrichtens, diese ist in der jüngsten Vergangenheit zurückgefahren worden, erlebt nun unter anderen Vorzeichen eine Neubelebung. „Von der Belehrungs- zur Lernkultur" hat der Braunschweiger Hochschuldidaktiker Jürgen Osterloh seine Anregungen überschrieben und damit zum Ausdruck bringen wollen, wie sich hinter einem scheinbaren Paradigmenwechsel allzu rasch „eine bereits getroffene Wertentscheidung zu verbergen scheint", die das eine durch das andere zu ersetzen vorgibt. „Wird hier nicht Lehren (im besten Sinne) fälschlicherweise mit (ungutem) Belehren gleichgesetzt und durch einen vagen, mehrdeutigen Allerweltsbegriff - Lernen - ersetzt, gar
Lernkulturl"11
Demgegenüber geht es Osterloh darum, der Vorstellung von „Belehrungskultur" nicht per se länger etwas Negatives anhaften zu lassen. Vielmehr stellt sich ihm die Frage, „warum wird das Belehren selbst mit unterschwelligen negativen Assoziationen versehen?".28 Gegen solche Ablehnung etabliere sich - nicht als bekräftigende Wiederholung von prodesse et delectare - die wachsende „Einsicht, daß es schön, interessant und bereichernd sein kann, sich belehren zu lassen"29. Literaturgespräche und Lehrbriefe wären dazu - auch in (literar)historischer Perspektive30 - recht geeignet. Entsprechend der von der Hochschulrektorenkonferenz in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre angeregten Entwicklung hin zu einer „Verantwortungsgemeinschaft" wird auch ein offensiver Umgang mit dem Belehren in den Hochschulen in einem positiven Sinne neu zu bedenken sein. Im Rahmen von Überlegungen zur Ausgestaltung veränderter Lernkultur wird letztlich eine Renaissance und größere Akzeptanz des Belehrens mehr denn je gefragt sein. Das geht über Gedanken zum künftigen Hochschullehrerinnenprofil hinaus und auch die jüngsten Empfehlungen des Wissenschaftsrates gehen in diese Richtung. Die Hochschulen, wiewohl in Konkurrenz untereinander, rücken „immer mehr zu einer Einrichtung auf, die die überlebensnotwen-
27 Osterloh, Von der Belehrungs- zur Lernkultur, 4. 28 Ebd., 4. 29
Ebd., 5.
30 Vgl. Thielking, Sigrid: Vom Lehrgang der Natur oder sachfachlich narratives Lernen verstehen. Rousseaus botanische Lehrbriefe an Madeleine Delessert. In: Josting, Petra/Stenzel, Gudrun (Hg.): Sachliteratur im Medienverbund. Weinheim 2004, 154-166.
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digen Fähigkeiten des Lernens und des wissenschaftlich begründeten Problemlösens entwickeln, vermitteln und transparent werden lassen kann und muß".31 Lehr- und Lernkultur sind auf dem Hintergrund dieses umfassenderen Programms immer auch durch Literaturstudium vermittelte „Lebenskultur", in der nie ausgelernt wird und die neben allen fachlich fundierten Wissensbeständen auch „nach psychologisch-didaktischen Kompetenzmustern der Vermittlung, Aneignung und handlungswie transferbezogenen Umsetzung des Wissens"32 verlangen, die ein strukturiertes Miteinanderlernen möglich machen. Die Hochschuldidaktik spricht in diesem Zusammenhang von einem notwendigen „Paradigmenwechsel vom Forschenden zum Lehrenden, vom Wissenden zum [nicht nur schulbezogenen] Wissensvermittler"33. Auch die wachsende Nachfrage nach Orientierungstexten, Leseempfehlungen, Lektüreleitfäden- und Ratgeberliteraturen offenbart hier einen erheblichen Bedarf an Vergewisserung. Greiner und Abraham betonen 2002 den aktuellen Stellenwert „lehrhafter Literatur"34, dem neuerdings gerade im Kontext eines „Narrativen (Be-)Lehrens und Lernens"35 oder aber im Zusammenhang mit dem angelsächsischen Ethical Criticism besonderes Augenmerk zukommt: „So wird dort gefragt, wie sich etwa die in narrativen Texten entworfenen Welt- und v.a. Wertordnungen mit den von Lesern mitgebrachten Ordnungen vermitteln oder eben nicht vermitteln lassen. Jedenfalls stehen eigene Wissensbestände und Werthaltungen beim Lesen prinzipiell immer zur Disposition und es gilt [mit Wayne C. Booth, The Company We Keep, 1988]: ,all narratives are didactic' [,..]."36
2.4. Literaturvermittlung und ihre „Besonderheit": Vom Stellenwert der Literaturlehre und ihres personalen Bezugs Warum kann und darf unterstellt werden, dass ausgerechnet das Studium der Literaturvermittlung dies leisten kann? Wird doch andererseits allenthalben das Schwinden der Literatur aus der Literaturdidaktik oder das Verblassen der Leistungen von Literatur gerne beklagt. Eine selbstkritische Analyse des Faches Literaturwissenschaft wurde
31 Osterloh, Von der Belehrungs- zur Lernkultur, 6. 32 Ebd., 6. 33 Ebd., 8. 34 Greiner, Thorsten/Abraham, Ulf: Die Lehre der Literatur oder Was Literaturlehrende von ihrem Gegenstand lernen können. In: Sprache und Literatur 33 (2002) H. 1, 58. 35 Vgl. auch Krummheuer, Götz: Narrativität und Lernen. Mikrosoziologische Studien zur sozialen Konstitution schulischen Lernens. Weinheim 1997. 36 Greiner/Abraham, Die Lehre der Literatur, 58.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
1992 zum Ausgangspunkt37 genommen, gedacht für all jene, „die sich mit der anhaltenden Geringschätzung der Literatur- und Geisteswissenschaften nicht abfinden"38. Es bedürfe der deutlichen Implementierung einer (wieder) „emphatischen Literaturauffassung"39, signifikant ist ein oftmals mitschwingender Bekenntnischarakter; das grundsätzlich „Begeisterungsfähige" an und durch Literatur und deren sympathetischer Vermittlung wird von Studierenden nachgefragt. Der Ausgangspunkt solcher emphatischer Literaturlehre ist kein bescheidener: „Aufgrund der ihr eigenen Offenheit verfügt die Literatur als Ganze über das umfassendste Wissen vom Menschen"40, sei Literatur letztlich ein einmaliger Glücksfall in der „Schule der Sinnbildung"41, und das Vormachen der Begeisterung an ihr sei durchaus in hohem Maße vermittlungswirksam. Wer den Esprit in Daniel Pennacs Bericht über ein Pariser Vorstadtleseprojekt in „Comme un roman" noch im Gedächtnis hat42 oder die zusammenschweißenden Effekte von „U20-Literatur" oder „Poetry Slam Sessions" bedenkt, kann das womöglich eher nachvollziehen, was hier anvisiert wird und didaktisch fruchtbar zu machen wäre. Auch zeigen Abraham und Greiner offen ihre Verwunderung über die Skepsis, „was man der Literatur außerhalb des Faches zutraut - und wohl tatsächlich von ihr empfängt"43, nämlich eine Persönlichkeitsbildung, [, die] ausgerechnet „innerhalb des Faches keine oder kaum Geltung" 44 erzielt. Gerade aber das mögliche und gekonnte Wechselspiel von Distanz und Anteilnahme sei auch für den Bereich der Lehre und Vermittlung doch zentral, eben ein Pfund, mit dem sich wuchern ließe.45 Es gilt ihnen, gute Lehre und gutes Lernen nicht länger als asymmetrisches Kommunikationsverhältnis zu betrachten und von ihrer starren Tendenz, Anteile der Subjektbezüglichkeit zu Gunsten des Objektivierbaren zurückzudrängen, Abschied zu nehmen. Nicht formale Bildung, sondern „Humanontogenese", wie Dieter Lenzen das begrifflich fokussiert hat46, gehört in diese Vermittlungsvorstellung, die beide Dimensionen enthält.47 Es geht genau um diese doppelte Adressierung als Dimensionierung, die genuin nur
37 Griesheimer, Frank/Prinz, Alois (Hg.): Wozu Literaturwissenschaft? Kritik und Perspektiven. Tübingen 1992. 38
Greiner/Abraham, Die Lehre der Literatur, 55.
39
Griesheimer/Prinz, Wozu Literaturwissenschaft?, 365.
40
Ebd., 37.
41
Greiner/Abraham, Die Lehre der Literatur, 59.
42 Vgl. Pennac, Daniel: Wie ein Roman. Köln 1982. 43
Griesheimer/Prinz, Wozu Literaturwissenschaft?, 366.
44 Greiner/Abraham, Die Lehre der Literatur, 55. 45 Vgl. ebd., 55. 46 Vgl. Lenzen, Dieter: Professionelle Lebensbegleitung - Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Wissenschaft des Lebenslaufs und der Humanontogenese. In: Erziehungswissenschaft (1997), H. 8, 5 - 2 2 . 47 Vgl. Osterloh, Von der Belehrungs- zur Lernkultur, 8.
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mit Literaturvermittlung ins Spiel gelangt: „Zwar kennt auch literaturwissenschaftliche Lehre elementare Stufungen und bemüht sich um exemplarisches Vorgehen, indem sie Systematisch-Allgemeines und Historisch-Individuelles sich wechselseitig erhellen läßt. Aber anders als schulischer Literaturunterricht, der literarische Bildung vermitteln und zur Teilnahme an literarischer Kommunikation allererst befähigen will (was ihm nur gelingen kann, wenn Distanz und Anteilnahme zu ihrem Recht kommen), setzt ein Literaturstudium solche Befähigung voraus."48 Das subjektive Moment wird gern in die intime literarische Sozialisation verdrängt, ins Privatleben verlegt, ist zu wenig „Vollzugsgröße im wissenschaftlichen Umgang mit Literatur". Diese werde allenfalls für den Lehrenden in Betracht gezogen, sei ein „strukturbedingtes Privileg der Lehrenden", denn „hochschuldidaktische Reduktion [ist] Objekt- und nicht adressatenorientiert"49 und das daraus gespeiste Desinteresse der Forschenden an Fragen der Lehre werde besonders im Debakel von Einführungsveranstaltungen deutlich, die offensichtlich die Achillesferse beim Lehren und Lernen von Literatur bleiben! Wichtig ist beiden Autoren der Verweis auf die eher günstige stilmimetische und essayistische Zurichtung von Wissen und die zugehörige Kenntnis literarischer Strategien. Essay und Pastiche werden entsprechend als alternative Verarbeitungsformate den Hochschullernerlnnen bevorzugt empfohlen. Signifikant bleibt in jedem Fall übereinstimmend die Forderung nach der Notwendigkeit eines Distanzverringerns: „Sollte man nicht bei der lehrenden Vermittlung von Literatur deren eigener Erscheinungsweise insofern besondere Aufmerksamkeit widmen als es gerade ihre suggestive Mischung von Vermitteltheit und Unmittelbarkeit ist, die die Verbindung von Distanz und Anteilnahme zur Vorbedingung eines jeden Zugangs zu ihrem vollen Wirkungspotenzial macht?" 50 Literaturlehre als besonderer Gegenstand der Hochschullehre müsse zunächst in ihren eigenen, internen Vermittlungsdimensionen begriffen werden, wonach sich auch „Strategien für eine literaturexterne Vermittlung ableiten ließen"51. Die Kernthese, die diesen Optimismus nährt, erscheint frappant konsequent: „Literaturlehre nämlich kann am ehesten dann von Literatur lernen [...], wenn sie die Literatur selbst als eine besonders gelungene Form der Wissensvermittlung auffasst und sich an ihren Zielen, Inhalten und Verfahren orientiert."52
48 Greiner/Abraham, Die Lehre der Literatur, 56. 49 Ebd., 56. 50 Ebd., 56f. 51 Vgl. ebd., 57. 52 Ebd., 57.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
Die Aktivierung von lebensweltlichem Schemawissen, vor allem im Zuge der Erstlektüre, und die sich anschließenden Modifizierungen aller nachfolgenden Lektüren modellieren allmählich - in Abgleich und Zusammenspiel mit Vor- und Weltwissen - ein Reservoir an Leseerfahrungen, das weiterführendes Beobachtungswissen freisetzt: „Wie hat der Text es vermocht, mein Schemawissen zu verändern? Mit welchen elementaren Verfahren hat er mich als Leser belehrt? Wie könnte dieses immanente Lehrpotenzial weitergegeben werden, d.h. was muß ich als Lehrender unternehmen, damit die gleichen Verfahren andere Leser belehren?"53 Nur wer sich „metaphorisch mit Booth [...] gesagt in poetische Gesellschaft begibt"54 und damit Distanz aufgibt, dem erschließt sich das eigentümliche Vermittlungspotenzial, das umfassende Wissen, das Literatur transportiert und durch sich selbst vermitteln hilft. So neu ist der Gedanke einer bestmöglichen Selbstreferenzialität nicht: die Agentin Literatur erscheint als probateste Wissensvermittlerin, die für sich selbst einsteht. Literaturwissen galt Jahrhunderte lang als der Lehr- und Lerngegenstand von Explikation und Normierung schlechthin. An ihr wurde richtiges und falsches Handeln exerziert und als didaktische Kasuistik plausibel und vor allem behaltbar gemacht. Ob der südwestdeutsche Hebel und sein Adjunkt oder aber Hans-Christian Andersens dänischer Hans Normverletz, ob Kafkas „K." oder Musils „Ulrich": immer konnte an ihren Vorlagen sich abgestimmt, animiert oder distanziert, stets normativ gelernt werden; indem, der dies tat, sich mit strategischem Leseverstehen dem komplexen literarischen Wissensformat näherte, konnten diese Fälle mit dem eigenen Weltwissen in den Köpfen und Zöpfen abgeglichen, vermessen, geschieden und gesondert oder prämiert werden. Dass sich dabei nicht selten amüsiert und delektiert werden durfte, schien sich von selbst zu verstehen und den hohen Reiz auszumachen. Wie Jürgen Osterloh über diese Lizenz gesagt hat, bedienten sich Belehrung und Unterhaltung aus einem Vorrat, entstammten keiner Konkurrenzkultur. Und sie waren als vorgemachte Lehr- und Lerntätigkeiten, dort wo sie gelungen waren, eben gerade wegen dieses Zusammenhangs so trefflich, indem sie trafen!
53
Ebd., 57.
54 Ebd., 57.
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3. Materiale Manöver und Navigationsversuche: Lehrwerke - Incentives - Aufgabenkultur Seit sich im 19. Jahrhundert ein nach vorn zentral auf einen Lehrenden personal ausgerichteter Frontalunterricht, der mit identischen Klassensätzen operierte, etablieren konnte, sind Moderations- und Fragekünste zum Dreh- und Angelpunkt des Unterrichtens und Lernens geworden. Der Simultanunterricht mit dem Masterplan des Lehrenden erschuf das „didaktische Setting"55 für vervielfachte kommunikative Lehr-Lern-Prozesse. Auch die Formen heutiger, vielfach auf Selbsttätigkeit angelegter Lehr- und Lernwerke und deren implizite und explizite Wegedidaktiken überantworten zunehmend diese Vermittlerrollen an die Adressatinnen, delegieren einen Großteil des regelgerechten, funktionalen Gebrauchs materialinduziert an ihre Klientel selbst. So ist eine veränderte Situation entstanden, in der der Grad und die Qualität von Unterrichtskultur und Vermittlungsstatus sich über eine Einschätzung der Aufgabenmerkmale ermessen lässt. Das eher unauffällige, aber entscheidende Segment der Steuerung über Frageimpulse spielt deshalb eine herausragende Rolle. Was schulische wie akademische Lehr- und Lernbücher und deren Frageangebote auslösen, welchen Anteil an einer steuernden Vermittlung sie einnehmen, wird empirisch eben erst erforscht. Konsens besteht aber weitgehend darüber, dass sie einen enormen Einfluss auf die Gestaltung von Incentives und Lernanreizen nehmen. Entgegen einer lange unwidersprochen gültigen Lehr-Lern-Tradition, gestaltet aus der Vollmacht einer zentralen Lehrperson als alleiniger Vermittlungsinstanz, hat sich nun das beschriebene Verhältnis fast ins Umgekehrte verschoben. Insofern sich nun Fragecluster und analog zu ihnen konzipierte Deduktionskästen zur Überprüfung als nahezu konkurrenzlose Lernprozess-Organisatoren ausweisen mögen, sodass sich mitunter die kafkaeske Frageverblüffung „Bin ich nicht Steuermann?"56 dem Lehrenden aufwerfen will. Der Schulunterricht praktiziert bereits vielfach auch einen „Literaturerwerb mit Kompromissen"57, Vermittlung von Literatur geschieht hier zunehmend weniger persönlichkeitsorientiert, sondern eher angeleitet materialinduziert.
55
Messerli, Alfred: Vom lauten zum stummen Lesen. Literale Norm und Alphabetisierung in der Schweiz zwischen 1700 und 1900. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 297 (21.12.2002), 79.
56 Anfangssatz aus Kafkas Parabel „Der Steuermann". In: Kafka, Franz: Sämtliche Erzählungen. Hg. von Paul Raabe. Frankfurt am Main 1970, 319. 57 Vgl. Thielking, Sigrid: Klassiker-Navigationen? Literaturerwerb mit Kompromissen. In: Literatur im Unterricht. Texte der Moderne und Postmoderne im Unterricht 5 (2004), H. 2, 173-184.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
Immer komplexere Strukturen von Lehr-Lern-Arrangements in Schule und Hochschule selbst haben eine gewichtige Aufstellung eingenommen, von zentraler Bedeutung sind hierbei nun Veränderungen in Fragekonzept und Aufgabenkultur58 selbst, wie es sich in der Festschreibung von Standards und der Ausgestaltung von Kompetenzmodellen niederzuschlagen beginnt. Stets sind die Darbietungsweisen und didaktischen Modellierungen von sich verändernden Wissensbeständen, sind also ihre jeweiligen Generierungsleistungen am Wissenskonzept, im „Subsystem Schul- und Lehrbuch" in der Lehre von Bedeutung gewesen. Am nachvollziehbarsten wird dieser veränderte Kurs vielleicht bei den neuen Lehr- und Lernwerkstrategien selbst. Aber nicht allein der souveräne Umgang mit Forschungsliteratur und deren sorgfältige Recherche, sondern weit mehr als angenommen auch das Hineinwachsen in den Gebrauch von Lehreliteratur wird den Studierenden der Hochschulen zum Prüfstein eines gelingenden Studiums. Nur wenige verbindliche Aussagen zum Wert der Lehreliteratur werden im Gegensatz zur Kanonfrage oder zur geprüften Forschungsliteratur probiematisierend zur Sprache gebracht. Was hier zum Teil engagiert in Einzelbesprechungen beobachtet worden ist, könnte - systematisch betrieben - mit Gewinn für die Verbesserung der Lehre genutzt werden. Vor diesem Hintergrund erscheint eine kritische Durchmusterung gerade der hochschuldidaktischen Lehrewerke im „Trägerfach" Deutsch, wie sie jüngst Ursula Klingenböck akribisch unternommen hat,59 und hier insbesondere die vermittlungsbezogene Sichtung der Einführungsliteraturen und deren Qualitäten als didaktische Ratgeberliteraturen notwendig und unbedingt fortsetzbar. Von ihnen wird zumeist stillschweigend doch so etwas wie „didaktisches Feingefühl" erwartet, welches als Lehrgröße näher zu explizieren wäre. Literaturvermittlung wird im Wesentlichen als Passungsleistung im Lehr- und Lerngeschehen eingesetzt und zentral bleiben. Dass gerade die Propädeutika immer wieder den Spagat zwischen den einem Wandel unterliegenden Wissensprofilen der Fächer und dem didaktischen „Aufgehobensein" nur schwer schaffen, zeigen die wenigen Ausnahmen in diesem wichtigen Feld.60 Hier rächt es sich wohl, dass es bislang nicht auf breiter Basis gelungen ist, eine genuine literaturdidaktische Literaturvermittlungs- und Lehrbuchkritik im Schul- wie vor allem 58 Vgl. Köster, Juliane: Konstruieren statt entdecken - Impulse aus der PISA-Studie für die deutsche Aufgabenkultur. In: Didaktik Deutsch 14 (2003), 4 - 2 0 . 59 Vgl. wegweisend Klingenböck, Ursula: (Ratgeber)Literatur. Zum wissenschaftlichen Arbeiten an Schule und Hochschule. In: ide 2 9 (2005), H. 3, 3 9 - 5 4 . 60
Ich möchte hier ein um Vermittlung bemühtes Beispiel nennen, das sich meiner Erfahrung nach in unterschiedlichen Hochschullehrekontexten bewährt hat: Vogt, Jochen: Einladung zur Literaturwissenschaft. 5. Aufl. München 2002.
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auch im Hochschulbetrieb zu gewährleisten und zu etablieren. Statt ihr gelten weiterhin jene Kanones diverser Empfehlungen, die selten genug wirklich hochschuldidaktisch auf ihre tatsächliche Tauglichkeit und Vermittlungskompetenz in Hinsicht auf „Literatur lehren und lernen" geprüft wurden.
Literatur Apel, Hans Jürgen: „Das Abenteuer auf dem Katheder. Zur Vorlesung als rhetorische Lehrform". In: Zeitschrift für Pädagogik 45 (1999) H. 1,61-79. Arnold, Eva/Bos, Wilfried/Koch, Martina u.a. (Hg.): Lehren lernen. Ergebnisse aus einem Projekt zur hochschuldidaktischen Qualifizierung des akademischen Mittelbaus. Münster 1997. Bolz, Norbert: Der Professor als Held: Gedanken über den Hochschullehrer der Zukunft. In: Forschung & Lehre (1998), H. 7, 340-342. Erhart, Walter: Germanistik-Studium heute: Mißbildung statt Ausbildung. In: Germanisten. Tidskrift för svensk germanistik. Zeitschrift schwedischer Germanisten 2 (1997), H. 3 , 4 - 6 . Greiner, Thorsten/Abraham, Ulf: Die Lehre der Literatur oder Was Literaturlehrende von ihrem Gegenstand lernen können. In: Sprache und Literatur 33 (2002), H. 1, 55-68. Griesheimer, Frank/Prinz, Alois (Hg.): Wozu Literaturwissenschaft? Kritik und Perspektiven. Tübingen 1992. Griesmayer, Norbert: Universitäre Fachdidaktik in Österreich seit den siebziger Jahren. Ein kursorischer Überblick. In: Wildner, Paul Peter: Deutschunterricht in Österreich. Versuch eines Überblicks. Frankfurt am Main 1995 (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts Bd. 14), 7-41. Hebel, Franz: Handlungsfelder der germanistischen Didaktikwissenschaft. In: Bremerich-Vos, Albert (Hg.): Handlungsfeld Deutschunterricht im Kontext. Festschrift für Hubert Ivo. Frankfurt am Main 1993, 200-215. Heintel, Peter: Modellbildung in der Fachdidaktik. Eine philosophisch-wissenschaftstheoretische Untersuchung. Klagenfurt 1978 (= Klagenfurter Universitätsreden Bd. 7/8). Kafka, Franz: Der Steuermann. In: Kafka, Franz: Sämtliche Erzählungen. Hg. von Paul Raabe. Frankfurt am Main 1970, 319. Klingenböck, Ursula: (Ratgeber)Literatur. Zum wissenschaftlichen Arbeiten an Schu-
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Ulrich Welbers (Düsseldorf)
W e n n ein Reisender in einer Wissenschaft... Vermittlung als Konstruktionsbedingung der (Literatur-)Wissenschaft
Fragt man nach dem Zusammenhang von Hochschuldidaktik und germanistischer Literaturwissenschaft, steht häufig das Bild einer zunächst nicht zur Diskussion gestellten Wissenschaft der Inhalte (Literaturwissenschaft) neben dem einer möglichen Praxis der besseren, meist nur methodisch zu qualifizierenden Vermittlung dieser fraglos gesetzten Inhalte (Hochschuldidaktik). Auf der Seite der Fachwissenschaft soll, ja muss alles gleich bleiben, in der Vermittlung dagegen soll alles schnell anders und vor allem besser werden. So einsichtig solche Rollenteilung auf den ersten Blick auch scheinen mag, sie entspricht heute kaum noch dem Forschungsstand - weder dem der Literaturwissenschaft noch dem der Hochschuldidaktik. Vielmehr verändert sich auch Wissenschaft grundlegend, wird sie unter dem Kontext ihrer Vermittlung neu gesehen. Der folgende Beitrag geht dieser Konstruktion eines veränderten Wissenschaftsbegriffs unter dem Paradigma der Vermittlung zunächst wissenschaftshistorisch nach, nennt dann Bezüge zu germanistischen Disziplinen und formuliert schließlich Anforderungen einer diesbezüglichen hochschuldidaktischen Professionalisierung. Leitbild dieser Überlegungen ist das einer Wissenschaft über deutsche Sprache und Literatur, die sich prinzipiell immer schon als Vermittlungswissenschaft versteht.
1. Reduktionsvarianten des Wissenschaftsbegriffs Der Begriff der Vermittlung von Wissenschaft und der der Vermittlungswissenschaft als ein mögliches wissenschaftstheoretisches Paradigma gründen sich auf Begriff und Selbstverständnis der Wissenschaft und der Wissenschaften selbst. Geht man derart grundlegend an die Problematik eben nach einer Vermittlung der und auch innerhalb der Wissenschaften heran und verkürzt diese damit nicht auf eine reine Anwendungsproblematik, stellt sich die Frage, wie die gegenseitige Inanspruchnahme dessen, was wir modellhaft Theorie einerseits und Praxis andererseits zu nennen gewohnt sind, systematisch organisiert ist und welche Gestaltungsmöglichkeiten sich zudem aus dem damit unterstellten Spannungsverhältnis konkret entwickeln lassen. Akzeptiert
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
man zunächst eine solche - im Grunde eher pragmatische, tendenziell also wiederum „untheoretische" - grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem, was Menschen denken bzw. wissen und was sie tun sollen, scheint sich bei näherem Hinsehen die Last der Legitimation jedoch schnell umzudrehen: Wissenschaft ohne Verortung in ihren jeweiligen Vermittlungsbezügen ist systematisch gesehen - auch wenn dies auf den ersten Blick nicht gleich erkennbar ist - gerade ein höchst unvollständiges, im aristotelischen Sinne „künstlich" generiertes Konstrukt, gleichsam technokratische Isolierung dessen, was man zunächst glaubt, mit operationaler Funktionalität methodisch beherrschbar machen und halten zu können. Wir leben in Zeiten eines zur selbstreflexiven Zirkulation neigenden und damit substanziell immer weiter sich selbst reduzierenden Wissenschaftsbegriffes, einer Wissenschaft, für die man historisierend auch formulieren könnte, dass sie das typische Kind einer automatisierten, am mentalen Bild des Fließbandes orientierten Industriegesellschaft geblieben sei, die in dieser Form eigentlich nicht mehr existiert. Wissenschaftshistorisch sind wir letztlich einer Konstruktion aufgesessen, deren pragmatische Generierung sich einer ebenso obsoleten wie unübersichtlichen Mischung aus Restbeständen eines zur Alltagsideologie erstarrten Positivismus und einer personalen Attribution und institutionellen Transformation des Genieästhetik-Gedankens des 18. und 19. Jahrhunderts verdankt: Die Wissenschaft, das sind - Humboldts Traum in sein abträgliches Gegenteil verkehrend' - heute vor allem die Wissenschaftlerinnen allein, und das im doppelten Sinne von Einsamkeit und Beobachtung, man könnte überspitzt formulieren: Institutionell separierte „Faust"-Maschinen stehen am Ende eines sich ins Unsichtbare zerteilenden und entgrenzenden Wissenschaftsbetriebes. Vor allem das wissenschaftspraktische Überleben im Alltag sichert solche Separation, die häufig nicht mehr die Wissenschaft aus den Gegenständen begreift und bildet, sondern umgekehrt diese Gegenstände und ihre wissenschaftliche Bearbeitung aus Struktur und Projektion spätmoderner Wissenschaftsorganisation generiert. Diese Umkehrung ist vielleicht die folgenschwerste Fehlentwicklung der Wissenschaften vor allem im 20. Jahrhundert, eine Entwicklung, deren Kritik nicht auf die durchaus produktive Dialektik induktiver und deduktiver Theoriebildung zielt, sondern auf die Frage, ob man die Dignität der Gegenstände nicht gerade dadurch verletzt, dass man sie den Prosperitäten und den bürokratischen Zufälligkeiten der eigentlich mit ihrer Tradierung, Aufbereitung und vor allem Aufklärung beauftragten Institutionen über-
1
Vgl. Welbers, Ulrich: Humboldt, ein Traum. Über Sprache - Geschichte - Bildung in idealischer Perspektive. Mit einem Beitrag von Hans-Werner Scharf. Düsseldorf 2003.
Wenn ein Reisender in einer Wissenschaft
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antwortet. „Vermittlung" zwischen sich und anderen, zwischen Denkkulturen und Gesellschaftskulturen, zwischen Reflexion und Konsequenz, zwischen Erkenntnis und Ethik, schließlich zwischen Einsicht und Kritik wirkt in einem solchen Umfeld allenfalls als Behinderung des reibungslosen Ablaufs des Methodischen. Außen vor bleibt der unangenehme Appell auch gesellschaftlicher Wahrheit und des gesellschaftlichen Wandels, deren Realität, Verständnis und Bearbeitung man gerne an andere delegiert. Und dies alles geschieht paradoxerweise auch noch fast unbemerkt vor unseren Augen - von der Wissenschaft und ihrem medientheoretischen Paradigma mittlerweile irgendwie dauerangestarrt und trotzdem unverstanden - in einer aktuellen Wirklichkeit ständiger Vermittlung, beispielsweise eben in der allgegenwärtigen Mediengesellschaft, also einer Gesellschaftlichkeit der mehrfach selbstreflexiven „Mediation", einer Gesellschaft zudem, von der man zu Recht erhofft, sie dürfe irgendwann einmal nicht nur politisch nützlich, sondern auch mit dem Recht des Faktischen „Wissensgesellschaft" genannt werden. In ein literarisches Bild gefasst, fühlt man sich ein bisschen wie Calvinos Reisender in einer Winternacht unterwegs in abgebrochenen Geschichten: „In dieser Nacht hast Du einen Traum. Du sitzt in einem Zug, einem langen Zug, der durch Irkanien fährt. Alle Reisenden lesen dicke gebundene Bücher. [...] Dir kommt der Gedanke, dass einer der Reisenden oder gar alle einen jener Romane lesen, die du hast abbrechen müssen, ja dass womöglich alle jene Romane hier im Abteil sind, übersetzt in eine dir unbekannte Sprache. Du bemühst dich zu entziffern, was auf den Buchrücken steht, obwohl du weißt, dass es zwecklos ist, weil du die Schrift nicht lesen kannst." 2 Gegenseitige Beobachtung erzeugt also nicht unbedingt substanzielles Verstehen oder auch Dialog, aber irgendwie scheint man auch hier alles künstlich spannend zu halten - fragmentarisierte Wissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Drei Thesen können an dieser Stelle formuliert werden, die das integrierte Verhältnis von Wissenschaft und Vermittlung bezeichnen und die noch näher begründet werden müssen: Erstens ist jede Wissenschaft bestenfalls eine Vermittlungswissenschaft. Bringt sie (die Wissenschaft) diesen Charakter (der Vermittlung) nicht immer schon mit, bleibt jeder Begriff von ihr konstitutiv leer oder zumindest unvollständig, vor allem aber orientierungslos. Zweitens ist demgegenüber der zurzeit aktuelle Begriff der „Vermittlungswissenschaften" als erweiterte Konstruktion dessen, was gemeinhin als Didaktik bezeichnet wird, kein absoluter, sondern ein regulativer Begriff, dessen theoretische Reichweite und praktische Anwendungsmöglichkeiten auf be-
2
Caivino, Italo: Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 2004, 257.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
stimmte Verwendungszusammenhänge hin jeweils zu prüfen sind. Drittens gilt: Der Begriff der „Vermittlung" definiert nicht die Wissenschaft, aber er hilft, sie besser zu verstehen.
2. Historische Überlegungen zum Vermittlungsbegriff Im Kern der hier zur Debatte stehenden Problematik ist von der Überwindung des Schismas von Wissenschaft und Gesellschaft zu sprechen, und zwar nicht als Brückenschlag zwischen getrennten Welten, sondern als Verstehenskonstruktion dahingehend, dass Wissenschaft nicht außerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit existiert und Gesellschaft objektiver Verständnisse ihrer selbst bedarf, um sich nachhaltig entwickeln zu können. Das ist nicht ohne Tradition. Der Begriff der Vermittlung, der Korrespondenz in vielen Sprachen der abendländischen Kulturentwicklung findet (beispielsweise griech. HECTITEÎCX, lat. mediatio, engl, médiation, frz. médiation), meint im Mittelhochdeutschen sowohl eine Trennung der beiden Vermittelten (Teile) als auch deren Verbindung. 3 Philosophisch-theoretisch gesehen kann „Vermittlung" auf der Grundlage dieses Schemas einerseits als Gegenbegriff zur Unmittelbarkeit fungieren (die dann eben nicht durch Zwischenglieder vermittelt wäre), andererseits ist auch die Überwindung eben der Entgegensetzung des Unmittelbaren gemeint. Erst im Neuhochdeutschen setzt sich dann die zweite Bedeutung auch in der Alltagssprache durch, nach der „Vermittlung" auf das Zusammenführen bzw. Vereinigen zweier bislang als getrennt verstandener Dinge zielt. Es zeigt die große Problemtradition des Begriffs, dass dieser zunächst in einem theologischen (Leib-Seele-, Gott-Mensch-Problematik) und dann im staatstheoretischen, völkerrechtlichen Kontext auftaucht. Das philosophisch-wissenschaftstheoretische Profil gewinnt der Begriff erst am Übergang vom 18. in das 19. Jahrhundert, und hier bietet die Logik ebenso Anknüpfungspunkt
3
Zur Geschichte und Bedeutung des Begriffs „Vermittlung" im wissenschaftstheoretischen bzw. philosophischen Kontext vgl. Arndt, Andreas: Vermittlung. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11. Basel/Darmstadt 2000, 722-726; Eintrag „Vermittlung". In: Regenbogen, Arnim/Meyer, Uwe (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Begründet von Friedrich Kirchner und Carl Michaelis, fortgesetzt von Johannes Hoffmeister. Vollständig neu herausgegeben von Arnim Regenbogen und Uwe Meyer. Darmstadt 1998, 703-704; Eintrag „Vermittlung". In: Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 4. Stuttgart/Weimar 1996, 517-518; Eintrag „Vermittlung". In: Prechtl, Peter/Burkard, Franz-Peter (Hg.): Metzler-Philosophie-Lexikon: Begriffe und Definitionen. 2., Überarb. u. aktualisierte Aufl. Stuttgart/Weimar 1999, 631-632; Eintrag „Vermittlung". In: Wissenschaftlicher Rat der Duden-Redaktion (Hg.): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. 3., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Bd. 9. MannheinVWien u.a. 1999, 4251-4252.
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wie Thematisierungsraum dafür, den Begriff auf die Probleme des Denkens selbst zu beziehen und damit gleichwohl im Ansatz bereits Wissenschaftstheorie zu betreiben - so im Handwörterbuch bei Wilhelm Traugott Krug 1838.4 Die einzelnen Stationen der Begriffsentwicklung sind hier nicht nur von illustrativem Belang, denn es ist u.a. festzustellen, dass der Vermittlungsbegriff von seiner Tradition her immer auch im Dialogischen begründet war. An dieser Stelle sei beispielsweise auf Jean P. Ancillons Zur Vermittlung der Extreme in den Meinungen von 1828 hingewiesen,5 in dem u.a. die kommunikativen Möglichkeiten des Ausgleichs zwischen den Extremen gefordert und aufgesucht werden. Ist für Fichte Vermittlung nur eine zeitbegrenzte „Schlichtung eines Widerstreits durch das fortwährende Einschieben von Zwischengliedern"6 - und wird damit in der Mitte der Vermittlung ebenso alles verbunden bzw. vereint, wie es an den äußeren Enden trotzdem unverbunden bleibt - , stellt auch die Schelling'sche Konzeption fest, dass Philosophie darauf zielen muss, die Dinge ursprünglich, das heißt eben ohne alle Vermittlung, zu erkennen. Nun folgt das, was man wirklich einmal einen Paradigmenwechsel in der Geistesgeschichte nennen kann: Hegel, der große Denker der Vermittlung mit Bedeutung und Wirkung weit über das 19. Jahrhundert hinaus, knüpft hier zwar ebenfalls am Vermittelten und Unvermittelten an, sieht das Entgegengesetzte auch als zu Überwindendes, fasst es dann aber als (produktiven) Widerspruch und sieht im Akt der Vermittlung schließlich das eigentliche Denken, die Reflexion. Die Dinge werden im Denken, das als philosophische Reflexion immer schon solche Vermittlung ist, insofern sie selbst, als sie so - und nur so - als Absolutes erkannt werden können. Man könnte also mit Hegel sagen, dass Vermittlung als Reflexion und damit als Überwindung der Widersprüche die eigentliche philosophische Operation darstellt, ja die eigentliche Erkenntniskraft des dialektisch operativen und damit zugleich erkenntnispraktisch operierenden Menschen ist. Jede negative Konnotation des Vermittlungsbegriffes, sein Charakter als notwendig in Kauf zu nehmende Hilfskonstruktion zwischen dem und den Unmittelbaren ist damit passé. Umgekehrt ist gerade, wie Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes betont, „Vermittlung [...] nichts anders als die sich bewegende Sichselbstgleichheit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst, das Moment 4
Vgl. Krug, Wilhelm Traugott: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte / nach dem heutigen Standpuncte der Wissenschaft bearbeitet und herausgegeben von Wilhelm Traugott Krug. Bruxelles 1970. 1. Auflage der fünf Bände Leipzig 1832-1834. 2., verb. u. verm. Aufl. Leipzig 1838. Die Erweiterung des Vermittlungsbegriffes auf die Logik findet sich erst in der Auflage von 1838.
5
Ancillon, Jean P.: Zur Vermittlung der Extreme in den Meinungen. Berlin 1828.
6
Arndt, Vermittlung, 723.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
des fürsichseyenden Ich. [...] Das Ich, oder das Werden überhaupt, dieses Vermitteln ist um seiner Einfachheit willen eben die werdende Unmittelbarkeit und das Unmittelbare selbst." 7 Unmittelbarkeit und Vermittlung sind so immer schon in den Dingen selbst als Erkannte, der Gegensatz hebt sich auf. Die kritische Weiterführung durch Feuerbach und die prinzipielle Skepsis theologischer Provenienz Kierkegaards gegenüber dem Hegel'schen Entwurf bleiben hier unberücksichtigt; wissenschaftsgeschichtlich entscheidend ist, dass Hegel hier nicht nur unmissverständlich deutlich und einsichtig machen kann, dass Vermittlung inhärentes Prinzip aller Wissenschaft, sondern dass es sogar grundlegendes Prinzip unserer gesamten Wissenskonstruktion ist. Dies ist für den hiesigen Zusammenhang von erheblicher und gar nicht zu überschätzender Bedeutung, weil nach dem Durchgang durch die Hegel'sche Philosophie jeder Versuch, Vermittlung als nachgeordnetes, den zuvor als „unmittelbar" geadelten Wissenschaften gar untergeordnetes Prinzip aus dem Begriff der Wissenschaften künstlich hinauszudrängen, wissenschaftstheoretisch geradezu absurd erscheinen muss. Vielmehr ist es Hegel, der erkennt, dass - man könnte in Anlehnung an Kant formulieren - all unser Denken als Reflexion erst mit der Vermittlung anhebt. Und nur auf den ersten Blick ist hier ein anderer Vermittlungsbegriff gemeint als der, den wir explizieren, wenn wir Gegenstände bewusst auf gesellschaftliche Prozesse beziehen und diese verhandelbar machen wollen. Wenn schon unser Wissen im wesentlichen Sinne dieses Wortes erkenntnistheoretisch und alltäglich nicht anders kann, als sich im Vermittlungsprozess des Denkens zu konstituieren, wenn schon die Wissenschaft erst entsteht, wenn sie Widersprüche in mehrfachem Sinne aufzuheben und sich in dieser Operation auf das Absolute dialektisch selbst vermittelnd zu errichten sucht (und dies in den Bereichen Kunst, Religion, Sittlichkeit, Staat, Geschichte usw. dann auch praktisch macht), um wie viel mehr ist dann auch die grundlegende Rekonstruktionsarbeit all unserer Gewinnung und Anwendung gesellschaftlichen Wissens immer schon konstitutiv durch das Paradigma der Vermittlung gekennzeichnet. Wenn das Wissen schon in seinem Wesen Vermittlung ist, dann kann Wissenschaft wohl kaum sich gründen, ohne selbst immer schon Vermittlung zu sein. Die fatale und in vielerlei Hinsicht paradoxe Kürzung des Wissenschaftsbegriffes um seinen Vermittlungscharakter nach innen und nach außen und damit die offensichtliche Halbierung des begrifflichen Potenzials und des Selbstverständnisses der Wissenschaften selbst auf der einen Seite und die Verdrängung des zutiefst erkenntnistheoretisch-anthro-
7
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Hauptwerke in sechs Bänden. Bd. 2. Phänomenologie des Geistes [Vorrede], Darmstadt 1999, 19.
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pologisch begründeten Zusammenhangs des Vermittlungscharakters allen Wissens ins Anwendungslastige auf der anderen Seite haben diese beiden Seiten der gleichen Medaille so getrennt bzw. ihre konstitutive Verschränkung aufgehoben, dass heute das gesellschaftliche Potenzial der Wissenschaftsentwicklung insgesamt in Frage gestellt ist und zu Recht auch wird. Eine Neuentdeckung des Vermittlungsparadigmas könnte diese Zersplitterung mit aufheben helfen.
3. Eckpunkte einer Systematik von Vermittlungswissenschaft Vermittlungsprozesse dürfen im umfassend kulturellen Kontext der Gesellschaft gerade nicht bedingungslos dem Zufall überlassen bleiben, und ihre Gestaltung darf auch nicht abseits professionellen, demnach auch wissenschaftlichen Handelns vonstatten gehen. Die moderne Gesellschaft verträgt ja gerade keinen VermittlungscWettant/smus mehr, und zwar um ihrer selbst willen, und eine diesbezügliche Professionallsierung schwächt nicht die Autonomie der einzelnen Subjekte, sie stärkt sie als aktiv Teilnehmende am kulturellen Prozess und am kulturellen Gedächtnis dieser Gesellschaft. Gerade deswegen ist auch die Aufrechterhaltung autonomer Wissenschaften für die Gesellschaft so wichtig, nämlich vor allem um der Selbstbestimmung des Menschen willen in seinen historischen und sozialen Bezügen, die für Ihn Vermittlung zur anthropologischen Grundaufgabe werden lassen: Individualitätskonstituierung, Wissenskonstruktion, Wissenschaftsinhärenz, Gesellschaftsrelevanz, Gegenstandsadäquanz, Professionalisierung und schließlich eine produktive Ambivalenz des wissenschaftlichen Zusammenhangs als Analyse- und Gestaltungsverfahren sind zentrale Kategorien für die Fundierung einer tragfähigen Heuristik von „Vermittlung" im Horizont wissenschaftlicher Theoriebildung. Es können nun die folgenden Perspektiven, die auch das daraus erwachsende Konzept der Umsetzung deklarieren, zusammengefasst werden: 1) Das Paradigma der Vermittlung in den Wissenschaften und die Vermittlungswissenschaft als paradigmatisches Konzept von Wissenschaft überhaupt sind geeignet, die Reduktionen des spätmodernen Wissenschaftsbegriffes zurückzunehmen bzw. zu ergänzen. 2) Vermittlungswissenschaft als wissenschaftstheoretische Konstruktion versteht Wissenschaft als die Integrierte Verknüpfung von wissenschaftlich legitimierten Theorie-, Analyse-, Anwendungs-, Produktions- und Reproduktionsverfahren gesellschaftlichen Wissens und sieht damit gesellschaftliche Realität als unbedingten Teil der eigenen Konstruktion und der spezifischen Verfahrensabläufe.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
3) Vermittlungswissenschaften sind konkret, und sie lehren und lernen heißt, gezielt und parallel auf verschiedenen Ebenen wissenschaftlichen Handelns durchgängig reflektiert tätig zu sein bzw. zu werden. Forschendes Lernen, Praxiserkundung, Praxisvollzüge und Praxisreflexion sind damit allesamt prinzipiell konstitutiver Bestandteil von Hochschulstudiengängen gleich welcher Art und welchen Abschlusses, welchen Hochschultypus, welchen Ortes und welchen Faches auch immer. 4) Vermittlungswissenschaften bieten gezielt aktiv gestaltete Schnittstellen zum Beschäftigungssystem an, ohne sich in dieser Perspektivierung theoretisch oder operational zu erschöpfen bzw. hier ihren zentralen Legitimations- und Handlungsfokus zu erkennen. 5) Vermittlungswissenschaftlich lehren und lernen heißt, die Vermittlungsprozesse eben dieses wissenschaftlichen Lehrens und Lernens in die Reflexion von Vermittlung mit hineinzunehmen und zu nutzen. Hierzu bedarf es eines spezifischen Qualifikationsprofils bei den Lehrenden, das erst professionell entwickelt werden muss. Diese hochschuldidaktische Professionalisierung ist auch für alle anderen Aspekte des vermittlungswissenschaftlichen Lehrens und Lernens und eine dauerhafte Entwicklung dieses anspruchsvollen Konzepts von Wissenschaft Voraussetzung. 6) Vermittlungswissenschaften helfen, trotz oder gerade wegen ihres fachdisziplinbezogenen Grundverständnisses, die drohende Befangenheit des einzelwissenschaftlichen Denkens, die zunehmende institutionelle Selbstbezogenheit der Urteile und die argumentative Einseitigkeit einer formalisierten Standardrationalität, die sich historisch und systematisch aus dem Separatismus von Forschung und Lehre, von Fachwissenschaft und Fachdidaktik, von Erziehungswissenschaften und Schulpraxis, von Wissenschaftsinstitutionen und gesellschaftlicher Reproduktion ergeben hat, aufzuheben zu Gunsten eines integrierten Verständnisses für die jeweiligen Disziplinen. Hierin liegt das eigentliche Potenzial für die Entwicklung auch der Wissenschaften selbst. Diese Charakteristik der sechs Perspektiven ist wie deren Anzahl vorläufig, veränderungsoffen und ausbaufähig, der Begriff der einzelnen Vermittlungswissenschaften im Gegensatz zu dem der Vermittlungswissenschaft bleibt aber stets regulativ, nur jener ist systematisch universell. Das Konzept der Vermittlungswissenschaften bietet in der hier begründeten und ausgebildeten Form eine zweckmäßige Grundlage für konkretisierende Überlegungen.
