Philosophie lehren: Ein Buch zur philosophischen Hochschuldidaktik 9783787336395, 9783787336388

Frage: Haben Sie auch im Studium sterbenslangweilige Veranstaltungen in Philosophie besucht? Und das, obwohl Sie mit Beg

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German Pages 214 [215] Year 2019

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Philosophie lehren: Ein Buch zur philosophischen Hochschuldidaktik
 9783787336395, 9783787336388

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PHILOSOPHIE LEHREN – EIN BUCH ZUR PHILOSOPHISCHEN HOCHSCHULDIDAKTIK – Sebastian Luft

Sebastian Luft

Philosophie lehren Ein Buch zur philosophischen Hochschuldidaktik

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3638-8 ISBN eBook: 978-3-7873-3639-5 www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2019. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: 3W+P GmbH, Rimpar. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Auftakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Was macht eine gute Hochschullehrerin aus? Lehren am Gymnasium – Lehre in der Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Zum Spezifikum der Philosophie in der Hochschullehre . . .

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3. Wie lehre ich Philosophieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie . . . . . . . 135 5. Konkrete Ratschläge zur Selbstverbesserung . . . . . . . . . . . . . 181 Anhang 1: Analytische und kontinentale Philosophie in der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Anhang 2. Zur ewigen Orientierung an den USA . . . . . . . . . . . 205

Auftakt

I

n einem kürzlich veröffentlichten Interview schreibt Frau Professorin Michelle Catalano (USA) das Folgende: »Let’s be real – you can read all the SOTL [scholarship of teaching and learning] in the world and still be a shitty performer in front of students. The science of teaching is somewhat well-developed but the art of teaching is another story. I think there is always so much to learn about the art of teaching – enough of it to continue honing and adapting and keeping us consumed for an entire career. Plus, when it comes to teaching, there is just always room to be more knowledgeable, more charismatic, more everything! And, a lot of it is basic stuff – being a good storyteller, fostering inclusive spaces, and so on. Do you want to know what I think is one secret of excellence in the art of teaching? I’ll tell you! The best teachers are the ones who really understand that excellence in teaching boils down to how deeply you are willing to invest in authentic human connection with students. And, guess what? They don’t show us how to do that in grad school… right?« 1

In diesen etwas flapsig hingeworfenen Bemerkungen steckt aus meiner Sicht viel Wahres. Der Gegensatz, auf den Prof. Catalano abhebt, ist der zwischen der Gelehrsamkeit, die man aus Büchern lernen kann, und der Kunst des Lehrens, die uns kein Buch beibringen kann, sondern die nur vorgeführt und gelebt werden kann. Die »authentische menschliche Begegnung mit und Beziehung zu Studentinnen2« ist etwas, worin man aktiv investieren muss, will man Erfolg haben. Wie das geschehen kann, soll hier vorgestellt werden – in einem Buch, das ist mir bewusst. Aber dieses Buch ist nicht primär als ein fachwissenschaftlicher Beitrag zur Fachdidaktik gedacht, sondern als ein Bericht, der die vielfachen Erfahrungen schildert, die ich und zahlreiche meiner Kolleginnen gemacht haben. Wenn Sie Interesse haben, hieraus etwas für sich zu lernen, treten Sie bitte ein! Zu finden auf: https://www.whatisitliketobeaphilosopher.com, gepostet am 26. Oktober 2018. 2 Zur durchgängigen Verwendung des generischen Femininums siehe unten, S. 21. 1

Einleitung

Wozu dieses Buch, und für wen? Frage: Haben Sie auch in Ihrem Studium sterbenslangweilige Veranstaltungen in Philosophie besucht? Und das, obwohl Sie mit Begeisterung für dieses Fach brannten, seitdem Sie als Teenager Ihre ersten Bücher großer Philosophinnen verschlungen haben? Spätestens im Studium haben Sie sich in oftmals heillos überfüllten Seminaren gelangweilt oder waren aus anderen Gründen frustriert, haben aber geglaubt, das müsse so sein, weil das in der »Wissenschaft« eben so sei? Schließlich war man an der Hochschule. Kommt Ihnen das bekannt vor? Zur Zeit meines Studiums waren die (fast ausschließlich männlichen) Professoren stolz darauf, wenige Hörer zu haben bzw. immer weniger, je weiter das Semester vorangeschritten war. Wer viele Teilnehmer hatte, galt als »populär«, und populär oder beliebt zu sein oder gar sein zu wollen als der Tod der Wissenschaft. So wurde es mir suggeriert und so habe ich es als junger Student verinnerlicht. Als ich meine erste Lehrveranstaltung abhielt, verfiel ich demselben Irrglauben. Dass Philosophie im positiven Sinne populär sein und Spaß machen kann, dass man in der Lehre die Leidenschaft für das Denken spürbar und für Studentinnen erlebbar machen kann, auf diese Idee kam ich leider erst viel später (zweifellos angeregt durch inspirierende Dozentinnen). Dieses Buch ist in der festen Überzeugung geschrieben, dass dies so ist – dass Philosophie ein aufregendes Fach ist, das Freude bereitet, bzw. dass die bemitleidenswerten Zustände so nicht sein müssen. Philosophie zu lehren ist eine der intellektuell befriedigendsten Tätigkeiten, die man sich vorstellen kann, abgesehen davon, dass dies eine große Ehre ist und in einem enormen Maß Verantwortung erfordert. Aber gut Philosophie zu lehren, zumal an der Hochschule, ist eine hohe Kunst, und die wenigsten beherrschen sie. Dieses Buch soll Anleitungen geben und Abhilfe leisten. Für wen habe ich dieses Buch geschrieben? Dieses Buch ist für all die gedacht, die der Meinung sind, dass die philosophische Lehre Spaß machen kann, aber auch für die, die noch nicht dieser Meinung sind 9

und die ich hiermit davon überzeugen möchte. Schließlich ist es auch für die geschrieben, denen ihre eigene akademische Lehre wichtig ist und die deren Qualität verbessern und an sich arbeiten möchten, also für solche, die sich in ihrer Lehre voranbringen wollen, nicht um sich selbst populärer zu machen, sondern weil es ihnen um die Sache geht und weil sie ihren Beruf (der ja eine Berufung ist) ernst nehmen und das Beste aus sich herausholen wollen. Das setzt voraus, dass sie sich der Schwierigkeit, Komplexität und nötigen Verantwortung bewusst sind, die die Lehre dieses Faches erfordert. Man mag zwar in die Philosophie »stolpern«, aber – so haben Sie für sich eingesehen – man muss auch lernen, den aufrechten Gang zu gehen, oder anders gesagt: Es lohnt sich, auch auf diesem Gebiet Ihres Berufes professionell zu sein – ohne dabei die Freude und die Leidenschaft auf dem Altar der »hehren Wissenschaft« opfern zu müssen. Ich habe dieses Buch weiterhin geschrieben, weil ich der Meinung bin, dass die Hochschuldidaktik der Philosophie aus gleich mehreren Gründen von großer Bedeutung ist. Sie ist – abgesehen von Ihrer professionellen Entwicklung als Hochschullehrerin – wichtig für das Fach, sowohl in der Außendarstellung als auch für die Studentinnen, die das Recht haben, gute Lehre geboten zu bekommen. Man kann den Schaden, den man dem Fach antut, wenn man es nicht mit der besten Lehre (re-)präsentiert, kaum beziffern. Und schließlich ist die Disziplin der philosophischen Hochschuldidaktik, bis auf wenige Ausnahmen, im deutschen Sprachraum kaum entwickelt – ganz im Gegensatz zur schulischen Fachdidaktik –, und dass zwischen Fachdidaktik und Hochschuldidaktik ein großer Unterschied besteht, begründe ich gleich im ersten Kapitel. Ganz zu Anfang mag es erlaubt sein, kurz meine persönliche Intention, warum ich dieses Buch geschrieben habe, zu verraten. Ich habe vor über zwei Jahrzehnten angefangen, mich für die philosophische Hochschuldidaktik zu interessieren, nicht, weil ich mich für einen hervorragenden Lehrer halte, sondern aus der Not: weil ich an mir selbst Defizite wahrnahm und das Gefühl nicht loswurde, Fehler über Fehler zu begehen und in dem kalten Wasser, in das ich gestoßen wurde, nur mühsam schwimmen zu lernen. Als ich merkte, dass ich nicht allein bin, aber viel zu wenig unter Kolleginnen darüber geredet wird und noch viel weniger junge Lehrende richtig auf ihre Rolle vorbereitet werden, habe ich angefangen, darüber nachzudenken, wie 10

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man diese Probleme angehen könnte. Also auch Ihnen, lieber Leserin, möchte ich in Ihrem Wunsch, eine ausgezeichnete Hochschullehrerin zu werden, zurufen: Sie sind nicht allein! Schließlich möchte ich nicht verhehlen, dass ich, als Deutscher, nur zeitweise an deutschen Hochschulen gelehrt habe, überwiegend hingegen im Ausland, vor allem in den USA. Dort ist die Hochschuldidaktik eine etablierte Disziplin und das Lehrwesen wird professionell gesteuert, etwa durch obligatorische Trainee-Programme für junge Dozentinnen und Evaluationen. Vieles, was in den USA vorgestellt und durchgeführt wird, wird in Deutschland auch probiert und von den Lehrenden nolens volens mitgetragen, weil es – wie etwa die Umstellung der generischen Systeme auf die B.A.– und M.A.-Abschlüsse – Teil der Bologna-Reform geworden ist, die das Ziel hat, Europa bildungspolitisch zu vereinigen, womit in vielen Fällen eine »Amerikanisierung« der Systeme einhergeht. Ich bin nicht der Meinung, dass alles, was aus den USA kommt, besser ist, und daher ist es nicht meine Absicht, besserwisserisch daherzukommen. Aber ich glaube doch, dass man vieles von den USA lernen kann, zumal man sich ihrem Einfluss gerade auch im Hochschulbereich nicht entziehen kann. Ich meine aber auch, dass man vieles besser nicht imitieren sollte. Billiges Polemisieren und einseitiges Ablehnen hilft in der Regel nicht. Ich bemühe mich daher um ein differenziertes Bild und sehe mich in einer Vermittlerrolle zwischen beiden Lehrkulturen. In dieser Rolle reihe ich mich in die Tradition von Marc Roche ein, dessen – sehr empfehlenswertes – Buch über das Hochschulwesen der USA und was man davon in Deutschland übernehmen sollte (und was nicht), ebenfalls im Meiner Verlag erschienen ist.1 Der Einfluss der USA auf die deutsche Wissenschaftsszene soll hier, spezifisch im Hinblick auf die Hochschuldidaktik, mit reflektiert werden (vgl. auch den Anhang Nr. 2).

Vgl. Mark Roche, Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten. Hamburg: Meiner, 2014. Roche, ursprünglich Deutscher, schrieb das Buch nach seiner Erfahrung als Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät (Dean of the College of Arts and Sciences) an der Notre Dame University. Das Buch wurde zunächst auf Englisch geschrieben und dann übersetzt. 1

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Weiterhin ist dieses Buch für ein philosophisches Publikum geschrieben. Das war meine Intention, die sich aber – wie ich im Laufe des Schreibens merkte – nicht vollständig durchhalten ließ, weil sich vieles, was ich hier ausführe, natürlich nicht auf die Lehre der Philosophie beschränken lässt und nicht nur für diese Disziplin gilt. Aber es gibt meines Erachtens nichtsdestotrotz Probleme und Herausforderungen in der Lehre der Philosophie, die der Philosophie eigen und für sie spezifisch sind. Philosophie ist in vielerlei Hinsicht etwas radikal anderes als andere Wissenschaften; sie lässt – anders als viele Disziplinen – die Wenigsten kalt, sondern, im Gegenteil, sie rüttelt für viele an den Grundfesten ihrer tiefsten und ältesten Überzeugungen. Daraus entstehen in der Lehre zahlreiche herausfordernde Probleme und potentiell intensive und auch kontroverse, zum Teil auch schwierige Situationen, mit denen Sie umgehen müssen. Hierauf muss man vorbereitet sein: Mit einer richtigen Verhaltensweise kann man damit, im besten Fall, solche Situationen entschärfen, sie zu pädagogischen Highlights umbiegen und aus ihnen »a teachable moment« 2 machen, wie man im Englischen sagt. Schließlich ist noch zu betonen, dass ich für nichts, was ich hier vorstelle, Originalität beanspruche. Was ich berichte und empfehle (oder auch nur neutral vorstelle, zum Teil auch kritisiere), entspringt zwar auch meiner eigenen Praxis, aber vor allem zahllosen Gesprächen mit Kolleginnen aus aller Welt und Beobachtungen ihrer Vorgehensweisen. Die Tipps und Vorschläge, die ich hier vorstelle, sind zum größten Teil von ihnen, und ich leite sie hier gewissermaßen nur weiter, wenn auch in komprimierter, systematischer und synthetischer Form. Und ich setze hinzu, dass ich hier nichts vortrage mit dem Anspruch, dass es so sein muss oder dass man es genau so machen muss. In manchen, eigentlich sehr wenigen Punkten habe ich feste Meinungen, die über Jahre gewachsen sind und die ich auch standhaft vertrete. Die meisten Dinge jedoch, die hier vorgestellt werden, sind wohlmeinende Vorschläge, wie man es machen kann und probieren mag, mehr nicht, aber auch nicht weniger. In der Lehre hat man es mit Menschen und verschiedenen Menschengruppen zu tun. Deshalb Ich verwende hier und im Folgenden öfters den englischen Begriff, weil mir kein passender deutscher einfällt und weil ich Ihnen das Wortungetüm »kairotischer Lehraugenblick« ungern zumuten möchte. 2

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kann es keine vorgefertigten Schemata oder Methoden geben, sondern es ist unabdingbar, sich sorgfältig in diese Gruppen und ihre Teilnehmer einzufühlen. Dieses Einfühlungsvermögen ist das, was die ausgezeichnete Hochschullehrerin (jeder Disziplin übrigens) auszeichnet. Dass dieses Buch aus der erlebten Praxis stammt, soll man schließlich auch daran erkennen, dass ich mich bemüht habe, so wenig »wissenschaftlich« wie möglich zu schreiben; daher sind viele Punkte mit Beispielen aus meiner Erfahrung und der befreundeter Kolleginnen (freilich anonymisiert) illustriert. Wichtig ist mir, zu betonen, dass dieses Buch keine Abhandlung zur Fachdidaktik des Philosophieunterrichts an Sekundarschulen ist. Das ist keine Kritik an der verdienstvollen Arbeit der Kollegen der philosophischen Fachdidaktik, sondern Ausdruck der Tatsache, dass die Lehre an einer Schule und einer Hochschule zwei grundsätzlich verschiedene Dinge sind. Und das ist auch gut so.