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4. Vermitteln als kulturelle Grundoperation Bevor nun von diesen Umsetzungsmöglichkeiten am Beispiel der Germanistik einige vorgestellt werden, wäre jedoch noch eine Klärung des Vermittlungsbegriffes im Hinblick auf seine Operationalisierbarkeit zu leisten, also auf die Fragestellung, was Menschen eigentlich tun, wenn sie vermittlungswissenschaftlich handeln oder einfacher: wenn sie vermitteln. Johannes Wildt sieht den Vermittlungsbegriff in seinen Verständniskontexten „Bildung" und „Wissen" im ersten Fall individuell auf die Persönlichkeit, im zweiten Fall sozial auf die Wissensgesellschaft bezogen.8 Konkret vermitteln ist in Wildts vermittlungswissenschaftlichem Metaplan in den vier Operationen 1) Präsentieren - in der Rahmung, im Hinblick auf und durch Medien, 2) Verständigen - im Kontext von Kommunikation, 3) Lehren/Lernen - im Hinblick auf und durch didaktisches Handeln und schließlich 4) Aushandeln - als Operation innerhalb von Mediationsprozessen differenziert. Man erhält damit zunächst eine brauchbare Systematik für die Klärung der Tatsache, dass Vermittlung nach Bedeutungs-, Legitimations- und Handlungsräumen jeweils spezifisch unterschieden und ausgestaltet werden muss. Darüber hinaus wird mit dieser Differenzierung Vermittlung aber auch von der analytischen Ebene der Wissenschaften auf die Handlungsebene des Prozesses bzw. der Situation systematisch heruntergebrochen. Bedeutung konstituiert sich (erst) in Gebrauchssituationen (und dann jeweils spezifisch, nach „medialer" Rahmung kontextabhängig und unterschiedlich). Eine Einsicht auch der auf Semantik und Semiotik ausgerichteten Debatte im Rahmen kulturwissenschaftlicher Theoriebildung,9 wie sie plastischer im Kontext der Vermittlungsproblematik kaum illustriert werden könnte und wie sie hier einmal lernpsychologisch zum Tragen kommt. Die Differenzierung der Vermittlungsoperaf/onen nach Wildts Analytik bedeutet jedoch gerade nicht deren Isolierung in weitgehend separierten und standardisierten Vermittlungsprozessen: Häufig müssen parallel und aufeinander bezogen mehrere der Operationen zielführend zur Anwendung gebracht werden. Vermittlung findet
8
Wildt, Johannes: Vermittlungswissenschaft: missing Unk einer gestuften Lehrerbildung? In: Welbers, Ulrich (Hg.): Vermittlungswissenschaften. Wissenschaftsverständnis und Curriculumentwicklung. Düsseldorf 2003, 155.
9
Jäger, Ludwig: Sprache und Schrift: Literalitäts-Mythos und Metalanguage Hypothesis. In: Borsö, Vittoria/ Cepl-Kaufmann, Gertrude/Reinlein, Tanja u.a. (Hg.): Schriftgedächtnis - Schriftkulturen. Stuttgart 2002, 197-217.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
damit also nicht nur im Vermittlungsprozess als Handlungsperspektive im Hinblick auf thematische Gegenstände und deren Bewältigung in sozialen Situationen statt, sondern auch zwischen den spezifischen Operationsformen von Vermittlung selbst muss vermittelt, d.h. ausgewählt, zurückgenommen, intensiviert, gebündelt, eingesetzt und vor allem immer neu auch gewichtet werden. Komplexes und flexibel einsetzbares fachliches, soziales und methodisches Urteilsvermögen gehört somit zentral zum Qualifikationsprofil für die Gestaltung von Vermittlungsprozessen und demnach auch zu einer diesbezüglichen Professionalisierung bzw. Qualifizierung derjenigen, die vermitteln, hinzu. Im Folgenden werden nun exemplarisch Gestaltungsmöglichkeiten des vermittlungswissenschaftlichen Paradigmas im Kontext germanistischer Hochschullehre vorgeführt.
5. Schreiben als Expertinnentätigkeit Der erste Gestaltungsraum ist der, der üblicherweise mit dem Begriff der „Fachwissenschaft" selbst assoziiert und charakterisiert wird. Auch und vor allem hier kann und muss verstärkt Wissenschaft unter der Vermittlungsperspektive verstanden und betrieben werden. Vermittlungswissenschaft ist nichts, was sich wissenschaftstheoretisch oder studienpraktisch dauerhaft bequem in einen gesonderten Bereich hineindelegieren und damit absondern ließe: Sie trifft vielmehr in den Kern der Fachwissenschaften selbst. Ein viel versprechendes Beispiel, das inzwischen viele Korrespondenten und Nachahmer gefunden hat, ist der Bereich der literaturwissenschaftlichen Germanistik, der sich mit dem Komplex Schreiben bzw. Schriftlichkeit beschäftigt. Ich wähle an dieser Stelle das Beispiel der Düsseldorfer Germanistik, weil an diesem Standort eine Professur zum Bereich Schriftkultur, zu Theorie und Praxis der Schrift eingerichtet werden konnte und damit das fachwissenschaftliche Profil des Studienbereiches Schriftlichkeit ein besonderes Gewicht bekommt. Im Studienreformprogramm Germanistik, Anfang der 1990er Jahre entstanden, können Studierende in Düsseldorf seit langem so genannte germanistisch-fundierte Schlüsselqualifikationen erwerben, und zwar nicht in einem gesonderten Praxisbereich, sondern als originären und verpflichtenden Teil des Fachstudiums selbst. Die Bereiche „Schriftlichkeit", „Mündlichkeit" und „Literarisch-kulturelle Kompetenz" stehen den Studierenden dabei zur Auswahl in der Kombination von theoretischen Seminaren bzw. Vorlesungen einerseits und einer Vielzahl an praktischen Übungen andererseits, Letztere meist von Lehrbeauf-
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tragten aus der Berufspraxis entwickelt und durchgeführt.'0 Im Bereich Schriftlichkeit wären dies etwa „Journalistisches Schreiben" oder „Schreiben für die elektronischen Medien", „Literarisches Schreiben" oder „Kritiken schreiben", „Wissenschaftliches Schreiben", bis hin zum Verfassen von „Geschäftsberichten von Unternehmen" oder „Korrespondenztraining für Banken". Nun ist die offensichtliche Berufsqualifizierung durch diese Veranstaltungen nur eine der - man möchte sagen drei - Seiten der Medaille. Bernd Witte hat ebenso eindringlich wie differenziert begründet, warum Schreiben eine zentrale Operation des Menschen in der Moderne ist, warum Schriftlichkeit somit als zentrales Element der abendländischen Kultur figuriert, warum die Zäsur von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, von Literalität und Oralität zentral ist für die Forschungsentwicklung der Literaturwissenschaft wie für die zivilisatorische Entwicklung moderner Gesellschaften überhaupt und warum dies schließlich Konsequenzen haben muss auch für alle, die sich wissenschaftlich mit deutscher Sprache und Literatur befassen." Cornelia Epping-Jäger hat verdeutlicht, was dies für die Spannung zwischen „Expertenkultur und [...] Textverständlichkeit"12 theoretisch und im Konkreten heißt, und in Anlehnung an Walter Ong überzeugend dargelegt, warum, wie Ong dies formuliert, „Schreiben [...] kein bloßes Anhängsel des Sprechens"13 ist: „Weil es [das Schreiben] dies [das Sprechen] aus seinem oral-auralen Zusammenhang befreit und zur neuen Welt des Schauens emporhebt, transformiert es Sprechen und Denken gleichermaßen."14 Solche fachwissenschaftliche Forschung ist nutzbar für den Hochschulunterricht, denn sieht man diese Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Berufsqualifizierung der Studierenden und den Reformbestrebungen der Hochschullehre im Hinblick auf eine verstärkte Handlungs- und Produktionsorientierung, ergibt sich ein Bedingungs- bzw. Bezugsdreieck, das eben diese drei Aspekte 1) Fachwissenschaftliche Forschung - theoretische Fundierung, 2) Fachübergreifende Schlüsselqualifikation - produktionsorientierte Einübung in der
10 Zum Bereich Mündlichkeit vgl. Pabst-Weinschenk, Marita: Rede- und Gesprächskompetenz. Ein didaktisches Dossier zu einem Basismodul aus dem germanistischen Lehr- und Forschungsbereich „Mündlichkeit". In: Welbers, Ulrich (Hg.): Vermittlungswissenschaften. Wissenschaftsverständnis und Curriculumentwicklung. Düsseldorf 2003, 114-142. 11 Vgl. Witte, Bernd: Literaturwissenschaft heute. „Oralität" und „Literalität" als Kategorien eines Paradigmenwechsels. In: Delabar, Walter/Bentfeld, Anne (Hg.): Perspektiven der Germanistik. Neueste Ansichten zu einem alten Problem. Opladen 1997, 59-74. 12 Epping-Jäger, Cornelia: Schriftlichkeit im Hochschulunterricht. In: Welbers, Ulrich/Preuss, Michael: Die reformierte Germanistik: Dokumentation zur Düsseldorfer Studienreform. Düsseldorf 2000, 117. 13 Ong, Walter: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1997. Zit. nach EppingJäger, Schriftlichkeit, 117. 14 Ebd., 117.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
Lehre und 3) Gesellschaftliche Praxis - Berufsfeldfähigkeit und Kompetenz in einen Zusammenhang bringen kann. Hieraus lassen sich nun im Rahmen gestufter Studiengänge Module bilden, beispielsweise von sechs Semesterwochenstunden, die eine theoretische Veranstaltung mit zwei Praxisveranstaltungen in jeweils einem der drei Bereiche verbinden. Auch eine Kombination aller Bereiche in einem Modul ist denkbar. Wohlgemerkt, wir befinden uns mitten im fachwissenschaftlichen Zusammenhang der germanistischen Literaturwissenschaft und hier wird ein weiteres Flexibilisierungsmerkmal ebenso offenbar, wie es die Entwicklung der Wissenschaften in der Spätmoderne illustriert: Ist ein Modul Schriftlichkeit für die Germanistik zentral aus ihrem originären Fachverständnis heraus, kann dies für ein anderes Fach ein eher fächerübergreifendes, ein Schlüsselqualifikationsangebot im klassischen Sinne sein (beispielsweise für Chemikerinnen, die später einmal bei Henkel in der PR-Abteilung arbeiten oder Forschungsberichte abfassen oder ihre Forschungsergebnisse veröffentlichen usw.). Es kommt also immer auf die Perspektive an: Was für einen fachlichen Zusammenhang Kern der Wissenschaft sein wird, kann für den anderen als Schlüssel- und/oder Zusatzqualifikation figurieren. Möglich wird solche Flexibilität auch über den Begriff der „Schlüsselqualifikationen", 15 denn was für eine Perspektive fachlich-nahe bzw. fachlich-fundierte Schlüsselqualifikation (wie an diesem Beispiel der Germanistik illustriert) ist, kann für andere fachferne bzw. „reine" Schlüsselqualifikation sein oder umgekehrt. Ein ganz anderes, quasi entgegengesetztes Beispiel: „Betriebswirtschaftliche Grundbegriffe" oder „Grundlagen der Volkswirtschaft" sind für Betriebswirtschaftlerinnen zentrale wissenschaftliche Fragestellungen, für Germanistik-Studierende heute notwendige Zusatzqualifikationen. Je nach Perspektive kann also auch die Verortung eines Moduls in verschiedenen Studiengängen bzw. Studiengangvarianten durchaus variabel sein, beispielsweise „Schriftlichkeit" in der Germanistik Modul des Fachstudiums, in Geschichte oder Chemie Teil eines vermittlungswissenschaftlichen Wahlpflichtbereichs, in Jura Zusatzqualifikation zusätzlich zum Studium als Angebot hinzutretend usw. Für den hiesigen Begründungszusammenhang bleibt festzuhalten, dass nirgendwo die Fachwissenschaft so sehr als Vermittlungswissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes betrieben werden kann wie in den hier gezeigten oder in ähnlich ange-
15 Vgl. Wildt, Johannes: Fachübergreifende Schlüsselqualifikationen - Leitmotiv der Studienreform? In: Welbers, Ulrich (Hg.): Das Integrierte Handlungskonzept Studienreform. Aktionsformen für die Verbesserung der Lehre an Hochschulen. Neuwied 1997, 198-213; Roth, Klaus-Hinrich: Fachlich-fundierte Schlüsselqualifikationen in der Germanistik. In: Welbers, Ulrich (Hg.): Das Integrierte Handlungskonzept Studienreform. Aktionsformen für die Verbesserung der Lehre an Hochschulen. Neuwied 1997, 2 1 4 - 2 1 9 .
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legten Angeboten. Jedes Wissenschaftsfach wird dafür seine eigenen fachlich-fundierten Schlüsselqualifikationen aus der Wissenschaft heraus entwickeln und als Studienangebot aufstellen können. Das Beispiel zeigt: Nichts ging der Fachwissenschaft an Wissenschaftlichkeit, an Begriff, Legitimation und Qualität verloren, an Geltung in der Hochschullehre und an gesellschaftlicher Wertschätzung hat sie allerdings deutlich hinzugewonnen.
6. Fachdidaktik als Kulturvermittlungswissenschaft Hat man Fachwissenschaft so begriffen und verstanden, wird man zwei beliebte und eigentlich von der Wissenschaftsgeschichte bereits lange überholte Fehlstellungen kaum noch ernsthaft behaupten können: nämlich Fachdidaktik - den zweiten hier aufgeführten Gestaltungsraum der vermittlungswissenschaftlichen Perspektive - einerseits abzudrängen ausschließlich in den Bereich der engeren Methodenschulung, der exklusiven Fixierung auf das Vermittlungsfeld Schule, der - provokativ formuliert - kleingehackten Curriculumreflexionen und der Mikroanalyse „stäubchengroßer" Unterrichtssequenzen. Nichts von alledem, oder nur spezifisch dann, wenn es wirklich konkret gebraucht wird und doch einmal in bestimmten Kontexten sinnvoll und stimmig ist, ist heute noch Fachdidaktik im eigentlichen Sinn. Andererseits ist die (im Grunde systematisch und historisch stets problematisch gebliebene) Dichotomie von Fachwissenschaft und Fachdidaktik immer noch dienlich vor allem denen, die sich selber gerne zur ersten Gruppe zählen. Der Zynismus allerdings, mit dem gerade manche Fachwissenschaftierinnen nun wiederum die lange geforderte Abschaffung der Fachdidaktik erneut - diesmal mit der umgekehrten Begründung - einfordern, sie könnten das alles selber durchaus doch mindestens genauso gut, soll hier unberücksichtigt bleiben. Kurzum: Didaktik ist ein extrem ertragreicher und einfallsreicher Streitfall der Wissenschaftsgeschichte seit ihren Anfängen. 16 Das alles mag man irgendwie auch im Sinn haben und auch sollen, wenn man heute zu Recht eine Definition der Fachdidaktik als Vermittlungswissenschaft fordert und damit die Ausweitung engerer Sichtweisen, ja die prinzipielle Öffnung dieses Zusammenhangs auch für außerschulische Berufsfelder und für die doppelte Sicht der Vermittlung: Analytik und gesellschaftliches 16 Vgl. Fingerhut, Karlheinz: Literaturdidaktik - eine Kulturwissenschaft. In: Belgrad, Jürgen/Melenk, Hartmut (Hg.): Literarisches Verstehen - Literarisches Schreiben. Positionen und Modelle zur Literaturdidaktik. Baltmannsweiler 1998, 50-72; Hebel, Franz: Fünfzig Jahre Deutschdidaktik im Spiegel von „Der Deutschunterricht". In: Der Deutschunterricht 50 (1998), H. 1, 9 1 - 9 8 und 51 (1999), H. 3, 9 1 - 9 5 .
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
Handeln, fordert. Insofern ist Fachdidaktik zweifelsohne, und dies ist vielleicht ihre produktivste Bestimmung, die Vermittlungswissenschaft par excellence. Nun ist das alles und auch die erneute Aufforderung richtig und wichtig, keinesfalls aber neu, was am Beispiel der Geschichtswissenschaft einfach zu zeigen ist. Der Kulturwissenschaftler, Historiker und Geschichtsdidaktiker Jörn Rüsen, der zu Recht jede „unzulässig verengte Vorstellung davon, was Fachdidaktik ist",' 7 schon lange kritisiert und ablehnt, argumentiert: „Die moderne Fachdidaktik spricht nicht nur die Wissensvermittlung an, sondern reflektiert die Grundlagen der fachlichen Erkenntnis, untersucht die Lernprozesse, in denen fachliches Wissen erworben wird, und analysiert seine Rolle in der Lebenspraxis."18 Mit dieser Sichtweise ist verbunden, dass „der Praxisbezug [...] Teil der fachlichen Kompetenz selber werden und nicht als etwas ihr Äußerliches angesehen werden"19 kann. „Und er soll auch nicht",20 so Rüsen markant, „auf bloße Unterrichtstechnologie reduziert werden, sondern dazu dienen, die Studierenden wahrnehmungs- und reflexionskompetent im Umgang mit Praxis zu machen"21. Und dies ist eben für alle Studierenden wichtig, egal welcher Berufsausrichtung. Nun ist selbst diese Erweiterung noch nicht ausreichend, will man den umfassenden wissenschaftlichen Horizont der Fachdidaktik im Kern erfassen. Rüsen argumentiert: „Geschichtsdidaktik ist [...] Wissenschaft von der Geschichtskultur der menschlichen Gesellschaft. Es geht ihr um alle Vorgänge individueller, sozialer und politischer Art, in denen sich Geschichtsbewusstsein bildet und als Faktor der menschlichen Lebensführung wirkt. Übrigens nicht nur im Bereich des Wissens, sondern auch der Emotionen, der ästhetischen Wahrnehmung, der werthaft-normativen Einstellungen und der politischen Kultur."22 Spätestens hier mag unmittelbar einleuchten, dass die grundlegende Trennung von Fachwissenschaft und Fachdidaktik längst obsolet ist. Das heißt aber eben nicht, dass die Fachdidaktik aufgeht in dem, was man bislang Fachwissenschaft nannte (sie muss, so Rüsen, „eigenständige, durch Forschungsleistungen ausgewiesene Wissenschaft"23 sein und bleiben), und es heißt auch nicht, dass Fachdidaktik fortan nichts mehr mit Unterricht zu tun hat. Es heißt, dass die Fachdidaktik dort, wo sie sich selbst
17 Rüsen, Jörn: Votum zur Neuordnung der Lehrerbildung in NRW. In: Welbers, Ulrich (Hg.): Vermittlungswissenschaften. Wissenschaftsverständnis und Curriculumentwicklung. Düsseldorf 2003, 145. 18 Rüsen, Votum, 145-146. 19 Ebd., 146. 20 Ebd., 146. 21 Ebd., 146. 22 Ebd., 146. 23 Ebd., 148.
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noch auf „Unterrichtstechnologie" verkürzt, heraus muss aus dieser Enge, und es heißt, dass die, die sich heute als „Fachwissenschaft" verstehen möchten und die sich wissenschaftsgeschichtlich selbst um ihre Vermittlungs- und Anwendungsbezüge gebracht haben und nun häufig dastehen wie ein hilfloser, rationalistischer Torso ohne gesellschaftliche Bindung und Verständnis, sich selbst endlich wieder komplettieren müssen: Ein neuer Wissenschaftsbegriff steht an, für den die Fachdidaktik dann federführend sein kann, wenn sie sich im umfassenden Sinne wirklich auch als Vermittlungswissenschaft begreift. Diese Argumentation müsste die jeweilige Fachdidaktik in ihren wissenschaftlichen Disziplinkontexten kennen und verknüpfen können, sie müsste weiterhin Vermittlungsperspektiven jedweder Art professionell verstehen und gestalten können, sie müsste schließlich bereit sein zur Integration der Ansprüche, dann wäre sie im Kern des Begriffs: Vermittlungswissenschaft. Wie eminent praktisch und wirksam dies im Hochschulunterricht werden kann, zeigen etwa Projektseminare zur Sprach- und Literaturvermittlung, die seit vielen Jahren sehr erfolgreich in der Düsseldorfer Germanistik veranstaltet werden. Hier werden einerseits Sprachtheoretiker (z.B. Humboldt, Grimm, Foucault etc.) oder Literaten (Heine, Brecht, Fontane etc.) und ihre Werke unter sprach- bzw. literaturwissenschaftlichem und sprach- bzw. literaturdidaktischem Aspekt vermittelt, gleichzeitig werden im Projektunterricht allgemeine Schlüsselqualifikationen bzw. soft-skills konkret eingeübt und ausprobiert: Teamfähigkeit, Urteils- und Kritikfähigkeit, Selbstständigkeit und Kooperationsfähigkeit, Problemerkennung und Problembearbeitung, konzeptionelles und handlungsbezogenes Denken, unter Zeitvorgaben abgesteckte Ziele erreichen zu können usw. werden hier ganz praktisch geübt und zudem um spezifische Trainings- und Instruktionseinheiten zu Projektmanagement, zu Qualitäts- und Zeitmanagement angereichert. 24 Aber schon das auf die Einführungsveranstaltung folgende didaktische Grundlagenseminar der allerersten Studienphase ist im vermittlungswissenschaftlichen Sinne ausgeweitet mit den Profilbildungen (1) Schreiben und Sprechen in Schule, Medien und Weiterbildung, (2) Schule, Theater, Museum und (3) Literatur und Medien in Schule und Öffentlichkeit. Im Grunde wird an diesem Standort jedem fachdidaktischen Seminar und jeder Vorlesung diese erweiterte, vermittlungswissenschaftliche Perspektive als Folie zur Gestaltung unterlegt. Mit solch
24 Vgl. Roth, Klaus-Hinrich/Welbers, Ulrich: Literaturvermittlung Im Projektunterricht: Theodor Fontane. Vorstellung eines Seminarkonzeptes. In: Welbers, Ulrich/Preuss, Michael (Hg.): Die reformierte Germanistik. Dokumentation zur Düsseldorfer Studienreform. Düsseldorf 2000, 314-319.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
einem Konzept ist gleichsam auch ein brauchbarer Rahmen dafür abgesteckt, innerhalb dessen die vermittlungswissenschaftliche Perspektive in der aktuellen Reform der Lehrerinnenbildung für die Fachdidaktik umgesetzt werden kann.25
7. Vermittlungsprofession ausbilden im Rahmen hochschuldidaktischer Professionalisierung Aus dem Vorangegangenen wird einsichtig, dass die Vermittlungsprofession im Rahmen der Hochschullehre, auch wenn sie aus der Fachwissenschaft kommt und in ihr fundiert ist, heute nicht mehr ohne hochschuldidaktische Professionalisierung auskommt. Diesem Anspruch müssen sich auch die Lehrenden an Hochschulen offensiv stellen. Personalentwicklung ist heute einer der Schlüsselbereiche nicht nur in Qualitäts- und Produktivitätssteigerungskonzepten von Wirtschaftsunternehmen, auch an Hochschulen und damit im Bereich öffentlich verantworteter Dienstleistung wird hier zunehmend eine der zentralen Entwicklungsaufgaben gesehen.26 Im Bereich der Verbesserung der Qualität des Lehrens und Lernens liegen mit der hochschuldidaktischen Aus- und Weiterbildung seit langem profunde, praxisnahe und gleichermaßen theoriegestützte Erfahrungen vor, die zurzeit einen spürbaren Aufschwung erleben:27 War hochschuldidaktische Weiterbildung lange Anliegen vereinzelter Initiativen, ist neuerdings eine deutliche Verbreiterung, Intensivierung und auch Institutionalisierung in diesem Bereich festzustellen.28 Neue Angebotsformen ergänzen das anerkannte Repertoire und zeigen eine auch in der Weiterbildung selbst erkennbare Modernisierung.29 Die nun zur Verfügung stehende breite Angebotspalette trifft auf stetig größer werdende Einsicht in den Hochschulen: Professionalisierung wird von diesen
25 Vgl. Roth, Kiaus-Hinrich: Konzept eines Basismoduls „Fachdidaktik/Vermittlungswissenschaft". In: Welbers, Ulrich (Hg.): Vermittlungswissenschaften. Wissenschaftsverständnis und Curriculumentwicklung. Düsseldorf 2003, 104-113. 26 Vgl. Pellert, Ada: Personalentwicklung. In: Hanft, Anke (Hg.): Grundbegriffe des Hochschulmanagements. Neuwied 2001, 3 4 8 - 3 5 2 . 27 Welbers, Ulrich: Hochschuldidaktische Aus- und Weiterbildung: Stand, Strukturen, Perspektiven. In: Welbers, Ulrich (Hg.): Hochschuldidaktische Aus- und Weiterbildung. Grundlagen - Handlungsformen - Kooperationen. Unter Mitarbeit von Thomas Korytko. Bielefeld 2003 (Blickpunkt Hochschuldidaktik Bd. 110), 11-51. 28 Vgl. Brendel, Sabine/Kaiser, Karin/Macke, Gerd (Hg.): Hochschuldidaktische Qualifizierung. Strategien und Konzepte im internationalen Vergleich. Bielefeld 2005. 29 Wildt, Johannes/Encke, Birgit/Blümcke, Karen: Professionalisierung der Hochschuldidaktik. Ein Beitrag zur Personalentwicklung an Hochschulen. Bielefeld 2003.
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als ein zentraler Faktor erkannt, um den stark zunehmenden Qualitätsanforderungen an Personen und Institutionen dauerhaft gerecht werden und auch im internationalen Wettbewerb der Hochschulen mithalten zu können.30 Der aktuelle Begriff der Hochschuldidaktik umgreift dabei nicht nur die methodischen Einzelfragen des Hochschulunterrichts im Sinne eines reduzierten Begriffs von dem, was mit „Didaktik" umgangssprachlich häufig umschrieben wird - sie ist vielmehr selbst Vermittlungswissenschaft, die Hochschulentwicklung unter dem Paradigma der Vermittlung als Ganzes in den Blick nimmt. Gerade die Strukturelemente des Lehrens und Lernens, die Planung von Studiengängen von deren Zielbestimmungen bis hin zum curricularen und organisatorischen Aufbau sind prinzipiell notwendiger Bestandteil jedweder hochschuldidaktischen Überlegung. Lehr- und Lernziele können nur in für sie geeigneten Rahmenbedingungen erfolgreich umgesetzt werden. Daher ist auch die Organisation der Lehre im doppelten Verständnis der operationalen und institutionenbezogenen Bedeutung von „Organisation" heute selbstverständlicher Bestandteil hochschuldidaktischer Forschung und Praxis. Hinzu treten Aspekte und damit gleichwohl Instrumentarien der Qualitätssicherung wie Evaluation und Akkreditierung. Dieser umfassende Begriff von Hochschuldidaktik darf aber eines nicht aus dem Blick verlieren - und das macht die Hochschuldidaktik nicht nur systematisch aus, es unterscheidet sie auch von vielen anderen Ansätzen zur Hochschulentwicklung: Am Beginn und am Ende jeder Argumentation und Bemühung steht stets das anspruchsvolle Lehren und damit das bessere Lernen der Studierenden in konkreten Lernsituationen.31 Hier hat die Hochschuldidaktik ihren systematischen Mittelpunkt und ist damit Wissenschaft von dem, worauf es aus ihrer Sicht wirklich ankommt, wenn man über Qualitätsentwicklung und -kultur spricht, nämlich Lehr- und Lernprozesse und damit Vermittlungsprozesse an Hochschulen in Verantwortung von Wissenschaft und Gesellschaft anspruchsvoll zu gestalten und zu optimieren. Damit wäre schließlich auch der Orientierungslosigkeit von Calvinos Reisendem zumindest ansatzweise begegnet: In die Lage versetzt, aus seinen zerstückelten Geschichten, in denen er gelebt wird, seine eigene Geschichte zu konstruieren und diese damit selbst zu leben, wäre er zunehmend in der Lage, Wissenschaft als Lebensform auch als
30 Vgl. Welbers, Ulrich: Studienreform als kritische Fragehaltung der Wissenschaften. In: Ehlert, Holger/Welbers, Ulrich (Hg.): Qualitätssicherung und Studienreform. Strategie und Programmentwicklung für Fachbereiche und Hochschulen im Rahmen von Zielvereinbarungen am Beispiel der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Düsseldorf 2004, 59-79. 31 Vgl. Welbers, Ulrich/Gaus, Olaf (Hg.): The Shift from Teaching to Learning. Konstruktionsbedingungen eines Ideals. Bielefeld 2005.
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
Einladung für andere zu verstehen. Dazu müsste Wissenschaft allerdings neu gedacht und auch neu gelesen werden: „Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Laß deine Umwelt im ungewissen verschwimmen [...]."32
Literatur Ancillon, Jean P.: Zur Vermittlung der Extreme in den Meinungen. Berlin 1828. Arndt, Andreas: Vermittlung. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11. Basel/Darmstadt 2000, 722-726. Brendel, Sabine/Kaiser, Karin/Macke, Gerd (Hg.): Hochschuldidaktische Qualifizierung. Strategien und Konzepte im internationalen Vergleich. Bielefeld 2005. Calvino, Italo: Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 2004. Epping-Jäger, Cornelia: Schriftlichkeit im Hochschulunterricht. In: Welbers, Ulrich/ Preuss, Michael: Die reformierte Germanistik: Dokumentation zur Düsseldorfer Studienreform. Düsseldorf 2000, 117-121. Fingerhut, Karlheinz: Literaturdidaktik - eine Kulturwissenschaft. In: Belgrad, Jürgen/ Melenk, Hartmut (Hg.): Literarisches Verstehen - Literarisches Schreiben. Positionen und Modelle zur Literaturdidaktik. Baltmannsweiler 1998, 50-72. Hebel, Franz: Fünfzig Jahre Deutschdidaktik im Spiegel von „Der Deutschunterricht". In: Der Deutschunterricht 50 (1998), H. 1, 9 1 - 9 8 und 51 (1999), H. 3, 91-95. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Hauptwerke in sechs Bänden. Bd. 2. Phänomenologie des Geistes [Vorrede]. Darmstadt 1999. Jäger, Ludwig: Sprache und Schrift: Literalitäts-Mythos und Metalanguage Hypothesis. In: Borsö, Vittoria/Cepl-Kaufmann, Gertrude/Reinlein, Tanja u.a. (Hg.): Schriftgedächtnis-Schriftkulturen. Stuttgart 2002, 197-217. Krug, Wilhelm Traugott: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte / nach dem heutigen Standpuncte der Wissenschaft bearbeitet und herausgegeben von Wilhelm Traugott Krug. Bruxelles 1970. [1. Auflage der fünf Bände Leipzig 1832-1834. 2., verb. u. verm. Aufl. Leipzig 1838.]
32
Calvino, Winternacht, 7.
Wenn ein Reisender in einer Wissenschaft
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
lert, Holger/Welbers, Ulrich (Hg.): Qualitätssicherung und Studienreform. Strategie und Programmentwicklung für Fachbereiche und Hochschulen im Rahmen von Zielvereinbarungen am Beispiel der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Düsseldorf 2004, 59-79. Welbers, Ulrich (Hg.): Das Integrierte Handlungskonzept Studienreform. Aktionsformen für die Verbesserung der Lehre an Hochschulen. Neuwied 1997, 198— 213. Welbers, Ulrich/Gaus, Olaf (Hg.): The Shift from Teaching to Learning. Konstruktionsbedingungen eines Ideals. Bielefeld 2005. Welbers, Ulrich/Preuss, Michael (Hg.): Die reformierte Germanistik: Dokumentation zur Düsseldorfer Studienreform. Düsseldorf 2000. Wildt, Johannes: Vermittlungswissenschaft: missing link einer gestuften Lehrerbildung? In: Welbers, Ulrich (Hg.): Vermittlungswissenschaften. Wissenschaftsverständnis und Curriculumentwicklung. Düsseldorf 2003, 149-162. Wildt, Johannes/Encke, Birgit/Blümcke, Karen: Professionalisierung der Hochschuldidaktik. Ein Beitrag zur Personalentwicklung an Hochschulen. Bielefeld 2003. Wissenschaftlicher Rat der Duden-Redaktion (Hg.): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. 3., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Bd. 9. Mannheim/Wien u.a. 1999, 4251-4252. Witte, Bernd: Literaturwissenschaft heute. „Oralität" und „Literalität" als Kategorien eines Paradigmenwechsels. In: Delabar, Walter/Bentfeld, Anne (Hg.): Perspektiven der Germanistik. Neueste Ansichten zu einem alten Problem. Opladen 1997, 59-74.
Didaktische Inhalte und Curricula
Herwig Gottwald (Salzburg)
Literaturwissenschaftliche Lehre an der Universität Grundsätzliche Überlegungen und Perspektiven'
1. Studienpläne - Lehrangebote - Methodendiskussion Im Unterschied zur Situation vor 30 Jahren, als vor allem für das Lehramt an höheren Schulen ausgebildet wurde, ist die literaturwissenschaftliche Lehre an Österreichs Germanistik-lnstituten seit geraumer Zeit zwei Zielen verpflichtet und bietet daher auch zwei Studienpläne an: den Lehramtsstudienplan und den Diplom- bzw. Bakkalaureatsstudienplan. 2 Da schon auf Grund der immer knapper werdenden Lehrbudgets die Studienangebote auf möglichst viele Synergieeffekte konzentriert sein müssen, unterscheiden sie sich in der Praxis der beiden Studiengänge nur in wenigen Bereichen, etwa der Fachdidaktik (nur für Lehramtsstudien) oder der Literaturtheorie (nur für Bakkalaureats- bzw. Diplomstudien), auch die allgemeinen Zielformulierungen sind in Bezug auf die literaturwissenschaftlichen Aspekte ähnlich formuliert. 3 In beiden Studienplänen wird mehr Wert auf Kompetenzen im literaturwissenschaftlichen Umgang mit Texten als auf literaturgeschichtliches Detailwissen gelegt: Diesbezüglich soll es um „Überblickskenntnisse in der Literaturgeschichte aller Epochen" 4 gehen, um
1
Der folgende Beitrag stellt keine Bestandsaufnahme der germanistischen literaturwissenschaftlichen Lehre an österreichischen Universitäten dar, sondern bezieht sich auf die Situation in meinem eigenen Fachbereich. In diesem Text sind sämtliche Personenbezeichnungen geschlechtsneutral zu verstehen.
2
Germanistische Bakkalaureate kann man derzeit an folgenden Universitäten in Österreich erwerben: Salzburg, Graz, Klagenfurt. A b 2007 soll im Zuge der Internationalisierung und Angleichung der tertiären Bildungseinrichtungen in der EU das Bakkalaureat auch für die Lehramtsstudien eingeführt werden, ein Prozess, der sich noch im Planungsstadium befindet.
3
Vgl. die beiden vor kurzem novellierten Studienpläne des Fachbereichs Germanistik der Universität Salzburg,
4
Bakkalaureatsstudienplan, § 3, Abschnitt (2).
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2. Lernen und Lehren
„Überblickswissen zur mittelalterlichen deutschen Literatur bis ins 16. Jahrhundert" bzw. um „Überblickswissen zur neueren deutschsprachigen Literatur (mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Literatur) seit dem 16. Jahrhundert" (beide unter Einbeziehung von „deren Wechselwirkung zu anderssprachigen Literaturen im kulturhistorischen Kontext" 5 ). Die Studienpläne reagieren damit auf die zunehmende Spezialisierung in den Literaturwissenschaften überhaupt, auf die seit Ende der 1960er Jahre ausufernden Methodendiskussionen und die damit einhergehende Unübersichtlichkeit im Fach selbst. Riskiert man einen Blick auf die einschlägigen Handbücher zu diesen Fragen, findet man oft entweder Kompendien zur weltanschaulichen Orientierung oder zu quasi-metaphysischen Großtheorien, wie sie z.B. das vor wenigen Jahren erschienene Handbuch „Orientierung Kulturwissenschaft" den von „Lacancan und Derridada" 6 geplagten Germanisten präsentierte,7 oder aber Lehrbücher mit einander diametral entgegengesetzten methodischen Ansätzen. 8 Auffallend ist dabei nicht nur die vielfach zu beobachtende kritiklose Übernahme fachfremder Methoden, zumeist quasi-philosophischer Herkunft, sondern auch die weitgehende Aussparung der Analytischen Literaturwissenschaft.9 Eine der Folgen dieser unerfreulichen Situation für die literaturwissenschaftliche Lehre besteht in deren Konzentration auf Methodenfragen, die oft ohne wissenschaftstheoretische Basis erfolgt, nicht zuletzt deshalb, weil analytische Traditionen im deutschsprachigen Raum, „anders als im angelsächsischen Raum, nie eine große Rolle spielten" 10 . Auf den Punkt gebracht: Auf Grund der weitgehenden methodischen Heterogenität innerhalb der Literaturwissenschaften (sowie der Geisteswissenschaften überhaupt) sehen viele Studierende bis zuletzt, bis zur Doktoratsphase, den (literarischen) Wald vor lauter (methodischen) Bäumen nicht. Dies konnte ich in zwei einschlägigen Seminaren zum Thema „Wissenschaftstheorie der Sprach- und Literaturwissenschaften" feststellen, die im Rahmen des Doktoratsstudiums von Georg
5
Lehramtsstudienplan, § 2, Abschnitt (2a); beide Studienpläne in der Fassung vom Juni 2005.
6
Laermann, Klaus: Lacancan und Derridada. In: Kursbuch 84: Sprachlose Intelligenz. Berlin 1986, 3 4 - 4 3 .
7
Böhme, Hartmut/Matussek, Peter/Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg 2000; methodisch ähnlich gestaltet ist: Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt am Main 2001.
8
Wellbery, David (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists
9
Köllerer, Christian: Geschichte und Perspektiven der Analytischen Literaturwissenschaft. Salzburg: Disserta-
„Das Erdbeben in Chili". München 2 1987. tion 1999; diese leider unveröffentlichte, aber mit dem Preis der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik ausgezeichnete Dissertation bietet einen exzellenten Überblick über die Geschichte der Analytischen Literaturwissenschaft, ihre methodischen Grundlagen und ihre Hauptvertreter.. 10 Ebd., 7.
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Literaturwissenschaftliche Lehre a n der Universität
Dorn, einem Kollegen aus der Philosophie, und mir selbst in interdisziplinärer Zusammenarbeit für Doktoranden der philologischen Fächer gemäß dem Doktoratsstudienplan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät" angeboten wurden. Im Laufe dieser Seminare wurde von mehreren Teilnehmern mit Recht das prinzipielle Fehlen wissenschaftstheoretischer Basiskenntnisse in den fachspezifischen Studienplänen beklagt, ein Defizit, das in der letzten Phase des Studiums, während der die Dissertation verfasst wird, kaum noch aufzuholen scheint. Dies bereitet u.a. der erwähnten Verunsicherung über den wissenschaftlichen Umgang mit Literatur den Boden. Literaturtheorie etwa ohne irgendeine wissenschaftstheoretische Grundlegung zu betreiben, kann zu je nach ideologischen Vorlieben unterschiedlicher weltanschaulicher Orientierung mit Immunisierungstendenzen gegenüber weiterführender Kritik führen. Die damit einhergehende Zersplitterung der Methoden ist unter dem Tarnnamen „Methodenpluralismus" längst in geisteswissenschaftliche Curricula eingeführt. Damit wird suggeriert, alle Methoden seien prinzipiell gleichwertig, gleich gut geeignet, kulturelle Phänomene zu erklären, von der „historischen Diskursanalyse" (Foucault) über die „strukturale Psychoanalyse" (Lacan), die „semiotische Diskursanalyse" (ein Sammelsurium von Jakobson bis Deleuze), die „Kultursoziologie" (von Bourdieu bis Elias), bis zur Systemtheorie (Luhmann) und zur „feministischen Literaturwissenschaft", zur „Gendertheorie" und zur „Dekonstruktion". 12 Es ist daher geboten, wissenschaftstheoretische Grundkenntnisse' 3 bereits in den jeweiligen Studieneingangsphasen zu verankern, um damit auch den Weg zu den Texten selbst, gerade für Anfänger oder leicht Fortgeschrittene, zu erleichtern, statt ihn zu verbauen. Statt die methodisch weitgehend unbefleckten Studienanfänger 11
Dieser S t u d i e n p l a n sieht sinnvollerweise n e b e n fachspezifischen L e h r v e r a n s t a l t u n g e n a u c h z w e i w i s s e n schaftstheoretische vor, eine als Pflicht-, eine z w e i t e als W a h l p f l i c h t f a c h ; die Letztere ist auf d e n jeweiligen Fachbereich b e z o g e n (in u n s e r e m Fall auf die philologischen Fächer); vgl. den S t u d i e n p l a n unter f o l g e n d e r Adresse:
12
http://wwwdb.sbg.ac.at/lwz/Studienplan/2001/GW-drphil.pdf
V g l . d a s S c h e m a v o n B o g d a l , K l a u s - M i c h a e l (Hg.): N e u e Literaturtheorien. Eine E i n f ü h r u n g . O p l a d e n 1 9 9 0 . In k e i n e m der zentralen H a n d b ü c h e r z u r Literaturwissenschaft, die derzeit in der Germanistik v e r w e n d e t w e r d e n (als „ E i n f ü h r u n g e n in die Literaturwissenschaft" b e z e i c h n e t u n d z.T. d u r c h a u s interessant, a u c h v o n g r o ß e r B r e i t e n w i r k u n g , vor allem bei Studierenden), spielen die analytische Wissenschaftstheorie bzw. deren Hauptvertreter w i e Popper o d e r Stegmüller a u c h nur i r g e n d e i n e Rolle. Sie w e r d e n seit l a n g e m t o t g e s c h w i e g e n , e t w a in: G e i s e n h a n s l ü k e , A c h i m : E i n f ü h r u n g in die Literaturtheorie. V o n der H e r m e n e u t i k zur M e d i e n w i s s e n s c h a f t . D a r m s t a d t 2 0 0 3 ; J e ß i n g , B e n e d i k t / K ö h n e n , Ralph: E i n f ü h r u n g in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 2 0 0 3 ; vgl. d a g e g e n : L a m p i n g , Dieter: Literatur u n d Theorie. Über p o e t o l o g i s c h e Probleme der M o d e r n e . G ö t t i n g e n 1 9 9 6 , bes. 7 - 1 9 .
13
Z u r E i n f ü h r u n g in diesen Bereich e i g n e n sich e t w a f o l g e n d e H a n d b ü c h e r : Poser, Hans: W i s s e n s c h a f t s t h e o rie. Eine p h i l o s o p h i s c h e E i n f ü h r u n g . Stuttgart 2 0 0 1 ; Fallesdal, Dafinn/Wall0e, Lars/Elster, Jon: Rationale Arg u m e n t a t i o n . Ein G r u n d k u r s in A r g u m e n t a t i o n s - u n d Wissenschaftstheorie. Berlin/New Y o r k 1 9 8 8 ; Savigny, Eike von: G r u n d k u r s im wissenschaftlichen Definieren. M ü n c h e n
3
1980.
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2. Lernen und Lehren
ungebremst und ungefiltert dem „Jargon der Uneigentlichkeit" auszuliefern, wie es Jörg Lau in seiner ebenso polemischen wie brillanten Abrechnung mit der dekonstruktivistischen Mode in den Geisteswissenschaften beschreibt,14 sollte von Anfang an weniger auf Überfrachtung der literaturwissenschaftlichen Lehre mit so genannter Literaturtheorie, sondern auf die Vermittlung solider wissenschaftstheoretischer Basiskenntnisse und -kompetenzen geachtet werden.