Zur Rolle der Philosophie in Deutschland Obwohl dieses Buch nicht nur für deutsche Leserinnen (oder Leserinnen in Deutschland) geschrieben ist, doch eine kurze Bemerkung zur Rolle der Philosophie in Deutschland, die mir weltweit einzigartig zu sein scheint: Wenn man nach längerer Abwesenheit wieder nach Deutschland zurückkehrt – sei dies transatlantisch, transpazifisch oder auch nur innerhalb Europas –, fällt es immer wieder auf, welch große Rolle die Philosophie in Deutschland spielt, welche große Hochachtung, Wertschätzung und Interesse ihr seitens der »gebildeten Öffentlichkeit« 3 entgegengebracht wird. Dies sieht man daran, dass es in Deutschland Philosophie-Magazine gibt, Radiosendungen und Fernsehshows für ein mehr oder weniger gebildetes Publikum,

Vor noch fünfzig Jahren hätte man vielleicht vom »Bildungsbürgertum« gesprochen, auch das eine typisch deutsche »Erfindung«. Dieses Bildungsbürgertum (das seine Hochzeit wohl in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte) gibt es in dieser Form nur noch hier und da als Überbleibsel, und das Interesse an der Philosophie scheint mir ein Überbleibsel jenes Überbleibsels zu sein. 3

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riesigen Zulauf bei öffentlichen Veranstaltungen und Vorträgen, wenn sie von bekannten Leuten gehalten werden, die nahezu »Celebrities« in der deutschen Kultur sind (Peter Sloterdijk, Jürgen Habermas, Rüdiger Safranski, Richard David Precht etc.). Ich sage das nicht, um Deutschland als »besser« oder »philosophischer« als andere Länder darzustellen – Länder wie Frankreich oder England haben ihre eigenen großen, wenn auch anderen intellektuellen Traditionen –, sondern um auf die große Tradition wie auch das große Potenzial hinzuweisen, das die Philosophie in diesem Land hat: Philosophie ist in Deutschland präsent wie in kaum einem anderen Land. Im gleichen Atemzug muss man aber die große Diskrepanz betonen, die zwischen dem Interesse der Öffentlichkeit an der Philosophie und der Lebensferne und Elfenbeinturmexistenz der akademischen Philosophie an den Universitäten herrscht.4 Diese Ferne hat viele Ursachen. Ein wichtiger Grund ist die Ausdifferenzierung dieser Disziplin wie jeder anderen wissenschaftlichen Disziplin heute, die eine extreme Spezialisierung hervorgebracht hat. Das, woran Philosophinnen heute arbeiten, ist nur schwer anschlussfähig zu machen an Alltagsprobleme nicht mit Philosophie vertrauter Menschen. Darüber ist nicht zu lamentieren, es ist einfach so, und dieser Graben – der nicht neu ist, aber meines Erachtens größer wird – ist auch nicht einfach zu überbrücken.5 Die Organisatorinnen der letzten DGPhil-Tagungen (Münster, München, Berlin) haben sich ostentativ sehr darum bemüht, Teile der Tagungen für die breitere gebildete Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das ist ausdrücklich hervorzuheben und zu loben. Allerdings handelte es sich hier um besondere, einmalige Veranstaltungen. Auch hier mein Vorschlag: mehr davon! – Ein anderer, scheinbar trivialer »Standortvorteil« (im wörtlichen Sinn) vieler deutscher Hochschulen, vor allem der traditionellen, ist, dass sie in die Städte (oftmals die alten Stadtkerne) integriert sind (also nicht »auf der grünen Wiese« oder in entlegenen ländlichen Bereichen gebaut wurden wie oft, und mit Absicht, in Nordamerika). Das hat zur Folge, dass die Universitäten für die Bevölkerung häufig viel leichter erreichbar sind und daher die Schwelle, hier auch einzutreten, geringer ist. Ich finde es zum Beispiel sehr erfreulich, wenn man, wie an vielen deutschen Universitäten üblich, Gruppen von Rentnerinnen sieht, die sich wöchentlich in Vorlesungen treffen, um sich weiterzubilden oder einfach nur »geistig in Form« zu bleiben. 5 Hand aufs Herz, liebe Leserin: Wie haben Sie das letzte Mal reagiert, als Sie jemand im Zug oder Flugzeug ansprach und fragte, was Sie tun oder was Sie gerade 4

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Aber das eine ist die hochspezialisierte Forschung, das andere die universitäre Lehre, bei der höchstens in fortgeschrittenen Haupt- oder Oberseminaren (neuerdings »Masterseminare« genannt) solche Spezialisierung Thema sein kann. Thema von Überblicksvorlesungen, Einführungsveranstaltungen oder Proseminaren in der Philosophie bleibt dagegen sehr wohl das, was Philosophie in ihrem eigentlichen »Urstiftungssinn« ist, das Fragen und Bedenken der »ganz großen« Fragen, angefangen von der Einführung in die Weise, diese Fragen überhaupt zu stellen. Und hier liegt ein großes Potenzial. Denn die angesprochene Diskrepanz hat auch damit zu tun, dass die Lehre, die die Breitenwirkung einer Disziplin, zumindest aus dem Universitätskontext heraus, mehr als alles andere befördern kann, meines Erachtens nicht wichtig genug genommen wird. Gerade in einem Land wie Deutschland – das ist hier mein Punkt – ist das wirklich eine vertane Chance. In den USA etwa könnte man noch so sehr versuchen, eifrige und erstklassige Hochschullehrerinnen der Philosophie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen (etwa durch Fernsehshows oder Youtube-Channels), eine Breitenwirkung bliebe fast sicher aus. Ich will nicht behaupten, dass Deutschland »besser« ist als die USA oder dass der Philosophie in Deutschland ein »goldenes Zeitalter« bevorstünde, wenn man nur die Lehre an der Hochschule verbessern würde (wozu, nebenbei bemerkt, zunächst einmal ein besserer Betreuungsschlüssel gehörte – also schlichtweg mehr Professorinnenstellen). Vielmehr könnte die Wahrnehmung von Philosophie – und damit der Geisteswissenschaften im Ganzen – sehr viel besser sein, wenn diese Diskrepanz nicht so groß wäre. Dies könnte dadurch geschehen, dass die akademische Philosophie einsieht, dass sie nicht nur ein großes gesamtgesellschaftliches Potenzial, sondern

lesen? Haben Sie eine kurze grunzende Bemerkung gemacht, um in Ruhe gelassen zu werden, oder haben Sie die Gelegenheit genutzt, mit Ihrem Gegenüber über Philosophie zu sprechen oder, falls die Person in völliger Unkenntnis (aber interessiert) war, kurz darin einzuführen? Haben Sie das parat, was man im Englischen eine »Elevator Speech« nennt, also eine Kurzrede, die dem Gegenüber (ohne ihn oder sie zu überfordern oder belächeln) in drei Minuten klar macht, was Sie tun? Gehören Sie zu dem zuerst beschriebenen Typus, dann ist dieses Buch besonders für Sie geschrieben. Einleitung

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auch eine Verantwortung hat, die Öffentlichkeit zu bilden und sich nicht von ihr, soweit es geht, fernzuhalten. Freilich ist die akademische Philosophie eine Veranstaltung innerhalb der Universität, die per se nicht unmittelbar an die Öffentlichkeit und ihre Diskurse anschließt – der »Bildungsauftrag« bezieht sich auf Studentinnen. Aber im Gegensatz zu anderen Ländern haben die Lehrveranstaltungen an deutschen Universitäten einen Status der »Halböffentlichkeit«. Semesterpläne sind öffentlich zugänglich, Universitäten haben offene Campi, manche machen von dem universitären Angebot in ihrer Freizeit Gebrauch, das »Gasthörertum« hat eine eigene Tradition. All das kann zumindest der Öffentlichkeit nahegelegt oder besser zugänglich gemacht werden. Schon jetzt bieten manche Universitäten einen »Tag der offenen Tür« an oder richten »Summer Schools« ein oder andere Veranstaltungen, die sich bewusst an die Öffentlichkeit wenden. All das ist zu begrüßen. Es stärkt die Philosophie auch innerhalb der Universität, wenn sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Mein Rat daher an alle, die an der Universität mit Philosophie zu tun haben: mehr davon! Die universitäre Lehre kann ein wichtiger »Transmissionsriemen« in die Öffentlichkeit sein. Abgesehen vom Wert einer gebildeten Öffentlichkeit ist aber solch ein Bemühen letztlich auch eine Flucht nach vorn für die Philosophie, vielleicht die einzige: Wer nicht möchte, dass Philosophie (neben anderen geisteswissenschaftlichen Fächern) weiter gekürzt oder gar ganz eingespart wird, muss daran interessiert sein, die Philosophie in der Öffentlichkeit gut darzustellen, und zwar von Anfang an, also bereits bei der Vermittlung gegenüber den Studienanfängerinnen. Diesen Anfang darf man im Interesse eines Faches, das Sie lieben, nicht verpatzen. Ein kurzer Überblick über die Themen dieses Buches: Im ersten Kapitel geht es um Grundsätzliches, nämlich die gute Hochschullehrerin im Allgemeinen und die Philosophie lehrende im Besonderen. Hier entwickele ich eine kleine »Tugendfibel«. Es gibt gerade in der Philosophie ein paar »Kardinaltugenden«: Freude, Bescheidenheit und Verantwortung. Im zweiten Teil dieses Kapitels diskutiere ich die Unterschiede zwischen philosophischer Fach- und Hochschuldidaktik, eine Grundunterscheidung, die mir wichtig scheint und auch die Existenz des vorstehenden Buches zu rechtfertigen sucht, das sich 16

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in ein neues Territorium vorwagt. Ich diskutiere etwas Literatur zum Thema, vor allem die bereits von anderen (im deutschen Sprachraum) begonnene, aber noch hierzulande in den Anfängen sich befindende Disziplin der philosophischen Hochschuldidaktik. Im zweiten Kapitel wende ich mich dem Spezifikum der Philosophie in der Hochschullandschaft zu. Ich räume hier dem Problem bzw. Phänomen des Skeptizismus einen wichtigen systematischen Raum ein, zu dem man sich meines Erachtens positionieren muss, wenn man Anfängerinnen in Philosophie unterrichtet. Schließlich widme ich mich verschiedenen Weisen, wie man in die Philosophie einführen kann, und betone am Ende die Sonderstellung, die die Philosophie allein schon aufgrund ihrer »Langzeitwirkung« hat und die man daher für sich nutzen sollte. Kapitel drei ist (zusammen mit Kap. 4) das Herzstück dieses Buches, insofern ich mir hier der eigentlichen Lehre der Philosophie – wenn man einmal über die Anfänge hinausgekommen ist – zuwende. In diesem Kapitel diskutiere ich vornehmlich verschiedene Formate der Lehre sowie der Diskussionsführung, also der »Kernkompetenzen« in der Lehre im Allgemeinen, hier fokussiert – soweit es geht – auf die Lehre der Philosophie. Ich diskutiere dabei auch die unvermeidliche »Schere«, dass man als Hochschul-Person (im Allgemeinen) einerseits gezwungen ist, sich in seiner Forschung zu spezialisieren, andererseits aber eine solche Spezialisierung in der Lehre (von ausgesuchten Oberseminaren abgesehen) unmöglich und ineffektiv ist. Ich schlage Wege vor, wie man mit dieser inneren »Zerrissenheit« umgehen bzw. sie für sich positiv und gewinnbringend interpretieren kann. In Kapitel vier bespreche ich besondere Probleme, die bei der Lehre auftauchen können, die in der Tat philosophiespezifisch sind, da Philosophie mehr als wohl jede andere Disziplin wirklich »ins Leben eingreift« und viele Dogmen und unhinterfragte Vorurteile der Studentinnen auf den Kopf stellt. Dies ist natürlich ausdrücklich erwünscht, kann aber viele verschiedene Reaktionen zur Folge haben, bis hin zu höchst dramatischen. Ich schlage konkrete Weisen vor, mit verschieden gelagerten »Krisen« umzugehen. Ich diskutiere hier auch die Frage nach Gender in der Philosophie und wie man sich zur politischen Korrektheit, die nicht unumstritten ist, stellen kann.

Einleitung

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Kapitel fünf ist kurz und vollkommen praktisch ausgerichtet (und auch nicht spezifisch für die Philosophie); ich gebe hier konkrete Ratschläge zur Verbesserung Ihrer Lehre, die mir wichtig scheinen. In zwei Appendices widme ich mich zwei Nebenthemen, die mir zwar wichtig sind, aber nur mittelbar zum allgemeinen Kontext gehören, nämlich einmal die Frage nach der Bedeutung, die der Unterschied zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie für die Lehre hat (sofern er überhaupt eine Bedeutung hat). In einer zweiten kurzen Beilage beziehe ich Stellung zur Frage, wie man sich zu den dominanten USA situieren sollte. Hier ist das Spektrum weit gespannt: Manche verteufeln alles, was aus den USA kommt, andere wollen am liebsten alles, und zwar sofort, eins zu eins umsetzen. Hier möchte ich ein paar Vorurteile und Missverständnisse aus dem Weg räumen und im Ganzen für eine moderate, zwischen beiden Extremen harmonisierende Position werben. Eine begriffliche Anmerkung: Es gibt eine englische Phrase, für die ich keine gute deutsche Übersetzung fand, die ich aber doch treffend finde und kurz erläutern möchte: Man sagt häufig, wenn es um die Umsetzung von pädagogischen Ideen und Idealen, gerade in ungewöhnlichen oder sogar höchst merkwürdigen Momenten (oder vielleicht gerade um das Scheitern aller Umsetzungsversuche!) geht: »Make it a teachable moment«. Das heißt so viel wie: »Machen Sie in dieser Situation das Beste daraus, was die Lehre betrifft, machen Sie die Situation zu einer solchen, in der etwas durch Sie selbst gelehrt und gelernt werden kann«. Anders gesagt, die Dinge mögen im Alltag oft nicht so ablaufen, wie man es sich vorgestellt hat, wie man es im Vorfeld möchte oder erhofft. Nicht selten machen einem die Studentinnen, der zu diskutierende Text, die eigene Tagesverfassung, der boschbohrende Hausmeister im Nebenraum (etc.) einen Strich durch die Rechnung und man möchte in solchen Momenten am liebsten still und leise seine Siebensachen packen und verschwinden. Aber gerade in solchen Momenten sind pädagogisches Feingefühl, Spontaneität, Originalität, das Nicht-auf-den-Kopf-gefallen-Sein gefragt. Wenn es Ihnen also gelingt, aus einer scheinbar verzweifelten Situation – eben – a teachable moment zu machen, also die Situation für sich so umzubiegen, dass doch ein pädagogisch wertvoller Punkt hieraus erwächst: dann haben Sie nicht nur sich selbst bewiesen, dass Sie eine 18

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meisterhafte Pädagogin (geworden) sind, Sie haben auch Ihre Studentinnen nachhaltig beeindruckt. Solche Momente kann man nicht herbeizaubern oder -wünschen, aber wenn der Moment da ist (Sie merken es sofort!) und es Ihnen gelingt, erfolgreich auf ihn zu reagieren, dann haben Sie meines Erachtens die erforderliche Reife einer Hochschullehrerin erlangt – was nicht heißt, dass Sie im nächsten (un-)teachable moment nicht kläglich scheitern … Aber auch das gehört zum Lehralltag. Leider. Zum Schluss noch einige Worte des Dankes: Zunächst danke ich Marcel Simon-Gadhof vom Meiner Verlag, der das Projekt zusammen mit mir im Gespräch entwickelt, dann angeregt hat, es als Buch auszuformulieren, gewillt war, es ins Programm des Verlags aufzunehmen, schließlich zugesehen hat, dass ich es auch zum Ende bringe, und es schlussendlich gründlich, einfühlsam und mit viel Sympathie lektoriert hat. Gibt es diese Sorte von Buch in der englischsprachigen Literatur zuhauf, so gibt es hierzu auf Deutsch sehr wenig, eigentlich gar nichts (von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf die ich noch eingehen werde). Ich situiere dieses Buch irgendwo in der Mitte zwischen einem persönlichen Ratgeber und einer wissenschaftlichen Abhandlung. Es gibt in weiten Teilen meine Erfahrungen wieder, die sich bei mir über die Jahre gesammelt haben, sowie solche, die mir von Kolleginnen zugetragen wurden. Was ich hier versucht habe, soll nicht das definitive, letzte Wort in der Sache sein, sondern ganz im Gegenteil ein Anfang und eine Anregung, sich eines Themas, das meines Erachtens im deutschsprachigen Kontext viel zu wenig diskutiert wird, mit zupackender Freude und mehr Leidenschaft zu widmen. Trotz der düsteren Worte zu Anfang der Einleitung (s. o., S. 9 f.) habe ich natürlich auch sehr gute Lehrerinnen kennen gelernt und erleben dürfen, die ich an dieser Stelle anerkennen will. Ich danke den folgenden Lehrenden, die mich als jungen Studenten begeistert haben durch ihre besondere pädagogische Begabung und ihre – sehr unterschiedlich zum Ausdruck kommende – Begeisterung für ihr Fach, die mir lebhaft in Erinnerung bleiben wird: Gerhard Buhr und Dominic Kaegi in Heidelberg, Hans-Helmuth Gander in Freiburg, Klaus Held in Wuppertal, Donn Welton in Stony Brook. Als großartige Lehrerinnen habe ich zudem Kolleginnen kennengelernt, mit denen Einleitung

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ich gemeinsam Lehrveranstaltungen durchführen und deren Veranstaltungen ich im Rahmen von Lehrevaluationen hospitierend beobachten durfte: Michael Monahan, Yoon Choi, Corinne BlochMullins, allesamt aktuelle oder vormalige Kolleginnen an der Marquette University. Meinen ersten »Geschmack« an Hochschuldidaktik fand ich durch meinen damaligen Mentor in meiner Zeit als Humboldt-Stipendiat und Gastprofessor an der Emory University in Atlanta (2002 – 04), Patrick Allitt (Professor für amerikanische Geschichte), und das von ihm geleitete Center for Teaching and Curriculum an der Universität, wo ich zahlreiche Veranstaltungen besuchte. Von ihm – selber ein begnadeter, preisgekrönter und weithin bekannter Lehrer seines Fachs – habe ich sehr viel gelernt, vor allem auch, dass es wichtig und, wie ich mit Emphase betone, unumgänglich ist, dass wir professionelle Akademiker unsere Lehre ernst nehmen und ständig daran arbeiten, uns in unserer Lehre zu verbessern. Wir müssen mehr darüber reden. Ich danke den vielen verschiedenen Studentinnen, die mich seit nunmehr über zwanzig Jahren in meiner universitären Lehre begleiten und vielleicht einiges von mir gelernt haben, von denen aber auch ich – viel wichtiger – im Gegenzug vieles lernen konnte. Meine Erfahrungen an Universitäten in verschiedenen Ländern haben mir zudem die Gemeinsamkeiten, aber auch wesentliche Unterschiede deutlich gemacht, die weniger an den Studentinnen selbst, sondern an den verschiedenen Systemen liegen. Junge, wissbegierige, intelligente Studentinnen sind im Wesentlichen auf der ganzen Welt gleich; die Antwort auf die Frage, wie man sie am besten in die Philosophie einführt und weiter darin unterrichtet, damit auch. Wenn dieses Buch Lehrenden der Philosophie und solchen, die es werden wollen, helfen kann, so stammt der maßgebliche Impuls, es zu schreiben, von klugen und interessierten Studentinnen wie denen, die ich unterrichten durfte, die mich dazu angetrieben haben, mich klarer auszudrücken und den Stoff interessanter aufzubereiten (und mich manchmal durch Schnarchen »bestraft« haben), und mich implizit oder explizit gedrängt haben, niemals nachzulassen, bei aller Routine die Begeisterung und Liebe für die Philosophie vorzuführen. Auch wenn es vielleicht nicht immer recht zum Ausdruck kam oder kommt, so muss ich gestehen, dass das, was ich für meine Studentinnen empfinde, an 20

Einleitung

Liebe im Sinne des pädagogischen Eros grenzt: eine Liebe für die Sache gepaart mit gegenseitiger Sympathie zwischen Professorin und Studentinnen; wenn es gelingt, eine solche »liebende« Atmosphäre im Seminarraum zu erzeugen, hat man ein lebensprägendes Highlight gesetzt. Meinen Studentinnen – früheren, jetzigen, zukünftigen – ist dieses Buch gewidmet. Ich hoffe, dass ich auch in der Zukunft der Erwartung, die sie in mich als Lehrenden setzen, gerecht werde. Ich danke Markus Asper (Humboldt-Universität Berlin) für seine Lektüre einer früheren Version dieses Manuskriptes und die Zeit, die er sich genommen hat, meine Überlegungen zur Lehre der Philosophie zu diskutieren, schließlich dann meinen Text zu lesen und zu kommentieren. Schließlich noch der Hinweis, dass dieses Buch durchweg im generischen Femininum abgefasst ist (statt »Student/in«, »Studierenden« [etc.] spreche ich durchgehend von »Studentinnen« [etc.]). Diese Wahl mag manchen gewöhnungsbedürftig, ja beim Lesefluss sogar störend vorkommen. Ich will hierbei nicht ein neues, universal gültiges Prinzip festsetzen, sondern ein Signal setzen, dass man meines Erachtens, so gut es geht, Gender-Parität herstellen sollte, um auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau hin zu wirken. Ob der hier verwendete Sprachgebrauch ein hilfreiches Mittel hierfür ist, weiß ich nicht, möchte es aber hoffen. Auch hier hinkt der deutsche Sprachgebrauch im internationalen Vergleich (vor allem dem Englischen gegenüber) hinterher, was ein gültiges bzw. pragmatisch geltendes, ständig der Überarbeitung unterliegendes Regelwerk betrifft. Aber wer weiß, vielleicht hat das auch Vorteile. Die Deutsche Gesellschaft für Philosophie hat sich hierbei jedenfalls noch nicht zu einem Vorschlagskatalog durchgerungen; ein Sprachgebrauch, der nicht bindend sein, sondern, wie der Name sagt, Vorschläge und Möglichkeiten unterbreiten sollte, wäre aber auf Dauer vielleicht doch hilfreich. Es wäre meines Erachtens wünschenswert, dass die DGPhil etwas Derartiges anbietet.6 Damit ist nicht der politischen Korrektheit das Wort Die DUDEN-Redaktion diskutiert gerade, ob ein solches Regelwerk für die deutsche Sprache sinnvoll oder notwendig ist. Meine Meinung hierzu ist: Ich bin dagegen, dass alles an der Sprache – der Alltagssprache – reguliert wird. Das Volk spricht eben, wie es will, und Intellektuelle können hier nicht maßgeblich ein6

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geredet, die bekanntermaßen, wenn auf die Spitze getrieben, diktatorisch und intolerant werden kann; ich finde es vielmehr wünschenswert, wenn hierfür ein Standard, an den man sich halten kann, sofern man dies aufgrund eigener Einsicht für richtig erachtet, zur Verfügung stünde. Köln, im Sommer 2019

Sebastian Luft

greifen. Etwas anderes aber ist die Wissenschaftssprache, die eine Lingua franca für alle Wissenschaftlerinnen sein soll und daher gewisse Normen oder zumindest einen Normen-Rahmen haben sollte, an den man sich zu halten hat. An manche Normen kann man die Menschen auf der Straße gemahnen (niemanden durch Schimpfwörter zu verletzen etwa) und dies ahnden, sofern es geschieht (zum Beispiel durch Verunglimpfung oder Verleumdung). In der Wissenschaft aber sollte es um ethisches Verhalten par excellence gehen, das heißt also, dass Ahndung nicht ex post geschehen, sondern von vornherein die Zustimmung, sich an die Regeln zu halten, die Eintrittskarte in den »Club« sein sollte. Deshalb scheint mir ein gültiges Regelwerk, an das sich Wissenschaftlerinnen zu halten haben, sinnvoll. Wie gesagt, vielleicht kann nicht alles präzise geregelt werden und der Horror vacui sollte nicht zu einer Überregulierung führen; aber was das »Gendern« betrifft, so wären doch vielleicht zumindest verschiedene akzeptable Schreibweisen sinnvoll, die freilich ständig diskutiert und ggf. auch modifiziert werden können und sollen (ob die hier verwendete sich durchsetzen wird, mag ich nicht prophezeien). Moden und Einstellungen ändern sich, und das ist auch gut so; ein mehrheitsfähiges Regelwerk sollte sich diesen anpassen – wenn auch nie unkritisch. 22

Einleitung

1. Was macht eine gute Hochschullehrerin aus? Lehren am Gymnasium – Lehre in der Universität

In diesem ersten Kapitel möchte ich, noch bevor ich auf die Lehre der Philosophie selbst zu sprechen komme, zunächst auf die Anforderungen an eine Hochschullehrerin im Allgemeinen eingehen, sodann auf die Rolle der spezifisch philosophischen Hochschullehrerin. Diese Diskussion versteht sich also als eine kleine, höchst unvollständige »Tugendfibel« einer aus meiner Sicht exzellenten Hochschullehrerin. Im zweiten Teil dieses Kapitels diskutiere ich die Unterschiede zwischen Schul- und Hochschullehre, die sich natürlich auch auf die Vermittlung des Stoffes – am Gymnasium bzw. in der Universität – auswirken. Die philosophische Hochschuldidaktik unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der schulischen philosophischen Fachschuldidaktik, von der sich dieses Buch abgrenzt (ohne sie in irgendeiner Weise gering zu schätzen). Ob sich hiermit hinreichend eine neue »Disziplin« begründen lässt (die nicht allein eine Erweiterung, Ergänzung, Modifikation der Fachdidaktik ist), will ich offen lassen; einen neuen »Trend« anzuregen oder eine neue Diskussion bzw. eine neue Diskussionskultur unter Hochschullehrerinnen der Philosophie mit Bezug auf unser Fach – das wünsche ich mir dagegen schon. Denn – um mich zu wiederholen – es wird viel zu wenig über die Lehre unseres Fachs an der Hochschule gesprochen, und sie wird nach wie vor für selbstverständlich gehalten bzw. als ein notwendiges Übel betrachtet, das man so schnell wie möglich hinter sich bringt, um sich vermeintlich Wichtigerem zuzuwenden. Das soll sich ändern, wie ich finde. Wenn dieses Buch Sie zum Widerspruch herausfordert oder sonst auf eine Weise berührt und Sie dazu veranlasst, dazu Stellung zu beziehen, selbst in schärfstem Gegensatz zum hier Gesagten, hat es seinen Zweck erreicht.

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1.1 Eine gute Hochschullehrerin im Allgemeinen – eine gute Hochschullehrerin der Philosophie im Besonderen Was zeichnet, im Allgemeinen, eine ausgezeichnete Hochschullehrerin aus? Alles, was ich in dem nun Folgenden sagen werde, kann nicht beanspruchen, »objektiv« oder »allgemeingültig« zu sein, allein schon deshalb nicht, weil Personen und damit Lehrpersönlichkeiten allzu verschieden sind (und sich in ihren Eigenheiten nicht einebnen lassen sollten). Jede von Ihnen hat Ihre eigene Lehrerpersönlichkeit, die Sie entdecken, ggf. konstruieren (sofern sie von Ihrer »normalen« Person abweicht) und kultivieren müssen. Sicher ist das ein Allgemeinplatz zur Individualität jeder Dozentin. Es bedeutet aber auch, dass es sich wie bei allem Menschlichen verhält: Es gibt keine Patentrezepte oder universalen Prinzipien – solche von gewisser Allgemeinheit hingegen schon. Wie bei allem im Leben, was schwierig ist: Man muss es selbst ausprobieren, selbst auf die Nase fallen, wieder aufstehen und es erneut versuchen. Aber irgendwann lernt man den aufrechten Gang (auch wenn man auch dann nicht gegen das Stolpern gefeit ist). Ich beschäftige mich im Folgenden zunächst mit der Geisteshaltung, die eine Hochschullehrerin an den Tag legen bzw. in sich kultivieren sollte. Es geht also im ersten Schritt nicht um Techniken und Lehrmethoden (hierzu in den folgenden Kapiteln), sondern, viel grundsätzlicher, um die Positionierung, die Einstellung, mit der sich eine Hochschullehrerin der Philosophie in ihrem Arbeitsumfeld in Szene setzt (oder vielleicht sogar »inszeniert«). Dies impliziert nicht nur ein »proaktives« Handeln, sondern hierzu gehört durchaus auch ein reaktives Moment, nämlich das Erkennen von und Reagieren auf bestimmte Umstände und Ansprüche, die Ihnen entgegengebracht werden und die Sie nicht steuern und daher nicht ignorieren können bzw. nicht ignorieren sollten und zu denen Sie sich in bestimmter, wohl reflektierter Weise verhalten sollten. Manchmal ist es wichtig, solchen Ansprüchen von Anfang an entgegenzuwirken und ihnen gegenüber wohl dosiert zu provozieren (das betrifft besonders das Geschlecht der Dozentin bzw. des Dozenten und die Erwartung an dasselbe), in anderen Fällen geht es darum, gewisse Rollenvorstel-