2. Kanon: Ent- und Rekanonisierungen Die universitäre literaturwissenschaftliche Lehre erfolgt jedoch nicht nur vor dem Hintergrund des beschriebenen Methodenpluralismus bzw. der damit einhergehenden methodischen Verunsicherung, sondern auch vor dem der damit zusammenhängenden Kanondiskussion, die sich in den letzten Jahren verstärkt hat, nicht zuletzt auf Grund der weitreichenden Veränderungen in der gesellschaftlichen Einstellung zu traditionellen Bildungsinhalten wie Literatur oder Kunst im Allgemeinen. Diese beschreibt Manfred Schneider polemisch, aber offenbar affirmativ als „Zerstreuung des Wissens" und „Popularisierung der Kultur".15 Peter von Matt hingegen urteilt aus einer kritischeren Perspektive: „Bestritten wurde der Kanon stets von literarisch unbelesenen Theoriemolchen. Diese sind nicht mehr überall an der Macht, aber die Eier, die sie gelegt haben, stinken immer noch. Mindestens zwei Generationen junger Leute wurden von ihnen betrogen."16 Die Verbindung zum oben Gesagten ist offensichtlich. Von mehreren Seiten aus geraten damit sowohl die Studienplangestalter als auch die Studierenden, besonders die Anfängern, unter Druck: Einerseits sollen starre Kanonisierungen vermieden werden, der literarische Kanon soll vielmehr offen gehalten werden für vergessene, verdrängte, zu Unrecht gering geschätzte und daher wiederzuentdeckende Texte bzw. Autoren. Dahinter stehen die zu Recht diskutierten Fragen nach den Machtprozessen, die Kanonisierungsprozessen zwangsläufig innewohnen.17 Andererseits sind gerade junge Leute durch derartige Diskussionen und deren zumeist 14 Lau, Jorg: Der Jargon der Uneigentlichkeit. In: Merkur (1998), Themenheft: Postmoderne. Eine Bilanz, 944-955. 15 Schneider, Manfred: Betrug! Der ZEIT-Kanonkonsens: Ein Offenbarungseid. In: Die Zeit 25, 13.6.1997, 49. 16 Matt, Peter von: Beitrag zu: Der deutsche Literatur-Kanon. Was sollen Schüler lesen? In: Die Zeit 21, 16.5.1997. 17 Vgl. Schmidt-Dengler, Wendelin/Zeyringer, Klaus/Sonnleitner, Johann (Hg.): Die einen raus - die anderen rein. Kanon und Literatur: Vorüberlegungen zu einer Literaturgeschichte Österreichs. Berlin 1994.
Literaturwissenschaftliche Lehre an der Universität
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entkanonisierende Folgen leicht zu verunsichern (wie durch die Unübersichtlichkeit in methodischer Hinsicht) und stehen oft vor der grundsätzlichen Frage, woran man sich angesichts der Fülle an Schrifttum orientieren könne bzw. solle. Nicht zuletzt deshalb ist gerade In den letzten Jahren der Ruf nach Re-Kanonisierungen, nach Grundorientierung in Fragen literarischer oder allgemein künstlerischer Kanones unüberhörbar, wie der Verkaufserfolg der Bücher von Dietrich Schwanitz zeigt. In Bildung. Alles, was man wissen muß18 wendet sich der ehemalige Literaturwissenschaftler und Universitätslehrer gegen die „große Verunsicherung", die „große Unübersichtlichkeit" und die „große Beliebigkeit"'9. Was dabei herauskommt, Ist oft leider problematisch, weil zu ausschließlich am unreflektierten Zeitgeist, an Modischem und nur kurzfristig Interessantem orientiert, etwa die Ablehnung naturwissenschaftlicher Kenntnisse oder die starke Gegenwartszentrierung.20 Angesichts der Notwendigkeit, zwischen der Scylla der potenziellen Machtorlentierthelt und Erstarrung literarischer Kanones (bzw. der damit verbundenen Ausschließung zahlreicher Autoren bzw. Texte) und der Charybdis der völligen Offenheit und Beliebigkeit derselben In der literaturwissenschaftlichen Lehre hindurchzusteuern, ist eine grundsätzliche Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen von Kanonbildungen unumgänglich.
3. Leselisten in Theorie und Praxis In der Praxis des literaturwissenschaftlichen Unterrichts an Österreichs Universitäten stehen die bekannten Leselisten scheinbar im Mittelpunkt. An solchen Kanones vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart scheinen sich noch immer sowohl Lehrende als auch Studierende zu orientieren, bei der Vorbereitung bzw. Themenwahl der Lehrveranstaltungen einerseits und bei der Vorbereitung auf die größeren Prüfungen (wie Diplomprüfungen oder Rigorosen) andererseits. Zumindest theoretisch sind die Leselisten das stoffliche Rückgrat von Lehre und Studium der Literaturwissenschaft. In der Praxis sieht es freilich anders aus (obwohl man dazu empirische Daten benötigen würde, die nur auf dem Weg eines Forschungsprojekts zu erarbeiten wären): Das Gros
18 Schwanitz, Dietrich: Bildung. Alles, was man wissen muß. Frankfurt am Main 1999; seither mehrere Auflagen, auch als Taschenbuch. 19 Ebd., 24. 20
„Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht." Ebd., 482. Die Lektüre von Musil, Broch, Canetti, Thomas Mann oder auch Botho Strauß, Autoren mit breitem naturwissenschaftlichem Hintergrund, geriete diesem Diktum zufolge ins Abseits.
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2. Lernen und Lehren
der Studierenden - so meine Vermutung (die aber auf einschlägigen Erfahrungen beruht) - macht mit der Leseliste oft erst in der Endphase des Studiums nähere Bekanntschaft, zu einem Zeitpunkt also, an dem es für eine vertiefte Beschäftigung damit längst zu spät ist. Dann gibt es vor allem zwei Möglichkeiten: einerseits das (wenig sinnvolle) Nachschlagen in Literaturlexika wie dem „Kindler" (eine seit Jahrzehnten leider oft geübte Praxis), andererseits die nahezu ausschließliche Konzentration auf so genannte Spezialgebiete. Letztgenannte Möglichkeit scheint auch manchen Prüfern entgegenzukommen, da sie derjenigen entspricht, jahrelang thematisch ähnliche Schwerpunkte in der Lehre zu setzen. Im schlechtesten Fall kommt man dann mit einem kleinen Kreis ausgewählter Autoren bzw. Texte (die meist der Gegenwartsliteratur entstammen oder auch zu den Spezialgebieten der jeweiligen Lehrenden gehören) durchs ganze Germanistik-Studium. Im besten Fall, so scheint mir, bringen die so Ausgebildeten ein ausreichend hohes Reflexionsniveau in Bezug auf Kanonisierungsprozesse und deren kulturelle Hintergründe mit, dass sie wissen, was sie nicht gelesen haben. „Aus dem Kanon der gelesenen Bücher ist mittlerwelle der Kanon der ungelesenen Bücher geworden: Man weiß gerade noch, was man eigentlich gelesen haben sollte."2' Immerhin ist der Kanon in diesem Fall als Negativform noch vorhanden und daher potenziell weiterhin verbindlich, ist permanent Im Hintergrund des Bewusstseins wirksam, als ,,leise[r] Phantomschmerz der Bildung"22. Dazu ist aber das Erlangen jener Reflexionskompetenz und - damit zusammenhängend - das Erreichen der Phantomschmerzschwelle in Bezug auf diejenigen Werke, die man noch nicht gelesen hat, erforderlich. Verbindet sich diese Fähigkeit aber mit weiteren methodischen Kompetenzen im Umgang mit Texten und deren kulturellen Kontexten, steht dem bekannten lebenslangen Lernen und Weiterbilden (hier: Welterlesen) nahezu nichts mehr im Wege. Im anderen Fall, bei so genannten „Schmalspurgermanisten" oder „Dünnbrettbohrern",23 werden sich die Versäumnisse langfristig akkumulieren und - vor allem im schulischen Bereich - negativ auswirken, wie allgemein bekannt. Zugleich ist eine einfache Rückkehr zu tradierten Kanonbildungen nach dem Muster der untergegangenen bürgerlichen Kultur24 ebenso unmöglich wie die Versuche
21 Assmann, Aleida: Der väterliche Bücherschrank. Über Vergangenheit und Zukunft der Bildung. In: Wiesinger, Peter (Hg.): Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. „Zeitenwende - Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert". Bern/Berlin/Bruxelies u.a. 2002, 97. 22 Ebd., 97. 23 Diesen treffenden Ausdruck verwendete vor über 30 Jahren der Salzburger Germanist Walter Weiss in einem offenen Brief an seine Studenten, womit er jene unausrottbaren Tendenzen deutlich markierte. 24 Einen indirekten Nachruf auf diese hat Manfred Fuhrmann verfasst, indem er ihre zentralen Institutionen und deren kulturelle Leistungen würdigte: Fuhrmann, Manfred: Der europäische Bildungskanon des bür-
Literaturwissenschaftliche Lehre an der Universität
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in letzter Zeit, grundlegende Unterschiede zwischen populärer Kultur und Hochkultur zu verwischen oder zu negieren, womöglich im Zeichen von Toleranz und Liberalität, denn über Geschmack (und damit über Qualität) lässt sich sehr wohl trefflich streiten. 25 Welche Konsequenzen haben diese Befunde für die literaturwissenschaftliche Lehre im Allgemeinen? Es lässt sich mit guten Gründen die Hypothese wagen, dass die angesprochenen Kanonfragen vor allem die jüngere Literatur betreffen und dass es sehr unwahrscheinlich ist - von wenigen Ausnahmen abgesehen - , dass künftig Wiederentdeckungen bedeutender vergessener älterer Texte (wie in den Fällen Hölderlin oder Büchner) jederzeit möglich sind. Die jahrzehntelange Ausblendung der jüngsten, der Gegenwartsliteratur, aus den Studiengängen und Lehrveranstaltungen ist längst ein Phänomen weit vergangener Zeiten; seit den späten 1960er und 70er Jahren ist es in Forschung und Lehre im Gegenteil zu einer allmählich sich entwickelnden Dominanz der zeitgenössischen Literatur gekommen. An ihr führt in der germanistischen Ausbildung kaum mehr ein Weg vorbei, wohl aber - nach dem Tod der Klassik - an vielen ehemals kanonischen Werken, die man getrost zur Weltliteratur zählen darf. Auch das ist längst bekannt, und man sollte in den Studienplänen wie in den einzelnen Lehrveranstaltungen darauf reagieren. In oft polemisch zugespitzter Weise bringt Botho Strauß die Gefahren einer „hybriden Überschätzung von Zeitgenossenschaft" 26 in mehreren seiner kulturkritischen Essays zum Ausdruck: „Es ist schade, ganz einfach schade um die verdorbene Überlieferung. Ja, sie verdirbt draußen vor den Toren wie eine Fracht kostbarer Nahrung, auf die die Bevölkerung wegen irgendwelcher Zollstreitigkeiten verzichten muß." 2 7 Vergleichbares formuliert - ebenso brillant wie bösartig - bereits Schopenhauer: „Weil die Leute, statt des Besten aller Zeiten, immer nur das Neueste lesen, bleiben die Schriftsteller im engen Kreise der cirkulierenden Ideen, und das Zeitalter verschlammt immer tiefer in seinem eignen Dreck." 28 Kanonverächter unter den Lehrenden der Literaturwissenschaft wären gut beraten, den wahren Kern hinter der
gerlichen Zeitalters. Frankfurt am Main 1999; Fuhrmann erkennt die Kämpfe gegen Kanonbildungen als gesellschaftliche Anachronismen und sieht folgerichtig Leselisten längst nicht mehr als Druck- oder Machtmittel, sondern als Hilfestellungen und „Vorschläge, [...], die einer großenteils der Literatur entfremdeten Gesellschaft von Fachleuten serviert" werden. Fuhrmann, Bildungskanon, 102. 25
Vgl. dazu den instruktiven Band: Aspetsberger, Friedbert/Höfler, Günther A. (Hg.): Banal und Erhaben. Es ist (nicht) alles eins. Innsbruck/Wien 1997.
26
Strauss, Botho: Anschwellender Bocksgesang. In: Botho Strauss: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt.
27
Ebd., 69f.
Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München/Wien 1993, 69. 28
Schopenhauer, Arthur: Über Lesen und Bücher. In: Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Bd. 2. Wiesbaden 1972, 592f.
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2. Lernen und Lehren
Polemik ernst zu nehmen und fest gefügte Vorurteile in Bezug auf die großen Texte der europäischen Literaturgeschichte abzubauen. 29 Zugleich ist angesichts der grundlegenden Orientierungsprobleme gerade junger Studierender vor allzu umfangreichen Rekanonisierungen zu warnen. Eine zu große Leseliste schreckt eher ab, als dass sie zum Einlesen motiviert. Daher ist ein reflektierter Umgang mit der Leseliste im Laufe eines Studiums sowohl von Seiten der Studierenden als auch der Lehrenden sinnvoll. Der Salzburger Fachbereich Germanistik hat seine ca. 40 Jahre alte und mehrmals überarbeitete Leseliste vor kurzem gänzlich erneuert. 30 Ich zitiere aus der Vorbemerkung: „Die gelisteten Werke stellen ein literarhistorisch und literarästhetisch repräsentatives Corpus dar, das für eine professionelle Beschäftigung mit Literatur unverzichtbar ist und das Sie sich im Laufe Ihres Studiums aneignen sollen. Einzelne Titel (aber nicht ganze Epochen) können Sie begründet durch äquivalente ersetzen [...]." 3 ' Es folgt ein breiter Querschnitt durch die Haupttexte vom 9./10. Jahrhundert bis zur Gegenwart, aufgelistet nach Epochen und ergänzt durch Hinweise auf zentrale Werke der Weltliteratur von der Bibel bis Petrarca. Vereinzelt sind auch günstige Ausgaben angegeben. In der Praxis der Lehre und der an diese angeschlossenen Prüfungen wird jedoch auf sehr unterschiedliche Weise mit der Leseliste umgegangen. Offensichtlich ist es unmöglich und auch kaum sinnvoll, alle Lehrenden darauf festzulegen. Einen didaktisch sinnvollen Mittelweg zwischen der Vermittlung von Überblickswissen (und sei es auch nur als Bewusstseinsschärfung für den erwähnten negativen Kanon der noch zu lesenden Texte) und dem Erwerb von Spezialkenntnissen zu finden, ist zwar wünschenswert, aber oft kaum in die Praxis literaturwissenschaftlicher Lehre umzusetzen.
29
Vgl. dazu meinen Artikel: Kanonbildung im Deutschunterricht der Gegenwart. In: Stimulus (2000), H. 1 - 2 , 243-254.
30
Leseliste (Fachbereich Germanistik, Salzburg): i
31
Ebd.
Literaturwissenschaftliche Lehre an der Universität
103
4. Einschlägige Lehrveranstaltungen Das Gros germanistischer Lehrveranstaltungstypen von Proseminar, Seminar oder Spezialvorlesung bis zu Privatissimum oder Dissertanten- oder Forschungsseminaren widmet sich perse eng umgrenzten Stoffbereichen, einzelnen Autoren oder Texten, manchmal auch Epochen oder Gattungen, zumeist in zeitlich begrenzter Form, gelegentlich als (thematische oder gattungsästhetische) Längsschnitte, z.B. „Mythos und Mythologie in der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart"32. Das literaturdidaktische Konzept dieser Lehrveranstaltungen beruht auf der sinnvollen Konzentration auf eng umgrenzte Stoffbereiche, die repräsentativ für literarische und gesamtkulturelle Entwicklungen stehen und an denen diejenigen wissenschaftlichen Kompetenzen erlernt werden sollen, die zur selbstständigen und weiterführenden Aneignung von Literatur überhaupt befähigen können. Literaturgeschichtlicher Überblick über die neuere deutsche Literatur wird in Salzburg in Form eines dreijährigen Vorlesungszyklus angeboten, der die Epochen der Literaturgeschichte nach dem jeweiligen Forschungsstand präsentiert: Literatur a) des 16./17. Jahrhunderts, b) des 18. Jahrhunderts, c) der Klassik und Romantik, d) des 19. Jahrhunderts, e) der Jahrhundertwende bis 1945 und f) der Zeit nach 1945. Von diesen sechs Vorlesungen ist im Rahmen des Lehramtsstudiums je eine pro Studienabschnitt verpflichtend, im Bakkalaureatsstudium eine (sowie eine weitere im Magisterstudium). Das ist offensichtlich das Maximum, das Studierenden vor dem Hintergrund eines 76 bzw. 80 Semesterstunden (Lehramt, 1. oder 2. Studienrichtung, inklusive Pädagogik, Fachdidaktik und freie Wahlfächer) bzw. 95 Semesterstunden (Bakkalaureat, davon 57 facheinschlägige) umfassenden Studiums zugemutet werden kann. Auf den ersten Blick ist hier bereits der grundlegende Unterschied zu den Studiengängen der 1960er und 70er Jahre erkennbar: Die Studierenden haben weitaus mehr Pflichtstunden zu absolvieren als ihre Kollegen jener Jahre, sie haben daher weniger Freiräume für die Absolvierung von Wahlfächern, aber auch kaum mehr die Möglichkeit für Orientierungen in anderen Fächern (sofern diese nicht einfach Wahlfächer sind). Eine der bedenklichen Folgen dieser Entwicklung (die durch die kontraproduktive Einführung der Studiengebühren noch verschärft wird) ist die sich bei nicht wenigen Studierenden immer mehr verstärkende Neigung zum „Scheine-Sammeln" oder - im schlechtesten Fall - zum 32 Als Proseminar vom Altgermanisten Manfred Kern und mir im Sommersemester 2002 gehalten; der ungewöhnlich starke Andrang von Studierenden zu dieser Lehrveranstaltung und ihr interessanter Verlauf erwiesen die große Nachfrage nach literaturgeschichtlichen Längsschnitten, in denen Texte aus mehreren Epochen im Vergleich analysiert werden.
104
2. Lernen und Lehren
bloßen „Absitzen" von Stunden in prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen, ohne innere Beteiligung, wie es aus den höheren Schulen bekannt ist. Einige Ursachen dieser Entwicklung liegen u.a. in der Expansion des Fachs der Germanistischen Linguistik und dessen Etablierung in den Studienplänen in den 1980er und 90er Jahren, aber auch in der zunehmenden und notwendigen Einbeziehung neuer (bzw. lange ausgeblendeter älterer) Themen wie Rhetorik, Praxisfächer (u.a. Medien, etwa Film oder Internet) oder Deutsch als Fremdsprache. Außerdem ist die Sicherung grundlegender Kenntnisse und Kompetenzen in Studiengängen mit hoher Pflichtstundenzahl offensichtlich besser überprüfbar als bei den älteren mit geringerer Stundenzahl. Die Tendenz zur Verschulung in den Studiengängen ist insgesamt unverkennbar und bringt auch Nachteile mit sich, etwa die Verringerung an zeitlichen und arbeitsökonomischen Möglichkeiten, das eigene Curriculum selbstständig zu gestalten. Das betrifft die literaturwissenschaftliche Lehre im Kern: Gegenwärtige Studierende der Germanistik haben weniger Zeit für selbstständige Studien, für breites Lesen und damit auch für den Lesekanon der literaturwissenschaftlichen Fächer als ihre Kollegen in der Vergangenheit. Oft wird kurz vor der zweiten Diplomprüfung hastig manches angelesen oder überflogen, ohne dass die eigentliche Lese-Tugend beachtet wird: die Langsamkeit. Mit Studienplänen alleine diesen Entwicklungen gegenzusteuern (etwa durch die Erhöhung der Verpflichtung zum Besuch von Überblicksvorlesungen) erscheint nicht sinnvoll, zumal es-diese auch in jenen „großen Jahren" der Germanistik nicht gab. Die Leseliste war damals vor allem eine Grundlage für das Selbststudium, und sie ist heute vor allem eine „Schattenleseliste", die nur auszugsweise in bestimmten Lehrveranstaltungen oder bei Abschlussprüfungen herangezogen wird und im gesamten Studiengang zumeist höchstens (vielleicht sogar bestenfalls) den Assmann'schen „Phantomschmerz" erzeugt.
5. Möglichkeiten und Perspektiven In seinem kulturkritischen Werk Menschliches, Allzumenschliches (1878) setzt sich Nietzsche mit dem „Hauptmangel derthätigen Menschen" auseinander und konstatiert, dass den „Thätigen" die „höhere Thätigkeit", die er als individuelle bestimmt, fehle: „Sie sind als Beamte, Kaufleute, Gelehrte, das heisst als Gattungswesen thätig, aber nicht als ganz bestimmt Menschen; in dieser Hinsicht sind sie faul. [...] Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sdaven und Freie; denn
Literaturwissenschaftliche Lehre an der Universität
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wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sdave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter."33 Der letztgenannten Berufsgruppe wirft er im Folgenden die Übernahme der Hektik des modernen Lebensstils vor: „Zum Zeichen dafür, dass die Schätzung des beschaulichen Lebens abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt mit den thätigen Menschen in einer Art von hastigem Genüsse, so dass sie diese Art, zu geniessen, höher zu schätzen scheinen, als die, welche ihnen eigentlich zukommt und welche in der That viel mehr Genuss ist. Die Gelehrten schämen sich des otium. Es ist aber ein edel Ding um Müsse und Müssiggehen."34 Letzteres bezeichnet allerdings keineswegs Zerstreuung oder Nichtstun, sondern den für das Eindringen in schwierige Problembereiche unabdingbaren zeitlichen Freiraum. Wie anhand dieser Einsichten deutlich wird, ist die allgegenwärtige Hektik moderner westlicher Zivilisation längst in den Universitätsbetrieb eingedrungen und hat hier ihre verheerenden Wirkungen entfaltet. Hektik statt Nachdenken, Publizieren unter permanentem Termindruck statt langfristiger Planungen und kontinuierlichem Arbeiten, ständige Verknappung des Zeitbudgets statt großzügiger und anregender zeitlicher Freiräume für vertiefendes Eindringen in wissenschaftliche Problemfelder: Wer kennt diese fatale Tendenz der modernen Wissenschaftskultur nicht? Sie betrifft in unserem Zusammenhang selbstverständlich auch den Studienbetrieb bzw. die Studierenden, denen Ähnliches abverlangt wird wie den Lehrenden und die - oft auf Grund mehrfacher Belastungen - viel zu wenig Zeit haben, um sich vertiefend mit schwierigen oder umfangreichen Texten zu beschäftigen oder auch Lehrveranstaltungen zu besuchen, die einen hohen Zeitaufwand erfordern, aber nur wenige ECTS-Punkte bringen. Leute wie Kant, Nietzsche oder Wittgenstein hätten in diesem Bildungssystem, das angeblich EU-weit genormt werden soll, keine Chance: „Man könnte aber Nietzsche so wenig in einem Büro, in dessen Vorraum die Sekretärin das Telefon betreut, bis fünf Uhr am Schreibtisch sich vorstellen, wie nach vollbrachtem Tagewerk Golf spielend."35 Langsamkeit und „Zeithaben" (Peter Handke) als Basis des selbstständigen Literaturstudiums sind unverzichtbare Tugenden, die im derzeitigen Ausbildungssystem zumeist nur in finanziell gesicherten Nischen gepflegt werden können. Das gilt aber oft auch für die Forschung selbst, die Basis der Lehre. Ein
33
Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Colli, Giorgio/ Montinari, Mazzino. Bd. IV,2: Menschliches, Allzumenschliches. Berlin 1967, 235f.
34
Ebd., 236.
35 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Ansichten aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main 2001, 170.
106
2. Lernen und Lehren
bekannter deutscher Germanist erläuterte mir nach seinem brillanten Musil-Vortrag, dass er selbst den „Mann ohne Eigenschaften" erst nach der Emeritierung wirklich vollständig und vertieft lesen habe können. Wie könnte man diesen Entwicklungen gegensteuern? Gibt es noch Freiräume für Studienplangestalter, für Lehrende bzw. deren Kunden, die Studierenden der Germanistik? Die ökonomische Seite jener bedenklichen Entwicklungen besteht nicht nur aus den durch die Studiengebühren ausgelösten Zwängen und den damit verbundenen grundsätzlichen Veränderungen im Studienverhalten einer ganzen Studenten-Generation (die nach dem Prinzip zu studieren verpflichtet wird, das Studium in kürzestmöglicher Zeit abzuschließen), sondern auch aus den Notwendigkeiten, die vorlesungsfreien Zeiten (die einzigen Lese-Zeiten, die Freiräume für ausgreifendes und intensives Lesen bieten) mit dem für die weiteren Studien notwendigen Gelderwerb zu verbringen. Dagegen sind die beste Hochschuldidaktik und die ausgefeiltesten Leselisten sowie die exzellentesten Vorlesungen bzw. Seminare machtlos! Hier ist die Politik gefordert, aber auch die Politik innerhalb der autonomen Universitäten selbst. Was hier auf Grund der permanenten Reformen bei Lehrenden und Studierenden an Irritationen ausgelöst wurde, ist unübersehbar und sollte zum Innehalten und grundsätzlichen Überdenken der universitätspolitischen Tendenzen des letzten Jahrzehnts führen. Ich erlaube mir abschließend eine Anmerkung zum Problem der Hochschuldidaktik im Allgemeinen, das die literaturwissenschaftliche Lehre im Besonderen ebenso betrifft. Hochschuldidaktik ist in der täglichen Lehrpraxis ein kaum beackertes Feld. Man kommt als Universitätslehrer damit eher am Rande in Berührung: bei den studentischen Evaluierungen, bei der Habilitation, wenn ein Gutachten von Seiten der Studienrichtung über die didaktischen Fähigkeiten der Kandidatin/des Kandidaten erstellt wird. Als ehemaliger AHS-Lehrer ist für mich auffallend, wie wenig im Laufe einer akademischen Karriere darüber reflektiert wird, dass in den wissenschaftlichen Curricula keine Weiterbildungsverpflichtung in der Didaktik der wissenschaftlichen Lehre vorgesehen ist. Die genannten Evaluierungen und Gutachten erfolgen somit ohne Boden, sie hängen im luftleeren Raum eines Wissenschaftsbetriebs, in dem immer wieder die Quantität der Publikationen Mängel in der Didaktik der Lehre verdeckt. Wie prüft man didaktisch richtig, d.h. sinnvoll? Dies ist zum Beispiel ein Bereich, der in der Lehrpraxis an höheren Schulen durchaus im Vordergrund steht, an den Universitäten aber unbeachtet bleibt. Hier wäre es dringend erforderlich, entsprechende Weiterbildungsmöglichkeiten sowohl für jüngere als auch für bereits anerkannte Hochschullehrer zu schaffen und eine dafür notwendige Bewusstseinsbildung in Gang zu setzen.
Literaturwissenschaftliche Lehre an der Universität
107
Literatur
Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Ansichten aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main 2001. Aspetsberger, Friedbert/Höfler, Günther, A. (Hg.): Banal und Erhaben. Es ist (nicht) alles eins. Innsbruck/Wien 1997. Assmann, Aleida: Der väterliche Bücherschrank. Über Vergangenheit und Zukunft der Bildung. In: Wiesinger, Peter (Hg.): Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. „Zeitenwende - Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert". Bern/Berlin/Bruxelles u.a. 2002, 97-112. Bogdal, Klaus-Michael (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Opladen 1990. Böhme, Hartmut/Matussek, Peter/Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg 2000. Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt am Main 2001. Follesdal, Dafinn/Wallae, Lars/Elster, Jon: Rationale Argumentation. Ein Grundkurs in Argumentations- und Wissenschaftstheorie. Berlin/New York 1988. Fuhrmann, Manfred: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt am Main 1999. Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft. Darmstadt 2003. Gottwald, Herwig: Kanonbildung im Deutschunterricht der Gegenwart. In: Stimulus. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik 2000, H. 1-2, 243-254. Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 2003. Köllerer, Christian: Geschichte und Perspektiven der Analytischen Literaturwissenschaft. Salzburg: Dissertation 1999. Laermann, Klaus: „Lacancan und Derridada". In: Kursbuch 84: Sprachlose Intelligenz. Berlin 1986, 34-43. Lamping, Dieter: Literatur und Theorie. Über poetologische Probleme der Moderne. Göttingen 1996. Lau, Jörg: Der Jargon der Uneigentlichkeit. In: Merkur (1998), Themenheft: Postmoderne. Eine Bilanz, 944-955. Matt, Peter von: Der deutsche Literatur-Kanon. Was sollen Schüler lesen? In: Die Zeit 21, 16.5.1997.
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2. Lernen und Lehren
Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino. Bd. IV,2: Menschliches, Allzumenschliches. Berlin 1967. Poser, Hans: Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung. Stuttgart 2001. Savigny, Eike von: Grundkurs im wissenschaftlichen Definieren. München 3 1980. Schmidt-Dengler, Wendelin/Zeyringer, Klaus/Sonnleitner, Johann (Hg.): Die einen raus - die anderen rein. Kanon und Literatur: Vorüberlegungen zu einer Literaturgeschichte Österreichs. Berlin 1994. Schneider, Manfred: Betrug! Der ZEIT-Kanonkonsens: Ein Offenbarungseid. In: Die Zeit 25, 13.6.1997, 49. Schopenhauer, Arthur: Über Lesen und Bücher. In: Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Bd. 2. Wiesbaden 1972, 592f. Schwanitz, Dietrich: Bildung. Alles, was man wissen muß. Frankfurt am Main 1999. Strauss, Botho: Anschwellender Bocksgesang. In: Botho Strauss: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München/ Wien 1993, 55-78. Wellbery, David (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erdbeben in Chili". München 2 1987. Links: 7 Leseliste (Fachbereich Germanistik, Salzburg): http://www.sbg.ac.at/ger/inhalt/Leseliste.pdf (Zugriff: 6.2.2006) 7 Studienplan Germanistik Salzburg: http://wwwdb.sbg.ac.at/lwz/Studienplan/2001/GW-drphil.pdf (Zugriff: 6.2.2006) 7 Informationen zum Studium (Fachbereich Germanistik, Salzburg) http://www.sbg.ac.at/ger/inhalt/studium.htm (Zugriff: 6.2.2006)
Elisabeth Stuck (Bern)
Lehren und Lernen im institutionellen Kontext. Literaturwissenschaftliche Studiengänge in der Hochschullandschaft
Im Bereich der tertiären Bildung ist zurzeit in zahlreichen europäischen Ländern vieles in Bewegung. Dies hängt zum einen zusammen mit den Veränderungen, die im Zuge der Umstellung auf das Bologna-System erfolgten bzw. noch erfolgen: Die Anpassung der Studiengänge auf ein System, das die Anerkennung von Studienleistungen mit einem Kreditpunktesystem europaweit fördern will, erforderte eine Reform der Studiengänge, die an den Schweizer Universitäten zur Umstellung auf Bachelor- und Master-Abschlüsse führte. Als zweite große Veränderung im Bereich der tertiären Bildung in der Schweiz ist die Entstehung der Fachhochschulen zu nennen, die neben den Universitäten auch einen Forschungsauftrag erhielten. Zurzeit ist ein Projekt „Hochschullandschaft Schweiz" im Gang, das auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage für die zehn kantonalen Universitäten, die sieben Fachhochschulen und die beiden Eidgenössischen Technischen Hochschulen zielt. Bei den Reformbestrebungen für die Universität gibt es zwei gegensätzliche Ausrichtungen: Die eine verlangt mehr Öffnung gegenüber der Gesellschaft und plädiert für eine stärkere Anpassung der Studiengänge an die Bedürfnisse der Berufswelt. Für den Bereich der Forschung werden kompetitive Projekte vorgesehen, die vermehrt in Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft durchgeführt werden sollen. In diesen Bestrebungen löst man sich vom traditionellen Verständnis von Universität, das seit Humboldt auf der engen Verzahnung von Forschung und Lehre in einem von Wirtschaft und Politik unabhängigen Freiraum beruhte. Auf der andern Seite gibt es Stimmen, die sich auf dieses klassische Verständnis von Universität beziehen und Humboldts Ideen zum Verhältnis von Staat und Universität im Hinblick auf heutige Hochschulverhältnisse neu nutzbar machen wollen. Betont wird hier der intrinsische Wert von Wissenschaft. Dies geht zurück auf Humboldts These, dass Wissenschaft der Gesellschaft nur nützen könne, wenn Wissenschaft um ihrer selbst willen ausgeübt werde.' Innerhalb der geisteswissenschaftlichen Fakultäten sind viele Anhänge1
Vgl. Rippe, Klaus Peter: Schlag nach bei Humboldt! Gedanken zu einer liberalen Hochschulpolitik. In: Her-
110
2. Lernen und Lehren
rinnen dieses traditionellen Universitätsverständnisses zu finden. Mit Skepsis wurde daher von Seiten vieler Literaturwissenschaftlerlnnen der Bologna-Prozess beobachtet bzw. eingeleitet, weil Im Zuge dieser Anpassung an ein System, das europaweit eine größere Mobilität und Flexibilität für Studierende bieten soll, mit einer stärkeren Reglementierung zu rechnen war.
1. Das Verhältnis von Universität und Staat. Beispiel: Lehramtsstudiengänge Für die universitäre Lehre und Forschung im Fach Literaturwissenschaft sind nicht in erster Linie Kooperationen mit der Privatwirtschaft zu erwarten, die die akademische Unabhängigkeit in Frage stellen könnten. Diese Herausforderung betrifft mehr andere Fakultäten wie z.B. die Medizin, wo die von privater Seite finanzierte Forschung üblich ist und wo Forschungsergebnisse mit wirtschaftlichen Erträgen verbunden sein können. Für das universitäre Fach Literaturwissenschaft spielen eher Abhängigkeiten vom Staat eine Rolle, indem dieses Fach auch an Lehramtsstudiengängen beteiligt ist. Die damit verbundenen staatlichen Vorgaben für die Ausübung des Lehrberufs, wie z.B. Prüfungsbestimmungen für Lehrerinnendiplome, sind ein wichtiger Faktor, der mit der von der Universität beanspruchten Freiheit von Lehre und Forschung kollidieren kann. Aus der Geschichte unseres Faches wissen wir, dass die Lehramtsstudiengänge, insbesondere der Professionalisierungsschub im 19. Jahrhundert, zur Institutionalisierung der philologischen Fächer an den Universitäten beigetragen haben. 2 Bei den Lehramtsstudien zeigt sich der staatliche Einfluss auf die Universitäten zum Beispiel bei den Anerkennungsverfahren für Lehramtsstudiengänge, die in der Schweiz von der Eidgenössischen Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) 3 vorgenommen werden. Lehramtsstudiengänge müssen gewissen Richtlinien der EDK entsprechen, damit die Diplome anerkannt werden. So sind zum Beispiel die Anteile von fachwissenschaftlichen, fachdidaktischen, pädagogischen und praxisorientierten
mann, Michael/Leuthold, Heiri/Sablonier, Philippe (Hg.): Elfenbeinturm oder Denkfabrik. Ideen für eine Universität mit Zukunft. Zürich 1998, 4 5 - 5 4 . 2
Vgl. Weimar, Klaus: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989, 429^442.
3
Die Schweiz weist für die Bildungspolitik ein stark föderalistisch geprägtes System auf, das den 26 Kantonen im Bereich Bildung und Kultur viel Entscheidungskompetenz überlässt. Die EDK ist der Zusammenschluss der 26 kantonalen Regierungsmitglieder, die für Erziehung, Bildung, Kultur und Sport zuständig sind. Die EDK versteht sich als Plattform für ein Mindestmaß an gemeinsamen Bildungsstrukturen und Bildungsabschlüssen.
Lehren und Lernen im institutionellen Kontext
111
Studieninhalten festgehalten. Zu Diskussionen führte beispielsweise kürzlich eine Vorgabe der EDK, welche die Studienleistungen im Bereich Fachdidaktik auf eine bestimmte Punktezahl im europäischen Kreditpunkte-System festlegte (10 ECTS-Punkte 4 Fachdidaktik pro studiertes Schulfach, für Lehramtsstudiengänge der Sekundarstufe I und II). Für Hochschulen, die bei den Lehramtsstudiengängen Optionen mit vier Studienfächern bieten, hat dies zur Folge, dass das Verhältnis von Fachwissenschaft und Fachdidaktik neu definiert werden muss. In Entscheidungsfindungen für die konkrete Detail-Ausführung solcher staatlicher Vorgaben machen sich jeweils beide der eingangs genannten Richtungen bemerkbar. Zum einen gibt es die Argumentation, die die Praxisrelevanz befürwortet: Künftige Lehrpersonen sollen in universitären Ausbildungen während des Studiums Kompetenzen erwerben, die für ihre berufliche Tätigkeit relevant sind. Deshalb wird ein hoher Anteil an didaktischen, pädagogischen und berufspraktischen Studienleistungen befürwortet. Zum anderen gibt es skeptische Stimmen, die für ein breit angelegtes fachwissenschaftliches Studium plädieren und davor warnen, zu Gunsten einer Praxisorientierung die spezifisch universitären Aspekte von Bildung preiszugeben.
2. Kooperation und Kompetition 2.1. Fachhochschulen und Universitäten In der Schweiz werden in den letzten Jahren anwendungsbezogene Forschungsprojekte wie z.B. Studien zur Leseforschung vermehrt von pädagogischen Hochschulen durchgeführt. In diesen Fachhochschulen entstehen Abteilungen für Forschung und Entwicklung, die einerseits Kooperationen mit anderen Fachhochschulen oder Universitäten eingehen, anderseits auch nach eigenständiger Profilierung streben. Im Bereich der sich neu konstituierenden Fachhochschulen gibt es ein besonderes Interesse an Hochschulentwicklung 5 und Hochschuldidaktik 6 . In den pädagogischen Hochschulen gibt es Studiengänge, die auf das Schulfach „Deutsch" ausgerichtet sind und deshalb auch fachliche Aspekte aus der Germanistik vermitteln. 2.2.
4 5
European Credit Transfer System. Dies zeigt sich in der Schweiz an Publikationsreihen wie beispielsweise Luzerner Beiträge zur Fachhochschulentwicklung.
6
Vgl. Pfäffli, Brigitta K.: Lehren an Hochschulen. Eine Hochschuldidaktik für den Aufbau von Wissen und Kompetenzen. Bern/Stuttgart/Wien 2005.
112
2. Lernen und Lehren
Binnen fachliche Differenzen und Hierarchisierungen Aus der Perspektive der Wissenschaftssoziologie hat Glaser (2005) innerhalb der Germanistik eine Hierarchisierung der Subdisziplinen konstatiert: Sprachwissenschaft werde von den Literaturwissenschaftlerlnnen als zu wenig intellektuell wahrgenommen; die Literaturwissenschaft von den Sprachwissenschaftlerinnen dagegen als zu wenig analytisch eingestuft. 7 Innerhalb der Literaturwissenschaft gibt es weitere binnenfachliche Hierarchisierungen. Diese betreffen beispielsweise die Methoden. So gehört der Dissens zwischen Hermeneutikerlnnen und Empirikerinnen nach wie vor zu den Grundkonstellationen des binnenfachlichen Wissenschaftsbetriebs. Gemäß Ibsch hat der Poststrukturalismus dazu beigetragen, dass in der Literaturwissenschaft das hermeneutische Argument einflussreicher geblieben ist als die empirische Hypothese.8 Zwischen der anwendungsbezogenen literaturwissenschaftlichen Forschung und der literaturtheoretischen Grundlagenforschung gibt es auch Prestigedifferenzen. Das Ansehen, das eine Subdisziplin hat, ist kontextabhängig. So genießt inneruniversitär die theoretische Forschung mehr Ansehen; die anwendungsbezogene Forschung - wie z.B. literatursoziologische und literaturdidaktische Studien - hat dagegen innerhalb der Universität einen tieferen Prestigewert. Ihr kommt aber in der Öffentlichkeit häufig ein höherer Stellenwert zu. So werden z.B. internationale Studien, die sich mit der Leseleistung befassen, und Folgestudien zu solchen Leistungsmessungen von der Öffentlichkeit stark beachtet.
3. Literatur lehren und lernen 3.1. Die Lehrenden und ihre institutionelle
Qualifikation
Im Teilbereich „Germanistische Literaturwissenschaft" ist innerhalb des deutschsprachigen Raums die Habilitation die Voraussetzung für eine längerfristige universitäre Tätigkeit in Lehre und Forschung. Die Mehrheit der literaturwissenschaftlichen Habilitationsschriften sind das Ergebnis von Untersuchungen, die in Einzelarbeit entstanden
7
Vgl. Glaser, Marie Antoinette: Literaturwissenschaft als Wissenschaftskultur. Zu den Praktiken, Mechanis-
8
Vgl. Ibsch, Elrud: The Strained
men und Prinzipien einer Disziplin. Hamburg 2005, 157. Relationship
Between the Empiricist's Notion of
Validity and
the
Hermeneutician's Notion of Relevance. In: Kreuz, Roger J./MacNealy, Mary Sue (Hg.): Empirical Approaches t o Literature and Aesthetics. N o r w o o d / N e w Jersey 1996 (= Advances in discourse processes Bd. 52), 2 3 33.
Lehren und Lernen im institutionellen Kontext
113
sind. Literaturwissenschaftliche Habilitationsschriften sind häufig umfangreiche Bücher, für deren Entstehung die einzelnen Forschenden mehrere Jahre Arbeit aufwenden. Kumulative Habilitationen, bei denen die Venia Legendi für mehrere relevante Forschungsbeiträge vergeben wird, kommen dagegen im Teilbereich „Germanistische Literaturwissenschaft" weniger häufig vor. Die Zurückhaltung gegenüber kumulativen Habilitationen ist auch auf dem Hintergrund der literaturwissenschaftlichen Fachzeitschriften zu sehen: Diese weisen eine weniger deutliche Hierarchisierung auf als in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, wo die Platzierung eines Artikels in bestimmten Zeitschriften einen bestimmten wissenschaftlichen Prestigewert hat. In der literaturwissenschaftlichen Habilitationsphase, in der sich die Forschenden auf ein Einzelprojekt konzentrieren, kommt das Forschen in Gruppen tendenziell wenig zum Zug. Für den wissenschaftlichen Habitus der Lehrenden ist diese Erfahrung in der Qualifikationsphase prägend und wirkt sich auf das aus, was in der Lehre vermittelt wird. Bei den Forschungspraktiken, die an die Studierenden vermittelt werden, ist die Einzelarbeit wie z.B. die schriftliche Seminar- oder Hausarbeit eine der häufigsten Arbeitsformen. Innerhalb der Nachwuchsförderung versucht man auch neue Möglichkeiten anzubieten. So wurden in der Schweiz Förderungsprofessuren eingerichtet, die vom Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung zur Bewerbung ausgeschrieben werden. Damit erhalten auch jüngere Wissenschaftlerinnen die Gelegenheit, aus der Position einer Professorin oder eines Professors heraus an einem universitären Institut eigenständige Forschung zu initiieren und in einer früheren Phase der wissenschaftlichen Karriere auch Forschungskooperationen einzugehen. Innerhalb der Hochschullandschaft bestehen bezüglich der Qualifikationen beträchtliche Unterschiede: Für promovierte Literaturwissenschaftlerlnnen an der Universität gibt es ein begrenztes Tätigkeitsgebiet, wenn diese sich nicht weiter qualifizieren: Neben wissenschaftlicher Tätigkeit haben Promovierte meist Stellenoptionen wie z.B. eine Tätigkeit als Lektorin, die im Schnitt mit wenig institutioneller Leitungsverantwortung verbunden sind. An den Fachhochschulen dagegen ist es für promovierte Literaturwissenschaftlerlnnen möglich, Positionen einzunehmen, die mit mehr Führungsaufgaben verbunden sind. Viele Fachhochschulen ernennen auch Promovierte ohne Habilitation oder Habilitationsäquivalent zu Professorinnen. Titularprofessuren werden von den Universitäten hingegen in der Regel nur beim Vorliegen eines Habilitationsäquivalents vergeben.
114
3.2. Kanon- und
2. Lernen und Lehren
Curriculumfragen
3.2.1. Mediale Breite des Fachverständnisses In letzter Zeit wurde eine Tendenz zur Erweiterung der Literaturwissenschaft im engeren Sinn hin zu einer Medien- und Kulturwissenschaft konstatiert. 9 Deshalb ist es interessant, das Fachverständnis von Lehrenden im Fach „Deutsche Literaturwissenschaft" zu untersuchen. Ein guter Indikator für die Breite des Fachverständnisses von Lehrenden ist ihre Bereitschaft, neben Literatur in gedruckter Form auch Literatur in anderen medialen Darbietungsformen in Lehre und Forschung zu berücksichtigen. Ich habe im Rahmen einer größeren Untersuchung zum akademischen Umgang mit Kanonfragen im deutschen Sprachraum' 0 u.a. eine empirische Studie durchgeführt und darin auch die Breite des Fachverständnisses von Lehrenden im Fach „Deutsche Literaturwissenschaft" abgeklärt. An der Studie haben sich 113 Lehrende aus Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligt. Die Lehrenden wurden gebeten, Stellung zu nehmen zur gewünschten Zusammensetzung einer universitären Lektüreliste, und äußerten sich u.a. dazu, ob sie Titel aus den Rubriken „Hörspiel", „Film" und „Opernlibretto" in einen universitären Lektürekanon aufnehmen würden (Tabelle 1).
Tabelle 1: Mediale Breite des Fachverständnisses: Meinung der befragten Lehrenden zur Zusammensetzung von Lektürelisten (N = 113)."
Rubrik
Nennenswerter
Einige wenige
Gehört nicht auf
Anteil von Titeln
Titel
eine Leseliste
Hörspiel
15 %
68 %
16 %
Film
6 %
36 %
57 %
Opernlibretto
5 %
48 %
48 %
Beim Hörspiel besteht im Schnitt die stärkste Bereitschaft, diese Gattung als zum Fach gehörig anzuerkennen: Insgesamt 83 Prozent der Lehrenden äußern die Meinung,
9
Vgl. Jäger, Ludwig/Switalla, Bernd: Sprache und Literatur im Wandel ihrer medialen Bedingungen: Perspektiven der Germanistik. In: Dies. (Hg.): Germanistik in der Mediengesellschaft. M ü n c h e n 1995, 7 - 2 3 .