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1. Was macht eine gute Hochschullehrerin aus?

lungen, die Ihnen entgegengebracht werden, in Ihrem Sinne zu interpretieren oder zu modifizieren.1 Fangen wir also ganz am Anfang an: Sie sind schon länger Hochschullehrerin oder jemand, der es werden will oder gerade eben zum ersten Mal wird? Meine erste Reaktion hierzu, ganz frei von Sarkasmus und voller Herzlichkeit: herzlichen Glückwunsch! Sie sind in einer einzigartigen Situation bzw. werden es bald sein, die Sie stolz, glücklich und bescheiden stimmen sollte, denn sie ist aus gleich mehreren Gründen einzigartig: Zunächst einmal werden Sie die Möglichkeit haben, das, was Sie intellektuell anregt, ja begeistert und worüber Sie über viele Jahre so viel Information und Wissen aufgesogen haben, endlich jungen, (zum größten Teil) wissbegierigen und intelligenten Menschen zu vermitteln. Das ist in der Tat ein großes Privileg: Sie sind in einer Einrichtung, an der per definitionem (als höchster Schule des Bildungssystems) Wissen auf höchstem Niveau vermittelt wird. Darauf sollten Sie stolz, gleichzeitig aber auch bescheiden sein; stolz auf Ihre erhebliche Leistung, die Sie bis dahin gebracht hat; bescheiden, denn Sie lehren die größten Geister in der Geschichte der Menschheit. Gegenüber den Platons, Kants, Hegels, Steins und de Beauvoirs, die das Menschengeschlecht hervorgebracht hat, sind Sie und ich – gestehen wir’s uns ein – ziemlich unbedeutend. Sie sollten das Privileg, dass Sie die Gedanken dieser Genies der Menschheit jungen und unverbrauchten In dieser Hinsicht – also der Erwartungshaltung, die Ihnen als Hochschullehrerin entgegengebracht wird – unterscheiden sich wohl die Nationen am meisten. Während in vielen Ländern des europäischen Kontinents Professoren eine besonders hohe Wertschätzung entgegengebracht wird (Professoren gehören in Deutschland zu den meist respektierten Personen neben Polizisten, Anwälten und Ärzten), ist das in den meisten englischsprachigen Ländern (inklusive Nordamerika und Australien) nicht der Fall. Während man in Deutschland, Österreich oder Frankreich wie ein »Halbgott« behandelt wird (heute vielleicht weniger als noch vor 20 Jahren), ist man für Studentinnen zum Beispiel in den USA ein (aus ihrer Sicht meist zu Unrecht) hochbezahlter Dienstleister, der für Studentinnen da zu sein hat und der Schuldige ist, wenn man schlechte Noten einfährt. Es geht hier nicht darum, dies zu bewerten, sondern man muss sich über seine Rolle im System klar sein. Sollte man etwas daran ändern wollen (falls…), muss man es erst einmal zur Kenntnis nehmen. Das heißt aber auch, dass man eine gewisse Flexibilität an den Tag legen muss, sollte man in die Position kommen, in anderen Systemen zu unterrichten. 1

1. Was macht eine gute Hochschullehrerin aus?

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Köpfen vermitteln dürfen, als solches sehen und darüber Stolz und Freude empfinden. (Wenn Sie all das verächtlich als hochgradig idealisiert empfinden, so bedenken Sie, dass ich »vom Standpunkt des Ideals« spreche, also von der kantischen regulativen Idee, dass es so sein sollte; ob und dass es so sein kann, liegt nicht zuletzt an Ihnen selbst. Sie haben es in der Hand. Nicht jede Lehrsituation ist optimal, aber Sie können Ihr Stück dazu beitragen, dass sie sich verbessert.) Das bedeutet: Das Lehren solcher Inhalte sollte und darf für Sie keine »lästige Pflicht« sein, sondern eine »hohe Pflicht«, die Sie ernst nehmen und mit Freude übernehmen sollten; schließlich haben Sie – ganz objektiv betrachtet – extrem hart dafür gearbeitet, in diese Rolle zu gelangen, sei es als junge Dozentin, wissenschaftliche Mitarbeiterin oder frisch berufene Professorin. Freilich ist die Lehre aufreibend, erschöpfend und ein weiterer Punkt auf Ihrer langen »To-do«-Liste neben Gremiensitzungen, Tagungen, Prüfungen, Drittmittelanträgen und nicht zuletzt Ihren wichtigen Publikationsprojekten. Lassen Sie Ihre Lehre dennoch nie ans Ende der Liste rutschen. Die Lehre Ihres Faches sollte ein Highlight Ihres Berufslebens sein und immer einen oberen, privilegierten Platz belegen. Lernen Sie sich in die Geisteshaltung zu bringen, dass Sie es nie anders sehen – trotz aller Erschöpfung und allen Stresses, die dieser Beruf mit sich bringt. Die Gefühle bzw. Gemütsverfassungen, denen Sie freien Raum in Ihrem Innern lassen sollten, sind Freude, Bescheidenheit und Verantwortung (neben anderen »Sekundärtugenden«, die ich im Folgenden bespreche). Diese Begriffe sind für mich keine hohlen Phrasen, sondern haben konkrete Bedeutung. Zunächst zur Freude: Es ist zweifellos eine große Freude, über das reden zu dürfen, ja von Amts wegen zu sollen, was Ihnen zutiefst intellektuelle Befriedigung verschafft. Sie haben das Privileg, nicht nur diese Dinge, die Sie mehr als alles andere interessieren, studieren zu dürfen, sondern es ist auch Ihr Amt und Ihre Pflicht, diese Themen und die Autorinnen, die sie hervorgebracht haben, zu vermitteln. Die große Mehrheit der Menschen auf der Welt übt Berufe aus, die sie nicht erfreuen, nicht befriedigen (weder intellektuell noch finanziell), die sie knechten, erniedrigen und die sie ganz allein deshalb tun, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie hingegen haben Ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht, was schwer genug ist auf dem heutigen Arbeitsmarkt (und dass Sie damit nicht zur Großverdienerin 26

1. Was macht eine gute Hochschullehrerin aus?

werden, wussten Sie schon vorher – aber es ist hoffentlich genug zum Leben!). Allein dies ist schon ein Grund, weshalb Ihnen die Ausübung Ihres Berufes nicht gleichgültig sein kann. Sie müssen Sorge tragen, ihn richtig und gut und verantwortungsvoll zu versehen; Freude soll aber zu jeder Zeit dabei sein! Die Bescheidenheit, die Sie an den Tag legen sollten, besteht darin, dass Sie in der Gegenwart (im intellektuellen Raum) von Geistesriesen sein dürfen, deren Gedanken Sie zu vermitteln haben, und zwar so, dass Ihre Studentinnen Sie bzw. den Stoff, den Sie aufbereitet haben, verstehen. Bedenken Sie, dass Philosophie zu den größten intellektuellen Leistungen und Wagnissen der Menschheit gehört (dies halte ich nicht für begründungsbedürftig). Alles, was in der Philosophie – der guten, wenigstens derjenigen, die Sie ausgesucht haben – gedacht wurde und gedacht wird, gehört daher zum Schwierigsten überhaupt. Nichts davon ist trivial oder unmittelbar und einfach zu verstehen (vergessen Sie nie Ihre eigenen Anfangsschritte in diesem Gebiet!). Auch wenn es Teil Ihrer Aufgabe ist, diese schwierigen Dinge einfach und verständlich zu erklären (was nicht gleichbedeutend ist mit »Dumbing Down« 2 ), sollten Sie sich selbst und Ihren Studentinnen immer klar vor Augen halten, dass sie von den besten Denkerinnen der Menschheit hervorgebracht wurden. Sie alle – Dozentin, Studentinnen – stehen demgegenüber, wenn nicht als unbedeutend, so doch erst einmal im geistigen Rang hinter diesen Denkerinnen der ersten Reihe. Das heißt nicht, dass Sie nicht dieses Niveau erreichen können (von vornherein zu sagen, dass dies nicht möglich ist, hätte sicherlich einen höchst negativen Effekt), aber um es zu erreichen, muss erst einiges geleistet werden: sorgfältige Lektüre, detaillierte Exegese, klar strukturierte Erklärungen Ihrerseits, Diskussion des Stoffes mit den Studentinnen. Es kostet viel, dieses Niveau zu erreichen, und hat man es erst einmal erreicht, sollten der Respekt und die Dieser Begriff, für den mir wiederum kein guter deutscher einfällt, bedeutet, eine Thematik so zu vereinfachen, dass er dadurch »dumm«, »verdummt« (»eingedummt«) wird. Es besteht also ein signifikanter Unterschied zwischen der Vereinfachung eines Stoffes, damit er für Anfängerinnen verständlich und leicht zu greifen ist, und der Trivialisierung desselben, wodurch er seine Tiefe und Komplexität verliert. Oftmals – und leider – ist der Unterschied in der Praxis sehr gering bzw. wird nicht gut bedacht und konsequent durchgehalten. Dennoch trennt die beiden eine feine, aber wichtige Linie. 2

1. Was macht eine gute Hochschullehrerin aus?

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Bewunderung, die Sie an den Tag legen, dadurch noch vergrößert werden, dass man einsieht, dass das Niveau, das Sie erst mühsam erklimmen müssen, von diesen großen Denkern erst erschaffen wurde auf der Grundlage eines früheren Niveaus. Der Respekt, der diesen großen Denkerinnen gezollt werden muss, sollte daher erst einmal zur Bescheidenheit – Ihrer und der Ihrer eifrigen und »schnell schießenden« Studentinnen – führen. Wer sich über die von ihr behandelten Autorinnen stellt, sie trivialisiert, verachtet, lächerlich macht, handelt als Dozentin unangemessen, was natürlich nicht heißt, dass die großen Denkerinnen über alle Kritik erhaben wären. Bei aller – berechtigten, auch mit Humor vorgebrachten – Kritik an den von Ihnen gelehrten Philosophinnen – »the mighty dead« 3 unseres Fachs – darf nie der Respekt fehlen. Diese Art des Herangehens an Ihre Philosophinnen zu kultivieren und Ihren Studentinnen zu vermitteln, gehört zu Ihrem Beruf. Es ist auch eine Übung im respektvollen Umgang mit anderen (noch lebenden) Menschen, auch und gerade, wenn man ihnen widerspricht. Schließlich Verantwortung: Sie haben als Dozentin eine intellektuelle Verantwortung – gegenüber sich selbst, gegenüber Ihren Studentinnen, gegenüber der Philosophie und den sie hervorbringenden Autorinnen, tot und lebendig – und schließlich gegenüber Ihrer Institution. Philosophie gehört, wie ich sagte, zu den größten Wagnissen der Menschheit, und das meine ich nicht nur im intellektuellen bzw. abstrakten Sinne. Sie ist auch eminent politisch und gesellschaftlich wirksam und kann sogar gefährlich sein bzw. war es eigentlich immer schon. Philosophinnen haben für alles Schreckliche in der Welt argumentiert, für Sklaverei, für Kriege, für Unterdrückung und Ausbeutung, Vertreibung, Massenmord und vieles mehr. Philosophinnen sind beileibe nicht immer Menschen im Elfenbeinturm und »lieb und nett«. Damit will ich nicht sagen, die philosophischen Argumente für die genannten Schrecklichkeiten seien triftig oder auch nur gut. Aber alles, was im menschlichen Leben geschieht, geschieht – zumeist jedenfalls – mit Rechtfertigungen, die mit Argumenten vorgebracht werden. Und sofern Argumente vorgebracht werden, ist Philosophie »Tales of the Mighty Dead« (Erzählungen der mächtigen Toten) ist der Titel einer Aufsatzsammlung von Robert Brandom, die sich historischen Figuren der westlichen Philosophiegeschichte widmet. 3

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1. Was macht eine gute Hochschullehrerin aus?

mit im Spiel, ob man will oder nicht (und wenn es darum geht, schlechte Argumente zu benennen). Wenn Sie Philosophie unterrichten, spielen Sie also im wahrsten Sinn des Wortes mit dem Feuer. Philosophie kann gefährlich werden, für Sie selbst, für andere. Sie kann das eigene Leben radikal aufrühren und aufrütteln, vor allem das noch junger Menschen, die sich diese Fragen zum ersten Mal – vielleicht sogar zum ersten Mal unter Ihrer Anleitung – stellen. Sie müssen sich also klarmachen, dass Sie es, vor allem bei jungen Studentinnen, mit Menschen zu tun haben, die zumeist noch nie aufgefordert oder dazu gezwungen wurden, die dogmatischen Bequemlichkeiten ihres gesunden Menschenverstandes zu hinterfragen oder gar zu durchbrechen und zu negieren. Sofern der gesunde Menschenverstand sich in seinem dogmatischen Recht sieht (»das ist eben so!«), dann ist Philosophie nach Hegel die Welt auf den Kopf gestellt. Nichts anderes als diese radikalste Radikalität muten Sie Ihren Studentinnen zu. Sie selbst sind es seit Jahren schon gewöhnt, in dieser umgekehrten Welt zu leben und sich in ihr zu bewegen (ganz bequem wird es wohl keinem darin für immer) und – vielleicht noch entscheidender – den Übergang ins natürliche Bewusstsein nahtlos zu vollziehen. Für Ihre Studentinnen aber ist das – gerade wenn sie der Philosophie nie ausgesetzt waren4 – höchst gewöhnungsbedürftig. Es gibt verschiedene »Typen« von Studentinnen, die – trotz unvermeidlicher Stereotypisierung – sich vielleicht bei anderer Gelegenheit zu »kategorisieren« lohnen würde, also etwa angefangen vom klassischen, »bildungsfernen« »Arbeiterkind«, das von Hause aus nie gelesen hat oder nie intellektuellen Themen ausgesetzt wurde, über etwa das politisch aktive Arbeiterkind, das im Elternhaus marxistisch-sozialistisches Gedankengut aufgesaugt hat (ohne es zu wissen – eventuell auch, ohne dass die Eltern es wussten!). Ein anderer Typ – am anderen Ende der Skala – wäre etwa die Studentin aus bildungsbürgerlichen Haushalt, deren Eltern Lehrerinnen oder gar Professorinnen waren, wo zuhause Kant, Goethe und Schiller mit Selbstverständlichkeit zitiert wurden (oder zumindest die Gesamtausgaben, wenn auch leicht verstaubt, standen). Oftmals sind gerade solche Studentinnen diejenigen, die am schwersten an die Philosophie heranzuführen sind, weil sie schon viel gelesen haben und daher meinen, »alles« schon zu kennen oder zumindest schon einmal gehört zu haben! Zu einer solchen »Taxonomie« wäre hinzuzufügen, dass diese durchaus »deutsch« oder »mitteleuropäisch« ist und für andere Länder ganz anders ausfallen würde. In den USA gibt es zum Beispiel so etwas wie ein »Bildungsbürgertum« nicht, und die religiöse Tradition der Freikirchen in den USA ist von Hause aus anti-intellektuell ausgerichtet (nach dem Motto: zu viel Denken lenkt ab vom innigen Glauben), was 4

1. Was macht eine gute Hochschullehrerin aus?

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Unterschätzen Sie also nie die Macht, die Sie in Händen halten, und gehen Sie verantwortungsvoll mit ihr um.5 Und das nicht nur aus Gründen des verantwortlichen Umgangs mit dem Gedankengut, das immer in Gefahr ist, falsch verstanden zu werden (wie gesagt, haben philosophische Gedanken schon Mord und Sklaverei unterstützt), sondern auch für das »Seelenheil« Ihrer Studentinnen, um ein etwas altertümliches Wort zu verwenden. Auch wenn so etwas wie »Selbstmord« durchaus ein Thema der Philosophie sein kann (nach Camus sogar das einzig wahre), wäre eine Reihe von Suiziden unter Ihren Studentinnen sicherlich kein pädagogischer Erfolg … Weiterhin – was Ihre Verantwortung betrifft – geht es auch um die Zukunft Ihres Fachs, das Ihnen (als Ideal und ganz im eigenen Interesse) am Herzen liegen muss: In Zeiten, in denen es den Geisteswissenschaften immer mehr »an den Kragen« geht, wo immer mehr Kürzungen und knappe Kassen gerade den Geisteswissenschaften (je theoretischer, desto gefährdeter) zu schaffen machen, sind Sie eine besondere Vertreterin Ihres Fachs, die damit die Zukunft desselben mit in der Hand hat. Sehen Sie sich daher als »Botschafterin«, die Ihr Fach in der »Fremde« vertritt und gute Arbeit leistet, was die Außenwirkung und die Wahrnehmung angeht.6 Wie Sie Ihren Studentinnen Philosophie vermitteln, und sei Ihr Beitrag noch so bescheiden, wird dazu beitragen, wie die Zukunft der Philosophie im Leben der Universität aussehen wird. Ihre Studentinnen werden, wenn Sie später graduiert sind, zum größten Teil Bürgerinnen Ihres Landes sein (hoffentlich mündige!) und letztlich als Wählerinnen mit darüber abstimmen, ob den Geisteswissenschaften der Geldhahn weiter zugedreht wird oder ob es in der breiteren, gebildeten Bevölkerung eine Wertschätzung für das Faches gibt, so dass der gesellschaftliche Konsens darüber nicht weiter erodiert, dass Philosophie wichtig ist und als akademische Disziplin erhalten bleiben muss (also auch als Fach,

einer deutschen Protestantin oder Katholikin (um innerhalb des Christentums zu bleiben) fremd wäre. 5 Zu Möglichkeiten, mit dieser Verantwortung umzugehen, und dazu, wie dies gründlich schiefgehen kann (und was man dann tun kann), vgl. unten Kap. 4.3. 6 Wie unfair und kurzsichtig es ist, bei den Geisteswissenschaften zu sparen – das alles muss ich hier nicht betonen oder gar begründen. Es geht hier darum, wie man als Lehrende des Faches der faktischen Entwicklung entgegenwirken kann. 30

1. Was macht eine gute Hochschullehrerin aus?

das an der Universität gelehrt und nicht nur in elfenbeinernen Forschungsinstituten unter Experten diskutiert wird). Die Art und Weise, wie Sie die Philosophie als Fach an der Universität lehren, entscheidet mit darüber, wie Ihre Studentinnen die Philosophie wahrnehmen und was sie später als gesellschaftliche Leistungs- und Verantwortungsträgerinnen von der Philosophie halten, ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht. Und das liegt weniger an dem, was Sie lehren, sondern daran, wie Sie dies tun bzw. – um einen anderen Begriff zu benutzen – welchen Habitus Sie einnehmen (oder kultivieren oder pflegen). Daher die hier vorgestellte »Tugendfibel«. Die gute Nachricht ist, dass Philosophie ein dankbares Fach ist, was die Lehre betrifft. Sie interessiert jeden. Das heißt, wenn Sie Ihre Aufgabe gut machen, ist es extrem einfach, das Fach gut und sogar sehr gut zu vertreten, denn Philosophie ist einfach spannend und intellektuell anregend, und bei vielen Studentinnen werden Sie offene Türen einrennen. Da Philosophie intrinsisch interessant ist, weil sie jeden Menschen betrifft (bzw. die Fragen, die sich jeder Mensch stellt), so kann es, wenn Ihre Studentinnen den Stoff langweilig finden, nur an Ihnen liegen. Zugegeben ist nicht alles auf gleiche Weise spannend (um etwa einen Grundkurs in formaler Logik mit einem Seminar zum Existentialismus zu vergleichen – aber auch hier sind die Geschmäcker verschieden!) und nicht für jeden auf gleiche Weise. An sich aber hat die Philosophie (um mit Kant zu reden) eine Anmutung an den Menschen, die universal ist. Die Verantwortung, die Sie tragen, ist also eine freudige und angenehme, denn es geht um nichts weniger als die Menschheit, die Humanität selbst. Nehmen Sie diese Verantwortung nicht leicht. Nehmen Sie sie aktiv auf sich, stellen Sie sich ihr und treten Sie hierzu in ein aufgeklärtes und kritisches Verhältnis. Das ist es, was Sie zu einer guten Hochschullehrerin der Philosophie macht im Sinne eines konsequent vorzulebenden Habitus. Natürlich macht Sie eine noch so konsequent antrainierte Haltung nicht automatisch zu einer guten Hochschullehrerin der Philosophie. Aber mir ging es bisher zunächst nur um die Entwicklung und Kultivierung dieser Haltung, einer inneren Lehrerinnenpersönlichkeit, aus der sich das Verhalten im Seminarraum »speisen« sollte; um eine »Tugendlehre« der philosophischen Hochschuldozentin, gewissermaßen. Denn dass Sie Ihr Fach ausgezeichnet kennen, dass Sie Ihre 1. Was macht eine gute Hochschullehrerin aus?

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Lehrveranstaltungen im Detail und ausführlich planen, dass Sie also in jeder Hinsicht »fachlich kompetent« sind und jederzeit professionell auftreten – das alles setze ich hier voraus. Aber das im letzten Satz Genannte gilt für jede Hochschuldozentin jeden Faches. Die drei genannten Tugenden – Freude, Bescheidenheit, Verantwortungsbewusstsein – sind mir die wichtigsten. Aber es gibt noch weitere Tugenden, die eine gute Hochschullehrerin im Allgemeinen an den Tag legen sollte. Wiederum ohne erschöpfend zu sein und sehr aus persönlicher Erfahrung gesprochen, hier eine kleine »Tugendfibel« mit – gegenüber den erstgenannten – »Sekundärtugenden« für Hochschullehrerinnen.

1.1.1 Eine kleine Tugendfibel für gute Hochschullehrerinnen im Allgemeinen

Strenge. Strenge ist nicht zu verwechseln mit Unfreundlichkeit, Gemeinheit, Boshaftigkeit oder Arroganz. Sie bedeutet aber die Haltung, gemäß der Sie das, was Sie tun, gewissenhaft und nach Ihren Maßstäben tun, also nach einem Maßstab, den Sie selbst festlegen (wenn auch nicht willkürlich, sondern begründet) und auch gegenüber sich selbst einhalten, den Sie aber deswegen auch von Ihren Studentinnen einfordern können. Es hilft nichts, wenn Sie sich selbst gegenüber streng sind, Ihren Studentinnen gegenüber aber lax. Damit werden Sie zur pompösen, sich selbst über alle Maßen wichtig nehmenden Witzfigur, die in ihrer eigenen Welt lebt. Umgekehrt, wenn Sie Strenge bei Ihren Studentinnen einfordern, sich selbst aber »gehen lassen« (nach Ihren eigenen Standards), werden Sie zu Recht als unehrenwerte Heuchlerin wahrgenommen. Denn: Nur wer selbstgesetzte Standards auch selbst einhält, kann sie auch von anderen fordern. Und fordern wollen Sie bzw. sollten Sie wollen: Wenn Sie eine Studentin als Schülerin bezeichnen (bzw. eine Studentin sich Schülerin von Ihnen nennt), dann heißt das nicht, dass sie das Gleiche denkt wie Sie oder die gleichen Thesen vertritt (gerade in der Philosophie wäre das ja lächerlich und gegen ihren Geist), sondern in der Hauptsache – würde ich sagen –, dass sie die Strenge, die Sie vorgelegt haben, weiterträgt, also nicht den Inhalt Ihres Kopfes, sondern die Strenge der Haltung, einen Duktus des Arbeitens und des akademi32

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schen Lebens (also Strenge durchaus im Sinne von »strenger Wissenschaft«). Nur wer solche Schülerinnen durch eigenes Vorbild hervorbringt, kann stolz darauf sein, solche zu haben. Alle anderen sind Claqueure, Motten, die ans Licht fliegen. Meine Betonung der »Strenge« ist nicht identisch mit Autoritätsgehabe oder Wichtigtuerei, sondern es kommt mir lediglich darauf an, dass Lernfortschritt nur erzielt werden kann auf dem Boden gemeinsamer Werte in der Lehre. Weil Sie die Autorität sind, da Sie die Macht über die Noten haben, haben Sie die Möglichkeit, diese festzulegen. Geben Sie diese »Macht« (nicht zu verwechseln mit Willkür) nicht aus der Hand.7 Integrität. Als Hochschullehrerin definieren bzw. garantieren Sie die »eisernen Regeln« Ihrer Zunft durch Einhalten derselben. Sie selbst sind bzw. leben das ethische Ideal vor, wie die Wissenschaftlerin sein sollte. Wer diese ethischen Regeln bricht – wer zum Beispiel plagiiert –, hat es nicht verdient, Hochschullehrerin zu sein und sollte entsprechend angemessen bestraft werden. Wer als Studentin plagiiert, sollte ebenso mit voller Härte des Rechts bestraft werden, aber wer es als Hochschullehrerin tut, sollte unverzüglich ihres Amtes enthoben und »geteert und gefedert«, also nach Maßgaben der juristischen Vorgaben bestraft werden. In dieser Hinsicht kein Pardon. Nur das sichert die Integrität der Forschungseinrichtung Universität. Plagiieren gehört freilich zu den ultimativen Sünden des akademischen Daseins, aber Integrität fängt viel früher an, daher: Seien Sie sich selbst gegenüber kritisch und fragen Sie sich selbst, zu aller Zeit, ob Sie Ihren eigenen Maßstäben der moralischen Integrität genügen, bzw. seien Sie offen dafür, wenn Studentinnen Sie – gerade angesichts Ihrer eigenen Ideale – kritisieren oder Ihre Ideale selbst in Frage stellen. Wenn das geschieht – wenn Sie entweder selbst bei etwas ertappt werden, was Sie nicht in Ordnung finden, oder eine Studentin zu Recht etwas an Ihnen kritisiert –, dann gehen Sie offensiv damit um und erklären in aller Offenheit (sofern Sie die Kritik einsehen), dass

Es wird aus diesen Ausführungen hinreichend klar, dass ich nichts von »antiautoritärer« Didaktik halte, wie ich sie zur Genüge selbst im Studium erlebt habe, die aber nunmehr (soweit ich sehe) diskreditiert und fast ausgestorben ist. Die antiautoritäre Bewegung der 68er war damals wichtig, um den »Muff von tausend Jahren« auszutreiben. Aber der Lernerfolg, den man sich damals von ihr versprach, ist bescheiden geblieben. 7

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Sie etwas getan haben, wofür Sie sich schämen und wofür Sie sich entschuldigen. Seien Sie in Ihrer Selbstkritik und der Debatte darüber möglichst offen; wenn Sie Übertretungen Ihrer eigenen moralischen Maßstäbe – sofern sie manifest sind – einfach unkommentiert durchgehen lassen, verlieren Sie Ihre Glaubwürdigkeit. Eigentlichkeit. Dieser Begriff stammt bekanntlich von Heidegger, und was er beim Skoteinos aus dem Schwarzwald bedeutet, ist alles andere als klar. Aber was ich hiermit meine, ist ganz einfach: Seien Sie Sie selbst, verstellen Sie sich nicht. Geben Sie nicht vor, jemand zu sein, der Sie nicht sind, aber vielleicht gern wären; machen Sie niemanden nach. Wer Sie sind, vor allem im Hörsaal, können Sie vielleicht zum Anfang Ihrer Karriere noch gar nicht sagen bzw. ist eine Person, die sich erst im Laufe der Zeit entwickelt.8 Es kann sein, dass Ihre »Showmaster«-Persönlichkeit eine andere ist als die, die Sie in Ihrer Familie oder Ihrer Fußballmannschaft an den Tag legen. Aber radikal verschieden sind beide nicht, die eine ist höchstens vielleicht eine leichte Übertreibung Ihrer normalen Verhaltensweise (wenn beide »Persönlichkeiten« radikal verschieden wären, wäre das freilich bedenklich). Dennoch gilt auch hier: Seien Sie authentisch, auch wenn Sie schauspielern. Wenn Sie im Seminarraum schauspielern (oder meinen, es tun zu müssen), dann spielen Sie wenigstens gut und ehrlich. Aber – könnte man einwenden – widerspricht die sorgfältige Konstruktion einer Lehrpersönlichkeit, die man zu sein vorgibt, nicht der Forderung nach Authentizität? Hierzu antworte ich: Es ist unvermeidlich, dass eine gewisse Schauspielerei bei einer öffentlichen Person (in welcher Form von Öffentlichkeit auch immer) hinzukommt (nennen Sie es »sich produzieren« oder »Selbstdarstellung«). Aber wie gesagt: Mehr als ein leichtes, bestimmtes, kontrolliertes, eine Es gibt hierbei viele Varianten; es ist zum Beispiel durchaus möglich, dass Sie jahrelang eine »uneigentliche« Existenz in der Lehre führten, bis eines Tages ihre »wahre« Existenz hervorbricht. Damit ist nicht gesagt, dass es »die« eigentliche Existenz gibt (vielleicht ist diese verschieden, je nachdem, mit welchen Studentinnen auf welcher Stufe Sie zu tun haben). Man muss offen dafür sein, sich stets ohne Gesichtsverlust verändern zu können. Der »jugendliche Elan«, der Sie vielleicht einmal in jungen Jahren beflügelte, wirkt höchstwahrscheinlich, wenn Sie die 50 überschritten haben, unglaubwürdig oder lächerlich (nicht zuletzt Ihnen selbst gegenüber!). 8