10
Stuck, Elisabeth: Kanon und Literaturstudium. Theoretische, historische und empirische Untersuchungen zum akademischen Umgang mit Lektüre-Empfehlungen. Paderborn 2004.
11
Infolge Rundungen ergeben die Zeilenprozentwerte nicht genau 100 % . Auf Grund fehlender A n t w o r t e n bei einzelnen Fragen variiert N zwischen 108 und 111.
115
Lehren und Lernen im institutionellen Kontext
Hörspiele gehörten auf eine Leseliste. Beim Film ist die Mehrheit der Befragten dagegen der Auffassung, Filmtitel gehörten nicht zum Kanon der Literaturwissenschaft. Vergleicht man die Meinungsäußerungen von Professorinnen mit denjenigen der Lehrenden aus dem Mittelbau, wird deutlich, dass zwischen den beiden Gruppen hochsignifikante Unterschiede bestehen. Bei den Professorinnen sind weniger als die Hälfte der Meinung, dass Filme und Opernlibretti zum literarischen Kanon gehören (Tabelle 2). Im Gegensatz dazu meint eine Mehrheit der Befragten aus dem akademischen Mittelbau, dass sowohl Filme wie auch Opernlibretti zu einer universitären Lektüreliste gehören. Unter Berücksichtigung von weiteren Befunden, die an anderer Stelle ausführlich erläutert worden sind,12 kann man festhalten, dass Lehrende aus der jüngeren Generation im Schnitt deutlicher die Intention äußern, ein Lektürekanon solle ein breites Fachverständnis abbilden.
Tabelle 2: Zusammensetzung von Leselisten: Meinung von Professorinnen (N = 57) und anderen Lehrenden (N = 56).13
Anteil
Anteil andere
Professorinnen,
Lehrende, die
die finden, eine
finden, eine
Leseliste sollte
Leseliste sollte
Titel aus der
Titel aus der
Rubrik enthalten
Rubrik enthalten
Hörspiele
79 %
89 %
Filmtitel
30 %
56 %
Opernlibretti
42 %
62 %
Rubrik
12 13
Signifikanz
nicht signifikant (P > 0.05) hochsignifikant (P = 0.008) signifikant (P = 0.046)
Stuck, Kanon und Literaturstudium, 200f. Der statistische Vergleich des Prozentanteils zwischen Professorinnen und anderen Lehrenden basiert auf bivariaten Chi-Quadrat-Testverfahren.
116
2. Lernen und Lehren
Hinzuweisen ist auf den Umstand, dass es zwischen dem, was für die Lehre postuliert wird, und dem, was effektiv gelehrt wird, meist eine Diskrepanz gibt. Eine solche Diskrepanz bestand schon zu Beginn der Fachgeschichte. Am Beispiel eines Lektürekanons aus dem Jahr 1805 konnte belegt werden, dass eine Kluft zwischen dem programmatischen Entwurf für die Lehre und den tatsächlich an der Universität angebotenen philologischen Lehrveranstaltungen gab.14 Für die Erforschung der universitären Lehre im Fach „Literaturwissenschaft" ist dieser Befund insofern relevant, als programmatische Entwürfe wie z.B. Lektürekanones und von Lehrenden geäußerte Meinungen zur Lehre nur für die postulierte Ebene der Lehre Aussagekraft haben. Für die Ebene der effektiv durchgeführten Lehrveranstaltungen und für die Ebene des Lernprozesses bei den Studierenden sind andere Quellen und Daten für die Forschung erforderlich.
3.3.
Kompetenzenorientierung
Betrachtet man die literaturwissenschaftlichen Studiengänge im deutschen Sprachraum im Hinblick auf die großen Zielsetzungen, die mit einem solchen Studium erreicht werden sollen, kann man festhalten, dass insgesamt die wissenschaftliche Fachkompetenz im Vordergrund steht. Hier unterscheidet sich das universitäre Literaturstudium vom literarischen Lernen auf Volksschulstufe oder Gymnasialstufe, wo auch andere Kompetenzbereiche wie z.B. Sozial- und Kommunikationskompetenzen für den Literaturunterricht eine wichtige Rolle spielen.'5 In Welbers' Ansatz, der sich mit der Qualitätsentwicklung der germanistischen Hochschullehre beschäftigt, werden neuerdings auch Kompetenzbereiche genannt, die über die reine Sachkompetenz und den Wissenserwerb hinausgehen. So nennt Welbers fünf Punkte, die gute Lehre ausmachen: 1. Qualifikationserweiterung (insbesondere für die Lösung von fachlichen und überfachlichen Problemstellungen), 2. Kompetenzzuwachs, 3. Mehrung von Wissensbeständen, 4. Steigerung der sozialen Flexibilität, 5. Identitätsentwicklung. 16
14 Vgl. Stuck, Elisabeth: Die Kluft zwischen der Postulierung und der Implementierung eines literarischen Kanons. Institutionsgeschichtliche Befunde zu einem universitären Lektürekanon aus dem Jahr 1805. In: Körte, Hermann/Rauch, Marja (Hg.): Literaturvermittlung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Vorträge des 1. Siegener Symposions zur literaturdidaktischen Forschung. Frankfurt am Main 2005 (= Siegener Schriften zur Kanonforschung), 11-21. 15
Stuck, Elisabeth: Lesewelten. Didaktisches Handbuch zum literarischen Lesen und Lernen auf Sekundarstufe I. Bern 2006..
16 Vgl. Welbers, Ulrich: Die Lehre neu verstehen - die Wissenschaft neu denken. Qualitätsentwicklung in der germanistischen Hochschullehre. Opladen/Wiesbaden 1998, 41.
117
Lehren und Lernen im institutionellen Kontext
Welbers postuliert eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gegenstand, die das Lernen in allen fünf genannten Dimensionen ermöglicht. In vielen literaturwissenschaftlichen Einführungsveranstaltungen ist eine Praxis zu beobachten, die die von Welbers genannten Kompetenzbereiche weniger weit fasst. Zur propädeutischen Basis der literaturwissenschaftlichen Fachkompetenz gehört in vielen Studiengängen die Einführung in Arbeitstechniken und Argumentationsweisen wie z.B. die Unterscheidung zwischen eigenen Aussagen und denjenigen von anderen Wissenschaftlerinnen. Diese Differenzierung in Fremdthesen und Eigenthesen zeigt sich auf der Ebene der Arbeitstechniken darin, dass in der Literaturwissenschaft das korrekte Verweisen und Zitieren einen hohen Stellenwert hat. Danneberg und Niederhauser stellen diese hohe Normierung in einen Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit und machen auch aufmerksam darauf, dass Zitate von bekannten literaturwissenschaftlichen Autoritäten der eigenen Argumentation mehr Gewicht verleihen können.17 Im Vergleich mit anderen Disziplinen wie beispielsweise der Physik gelten für die Literaturwissenschaft andere Darstellungsformen für das Belegen, Verweisen und Zitieren. Diese Aufmerksamkeit, die einer fachspezifischen Arbeitstechnik geschenkt wird, zeigt auf, dass das Bewusstsein für die Unterscheidung zwischen der Metasprache der Literaturwissenschaft und Sprache des literarischen Gegenstands zu den wichtigen Grundlagen des Faches in der Lehre gezählt wird.
3.4. Evaluation der Studienleistungen
- Beratung beim Studieren
In den Erziehungswissenschaften beschäftigt man sich seit einigen Jahren vermehrt mit dem Verhältnis von Lehren und Lernen. So fand zum Beispiel im Jahr 2001 die 9. Konferenz der europäischen Fachgesellschaft für das Lehren und Lernen (EARLI' 8 ) unter dem Titel „Bridging Instruction to Learning" statt. Für diese Verbindung von Lehren und Lernen gibt es auf Hochschulebene noch wenig Forschung. Ein Indikator für das, was die Studierenden gelernt haben, kann deren Leistung bei Prüfungen sein. Literaturwissenschaftliche Prüfungen waren bisher selten Gegenstand der Wissenschaftsforschung. Die Fachgeschichte hat sich indes schon seit längerem für Prüfungen interessiert: So zeigt zum Beispiel Weimar Zusammenhänge zwischen li-
17 Vgl. Danneberg, Lutz/Niederhauser, Jürg: „...dass die Papierersparnis gänzlich zurücktrete gegenüber der schönen Form." Darstellungsformen der Wissenschaften im Wandel der Zeit und im Zugriff verschiedener Disziplinen. In: Danneberg, Lutz/Niederhauser, Jürg (Hg.): Darstellungsformen der Wissenschaft im Kontrast. Tübingen 1998, 50. 18 EARLI: European Association for Research on Learning and Instruction.
118
2. Lernen und Lehren
teraturwissenschaftlichen Prüfungen und der institutionellen Verankerung des Fachs auf.19 Staatliche Prüfungsregelungen wie z.B. das preußische Edikt zur Lehrerprüfung (1810) und die Regelung der Abiturientinnenprüfung haben Auswirkungen auf die institutionelle Verankerung der philosophischen Fakultät an der Universität. In der Geschichte des Fachs Germanistik gibt es auch die These, dass Prüfungsreg/emenfes allein die Institutionalisierung eines Faches nicht fördern können, sondern dass die Prüfungsprax/s entscheidend ist: Erst von dem Moment an, in dem zu einem Fach wie der germanistischen Literaturwissenschaft an der Universität effektiv Prüfungen stattfinden, kann man gemäß Uwe Meves von einer Auswirkung auf die Etablierung dieses Faches an einer Institution sprechen.20 Aus der Untersuchung von Prüfungen lassen sich Erkenntnisse darüber gewinnen, welcher Kernbestand an Fachwissen und an wissenschaftlichen Verfahren in einem Literaturstudium erworben werden soll. Aus der Untersuchung eines umfangreichen Korpus von Aufgaben an schriftlichen Staatsexamina im Fach „Deutsche Literaturwissenschaft" über einen längeren Zeitraum (1989-1999) konnte ich wesentliche Erkenntnisse gewinnen. Das untersuchte Korpus von 531 Aufgaben stammte aus Bayern, w o die Staatsexamina zentral durchgeführt werden. Diese zentrale Durchführung wirkt sich als institutioneller Faktor auf die Aufgabenstellungen aus: Der Kernkanon von Werken, die als bekannt vorausgesetzt wurden, erwies sich als klein. Zur Bestimmung des Kernkanons wurden diejenigen Prüfungsaufgaben herausgegriffen, die den Kandidatinnen und Kandidaten eine Frage zu einem Werk stellen, ohne dass ihnen ein Auszug aus dem Text vorgelegt wird, d.h. dieser Text wird an der Prüfung als bekannt vorausgesetzt. Im untersuchten Korpus von 339 Aufgabenstellungen gab es elf Werke, die im Untersuchungszeitraum mindestens zweimal ohne Auszug aus dem Primärtext geprüft wurden. Als hochkanonisch erwiesen sich Goethes „Wilhelm Meister" (fünf Prüfungsaufgaben mit Werkinterpretation ohne Primärtext) und Goethes „Faust" (vier Prüfungsaufgaben). 21 Der institutionelle Kontext war prägend für den Inhalt der Prüfungen: Eine zentral durchgeführte Prüfung, wie z.B. die von einem Bundesland durchgeführten Staatsexamina im Fach „Neuere deutsche Literat u r " , bezieht sich auf einen kleinen Kernkanon von sehr bekannten Werken; eine in
19
Vgl. Weimar, Klaus: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.
20
Meves, Uwe: Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie: Die Periode der Lehrstuhlerrich-
München 1989, 178-189. t u n g (von ca. 1810 bis zum Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts). In: Fohrmann, Jürgen/Vosskamp, Wilhelm: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, 157 und 159. 21
Ausführlicher dazu vgl. Stuck, Kanon und Literaturstudium, 2004, 2 4 9 - 2 5 2 .
Lehren und Lernen im institutionellen Kontext
119
kleinerem institutionellem Rahmen durchgeführte Prüfung dagegen kann den Studierenden mehr Wahlmöglichkeiten anbieten und kann auch mehr auf die von den Kandidatinnen und Kandidaten individuell bearbeiteten Spezialgebiete eingehen: Die Möglichkeit zur Individualisierung von Prüfungen ist also vom institutionellen Kontext abhängig. Interessant ist auch ein Vergleich von expliziten Erwartungen, welche Ziele am Ende des Studiums erreicht sein sollen, mit den effektiv geprüften Inhalten. In der oben erwähnten Kanon-Studie 22 hat sich als ein Hauptbefund gezeigt, dass es in der literaturwissenschaftlichen Hochschullehre eine Diskrepanz gibt zwischen expliziten Vorgaben/Erwartungen und den implizit vorausgesetzten Kompetenzen und Wissensbeständen. Aus dem Vergleich des institutionellen Status quo mit den postulierten Funktionen, die derzeit Lehrende einem Lektürekanon zuweisen, ging hervor, dass die Postulate der Lehrenden in zentralen Punkten nicht mit der heutigen Praxis übereinstimmen. Die impliziten Erwartungen sind insgesamt höher als die explizit formulierten Vorgaben. So ist zum Beispiel die Bereitschaft der Lehrenden, den Studierenden eine explizite Formulierung der Lektüre-Erwartungen in Form einer Lektüreliste zur Verfügung zu stellen, relativ hoch; in der institutionellen Praxis dagegen ist diese Bereitschaft deutlich tiefer.
4. Individualisierende Lehrformen und institutionelle Voraussetzungen Resümierend kann man festhalten, dass in der literaturwissenschaftlichen Hochschullehre die Zielsetzungen des Studiums häufig nicht als präskriptive Norm festgeschrieben werden. Die Mehrzahl der Lehrenden bevorzugt für die Festlegung von Studieninhalten einen institutionellen Status, der einer präferenziellen Norm entspricht. Die Zurückhaltung bei präskriptiv-normativen Vorgaben hängt damit zusammen, dass viele Lehrende für das literaturwissenschaftliche Studium Zielsetzungen vertreten, die eine größtmögliche Eigenständigkeit der Studierenden anvisieren: Die Studierenden sollen durch das literaturwissenschaftliche Studium fähig werden, in einem umfangreichen Fachgebiet eigenständig Schwerpunkte setzen zu können. Sie sollen mit Bezug auf theoretisches Grundwissen selber Forschungsfragen an einen literarischen Gegenstand stellen und mit geeigneten Forschungsmethoden die aufgeworfenen Fragen beantworten können. Neuere hochschuldidaktische Konzepte schlagen für
22 Stuck, Kanon und Literaturstudium, 2004.
120
2. Lernen und Lehren
diesen Lernprozess neben den traditionellen universitären Lehr- und Lerngefäßen auch Formen vor, die das Beraten als Lehrhandlung und durch Dozierende begleitete Formen des Selbststudiums empfehlen.23 Solche individualisierenden Lehrformen, in denen die Dozierenden gegenüber den einzelnen Studierenden eine beratende Rolle einnehmen, passen gut zur literaturwissenschaftlichen Fachkultur, die sich bevorzugt auf die selbständige wissenschaftliche Tätigkeit beruft.
Literatur Danneberg, Lutz/Niederhauser, Jürg: „... dass die Papierersparnis gänzlich zurücktrete gegenüber der schönen Form." Darstellungsformen der Wissenschaften im Wandel der Zeit und im Zugriff verschiedener Disziplinen. In: Danneberg, Lutz/Niederhauser, Jürg (Hg.): Darstellungsformen der Wissenschaft im Kontrast. Tübingen 1998, 23-102. Glaser, Marie Antoinette: Literaturwissenschaft als Wissenschaftskultur. Zu den Praktiken, Mechanismen und Prinzipien einer Disziplin. Hamburg 2005. Hermann, Michael/Leuthold, Heiri/Sablonier, Philippe: Elfenbeinturm oder Denkfakbrik. Ideen für eine Universität mit Zukunft. Zürich 1998. Jäger, Ludwig/Switalla, Bernd: Sprache und Literatur im Wandel ihrer medialen Bedingungen: Perspektiven der Germanistik. In: Dies. (Hg.): Germanistik in der Mediengesellschaft. München 1995, 7-23. Meves, Uwe: Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie: Die Periode der Lehrstuhlerrichtung (von ca. 1810 bis zum Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts). In: Fohrmann, Jürgen/Vosskamp, Wilhelm: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994. Pfäffli, Brigitta K.: Lehren an Hochschulen. Eine Hochschuldidaktik für den Aufbau von Wissen und Kompetenzen. Bern/Stuttgart/Wien 2005. Rippe, Klaus Peter: Schlag nach bei Humboldt! Gedanken zu einer liberalen Hochschulpolitik. In: Hermann, Michael/Leuthold, Heiri/Sablonier, Philippe: Elfenbeinturm oder Denkfabrik. Ideen für eine Universität mit Zukunft. Zürich 1998, 4 5 54. Schönert, Jörg (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. Stuttgart 2000. 23
Pfäffli, Lehren an Hochschulen, 226-239.
Lehren und Lernen im institutionellen Kontext
121
Stuck, Elisabeth: Kanon und Literaturstudium. Theoretische, historische und empirische Untersuchungen zum akademischen Umgang mit Lektüre-Empfehlungen. Paderborn 2004. Stuck, Elisabeth: Die Kluft zwischen der Postulierung und der Implementierung eines literarischen Kanons. Institutionsgeschichtliche Befunde zu einem universitären Lektürekanon aus dem Jahr 1805. In: Körte, Hermann/Rauch, Marja (Hg.): Literaturvermittlung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Vorträge des 1. Siegener Symposions zur literaturdidaktischen Forschung. Frankfurt am Main 2005 (= Siegener Schriften zur Kanonforschung), 11-21. Stuck, Elisabeth: Lesewelten. Didaktisches Handbuch zum literarischen Lesen und Lernen auf der Sekundarstufe I. Bern 2006. Weimar, Klaus: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989. Welbers, Ulrich: Die Lehre neu verstehen - die Wissenschaft neu denken. Qualitätsentwicklung in der germanistischen Hochschullehre. Opladen/Wiesbaden 1998.
Harro Müller-Michaels (Bochum)
Curriculum und Kompetenz Plädoyer für die Stufung des Studiums
„Viele der Studienanfänger wissen noch nicht, in welcher Patsche sie stecken!" Mit dieser ebenso drastischen wie klaren Bemerkung brachte eine Vertreterin der Fachschaft Germanistik die Studiensituation im Verlauf der Evaluation an einer norddeutschen Universität auf den Punkt. In den Ausruf der Sorge um die Zukunft der neuen Generation von Studierenden sind mehrere Befunde über den Zustand von Studium und Lehre an den deutschen Hochschulen eingegangen. Zum einen ist es die seit Jahrzehnten bekannte (und teilweise gewollte) Erfahrung eines Bruchs zwischen betreutem schulischem Lernen und einem selbst organisierten Studium. Freiheit der Lehre bedeutet, dass auch das Lernen frei verlaufen darf, dass aber die Wahrnehmung dieser Freiheit Kenntnisse voraussetzt, die erst erworben werden müssen. Zum Zweiten können Gymnasien, zumal wenn sie in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland auf acht Jahre verkürzt werden, die Studierfähigkeit nicht mehr für alle Schülerinnen sichern, wenn statt zwölf Prozent eines Jahrgangs vierzig Prozent zum Abitur geführt werden sollen. Schließlich sind auch die Hochschulen weder finanziell noch personell so ausgestattet, dass eine individuelle Betreuung der Studierenden nur im Ansatz möglich wäre. Alle Beteiligten wissen, dass der Studienerfolg entscheidend vom Grad der Beratung abhängt. Das heitere Entsetzen, das in dem Ausruf der Studentin mitklingt, bezieht sich auch darauf, dass diese Beratung von studentischen Mentorinnen und Mentoren weder für alle noch professionell geleistet werden kann. So trifft unvermindert in allen Hochschulen Deutschlands und Österreichs eine immer größer werdende Zahl von Studierwilligen auf eine immer kleinere Anzahl von Lehrpersonen. An manchen Universitäten wird die Lehre des Grundstudiums schon zu über 40 Prozent von Lehrbeauftragten übernommen, wodurch weder ein systematisches Studienangebot entstehen noch eine kontinuierliche Betreuung gesichert werden kann. Die „Exzellenzinitiative", die am 20.1.2006 durch das Programm von Bund und Ländern in der Bundesrepublik in Gang gesetzt wurde, wird ins Leere laufen, wenn nicht zugleich das grundständige Studium entschlossen mit neuen Ressourcen ausgestattet wird. Derselbe Betrag von 1,9 Milliarden Euro noch einmal für Innovationen in der Lehre investiert würde eine rege Vielfalt von Studienprogrammen
124
2. Lernen und Lehren
entstehen lassen, die erfolgreiche erste Studienabschlüsse sichert, die Qualität der Lehre erhöht und vielleicht auch die guten Studierenden anlockt, die besser als bisher vorbereitet nach dem Bachelor of Arts/dem Bachelor of Science in die forschungsintensiven Studienprogramme wechseln.
1. Reform der Studiensysteme Der Reformprozess an den Universitäten ist nach der Erklärung der Bildungsminister aller Staaten der Europäischen Union vom 19. Juni 1999 zunächst verhalten, seit drei Jahren aber mit zunehmender Geschwindigkeit in Gang gekommen. Die Studiengänge mit universitären Examen werden europaweit konsequent in die zwei Zyklen des Bachelor mit anschließendem Master umgebaut. Bei staatlichen Abschlüssen (Medizin, Jura, Lehramt) und in den Fächern, die sowohl an Fachhochschulen wie an Universitäten angeboten werden, müssen in Deutschland noch Qualifikationsprofile erarbeitet werden, die aus einer Stufung erwachsen, bevor das Langzeitstudium in Zyklen neu strukturiert werden kann. Die Neuordnung der Hochschul-Curricula führt nicht, wie Skeptiker befürchten, zu einer Verschulung der Universitäten, sondern zu einer durchschaubaren Struktur des Studiums mit klaren Anforderungsprofilen. Die Reform stellt sich weiterhin unter Humboldts Leitsätze für universitäre Bildung, etwa den ersten Satz seiner Denkschrift Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810). Demnach beruht der Begriff dieser wissenschaftlichen Anstalten darauf, „dass dieselben bestimmt sind, die Wissenschaft im tiefsten und weitesten Sinne des Wortes zu bearbeiten, und als einen nicht absichtlich, aber von selbst zweckmässig vorbereiteten Stoff der geistigen und sittlichen Bildung zu seiner Benutzung hinzugeben" 1 . Zu der angesprochenen Zweckfreiheit der Wissenschaften, die gerade durch diese Selbstzwecklichkeit bildet, kommen im weiteren Verlauf der Ausführungen die Einheit von Forschung und Lehre, die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, die Einheit der Wissenschaften, Selbstständigkeit statt Wissensanhäufung, Autonomie von Personen und Institutionen. Über jede einzelne der Forderungen kann man heute streiten, insbesondere, ob Differenzierung nicht Einheit ersetzen sollte, aber die Idee der Universität bleibt als korrektive Leitvorstellung bei Reformdebatten bestehen. Al-
1
Humboldt, Wilhelm von: Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. Im Humboldt, Wilhelm von; Werke. Bd. IV. Schriften zur Politik und zum ßildungswesen. Hg. von Andreas Flitner. Darmstadt 5 1996, 255.
125
Curriculum und Kompetenz
lerdings bezeichnen die Fixpunkte hochschuldidaktischer Diskussionen heute eher die Ziele als den Prozess von Anfang an. Das betrifft vor allem das Prinzip der Einheit von Forschung und Lehre: Da einerseits Forschung zu großen Teilen so komplex und hoch spezialisiert geworden ist und andererseits ein Denken in wissenschaftlichen Kategorien bei Studienanfängern nicht mehr vorausgesetzt werden kann, muss die Lehre der Forschung wieder einen Zyklus vorausgehen. Die wenigen relativierenden Bemerkungen zu den Leitideen von Universität und Studium führen zu der Frage, warum es seit Anfang der 1990er Jahre zu den intensiven Debatten über den Auftrag der Universitäten, insbesondere in den Geisteswissenschaften, und, für den deutschsprachigen Raum, zu den radikalen Reformen in den Studiensystemen gekommen ist. Vor allem sechs Gründe lassen sich andeuten: 1. Durch den politischen Umbruch nach 1989 wurden auch die bildungspolitischen Debatten radikal angestoßen. Selbst wenn die Hochschulen in der DDR nach dem Muster westdeutscher Universitäten umgestaltet wurden, waren viele neue Ideen im Umlauf, die erprobt sein wollten. 2. Gleichzeitig gab es massive Veränderungen in den Informationstechnologien,
die
Speicherung von Wissen in jeder Form verändert haben. Nicht mehr Autobahnen für den Verkehr, sondern Datenautobahnen wurden angelegt. Die Frage nach dem, was befördert werden sollte, wurde drängend: Wissen bekam ein neues, besonderes Gewicht und machte ein Nachdenken über das, was transportiert und behalten werden soll, nötig. 3. Die internationalen
Verbindungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
(vor allem in Ingenieurwissenschaften, Medizin und Naturwissenschaften) machten mit anderen effektiven Strukturen vertraut und lenkten den Blick von außen auf die starren Verhältnisse in Deutschland. 4. Die rasche Veränderung des Wissens forderte auch neue Ausbildungsziele:
Nicht
mehr Speicherung und Anwendung von Wissen standen im Vordergrund, sondern der Erwerb von Methoden, mit denen das neue Wissen angeeignet und bewertet werden kann. Nicht mehr Ausbildung für ein Berufsleben war gefragt, sondern lebenslanges Lernen. 5. Das Gymnasium hat zu viele andere Aufgaben übernehmen müssen, als dass es noch die allgemeine Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit vermitteln konnte. Die meisten Lehrpläne der gymnasialen Oberstufe stellen das Ziel der „Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung" 2 in den Mittelpunkt und nicht mehr die Hochschulreife.
2
So der Wortlaut aller 16 Oberstufenlehrpläne.
126
1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
Längst ist das Abitur Voraussetzung für vielerlei andere Berufsausbildung geworden; schon vor einigen Jahren wurde die Meldung verbreitet, dass inzwischen jeder sechste Lehrling Abitur hat.3 Außerdem können die in den 1970er Jahren ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr an der Entwicklung ihrer Disziplinen in dem Maße teilnehmen, dass sie aktuelle Wissenschaftspropädeutik sichern könnten. 6. Da Schülerinnen
und Schüler kein wirkliches Bild von den Anstrengungen wis-
senschaftlicher Arbeit, auch nicht von ihrer eigenen wirklichen Leistungsfähigkeit bekommen, scheitern sie, allein gelassen, schon in den ersten Jahren an der Universität. Sie geraten in ein Umfeld, in dem sie intellektuell, emotional und sozial überfordert sind oder sich in der Mehrzahl überfordert fühlen.
Vor allem der enorme Anstieg der Studierendenzahlen hat sichtbar gemacht, dass die alten Langzeit-Studiengänge für viele junge Menschen nicht mehr studierbar sind: Besonders in den häufig nachgefragten, als „weich" geltenden Geisteswissenschaften gab es Abbrecherquoten bis zu 80 Prozent. Waren die Universitäten mit ihren Ressourcen bis 1970 darauf eingestellt, etwa 15 Prozent eines Jahrgangs aufzunehmen, erwerben in einigen deutschen Bundesländern schon 39,2 Prozent der 18- bis 21-jährigen die Hochschulreife und nehmen das Recht auf wissenschaftliche Bildung wahr. 4 Die Universitäten mussten mit einer Studienstruktur antworten, die nach Maßgabe der Befähigung der Studierenden, der Anforderungen der Gesellschaft sowie der Berufsfelder und der Anspruchsniveaus von Wissenschaften aufeinander aufbauende Qualifikationsstufen anbietet. Auf keinen Fall ist möglich und nötig, mehr als 15 Prozent eines Jahrgangs die Langzeitstudiengänge zuzumuten, zumal mehr Absolventen aus akademischen Studiengängen in Medizin, Jura, Wirtschaftswissenschaften, Naturwissenschaften und Ingenieurwissenschaften kaum eine angemessene Beschäftigung finden werden. Eine Stufung nach Qualifikationsprofilen war daher und ist weiterhin zwingend erforderlich. Nachdem in den meisten Bundesländern Deutschlands das 13. Schuljahr gestrichen wird und Wissenschaftspropädeutik nicht mehr zentrales Ziel des Unterrichts in der gymnasialen Oberstufe ist, sollte das Bachelor-Studium, wie international üblich, 5
3
Mitteilung der dpa vom 13.7.1999.
4
Aktuelle und detailliertere Zahlen sind über \ t e n . h t m abrufbar.
5
In Österreich ist das Bakkalaureatsstudium mit einer Dauer von sechs Semestern geplant; auch die österreichischen Universitäten werden sich dem Trend nicht entziehen können, w e n n sie nicht Gefahr laufen wollen, dass ihre Examen international nicht anerkannt werden.
Curriculum und Kompetenz
127
auf vier Jahre verlängert werden. Das erste Jahr (College) diente dann der Einführung in Wissensfelder des Faches, Übungen in methodischen Verfahren und Diskussionen neuester Forschungsergebnisse. Nach diesem Studienjahr findet eine Prüfung statt, die zum Studium des Faches berechtigt. Damit würde sich auch die Frage erübrigen, ob die Universitäten die Eignung von Abiturientinnen und Abiturienten in Auswahlgesprächen überprüfen sollten:6 Über die Zulassung wird nach dem propädeutischen Jahr entschieden. In den einführenden Semestern oder Trimestern sollten die Fächer ihre Anforderungen und Standards offenlegen, wodurch die Studierenden in den Stand gesetzt werden, den Umgang mit den Wissenschaften, deren intellektuelle Ansprüche, Methoden und Diskursangebote, ihr eigenes nachhaltiges Interesse sowie ihre Eignung zu überprüfen. Entscheidend wird dabei sein, dass sie selbstständig werden, Schwerpunkte des Studiums wählen, Fragen stellen und Urteile begründen lernen. Was die Hochschule dazu beitragen kann, formuliert wiederum Humboldt im zweiten Satz der schon zitierten Denkschrift: Die Aufgabe besteht darin, „innerlich die objective Wissenschaft mit der subjectiven Bildung, äusserlich den vollendeten Schulunterricht In dem beginnenden Studium unter eigener Leitung zu verknüpfen, oder vielmehr den Uebergang von dem einen zum anderen zu bewirken"7. Sind die Voraussetzungen für das selbständige Studium geschaffen, kann die Ausbildung in den zwei Zyklen beginnen. Dabei wird das Ziel der Bachelor-Phase eher darin bestehen, eine allgemeine Bildung im Fach und In interdisziplinären Projekten zu gewinnen, während die Master-Phase dadurch bestimmt sein wird, dass Studierende und Lehrende zusammen an speziellen Fragestellungen arbeiten und durch Forschung gemeinsam lernen. Wenn es um Ansprüche der Phasen geht, kann nicht nur, wie das heute in der Hochschuldidaktik üblich Ist, von Kompetenzen der Studierenden („learnlng outcomes") ausgegangen werden, sondern es muss die Bipolarität von Gegenstand und Methode, Wissen und Können, Curriculum und Kompetenzen erhalten bleiben. An Musils Mann ohne Eigenschaften können Germanistik-Studierende alles lernen, was das Fach zu bieten hat: Geschichte und Gegenwart, Edition und Kommentierung, Gattungsprobleme und ErzähIperspektivlk, Stoffe und Motive der Weltliteratur, Interpretation und Kritik. Über differenzierte Kompetenzbeschreibungen käme man nie auf ein solch komplexes Werk als Gegenstand des Hochschulcurriculums. Standards 6
Ein solches Auswahlverfahren wird nach Auflösung der ZVS derzeit an allen deutschen Hochschulen diskutiert.
7
Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, 255.
128
2. Lernen und Lehren
für die Studienabschlüsse lassen sich nur im Wechselspiel von Anspruch der Sachen und Fähigkeiten der Studierenden zu ihrer Erschließung formulieren. Nur so wird aus statischer Festschreibung von Lehrprogrammen einerseits und Kompetenzdimensionen andererseits ein dynamischer Prozess, in dessen Verlauf immer komplexere Gegenstände oder Probleme sowie Verfahren ihrer Erschließung oder Lösung Fähigkeiten ausbilden, die wiederum differenzierter zu denken, zu sehen und zu deuten lehren. Kompetenzen entwickeln sich nicht für sich oder eine aus der anderen, sondern allein an den Gegenständen. Daher müssen wir auch in Zeiten, in denen es um die Beschreibung von Fähigkeiten geht, die Studierende auf den Stufen des Studiums erwerben sollen, über Curricula für die Lehre, Studienprogramme, Lehrangebote wie auch über den Kern der Teilfächer, den literarischen Kanon sowie über Standards des Wissens, Könnens und Urteilens, die erreicht werden sollen, beraten und befinden. Wenn im Folgenden Beispiele genannt werden, stammen sie weitgehend aus der Literaturwissenschaft und sind ausschließlich exemplarisch gemeint.
2. Propädeutikum Wenn Hochschullehrende aufhörten, mit ärgerlichem Unterton aufzuzählen, was Studierende nach dem Abitur oder der Matura alles nicht wissen und können, dann hätte man wesentliche Teile eines Curriculums für das erste Studienjahr gewonnen. Stärker als bisher sollten die Einführungsveranstaltungen so angelegt sein, dass sie die grundlegenden Kenntnisse in Literaturgeschichte, Systematik der Gattungen, Problemen von Rhetorik und Poetik, Medientheorien und -praxis, Methoden der Geisteswissenschaften sowie, als Anwendungsfälle der Germanistik, Kritik und Didaktik vermitteln.8 Die Propädeutika werden in der Regel die Teilgebiete nicht additiv, sondern nach den besonderen Schwerpunkten der Institute profiliert behandeln, so dass nicht nur allgemein, sondern zugleich gewichtet und differenziert in die Wissenschaften eingeführt werden kann (z.B. Schwerpunkte Kultur, Medien, Kritik, Lehrerbildung). Wichtiger noch als das fundamentale Wissen sind die Übungen im Gebrauch der Methoden des Faches. Wenn der Unterricht auf dem Gymnasium gut war, ist den Abiturientinnen und Abiturienten die einfache hermeneutische Spirale der Interpreta-
8
Z.B. Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Stuttgart 2003.
Curriculum und Kompetenz
129
tion, die Rezension eines Buches und der Essay über ein kulturelles Thema vertraut.9 Sie müssen aber, um ihre Neigung zum Fach ernsthaft zu prüfen, eine Textanalyse mithilfe einerweiteren gebräuchlichen Methode versuchen (Psychoanalyse, Gender, Dekonstruktion etc.). Sie lernen dann auch, dass sich beim Wechseln der Methode die Fragestellungen, Argumentationslinien und Ergebnisse verschieben: Anderes kann ebenso wahr sein wie das erarbeitete erste Ergebnis. Für den Wechsel von allgemeiner zur wissenschaftlichen Bildung werden - Humboldt hat es mit dem Begriff der „eigenen Leitung" der Studien gefasst - Prinzipien wichtig, die sich fundamental von der Lebenswelt und den Erfahrungen des Alltags unterscheiden. Auf zugespitzte Weise hat Gaston Bachelard den Unterschied von Schule und Studium deutlich gemacht: „Balzac hat gesagt, die Junggesellen ersetzen die Gefühle durch Gewohnheiten. Genauso ersetzen die Lehrer Entdeckungen durch Lektionen."10 Selbstständig Entdeckungen zu machen, statt Wissen anzuhäufen, ist das Ziel aller Arbeit an den Hochschulen, die man als „Forschendes Lernen" auf den Begriff gebracht hat. Prinzipien, die wissenschaftliches Arbeiten kennzeichnen, sind u.a.: -
Bruch mit der Lebenswelt Alles theoriegeleitete Fragen beginnt mit dem Zweifel an dem Augenschein und einer geltenden Aussage: „Eine wissenschaftliche Erfahrung ist also eine Erfahrung, die der gewohnten Erfahrung widerspricht."" Wer eine gültige Einsicht nicht in Zweifel ziehen und eine weiterführende Frage ohne Vorurteil verfolgen kann, ist auf wissenschaftliche Arbeit nicht vorbereitet. Wie oft erleben wir Studierende, die ihre erste Einsicht unbeirrt verteidigen, vorschnell verallgemeinern, ohne klare Begrifflichkeit formulieren, Widersprüche eliminieren, Details assoziativ häufen, ohne eine Argumentationslinie erkennbar werden zu lassen. Erst mit der Aufgabe vertrauter Einsichten wird Raum geschaffen für neue plausibel begründete Erkenntnisse.
-
Denken in Modellen: Wissenschaftliche Arbeit fordert Abstraktion: Mit einer Hypothese werden Methoden ihrer Prüfung, Erkenntniswege und mögliche Ergebnisse zu einer Planskizze verbunden. Dieses Modell wird zum Korrektiv für die Entdeckungsprozedur (z.B. bei der Edition eines Textes, bei Interpretationen, beim Entwurf von Curricula). Im Experiment ist es nicht mehr so, wie unser Alltagswissen uns glauben lässt, dass aus Erfahrungen Abstraktionen erwachsen, sondern Abstraktionen ermöglichen neue Erfahrungen.
9
Vgl. Müller-Michaels, Harro: Deutschkurse. Modell und Erprobung angewandter Germanistik in der gymnasialen Oberstufe. Weinheim 1994. 10 Bachelard, Gaston: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Frankfurt am Main 1978, 355.
11 Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 44.
130
-
2. Lernen und Lehren
Interesse und Engagement: Voraussetzung des Studiums und Forschens ist das Interesse an den Gegenständen Sprache, Literatur und Kultur. Häufig genug muss man bei Studierenden des Faches die Freude am Gegenstand, Lust auf Entdeckungen und beharrliche Auseinandersetzung mit den Problemen vermissen. Neugier auf die Sachen und Engagement bei der Lösung von Aufgaben ist der treibende Impuls gegen alle Widerstände des Gegenstands und der gewählten Methode. Wen das „cor inquietum" nicht umtreibt, mehr über Sprache, aus der Literatur sowie deren Deutungen, den kulturellen Kontexten und den medialen Präsenzen zu erfahren, die/der sollte anderes studieren. Allerdings sollten auch die Lehrenden in Schule und Hochschule jene Begeisterung für die gewählten Inhalte spüren lassen, die ansteckend wirkt und Neugier weckt.
-
Klarheit der Darstellung: Sowohl in der mündlichen wie schriftlichen Präsentation von Thesen und Ergebnissen darf von Studierenden der Germanistik eine anschauliche, begrifflich klare und argumentativ abgesicherte sprachliche Darstellung erwartet werden. Dabei wird die eine sich auf das dürre Gerüst einer Argumentation, die sparsam mit Belegen umgeht, Widersprüche umstandslos ausräumt, lakonisch zusammenfasse beschränken, der andere hingegen seine Darstellung breit anlegen, indem er in Beispielen schwelgt, kühne Metaphern sucht, sich von Assoziationen treiben lässt und das Ergebnis als neue Frage formuliert. Welcher Stil auch immer gewählt werden mag, er muss konsequent verfolgt und nachvollziehbar in den Schritten des Erklärens, Analysierens und Deutens sein.
Es ist nicht leicht, all diese Befähigungen nach einem Jahr so zu prüfen, dass eine Prognose für das weitere Studium abgegeben werden kann. Aber in jedem Fall ist eine solche (wiederholbare) Eignungsprüfung besser, als nach sechs Jahren Studium das endgültige Scheitern eingestehen zu müssen. Die Bestandteile einer solchen Auswahlprüfung sind deutlich geworden: -
Felder des Wissens zu Geschichte und System von Sprache, Literatur und Kultur (Test),
-
exemplarische Analyse eines Problems/Textes sowie angemessene Darstellung,
-
Begründung und Verteidigung einer wissenschaftlichen Hypothese,
-
Erläuterung und Diskussion von Ablauf und Ergebnissen einer komplexen neueren Forschungsarbeit.12
12 Z.B. Schneider, Manfred: Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling. München 1997; Matt, Peter von: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München 2006.
131
Curriculum und Kompetenz
Die in solchen Aufgabenstellungen geforderten Kompetenzen sind Bedingungen für ein erfolgreiches Studium: -
Erweiterung des Wissens und der Fragehorizonte,
-
Fähigkeit zu Analyse und Interpretation,
-
Abstraktionsfähigkeit, Zweifel, kritische Distanz,
-
Empathie für die Sache und Verständigung mit beteiligten Personen,
-
Denken in Modellen,
-
Methodische Konsequenz,
-
Urteilsvermögen.
Wichtiger noch als der Erwerb von Kenntnissen wird die Aneignung von Methoden und Prinzipien wissenschaftlicher Arbeit sein. Auch dieses Ziel hat Humboldt (allerdings schon für das Abitur) erläutert, „welches dadurch zu erreichen steht, dass man bei der Methode des Unterrichts nicht sowohl darauf sehe, dass dieses oder jenes gelernt, sondern in dem Lernen das Gedächtniss geübt, der Verstand geschärft, das Urtheil berichtigt, das sittliche Gefühl verfeinert werde"' 3 .
3. Bachelor Nach dem Willen der Kultusministerinnen und -minister der europäischen Staaten soll der Bachelor ein erster berufsqualifizierender Abschluss sein. Für die Universitäten steht hingegen außer Frage, dass nur ein wissenschaftliches Studium die notwendigen Voraussetzungen in Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen für ein aufbauendes Master-Studium oder eine Bewährung in der Praxis von Medien, Industrie, Verwaltung oder Schule schafft. Allenfalls berufsorientierend, nicht aber berufsvorbereitend kann daher das Studium im ersten Zyklus der Universitäten sein. In Evaluationsverfahren wird besonders intensiv über Qualifikationen diskutiert, die während des Studiums erreicht werden sollen. Vier Zieldimensionen lassen sich unterscheiden: 3.1. Fachliche Qualifikationen
in den Feldern historischen und systematischen Wis-
sens, auf den Ebenen der methodischen Fähigkeiten sowie im Verständnis und Gebrauch von Theorien. Über Beispiele für das enzyklopädische und exemplarische
13 Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, 217.
132
2. Lernen und Lehren
Lernen braucht an dieser Stelle Näheres nicht ausgeführt zu werden, weil alle Hochschulen dabei sind, Studienprogramme und Qualifikationsprofile auszuarbeiten. Wichtig aber erscheint uns, eher das allgemeine Wissen des Faches, die Überblicke, den literarischen Kanon, paradigmatische Untersuchungen, Wendepunkte der Forschung, einflussreiche Einsichten und Ergebnisse, interdisziplinäre Bezüge und Skandale (wie etwa die Literaturstreite) zu betonen, als gemeinsam hoch differenzierte Forschung zu betreiben, die allenfalls Aufgabe für Masterarbeiten und Dissertationen sein kann. Dem Studium der Literatur und Kultur von einzelnen Epochen (z.B. Aufklärung, Klassisch-Romantische Kunstperiode, Dekadenz der Jahrhundertwende) lässt sich ein anregender Impuls durch Heinz Schlaffers Die kurze Geschichte der deutschen Literatur14 setzen, der die gesamte literarische Tradition auf die Bestände befragt, die weiterhin Einfluss auf nachfolgende Werke genommen haben und im öffentlichen Gespräch aktuell geblieben sind - für den Nachweis reichen ihm 150 Seiten. Meine eigene provozierende Frage „Wozu noch Germanistik?"15 führt ebenfalls zur Suche nach dem Kern der Überlieferung in einer Kulturgeschichte für die Lehre. Neben allen Themen entsprechend der Profile der einzelnen Institute und Forschungsschwerpunkte der Hochschullehrenden sind vor allem solche neueren Arbeiten für das Bachelor-Studium wichtig, die eine systematische Frage mit einem Durchgang durch die Geschichte verbinden. Damit werden zugleich das Studium der Literatur- und Kulturgeschichte mit repräsentativen Beispielen exemplarisch und die Historizität von Gattungen, Motiven oder Elementarerfahrungen offensichtlich. Als Beispiele können u.a. die Studien über Familiendesaster in der Literatur (Peter von Matt, 1995), Tabus in der Kulturgeschichte (Roger Shattuck, 1996), Träume (Peter André Alt, 2002) oder die Wahrheit der Literatur (Burkhard Damerau, 2002) gelten. Zugleich sind es Themen, die bis in den Unterricht der allgemein bildenden Schulen weitergedacht sind (vgl. die Hefte der Zeitschrift Deutschunterricht über Träume: 6/2001, Familiendesaster: 1/2003, Tabu: 5/2004). Sowohl Geschichtsmächtigkeit als auch Aktualität der Motive und Probleme sind damit garantiert, denn auch die nächste Generation wird mit ihnen beschäftigt sein. Interpretationen zu ausgewählten Beispielen, Vergleiche von Texten aus verschiedenen Kulturen, Erläuterungen zu theoretischen Positionen in Referaten und schriftlichen Arbeiten sollten neben der Hermeneutik auch mindestens mit zwei weiteren 14 Schlaffer, Heinz: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München/Wien 2002. 15 Müller-Michaels, Harro: Wozu noch Germanistik? Deutsche Literatur im europäischen Kontext. In: Erhart, Walter (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart/Weimar 2004 (zuerst 1996), 521-534.