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bestimmte Tendenz »ausbauendes« »Mehr« sollte es nicht sein. Versuchen Sie also zum Beispiel nicht, ein Komiker zu sein, wenn Sie tief in sich selbst wissen, dass Sie eigentlich keiner sind (oder ihre Versuche, Gelächter zu erzeugen, wiederholt versagen). Umgekehrt darf man auch nicht jeder Stimmung oder jedem Charakterzug, den man hat, freien Lauf lassen, bloß weil man meint, das gehöre nun einmal zu einem selbst. Ich habe Dozentinnen erlebt, die offenbar sadistische Züge besaßen und gelegentlich grausame Freude daran hatten, diese an Studentinnen auszuleben. Solche problematischen Charakterzüge sind natürlich selten, aber horchen Sie in sich hinein: Gibt es Charakterzüge an Ihnen, die Sie nicht mögen (sind Sie manchmal cholerisch? Aufbrausend? Ungeduldig?) und von denen Sie auch nicht wollen können, dass Ihre Studentinnen unter ihnen leiden müssen oder gar selbst meinen, die Lizenz dazu zu erhalten, sie auszuleben? Versuchen Sie unter allen Umständen, diese unter Kontrolle zu halten und ihnen nicht freien Lauf zu lassen. Dies setzt natürlich voraus, dass Sie Ihre Stärken wie Ihre Schwächen kennen. Nur wer sich selbst zur Genüge kennt, kann authentisch sein und sich selbst gegenüber rechtfertigen. Dieser Punkt des Sich-selbst-Kennens wirft vielleicht die Frage auf: Kennt man sich denn schon wirklich, vor allem in einer bisher unbekannten Rolle? Wie lernt man sich kennen? Meiner Erfahrung nach ist der Prozess, in dem man sich als Lehrerinnenpersönlichkeit kennenlernt, keine große Revolution oder ein einmaliges Ereignis, es ist – eben – ein Prozess, der »je schon« angefangen hat, insofern Sie lehren. Das explizite Sich-Erkennen mag vielleicht ein gelegentlicher Akt der spontanen Einsicht oder der ausdrücklichen Reflexion sein. Dass der Prozess immer schon begonnen hat und Sie nie mehr an den Anfang zurückkönnen, heißt aber auch, dass der Kurs, den Sie gehen, auch schon eingeschlagen ist. Einen als falsch erkannten Kurs zu ändern, ist schwer, aber nicht unmöglich. Aber umgekehrt kann die Reflexion auf denselben auch erst dann erfolgen, wenn man schon die Leinen losgelassen hat (um im Bild zu bleiben). Das Folgende rate ich mit großem Nachdruck: Fragen Sie sich immer wieder: »Was für eine Professorin oder Dozentin will ich sein? Welche didaktischen, pädagogischen oder anderen Ideale will ich repräsentieren, projizieren, weitergeben und vermitteln?« Schreiben Sie es auf, legen Sie es beiseite, schauen Sie ein Jahr später wieder nach, was Sie damals ge1. Was macht eine gute Hochschullehrerin aus?

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schrieben haben, und vergleichen es mit dem gegenwärtigen Stand Ihrer Selbstkenntnis (und wiederholen Sie dies in periodischen Abständen). Sich selbst kennenzulernen, ist ein nie endender Prozess. Voraussetzung dafür ist vor allem der Wille zur expliziten Selbstprüfung. Professionalität. Seien Sie immer und unter allen Umständen professionell. Das heißt, ex negativo: Persönliches oder gar persönliche Sorgen oder Nöte (auch wenn sie Sie noch so plagen) haben im Unterricht bzw. im Umgang mit Studentinnen nichts verloren, was natürlich nicht eine hermetische Verschlossenheit des Privatlebens bedeuten muss. Wenn Sie eine lustige Anekdote, die Sie mit ihrem kleinen Sohn erlebt haben, sinnvoll einfließen lassen können, ist dies durchaus wertvoll und effektiv. Um professionell zu sein, muss man keine Sphinx sein. Professionell zu sein heißt, positiv gewendet: verlässlich und einschätzbar zu sein. Das hat nichts mit Langeweile zu tun, sondern damit, wie Sie wahrgenommen werden und werden wollen.9 Professionell zu sein heißt »lesbar« für andere zu sein, was wiederum nicht bedeutet, dass Sie für andere ein »offenes Buch« sind oder sein sollen, sondern in Ihren basalen Charakterzügen nachvollziehbar. Zur Professionalität gehört auch, dass Sie trotz aller Freundlichkeit, Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft, die Sie Ihren Studentinnen entgegenbringen – sofern sie diese Verhaltensweisen durch ihrerseits verlässliches Verhalten verdient haben –, nicht deren Freundin sind. Das heißt wiederum nicht, dass man nicht für wahre Nöte offen sein soll, zum Beispiel wenn eine Studentin in Ihrer Sprechstunde einen emotionalen Zusammenbruch erlebt, weil ihr etwas wirklich »unter die Haut« geht; wer in solchen Momenten ein Herz aus Stein hat, reagiert unmenschlich. Aber wer die Grenze zwischen Dozentin und Freundin bewusst verwässert, macht sich angreifbar. Und von wenigen Ausnahmen abgesehen (in denen Sie bewusst Grenzen setzen sollten10 ) wollen Ihre Studentinnen Sie auch

Diese Einschätzbarkeit kommt etwa zum Ausdruck, wenn es darum geht, ob Ihnen X (etwas moralisch Problematisches) zuzutrauen sei, und die Antwort lautet: »Das würde sie nie tun!« 10 Es ist sicherlich ein Zeichen, dass Ihre Studentinnen Sie mögen, wenn Sie etwa für Sie ein kleines Fest zu einem runden Geburtstag organisieren (sofern sie Ihr Geburtsdatum wissen), aber auch hier muss es Grenzen geben. Ich denke 9

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nicht zur Freundin haben (jedenfalls nicht, solange Sie ihre Dozentin sind). Als Ansprechpartner, sogar Vertrauensperson, als Person, zu der man aufblickt, das alles ja – aber wer sich als Freundin ihrer Studentinnen geriert, macht sich unterwürfig. Wie Sie es drehen und wenden: Sie stehen über Ihren Studentinnen (Sie geben Zensuren, jene erhalten sie). Und diese Hierarchie mag vielleicht bedauernswert sein in einer Gesellschaft, in der idealiter alle gleich sein sollen, aber sie existiert und Ihre Studentinnen fordern Sie ein (so viel zur Erwartungshaltung, die Ihnen entgegengebracht wird) – leisten Sie dieser Forderung Folge. Es ist besser für alle. Wo hört Professionalität auf, was ist noch erlaubt? Hier gibt es viele Grauzonen und wenig ist daher mit Sicherheit zu sagen. Dass romantische, gar erotische Beziehungen zwischen Ihnen und Ihren Studentinnen – Abhängigen – absolut tabu sind, muss nicht extra betont werden. Aber wie steht es mit einem Kaffee nach dem Seminar oder gar mit einem Bier am Abend? Hier gibt es keine klar zu ziehende Linie, sondern es handelt sich um eine Grauzone, durch die Sie dann klar navigieren können, wenn Sie ihre Lehrpersönlichkeit fest für sich »konstituiert« haben. Es ist der hehre Wunsch der Universitätsverwaltungen, hier ganz klare Linien zu ziehen und Sie auch dazu zu verpflichten, diesen zuzustimmen und sich an Sie zu halten (wer die Situation in den USA kennt, dem sage ich nur: Title IX und dessen Lehrgänge11). Aber damit gaukelt man sich selbst etwas vor, was es grundsätzlich, die Grenzen des Professionellen sind in unserer Welt ziemlich deutlich gesetzt (auch wenn es regionale oder nationale Unterschiede geben mag). Als Beispiel mag vielleicht die (glaubwürdige) Anekdote dienen, nach der ein paar männliche Mitglieder einer Fakultät mit dem männlichen Kandidaten nach dem offiziellen Abendessen beim »On-Campus-Besuch« an ihrer Universität in einen Stripclub gehen wollten. Ob diese Anekdote wahr ist, kann ich freilich nicht bezeugen, aber sie ist meines Erachtens ein Beispiel für eine besonders eklatante Grenzverletzung. 11 »Title IX« ist der Name für das US-Gesetz zum Verbot von Diskriminierung gegenüber dem Geschlecht oder der »race« einer Person an einer anerkannten Bildungseinrichtung bzw. mitunter von allem, was zu einer »toxischen Arbeitsatmosphäre« beiträgt. Dieses Gesetz wird neuerdings Arbeitnehmern durch Lehrgänge bzw. Online-Training-Programme vermittelt, die durch eine Prüfung abgeschlossen und zertifiziert werden. Der Lehrgang muss in regelmäßigen Abständen (ähnlich wie der Führerschein) erneut absolviert werden, um die Zertifizierung aufrechtzuerhalten. 1. Was macht eine gute Hochschullehrerin aus?

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nicht gibt und nicht geben kann, weil Menschen keine programmierbaren Roboter sind. Klare Gesetze zu formulieren und deren Einhaltung durchzusetzen, ist der Traum einer jeden Verwaltung, aber das ist nur für weniges umsetzbar (ganz klare Fälle sind, wie gesagt, das Verbot romantischer Beziehungen mit Abhängigen, weiterhin Beleidigungen auf Grund von Geschlecht, Herkunft, Religion). Für das meiste hier Gesagte gilt die aristotelische Maxime, dass die tugendhafte Person es schon richtig machen wird. Professionalität ist eben eine Tugend, die sich nur durch Fehler lernen lässt, um nach und nach habituell zu werden.

1.2 Schullehrerin vs. Hochschullehrerin. Fachdidaktik vs. Hochschuldidaktik Auch wenn die oben aufgeführten »Sekundärtugenden« wahrscheinlich für alle Lehrerinnen jedes Fachs und jedes Lernniveaus gelten, so möchte ich doch klar hervorheben, dass Hochschule und Sekundarschule (Gymnasium oder welches Format auch immer) sich radikal unterscheiden. Dementsprechend hat eine Hochschullehrerin völlig andere Aufgaben als eine Lehrerin in der Sekundarstufe. Daraus folgt, dass auch die Hochschuldidaktik etwas ganz anderes als die Fachdidaktik ist, ungeachtet der allgemeinen Grundlagen der Didaktik, die natürlich für den Unterricht aller erdenklichen Schülerinnen in allen erdenklichen Kontexten Anwendung finden. Für mein eminentes Pochen auf die Differenz zwischen der Anwendung in der Schule und der Hochschule möchte ich ein paar Argumente liefern: 1. Der wohl wichtigste Unterschied zwischen den beiden Lehrformen ist die Tatsache, dass Sie es in der Sekundarschule mit Minderjährigen, an der Universität mit Erwachsenen zu tun haben. Hieraus folgen einige wichtige Korollarien. Als Lehrer Minderjähriger haben Sie einen staatlich vorgegebenen und geregelten Bildungsauftrag, der die familiäre Erziehung fortsetzt und ergänzt und deshalb die Absprache zwischen Eltern und Lehrerinnen erfordert. Eltern haben ein Recht darauf zu erfahren, wie ihre Sprösslinge sich in der Schule entwickeln; diese Verbindung gibt es an der Hochschule nicht mehr. Sie sind in einer Schule in erster Linie Erzieherin, wozu auch die Vermittlung fachlicher Kompetenz gehört, aber nicht nur. An der 38

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Hochschule sind Sie für Erziehung nicht mehr zuständig, es wäre im Gegenteil lächerlich, wenn Sie versuchen würden, Studentinnen guten Umgang, Benehmen und soziales Verhalten beizubringen (was natürlich nicht heißt, dass Sie nicht maßregeln sollen, wenn zum Beispiel lautes Geschwätz Sie stört12 ). Sie sind da, um Lehrstoff zu vermitteln, nicht um den noch unreifen Charakter von Schülern mitzuprägen und in sozial akzeptierbare Bahnen zu lenken. Auch wenn Ihre Studentinnen mit gerade 18 Jahren oder etwas älter Schülern an Reife gelegentlich nur sehr wenig voraus sein mögen, so sind sie doch rechtlich gesehen Erwachsene, was für Sie wichtige Folgen hat. Sie müssen, ja Sie dürfen eben zum Beispiel nicht mehr Eltern Rede und Antwort stehen. Auf diesen rechtlichen Unterschied kommt es letztlich an. 2. Schule ist nicht optional; Studieren ist freiwillig. Schulkinder sind schulpflichtig und müssen daher anwesend sein. Was folgt daraus? Als Lehrerin müssen Sie auch solche Schülerinnen unterrichten, die ungern da sind, unfroh oder unfreundlich (das »Inverse« gilt für von Schülerinnen ungeliebte Lehrerinnen). In der Schule ist die Stimmung »Wir sitzen gemeinsam in diesem Boot, ob wir wollen oder nicht« vorherrschend. Der Unterricht muss daher so gestaltet werden, dass idealiter alle ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten entsprechend unterrichtet werden (Stichwort: Binnendifferenzierung). Kein Kind sollte davon ausgenommen sein, da sie alle zur Anwesenheit verpflichtet sind. Daher muss die Lehrerin auch alles dafür tun, den jeweiligen Gruppierungen einer Klasse gerecht zu werden. Der Besuch einer Hochschule dagegen geschieht freiwillig. (Ob sich hieraus das neuerliche Verbot des verpflichtenden Seminarbesuchs ableiten lässt – oder alternativ eine Anwesenheitsforderung von 75 % für das Abhalten der Seminarsitzung –, ist eine andere Frage.) Wenn jemand, aus welchen Gründen auch immer, nicht da sein möchte, den Stoff langweilig findet oder die Dozentin oder beides,

Auch dieses Beispiel kann im Sinne des besprochenen Unterschieds gewertet werden: Viele Dozentinnen sehen es nicht als ihre Aufgabe an, Studentinnen zu maßregeln, wenn es etwa im Vorlesungssaal zu laut wird. Sie legen hier durchaus den Finger an eine wunde Stelle: Wer in die Universität kommt, tut dies freiwillig und darf sich dann auch über Indifferenz seitens der Dozentinnen nicht beschweren. 12

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dann gibt es keinen Grund für diese Person, anwesend zu sein oder sogar gegebenenfalls den Seminarverlauf zu stören. Es mag vielleicht Seminare geben, die für den Studiengang verpflichtend sind, aber klar ist eben auch, dass keiner verpflichtet ist, dieses Studienfach zu wählen. Und selbst wenn es verpflichtende Seminare gibt, gibt es hierzu zumeist mehrere Parallelveranstaltungen, gelehrt von verschiedenen Dozentinnen. Für die Lehre bedeutet das: Hochschullehrerinnen müssen nur diejenigen unterrichten, die freiwillig erscheinen oder die freiwillig den Anforderungen genügen, die für eine erfolgreiche Teilnahme bzw. Benotung notwendig sind. Die Universität ist nicht für alle gedacht, sondern für die, die es sich verdienen; die Schule ist für alle da und muss so gestaltet werden, dass sich keiner deren Besuch verdienen muss (die guten Noten freilich schon). Wenn eine Studentin nicht den an sie gestellten Anforderungen nachkommt, kann sie auch nicht den Anspruch erheben, dass man sich besonders um sie bemüht. Natürlich darf auch die Hochschuldozentin nicht nur eine bestimmte Binnengruppe ansprechen, aber eine »Sonderbehandlung« und Ähnliches darf nicht erwartet werden.13 Das bedeutet für Sie als Hochschullehrerin: Wer sich nicht bemüht, um den müssen Sie sich auch nicht extra kümmern. Wie mir einmal ein Kollege an einer (wahrlich überquellenden) öffentlichen deutschen Universität erzählte: Wenn Studentinnen unprofessionelles Verhalten an den Tag legen, sagt er ihnen auf den Kopf zu: »Keiner ist Ihnen böse, wenn Sie nicht erscheinen.« So etwas darf keine Schullehrerin sagen. 3. Ein ganz wichtiger Unterschied betrifft das Niveau des Stoffes und den Stoff selbst. In der Schule geht es darum, Grundlagenwissen zu vermitteln (seitens der Lehrerin), es zu lernen (seitens der Schülerinnen) und zu üben, bis es »sitzt«. Es ist das Basiswissen, mit dem man »in die Welt« entlassen wird. Es ist das Wissen, das »von oben her« erarbeitet und als offizieller Lehrplan verordnet wird, an den sich die einzelne Lehrerin zu halten hat und an dem sie nicht rütteln darf. Wer oder was ist »oben«? Das ist die Forschung, die um dieses Wissen ringt und es bereitstellt, es vielleicht (wie das in den meisten DisziAusgenommen sind hierbei selbstverständlich Sonderregelungen für Studentinnen mit besonderen medizinisch diagnostizierten Lern- oder sonstigen (z.B. auditiven, visuellen) Behinderungen. 13

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plinen der Fall ist) gelegentlich revidiert, modifiziert oder ganz zurückzieht (man muss sich nur einmal Lehrbücher von vor zwanzig oder gar fünfzig Jahren ansehen, etwa in der Biologie). Es geht in der Schule nicht darum, den Stoff zu problematisieren oder die Auswahl in Frage zu stellen, sondern er muss übernommen und gelehrt werden, wenn auch nicht unkritisch, aber die Grundsatzkritik, warum dieser bestimmte Stoff überhaupt behandelt werden soll, gehört nicht in den Unterricht, sondern in die Konferenzen der Kultusminister. An der Hochschule wird geforscht, und die Ergebnisse der Forschung werden im Unterricht mitgeteilt. Zwar gibt es auch hier Einführungsveranstaltungen, in denen Basiswissen vermittelt wird, aber diese »Basis« liegt ungleich höher als die an der Schule (weshalb so manche Schülerin nach einem Semester Studium in einem Fach, in dem sie an der Schule sehr gute Noten bekam, ernüchtert oder verbittert ist). Zwar ist das »Korsett« der neueren B.A.– und M.A.Module enger als in Vor-Bologna-Zeiten, wo es im Wesentlichen gar kein Korsett gab, und es wird zunehmend schwerer, die Inhalte, für die sich die Dozentinnen wirklich interessieren, weil sie Gegenstand ihrer Forschungs-»Werkstatt« sind, im Seminar zu behandeln. Anders gesagt, das Humboldt’sche Ideal der »Einheit von Forschung und Lehre« bzw. »Einheit von Lehrenden und Lernenden« ist immer schwerer zu erreichen; so etwas wie Vorlesungen – um bei der Philosophie zu bleiben – von Größen wie Fichte und Hegel und später Husserl und Heidegger –, in denen die Professorinnen ihre eigene Lehre, ihr eigenes System vortragen, sind immer weniger möglich und sinnvoll. Die Klage über diesen Verlust an akademischer »Selbstdarstellung« ist verständlich. Für Professorinnen gibt es immer weniger Freiräume hierfür, sollten sie diese wünschen.14 Und dennoch: Der wahre Zweck (würde ich behaupten) der Universitätslehre ist es, die Studentinnen an die Forschung heranEin inzwischen verstorbener amerikanischer Kollege – international bekannt und hochangesehen – erzählte mir einmal, er gehe gern nach Deutschland und besuche vor allem gern Vorlesungen, um zu sehen, »wie in Deutschland ein Professor behandelt wird« (»how a professor there is treated«). Diese Hochschätzung wird man wohl heutzutage an deutschen Hochschulen nur noch selten antreffen, auch wenn doch noch ein Unterschied zur »Hemdsärmeligkeit« in vielen englischsprachigen Systemen bestehen mag. Sie spricht dennoch für eine ehrwürdige alte Tradition. 14

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zuführen, ihnen ein Gefühl dafür zu vermitteln, was Forschung in ihrer Disziplin bedeutet (und in welcher Weise sie sich von der Stoffvermittlung an der Schule unterscheidet – bei allem Respekt hierfür). Selbst die typischen »Lehramtsstudentinnen«, sosehr sie »nur« darauf aus sind, Staatsexamina abzulegen, um dann in den Schuldienst zu gehen (ein Klischeebild, das mir allerdings guten Lehramtsstudentinnen nicht gerecht zu werden scheint), sollten zumindest verstehen, dass es einen fundamentalen Unterschied gibt zwischen der Lehre des »dogmatischen« (also im Status quo der Forschung derzeit anerkannten) Stoffs und der Vermittlung von Stoff, der direkt aus der Forschung stammt, direkt »aus dem Labor« in die Veranstaltung getragen wird und sich ganz nah am »cutting edge«, also an den Rändern und den Grenzen der Forschung und deren konstantem Fortschritt aufhält. Ob man ein ähnliches Kriterium an die Philosophie anlegen kann, ist freilich eine andere Frage, aber die großen Philosophinnen haben ihrem Selbstverständnis nach alle geglaubt, sie hätten ihre Vorgängerinnen überwunden. Um nun über Studienanfängerinnen und vermeintlich wenig ehrgeizige Lehramtsstudentinnen hinaus zu gehen (und bemühen Sie sich auch bei solchen Leuten, ihren Ehrgeiz zu entfachen!): Fortgeschrittene Studentinnen, zumal bei Doktorandinnen und Habilitandinnen (sofern Letztere noch Oberseminare besuchen) sollen an die Forschung herangeführt werden, und daran sollte sich auch die Form der Veranstaltung selbst ausrichten. Hier geht es darum, im Seminar den Duktus und Habitus einer Forscherin (also nicht primär einer Wissensvermittlerin) zu entfalten. Dies betrifft die Art, wie Sie an einen Text herangehen, wie Sie Forschungsliteratur vorstellen und kommentieren und sich dazu positionieren; man kann eine ganze Seminarsitzung, wenn nicht ein ganzes Semester, nur damit verbringen, die Forschung zu einem klassischen Text zu besprechen und zu evaluieren. Als Dozentin leben Sie die Forschung vor und führen Ihre Studentinnen an dieses Niveau heran, indem Sie ihnen Aufgaben geben, die der Forschung entsprechen (etwa eine Aufstellung der Kritik und der Forschungsliteratur zu einem Thema) oder sie bei der Themensuche beraten. Dieses Vorleben einer Forscherinnenpersönlichkeit geht aber über den Seminarraum hinaus und gehört zum Gesamtpaket Ihrer Mentorinnenschaft: Ziehen Sie sich nach der Veranstaltung still und 42

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heimlich in Ihr Büro zurück, schließen die Tür hinter sich und sind für niemanden zugänglich? Das kann ja auch – sofern man sich nicht komplett isoliert – ein performativer Akt sein, nach dem Motto: »Genug Öffentlichkeit, ich muss zu meiner Forschung zurückkehren«. Aber: Sind Sie nach dem Seminar offen für die weiterführende Diskussion mit einer Studentin, die mit einer Frage zu Ihnen kommt? Sind Sie auch auf dem Gang beim Warten auf den durchlaufenden Kaffee bereit zur Diskussion und zum Dialog, wenn auch noch so kurz (»Ich habe jetzt leider nicht viel Zeit; wenn Sie länger hierüber mit mir reden wollen, lassen Sie uns doch einen Termin vereinbaren. Aber fünf Minuten habe ich doch.«)? Diese Gespräche »beim Wasserkühler« (wie man im Englischen sagt) können manchmal sehr fruchtbar und intensiv sein, zum Beispiel wenn eine andere Kollegin hinzustößt und »ihren Senf« dazugibt. Hier können humorige und launische Einwürfe zu großartigen Mini-Diskussionen führen. Dieses sind Highlights »zwischen Tür und Angel«, die Sie nicht verpassen sollten. Es ist nicht auszuschließen, dass es dies auch in der Schule gibt, aber welche Schülerin wird schon gern dabei gesehen, wie sie mit der Lehrerin außerhalb des Unterrichts über schulische Inhalte diskutiert? Zur Heranführung an die Forschung gehört auch, auf Tagungen hinzuweisen, den Besuch von Tagungen anzuraten und Doktorandinnen zu ermuntern, auch dort zu erscheinen und sich für einen »Call for Papers« zu melden (und sich ggf. um Reisegelder zu bemühen). Wenn Sie auf Tagungen sind, gehört es zu Ihrer professionellen Aufgabe, nicht die Keynote-Rednerin für sich zu beanspruchen, sondern eine Studentin, die sich dazu gesellt, jener vorzustellen (oder sie, sofern sie sich nicht traut, herbeizurufen). All dies – und noch viel mehr15 – gehört zu Ihrer Aufgabe als Mentorin, die darin Wie viel mehr man tun kann: Studentinnen ermuntern, Tagungen zu besuchen oder selbst zu organisieren; ihnen Stipendien verschaffen, für sie Gutachten und Letters of Recommendation schreiben; mit ihnen aktiv die Karriereplanung durchsprechen und sie auf Möglichkeiten hinweisen. Auf Tagungen Kolleginnen ansprechen, dass auf der Tagung ihre Schülerin XY reden wird und der Vortrag sehr gut zu werden verspricht; Kolleginnen anderer Universitäten, wo Ihre Schülerin einen »Vorsing«-Termin hat, anmailen und sie extra empfehlen; mit ihr »vierhändig« veröffentlichen, um Ihren Namen mit dem Ihrer Schülerin zu assoziieren. Sind Sie eine »Marke«, so dass Kolleginnen wissen, dass wer von Ihnen 15

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besteht – nochmals ganz grundsätzlich formuliert –, Studentinnen an die Forschung heranzuführen und in den »Lifestyle« einer Forscherin einzuführen. Was will ich mit diesen Argumenten für den Unterschied zwischen Schule und Universität begründen? Eben dies, dass die Didaktik der Philosophie (oder jedes anderen Fachs) an der Schule etwas radikal anderes ist als an der Hochschule. Die Hochschuldidaktik der Philosophie ist mit der Fachdidaktik nur sehr bedingt zu vergleichen. Daher ist es angemessen, eine eigene Disziplin – oder zumindest einen eigenen »Diskurs« – »Hochschuldidaktik der Philosophie« zu fordern.16 Es ist klar, dass ich überhaupt nicht die wichtige und aufopferungsvolle Aufgabe von Lehrerinnen an der Schule geringachten oder infrage stellen will; es geht mir nur um den fundamentalen Unterschied, der sich auf die Didaktik auswirkt. Dieser Unterschied kommt in Deutschland bereits an vielen Universitäten zum Tragen und spiegelt sich in diversen Hochschuldidaktik-Zentren wider. Sofern es eine fachspezifische Didaktik für Schulen gibt, sollte es auch eine spezifisch philosophische Hochschuldidaktik geben. Dieser Aufgabe stellt sich dieses Buch. Hier noch ein paar Kommentare zur grundsätzlich anderen Lehre der Philosophie an der Hochschule gegenüber der an der Schule. Der schulische Philosophieunterricht, der neuerdings immer früher gegeben wird, muss den Stoff für Kinder zwangsläufig vereinfachen, also von dem Niveau, das Denker höchster Entfaltung erreicht haben, für solche, die es per definitionem noch nicht sind und sein können, herab holen. Voraussetzung dafür, Philosophie auf diesem Niveau zu unterrichten, ist gewissermaßen, dass sie ihrer selbst gewählten Position enthoben wird. Ich halte diesen Versuch, Philosophie, die von reifen kommt, wirklich vielversprechend ist? Haben Sie ein Forschungsfeld beackert oder einen Forschungsstil entwickelt, der identifizierbar ist, so dass es glaubhaft ist, dass Ihre Schülerinnen ein Profil haben, das Ihrem ähnlich ist, und damit einzuordnen sind? Wenn Sie als fest installierte Hochschullehrerin nicht einen Bruchteil hiervon tun, sind Sie keine Mentorin und füllen damit Ihr Amt nicht aus. 16 Johannes Wildt, »Fachübergreifende und/oder fachbezogene Hochschuldidaktik – (k)eine Alternative«, in: Rohbeck 2007, a.a.O., S. 164 – 181, hier S. 177f., macht sich ebenfalls für eine strikte Trennung von Fach- und Hochschuldidaktik (allerdings ohne besonderen Bezug auf die Philosophie) stark. 44