133
Curriculum und Kompetenz
Methoden probiert werden (etwa systemtheoretisch, strukturalistisch oder dekonstruktivistisch).' 6 Das Experimentieren mit Methoden lässt ihre Merkmale und Reichweiten erkennen und hilft den Studierenden, ihre eigenen Methoden (auch als Mischform) zu entdecken. 3.2. Schlüsselqualifikationen,
die im Umgang mit wissenschaftlichen Aufgaben ent-
wickelt werden. In den neuen Studiengängen nehmen die Übungen in Basic Skills etwa ein Viertel der Gesamtstundenzahl bzw. Kreditpunkte in Anspruch (90 zu 30 Semesterwochenstunden). In den einzelnen Hochschulen werden diese Studien unterschiedlich bezeichnet: „General Studies", „Allgemeine berufsqualifizierende Kompetenzen", „Optionalbereich", „Studium Fundamentale" etc. Gemeint sind Arbeitstechniken, Gebrauch von Hilfsmitteln, Medienunterstützung, zusätzliche Sprachen, interdisziplinäre Projekte, Übungen in Präsentation, Kommunikation und Argumentation, Forschungsethik. Für ein solches Grundlagen- und Begleitstudium gibt es in den europäischen Universitäten seit dem Mittelalter ein Modell: das Studium der „Septem artes liberales". Als „Liberal Arts" gibt es die Studien weiterhin an englischen und amerikanischen Hochschulen, auch wenn sie heute eher inhaltlich (Behandlung bestimmter Gegenstände) als formal (Übungen in Verfahren) gemeint sind. So hätte ich die freien Optionen neben dem Fachstudium bei den Beratungen über die neuen Studiengänge 1998, die ich an der Ruhr-Universität Bochum verantwortlich führen durfte, gerne „Studium Generale" oder „artes liberales" genannt, zumal einige Parallelen verblüffend sind: Rhetorik/Kommunikation, Grammatik/Fremdsprachen, Arithmetik/Computergestütztes Lernen, Musik/Kultur, Dialektik/Wissenschaftstheorien. Gerade wegen der denkbaren historischen Missverständnisse waren solche Begriffe zu dieser Zeit nicht durchsetzbar. So haben wir uns zunächst nur auf fünf Schwerpunkte einigen können und die General Studies im „Optionalbereich" zusammengefasst, weil Studierende aus den Angeboten auswählen können sollen. Das ist der Ort der „Schlüsselqualifikationen", die durch den Umgang mit Wissenschaft und Praxis besonders ausgebildet werden, wie z.B. Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Flexibilität, Kreativität, Denken in Zusammenhängen, Neugier, Entscheidungsfähigkeit, Verantwortungsgefühl, Ausdauer, Selbstständigkeit. Auch die erste Qualifikationsstufe einer wissenschaftlichen
Ausbildung kann Fähigkeiten vermitteln, die in
vielen Berufen mit höheren Ansprüchen gebraucht werden: Fragen stellen, Zuhören,
16 Zur Einführung in die geläufigen Methoden eignet sich Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft. Darmstadt 2004.
134
2. Lernen und Lehren
genaues Beobachten, Informationen nutzen, Irrtumswahrscheinlichkeiten abschätzen, Zweifel bewahren, Urteile begründen sowie gemeinsam mit anderen abwägen. Über solcherart formale Qualifikationen hinaus geht es im Feld der optionalen Genera/ Studies auch um eine Erweiterung des Horizonts über das Fachwissen hinaus: -
durch Studium in anderen Fächern und mit interdisziplinären Fragestellungen, durch Ergänzung der Präsenzlehre durch Formen des E-Learning (als Blended Learning) mit eigenen Versuchen von anschaulicher Lehre und Diskussionsforen,
-
durch Erlernen mindestens einer weiteren Fremdsprache sowie komparatistische Studien zu Kulturvergleichen,
-
durch Anwendung des Wissens und Könnens in Praxisfeldern, z.B. Verfassen von Werbetexten, journalistische Formen, Broschüre für ein Museum, Recherchen zur Geschichte von lokalen Institutionen,
-
durch Nachdenken über Theorien von Wissenschaft, einschließlich Ethik des Forschens.
Die Kurse, Module und Seminare in den General Studies dürfen nicht so angelegt sein, dass sie den Volkshochschulen Konkurrenz machen. Das Besondere von Veranstaltungen an Universitäten ist, dass das Vorgehen ständig reflektiert wird, dass die Darstellungen und Diskussionen auf angemessenem Abstraktionsniveau sowie mit präziser Begrifflichkeit, auch auf der Ebene der Metakommunikation, erfolgen und bei aller Begeisterung für die Sache die kritische Distanz und der Selbstzweifel erhalten bleiben. 3.3. Da der Bachelor eine erste Berufsqualifizierung bedeutet, müssen auch Kompetenzen für Tätigkeitsfelder von Germanistinnen benannt werden, die durch das Studium zu erwerben sind. Sie können in der Nähe zum Fach oder in Kooperation mit Einrichtungen der Region (Medien, Museen, Kulturträger, Sprachvermittlung, Personalabteilungen großer Firmen etc.) erarbeitet werden. Es kann bei dem Studium dieser Module nicht darum gehen, in bestimmte Berufe einzuführen, sondern Praktika und die Reflexion des Arbeitsspektrums eines konkreten Berufes exemplarisch für ein Anwendungsfeld geisteswissenschaftlicher Profession zu verstehen. Diese Berufsfelderkundung während des Studiums hätte drei Phasen: -
Überblick über Berufsfelder der Geisteswissenschaften (Verlag, Bibliothek, Museum, Kulturpolitik und -Verwaltung, Medien, Theater, Werbung, Marketing, Bildung, kulturelle Szene etc.) und exemplarische Behandlung formaler und inhaltlicher Ansprüche (z.B. im Workshop),
Curriculum und Kompetenz
-
135
Berufspraktikum als Erprobung der eigenen Fähigkeiten, der Anwendung von erworbenen Kenntnissen und Kompetenzen sowie der zusätzlichen Anforderungen,
-
Auswertung des Praktikums (z.B. in einem Bericht) und Reflexion über die Zusammenhänge und Widersprüche von Theorie und Praxis in den Geisteswissenschaften.
Wenn Praktika auf solche Weise zum notwendigen Element des Studiums werden, kann praktische Erfahrung auf Inhalte theoretischer Studien Rückwirkung haben: neue Genres, andere Formen der Kommunikation, erweiterter Umgang mit neuen Medien, Reflexion und Bilder von Arbeit in Philosophie und Literatur. 3.4. Neben die Ausbildung zu allgemein gebildeten Fachleuten in der Germanistik tritt die Bildung durch kontinuierlichen Umgang mit den Wissenschaften: Im akademischen Studium wird allgemeine und fachliche Qualifizierung mit Persönlichkeitsbildung verbunden. Seit Max Webers Vortrag „Wissenschaft als Beruf" (1917) wissen wir, dass der Umgang mit Wissenschaften auch die Persönlichkeit bildet. Die Frage, was „denn nun eigentlich die Wissenschaft Positives für das praktische und persönliche ,Leben'"17 leiste, beantwortet Weber mit: Rationalität (wie man Kenntnisse „durch Berechnung beherrscht"), Methoden des Denkens und der Klarheit. Hochschullehrende könnten dem/der Studierenden „dabei helfen, sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns. Es scheint mir das nicht so sehr wenig zu sein, auch für das rein persönliche Leben."18 Selbstbestimmtheit des Handelns und Denkens sowie Verantwortungsgefühl sind das Ziel akademischer Bildung. Wenn eine Studentin der Germanistik im vierten Semester auf die Frage, was sie denn in ihrem Studium unter den erschwerten Bedingungen eines Massenfachs gelernt habe, antwortet: „Was ich gelernt habe, kann ich nicht sagen, wohl aber, dass ich um's Doppelte gewachsen bin", dann ist sie im Sinne Webers zur Persönlichkeit gereift.
4. Master In Stufen werden im Studienverlauf unterschiedliche Qualifikationsprofile erreicht: Nach zwei plus sechs Semestern haben die Studierenden einen Überblick über das
17 Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. Stuttgart 1995 (= RUB Bd. 9388), 37. 18 Ebd., 39.
136
2. Lernen und Lehren
Wissen in ihren Fächern, sie sind geübt im Gebrauch wissenschaftlicher Methoden, können Einzelphänomene einem Ganzen zuordnen und ganze Probleme in Einzelfragen auflösen, beherrschen die Grundformen wissenschaftlicher Kommunikation (Präsentation, Erklärung, Rechtfertigung etc.), haben gelernt, dem Augenschein zu misstrauen, und können metatheoretisch reflektieren. Damit sind sie vorbereitet auf einen Beruf, in dem Selbstorganisation, Wachheit für Probleme, Fantasie für die Wege und Verfahren zu deren Lösung und vorurteilslose Wertung der Ergebnisse gefordert sind. Diese Fähigkeiten sind nur im Umgang mit den Wissenschaften zu erwerben. Wissenschaft ist der Weg der Studierenden zum Beruf, sie ist aber selten ihre Berufung. Die Qualifikation für die Wissenschaft wird in der zweiten Stufe erreicht, auf der die Studierenden selbstständig an hoch spezialisierten Fragestellungen, gemeinsam mit den Lehrenden, arbeiten und dabei ihr Wissen und ihr Können erweitern und vertiefen. Sie sind vorbereitet, die Forschung selbstständig voranzutreiben und in ihrem akademischen Beruf neue Lösungen durch selbst verantwortete Untersuchungen zu finden. Während die Ausbildung in der Bachelor-Phase eher auf Polyvalenz, Vielseitigkeit und breite Qualifikationen ausgerichtet ist, wird das Master-Studium von Professionalität, Einseitigkeiten und Spezialisierungen bestimmt sein. Wie allgemeine Ausbildung aber exemplarisch arbeiten muss, darf Spezialisierung den Rahmen nicht vergessen, aus dem die Fragen hervorgegangen sind und in den die Lösungen gestellt werden. Auf nähere inhaltliche Ausführungen kann nicht nur, sondern muss verzichtet werden, weil Schwerpunkte der Forschung der Hochschullehrenden und Forschergruppen die Themen der Seminare, Module und Prüfungsarbeiten weitgehend bestimmen werden. Im Master-Studium können, bei kleineren und qualifizierten Lerngruppen, Humboldts Prinzipien auf höherem Niveau und mit größerem Erfolg als unter den bisherigen Bedingungen eines Massenfaches mit hohen Abbrecherquoten garantiert werden. Vor allem die Einheit von Forschung und Lehre, selbst bei komplexen Problemstellungen, sowie die Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden werden erfolgreich praktiziert. Beispielthemen aus den oben genannten Gesamtdarstellungen wären z.B. Familiendesaster in Thomas Manns Buddenbrooks und Jonathan Franzens Korrekturen, Tabus im Werk Elfriede Jelineks, Träume in Zettels Traum von Arno Schmidt, Literatur als Wahrheit bei Ingeborg Bachmann. Wissenschaftliche Untersuchungen bieten Material und Anregungen für weitere Forschungsarbeiten, treiben neue Fragen hervor und stehen plötzlich, mit einer Akzentverschiebung etwa von der sozialhistorischen zur anthropologischen Perspektive, vor neuen ungelösten Fragen. Trotz unterschiedlichen Zuschnitts der Germanistik wird das Fach weiterhin als Einheit verstanden und bezeichnet die Gesamtheit der Studien zur Kultur in deut-
Curriculum und Kompetenz
137
sehen Sprachräumen. Ihre Gegenstände sind im Kern die Systeme und Leistungen von Sprache, Literatur und Medien in Geschichte und Gegenwart. Auf meinen Vorschlag hin wurden in den „Fachspezifischen Bestimmungen für die Magisterprüfung mit Germanistik und ihren Teilfächern als Haupt- und Nebenfach" folgende fachliche Ziele benannt:19 -
einen Überblick über das Wissen im Fach in systematischen und historischen Bezügen vermitteln,
-
Einsichten in mediale, kulturelle und interkulturelle Zusammenhänge ermöglichen,
-
vertiefte Kenntnisse in ausgewählten Spezialgebieten der Teilfächer sichern,
-
zu interdisziplinärer Arbeit befähigen,
-
den Gebrauch unterschiedlicher wissenschaftlicher Methoden üben, um sie zielorientiert anzuwenden,
-
zu eigenen überschaubaren Forschungsarbeiten anregen,
-
zu selbstständigem, argumentativ gesichertem Urteil befähigen,
-
die aktive und passive Sprachkompetenz fördern,
-
Zugänge zu Praxisfeldern eröffnen.
Zwar sind die Ziele noch nicht als Kompetenzen geschrieben, aber so gefasst, dass sie vom Brennpunkt der Lehre zu dem des Lernens fortgedacht werden können, z.B. Überblick gewinnen, Zusammenhänge erkennen, komparatistisch arbeiten, Forschungsarbeit modellieren, Thesen argumentativ und mithilfe von Fachbegriffen verteidigen.
5. Lehramt In den Hochschulen, in denen traditionell auch die Ausbildung für das Gymnasialamt angeboten wird und in denen die Studiengänge kompatibel gehalten werden, wird man sich für den konsequent konsekutiven Aufbau des Studiums entscheiden: auf den Stamm des polyvalenten Bachelor bauen die beiden Zweige des Master of Arts (MA) und des Master ofEducation (ME) auf. Wer sich nach dem ersten Zyklus für das Lehramtsstudium entscheidet, kann sich nach einem Schulpraktikum für das Studium
19 Beschlossen von der Konferenz der Rektoren und Präsidenten der Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland am 3.7.2001 und von der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland am 11.10.2001, 17f.
138
2. Lernen und Lehren
auf dem zweiten Ast, der zum ME führt, bewerben. Auch dieses Master-Studium setzt die fachwissenschaftlichen Qualifikationen fort, hat aber den Schwerpunkt in den berufsvorbereitenden Studien in den für das Schulcurriculum relevanten Gegenständen und Methoden der Fächer, den Bildungswissenschaften und Fachdidaktiken. Einzelheiten habe ich in meinem Referat Neue Wege in der Lehrerbildung auf der internationalen Tagung zur Lehrerbildung in Wendgräben (2004) vorgetragen, der Beitrag ist im Druck.20 Die Ergebnisse wurden in Grafiken: (1) „Gestufte Lehrerausbildung" und (2) „Kompetenzen der Lehrenden"21 zusammengefasst und sind ohne Kommentar beigefügt. Alle Leitung und Lenkung des Studiums, die Formulierung von Kompetenzen und Standards dürfen nicht vergessen lassen, dass die Studierenden vom dritten Semester an zunehmend frei werden müssen, selbstbestimmt zu studieren. Der Zweck des Umgangs mit Wissenschaft ist es, die jungen Menschen frei zu machen: von Zwängen und für eigenständige Experimente und Entdeckungen. Nach Humboldts Vorstellungen wird in den Universitäten nicht gelehrt, sondern der Mensch bildet sich selbstständig, wenn die Voraussetzungen geschaffen sind. Da ist dann möglicherweise gerade der Widerspruch gegen die geltende Lehre Ausweis neuer wissenschaftlicher Kompetenz. So schwebte es auch Max Weber vor, „daß Wissenschaft heute ein fachlich betriebener .Beruf' ist im Dienste der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge und nicht eine [...] Offenbarungen spendende Gnadengabe"22.
20
Müller-Michaels, Harro: Neue Wege In der Lehrerbildung [Referatstitel]. Erscheint 2006 In dem von Gabriele Czech herausgegebenen Band zur Tagung: „Muttersprache - Vaterland. Germanistik- und Deutschlehrerausbildung in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart." Wendgräben 24. bis 26. November 2004.
21
Beide Tabellen s.u.
22 Weber, Wissenschaft als Beruf, 40.
139
Curriculum und Kompetenz
(1) Gestufte Lehrerausbildung Abitur nach 12 Jahren Kollegjahr: Studium generale/Wissenschaftspropädeutik in Fakultäten
Zulassung Bachelor-Studium (Studienjahr 2-4) 1.Fach
2. Fach
Optional
(50 SWS, 75 CP)
(50 SWS, 75 CP)
(20 SWS, 30 CP)
B.A.-Prüfung Praktikum Master of Education (Studienjahr 5 u. 6) 1. Fach mit Didaktik
2. Fach mit Didaktik
EW, Philosophie, Psychologie, Soziologie
(20 SWS, 40 CP)
(20 SWS, 40 CP)
(15 SWS, 40 CP)
M.E.-Prüfung Pädagogische Akademie: .Referendariat' (2 Jahre) Unterricht, Fallstudien,
Erziehung,
z.B. Methodenwahl, Leistungsbeurteilung
z.B. Differenzierung, Gewalt
2. Lehrerexamen Weiterbildung alle 5 Jahre
140
2. Lernen und Lehren
(2) Kompetenzen der Lehrenden Wissenschaften
1. Fachliches Wissen und Können
Persönlichkeit
2. Persönliche Autorität
Theorien
3. Fähigkeit zur Diagnose 4. In Konzepten denken 5. Methodische Fähigkeiten und Phantasie 6. Urteils- und Beratungskompetenz
Praxis
7. Handlungskompetenz 8. Kommunikative Kompetenz 9. Kulturelle Kompetenz 10. Metareflexive Kompetenz
Curriculum und Kompetenz
141
Literatur Alt, Peter-André: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München 2002. Bachelard, Gaston: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Frankfurt am Main 1978. Damerau, Burkhard: Die Wahrheit der Literatur. Glanz und Elend der Konzepte. Würzburg 2003. Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft. Darmstadt 2004. Gumbrecht, Hans Ulrich: Die Macht der Philologie. Frankfurt am Main 2003. Humboldt, Wilhelm von: Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. In: Humboldt, Wilhelm von: Werke. Bd. IV. Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Hg. von Andreas Flitner. Darmstadt 5
1996, 255-266.
Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Stuttgart 2003. Matt, Peter von: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München 2006. Matt, Peter von: Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. München 1995. Müller-Michaels, Harro: Deutschkurse. Modell und Erprobung angewandter Germanistik in der gymnasialen Oberstufe. Weinheim 1994. Müller-Michaels, Harro: Wozu noch Germanistik? Deutsche Literatur im europäischen Kontext. In: Erhart, Walter (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart/Weimar 2004, 521-534. Schlaffer, Heinz: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München/Wien 2002. Schneider, Manfred: Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling. München 1997. Shattuck, Roger: Tabu. Eine Kulturgeschichte des verbotenen Wissens. München 1996. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. Stuttgart 1995 (= RUB Bd. 9388).
Didaktische Methodik
Pia Janke (Wien)
Lehren, Lernen und Öffentlichkeit Projektorientierte Lehrveranstaltungen als Chance für die Geisteswissenschaften
Die aktuellen Bewertungen der universitären Lehre und des universitären Lernens differieren extrem. Gibt es auf der einen Seite Initiativen, die universitäre Fachdidaktik auszubauen, so ist auf der anderen Seite die Einheit von Lehre und Forschung durch Reformvorhaben in Gefahr. Modelle, die auf eine Entkoppelung abzielen, kursieren und werden schleichend umgesetzt. Hochschulen, die primär ausbilden, und solche, die sich als elitär verstehen und Eliten zu produzieren verheißen, sind die Projekte der Zukunft. Eine Zweiklassengesellschaft von schnell dem Arbeitsmarkt überantworteten Studienabgängerlnnen und hoch spezialisierten, verstärkt an die universitären Einrichtungen gebundenen Jungforscherinnen zeichnet sich ab. Die Studierenden, die gemäß einer generellen Ökonomisierung des Bildungsbegriffs nun als Kundinnen der Universität eingestuft werden, müssen sich - zumeist primär auf Grund ihrer finanziellen Möglichkeiten - entscheiden, ob sie, wie es im „Entwicklungsplan" der Universität Wien heißt, „berufsvorbildend" und „ berufsbefähigendlernen wollen (Bakkalaureatsstudium) oder ob sie, in weiterer Folge aufbauend, in Form eines Magisterstudiums „in die laufende Forschung aktiv" 2 mit einbezogen werden.
1. Geisteswissenschaften und Gesellschaft In allen universitätspolitischen Entwicklungsplänen, Manifesten und Zukunftsvisionen haben Begriffe wie „Praxisbezug" oder „Arbeitsmarkt" einen fixen Platz, wenn es darum geht, die universitären Lehrinhalte und deren Zielrichtung festzuschreiben,
1
Universität Wien (Hg.): Universität Wien 2010. Entwicklungsplan der Universität Wien. Wien 2005, 19.
2
Ebd., 18.
144
2. Lernen und Lehren
obwohl zugleich Modelle, forschungsbezogen auszubilden und Jungwissenschaftlerlnnen heranzubilden, forciert werden. Was soll also den Studierenden im Rahmen ihres Studiums vermittelt werden, wozu sollen sie durch die universitäre Lehre angeleitet werden, was ist unter Schlagworten wie „Ausbildungskompetenz für eine Kultur des Lehrens und Lernens" 3 zu verstehen, die die Hochschulen nach Meinung universitärer Projektgruppen wiedergewinnen sollten? Und was ist die Aufgabe der universitären Lehre und des universitären Lernens, aber auch des universitären Forschens im Hinblick auf das, was sich außerhalb der Universität abspielt, also im Hinblick auf „die Praxis", „die Öffentlichkeit", „die Gesellschaft", „das Leben"? Bei dieser letzten Frage sind vor allem die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften in den vergangenen Jahren in Bedrängnis geraten. Ein neuer Legitimationsdruck lastet auf ihnen in einer Zeit, in der verstärkt von ökonomischer und politischer Seite die Forderung nach Effizienz, Nützlichkeit und Verwertbarkeit des vermittelten Wissens erhoben wird. Bildung fungiert in diesem Diskurs nicht länger als Strategie gesellschaftlicher Emanzipation oder sozialer Distinktion, sondern als Kriterium von Unternehmen bei Standortentscheidungen. Argumentiert wird gegen die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften sowohl von ökonomischer und politischer Seite als auch von der medialen Öffentlichkeit mit den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes, mit dem Fehlen an potenziellen Abnehmerinnen, mit dem geringen direkten Nutzen und der mangelnden gesellschaftlichen Relevanz von Fächern, die man als weltfern und unproduktiv einstuft (Stichwort: „Orchideenfächer"). Gab es in breiten Teilen der Bevölkerung schon immer grundsätzliche Ressentiments gegen Studienrichtungen, die keinen ersichtlichen Zweck hatten und keine konkreten Produkte beförderten, so verweisen die im aktuellen Diskurs verwendeten Begriffe auf die neuen Bewertungskriterien für geistes- bzw. kulturwissenschaftliche Fächer, nämlich auf ökonomische Standards. Die universitätspolitischen Konsequenzen dieses Denkens zeichnen sich ab: Studienrichtungen, die der Gesellschaft keinen Gewinn bringen, werden in Frage gestellt, Budgetmittel für sie werden gestrichen - „Umverteilung von Ressourcen" 4 ist das Schlagwort der Stunde - , „unproduktive" Fächer zusammengelegt. Die universitätspolitisch Verantwortlichen bemühen sich jedoch auch um Strategien der Rettung. Stefan Titscher, Leiter der „Arbeitsgrup3
Koenne, Christa/Oswald, Friedrich: Forschungsschwerpunkt: Hochschuldidaktik im Programm der Fachdidaktik. In: Lenz, Werner/Brünner, Christian (Hg.): Universitäre Lernkultur. Wien 1990, 202.
4
Titscher, Stefan: Profilentwicklung an Österreichs Universitäten. In: Höllinger, Slgurd/Titscher, Stefan (Hg.): Die österreichische Universitätsreform. Wien 2004, 275.
Lehren, Lernen und Öffentlichkeit
145
pe Profilentwicklung im Bildungsministerium", etwa schreibt: „Dort, wo das Fach es zulässt, wären die Möglichkeiten einer .praxisrelevanten' Zusammenarbeit mit anderen Fächern zu prüfen. Orientierung an der .Praxis' meint damit, dass die Themen nicht an innerwissenschaftlichen Problemlagen ausgerichtet sind, sondern von außen aufgenommen werden. Der Gegenwarts- und Lebensbezug könnte verstärkt herausgearbeitet und dargestellt werden: auch in den Medien." 5 Wie reagieren nun aber die Vertreterinnen der geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen Fächer selbst auf die aktuelle Situation, in ihrem Selbstverständnis, in ihren Forschungen, in ihrem öffentlichen Auftreten - und in Form und Inhalt ihrer universitären Lehre? Im Vorwort des Buches „Wozu Geisteswissenschaften? Kontroverse Argumente für eine überfällige Debatte", das nach der Relevanz der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften heute fragt, ist von einer ,,masochistische[n] Jammerkultur" 6 zu lesen, die seit Jahren in den Reihen der Geistes- bzw. Kulturwissenschaftlerlnnen herrschen würde. Der wehklagende Rückzug in die Passivität, die Versicherung der eigenen Großartigkeit und das Wettern gegen die Ignoranz der Gesellschaft oder der Hochschulleitung in einer „Zeit der leeren Kassen" 7 sind damit gemeint. Die Schlussfolgerung der Autorinnen lautet: „Fast drängt sich hier, angesichts der Langwierigkeit und Hartnäckigkeit der Verdacht auf, dass von manchen Geisteswissenschaftlern ein Ausweg aus der .Krise' gar nicht wirklich gewünscht wird. Zumal die Bedrohung von außen die eigene Identität stärkt und von dem lästigen Problem enthebt, das Gespräch mit einer zunehmend verständnislosen Öffentlichkeit zu suchen." 8 Ist es verfehlt, die generelle Verantwortung für die grundsätzliche Ökonomisierung der meisten Lebensbereiche, also auch der Universitäten, allein den Angehörigen dieser Bereiche zuzuschieben, so scheint die Frage nach dem Verhalten und dem angemessenen Umgang der Wissenschaftlerinnen mit der aktuellen Situation trotz allem von Wichtigkeit. Nicht Rückzug, Grandiositätsgehabe oder Selbstbezüglichkeit, sondern offensive Thematisierung und Konfrontation wären die adäquaten Strategien im Umgang mit Ökonomie, Politik und Öffentlichkeit. Gerade die Rückbesinnung auf das, was die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften ausmacht, nämlich auf ihr hohes Reflexionspotenzial, ihre Fähigkeit zur kritischen Betrachtung und zur
5 6
Ebd., 279. Keisinger, Florian/Seischab, Steffen u.a. (Hg.): Wozu Geisteswissenschaften? Kontroverse Argumente für eine überfällige Debatte. Frankfurt am Main 2003, 11.
7
Ebd., 11.
8
Ebd., 11.
146
2. Lernen und Lehren
komplexen Diskussion wäre nun gefragt. Nicht um Anpassung und Anbiederung ginge es dabei, sondern um das Anstoßen von öffentlichen Debatten, von diskursiven Auseinandersetzungen mit aktuellen Entwicklungen und deren politischen, ökonomischen, historischen, sozialen und kulturellen Kontexten. Gerade durch diese Form des „Eingreifens" erhielten die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften auch das wieder, was ihnen abhanden gekommen ist oder ihnen abgesprochen wird: gesellschaftliche Relevanz-jedoch nicht im Sinne von Erfüllungsgehilfen einer ökonomisierten Politik, sondern als kritische Korrektive mit Öffentlichkeitswirkung.
1.1. Studieren in „Quasi-Realität" In aktuellen manifestartigen Papieren versuchen die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften diesem Anspruch bereits gerecht zu werden. So wird im „Entwicklungsplan der Universität Wien" festgehalten: „Ziele der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät sind intensive, vernetzte Forschung von hohem internationalen Ansehen, hochwertige, forschungsgeleitete Lehre sowie kritische Reflexion und Wissensvermittlung für die Öffentlichkeit."9 Und im „Institutsprofil" des Instituts für Germanistik der Universität Wien gibt es einen Hauptpunkt, der mit „Gesellschaftliche Aufgaben und Kooperationen" übertitelt ist, wobei das Institut darin dann primär als „Anlaufund Informationsstelle"10 definiert wird und es nur ganz allgemein Hinweise auf die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen gibt. Im universitären Alltag haben diese programmatischen Selbstbeschreibungen wenig Entsprechungen. Es hat jedenfalls den Anschein, dass der Anspruch einer gesellschaftlichen Rückkoppelung der universitären Arbeit nicht zu den zentralen Anliegen der Geistes- bzw. Kulturwissenschaftlerlnnen gehört. Vor allem im Bereich der Lehre fehlt ein solches Denken weitgehend. Auf die Anfrage, in welcher Form denn Gelehrtes und Gelerntes der Öffentlichkeit vermittelt würde, stößt man so zum Beispiel bei der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Universität Wien auf wenig Verständnis: von sich aus täte man in diesem Bereich nichts, außer Institute würden selbst an die Abteilung herantreten. Dann würde man Pressemitteilungen verfassen. Auch Publikationen in dieser Richtung gäbe es keine, nur eine allgemeine Broschüre mit dem Titel „Studium und Lehre an der Universität Wien", die das Vorlesungsverzeichnis
9
Universität Wien (Hg ), Universität Wien 2010, 49.
10 Institut für Germanistik, Universität Wien, Institutsprofil: http://www.univie.ac-.at/Germanistik/institiit/institutsprofil.htm
Lehren, Lernen und Öffentlichkeit
147
abgelöst hätte, Informationen also für die Studierenden selbst, nicht jedoch für eine potenziell interessierte Öffentlichkeit über das, was gelehrt und gelernt wird, und über dessen gesellschaftliche Relevanz. Fehlt in keinem der universitären geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen Manifeste der Hinweis auf den eminenten Praxis- und Öffentlichkeitsbezug der Fächer, vor allem im Hinblick auf die Felder, in denen das Gelehrte einsetzbar wäre, so werden zum Beispiel im Germanistik-Lehrplan Lehrveranstaltungen, die sich mit genau diesen Feldern befassen, im Bereich des Wahlfachs marginalisiert, möglicherweise auch deswegen, um sich von Fachhochschulen abzugrenzen oder um nicht mit postgradualen Lehrgängen, die von anderen Institutionen angeboten werden, zu konkurrieren. Lehrveranstaltungen, die selbst den Anspruch stellen, den öffentlichen Diskurs nicht nur zu thematisieren, sondern in ihn - in welcher Form auch immer - auch „einzugreifen", sind nicht vorgesehen. Die Studierenden, die nur wenig Aussicht haben, nach Ende ihres Studiums auch wirklich fachspezifisch zu arbeiten, können das auch während ihres Studiums nicht, jedenfalls nicht im Rahmen der Lehrveranstaltungen, sondern nur dann, wenn sie bereits, parallel zu ihrem Studium, einen halbwegs einschlägigen Job haben oder ein Praktikum absolvieren. Wissen wird angehäuft und in Form von mündlichen oder schriftlichen Prüfungen reproduziert, kleinere und größere wissenschaftliche Arbeiten werden verfasst, die mit Noten versehen werden - und die nach einer bestimmten Frist von der Lehrveranstaltungsleitung entsorgt werden dürfen, um wieder Platz zu schaffen. Die Studierenden befinden sich während ihres Studiums in einer Form der „Quasi-Realität" 11 , wie Michael Schilling ihre psycho-soziale Situation bezeichnet hat. Die Anwendung des vermittelten theoretischen Wissens in den verschiedenen Handlungsfeldern ist weitgehend auf spätere Zeiten verschoben. Man kann diesen Zustand positiv bewerten und ihn als „Chance eines adoleszenten Moratoriums, eines identitätsstiftenden Experimentierens und Reflektierens"12 beschreiben, man kann ihn aber auch als fatales Vegetieren in einer Scheinwelt kritisieren, in der sich die Studierenden nicht als handlungsmächtige Subjekte erfahren können, deren Aktivität Bedeutung über die reine Aktivität hinaus hat, und in der das, was sie tun, für niemanden sonst - und schon gar nicht für eine potenziell interessierte Öffentlichkeit - Relevanz hat.
11
Schilling, Michael: Die Bedeutung des Interaktionsgeschehens und psycho-sozialer Aspekte beim Lehren und Lernen an den Universitäten. In: Lenz, Werner/Brünner, Christian (Hg.): Universitäre Lernkultur. Lehrerbildung - Hochschullehrerfortbildung - Weiterbildung. Bericht einer Arbeitsgruppe der Österreichischen Rektorenkonferenz, Wien 1990, 192-198, 194.
12 Ebd., 194.
148
2. Lernen und Lehren
Die häufige Apathie der Studierenden, Gefühle von Lähmung und Resignation, mangelndes Engagement, persönlicher Rückzug und Abwesenheit von Haltung und Kritik sind auch Folgen eines universitären Lehr- und Lernalltags, in dem es nicht um Anwendungskontexte und studentische Eigeninitiative geht, sondern um fachliche Selbstbezüglichkeit und Simulation von wissenschaftlicher Tätigkeit in Form von zumeist autoritärer Wissensvermittlung und von schriftlichen Arbeiten, die niemand außer den Lehrenden und eventuell ein paar Mitstudierenden rezipiert. Die Konsequenz einer solchen universitären Lehr- und Lernsituation, die von einem anonymen Massenbetrieb nur noch mehr begünstigt wird, ist, dass das ungeheure kreative und kritische Potenzial, das die Studierenden mitbringen, größtenteils ungenutzt bleibt oder aber außeruniversitär, ohne Bezug zum Studium, umgesetzt wird.
2. Ein Lehrveranstaltungs-Projekt: „Jelinek & Österreich" All diese Überlegungen bildeten den Kontext des Versuchs, für ein Semester eine Lehrveranstaltung zu entwickeln, die Wissensvermittlung und selbst verantwortete Erarbeitung von Forschungsbereichen umfasste und zugleich eine Kontextuallslerung des Erarbeiteten mit der Praxis intendierte. Im Wintersemester 2001/2002 wagte ich ein Experiment: im Proseminar für neuere deutsche Literatur mit dem Titel „Staatskünstlerin oder Nestbeschmutzerin? Elfriede Jelinek und Österreich" sollten keine Proseminararbeiten im üblichen Sinn verfasst werden, sondern die Lehrveranstaltung erhielt Projektcharakter: Ziel war es, gemeinsam ein Buch zum Thema „Elfriede Jelinek und Österreich" zu erarbeiten.13 Grundelemente eines Proseminars wie erstmalige selbstständige wissenschaftliche Arbeit, Recherchen, analytische Auswertung und Präsentation der Ergebnisse wurden weitergeführt, wobei aber nun nicht nur die/der Lehrende und die Mitstudierenden diejenigen waren, die als Rezipientlnnen einbezogen wurden, sondern auch die Öffentlichkeit. Thematisiert, recherchiert, analysiert und - als Ergebnis - In Buchform dokumentiert wurde im Rahmen des Proseminars Elfriede Jelineks Verhältnis zu ihrem Herkunftsland, also alle Reibungen, Debatten und Skandale, die es rund um sie in Österreich gegeben hatte. Anspruch war es, durch eine bewusstseinsstiftende Auswahl und Kombination von kommentierten Primärmaterialien die Mechanismen der öffentlichen Auseinandersetzung mit einer der zentralen Schriftstellerinnen des Landes zu 13 Vgl. Janke, Pia (Hg.) & Studentinnen: Die Nestbeschmutzerin. Jelinek & Österreich. Salzburg 2002.
Lehren, Lernen und Öffentlichkeit
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untersuchen und das Niveau der öffentlichen „Sprache" über Kunst und Künstlerinnen in Österreich transparent zu machen, die - und das war der erschreckende Befund - vom Ressentiment und nicht von der Reflexion, von der Emotion und nicht von der Analyse, vom Vorurteil und nicht von der differenzierten Auseinandersetzung geprägt ist. Neben Jelineks politischen Äußerungen und Aktivitäten, ihrem öffentlichen Widerreden, ihrem Engagement für politische und feministische Anliegen, ihrem Eintreten für Kolleginnen war die österreichische Öffentlichkeit das Hauptuntersuchungsfeld des Proseminars - und mittels einer publizierten Dokumentation sollte wiederum in diese Öffentlichkeit „eingegriffen" werden. Ziel war es also, in einer Lehrveranstaltung Felder der literarischen Produktion, des literarischen Lebens, der literarisch-politischen Debatten und der medialen Aufbereitungen zu erforschen und zugleich selbst kritischer Teil dieser Felder zu sein, indem das Recherchierte und Dokumentierte wiederum in diese Felder gestellt wurde, um einen substanziellen Diskurs darüber zu initiieren. Lehre, Lernen und gesellschaftliche Praxis miteinander zu verbinden, das war der Anspruch. Schon die Vorbereitungen zeigten, dass Studierende eine solche Form der Lehrveranstaltung mit dem größten Interesse annehmen. Mehr als 100 Studierende meldeten sich für das Proseminar an, und sie alle hatten zuvor erfahren, worum es gehen würde und dass von ihnen viel mehr an Arbeitsaufwand erwartet wurde als eine Proseminararbeit. In Einzelgesprächen und in der ersten Proseminarstunde mussten die Interessentinnen, die gar nicht mehr alle erfasst werden konnten, auf 52 Teilnehmerinnen reduziert werden, und alle 52 blieben bis zum Schluss dabei. Bedeuten Lehrveranstaltungen wie diese für die Lehrenden einen im Verhältnis zu konventionellen Lehrveranstaltungen nicht zu unterschätzenden Mehraufwand, so ist nicht nur der Lerneffekt, der mit Übungen dieser Art erzielt werden kann, sondern auch die positive psycho-soziale Wirkung enorm. In dieser Richtung weitere Modelle zu entwickeln und auch die Bedingungen für sie zu schaffen, scheint mir von eminenter Wichtigkeit für die Zukunft einer universitären Lehre, die sich nicht länger in sich selbst erfüllt, sondern offensiv in die Öffentlichkeit wirkt. Die/der Lehrende wird in dieser Form der Aufbereitung zugleich zur/zum Projektleiterin, die Studierenden werden zu Projektmitarbeiterinnen, die mit dem, was sie sonst ausschließlich in Form von Wissen anhäufen, konkret konfrontiert sind. Im Fall des beschriebenen Proseminars lernten die Studierenden auf mehreren Ebenen zugleich. Zunächst lernten sie, konsequent alle verfügbaren Materialien zum Thema zu recherchieren und auszuwerten. Diese Recherche beschränkte sich nicht nur auf die üblichen Bibliotheken und Archive, sondern alle Institutionen und Einzel-
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2. Lernen und Lehren
Personen, die für das Thema in Frage kamen, wurden von den Studierenden kontaktiert und um Unterlagen ersucht, so Parteien, Ministerien, politische Initiativen, Rundfunk- und Fernsehanstalten, Zeitungen, Theater, Festivals, Literaturhäuser, literarische Gesellschaften, Schriftstellerverbände, Verlage, Mitstreiterinnen und Gegnerinnen der Autorin. Der unmittelbare Kontakt zu diesen Institutionen und Persönlichkeiten war für die Studierenden auch deswegen besonders interessant, weil die Einblicke, die sie durch diese Begegnungen erhielten, auch mögliche spätere Berufsfelder bewusst machten. Neben neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, dem Umgang mit dem Wissenschafts-, Literatur- und Kulturbetrieb, neben Erkundungen und Analysen von Politik, Medien und Öffentlichkeit bestand der Lerneffekt für die Studierenden aber auch in der Ausarbeitung von Strategien, wie die eigene wissenschaftliche Arbeit dargestellt und der Öffentlichkeit vermittelt werden könnte. Umfassende Kenntnisse, was alles für die Durchführung eines Buchprojekts nötig ist, konnten erworben werden, und die Studierenden waren selbst aktiv an der Realisierung der Publikation beteiligt. Alle Vorgänge der Buch-Konzeption und -Umsetzung von der Materialsammlung, Auswertung, Anordnung der Dokumente bis hin zur Kommentierung und grafischen Gestaltung wurden gemeinsam in Angriff genommen. Für rechtliche Fragen, technisches Know-how, redaktionelle Arbeiten und Verhandlungen mit dem Verlag waren jeweils bestimmte Studierende mitverantwortlich. Auch Überlegungen, wie diese Buchpublikation nach außen getragen werden sollte, in welcher Form sie adäquat zu präsentieren und entsprechend zu bewerben wäre, wurden von den Studierenden angestellt und im Rahmen der Lehrveranstaltung diskutiert. Das, was dem universitären Lehrbetrieb normalerweise abgeht, nämlich der selbst gewählte Schritt in die Öffentlichkeit, war bei dieser Projekt-Lehrveranstaltung das eigentliche Ziel: die Publikation „Die Nestbeschmutzerin. Jelinek & Österreich" war von Anfang an als Beitrag zur öffentlichen Diskussion gedacht und sollte auch unabhängig von ihrem Entstehungszusammenhang in der Öffentlichkeit bestehen können. Projektorientierte Lehrveranstaltungen wie diese ermöglichen also den Studierenden bereits in der Phase ihres Studiums ihre eigene wissenschaftliche Arbeit nach außen zu tragen, sie entsprechend zu vertreten und mit dem, was sie an Wirkung zu evozieren vermögen, umgehen zu lernen. In dieser Richtung auch andere Formen zu entwickeln, wäre die Aufgabe nicht nur der Lehrenden, sondern auch der für die geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen Curricula Verantwortlichen. Für die Studierenden bedeutete die Lehrveranstaltung einen Arbeitsaufwand, der weit über den üblicher Proseminare hinausging. Trotzdem habe ich nie davor und
Lehren, Lernen und Öffentlichkeit
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danach bei herkömmlichen Lehrveranstaltungen so motivierte und engagierte Studierende erlebt. Der enorme Arbeitseinsatz in dieser Lehrveranstaltung, bei der die Studierenden sich selbst als forschende und ihre Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit präsentierende Subjekte erfahren konnten, war in der Intensität auch für mich überraschend, er ist aber im Nachhinein leicht erklärbar: Die Studierenden waren nicht länger passive Wissensempfängerinnen oder Verfasserinnen von Arbeiten, die keinerlei weitere Relevanz hatten, sondern Mitarbeiterinnen einer kollektiven Aktion. Das Bewusstsein, sich selbst einbringen zu können, ernst genommen zu werden, Mitverantwortung für ein gemeinsames Produkt zu tragen und an etwas mitzuarbeiten, das öffentlich rezipiert werden würde, das waren die Faktoren, die zu einem Einsatz aller Kräfte und zur Aktivierung ungeahnten kreativen Potenzials führten. Vor allem die Eigeninitiative der Studierenden war im Verhältnis zu „normalen" Proseminaren beeindruckend. Die Studierenden entwickelten selbst Ideen und Strategien für die Recherche und die weiterführenden Arbeiten. Zugleich erfüllten sie alle Anforderungen eines Proseminars: so verfassten auch sie Arbeiten, und zwar Arbeitsberichte über die von ihnen durchgeführten Forschungen und reflektierten auf diese Weise ihren eigenen Beitrag zum Gesamtprodukt. Zu den Proseminar-Einheiten, die der Diskussion über die Arbeiten und der Kommunikation über die weitere Vorgangsweise dienten, schrieben sie Protokolle, die das Besprochene festhielten und dadurch Anleitungen für die zukünftigen Arbeitsprozesse waren. Arbeitsgruppen bildeten sich heraus, die laufend miteinander in Kontakt standen und einmal wöchentlich - in den Proseminarstunden - mit den anderen Arbeitsgruppen zusammentrafen. Es handelte sich bei diesem Proseminar für die Studierenden nicht länger um eine universitäre „Quasi-Realität" bzw. um die Situation eines „adoleszenten Moratoriums", sondern der Praxisbezug war unmittelbar gegeben. Für Projekt-Lehrveranstaltungen dieser Art ist eine Struktur nötig, die sich von üblichen universitären Übungen unterscheidet und die bereits bei der Vorbereitung mitbedacht werden muss. Klare Aufgabenverteilungen und realistische Zeitpläne gilt es zu entwickeln, Fragen der Team-Bildung und gruppendynamische Prozesse müssen berücksichtigt und dann entsprechend gelöst werden. Die/der Lehrveranstaltungsleiterin wird bei projektorientierten Übungen auch zur/zum Managerin, die/der nicht nur wissenschaftliche Kompetenz haben muss, sondern auch über organisatorisches und rechtliches Wissen sowie über Kenntnisse der budgetären Planung verfügen muss. Gerade die Frage der Finanzierung der Recherche und des Buchprojekts war im Fall der beschriebenen Lehrveranstaltung von existenzieller Bedeutung. Konnten die Recherchen durch Unterstützungen der Studienrichtungs- und der Fakultätsvertretung,
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2. Lernen und Lehren
die das Projekt von Anfang an mittrugen, abgedeckt werden, so gestalteten sich auch die Verhandlungen mit dem Verlag, jedenfalls was die Finanzierung der Buchproduktion betraf, erfreulicherweise ohne größere Probleme. Auch der Bezug zu der Persönlichkeit, über die die Studierenden arbeiten, kann durch Lehrveranstaltungen dieser Art neue Dimensionen erhalten. Besteht normalerweise zwischen den Autorinnen, die im Rahmen der universitären Lehre behandelt werden, und den Lehrenden und Studierenden selten Kontakt, so gab es im Fall der beschriebenen Lehrveranstaltung einen intensiven Austausch, der für beide Seiten überaus anregend und produktiv war. So stellte Elfriede Jelinek für das Buchprojekt ihr gesamtes Archiv zur Verfügung. Dabei handelte es sich um in feuchten Schachteln in ihrer Garage und in ihrem Keller gelagerte Materialien wie Manuskripte, Typoskripte, Fotos, Ton- und Video-Aufnahmen, Notizen, Briefe, Arbeitsunterlagen, Dokumente, Zeitungsausschnitte und Abdrucke. Im Gegenzug ordneten die Studierenden unter meiner Leitung diese Materialien für die Autorin, befreiten sie von Moder, Staub und rostigen Klammern und gaben sie in neue Hüllen, systematisierten diese in Mappen und Schachteln und transportierten sie wieder in Jelineks Haus zurück, um sie dort, nunmehr an einem trockenen Ort, zu verstauen. Elfriede Jelinek war darüber hinaus zu Gesprächen mit den Studierenden bereit und beantwortete E-Mail-Anfragen. Zusammen mit mir halfen ihr wiederum mehrere Studierende, ihre gesamte Bibliothek neu zu ordnen und einzuräumen. Diese Form des Kontaktes ermöglichte Einblicke in Jelineks Werk und Arbeitsweise, die weit über das laufende Buchprojekt hinausgingen und - in der Folge - die Basis größerer wissenschaftlicher Unternehmungen bildeten.14 Durch diesen intensiven Austausch konnten auch erstmals Texte Jelineks gesichtet und in das Buch aufgenommen werden, die die Autorin zuvor nur in aktuellen Kontexten veröffentlicht hatte: politische Essays, Gastkommentare, Stellungnahmen, offene Briefe, Demo-Reden und Leserinnenbriefe. Aspekte von Jelineks schriftstellerischer Arbeit, die die Forschung bislang nicht berücksichtigt hatte, konnten also durch die spezifische Form der Lehrveranstaltung, die auch die Schriftstellerin selbst mit einbezog, erstmals umfassend dargestellt werden. Bezeichnend war der Umgang des Verlags und der Öffentlichkeit mit dem Buchprojekt und seinem Entstehungszusammenhang. Dem Verlag ging es ausschließlich 14 So entstand als Folge des Buchprojekts die Publikation „Werkverzeichnis Elfriede Jelinek" (Praesens Verlag, 2004), die erstmals Jelineks Gesamtwerk und dessen Rezeption in kommentierter Form bibliografiert, und aus dieser Publikation wiederum das im November 2004 gegründete Elfriede-Jelinek-Forschungszentrum
Lehren, Lernen und Öffentlichkeit
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um ein Buch über Elfriede Jelinek, wobei er in der Werbung bemüht war, es möglichst als ein Buch von Elfriede Jelinek zu lancieren, um auch diese Autorin in seinem Programm aufweisen zu können. Die Studierenden sollten in den Buch-Ankündigungen und bei der vom Verlag in Salzburg organisierten Buch-Präsentation möglichst nicht vorkommen. Mehrmals waren hier Protest und Einspruch nötig. Um die Verdienste der Studierenden auch wirklich würdigen zu können, wurde eine eigene Homepage des Projekts installiert15, und eine große Präsentation in Wien, an der neben dem Wiener Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny die Theaterwissenschaftlerin Hilde HaiderPregler, die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz, die Ex-Politikerin Heide Schmidt und der Journalist Heinz Sichrovsky teilnahmen, wurde ganz bewusst ohne jede Einmischungsmöglichkeit des Verlags organisiert. Die Studierenden lernten auch in diesem Zusammenhang viel, so über den Umgang mit Vermittlungsinstanzen, über Formen der öffentlichen Selbstpräsentation und über die Mechanismen und Strategien des Verlagswesens und des (Buch-)Marktes.
2.1. Wirksam in der Öffentlichkeit Die mediale Öffentlichkeit reagierte auf das Buch mit großem Interesse, wobei der Entstehungszusammenhang in unterschiedlicher Wertigkeit aufschien. Entweder unterschlug man auch hier den Projektcharakter des Buches, oder aber man betonte ihn so sehr, dass dabei das Buch als Arbeit, die auch für sich selbst Bestand hat, unberücksichtigt blieb. Langfristig gesehen erhielt die Publikation jedoch sowohl als Ergebnis einer projektorientierten Lehrveranstaltung als auch als analytische Untersuchung des Verhältnisses von Jelinek und Österreich Wichtigkeit, und die Stockholmer Nobelstiftung, die 2004 Jelinek den Literaturnobelpreis zusprach, nahm das Buch auf ihrer Homepage unter die neun ausgewählten Sekundärliteraturwerke ihrer Jelinek-Biobibliografie auf. Nach seinem Erscheinen bezogen sich viele Forschungsarbeiten auf den Band, und es war die Grundlage mehrerer Diplomarbeiten und Dissertationen. Rückblickend lässt sich festhalten, dass das Buch auch den öffentlichen Diskurs über Jelinek und Österreich mitgeprägt und möglicherweise auch zu einer neuen Einschätzung beigetragen hat. Insbesondere im Rahmen der österreichischen Berichterstattung über den Literaturnobelpreis wurde es von Journalistinnen so sehr „geplündert", dass mehrfach Verweise auf die Urheberschaft angebracht waren.
15 Vgl.: „Die Nestbeschmutzern - Jelinek & Österreich", Informationen zum Buch:
http://www.wipland.rc/
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2. Lernen und Lehren
Die Beschreibung des Versuchs, ein Proseminar projektorientiert zu gestalten, soll als Exempel dienen für Möglichkeiten, mit Lehrveranstaltungen nicht nur intensive Lerneffekte zu erzielen und wissenschaftliche Forschungen voranzutreiben, sondern zugleich auch den öffentlichen Diskurs mitzubestimmen. Bei dem Proseminar handelte es sich um eine Einzelinitiative, die in vielen Bereichen spontane Unterstützung erfuhr, für die man aber von der universitären Lehrplanung her auf keinerlei Grundlagen zurückgreifen konnte. Die Voraussetzungen zu schaffen, um in dieser Richtung auch weitere Formen entwickeln zu können, wäre meiner Ansicht nach eine zentrale Aufgabe für die Zukunft der universitären Lehre in den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften. Formen, gemeinsam erarbeitete Forschungsergebnisse über die Lehrveranstaltung hinaus der Öffentlichkeit zu präsentieren, gäbe es viele, ohne dadurch Verluste des theoretischen Niveaus und der Wissenschaftlichkeit hinnehmen zu müssen: so Vorträge, Diskussionsveranstaltungen, Symposien, Lesungen, Ausstellungen, CDs, DVDs, Workshops, TV- und Rundfunksendungen etc. Die Bedingungen dafür fehlen bislang, vom Lehrplan, von der Infrastruktur, von der Finanzierung, aber auch vom Selbstverständnis der Lehrenden her. Was dafür nötig wäre: -
Verankerung von projektbezogenen Lehrveranstaltungen im Studienplan, Lehrveranstaltungseinheiten, die auf den jeweiligen Arbeits- und Produktionsprozess abgestimmt sind, die also auch, wenn nötig, über mehr als ein Semester angelegt sein können,
-
Zusammenwirken mehrerer Lehrender bei Lehrveranstaltungen dieser Art, um den Arbeits- und Organisations-Aufwand aufteilen und dadurch bewältigen zu können,
-
Management-Kompetenzen der Lehrenden, die auch um die Mechanismen des Literaturbetriebs, des Marktes und der Öffentlichkeit Bescheid wissen,
-
Entwicklung von Bewertungskriterien für die Benotung, die sich an der spezifischen Projektart orientieren, wobei schriftliche Arbeiten als Reflexionsforen der Studierenden immer integriert sein sollten,
-
eine entsprechende Infrastruktur, die das jeweilige Institut ohne größeren Aufwand zur Verfügung stellen könnte, in Form von Arbeitsräumen, Kommunikationsstätten, Computern, Recherche- und Kopiermöglichkeiten,
-
adäquate Finanzierungsformen, durch die die Projekte auch finanziell gut durchführbar sind. Bereits in der Vorbereitungszeit müssten entsprechende Kostenpläne erstellt werden, die dann von der Instituts- oder Fakultätsleitung bewertet werden sollten; potenzielle Sponsoren könnten dafür angesprochen werden,
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-
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offensive Suche nach Kooperationspartnern wie Verlage, literarische Gesellschaften, Kulturinstitutionen, Rundfunkanstalten, Theater etc.; Entwicklung langfristiger Zusammenarbeiten mit ihnen,
-
systematische und professionelle Öffentlichkeitsarbeit von Seiten des Instituts, der Fakultät und der Universität.
Bei der Entwicklung von Formen der universitären Lehre und des universitären Lehrens, die sich auch nach „außen" wenden, geht es also nicht darum, die Studierenden zu ändern. Deren Interesse und Bereitschaft sind groß, und die Energie, die sie einbringen, wenn sie wirklich gefordert sind und ihre Arbeit auch öffentlich wahrgenommen wird, ist enorm. Der Bewusstseinsprozess, der einsetzen müsste, betrifft die Lehrenden selbst. Sie müssten sich als Schnittstelle zwischen Forschung, Lehre und Öffentlichkeit begreifen lernen. Dadurch ergäbe sich auch eine Chance, die gesellschaftliche Relevanz der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften unter Beweis zu stellen.
Literatur Janke, Pia (Hg.) & Studentinnen: Die Nestbeschmutzerin. Jelinek & Österreich. Salzburg 2002. Keisinger, Florian/Seischab, Steffen u.a. (Hg.): Wozu Geisteswissenschaften? Kontroverse Argumente für eine überfällige Debatte. Frankfurt am Main 2003. Koenne, Christa/Oswald, Friedrich: Forschungsschwerpunkt: Hochschuldidaktik im Programm der Fachdidaktik. In: Lenz, Werner/Brünner, Christian (Hg.): Universitäre Lernkultur. Lehrerbildung - Hochschullehrerfortbildung - Weiterbildung. Bericht einer Arbeitsgruppe der Österreichischen Rektorenkonferenz. Wien 1990, 202-207. Schilling, Michael: Die Bedeutung des Interaktionsgeschehens und psycho-sozialer Aspekte beim Lehren und Lernen an den Universitäten. In: Lenz, Werner/Brünner, Christian (Hg.): Universitäre Lernkultur. Lehrerbildung - Hochschullehrerfortbildung - Weiterbildung. Bericht einer Arbeitsgruppe der Österreichischen Rektorenkonferenz. Wien 1990, 192-198. Titscher, Stefan: Profilentwicklung an Österreichs Universitäten. In: Höllinger, Sigurd/ Titscher, Stefan (Hg.): Die österreichische Universitätsreform. Wien 2004, 264283.
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2. Lernen und Lehren
Universität Wien (Hg.): Universität Wien 2010. Entwicklungsplan der Universität Wien, Wien 2005. Links: 7 Elfriede-Jelinek-Forschungszentrum: http://www.praesens.at/elfriede-jelinek-forschungszentrum/(Zugriff: 19.2.2006) •J Institut für Germanistik, Universität Wien, Institutsprofil: http://www.univie.ac.at/Germanistik/institut/institutsprofil.htm (Zugriff: 19.2.2006) 7 „Die Nestbeschmutzerin - Jelinek & Österreich", Informationen zum Buch: http://www.wieland.cc/nesthesrhmutzerin/(Zugriff: 19.2.2006)
Wernfried Hofmeister (Graz)
V o m „Salon-Seminar" zum öffentlichen Seminar-Projekt „Alte" und „neue" Methoden der Vermittlung literaturwissenschaftlicher Inhalte, verdeutlicht am Beispiel der germanistischen Mediävistik an der Karl-Franzens-Universität in Graz
1. Zur Einstimmung: die universitäre Lehre im Wandel „Der Hochschullehrer, namentlich der Universitätsprofessor nimmt in der Gesellschaft noch heute trotz vieler einschneidender politischer und sozialer Umwälzungen eine hervorragende Stellung ein. Und das ist gar nicht verwunderlich; unterrichtet der Hochschullehrer doch die junge geistige Elite der Nation in den Wissenschaften, zieht derselbe doch nicht bloß Fachleute und Beamte, sondern auch Gelehrte aller Fächer heran."1 Von wann stammt dieses Zitat, womöglich aus unserer Zeit? - Nein, denn wohl nur auf den ersten flüchtigen Blick mag man als Antwort tatsächlich an das 21. Jahrhundert denken. Bei genauerem Hinsehen wird aber z.B. die nicht mehr ganz zeitgemäße Vokabel „Beamter" Zweifel nähren und hernach sicher auch der textuelle Grundtenor, den eine mittlerweile sehr abgehoben anmutende Wertschätzung des Hochschullehrerstandes prägt. Und in der Tat wurde diese Würdigung schon 1925 verfasst, und zwar von Richard Kukula, einem geisteswissenschaftlich geschulten, pensionierten Universitätsbibliotheksdirektor mit Wurzeln in der Monarchiezeit. In seinem Zitat bricht heute eine Spannung zwischen scheinbar überzeitlicher Referierung berufsspezifischer Konstituenten eines Universitätslehrenden und emphatischer Tonlage auf, aber gerade diese macht Herrn Hofrat Doktor Kukulas Zeilen als Einstimmungstext für einen methodenkritischen Beitrag gut geeignet, denn was dieser hochgebildete Beamte zu Papier brachte, wirkt auf uns zugleich aktuell und überholt:
1
Kukula, Richard: Erinnerungen eines Bibliothekars. Weimar 1925, 175. Mit dieser launig und selbstironisch geschriebenen Autobiografie halten wir ein bemerkenswertes Dokument in Händen. Sein Fokus richtet sich auf das Geistesleben und die Lehr- und Lernbedingungen vor allem an der Grazer Universität respektive auf ihre germanistischen Lehrkräfte; „textsortengerecht" kritisch rezipiert, erhellt uns das Buch jene historischen Bedingungen, unter denen die universitäre Ausbildung gegen Ende des 19. Jahrhunderts funktionierte.
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2. Lernen und Lehren
aktuell, well diverse Umfragen noch Immer ein hohes Vertrauen der gegenwärtigen Gesellschaft in die Kompetenzen von Universitätslehrerinnen bestätigen, überholt aber in der latenten Verabsolutierung eines universitären Bildungsmonopols. Letzterem tritt nämlich in den Augen bildungswilliger Menschen unserer Tage nicht zuletzt das Konkurrenzmodell der Fachhochschulen entgegen: Ihre straffe, zielorientierte und marktkonforme Arbeitsweise baut ganz unverkennbar auf den Typus des „Wissens-Managers", welcher das Ideal des hehren universitären Forscher-Individuums bedrängt, es manchmal geradezu alt aussehen lässt. Vor dem Hintergrund dieses und anderer markanter Paradigmenwechsel hat ein neues Werben um die Ausbildung der „geistigen Elite" eingesetzt, auch in den Geisteswissenschaften. Deren Fächern würde es nicht mehr gut anstehen, bloß in „kukulanischen" Erinnerungen zu schwelgen: Es gilt vielmehr, das noch verbliebene (Image-)Kapital mittels neuer Forschungs- und Lehrstrategien zu nützen, anstatt bloß zuzuschauen, wie etwa medien- und informationstechnologisch fundierte Unterweisung außerhalb von Universitäten ihre wichtigsten Zentren findet oder wie die Lehramtsstudien von neuen pädagogischen Hochschulen übernommen werden, und zwar einschließlich der Fachausbildung. Um das Ausgangsszenario noch dramatischer zu umreißen, ließen sich bekannte Schlagwörter wie „Massenuniversität", „globaler Wettbewerb", „Bildungsnotstand", „Reformbewegungen" oder gar die grausame „Budgetknappheit" trefflich herbeizitieren und ausschmücken, allein, es geht hier weniger um die Projektion von Menetekeln als um die Darstellung methodologischer Ansätze in der universitären Lehre, insbesondere jener, welche geeignet erscheinen, erfolgreich auf neue Wahrnehmungs- und Erwartungshaltungen der zahlenden Staatsbürgerinnen zu reagieren, und das unter Nutzung ureigenster Stärken der Institution Universität. Damit sich die dabei dienlichen Argumente jedoch nicht in der Unverbindlichkeit allgemeiner Überlegungen verlieren, sei ihnen eine Rückbindung an jene konkreten Unterrichtsszenarien gestattet, wie sie sich für den Verfasser an seiner aktuellen Wirkungsstätte, das ist die Grazer Germanistik, dokumentarisch nachzeichnen lassen. Apropos „Verfasser": 2 Eher als Erweiterung denn als Verengung des durch ihn de-
2
Wernfried Hofmeister hat den Studienplan des 2002 in Kraft getretenen Bakk.-Mag.-Studiums (vgl. die Rubrik „Studienpläne" auf der Website des Instituts für Germanistik in Graz: http://www-gewi.kfunigra7.ar.at/ deuph) mit gestaltet, er betreut auch fachdidaktische und fachhistorische Diplomarbeiten und Projekte aus den Bereichen ältere deutsche Literatur und deutsche Sprache; vgl. auch: Hofmeister, Wernfried: Mittelalterliche Literatur zwischen Forschung und Schule: Fachdidaktische Perspektiven am Beispiel der Dichtungen Ulrichs von Liechtenstein. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft (2005), Nr. 15, 2 1 1 - 2 2 2 .
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terminierten Horizonts möge es gesehen werden, dass sich die angestrebten Methodenskizzen seinen Lehrerfahrungen als Mediävist verdanken; immerhin hat dies nämlich den Vorzug, die Beispiele aus einer besonders herausgeforderten Disziplin (Stichwort „68er-Bewegung" und „Ahistorismus") gewonnen zu haben, weshalb in ihr moderne Unterrichtsmedien (vor allem Powerpoint-Folien und lehrveranstaltungsspezifische Internet-Ressourcen) schon seit mehreren Jahren willkommene Mittel zur Steigerung von Aufmerksamkeit, Motivation und Effizienz sind. Zudem sieht sich die Mediävistik auch in die Vermittlung sprachhistorischer Inhalte mit eingebunden, was hochschuldidaktische Ambitionen weiter ausdifferenzieren hilft. Fast unweigerlich werden daher im Folgenden auch sprachdidaktische Erfahrungen eine gewisse Rolle spielen, freilich ohne sie überbetonen zu wollen: Literaturwissenschaftliche Methodenreflexionen werden den Schwerpunkt bilden. Schließlich seien als mediävistische „Vorzüge" noch die inhärenten Aspekte der Interkulturalität, Interdisziplinarität sowie der Genderfragen angerissen: Fast wie von selbst öffnen sich bei der Vermittlung des Wissens über die Funktion mittelalterlicher Texte Fragestellungen, welche erstens eine kontrastive Einbeziehung anderer (zeitlich oder räumlich differenter) Kulturen notwendig machen, dabei zweitens die Reflexion männlicher und weiblicher Rollenbilder geradezu erzwingen und sich für solche Aufgaben drittens notgedrungen auch des aktuellen Wissens vieler anderer Forschungsdisziplinen bedienen. Nicht überraschen wird daher, dass sich gerade die Mediävistik intensiv um internationale Verbindungen und grenzüberschreitenden Wissensaustausch bemüht: So seien von den namhaftesten Mittelalter-Kongressen nur jene in Leeds (England) und Kalamazoo (USA) genannt, von den internationalen Vereinigungen die besonders aktive Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft1 und von den weltumspannenden Internet-Ressourcen die kostenlose Online-Version des imposanten Mittelhochdeutschen Wörterbuchs von Matthias Lexer4 sowie der Marburger Handschriften-Census.5 Besonders die zuletzt aufgezählten fachspezifischen Internet-Angebote (sie ließen sich um zahlreiche weitere ergänzen) haben in jüngster Zeit einerseits die universitäre Lehre bereichert und andererseits auch der Forschung neue Möglichkeiten eröffnet - womit der wichtigste Kernbereich universitären Agierens, nämlich die synergetische Verschmelzung von Forschung und Lehre, eine zusätzliche Stütze gewonnen hat.
3
Vgl. Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft: ]
4 5
Vgl. Mittelhochdeutsche Wörterbücher im Verbund: Vgl. Handschriftencensus: t
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1. Literatur - Literaturwissenschaft - Hochschuldidaktik
2. Archäologie der Lehrkultur: Gedankensplitter zum historischen Verhältnis von Studienplänen, Unterrichtsmethoden und Lehrveranstaltungsräumen Noch einmal seien uns ein paar Zeilen aus Kukulas Lebenserinnerungen behilflich. Aus seiner Grazer Studienzeit Ende der 1870er Jahre berichtet er über seine Erfahrungen mit dem Altgermanisten Anton Emanuel Schönbach u.a.: „[Er] hatte mir sogar mehrere Jahre hindurch die Verwaltung der germanistischen Handbibliothek anvertraut. Ich war deshalb täglich in seiner Privatwohnung, wo diese Bibliothek aufgestellt war, anwesend."6 Zur selben Zeit fesselte Kukula aber auch der klassische Altphilologe Otto Keller, und er diente auch ihm: „Im Hause des Professors Keller verkehrte ich, da ich ja täglich in seiner Wohnung an [einem] Kodex arbeitete, viel und mit großer Freude, da mich sein harmonisches Familienleben [...] sehr angenehm berührte. [...] Ich war bald wie ein Kind im Hause, umsomehr als die Seminarübungen Kellers in seiner Wohnung abgehalten wurden."7 Hier ist er also historisch belegt, der im Beitragstitel erwähnte „Seminar-Salon": Vor dem Hintergrund einer entsprechend geringen Zahl an Hörern, unter denen sich „natürlich" noch kaum inskribierte Hörerinnen befanden, dozierten die Hochschullehrer direkt vor der Kulisse ihrer privaten Forschungsstätte. Jedes relevante Fachbuch stand da mit einem kurzen Griff zu Gebote, speziell wenn - wie im Falle Schönbachs - auch die Handbibliothek des Instituts gleich neben der häuslichen Privatbibliothek ihren Platz gefunden hatte. Einen engeren Kreis zwischen Forschung und Lehre kann man sich wohl kaum vorstellen, aber auch keinen mitunter prekäreren, wie Kukulas weitere Ausführungen über das fatale Zerwürfnis zwischen ihm und Schönbach belegen: Es endete in Kukulas Flucht in die Prager Altphilologie. An der Alma Mater (und nicht im „Salon") fanden in der Regel die Vorlesungen statt. Über ihren methodischen bzw. organisatorischen Zuschnitt in Graz gegen Ende des 19. Jahrhunderts können wir uns dank folgender Zeilen Kukulas ein etwas genaueres Bild machen: Professor Theodor von Karajan „pflegte zu seinen Vorträgen immer zu spät zu kommen, so daß er dann seine Vorlesungen immer bis in die erste Hälfte der nächsten Vorlesungsstunde auszudehnen suchte [und diese dann bei Eintritt des nachfolgenden Kollegen] vorzeitig abbrechen mußte".8 Der klassische Philologe Wilhelm Kergel zeigte dagegen angeblich die übertriebene Neigung, „am Beginn
6
Kukuta, Erinnerungen, 76.
7
Ebd., 78.
8
Ebd., 78.
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jeder Vorlesung den Inhalt der früheren Vorlesungen pedantisch und so ausführlich zu wiederholen, daß er In keinem Semester mit dem Gegenstande seiner Vorträge zu Ende kam" 9 - was zu schrumpfenden Studierendenzahlen geführt habe. Dank eines besonders unattraktiven Lehrveranstaltungsthemas sei wiederum der Historiker Adam Wolf mit noch weniger Studierenden als Kergel konfrontiert gewesen: „Gewöhnlich waren nur ich und noch ein Student anwesend, wenn der Professor in den noch dazu übergroßen Hörsaal trat. Da mußten viele Vorlesungsstunden ausfallen oder es wurde wieder einmal Kolleg abgehalten, wobei Wolf lustig lächelnd meinte: ,tres faclunt collegium'; dabei rechnete er allerdings sich selbst mit."' 0 Trotz anscheinend regeren Zuspruchs führen uns die Vorlesungen Hugo Schuchardts zurück in den professoralen Seminarsalon, vielleicht bedingt durch eine übergroße Nervosität, welche für diesen Gelehrten In einer ihm vertrauten Umgebung noch am besten beherrschbar war, denn der berühmte Sprachwissenschaftler „pflegte seine Vorlesungen, die immer philologische Spezialfragen behandelten. In seiner Privatwohnung abzuhalten und vor Beginn einer jeden einzelnen seinen, trotz seiner Jugend fast kahlen Kopf mit einer Flasche kalten Wassers zu begießen, um seine Nerven zu beruhigen"." Auch wenn all diese Informationen keinen allzu detaillierten Eindruck von den methodischen Ansätzen des Lehrbetriebs der Frühzelt zu bieten vermögen, tragen sie doch zu einer gewissen Verlebendigung unseres Wissens über die einstige Lehrkultur bei, von der wir sonst nur Ihre abstrakte „Verfassung" kennen in Gestalt der ersten Studienordnungen bzw. - fachhistorisch korrekter gesagt - der einstigen Rigorosenund Lehramtsprüfungsordnungen: Für die Germanistik sind diese nach ihrer Einführung In Graz ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erst 1973 durch eine einheitliche Studienordnung „Deutsche Philologie" abgelöst worden, der In jüngster Vergangenheit ab dem WS 2002 ein abermals völlig neu eingerichtetes Bakkalaureats-MaglsterCurrlculum folgte. 12 Was die methodischen Lehr-Konzepte dieser Regelwerke des 19. Jahrhunderts betrifft, stechen zum einen die seminarähnlichen Lehrveranstaltungen hervor, welche einen sehr intimen Kreis umschlossen und den Erwerb des fachlichen Rüstzeugs ermöglichen sollten; sie boten Platz für ein Mindestmaß an Interaktivität. Demgegenüber zeichnete den zweiten Haupttyp universitärer Lehre, nämlich die
9
Ebd., 79.
10
Ebd., 79.
11
Ebd., 79.
12
Vgl. dazu das Kapitel „Querschnitt durch Gesetzestexte" in der Pionierstudie zur Grazer Germanistik: Kern, Petra: Lehrveranstaltungen zur deutschen Sprache am Institut für Germanistik Graz. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Überblick (mit einer Sammlung relevanter Studiengesetze). Graz: Diplomarbeit 2001, 4 6 - 6 5 .
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2. Lernen und Lehren
Vorlesungen, eine starke Hermetik aus: Ihr Ex-cathedra-Charakter in (bevorzugt) öffentlichen Räumlichkeiten der Universität stand im Dienst monologischer Wissensverbreitung, möglichst gepaart mit dem Reiz geschulter, das Publikum in den Bann schlagender Rhetorik. Da diese beiden Grundformen bis heute die Universitätslehre am stärksten prägen, werden wir uns in weiterer Folge auf sie konzentrieren, indem wir einige ihrer Abwandlungen betrachten.13
3. Vorlesungen: Textgeschichte hör- und sichtbar machen An Universitäten gibt es kaum eine markantere Möglichkeit, thematische Zeichen zu setzen, als durch die Ankündigung einer Vorlesung.14 Hier verschmelzen erwartungsgemäß Forschung und Lehre auf besonders intensive und individuelle Weise, verheißen die gewählten Vorlesungstitel Kompetenzschwerpunkte von überregionaler Bedeutung. Zwar rechtfertigt dieser traditionelle Anspruch allein noch nicht die Fortschreibung der bis dato fast unveränderten Darbietungsform der Vorlesung, er mahnt aber beim Versuch methodischer Abänderungen zur Umsicht, denn viel steht auf dem Spiel: „Die Abschaffung der Vorlesung und ihre Ersetzung durch Kleingruppen zu fordern, ist [...] Unsinn", formuliert es pointiert Konrad P. Liessmann und ergänzt: „Die Vorlesung ist eine Gestalt, in der sich die Universität ihre Form von Öffentlichkeit schafft [...]. Deshalb braucht die Vorlesung geradezu das große Publikum, das Auditorium maximum. Darin liegt ihre unverwechselbare Atmosphäre."15 Dennoch wird die eine oder andere Vorlesung auf unsere neue, zunehmend bildorientierte (vielleicht auch bildverwöhnte) Zeit methodisch zu reagieren haben. Dies gelingt durch die konsequente Etablierung einer „virtuellen Haptik". Gemeint ist damit das Veranschaulichen des Vorgetragenen durch die audiovisuelle Darstellung jener Objekte, welche im Mittelpunkt der argumentativen Bemühungen stehen, seien es erhellende Realien oder bloß die besprochenen Textstellen. Entscheidend ist somit
13 Weitestgehend ausgeklammert müssen hier propädeutische Lehrveranstaltungen wie Proseminare bleiben, aber auch die Lehrveranstaltungstypen Konversatorium oder Privatissimum. 14 Über das breite Spektrum aller literaturkundlichen Vorlesungen (aber auch anderer themengebundener Lehrveranstaltungstypen) in Graz informiert in Bälde die vor dem Abschluss stehende Dissertation von Kern, Petra: Lehrveranstaltungen zur älteren deutschen Literatur am Institut für Germanistik der Universität Graz. Wissenschaftsgeschichtliche Erhebung, Analyse und Bewertung im Kontext der allgemeinen Fachentwicklung (1851-2002). 15 Liessmann, Konrad P.: Das Symptom als Therapie - oder: Welches Problem löst die Hochschuldidaktik? In: Brinek, Gertrude/Schirlbauer, Alfred (Hg.): Vom Sinn und Unsinn der Hochschuldidaktik. Wien 1996, 19f.
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schlicht - eine Binsenweisheit, aber in der Praxis keineswegs selbstverständlich - die gute Wahrnehmbarkeit des Präsentierten, und gerade dafür bieten die modernen Medien endlich jene Unterstützung, von denen frühere hochschuldidaktische Studien immer wieder hoffnungsvoll geträumt hatten: Wenn Notebook und Videobeamer etwa die Overheadprojektoren ersetzen, ist es ein Leichtes, z.B. (auch bei Tageslicht) farbechte Bilder zu zeigen, Tondokumente einzuspielen oder - etwa mittels PowerPoint - Textpassagen so zu projizieren und zu markieren, dass die Zuhörenden den relevanten Passagen wirklich simultan zu folgen vermögen. Solch ein electronic turn dürfte daher jeder germanistischen Vorlesung nützen, und zwar auch den Lehrenden bei der Bereitstellung der wichtigsten Informationsquellen (wie Textausschnitten, Literaturlisten, Abbildungen etc.); Voraussetzung dafür ist bloß die Verwendung eines (mittlerweile an allen österreichischen Universitäten zur Verfügung stehenden) Lehrveranstaltungsservers, der diese elektronische Bereitstellung aller gewünschten Dokumente leistet.'6 Ein weiterer Mehrwert ist zu erreichen, wenn die Vorlesung von einer eigenen Homepage begleitet wird. Dann kann das abgehandelte Thema mit allen ausgewählten Materialien und Zusatzinformationen den Status einer Online-Publikation gewinnen. Über Suchmaschinen oder direkte Weitergabe der Internetadresse erreicht die/der Vortragende auf diese Weise eine breitere Öffentlichkeit - auch dann noch, nachdem das im Hörsaal Präsentierte schon längst verklungen ist. Wie dies umgesetzt werden kann, zeigt z.B. die Seite http://www-gewi.kfunigraz.ac.at/stlitma: Diese Darstellung der mittelalterlichen steirischen Literatur durch den Verfasser entstand synchron zur voranschreitenden Vorlesung, ohne deren Besuch ersetzen zu können oder zu wollen. Als eine Form von Blended Learning, also des elektronisch gestützten Unterrichtens, diente sie während des Semesters vor allem zur noch klareren Strukturierung des Stoffes, dokumentierte und verteilte wichtige Anschauungsmaterialien und ermöglichte es nach Abschluss der Lehrveranstaltung allen interessierten Personen, sich Überblickshaft zu informieren. Mit einem Seitenblick auf sprachdidaktische Erfahrungen sei noch der Hinweis auf eine andere, experimentelle VorlesungsHomepage des Verfassers gestattet, deren Bemühen über das oben Gesagte hinaus darin bestand, jede Vorlesungsstunde protokollarisch so exakt zu erfassen, dass (auch zeitweise verhinderte) Studierende termingenau sehen konnten, was jeweils auf
16 Als (international bekanntes) Standard-Programm für E-Learning fungiert WebCT: Vgl. z.B. für Graz (bis SoSe 2006) http://www.uni-gra7.at/zidwww/zidwww services/zidwww services lehreundlernen/zidwww elearning/ziriwww webct.htm und für Wien: http://www.univie.ac.at/ZID/elearning-webct.
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dem Programm stand oder welchen aktuellen Ankündigungen Aufmerksamkeit zu schenken sei. Zusätzlich strebte diese unter http://www-gewi.kfunigraz.ac.at/phraseo aufrufbare Phraseologie-Vorlesung danach, die besonders erwünschte Interaktivität zwischen den (meist noch im ersten Studienabschnitt befindlichen) Studierenden und dem Lehrveranstaltungsleiter zu fördern: Dementsprechend finden sich mehrere zentrale Powerpoint-Folien abgelegt, aber auch ein Verzeichnis „schwieriger" Termini, ferner Benachrichtigungen über die Ergebnisse der schriftlichen Abschlussprüfungen und vor allem die bislang umfangreichste Sammlung an deutschen Zwillingsformeln, gespeist nicht zuletzt aus den zahlreichen Zusendungen der Vorlesungsteilnehmerinnen.
4. Seminare: mehr oder weniger kommunikatives Hörsaaldenken Dass hohe Intimität typisch war für Seminare des vorvorigen Jahrhunderts, wurde oben schon zitatreich dargelegt, aber bereits deren Unterrichtssituation dürfte wie jene des vorigen Jahrhunderts, als dieser Lehrveranstaltungstyp von den Privatgemächern der Gelehrten an die Universität zurückkehrte, hauptsächlich die Methode des dozierenden Frontalunterrichts gekannt haben: Bis in die späten 1970er Jahre waren Studierende angehalten, bei immer wiederkehrenden Frage-Antwort-Situationen so zu bestehen, dass am Semesterende (oft nach einer schriftlichen Klausur) ihr positiver Abschluss gesichert war. In seiner vielleicht unvorteilhaftesten Ausprägung basierte diese Art des akademischen „Examinierungs-Unterrichts" auf einer ständigen Angstsituation, deren bedauerlichen Mittelpunkt die gerade ausgewählten Prüflinge bildeten, während die - bis auf blitzschlagartige Zwischenfragen unbeschäftigten Kommilitoninnen aufmerksam zu schweigen hatten. Studentische Kreativität strebte dieses überaus hermetische Seminar-„Rollenspiel" nicht an. Aber mit kollegial abnehmender Autoritäts-Distanz zwischen Lehr- und Lernkräften etablierten sich neue methodische Seminarkonzepte: Darin sticht die Vergabe von schriftlich auszuarbeitenden Themen hervor. Durch sie konnten engagierte Studierende leichter Spezialwissen ansammeln und offenere Diskussionen führen, deren Ausgang nicht mehr so selbstverständlich von professoralen Expertisen determiniert war. Widerspruch und dessen sachliche Erörterung (evtl. sogar im Rahmen einer ausführlichen Vorstellung der Seminararbeit in der Gruppe und einer individuellen Nachbesprechung) bereicherten die Hörsaalatmosphäre und steigerten den Lehrveranstaltungsertrag.
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Als methodische Detail-Innovation trat fast zeitgleich die Idee der Gruppenarbeit hinzu. Sie war (wohl auch als Reaktion auf die Studentenunruhen) in hochschuldidaktischen Beiträgen mehrfach gefordert worden: 17 Eigenverantwortliches Handeln im Verbund mehrerer Studierender sollte „aktionale Sicherheit" geben, den Platz für autonomes Denken noch stärker absichern helfen. Im Kontext der bald darauf mehrfach reformierten Universitätslandschaft (ÜOG 93, UG 2002) 18 etablierte sich dieses Element als allgemeines gruppendynamisches Ziel: Der methodische Kniff bestand nun nicht mehr (allein oder so sehr) darin, einzelne Seminarthemen von zwei oder mehr Studierenden im Rahmen einer gemeinsam verantworteten schriftlichen Arbeit abhandeln zu lassen, sondern in der Findung von Zielsetzungen, auf die sich die gesamte Seminargruppe einlassen konnte und die sie in die Lage versetzte, ein noch nicht fix vorgegebenes, gemeinsames Lehrveranstaltungsziel durch kollegiales Denken und Gestalten zu erreichen. Dazu mochte das Herausfiltern des erzählerhaften „Biogramms" eines Autors ebenso gehören wie das Verfolgen bestimmter motivlicher Linien quer durch einen Großtext. Das Ergebnis zeigte sich abhängig vom Vor- und Schwerpunktwissen der einzelnen Seminaristinnen. Diese Seminarform gewann durch das mündliche Referat weiter an pädagogischem Gewicht, weil es jetzt anstatt um die Präsentation einer mehr oder weniger fertigen Seminararbeit (womöglich durch deren Vorlesen) um das gut nachvollziehbare Darlegen von Problemstellungen und Lösungsansätzen ging. Zugleich forderten „Referats-Seminare" von allen Teilnehmerinnen die Fähigkeit ein, germanistisches Denken auch in freier Rede überzeugend zur Geltung zu bringen. Bis heute gedeiht diese Lehrorganisationsform mit ihrer Bivalenz aus lehrveranstaltungstragenden schriftlichen und mündlichen Elementen. Dennoch sei nicht übersehen, dass ihr zwei einander bedingende Nachteile anhaften, nämlich erstens der Umstand, dass die Ergebnisse eines Referats-Seminars einschließlich der (beurteilten) schriftlichen Arbeiten praktisch nie vor dem Semesterschluss vorliegen; damit können wertvolle Erträge des Seminars nicht mehr gruppendynamisch nutzbar gemacht werden. Zweitens erwächst genau daraus ein weiteres Problem, falls man die Studierenden dafür gewinnen möchte, ihre Gesamtleistung in der Lehrveranstaltung auch einer interessierten Öf-
17
Vgl. Eckstein, Brigitte: Der Begriff der Hochschuldidaktik. In: Ulich, Klaus (Hg.): Aktuelle Konzeptionen der Hochschuldidaktik. München 1973, 20 sowie (noch prononcierter Richtung „Gruppenarbeit") Regenbrecht, Aloysius: Notwendigkeit und Aufgaben hochschuldidaktischer Reformen. In: Ulich, Klaus (Hg.): Aktuelle Konzeptionen der Hochschuldidaktik. München 1973, 40.
18
Universitätsorganisationsgesetz
1993:
http://www.bmbwk.gv.at/universitaeten/recht/gesetze/uog03/Bun-
desgesetz ueber die 047S4.xmk Universitätsgesetz 2002:
http://www.hmhwk.gv.at/universitaeten/recht/
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fentlichkeit bekannt zu machen, denn die Seminargruppe hat sich Monate nach dem Semester-Ende längst aufgelöst. Wie die lehrmethodische Lösung des erstgenannten Problems aussehen kann, illustriert das nächste Kapitel; das übernächste zeigt sodann eine Möglichkeit zur Erfüllung des zweitgenannten Wunsches.
5. „Kompakt-Seminare": all inclusive dank Vernetzung Die Nutzung eines Internet-Servers als lehrveranstaltungsbegleitende Plattform stellt für Kompakt-Seminare19 eine methodische Schlüsselkompetenz dar: Nur sie ermöglicht einen umfassenden digitalen Austausch zwischen Studierenden und Lehrkraft (auch außerhalb der Seminarzeiten) und leistet dadurch eine ausreichende Intensivierung des Seminargeschehens, um alle Ergebnisse noch während des Semesters für die gesamte Gruppe sichtbar und bewertbar zu machen. Damit dieses Hauptziel erreicht werden kann, empfiehlt es sich, diese Lehrveranstaltung in eine Einübungs-, Arbeits- und Präsentationsphase zu unterteilen: Im ersten Drittel gilt es, die globale Themenstellung darzulegen und Anleitungen für die Bewältigung der individuellen Teilthemen zu bieten. Das zweite Drittel, in dem das wöchentliche Seminargeschehen im Hörsaal weitgehend ruht, dient den Studierenden der Ausarbeitung ihrer schriftlichen Seminararbeit, wobei die Gruppe aber über den Internet-Server miteinander verbunden bleibt; das Ende dieser Phase markiert die zügige Korrektur und persönliche Nachbesprechung aller abgegebenen Arbeiten durch die Lehrkraft sowie das Hochladen der verbesserten Seminararbeiten auf den Internet-Server. Die dritte, stark geblockte Phase schließt inhaltlich eng an, indem sie der gemeinsamen Sichtung des von allen Geleisteten dient und der Auswahl aller relevanten Ergebnisse für die Schlusspräsentation. Diese Präsentation kann z.B. in Form jener Seminar-Kongresse stattfinden, mit denen der Verfasser bereits seit mehreren Jahren gute Erfahrungen gemacht hat. Dabei berichten (an zwei aufeinander folgenden Halbtagen) alle Seminaristinnen einander, aber auch anderen eingeladenen Personen, was sie erarbeiten konnten. Die Summe all dieser öffentlichen Referate ergibt bei geschickter Programmierung ein thematisches Gesamtbild des Seminars, getragen durch die einzelnen (Powerpoint-gestützten) Referate; im Idealfall vermag diese „semiöffentliche" Veranstaltung auch fachlich weniger Versierte zu interessieren und zu überzeugen. Für eine anregende, leistungssteigernde Kongressatmosphäre sorgen nach den Berichts19 Vom Verfasser hier erstmals eingeführter Terminus.
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blocken die Plenardiskussionen und natürlich nicht zuletzt die Kaffeepausen, in denen erfahrungsgemäß ein sehr lebhafter und wertvoller Meinungsaustausch zwischen Lehrveranstaltungsleiter, Studierenden und Publikum stattfindet. Den methodischen Abschluss des Kompakt-Seminars bilden am Semesterende die gemeinsame Schlussbesprechung samt Evaluierung: Jetzt stehen alle Noten fest und können die Zeugnisse ausgegeben werden. Der Internet-Server der Lehrveranstaltung sollte die Erträge eines solchen Kompakt-Seminars noch über mehrere Semester hinweg sichern helfen und anderen Interessierten als Wissensfundus dienen.20 Von erweitertem Wert ist dieses Angebot dann, wenn das gebotene Material auch direkt Forschungen der Lehrveranstaltungsleiterin /des Lehrveranstaltungsleiters stützt und in dieser Funktion der Scientific
Community
bekannt gemacht wird - so zuletzt geschehen durch die Site zum Seminar über Hugo von Montfort http://de.groups.yahoo.com/group/montfort-seminar (die als kritische „Begleiterin" einer im Entstehen begriffenen Studienausgabe dienlich war) 2 ' sowie durch die Site zum Seminar „Mittelalterliche Textinhalte im Spiegel der Literaturgeschichtsschreibung" http://de.groups.yahoo.com/group/textinhalte (wo dem einführenden wissenschaftlichen Beitrag des Seminarleiters22 aufschlussreiche Detailstudien der Studentinnen zur Problematik des Abfassens treffender Inhaltsangaben an die Seite gestellt wurden). Doch einerlei, ob die Ergebnisse von Kompakt-Seminaren unmittelbar auf aktuelle Forschungsdiskussionen Einfluss nehmen oder nicht, für die Studierenden, die Gäste und den Seminarleiter bedeuteten sie stets eine in vieler Hinsicht als motivierend empfundene Begegnung mit unserem Fach.
20
Dafür empfiehlt sich die Verwendung international erreichbarer Server, die - meist im Gegensatz zu lokalen Lehrplattformen - auch von auswärtigem Publikum benützt werden können und nicht schon mit Semesterende wieder stillgelegt werden müssen. Für den Verfasser hat sich hier das (kostenlose) Angebot von http://de.groups.yahoo.com bewährt: Nach relativ simpler Erstanmeldung bei Yahoo (für die man mit einer erträglichen Einblendung von Werbebotschaften „bezahlt") ist dieses Service unkompliziert zu nutzen. Den Mitgliedern können vom Moderator stufige Rechte eingeräumt werden, darunter auch das (für Seminare sicher zweckmäßige) Hochladen von Dateien oder das eigenverantwortliche Ergänzen der gemeinsamen Linksammlung; lediglich das Löschen der Seite sollte aus diesen Rechten wohl besser ausgeklammert bleiben...
21
Siehe die Informationen zum fertigen Werk „Hugo von Montfort - Das poetische Werk" unter http://wwwgewi.uni-gra7.at/montfort-edition.
22
Hofmeister, Wernfried: „Inhaltsangaben" als literarhistorische Herausforderung, dargestellt am Beispiel von Heinrich Wittenwilers „Der Ring". In: Jahrbuch für Internationale Germanistik XXXV(2003), H. 2, 1 6 9 201.
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6. Projekt-Seminare veröffentlichen Seminar-Projekte Nicht jedes Semester, doch hin und wieder mag es für Lehrende - ihren Forschungsund Selbstverwaltungspflichten zum Trotz - möglich sein, genügend Energie aufzubringen, um auf dem methodischen Gerüst eines Kompakt-Seminars den noch etwas ambitionierteren Lehrveranstaltungstyp des Projekt-Seminars23 aufzubauen, denn ein solches bietet die Chance, die Studierenden zu einer Art pressure group zusammenzuschweißen, damit deren gemeinsame Stimme auch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Als konkretes Beispiel dafür darf der Verfasser auf seine beiden „Sterbekultur"-Seminare verweisen, deren Ablauf von der Site http:// de.aroups.yahoo.com/group/sterbekultur mitgetragen wurde. Den organisatorischen Kern bildete die Verzahnung des literaturwissenschaftlichen Projekt-Seminars „Literarische Sterbekultur des Mittelalters" mit der sprachwissenschaftlichen Parallel-Veranstaltung „Das Wortfeld .sterben' diachron". Gemeinsames Ziel beider Lehrveranstaltungen war die Erarbeitung einer Ausstellung, in der sich zugleich die literatur- und sprachkundlichen Ergebnisse widerspiegeln sollten. Ein Rohkonzept über Ort und Art dieser Ausstellung konnte vom Lehrveranstaltungsleiter schon vor Beginn der Seminare erstellt werden, den durchwegs engagierten Studierenden blieb es aber vorbehalten, die Feinstrukturen zu entwickeln: Es galt vor allem, öffentlichkeitswirksame, zugleich literarisch und sprachlich relevante Detail-Themen zu finden. Diese wurden mittels Brainstorming (möglichst eng angepasst an die Vorbildung der Studierenden) eruiert und hernach über schriftlich konkretisierte „Projektstudien" (statt herkömmlicher „Seminararbeiten") in Richtung geeigneter Ausstellungsinhalte weiterentwickelt, wobei intensive Diskussionen an Plenarterminen für beide Seminare hilfreich waren. Ferner bildete das Organisieren von Sponsorgeldern eine wesentliche Aufgabe für alle Beteiligten, um z.B. den Druck der Ausstellungstafeln, Einladungsplakate und Folder, aber auch die Erstellung einer professionellen Homepage zu finanzieren. Wie
23 Wie schon weiter oben angedeutet, handelt es sich bei dem Ausdruck „Kompakt-Seminar" um keinen studienrechtlich verankerten Fachausdruck, sondern lediglich um die Benennung einer methodischen Feinausformung des herkömmlichen „Seminar"-Typs. Demgegenüber stellt der Ausdruck „Projekt-Seminar" einen bereits eingeführten und konzeptuell übergeordneten Begriff dar, der folgenden Vorgaben zu entsprechen hat: „Projektseminar (PE): Projektseminare sind forschungs- und/oder praxisorientierte Lehrveranstaltungen, die sich speziellen theoretischen und/oder praktischen Problemen widmen; ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem interaktiven Prozess der Theorie- und Methodenreflexion und dem problembezogenen wissenschaftlichen Arbeiten im Team, an dessen Ende ein präsentierbares Produkt stehen soll. Lehrveranstaltung mit immanentem Prüfungscharakter (§ 4 Z 26a UniStG); Anwesenheitspflicht"; vgl. Mitteilungsblatt der KFU Graz: http://www.uni-flraz.at/zv1www/mi040707b.pdf.
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erhofft, gelang es, alle nötigen Ressourcen zu mobilisieren und das Projekt noch am Ende des Semesters mit der gemeinsamen Eröffnung der ersten Ausstellung in der Grazer Stadtpfarrkirche öffentlich umzusetzen. Die recht erfreuliche, auch von der Presse wahrgenommene Leistungsbilanz kann unter der Adresse http://sterbekultur. uni-araz.at begutachtet werden. In solch einem „kompakten Projekt-Seminar" vermag man somit umfassender als sonst umzusetzen, was schon Marion Franke mit ihrem entfernt ähnlichen „BausteinModell" für erziehungswissenschaftliche Seminare erreicht hatte: „Das Seminar soll einer Verschulung der Lehre entgegenwirken. Wissen als Ressource mit einem kurzen Haltbarkeitsdatum steht somit nicht mehr im Mittelpunkt des Studiums oder Seminars, sondern das [djenken [Ljernen und wie Studierende sich Wissen aneignen." 24 Darüber hinaus erwerben Studierende durch ein Projekt-Seminar des oben gezeigten Zuschnitts zusätzlich Routine darin, ihr geisteswissenschaftliches „Produkt" bewerten und bestmöglich „verkaufen" zu lernen: Erst dabei erfahren sie hautnah dessen Wert für die unterschiedliche „Kundschaft", spüren sie in der Stunde der Präsentation, was es heißt, sich dem öffentlichen Erwartungsdruck im Wechselspiel aus „Angebot und Nachfrage" zu stellen - und erfahren sie bei geglückter Umsetzung enorme Motivierung. Ganz bewusst an den Schluss der methodischen Reflexionen seien nun noch ein paar Gedanken über lehramtsbezogene Projekt-Seminare gestellt. Sie streben gemäß dem neuen Grazer Lehramtsstudienplan25 eine enge Verbindung zwischen fachwissenschaftlichem und fachdidaktisch-anwendungsorientiertem Wissen an und haben schon auf Proseminar-Ebene26 einen Vorläufer. Es geht jeweils darum, eine Studierendengruppe mittels zweier parallel geführter und dementsprechend aufeinander abgestimmter Lehrveranstaltungen literatur- oder sprachwissenschaftlich so anzuleiten, dass sie dieses philologische Wissen mit den Anliegen der fachdidaktischen Parallel-Lehrveranstaltung zu verknüpfen vermag, am besten durch tatsächlich gehaltene
24
Franke, Marion: Sternstunden. Wissenschaftliche Kreativität in Lern- und Lehrprozessen am Beispiel des Baustein-Modells. In: Fischer, Dietlind/Friebertshäuser, Barbara/Kleinau, Elke (Hg.): Neues Lehren und Lernen an der Hochschule. Einblicke und Ausblicke. Weinheim 1999, 194.
25
Der (lehrstrategisch eng mit dem Bakkalaureats- und Magisterstudium verzahnte) Studienplan für das Unterrichtsfach Deutsch ist abrufbar unter der Adresse http://www-gewi.kfuniaraz.ac.at/deuph/stiiriplan/
26
Das auf dieser Ebene sehr erfolgreiche Joint Venture von Andrea Hofmeister (germanistische Mediävistik) und Marlies Breuss (literaturwissenschaftliche Fachdidaktik) kann unter folgendem Titel nachgelesen werden: Mittelalterliche Literatur für coole kids. Fachdidaktik als Brücke zwischen Universität und Schule. In: UniZeit 1 (2006), Sonderbeilage „Didaktoskop", 16f.
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Unterrichtsstunden an einer höheren Schule. Letzteres war auch das Ziel meines PilotSeminars zu Ulrich von Liechtenstein im Sommersemester 2003, dessen dazugehörige Fachdidaktik-Lehrveranstaltung von Alfred Redik geleitet wurde; für beide Lehrveranstaltungen stand der Seminar-Server http://de.groups.yahoo.com/group/uli liechtenstein zur Verfügung. Im Laufe des Semesters konnten (mithilfe des oben dargestellten Betreuungsmusters für Kompakt- und Projekt-Seminare) für verschiedene Schulklassen maßgeschneiderte, von Ulrichs Dichtungen inspirierte Unterrichtsstunden konzipiert und abgehalten werden. Über diese Stunden sowie über anderes mehr wurde bei einer öffentlichen Abschlusspräsentation berichtet (deren Details die Seite http:// de.geocities.com/uli liechtenstein dokumentiert).
7. Drei Sätze zum Schluss Ja, die germanistischen Lehrmethoden haben sich im Kräftespiel von Zeit und gesellschaftlichen (An)Forderungen entscheidend verändert. Nach rund 150-jähriger Entwicklung gibt es heute freilich nicht die germanistisch-literaturwissenschaftliche Lehrform, sondern im Gegenteil ein breites Repertoire an Erfolg versprechenden Komponenten, welche es zielorientiert einzusetzen gilt. Warum aber aus diesem Methoden-Angebot die „offensiven" Unterrichtskonzepte (beispielsweise in Form elektronisch gestützter Vorlesungen sowie der Kompakt- und Projekt-Seminare) besonders geeignet scheinen. Studierende zu Botschafterinnen ihrer Universitätsbildung zu machen, sollte aus dem Dargestellten in möglichst motivierender Deutlichkeit hervorgegangen sein.
Literatur Eckstein, Brigitte: Der Begriff der Hochschuldidaktik. In: Ulich, Klaus (Hg.): Aktuelle Konzeptionen der Hochschuldidaktik. München 1973, 17-31. Franke, Marion: Sternstunden. Wissenschaftliche Kreativität in Lern- und Lehrprozessen am Beispiel des Baustein-Modells. In: Fischer, Dietlind/Friebertshäuser, Barbara/ Kleinau, Elke (Hg.): Neues Lehren und Lernen an der Hochschule. Einblicke und Ausblicke. Weinheim 1999, 191-205. Hofmeister, Andrea/Breuss, Marlies: Mittelalterliche Literatur für coole kids. In: UniZeit 1 (2006), Sonderbeilage „Didaktoskop", 16f.
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Hofmeister, Wernfried: „Inhaltsangaben" als literarhistorische Herausforderung, dargestellt am Beispiel von Heinrich Wittenwilers „Der Ring". In: Jahrbuch für Internationale Germanistik XXXV (2003), H. 2, 169-201. Kern, Petra: Lehrveranstaltungen zur deutschen Sprache am Institut für Germanistik Graz. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Überblick (mit einer Sammlung relevanter Studiengesetze). Graz: Diplomarbeit 2001. Kukula, Richard: Erinnerungen eines Bibliothekars. Weimar 1925. Liessmann, Konrad P.: Das Symptom als Therapie - oder: Welches Problem löst die Hochschuldidaktik? In: Brinek, Gertrude/Schirlbauer, Alfred (Hg.): Vom Sinn und Unsinn der Hochschuldidaktik. Wien 1996, 13-26. Regenbrecht, Aloysius: Notwendigkeit und Aufgaben hochschuldidaktischer Reformen. In: Ulich, Klaus (Hg.): Aktuelle Konzeptionen der Hochschuldidaktik. München 1973, 3 2 ^ 8 .
Links (mit Zugriff am 22.8.2005) 7 Abschlusspräsentation des Seminars über Ulrich von Liechtenstein: http://de.geocities.com/uli liechtenstein 7 E-Learning-Plattform Graz: http://www.uni-graz.at/zidwww/zidwww services/ zidwww services lehreundlernen/zidwww elearning/zidwww webct.htm 7 E-Learning-Plattform Wien: http://www.univie.ac.at/ZID/elearning-webct 7 Handschrlftencensus: http://www.uni-marburg.de/hosting/census 7 Hugo von Montfort - Das poetische Werk: http://www-gewi.uni-graz.at/montfort-edition 7 Informationen zur Ausstellung „Literarische Sterbekultur des Mittelalters": 7 Institut für Germanistik, Graz: http://www-aewi.kfunigraz.ac.at/deuph 7 Mitteilungsblatt der KFU Graz, Studienplan: http://www.uni-graz.at/zv1www/mi040707b.pdf http://www-gewi.kfunigraz.ac.at/deuph/studplan/downloads/stpl lehramt gewi uf deutsch.pdf 7 Mittelalterliche Literatur In der Steiermark: http://www-aewi.kfunigraz.ac.at/stlitma 7 Mittelhochdeutsche Wörterbücher im Verbund: http://germazope.uni-trier.de/Projects/MWV/start 7 Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft: http://www.sbg.ac.at/ger/wolken.htm
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7 Phraseologie-Vorlesung: http://www-gewi.kfunigraz.ac.at/phraseo •J Seminar über Hugo von Montfort: http://de.groups.yahoo.com/aroup/montfort-seminar 7Seminare „Sterbekultur": http://de.groups.yahoo.com/group/sterbekultur JSeminar „Mittelalterliche Textinhalte im Spiegel der Literaturgeschichtsschreibung": http://de.groups.yahoo.com/group/textinhalte 7 Seminar „Ulrich von Liechtenstein": http://de.groups.yahoo.com/group/uli liechtenstein 7 Universitätsgesetz 2002: http://www.bmbwk.gv.at/universitaeten/recht/gesetze/ug02/ug2002.xml •J Universitätsorganisationsgesetz 1993: http://www.bmbwk.gv.at/universitaeten/ recht/gesetze/uog03/Bundesgesetz ueber die Q4264.xml; V Yahoo-Groups: http://de.groups.yahoo.com
Ursula Klingenböck (Wien)
Rudern statt reden? Perspektiven einer Berufs- und Praxisorientierung im Germanistik-Studium am Beispiel außeruniversitärer Praktika
0. Vorbemerkungen Um es frei nach Bertolt Brechts dritter Buckower Elegie (Rudern, GesprächeY zu formulieren: In Wien wird (zu) wenig gerudert. Mit anderen Worten: Das Praktikum vorerst verstanden 1. als Lehrveranstaltungstyp mit verstärktem Übungscharakter oder 2. als außerhalb der Hochschule abzuleistende praktische Tätigkeit - hat in geistesund kulturwissenschaftlichen Studien wenig Raum. Keiner der aktuellen Studienpläne für das Diplomstudium Deutsche Philologie schreibt ein Praktikum verpflichtend vor, noch schafft er einen geeigneten Rahmen für die Anerkennung freiwilliger Praktika;2 Bakkalaureats- und Magisterstudien nach UG 2002 sind erst einzurichten, ihre Curricula noch zu entwickeln und zu diskutieren.3 Die Berufsrelevanz von Praktika vorausgesetzt, wird eine in beiden legistischen Grundlagen wenn auch mit unterschiedlicher Deutlichkeit festgeschriebene „wissenschaftliche [...] Berufsvorbildung [und] Qualifizierung für berufliche Tätigkeiten, die eine Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden erfordern"/ damit für die Germanistik nur bedingt eingelöst. Im Folgenden sollen eine Arbeitsdefinition des Praktikums-Begriffs formuliert und die Frage nach Praktika im Diplomstudium bzw. im Bakkalaureats- sowie Magisterstu-
1
Brecht, Bertolt: Rudern, Gespräche. In: Hecht, Werner/Knopf, Jan u.a. (Hg.): Bertolt Brecht. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 12. Gedichte 2. Sammlungen 1938-1956. Frankfurt am Main 1988, 307. Die Zeilen „Nebeneinander rudernd / Sprechen sie. Sprechend / Rudern sie nebeneinander" werden weitgehend übereinstimmend als Antagonismus von Praxis und Theorie (bzw. von Arbelt und Kommunikation) und seine Überwindung gelesen; exemplarisch Joost, Jörg Wilhelm: Buckower Elegien. In: Knopf, Jan (Hg ): Brecht Handbuch in 5 Bänden. Bd. 2. Gedichte. Stuttgart 2001, 449.
2
UnlStG (Unlversltäts-Studiengesetz) und auslaufend: AHStG (Allgemeines Hochschul-Studiengesetz). Nicht berücksichtigt werden In diesem Beitrag der Studienschwerpunkt Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache sowie das Lehramtsstudium - Unterrichtsfach Deutsch.
3 4
Redaktionsschluss des Beitrags ist der 31.1.2006. UOG (Universltäts-Organisationsgesetz) 93 und das hier zitierte UG (Universitätsgesetz) 2002 § 3,3. Genaue Literaturangaben (Links) für Rechtsgrundlagen (Gesetzestexte, Studienpläne, Prüfungsordnungen u.Ä.) finden sich aus Gründen der Lesbarkeit im Literaturverzeichnis (siehe „Rechtsgrundlagen").
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2. Lernen und Lehren
dium5 Deutsche Philologie aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Ins Zentrum der Überlegungen rücken neben inneruniversitären Aspekten wie organisatorisch-studienrechtlichen, strukturellen und curricularen Rahmenbedingungen sowie der Entwicklung von (neuen) lehr- und lerntheoretischen Konzepten auch außeruniversitäre Interessen, insbesondere solche der Bildungspolitik und -Ökonomie sowie des Arbeitsmarktes, kurz: der Gesellschaft. Der regionale Fokus liegt auf der germanistischen Literaturwissenschaft an der Universität Wien, vergleichend richtet sich der Blick aber auch auf germanistische Institute inner- und außerhalb Österreichs - das vor allem dann, wenn es um Modelle vermehrten Praxisbezugs im Germanistik-Studium und ihre praktische Umsetzung geht. Denn, und ich komme damit zum eingangs gewählten Bild zurück: In München, Greifswald, Köln und anderswo, vor allem aber in Düsseldorf wird deutlich eifriger gerudert als in Wien.
1. Zum Verständnis von „Praktikum" In der Lehrveranstaltungstypologie der Universitäten bezeichnet das Praktikum im Wesentlichen eine Lehrveranstaltung mit verstärktem Übungscharakter und Praxisbezug. Für die kulturwissenschaftlichen Fächer, insbesondere für die Germanistik (Fremdsprachenphilologien und auch der Bereich Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache sind differenzierter zu sehen), ist das Praktikum zu einem guten Teil Etikettenfrage: Lehrveranstaltungstypen mit viel Übungs-Raum gibt es viele. Sie heißen u.a. Übung (UE), Proseminar (PS), Seminar (SE), Arbeitsgemeinschaft (AG), mitunter auch differenzierter und die praktische Anwendung hervorhebend: Vorlesung mit Übung (VU), Projektstudie (PR; beide Universität Innsbruck) oder Kurs (KS), Projektproseminar (PR), Projektseminar (PE; alle Universität Graz). Insgesamt lässt sich sagen, dass mit den aktuellen Studienplänen der Übungscharakter des Germanistik-Studiums verstärkt wurde: in der Einführung neuartiger Lehrveranstaltungs-Kombinations-Typen - die Universitäten Wien und Klagenfurt nehmen sich davon aus und bleiben in der Benennung „traditionell" - , die ihrerseits aber auf qualitative Veränderungen zu prüfen wären (Stichwort: alter Wein in neuen Schläuchen), und durch die anteilsmäßige Erhöhung der Lehrveranstaltungen mit Übungscharakter. Am Beispiel der Universi-
5
Wenn im Weiteren vom Magisterstudium (im Folgenden auch kurz: M.A.) gesprochen wird, so ist damit (wenn nicht anders ausgewiesen) der auf das Bakkaiaureat (B.A.) aufbauende Studiengang gemeint, nicht aber der „klassische" Magisterstudiengang an deutschen Universitäten.
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Rudern statt reden?
tat Wien: Im seit Wintersemester 2002/03 gültigen und noch immer so genannten „neuen" Studienplan wird ein Großteil der Lehrveranstaltungen des ersten Studienabschnitts als „Übung" geführt. In Zahlen ausgedrückt, sind von insgesamt 40 Semesterwochenstunden des ersten Abschnitts im Diplomstudium Deutsche Philologie, die Wahlmöglichkeiten mit berücksichtigt, 18 bzw. 20 Übungen, 8 bzw. 6 Proseminare, 6 Konversatorien (alle mit Übungscharakter) und nur 8 Vorlesungen. 6 Von ihnen soll hier nicht weiter die Rede sein. Wenn nicht anders ausgewiesen, verstehe ich Praktikum im Folgenden als außerhalb der Hochschule abzuleistende bzw. - der (bildungs)biografischen Realität entsprechend - abgeleistete praktische Tätigkeit: das deshalb, weil es auch um Leistungen gehen kann/muss, die bereits erbracht wurden oder die erbracht werden/wurden, ohne dass sie im Studienplan vorgeschrieben wären. Die wenigsten der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fächer (von den Lehramtsstudien einmal abgesehen) sehen derzeit Pflichtpraktika vor. Praktika sind grundsätzlich für eine Anrechnung offen zu denken. Über quantitative und qualitative Standards für außeruniversitäre Praktika, insbesondere ihre (Rück-)Bindung an das Studienfach und/oder an das Curriculum, über ihre Operationalisierbarkeit und Möglichkeiten einer Kreditierung wird noch zu handeln sein.
2. Studierend berufstätig - berufstätig studierend? Diejenigen, die sich aktuell mit beruflicher Praxis auseinandersetzen (müssen), sind in erster Linie die Studierenden - wenn auch aus existenziellen und damit nur mittelbar studienrelevanten Gründen. 7 An der Universität Wien wird die Berufstätigkeit der Studierenden nicht erhoben, es sind daher auch keine fakultäts- oder gar studienrichtungsspezifischen Daten verfügbar. Der jüngsten Studierendenerhebung des Bundesministeriums
für Bildung, Wissenschaft und Kunst zufolge sind österreichweit
insgesamt zwei Drittel aller Studierenden während des Semesters in irgendeiner Form erwerbstätig, Tendenz steigend. Wird die Erwerbstätigkeit während der Ferien mit berücksichtigt, erhöht sich der Anteil berufstätiger Studierender auf 87 Prozent. Kon-
6
Siehe Studienplan Deutsche Philologie Diplom, Wien.
7
Vgl. bereits Ehlert, Holger: Perborat und Silikat. Praxisorientierung an Hochschulen im Spannungsfeld von Bildungsfinanzierung, Strukturwandel des Arbeitsmarktes und Institutionalisierung in der Hochschule. In: Welbers, Ulrich (Hg.): Das Integrierte Handlungskonzept Studienreform. Aktionsformen für die Verbesserung der Lehre an Hochschulen. Neuwied 1997, 331.
176
2. Lernen und Lehren
tinuierliche Erwerbstätigkeit findet sich überdurchschnittlich oft in den Geisteswissenschaften: Hier arbeiten mehr als die Hälfte der Studierenden (58 Prozent) während des gesamten Semesters, 17 Prozent gelegentlich.8 Als Motiv für die Erwerbstätigkeit wird in erster Linie finanzieller Bedarf angegeben (u.a. Lebensunterhalt, Studium finanzieren); berufs- und/oder studienbezogene Gründe wie etwa „Berufspraxis [ohne Bezug zum Studium] sammeln" oder „das im Studium Gelernte praktisch anwenden"9 finden sich im Mittelfeld. Erst am unteren Ende der Skala werden im Studienplan vorgeschriebene Praktika und damit studien(plan)spezifische Motive genannt.
2.1. Zur Relevanz von Praktika im Diplomstudium Germanistik an der Universität Wien Die Erwerbstätigkeit von Studierenden ist auch in einem bildungs-pragmatischen Verständnis weitgehend studienirrelevant: Außeruniversitäre Praxis wird für das Diplomstudium der Deutschen Philologie an der Universität Wien derzeit nicht oder nur bedingt anerkannt. Das Universitätsstudiengesetz („Anerkennung von Prüfungen"; im Wortlaut unverändert übernommen ins Universitätsgesetz) sieht vor, eine „wissenschaftliche Tätigkeit in Betrieben oder außeruniversitären Forschungseinrichtungen [...] nach Art und Umfang der Mitwirkung oder Tätigkeit der oder des Studierenden nach Maßgabe der Gleichwertigkeit [...] als Prüfung anzuerkennen"10 und formuliert damit in erster Linie qualitative, aber auch quantitative Kriterien; dazu kommt mit dem Ziel „wissenschaftliche^] Berufsvorbildung"11 ein funktionales, mit der Notwendigkeit der Antragstellung durch die Studierenden ein fragwürdiges (bürokratisch-)selektives Moment. Die Erfahrungen der Studienprogrammleitung für Deutsche Philologie und des Prüfungsreferates der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät haben gezeigt, dass in den vergangenen Semestern kaum Anträge für die Anrechnung von Berufspraktika - die häufigeren Ansuchen betreffend Lehrveranstaltungen des Typs „Praktikum" aus Vor- oder Doppelstudien können hier beiseitebleiben - eingebracht werden; wenn, dann handelt es sich größtenteils um ein- bis zweimonatige Tätig-
8
Vgl. Wroblewski, Angela/Unger, Martin: Studierenden-Sozialerhebung 2002. Bericht zur sozialen Lage der Studierenden. Wien 2003 (auch online unter http://www.bmbwk.gv.at/universitaeten/pm/puhl/Studierenden-So7ialerheh9051.xml?style=textV insbesondere 90,114 und 94. Insgesamt wurde in den letzten Jahren eine Zunahme von berufstätigen Studierenden um mindestens 6 Prozent registriert, was auch mit der Einführung von Studiengebühren im Wintersemester 2001 korrelieren mag.
9
Wroblewski/Unger, Studierenden-Sozialerhebung, 102.
10 UniStG § 59,2 bzw. gleich lautend UG 2002, § 78,3. 11 Ebd.
177
Rudern statt reden?
keiten, die (wenn überhaupt) ausschließlich im Bereich der Freien Wahlfächer' 2 und im Umfang der „üblichen" Einheiten von zwei Semesterwochenstunden bescheidmäßig anerkannt werden. Der Studienplan Deutsche Philologie Diplom sieht derzeit nichts anderes vor; bewusst oder unbewusst spart er die Option freiwillig absolvierter außeruniversitärer Praktika und mit ihnen die Modalitäten für eine Anrechnung aus. Zwar ist der gesetzliche Rahmen für eine Studienplanänderung mit UniStG § 9 (bzw. seiner Weiterentwicklung im UG 2002) gegeben, die Durchführung über ein umfassendes Arbeitsgruppenverfahren geregelt, ein möglicher Text u.a. für die Studienrichtung Kunstgeschichte13 formuliert. - Allein: Der gerade einmal drei Jahre alte UniStG-Studienplan ist angesichts eines näher rückenden Europäischen Hochschulraumes schon fast wieder überholt, jede Adaptation allein im Hinblick auf den Zeitplan seiner (und wohl auch ihrer) Umsetzung, so will es scheinen, obsolet. Während über eine Restaurierung des bestehenden Studienplans nicht oder bestenfalls privat nachgedacht wird, ist die Frage nach einer Verankerung außeruniversitärer Praktika im Curriculum für die erst auszuarbeitenden Bakkalaureats- und Magisterstudien geradezu zwingend zu stellen; neben freiwilligen Praktika müssen dabei erstmals auch Pflichtpraktika ins Zentrum des Interesses rücken.
2.2. Zur Relevanz von Praktika für germanistische Bakkalaureate in Österreich. Mit einer vorläufigen Standortbestimmung
für Wien
Nach Bakkalaureats- bzw. Magisterstudien Deutsche Philologie steht es in Österreich drei zu zwei: Kein B.A.-/M.A.-Studium bieten die Leopold-Franzens-Universität Innsbruck - ihr Studienplan Deutsche Philologie Diplom spricht im Kontext der Berufsvorbildung von „Zusatzqualifikationen", die „im Rahmen der freien Wahlfächer" oder durch eine „Zusatzausbildung bzw. eine einschlägige Praxis"' 4 erworben werden können - und die Universität Wien, deren Curriculum auch hinter den vagen Bestimmungen Innsbrucks noch zurückbleibt. Bevor es an konkrete Überlegungen zur Praxisorientierung und insbesondere zur Verankerung außeruniversitärer Praktika in neu zu konzipierenden Bakkalaureats- bzw. Magisterstudienplänen Deutsche Philologie
12
Der Studienplan Deutsche Philologie Diplom schreibt im zweiten Studienabschnitt Wahlfächer im Ausmaß von 4 8 Semesterwochenstunden vor, die in einem vorgegebenen Curriculum (Kombinationsfach), als frei wählbare, in ihrer Auswahl zu begründende und genehmigungspflichtige Lehrveranstaltungen oder in einer Verbindung von beidem (gewähltes Fach, Nebenfach) absolviert werden können. Genaueres siehe: Regelung der „freien Wahlfächer" im Bereich der Universität Wien.
13
Siehe: Neue Regelungen zur Durchführung des Studienplans für Kunstgeschichte als Hauptfach.
14
Studienplan Deutsche Philologie Diplom, Innsbruck, § 2,3.
178
2. Lernen und Lehren
unter besonderer Berücksichtigung der Universität Wien geht, sollen insbesondere die Curricula bereits eingerichteter B.A.-Studien - anders als die M.A.-Studien definieren sie sich primär über Berufsvorbildung und Praxisorientierung - vor diesem Anspruch gelesen, vergleichend dargestellt und diskutiert werden. In ihren allgemeinen Zielen, praxis- bzw. anwendungsorientierte Kompetenzen zu vermitteln, stimmen die Bakkalaureats-Studienpläne der Universitäten Salzburg, Graz und Klagenfurt inhaltlich weitgehend überein. Unterschiede zeigen sich in der Verankerung von Praktika im Studienplan. Im Curriculum des B.A.-Studiums Deutsche Philologie der Paris-Lodron-Universität Salzburg werden „praxisbezogene Kompetenzen" in so genannten „Praxisfächern"' 5 vermittelt; von Praktikum als Lehrveranstaltungstyp oder als außerhalb der Hochschule abzuleistende praktische Tätigkeit ist nirgends die Rede. Das - nicht nur im Hinblick auf Praktika - österreichweit elaborierteste Konzept weist der Studienplan für das Bakkalaureatsstudium Germanistik an der Karl-FranzensUniversität Graz auf. Indem er Studierenden ausdrücklich empfiehlt, eine Praxis zu absolvieren, diese im Studienverlauf (nämlich zwischen dem 3. und 6. Semester) veröltet, in ihrem Umfang festlegt (4 Wochen bzw. 20 Arbeitstage), Richtlinien für eine Operationalisierung formuliert (Bestätigung über absolviertes Stundenausmaß mit Charakterisierung des Tätigkeitsfeldes, Praxisbericht) und eine Bewertung mit 4,5 ECTS-Punkten16 (3 Semesterwochenstunden) vorsieht,' 7 geht er deutlich über das Salzburger Minimalprogramm und das Klagenfurter Modell hinaus. Allerdings können auch hier außeruniversitäre Praktika nur im Rahmen der Freien Wahlfächer angerechnet werden. Irgendwo zwischen Salzburg und Graz ist das Curriculum des Bakkalaureatsstudiums Germanistik an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt angesiedelt. Zwar legt das Qualifikationsprofil u.a. den „Erwerb projektorientierter Praxiserfahrung"18 fest, ein entsprechender LV-Typ „Praktikum" wird aber nicht geführt. Im Bereich der Freien Wahlfächer wird den Studierenden immerhin „die Möglichkeit eingeräumt", einzelne Module „durch die Absolvierung einer facheinschlägigen Praxis"'9 zu ersetzen, wobei 20 Arbeitstage vergleichsweise hoch mit 6 ECTS-Punkten dotiert werden. Darüber hinausgehende Empfehlungen oder Richtlinien für die Durchführung und Anrechnung gibt es nicht, über Anträge entscheidet die/der Studienrektorin. Für das Magisterstudium (im Übrigen das
15
Praxisfächer I: Kommunikations- und Sprechtraining, Sprach(norm)kompetenz; Praxisfächer II: u.a. Linguistische Analyse literarischer Texte, Pragmatische Stilanalyse, A n g e w a n d t e Gesprächslinguistik, vgl. Studienplan Deutsche Philologie Bakkalaureat, Salzburg, § 5.
16
E CTS (European Credit Transfer System)-Punkte, gleichbedeutend mit CP (Credit Points).
17
Studienplan Germanistik Bakkalaureat, Graz, § 8,6 und § 9,2.
18
Studienplan Germanistik Bakkalaureat, Klagenfurt, § 3,1.
19
Ebd., § 1 0 , 4 .
Rudern statt reden?
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einzige in Österreich, das außeruniversitäre praktische Tätigkeiten berücksichtigt) gilt dasselbe, allerdings ist nach Abschluss des Praktikums ein Praxisbericht vorzulegen. Die Umstellung auf die dreigliedrige Studienarchitektur (Bakkalaureats-, Magisterund Doktoratsstudium) ist im Entwicklungsplan der Universität Wien20 festgeschrieben. Sie soll in drei Phasen (Grundlagen-, Entwicklungs- und Durchführungsphase) erfolgen und ist mit Wintersemester 2008/2009 terminiert. Ein Entwurf zur formalen Studienarchitektur und zur Gestaltung von Studien wurde von der Projektgruppe Europäische Studienarchitektur erarbeitet und liegt im Arbeitspapier zur Umsetzung der europäischen Studienarchitektur an der Universität Wien2'' vor, eine Homepage zum Projekt Europäische Studienarchitektur22 wurde eingerichtet. Die Implementierung erfolgt unterschiedlich rasch; von derzeit 122 bzw. 146 (inklusive Lehramtsstudien) eingerichteten Studien werden 22 als Bakkalaureats- und 27 als Magisterstudien geführt. Innerhalb der 17 Fakultäten der Universität Wien zeigt sich ein deutliches Gefälle in Richtung der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät, deren Studienrichtungen sich bis auf wenige Ausnahmen noch in der Grundlagen- und Entwicklungsphase befinden - darunter auch das Institut für Germanistik/die Studienrichtung Deutsche Philologie. Von den insgesamt 52 Studienrichtungen23 der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät werden derzeit nur 4 als Bakkalaureats- und 4 als Magisterstudien geführt. Oder anders ausgedrückt: Von den 13 Instituten bzw. den 9 Studienprogrammleitungen der Fakultät bieten 2 (die Institute Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft - hier wiederum ausschließlich die Abteilung Finno-Ugristik- und Ostasienwissenschaften bzw., in anderer Nomenklatur, die Studienprogrammleitung für Fennistik, Hungarologie, Skandinavistik, Slawistik und die Studienprogrammleitung Ostasienwissenschaften) B.A.- und M.A.-Studien an.24 Auffällig ist, dass die Bologna-Papiere des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kunst, insbesondere aber der Universität Wien25, die Europäische Stu-
20 Abrufbar unter http://univie.ac.at/rektorenteannVug2002/entwicklung.pdf die Satzung der Universität Wien wird dahingehend zu überarbeiten sein (künftig zitiert als: Entwicklungsplan). 21
http://spl.univie.ac.at/fileadmin/user upload/senat/Empfehlung Arbeitsbehelf 6.10. Endfassung.pdf(künftig zitiert als: Arbeitspapier).
22
http://www.univie.ac.at/bologna.
23 Ausgenommen von der Zählung sind Doktoratsstudien und die auslaufenden Diplomstudienrichtungen; von den angegebenen Studienrichtungen sind 12 Lehramtsstudien. 24 Alle Angaben dieses Abschnitts repräsentieren den Stand vom 31.12.2005. 25
Für österreichweite Daten vgl. den Bericht über den Stand der Umsetzung der Bologna-Erklärung in Österreich 2005 unter http://www.bmbwk.gv.at/europa/bp/bericht 05.xml. ferner den österreichischen Ländersität Wien siehe Arbeitspapier und Entwicklungsplan.
180
2. Lernen und Lehren
dienarchitektur u.a. über deren Berufsrelevanz argumentieren. Eine mehrfach, auch in den Studienzielen („Learning Outcomes") der universitären M.A.-, vor allem aber B.A.-Studiengänge formulierte, „nachhaltige wissenschaftliche Berufsvorbildung"26 soll Differenzqualität zu anderen hochschulischen Einrichtungen (insbesondere Fachhochschulen) konstituieren, die Wettbewerbsfähigkeit und in der Folge die Employability ihrer Absolventinnen steigern.27 Wenn allerdings die Universität Wien von der Europäischen Studienarchitektur „die Erhöhung der Chancen" auf dem europäischen Arbeitsmarkt „erwartet [Hervorhebung U. K.]",28 dann ist das einerseits zu viel und andererseits zu wenig: Zu viel, weil auch eine europaweite Studien-(Struktur-)Reform (allein) nicht leisten kann,29 was in bildungstheoretischen Dimensionen gedacht und in institutionellen, arbeitsmarkt- und bildungspolitischen bzw. -ökonomischen Kontexten diskutiert werden muss; zu wenig, weil es mit (Ab-)Warten und (Er-)Hoffen eben nicht getan ist. Dieser Rahmen definiert auch den Handlungsspielraum der Universitäten, wenn es darum geht, Berufsorientierung und (wissenschaftliche) Berufsvorbildung in den Studiengängen zu etablieren.
3. Praxisorientierung in universitären Studiengängen Auch abseits der Studienreform beherrscht eine mittlerweile nicht mehr kontrastiv zur Fachwissenschaft gedachte Praxisorientierung30 die aktuelle Diskussion an den 26 Arbeitspapier, 10. 27
Dass hier durchaus Handlungsbedarf gegeben ist, zeigen die aktuellen Statistiken (für Auskünfte und die Überlassung des Datenmaterials danke ich Fr. Manuela Eichinger vom Arbeitsmarktservice Österreich) zur Arbeitslosigkeit in Österreich, die für das Jahr 2004 eine Akademikerinnen-Arbeitslosenquote von 2,7 Prozent ausweisen. Im Oktober 2005 waren demnach insgesamt 7538 Universitäts-Absolventlnnen arbeitslos, das macht ein Plus von 1,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr; interessant scheint die geschlechtsspezifische Verteilung: Frauen plus 4,3 Prozent, Männer minus 2 Prozent. Innerhalb der Philologisch-Kulturkundlichen Studien (diese entsprechen im Wesentlichen den an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien angebotenen Studienrichtungen) stellen Diplom-Germanistinnen zahlenmäßig den größten Anteil an Arbeitslosen. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass ein Vergleich von Massenfächern und kleineren Studienrichtungen nach absoluten Zahlen nur bedingt aussagekräftig ist.
28
Entwicklungsplan, 18.
29 Zur „Problemlösungsfalle" Studienreform vgl. den kritischen Beitrag von Welbers, Ulrich: Studienreform mit Bachelor und Master. Eine einführende Problembeschreibung aus der Sicht des Lehrens und Lernens an Hochschulen. In: Welbers, Ulrich (Hg.): Studienreform mit Bachelor und Master. Gestufte Studiengänge im Blick des Lehrens und Lernens an Hochschulen. Modelle für die Geistes- und Sozial Wissenschaften. Unter Mitarbeit von Jessica Waldeyer. Neuwied 2001, 1 - 2 2 . 30 Vgl. stellvertretend für viele Landfried, Klaus: Vorwort. In: Knauf, Helen/Knauf, Marcus (Hg.): Schlüsselqualifikationen praktisch. Veranstaltungen zur Förderung überfachlicher Qualifikationen an deutschen Hochschulen. Bielefeld 2003 (= Blickpunkt Hochschuldidaktik Bd. 111), 5f. Einen Einblick in die kontroversielle
181
Rudern statt reden?
und um die Hochschulen. Als „von kaum noch jemandem ernsthaft bezweifelte Notwendigkeit" 3 1 steht sie im Kontext von Studienfach und -inhalten, von neuen lehr- bzw. lerntheoretischen Konzepten und von Qualifikationsanforderungen des Arbeitsmarktes. Sie bestimmen, was auf welche Art und Weise und zu
welchem
Zweck gelernt werden soll und damit u.a. auch, was ein Praktikum - durchaus in wörtlichem Sinn -sein kann. Wiewohl die Fragen nach dem Was, dem Wie und dem Wozu nicht getrennt voneinander verhandelbar sind und hier weder ausführlich noch abschließend diskutiert werden können, müssen sie unter den Stichworten „Schlüsselqualifikationen", „Pädagogischer Konstruktivismus" (dieser wieder im Kontext „lebenslangen" bzw. „lebensbegleitenden" Lernens) und „Employabillty" zumindest angesprochen werden. Anschließend sollen ausgewählte Beispiele von Praxisinitiativen die Relevanz von Praxisorientierung und Möglichkeiten ihrer Umsetzung für ein künftiges B.A.-Studium der Germanistik illustrieren.
3.1. Schlüsselqualifikationen
- Pädagogischer Konstruktivismus
-
Employability
Anfang der 1970er Jahre aus der Erfahrung einer fehlenden Passung von Blldungsund Beschäftigungssystem entstanden,32 sind „Schlüsselqualifikationen" in wechselnder Terminologie (sie werden u.a. bezeichnet als Basiskompetenzen, social skills, soft skills) und Bedeutung 33 spätestens seit den 1990er Jahren auch hierzulande In aller Munde. Sie stellen das Missing Link innerhalb und zwischen wissenschaftsinternen und/oder (berufs)praxisorientierten (Reform-)Ansätzen, mit anderen Worten: zwischen Lehre (als zu vermittelndem Wissen) und Wissenschaftsentwicklung und/oder
Diskussion von wissenschaftlichem Anspruch des Studienfaches und praxisorientierenden Elementen im Studium u.a. am Beispiel der Germanistik gibt Grühn, Dieter: Praxisorientierung in Bachelorstudiengängen. In: Welbers, Ulrich (Hg.): Studienreform mit Bachelor und Master. Gestufte Studiengänge im Blick des Lehrens und Lernens an Hochschulen. Modelle für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Unter Mitarbeit von Jessica Waldeyer. Neuwied 2001, 102ff. 31 32
Welbers, Studienreform, 13. Vgl. Mertens, Dieter: Schlüsselqualifikationen. Thesen zur Schulung für eine moderne Gesellschaft. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 7 (1974), H. 1, 3 6 - 7 3 . Zur Entwicklung des Konzepts, zu einer systematischen Klärung der Begrifflichkeit und konkreten Beispielen für die Umsetzung vgl. u.a. Orth, Helen: Schlüsselqualifikationen an deutschen Hochschulen: Konzepte, Standpunkte und Perspektiven. Neuwied 1999 (= Hochschulwesen) und die jüngere Publikation von Knauf/Knauf, Schlüsselqualifikationen praktisch, insbesondere: Knauf, Helen: Das Konzept der Schlüsselqualifikationen und seine Bedeutung für die Hochschule. Einführung in das Thema, 1 1 - 2 9 . Zu fachnahen und fachfernen oder reinen Schlüsselqualifikationen im Hinblick auf die germanistische Literaturwissenschaft vgl. auch den Beitrag von Ulrich Welbers in diesem Band.
33
Zu verschiedenen Traditionslinien und theoretischen Ansätzen vgl. Orth, Schlüsselqualifikationen, 3 - 4 3 , w o pädagogische, psychologische und soziale Zugänge unterschieden werden.
182
2. Lernen und Lehren
zwischen Studium/Studierenden bzw. Absolventinnen und Beruf/Arbeitgeberinnen her. Gegenwärtig werden Schlüsselqualifikationen weitgehend übereinstimmend über die vier Kompetenzbereiche von Sozial-, Methoden-, Selbst- und Fachkompetenz (Orth 1999, Knauf/Knauf 2003) definiert. Durch sie soll insbesondere der Übergang von der Hochschule in den Beruf erleichtert werden, sie sollen auf veränderte bzw. sich verändernde Strukturen und Anforderungen im Beschäftigungssystem reagieren helfen und dadurch nachhaltige Employability von Hochschulabsolventinnen ermöglichen.34 Darüber hinaus sollen sie mit Lernfähigkeit und Lernbereitschaft das „wesentliche Werkzeug [...] für die Gestaltung individueller Lebens- und Arbeitschancen" im Kontexteines „lebensbegleitenden" bzw. „lebenslangen Lernens" 35 bereitstellen. Als Grundvoraussetzung für eine Förderung von Schlüsselqualifikationen wird eine neue Kultur des Lehrens und Lernens angesehen, die Lernen als ,,aktiv-konstruktive[n] Prozess [begreift], der stets in einem bestimmten Kontext und damit situativ sowie multidimensional und systematisch erfolgt", 3 6 und die es den Lernenden ermöglicht, „mit realistischen Problemen und authentischen Situationen umzugehen", indem sie „einen Rahmen und Anwendungskontext für das zu erwerbende Wissen bereitstellt]" ,37 Neuerdings werden Studienreform- und Lehrpraxis, und mit ihr die Berufsorientierung, vermehrt unter vermittlungswissenschaftlicher Perspektive gesehen.38 Schlüsselqualifikationen, Employability und (wie jede Lerntheorie) in gewissem Sinn auch der pädagogische Konstruktivismus sind wesentlich funktional-teleologisch bestimmt. Indem sie ein Ziel formulieren, veranlassen sie immer auch den Weg/die Methode, über den/die es erreicht werden soll/kann. Für die Frage, was ein Praktikum ist/sein kann, bedeutet das - immer vorausgesetzt, dass sich (Berufs-)Praxisorientierung 39 wesentlich über diese drei Komponenten konstituiert und dass (außeruniversitäre) Praktika eine Möglichkeit darstellen, sie zu erwerben - die Lancierung eines
34 35
Vgl. u.a. Knauf, Das Konzept der Schlüsselqualifikationen, 16-19. Entsprechend der Mitteilung der Europäischen Union v o m 21.11.2001 (Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen, 9) verstanden als: ,,[A]lles Lernen während des gesamten Lebens, das der Verbesserung von Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen dient und im Rahmen einer persönlichen, bürgergesellschaftlichen, sozialen bzw. beschäftigungsbezogenen
36
Perspektive e r f o l g t " ,
http://europa.
Reinmann-Rothmeier, Gabi/Mandl, Heinz, zit. nach Knauf, Das Konzept der Schlüsselqualifikationen, 26.
37
Gerstenmaier, Jochen/Mandl, Heinz, zit. nach Knauf, Das Konzept der Schlüsselqualifikationen, 26.
38
Vgl. dazu auch den Beitrag von Ulrich Welbers in diesem Band und zuvor bereits Welbers, Ulrich (Hg.): Vermittlungswissenschaften. Wissenschaftsverständnis und Curriculumentwicklung. Düsseldorf 2003.
39
Nicht jede Form der Praxisorientierung ist auch Berufsorientierung, vgl. Ehlert, Holger/Welbers, Ulrich (Hg.): Handbuch Praxisinitiativen an Hochschulen. Berufsorientierende Angebote für Studierende an Universitäten. Unter Mitarbeit von Vera K. Eckermann und Jessica Waldeyer. Neuwied 1999, 9; genauso wenig bedeutet Employability - u n d hier möchte man hinzufügen: leider - tatsächlich auch Beschäftigung.
Rudern statt reden?
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extensiven (mit anderen Worten: eines „ganzheitlichen") Praktikums-Begriffs40 und, gleichsam als notwendige Konsequenz, (s)eine in erster Linie qualitativ (Stichwort: Kreditierung, Zertifizierung), aber auch pragmatisch (Stichwort: Administrierbarkeit) argumentierte Kanalisierung. Die Forderung nach dem - wie auch immer definierten - „guten" Praktikum bestimmt den wissenschaftlich-theoretischen Diskurs zur Entwicklung und Sicherung von (Qualitäts-)Standards für Praktika ebenso wie ihre konkrete Umsetzung in den Praktikumsordnungen und -programmen der Universitäten. Oder zumindest sollte sie das.
3.2. Überlegungen zu einer Umsetzung von Praxisorientierung in universitären Studiengängen So sehr der Rahmen für eine (Berufs-)Praxlsorlentierung In Studiengängen durch hochschul- bzw. arbeitsmarktpolitische Forderungen auf der einen und durch lerntheoretische Überlegungen auf der anderen Seite bestimmt wird, so wenig geben sie Empfehlungen für die „praktische" Umsetzung von Praxisorientierung: Sie Hegt einzig und allein in der Verantwortung der Institution Hochschule und ihrer (Einzel-)Wissenschaften/Fachberelche/Studiengänge. Sie haben die Fragen nach dem Wann (Auf welcher AusbOdungsstufe? Während des Semesters oder in lehrveranstaltungsfreien Zeiten?), dem Wo (Zusätzliche Angebote außerhalb der regulären Studienpläne oder integrative Konzepte?) und dem Wie viel (In welchem Stunden- bzw. ECTS-PunkteAusmaß?), nach dem Was bzw. Wie (Informationsveranstaltungen, Vermittlung/ Vorbereitung/Betreuung/Reflexion von Praktika, Bewerbungstrainings, Berufsvorbereitende Kurse, Absolventinnenbörsen, Career Centers etc.), nach dem Durch wen (Organisation durch Fächer/Fachbereiche, durch dezentrale Organisationsbüros oder durch zentrale Einrichtungen? Lehre durch Hochschullehrerinnen der Fächer, durch Mitarbeiterinnen zentraler universitärer Stellen, durch Lehrpersonal außeruniversitärer Einrichtungen, durch Praktikerinnen?) und schließlich auch nach der Verbindlichkeit (fakultativ oder obligatorisch?) zu entscheiden. Vielfältig wie die Problemstellung sind auch mögliche Antworten. Österreichische B.A.-/M.A.-Konzepte für ein Studium der Germanistik lassen wesentliche Inhaltliche,
40
Für die Geisteswissenschaften vgl. u.a. Ehlert, Holger/Welbers, Ulrich: Vom Praktikum zur Praxis: Zur Rolle von Praxiserfahrung in modularisierten Studienprogrammen zur Berufsorientierung. In: Friedrich, Horst/ Schobert, Berthold (Hg.): Praxisbezug und qualifizierte Praktika zur Berufsorientierung im geisteswissenschaftlichen Studium. Bergisch Gladbach 2003 (= Wirtschafts- und Berufspädagogische Schriften Bd. 30), 143-161.
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2. Lernen und Lehren
strukturelle, organisatorische, hochschuldidaktische und handlungsspezifische Fragen mehr oder weniger unbeantwortet (v.a. den Inhalt, die Methode und Organisation, aber auch den zeitlichen Aspekt). Indem sie die Frage nach dem Was bzw. Wie auf eine Option (nämlich auf die außeruniversitäre Praxiserfahrung selbst) reduzieren, entscheiden sie jene nach dem (Lehr-)Personal gleich mit, spezielle Probleme der Organisation stellen sich damit erst gar nicht; und wenn sie die Frage nach dem Wo mit einem Nein zur Integration in den Regelstudienplan beantworten - angesichts der Tatsache, dass Praktika in allen Phasen allein von den Studierenden zu organisieren sind, verbietet es sich streng genommen sogar, vom Zusatz„angeboten" zu sprechen - , können sie das nur, weil sie Praktika, wo nicht als Zugeständnis, so doch als freiwillig und damit als Ausnahme verstehen. Alles in allem bleiben die Konzepte deutlich hinter jenen im benachbarten Ausland zurück. Der Praxis-Mangel an Österreichs Universitäten wird auch durch die nach wie vor umfassendste Zusammenstellung zur Praxisorientierung an deutschen (und österreichischen) Hochschulen in den 1990er Jahren dokumentiert; denn dass von den insgesamt rund 100 im Handbuch Praxisinitiativen (1999) von Holger Ehlert und Ulrich Welbers beschriebenen Projekten nur drei in Österreich angesiedelt sind,4' ist nicht nur und nicht in erster Linie der regionalen Schwerpunktsetzung des Handbuchs und der vergleichsweise hohen Dichte deutscher Hochschulen zuzuschreiben. Der empirische Befund korreliert, sofern er nicht überhaupt aus ihr resultiert, mit einer in Österreich noch wenig entwickelten42 wissenschaftlichen Beschäftigung mit Hochschulforschung im Allgemeinen und mit Hochschuldidaktik bzw. Praxisorientierung im Germanistik-Studium im Besonderen.
41
Namentlich das Büro für Studierende und Arbeitsweit an der Universität Klagenfurt, die Koordinationsstelle Universität - Wirtschaft (KORUS) der Universität Graz und das Projekt Euromobil der Universität Innsbruck, vgl. Ehlert/Welbers, Handbuch Praxisinitiativen, 244f., 248f. und 252f. Zum Zeitpunkt der Erhebung gab es an keiner der genannten Universitäten eine mehrstufige Studienstruktur im Bereich der Germanistik.
42
Umso höher ist die Arbeit der Österreichischen Gesellschaft für Hochschuldidaktik (ÖGHD), der Abteilung Hochschulforschung der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) und des Instituts für Höhere Studien (IHS) einzuschätzen.
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3.2.1. Zwei Beispiele von Praxisorientierung im Studium der Geistes- u n d Kulturwissenschaften/der Germanistik
3.2.1.1. Pflichtpraktika am Beispiel der B.A.-Studiengänge der Philosophischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 4 3
B.A.-Studiengänge werden an der Philosophischen Fakultät Greifswald seit Wintersemester 1999/2000 als sechssemestrige Studiengänge, bestehend aus zwei Fachmodulen und einem Modul „General Studies", angeboten. Auf die Empfehlung des Wissenschaftsrates vom Jänner 2000, 4 4 der zufolge Berufsfähigkeit u.a. über die Integration von Praktika zu vermitteln sei, reagieren sie mit der Einführung eines obligatorischen Praktikums. Die Durchführung des Praktikums wird in ihren allgemeinen und technischen Bestimmungen durch die für alle B.A.-Studiengänge der Philosophischen Fakultät gültige Prüfungs- bzw. Praktikumsordnung und, für den Teilstudiengang Germanistik, durch die seit 1.10.2005 gültige Fachmodulprüfungsordnung geregelt. Sie sehen ein während der lehrveranstaltungsfreien Zeit im In- oder Ausland zu absolvierendes Pflichtpraktikum von insgesamt 360 Stunden (9 Wochen) vor; unter bestimmten Voraussetzungen kann das Praktikum auch in mehreren Teilpraktika erbracht werden. Der Nachweis erfolgt über eine unbenotete Bescheinigung der Praktikumsstelle (sie enthält einen tabellarischen Tätigkeitsnachweis) und einen Praktikumsbericht von (knappen) zwei Seiten der/des Studierenden. 45 Integrativ ist das Greifswalder Modell insoweit, als es das Praktikum im regulären Studienplan verankert: In Prozenten ausgedrückt, schlägt es mit 5,4 Prozent bzw. 4,9 Prozent 46 des Arbeitsaufwandes für den B.A.-Studiengang der Philosophischen Fakultät an. Gegenüber Praktika, die außerhalb eines B.A.-Studiengangs erbracht wurden, verhält es sich rigoros ablehnend: Mit der Begründung, sie würden einen Transfer zwischen den im Studium erworbenen Kenntnissen und den beruflichen Arbeitsfeldern nicht leisten und
43
Vgl. z u m Folgenden: Hofmann, Stefanie: „PRO B.A.": Das Praktikum im B.A.-Studiengang an der Philosophischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. In: Schulze-Krüdener, Jörgen/Homfeldt, Hans Günther (Hg.): Praktikum - eine Brücke schlagen zwischen Wissenschaft und Beruf. Neuwied 2001 (Hochschulwesen), 1 6 8 - 1 7 8 und zuvor Erhart, Walter: Bachelor of Arts/Baccalaureus Artium/Master of Arts an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4 6 (1999), H. 4, 6 2 0 - 6 2 7 . Einzelprojekte in den Geisteswissenschaften gibt es darüber hinaus auch an mehreren anderen Universitäten.
44
Abrufbar unter http://www.wissenschaftsrat.de/texte/4418-00.pdf.
45
Für die entsprechenden Bestimmungen siehe die Praktikumsordnung der Philosophischen Fakultät und die
46
Je nachdem, ob die General-Studies-Schwerpunkte aus „Wirtschaft und Recht" oder
Fachmodulprüfungsordnung für den B.A.-Teilstudiengang Germanistik, Greifswald. schaften" gewählt werden oder ob sie aus den „Erziehungswissenschaften" stammen.
„Kulturwissen-
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2. Lernen und Lehren
damit den erklärten Zweck der Berufsfelderkundung nicht erfüllen, werden sie generell nicht angerechnet. Praktika, die im Zusammenhang mit einem B.A.-Studiengang an einer anderen Hochschule absolviert wurden, können nach Prüfung auf eine Entsprechung in Umfang und fachlichen Anforderungen (eventuell auch teilweise) angerechnet werden. Umso mehr muss es daher überraschen, dass die Praktikumsordnung eine relativ unproblematische Ersetzbarkeit von Praktika durch „Alternativangebote" vorsieht: Dass ein zweimonatiger Aufenthalt an einer Hochschule im Ausland oder ein Sprachpraktikum „dem Erreichen der Qualifikationsziele dient",47 wird - auch mit Blick auf die im Bereich der „General Studies" verankerten „Grundlagen der kulturwissenschaftlichen Kommunikation"48 - unschwer zu argumentieren sein. Über die bei Hofmann zitierten „Ermahnungen" (z.B. des B.A.-Studienführers) und die Beratungstätigkeit durch Fachmodulvertreterinnen bzw. Praktikumsbeauftragte hinaus, sind die Studierenden explizit oder implizit auf sich selbst verwiesen: Die Suche nach/die Wahl einer geeigneten Praktikumsstelle obliegt ihnen,49 sie haben selbst einen Transfer zwischen Studium und Arbeitsfeldern zu leisten, und es ist die selbstständige Abfassung eines Praktikumsberichts, die den Studierenden zur Reflexion „verhelfen"50 soll; Lehrveranstaltungen zur Planung, Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Praktika gibt es nicht bzw. sind sie aus der/den Studienordnung/en nicht ersichtlich. Unterstützung kommt vom regionalen Unternehmerverband und damit wesentlich von außen, eine in diesem Zusammenhang genannte Begleitung durch erfahrene Mentorinnen aus der Praxis bleibt unbestimmt.
3.2.1.2. Freiwillige Praktika, Zusatzqualifikationen und Praxismodule am Beispiel der germanistik-relevanten51 Studiengänge an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (inklusive KUBUS) Die zumindest an deutschen Hochschulen weit verbreitete Tendenz, fakultative (RuhrUniversität Bochum) und obligatorische (Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald)
47
Praktikumsordnung der Philosophischen Fakultät, Greifswald, § 3 sowie Fachmodulprüfungsordnung für den B.A.-Teilstudiengang Germanistik, Greifswald, § 2.
48
Erhart, Bachelor of Arts, 621.
49
Die Praktikumsbörse unter http://www.uni-greifswald.de/%7Fdt phil/fsr/festplatte/intro.htm spricht in erster Linie Studierende der Kommunikationswissenschaften an (vgl. dazu den entsprechenden B.A.-Studiengang).
50 Hofmann, „PRO B.A.", 176. 51
Die integrativen B.A.-Studiengänge Medien- und Kulturwissenschaft, Sozialwissenschaften, Linguistik sowie Informationswissenschaft und Sprachtechnologie sehen ein obligatorisches Praktikum vor; aus Gründen der fachlichen Orientierung des Bandes (germanistische Literaturwissenschaft) werden sie hier aber nicht behandelt.
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Rudern statt reden?
Praktika in universitäre und insbesondere in B.A.-Studiengänge aufzunehmen, spiegeln die Germanistik-Studiengänge der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf nur bedingt. Und das, obwohl die Integration von Praxisbezügen in die Studiengänge der Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften im Kontext der Studienreform schon seit Jahren intensiv diskutiert wird - oder vielleicht gerade deshalb. Eine zentrale Rolle im Düsseldorfer Diskurs um Berufsorientierung und -Vorbereitung im Studium kommt der Germanistik zu: In den 1990er Jahren laufen mit Germanistik und Beruf (bis Sommersemester 1993), Praxisorientierte Germanistik (seit 1994) und Germanistisch orientierte Berufsfelderkundung,
kurz: GOß (seit 1995), gleich drei Projektgenerati-
onen. Sie etablieren neben der Vermittlung allgemeiner und germanistisch fundierter Schlüsselqualifikationen vor allem ein einführendes, berufsorientierendes Praxisfelderseminar, Zusatztrainings und die Vermittlung von Praktika - nicht aber das Praktikum selbst - in den/um die klassischen Magisterstudiengänge/n Germanistik;52 dort sind sie auch nach wie vor präsent, u.a. im fächerübergreifenden Wahlbereich. Die „neuen", gestuften Studiengänge gehen diesen Weg nicht weiter bzw. gehen sie ihn anders, als es die Genese universitärer Berufsorientierung an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf erwarten lässt: Weder der mit Wintersemester 2005/06 eingeführte B.A.- noch der seit Wintersemester 2004/05 angebotene M.A.-Studiengang Germanistik schreibt die Absolvierung eines außeruniversitären Praktikums (zwingend) in seinem Curriculum fest. Beide nehmen sich damit aus den Optionen der aktuellen und für die gesamte Fakultät gültigen Bachelor- bzw. Masterprüfungsordnung heraus: Diese sehen in nahezu identischem Wortlaut für einige B.A.- bzw. M.A.-Studiengänge ein fachlich betreutes, durch einen Praktikumsbericht abzuschließendes, in seiner Dauer (4 Wochen bis 3 Monate) und damit auch in der Anrechnung (je 4 Wochen werden mit 2 Semesterwochenstunden bzw. 5 ECTS-Punkten kreditiert) flexibles Berufsfeldpraktikum vor, das in seinen inhaltlichen und formalen Rahmenbestimmungen wie auch seiner Zielsetzung (es sollen „konkrete berufsqualifizierende Fähigkeiten und Handlungskompetenzen" vermittelt werden, um den „Übergang in die Berufswelt [zu] erleichtern]""), nicht aber in seiner (Un-)Austauschbarkeit (das Düsseldorfer Berufsfeldpraktikum kann durch „einschlägige Berufstätigkeiten und 52 Vgl. Hahn, Silke: Geschichte und Konzeption des Studienbereiches „Germanistisch orientierte Berufsfelderkundung" an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. In: Welbers, Ulrich/Preuss, Michael (Hg.): Die reformierte Germanistik: Dokumentation zur Düsseldorfer Studienreform. Düsseldorf 2000, 110. Ich beziehe mich auf die Variante: Germanistik als Haupt- und obligatorisches Nebenfach auf der Grundlage der (Magister-)Studienordnung Germanistik Düsseldorf. Das Praxisfelderseminar der GOB avanciert zur zentralen Einführungsveranstaltung des Moduls KUBUS, siehe dazu weiter unten. 53 Bachelor- und Master-Prüfungsordnung der Philosophischen Fakultät, Düsseldorf, § 13.
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2. Lernen und Lehren
Praxiserfahrungen"54 und damit letztlich nur durch sich selbst ersetzt werden) den Vorgaben des Greifswalder B.A.-Modells entspricht. Was der M.A.-Studiengang Germanistik auf einer Ebene und für das Praktikum als außeruniversitäre praktische Tätigkeit verneint,55 führt er in anderem Kontext (wieder) ein: Studierende des Master-Studienganges müssen „Tätigkeiten als Tutorinnen im Bachelor-Studiengang Germanistik im Umfang von 4 SWS [Semesterwochenstunden] erbringen", 56 für die 4 ECTS-Punkte angerechnet werden. Um wie viel mehr Praktikumsanteil sollte dann - und das ist durchaus als Frage gemeint - ein Studiengang erwarten lassen, der an anderen Hochschulen mit integrierten oder mindestens integrierbaren außeruniversitären Praktika läuft und den die Studieninformation auf der Website des Germanistischen Seminars als „vornehmlich praxisorientiert" charakterisiert, um darüber auch seine Differenzqualität zum „betont forschungsorientiert[en]" 57 M.A.-Studiengang zu begründen? Ein per definitionem
und in praxi gleichermaßen berufs- und damit praxisorien-
tierter B.A.-Studiengang Germanistik als Kern- und Ergänzungsfach legt in seinen studienrechtlichen Grundlagen kein wie auch immer geartetes Praktikum verpflichtend fest.58 Raum für Berufsorientierung schafft er über einen Wahlpflichtbereich von 18 ECTS-Punkten (aus 18 Semesterwochenstunden; im Vergleich: 108 ECTS-Punkte Kernfach, 54 Ergänzungsfach), der - neben Lehrveranstaltungen aus dem Studium Universale, Studienanteilen aus anderen als den gewählten bzw. den am Studiengang beteiligten Fächern/Fakultäten und weiteren Lehrveranstaltungen aus dem Ergänzungsfach - „die zentral von der Fakultät angebotenen Lehrveranstaltungen zum Erwerb von Schlüsselqualifikationen und zur Vorbereitung auf die Berufswelt" 59 vorsieht. Die weitgehende Auslagerung des Praktikums aus dem engeren Fachbereich der Germanistik, aus der Institution des Germanistischen Seminars und aus dem Studienplan des B.A.-Studienganges im Kern- und Ergänzungsfach ist eigentlich eine (Neu-)lntegration; zusammen mit anderen Fächern klinkt sich die Germanistik in ein fakultätsweit und darüber hinaus in einer kooperativen Netzwerkstruktur organi-
54
Ebd., § 13.
55
Zum Wahlpflichtbereich von 12 Semesterwochenstunden vgl. die folgenden Ausführungen zum B.A.-Studiengang.
56
Eine im Übrigen ebenso originelle wie attraktive Idee auch über den engeren Kontext von Praktikum im Studium hinaus. Vgl.: Das Studium des Faches „Germanistik" an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/germ1/materialien/das-stiidiiim-der-qermanistik-an-der-hhiid.pdf.
57
Ebd.; vgl. dazu bzw. dagegen auch den Bereich 4 des M.A.-Studiums Germanistik „Theorie und Praxis Germanistischer Anwendungsfelder" und den dort verankerten Lehrveranstaltungstyp „Praxisseminar".
58 Vgl. die Studienordnung für den B.A.-Studiengang Germanistik als Kern- und Ergänzungsfach, Düsseldorf (in einer zweiten Fassung mit ausführlicher Beschreibung der Studieninhalte). 59
Bachelor-Prüfungsordnung der Philosophischen Fakultät, Düsseldorf, § 12.
189
Rudern statt reden?
siertes Programm zur Berufsorientierung
in den Kultur-
Geistes- und Sozialwissen-
schaften, kurz: KUBUS60, ein. Die Neuorientierung ist in mehrfachen Kontexten zu sehen: Hier sind vor allem zu nennen eine modulare Studienstruktur, die mit vergleichbaren Modulgrößen von 6 bis 10 ECTS-Punkten arbeitet - KUBUS schlägt mit wohltemperierten 8 ECTS-Punkten (aus 6 Semesterwochenstunden) zu Buche61 - , und, was das Praktikum betrifft, ein ganzheitliches Praktikumsverständnis, das sich an der Studienbiografie der Studierenden orientiert und Praxis- bzw. Berufsqualifizierung als „Ganzheit von Praktika, Jobs, Engagement, .Freizeit' usw." 62 fasst; ferner ein wo nicht nach-, so zumindest nicht vorgeordneter Stellenwert, den die Heinrich-Heine-Universität dem Praktikum im Sinne von Praxiserfahrung per se und in Relation zu anderen berufsorientierenden Maßnahmen wie Praxisinformation, Praxisqualifizierung und Praxisreflexion beimisst. Auf diesen lehr- und lernzieldefinierten Eckpunkten steht das KUSC/S-Programm. Ihnen entsprechen die Lehrveranstaltungen oder vielleicht besser: die Lehr- und Lernformen „Praxisfelder" (Seminar über Struktur, Beschäftigungsfelder und Chancen des Arbeitsmarktes), „Praxistrainings" (Aneignung weiterer Kenntnisse und Fertigkeiten), „Praxis" (d.h. Praktikum im Sinne einer außeruniversitären Tätigkeit) und „Praxisforum" (Praxisreflexion in studiengangspezifischen Gruppen); Lehr- und Lernziele, Lehrformen und -phasen definieren zusammen mit einem den Studienverlauf im KUßl/S-Programm dokumentierenden Portfolio und begleitenden qualitätssichernden Maßnahmen (Evaluation) das Praktikum - wenn auch losgelöst von den strengen Vorgaben einer wie auch immer definierten Wissenschaftlichkeit und curricularer Spezifität, wie sie etwa Manfred Hennen (2003) formuliert - als qualifiziertes Praktikum.63
60
2006 soll es in die Konsolidierung und damit in den Regelbetrieb gehen; für einen detaillierten und aktualisierten Zeitplan vgl. zuletzt Welbers, Ulrich: KUBUS. Programm zur Berufsorientierung in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, F. Aus den zahlreichen Publikationen zu KUBUS sei hier nur genannt: Welbers, Ulrich: Das KUBUS-Programm: Berufsorientierung in einer m o d u laren Studienstruktur. In: Ehlert, Holger/Welbers, Ulrich (Hg.): Qualitätssicherung u n d Studienreform. Strategien und Programmentwicklung für Fachbereiche und Hochschulen im Rahmen von Zielvereinbarungen am Beispiel der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Düsseldorf 2004, 3 3 9 - 3 5 5 (auch unter h t t p : / / w w w . und Studienreform 33q-3S5.pdf).
61
Welbers, Ulrich: Berufsorientierung in Hochschulstudiengängen. Ein Praxisprogramm als Studienmodul. In: Berendt, Brigitte/Voss, Hans-Peter/Wildt, Johannes (Hg.): Neues Handbuch Hochschullehre. Beitrag K.3.1. Lieferung Dezember 2002, 14 (CD-ROM-Ausgabe).
62
Ehlert, Holger/Welbers, Ulrich: Vom Praktikum zur Praxis: Zur Rolle von Praxiserfahrung in modularisierten Studienprogrammen zur Berufsorientierung. In: Friedrich, Horst/Schobert, Berthold (Hg.): Praxisbezug und qualifizierte Praktika zur Berufsorientierung im geisteswissenschaftlichen Studium. Bergisch Gladbach 2003 (= Wirtschafts- und Berufspädagogische Schriften Bd. 30), 143f.
63
Hennen, Manfred: Praktika in universitären Studiengängen. In: Friedrich, Horst/Schobert, Berthold (Hg.): Praxisbezug und qualifizierte Praktika zur Berufsorientierung im geisteswissenschaftlichen Studium. Ber-
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4. Perspektiven einer Berufs- und Praxisorientierung in den „neuen" Germanistik-Studiengängen an der Universität Wien 4.1. Fakultatives Praktikum Die Verankerung eines fakultativen Praktikums im kommenden B.A.-Studienplan Germanistik ist für die Universität Wien durchaus denkbar, um nicht zu sagen: wahrscheinlich. Freiwillige Praktika sind aus zwei der drei in Österreich bereits eingerichteten germanistischen B.A.-Studiengänge bekannt, sie sind völlig unproblematisch in ihrer Einführung - ein entsprechender Passus im Studienplan ist rasch formuliert - und, was in diesem Zusammenhang vielleicht am schwersten wiegt: Sie verpflichten zu nichts oder zumindest zu nichts weiter als zu einer knappen Festlegung von Umfang/Dauer, Operationalisierbarkeit und Bewertung in ECTS-Punkten (siehe oben). Rein inhaltlich geht ein um freiwillige Praktika ergänzter Studienplan kaum über das hinaus, was durch die allgemeinen Bestimmungen des UG 2002 (§ 78) auch jetzt schon möglich wäre (Konjunktiv deshalb, weil die Option für die Anrechnung außeruniversitärer Tätigkeiten in der Regel weder von Studierenden- noch von Lehrendenseite wahrgenommen wird). Indem er zumindest formale Kriterien festlegt - über qualitative Aspekte wie Facheinschlägigkeit (Klagenfurt) und Wissenschaftlichkeit (Graz) wird zu diskutieren sein64 - , vereinfacht er immerhin das Procedere für eine Anrechnung. Wichtiger ist, dass ein Curriculum, das Praktika (wenn auch nur als Möglichkeit) ausdrücklich vorsieht, mit dem Stellenwert des Praktikums auch die Rolle der Studierenden anders definiert: Anstatt (durchaus im negativen Sinn) Antragstellerinnen zu sein, haben sie - immer innerhalb eines durch den Studienplan zu definierenden Rahmens - nunmehr Rechtsanspruch auf die Anrechnung außeruniversitärer Praxis. In diesem Sinn muss die Berücksichtigung fakultativer Praktika in neu zu erstellenden Studienplänen als Minimalforderung gelten; ohne sie zu fahren, hieße die bildungsbiografische Realität der Studierenden65 zu leugnen, hieße die immer lauter
gisch Gladbach 2003 (= Wirtschafts- und Berufspädagogische Schriften Bd. 30), 23. Zum Begriff der bzw. zur Forderung nach qualifizierten Praktika vgl. u.a. Friedrich, Horst/Kiel, Volker: Qualifizierte Praktika. In: Friedrich, Horst: Berufsorientierende Projektarbeit im Studium. Bergisch-Gladbach 2002 (= Wirtschafts- und Berufspädagogische Schriften Bd. 26), 9 1 - 1 0 1 , und Friedrich, Horst: Praxisbezug und qualifizierte, berufsorientierende Praktika - Begründung und Überblick zur Konzeption. In: Friedrich, Horst/Schobert, Berthold (Hg.): Praxisbezug und qualifizierte Praktika zur Berufsorientierung im geisteswissenschaftlichen Studium. Bergisch Gladbach 2003 (= Wirtschafts- und Berufspädagogische Schriften Bd. 30), 1 - 8 . 64 Zu Aspekten der Facheinschlägigkeit siehe 4.2. 65 Zur Ambivalenz dieses Arguments siehe weiter unten.
Rudern statt reden?
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werdenden Forderungen von Bildungspolitik, -Ökonomie und Arbeitsmarkt zu überhören, hieße die Entwicklungen in der aktuellen (Hochschul-)Didaktik zu negieren und letztlich auch die gesetzlich verankerte/4usbildungsverpflichtung der Universitäten zu Ignorieren.
4.2.
Pflichtpraktikum
Von der „Einstiegsversion" ist es, zumindest auf dem Papier, nur ein kleiner Schritt zur „Vollversion". Obligatorische Praktika sind ebenso rasch eingeführt wie fakultative, allerdings verpflichten sie auch stärker bzw. sollten sie das - und das bezieht sich keineswegs nur auf die Studierenden. Pflichtpraktika benötigen Raum Im Studienplan, anders ausgedrückt: Sie „ k o s t e n " ECTS-Punkte. Je nach Dauer und „Dotier u n g " schlagen sie mit 4,5 bis 6 ECTS-Punkten (4 Wochen; Graz bzw. Klagenfurt) bis doppelt so viel (12 ECTS-Punkte für 9 Wochen, Greifswald) zu Buche. Das ist zunächst eine quantitative Aussage Im Hinblick auf einen Gesamtstudienumfang von 180 ECTS-Punkten und eine Gesamtdauer von 6 Semestern bis zum ersten berufsbefähigenden Studienabschluss; das Ist darüber hinaus und angesichts eines Splittings des B.A.-Studienganges in zwei oder mehrere Fächer/Fachmodule aber auch unter fachwissenschaftlichem Aspekt und damit qualitativ zu sehen. Mit anderen Worten: Was ist das „Germanistische" im B.A.-Studium Germanistik, w e n n wie am Beispiel von Greifswald im Schnitt nur mehr 60 ECTS-Punkte66 aus dem Fachstudium kommen? Für Wien sind derzeit drei Modelle (samt einiger Varianten innerhalb dieser) in Diskussion: Typ A, das „Ein-Fach-Modell" (180 ECTS-Punkte aus dem eigenen Fach), Typ A 2, das so genannte „Major-Minor-Modell" (120 ECTS-Punkte aus dem eigenen Fach + 60 ECTS-Punkte aus Wahlfach[modulen]), und Typ B, das „Fifty-Flfty-Modell", eine Kombination von zwei Studienfächern mit je 90 ECTS-Punkten. 67 Es ist zu erwarten, dass das Votum für eines dieser Modelle auch die Entscheidung um eine Einrichtung von Praktika in B.A.-Studienplänen mit bestimmt. Dass Pflichtpraktika Innerhalb von Studienplänen Platz beanspruchen, gilt umso mehr, wenn sie im Sinne der Qualitätssicherung durch einschlägige Lehrveranstaltungen In den Phasen der Vorbereitung,
66
57 bzw. 63, je nach Schwerpunkt in den „General Studies", vgl. Fachmodulprüfungsordnung f ü r den B.A.Teilstudiengang Germanistik, § 3 und 5. In Greifswald werden zwei im Wesentlichen frei wählbare und prinzipiell gleichwertige Fächer/Fachmodule zeitversetzt über je 4 Semester plus „General Studies" studiert, die Aufteilung im B.A.-Studiengang Germanistik in Düsseldorf sieht dagegen 108 ECTS-Punkte im Kernfach, 54 im Ergänzungsfach und 18 im Wahlpflichtbereich vor.
67
Zu den Modellen, ihren Varianten und der Ersetzbarkeit einzelner Blöcke vgl.: Arbeitspapier, 1 1 - 1 5 .
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der Durchführung und der Nachbereitung begleitet werden. Ob es nun die derzeit für Wien diskutierten „Mantelbakkalaureate" 6 8 werden oder nicht: Die Einführung gestufter Studiengänge, respektive eines B.A.-Studiums Germanistik, ist allemal geeignet, eine zumindest in Wien noch gar nicht richtig begonnene und in Graz und Klagenfurt nicht eben mutig, aber zugegebenermaßen an der Realität (sprich: ihren Ressourcen) geführte und entschiedene Diskussion um (Fach-)Wissenschaft und/oder Praxis (neu) aufleben zu lassen. Auch abseits von Grundsatzdebatten ist die Einführung verpflichtender Praktika kritisch zu überdenken, etwa mit Blick auf aktuelle Studierendenbiografien. Ein über die Kategorien von Wissenschaftlichkeit und/oder Curriculumspezifität definiertes Praktikum kann paradoxerweise gerade für jene Studierenden Probleme schaffen, die als Voll- oder Teilzeitbeschäftigte mitten in der Praxis stehen: Da sie häufig „fachfremden" Tätigkeiten nachgehen (müssen), wird ihnen ihre praktische Erfahrung in der Regel nicht auf das Curriculum angerechnet werden. 69 Ein Pflichtpraktikum wäre für berufstätige Studierende - und das ist bekanntlich der überwiegende Teil - jedenfalls eine deutliche Mehrbelastung. Analoges gilt für Studierende mit Betreuungspflichten (in der Regel Frauen). Für sie wäre eine Ersetzbarkeit des Praktikums durch alternative Formen der Leistungserbringung, wie sie auch das Greifswalder Modell vorsieht, jedenfalls zu überlegen und auch im Studienplan zu verankern. Obligatorische Praktika in allen oder einzelnen Fächern der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät stellen eine Massen-Universität wie Wien aber auch aus anderen Gründen vor Probleme. Seit Jahren sind die Studierendenzahlen hoch, und sie steigen auch nach der Einführung von Studiengebühren weiter: Allein die Studienrichtung Deutsche Philologie Diplom zählte im Wintersemester 2004/2005 exakt 2309 Studierende.70 Grob gerechnet, entsteht dadurch ein jährlicher Bedarf von hunderten mehr oder weniger germanistik-spezifischen Praktikumsplätzen. Dem im aktuellen Diplom-Studienplan festgelegten Qualifikationsprofil bzw. Berufsbild der Absolven-
68
Anstatt diversifizierter Bakkalaureate soll für mehrere, nach welchen Kriterien auch immer als „ f a c h n a h " definierte und im Einzelnen noch zu benennende (und w o h l auch zu argumentierende) Studien eine Art Grundbakkalaureat (das so genannte Mantelbakkalaureat) eingerichtet werden, das möglichst viele Magisterstudien bedienen soll
69 70
Vgl. dazu exemplarisch die rigorose Praktikumsordnung Greifswald. Dazu k o m m e n 1118 Lehramts-Studierende und 107 Doktorandinnen aus beiden Studienrichtungen; an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald haben im Vergleichszeitraum 914 Studierende Germanistik im Erstfach belegt; Zweitfach-Inskribierte werden nicht ausgewiesen. Vgl. Entwicklungsplan, 8 bzw. Jahresbericht der Ernst-Moritz-Arndt-Universität 2004/05 http:/Avww.uni-greifswald.de/fileadmin/mediapool/3 ganisierpnA/prwaltung/Dez2/Jahresbpricht7004 OS.pdf.
or-
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tlnnen folgend, sind das Aufgaben in Wissenschaft, Forschung und Lehre [sie], Arbeiten mit dem Buch (Buchhandel, Verlage, Lektorate, Bibliotheken und Archive), im Bereich elektronischer Sprach- und Datenverarbeitung (Text-Digitalisierung, Text-Layout, Web-Design), Tätigkeiten im Journalismus (Printmedien, Rundfunk, Fernsehen) sowie in künstlerischen (Belletristik, Übersetzung, Werbung) und kulturellen Aufgabenfeldern (Museum, Theater, Konzertbetrieb, Film).71 Für die BA.- und M.A.-Studiengänge der Deutschen Philologie und ihre Module sind entsprechende Studienziele („Learning Outcomes") erst zu formulieren. Selbst bei einer weiteren Auffächerung traditioneller Berufsfelder für Germanistinnen und unter Berücksichtigung des österrreichweit und darüber hinaus (Stichwort: EU-Osterweiterung) sicherlich günstigen Hochschulstandortes Wien72 ist damit zu rechnen, dass geeignete Praktikumsstellen knapp werden: das insbesondere dann, wenn auch in anderen Studienrichtungen wie etwa in der Musik-, der Sprach- und Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, in den Philologien (Anglistik, Romanistik, Slawistik), in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, in der Geschichtswissenschaft und anderen Praktika etabliert werden (sollen). Eine Einführung von Pflichtpraktika in den kommenden B.A.- und M.A.-Studiengängen könnte somit für Studierende eine bislang nicht erlebte Konkurrenzsituation und unter Umständen sogar die Verlängerung ihrer Studienzeit bedeuten. Für das Institut/die Fakultät/die Universität entstehen durch die Einführung obligatorischer Praktika neue Anforderungen in den Bereichen Infrastruktur und Personal. Als richtungsweisend für eine universitätsweite Praxis-Initiative kann das gemeinsam von der Universität Wien und UNITRAIN betriebene Career Center73 gelten. Es wurde im Herbst 2002 etabliert, um Studierende für den Berufseinstieg vorzubereiten und eine Vernetzung von Studierenden, Universität und Wirtschaft zu forcieren. Im Bereich der Praktika bietet es neben allgemeinen Informationen und individueller Beratung (Bewerbungstipps, Karriere-Coaching, Workshops und Karriere-Talks mit Expertinnen) auch die Möglichkeit einer spezifizierten Suche nach Jobs und Praktika. Es wäre durch Äquivalente auf Instituts- und/oder Fakultätsebene zu ergänzen. Ungleich größer sind die Anforderungen, wenn sich die Tätigkeit nicht auf organisatorische
71
Vgl. Studienplan Deutsche Philologie, Diplom, 1.3. Das Kriterium einer wie auch immer definierten „Wissenschaftlichkeit" ist damit nicht notwendigerweise erfüllt und reduziert die Zahl potenzieller Praktikumsplätze weiterhin.
72 Vgl. auch die starke Präsenz von Auslandspraktika in diversen Service-Einrichtungen, z.B. http://www.univie. 73 Universität Wien. Career Center, 1090 Wien, Berggasse 11/6, http://www.unitrain.at
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und administrative Aufgaben wie etwa die Unterstützung bei der Vermittlung von Praktikumsplätzen und die Durchführung des Kreditierungs- bzw. Zertifizierungsverfahrens beschränkt, sondern wenn damit auch ein erweitertes und die Phasen der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung begleitendes Lehrveranstaltungsprogramm gemeint ist, das seinerseits qualifizierter Lehrveranstaltungsleiterinnen bedarf. Dem stehen rückläufige Zahlen im Bereich des wissenschaftlichen Personals, das nach wie vor den Hauptanteil der Lehrenden stellt, und ein weder ausgearbeitetes noch verbindliches Konzept für die Aus- und Weiterbildung von Hochschullehrenden in Österreich entgegen.74
4.3. Alternative Praxis-Modelle Für die Etablierung freiwilliger oder obligatorischer Praktika in Hochschulstudien ist die Einführung von B.A.- und M.A.-Studiengängen kaum mehr als ein äußerer Anlass; für andere Modelle einer Berufs- und Praxisorientierung im Studium sind sie bzw. das Organisationsprinzip der Modularisierung dagegen notwendige Voraussetzung. Modularisierte Studiengänge75 stellen auch Chancen für die Einlösung des berufsqualifizierenden Charakters von Hochschulstudiengängen - u.a. über Praktika - bereit. Zwar hat sich Wien noch für keines der oben genannten Curricularmodelle entschieden; mit der Festlegung der Module auf einen Umfang von 5 bis 15 ECTS-Punkten bzw. auf eine Dauer von ein bis zwei Semestern (alles Weitere liegt unter Berücksichtigung der „Studierbarkeit" bei den einzelnen Curricula)76 ist aber für die B.A.-Studiengänge auf Modul-Ebene ein Diskussionsrahmen geschaffen, der - wie die Ergänzung der Pflichtmodule um Wahlbereiche - für alternative Modelle wie KUBUS prinzipiell offen ist. Was KUBUS gerade für die aktuellen „Wiener Verhältnisse" besonders attraktiv macht, ist seine Polyvalenz. Da ist zunächst einmal die Mehrwertigkeit des Programms im Hinblick auf unterschiedliche Studiengänge. In Düsseldorf sind es die „traditio-
74 Zur hochschuldidaktischen Qualifizierung vgl. die Beiträge in: Brendel, Sabine/Kaiser, Karin/Macke, Gerd (Hg.): Hochschuldidaktische Qualifizierung. Strategien und Konzepte im internationalen Vergleich. Bielefeld 2005 (= Blickpunkt Hochschuldidaktik Bd. 115) sowie Welbers, Ulrich (Hg.): Hochschuldidaktische Aus- und Weiterbildung. Grundlagen - Handlungsformen - Kooperationen. Bielefeld 2002 (= Blickpunkt Hochschuldidaktik Bd. 110). Für die Fortbildungsangebote der Universität Wien (Personalentwicklung) vgl. http:// 75 Zur Modularisierung vgl. u.a. Releasing the European Higher Education Area. Communiqué of the Conference of Ministers responsible for Higher Education. Berlin 2003 unter www.bologna-berlin2003.de/pdf/ Communique! .pdf sowie den Beitrag von Harro Müller-Michaels in diesem Band. 76 Vgl. Arbeitspapier, 9.
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nellen" Magister-, die B.A.- und M.A.-Studien; an der Universität Wien werden - das Lehramt nicht eingerechnet - zumindest über einen kurzen Zeitraum allein für die Deutsche Philologie an die zehn Studiengänge zu administrieren sein: Die AHStGStudienpläne (Deutsche Philologie als Erst- und Zweitfach) laufen mit 30.11.2008 aus, die mit Wintersemester 2002/03 eingerichteten Studien nach UniStG (Deutsche Philologie Diplom Einzelstudium) werden weitergeführt, und die B.A.-/M.A.-Studienprogramme (derzeit wird von einem Bakkalaureat und fünf Magisterstudien Germanistik gesprochen) müssen spätestens mit Wintersemester 2008/09 eingeführt sein. Praxismodule wie KUBUS oder auch Teile daraus könnten über den freien Wahlbereich in jeden dieser Studiengänge (auch in die bestehenden) integriert werden. Zur Flexibilität des Programms kommt seine Funktionalität für eine Vielzahl an Studienfächern: in Düsseldorf sind es jene einer im Vergleich zu österreichischen Universitäten deutlich breiteren Philosophischen Fakultät; für Wien wäre der Rahmen für eine Partizipation einzelner Fächer bzw. Fächergruppen nach unterschiedlichen strukturellen (insbesondere Fakultät/en - lnstitut/en - Studienprogrammleitung/en) und inhaltlichen Kontexten, eventuell auch gemeinsam mit den von den Fachwissenschaften nach wie vor skeptisch beurteilten Mantelbakkalaureaten, zu verhandeln. Ein erster Schritt in Richtung eines berufsorientierenden Service-Moduls könnte über transdisziplinäre informierende und qualifizierende Lehrveranstaltungen vom Format eines Praxisfelderseminars (Überblick über Berufsfelder für Kulturwissenschaftlerlnnen. Kennenlernen konkreter Berufsbiografien durch Referentinnen aus unterschiedlichen Berufsfeldern, eventuell auch Training für schriftliche Bewerbung und mündliches Vorstellungsgespräch) und eines Praxistrainings (Erwerb von Zusatzqualifikationen aus Bereichen wie Betriebswirtschaft, Personalwesen, Marketing, Management, EDV etc.) erfolgen; in Bezug auf weiterführende Praxisprogramme ziemlich autonom, können sie entweder als frei wählbare Lehrveranstaltungen oder als „Minimalmodul" von - j e nach Lehrveranstaltungstyp und „Workload" - 5, maximal 6 ECTS-Punkten im Wahl-, theoretisch auch im Pflichtbereich kommender B.A.- und M.A.-Studiengänge platziert werden. Ein dahingehendes Einvernehmen der beteiligten Studienrichtungen wäre rechtzeitig, d.h. noch in der Entwicklungsphase der Curricula, herzustellen. Für eine Integration von Praktika im Sinne von außerhalb der Hochschule zu leistenden bzw. geleisteten praktischen Tätigkeiten - und um diese geht es ja in erster Linie - sind verschiedene Szenarien denkbar: Da ist zunächst einmal eine Verortung im Bereich der Freien Wahlfächer (wie bereits mehrfach beschrieben) oder im Wahlmodul-Bereich mit neuer, additiver Anbindung an das (siehe oben) bzw. an ein ähnliches Basis-Praxis-Modul - beide Male handelt es sich um freiwillig zu
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erbringende und daher prinzipiell durch andere Lernformen ersetzbare Leistungen, die - jede für sich - auch entsprechend zu kreditieren sind. Darüber hinaus steht die Variante eines - für die Teilnehmerinnen an einem erweiterten Praxismodul wie etwa KUBUS und nur für diese - obligatorischen Praktikums im Raum. Die (Neu-)Kontextualisierung durch ein (mindestens) mit 8 bis 10 ECTS-Punkten zu kreditierendes Studienmodul, die konkreten Angebote in den Phasen der Vorbereitung (u.a. Unterstützung bei der Akquise von Praktikumsplätzen), der Durchführung (konsequente Praktikumsbegleitung) und der Reflexion (z.B. Dokumentation durch Portfolio, Nachbereitung der Praxiserfahrung in Gruppen) scheinen zusammen mit einer durchaus vorstellbaren, vielleicht sogar geratenen Beschränkung der Teilnehmerinnenzahl geeignet, einige der unter 4.2. diskutierten Probleme verpflichtender Praktika im Allgemeinen und im Germanistik-Studium im Besonderen zu relativieren. Das Düsseldorfer Modell hat eine mehr als vierjährige Phase der Entwicklung, Erprobung, Strukturbildung, Implementierung und Konsolidierung bei laufender Evaluation hinter sich, es kooperiert mit unterschiedlichen Partnerinnen77 und ist in den erweiterten Kontexten von hochschuldidaktischer Professionalisierung, von Organisationsentwicklung und Personalentwicklung sowie von Öffentlichkeitsorientierung und corporate identity verortet. Was die Qualität von KUBUS als universitäres Programm zur Praxisorientierung ausmacht, steht gleichzeitig (s)einer Realisierung entgegen: An eine Etablierung dieses oder eines gleichzuhaltenden Modells an der Universität Wien ist, wenn überhaupt, bestenfalls mittel- bis langfristig zu denken. Auch wenn die studienarchitektonischen Voraussetzungen mit der Umstellung auf modularisierte Studiengänge in absehbarer Zeit geschaffen sein werden, bleiben die infrastrukturellen, die institutionellen und die personellen Anforderungen hoch. Wenn also die Universität Wien buchstäblich „nichts übrig" hat für die Verankerung von Praxisprogrammen und Praktika insbesondere im Bereich der philologisch-kulturwissenschaftlichen Studiengänge, so drückt das nur in zweiter Linie eine Werthaltung gegenüber (berufs)praxisorientierten und -orientierenden Formen des Lernens aus; primär ist es eine Ressourcenfrage.
77 Hochschulteam der Agentur für Arbeit, KUBUS-Programmteam, KUBUS-Koordinierungsstelle, Praxismoderatorinnen, Studierende.
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Rudern statt reden?
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