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und entwickelten Köpfen erdacht wurde, auf das Niveau per definitionem unreifer Kinder »herunterzubrechen«, für problematisch. Das ist vielleicht keine populäre Position – wer sollte schon gegen Philosophie sein? –, aber ich möchte das kurz ausführen. Je ausgedehnter Philosophie an der Schule angeboten wird – und neuerdings auch »Philosophieren mit Kindern« und Ähnliches konzipiert und damit an immer jüngere Kinder adressiert –, desto stärker drängt sich mir das Bedürfnis auf, diese ganze Tendenz einmal in Frage zu stellen, auch wenn es gegen die optimistische Rhetorik der schulischen Pädagogik geht: Lassen sich nicht gute Gründe dafür finden, dass Philosophie wirklich erst dann unterrichtet werden sollte, wenn eine gewisse Grundausbildung und geistige Reife vorhanden ist? Bekanntlich hat Kant nie seine revolutionäre Philosophie in seinen eigenen Lehrveranstaltungen vorgetragen, sondern brav den bekannten Stoff aus der Wolff-Schule. Manchen mag das inkonsequent, geradezu schizophren vorkommen; aber vielleicht hatte Kant dafür seine Gründe, etwa, dass er seine Studenten nicht verwirren wollte. So etwas wie »kritische Philosophie« kann eben erst begonnen werden, wenn man sich ein sicheres Grundwissen erarbeitet, also neben Sprach- und Schreibkompetenz auch schlichtweg Fakten über Politik, Geschichte und basales naturwissenschaftliches Wissen erworben hat. Erst dann kann überhaupt das »kritische Geschäft« anfangen, das dieses Grundwissen zum Gegenstand hat. In ähnlichem Sinne mag man es mit der Philosophie für Kinder halten: Es ist vielleicht nicht sinnvoll, mit kritischem Hinterfragen anzufangen, bevor das, was hinterfragt werden soll, sicher und fest »sitzt«. Das soll natürlich nicht einer unkritischen Hinnahme schulischer Dogmatik das Wort reden; aber eine gewisse Dogmatik kann sinnvoll sein, eben die »Dogmatik« des Beherrschens (und selbstverständlichen Paukens) eines gewissen »trivialen« Wissens, bevor ein »Quadrivium« sinnvoll begonnen werden kann. Meine Meinung hierzu (der selbst Kinder hat) ist: Lasst Kinder Kinder sein. Philosophie kann beginnen für die, die es wollen, wenn sie älter sind, frühestens Teenager in fortgeschrittenem Alter (manche ist früher reif17 als ihre Mitschülerinnen). Und überhaupt sollte man niemanden Die Kategorie »Reife« ist in der Pädagogik – das ist mir natürlich klar – eine sehr problematische, da normativ aufgeladene Kategorie. Sie impliziert Opposi17

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zur Philosophie zwingen. Man sollte es anbieten wie eine exotische Speise: Wer davon nicht essen mag, sollte sie stehenlassen dürfen. Nichts ist schlimmer als eine kritische Haltung als angelernte Pose. Wer von selbst zu philosophischen Fragen neigt, dem sollte man nichts vorenthalten, egal wie jung, sofern es vom Kind oder Jugendlichen selbst kommt (jeder ist also, egal welchen Alters, prinzipiell »reif genug«). Wer als im Alter fortgeschrittener Teenager das nicht tut, den mag man behutsam heranführen. Aber nichts sollte mit dem Hammer geschehen, anders als Nietzsche sagt – das »Philosophieren mit dem Hammer« ist ja nur dann sinnvoll, wenn jemand in seinem Dogmatismus aufgeht und eifert, ohne sich der Leere und intrinsischen Fragwürdigkeit desselben bewusst zu sein. Kinder und Jugendliche sind in der Regel keine Eiferer, es sei denn, sie sind radikalisiert worden, was auf verschiedene Weisen geschehen kann… Davor sind sie natürlich zu schützen, aber die Instanz hierzu kann nicht in erster Linie die Philosophie sein.

1.2.1 Kurzer Überblick über den Stand der Forschung

Es gibt seit einigen Jahrzehnten18 eine zuerst in der staatlichen Lehrerausbildung und nunmehr an den Universitäten fest verankerte Disziplin namens Fachdidaktik. Es handelt sich hierbei nicht um die schon seit Jahrhunderten (wenn nicht Jahrtausenden, im westlichen tionen wie »reif« vs. »kindlich« (bzw. »kindisch«), als ob das Kindsein besser verstanden wäre. Weiterhin spielen Gegensätze hinein wie »emotional gefestigt« oder »vernünftig« vs. »unreif«, »emotional« usw. Ich will hier keine Stellung beziehen, sondern benutze den Terminus nur sehr oberflächlich und ohne besondere Hintergedanken. Wenn ich mich hier tendenziell gegen das Philosophieren mit Kindern ausspreche, meine ich mit »unreif« lediglich solche, die mit Philosophie, auch nach ersten Versuchen des Näherbringens, einfach nichts anzufangen wissen. 18 Die »Fachdidaktik« genannte Disziplin im engeren Sinn ist ein Produkt der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts; der Sache nach gibt es diese Disziplin – also als Ausbildungsinstanz für Lehrer – schon länger, mindestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland, als Universitäten sich zum ersten Mal (also vor 1968) größeren Massen (und Frauen) zu öffnen anfingen. Schon bei Kant gibt es bekanntlich Gedanken – wenn auch sehr knappe – »Über Pädagogik«. Die Geschichte der Fachdidaktik kann aber hier nicht Thema sein. 46

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Kanon) bekannte »Pädagogik«, sondern im engeren Sinne um die Ausbildung von Lehrerinnen eines Fachs oder einer Disziplin. Die einem bestimmten Fach angepasste Didaktik, die Lehrerinnen des Fachs für die Schule ausbilden soll und die in den letzten Jahrzehnten vollständig an die Universitäten verlegt wurde, muss es neuerdings in Deutschland in einem Institut für jedes Fach geben, es gibt also neben der Philosophiedidaktik die Didaktik der Mathematik, der jeweiligen Philologien und so weiter. Als offizielles Organ der spezifisch philosophischen Fachdidaktik gibt es seit 1979 die »Zeitschrift für Didaktik der Philosophie«, ursprünglich herausgeben von Ekkehard Martens (Hamburg), Thomas H. Macho (Klagenfurt), Elisabeth List (Graz), Ludwig Nagl (Wien), Eckhard Nordhofen (Frankfurt/Main), Dietmar Pickl (Klagenfurt), Gisela Raupach-Strey (Berlin), und Johannes Rohbeck (auch Berlin).19 Wie aus den Orten, an denen die Herausgeberinnen zu diesem Zeitpunkt ansässig waren, hervorgeht, handelte es sich zunächst um eine westdeutsch-österreichische Kooperation. Diese Zeitschrift war von Anfang an (und in den weiteren Jahrgängen) strukturiert in Themen (»Das zwingende Argument«, »Motivation«, »Logik und Sprache«), Praxisberichte (aus den Primar- bzw. Sekundarstufen), Berichte und Diskussion (etwa in Heft 2: »Zum Einfluss der klassischen deutschen Philosophie im Universitäts- und Hochschulbereich Perus«) sowie Rezensionen. Diese Zeitschrift existierte in dieser Form bis ins Jahr 2004, als sie mit dem 26. Jahrgang umgetauft wurde in die »Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik«. Seit 2004 also existiert die Zeitschrift (trotz der Zählung als 26. Jahrgang) unter diesem neuen Titel, nunmehr herausgegeben von Martens (Hamburg), Rohbeck (nunmehr Dresden), Monika Sänger (Karlsruhe) und Volker Steenblock (Münster)20. Ständige Mitarbeiter kommen aus weiteren Orten Deutschlands wie auch Österreichs, was die Zeitschrift nunmehr nach der schon 1990 vollzogenen »Wende« zur gesamtdeutsch-österreichischen Zeitschrift macht. Auch wird die Praxis der Sonderthemen weitergeführt (z. B. 2004: »Lebenskunst«; 2005: »Rhetorik«). Der Zusatz »und Ethik« wird nicht eigens beVgl. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie, 1 (1989), S. 1. Die als »Heft 1« bezeichnete Auflage ist 1989 allerdings bereits im 11. Jahrgang (ebd.). 20 Stand 2018. Volker Steenblock ist im Jahre 2019 verstorben. 19

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gründet, lässt sich aber erklären durch das Religionsersatzfach, welches in vielen Bundesländern »Ethik« (oder »Werte und Normen« oder anderweitig) heißt, also eindeutig den Einschlag in die praktische Philosophie vorweist. Die Herausgeber der Zeitschrift heute (2019) sind Vanessa Albus (Essen), Bettina Bussmann (Salzburg), Volker Haase (Freiburg/Brsg.), Donat Schmidt (Dresden) und Markus Tiedemann (Berlin) (Martens und Rohbeck werden als »beratende Herausgeber« genannt). Wie vor allem aus der Rubrik »Philosophieren im Unterricht« (welche die »Praxisberichte« ersetzt hat) hervorgeht, ist mit »Unterricht« in erster Linie Sekundarstufenunterricht gemeint. Diese Zeitschrift widmet sich also der Fachdidaktik der Philosophie im Allgemeinen, vor allem aber der Didaktik des Faches an der Sekundarstufe, also von Schülerinnen vor Eintritt in die Hochschule. Die Zeitschrift sollte in ihren Anfängen einem Defizit entgegenwirken: nämlich einerseits der Tatsache, dass »Ethik« (in ihren verschiedenen Varianten) als neues Schulfach eingeführt wurde, und zwar als Ausweichfach gegenüber dem nicht mehr obligatorischen Religionsunterricht, und andererseits dem Problem, dass es nicht genügend Lehrerinnen an Gymnasien und Gesamtschulen gab, die qualifiziert waren, dieses Fach zu unterrichten.21 Ich empfehle die Zeitschrift ausdrücklich als Hilfsmittel bei der Lehre, auch der Hochschuldidaktik, auch wenn der eindeutige Fokus – aus den genannten Gründen – auf der Sekundarstufendidaktik der Philosophie liegt. Daher verweise ich hier lediglich darauf, wenngleich hervorgehoben werden muss, dass sie sich nicht ausdrücklich auf die Fachdidaktik beschränkt, sondern auch, wenn auch nur gelegentlich, auf die Hochschuldidaktik der Philosophie eingeht.22 Wenn ich mich also in In Bundesländern wie Baden-Württemberg konnte man in den Siebzigerjahren die Qualifikation »Philosophicum« (durch Besuch einer entsprechenden Anzahl von Veranstaltungen in der Philosophie) erwerben, die es ermöglichte, Philosophie am Gymnasium zu unterrichten. Diese Qualifikation war aber bei weitem nicht flächendeckend genug, um damit genügend Lehrerinnen bereitzustellen. Es gab in den Neunzigerjahren daher viele Blockveranstaltungen an Wochenenden, geleitet von Hochschullehrerinnen, für Schullehrerinnen, die gewissermaßen im »Crash Course« qualifiziert wurden. 22 Ein neueres Werk zur Fachdidaktik, welches ich ausdrücklich hervorhebe und empfehle, ist das Buch von Christa Runtenberg, Philosophiedidaktik (Fink, Paderborn, 2016), welches im Rahmen der von Michael Quante und Simon 21

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den folgenden Kapiteln nicht an dieser Zeitschrift orientierte, so liegt es am selbstgesetzten Fokus der Zeitschrift auf die Fachdidaktik der Philosophie an Schulen, die per definitionem unterhalb der Hochschule angesiedelt sind und einem anderen Klientel zuarbeiten. Was nun die Hochschuldidaktik im Allgemeinen betrifft, so ist diese »Disziplin« im englischsprachigen Bereich schon lange fest etabliert23 und es gibt viele Bücher, mehr oder weniger ernstzunehmende.24 Auch im deutschsprachigen Raum ist die Hochschuldidaktik ein viel beackertes Gebiet auf dem Buchmarkt.25 An vielen deutschen Hochschulen gibt es nunmehr auch Hochschuldidaktik in Form von Zentren für Hochschulbildung, die zum Teil obligatorische Kurse, vor allem für den wissenschaftlichen Nachwuchs, anbieten. All dies ist in Deutschland überfällig. Wenn Sie die Gelegenheit haben, an solchen Kursen, Workshops oder Ähnlichem teilzunehmen, rate ich Ihnen sehr dazu, mitzumachen. Werden Sie hierzu verpflichtet, gehen Sie Derpmann herausgegebenen Reihe »Basiswissen Philosophie« erschienen ist. Ebenso zu empfehlen: Texte zur Didaktik der Philosophie, hg. von Kirsten Meyer (Reclam, Stuttgart, 2010), welches neben klassischen Autoren auch gegenwärtige Autoren (leider nur Männer) zu Wort kommen lässt (Holmer Steinfath, Rüdiger Bittner, Peter Schaber, Ekkehard Martens, Günther Patzig, Holm Tetens, Dieter Birnbacher, Johannes Rohbeck); Martina Peters/Jörg Peters (Hg.), Moderne Philosophiedidaktik. Basistexte, Hamburg 2019. 23 Es gibt wohl keine US-amerikanische Universität, die nicht ein »Center for Teaching and Learning« (oder ähnlich) hat und dementsprechend Lehrzertifikate erteilt, vor allem für Doktorandinnen, oftmals mit Spezialisierungen um die neuen großen Themen wie »Inklusivität« oder »Diversity« und »Sensibilitätstrainings«. 24 Unter der Fülle von Büchern, die es zur Hochschuldidaktik im Allgemeinen gibt, seien etwa hervorgehoben das hervorragende Tools for Teaching von Barbara Gross Davis (Josey Bass, 2009). Ein weniger »ernstes«, aber dennoch sehr praktisch orientiertes Werk ist Quick Hits for New Faculty (Successful Strategies by Award-Winning Teachers), Hgg. Cordell/Lucal/Morgan/Hamilton/Orr, 2004, Indiana Univ. Press. Auch sehr zu empfehlen ist das humorige und eher kurzweilige I’m the Teacher, You are the Student von Patrick Allitt (Yale University Press, 2004). Mit »weniger« ernst zu nehmenden Publikationen meine ich etwa ein Buch wie Teaching Skills for Dummies (aus der erfolgreichen »… for Dummies«-Serie aus dem Wiley-Verlag). 25 Vgl. die auf der deutschen Wikipedia-Seite »Hochschuldidaktik« aufgeführte Literatur. Viele Didaktik-Zentren an deutschen Universitäten verfügen über eigens gestaltete Reader und Textsammlungen (zum Teil von Mitgliedern der Hochschule selbst verfasst), die für Veranstaltungen zur Verfügung gestellt werden. 1. Was macht eine gute Hochschullehrerin aus?

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hin – aufgeschlossen und mit Neugierde. Es handelt sich hierbei um allgemeine Hochschuldidaktik, also um Lehrmethoden an der Hochschule im Allgemeinen. Vieles, was ich in diesem Buch ausführe, fällt auch unter diese Rubrik, ist also nicht spezifisch für die Philosophie, sondern auch für andere Geisteswissenschaften relevant. Auffällig ist aber, dass vor allem im deutschsprachigen Raum die philosophische Hochschuldidaktik bisher fast fehlt oder zu kurz kommt.26 Ich sagte »fast«, denn es gibt ein paar Veröffentlichungen, aber sie ist eindeutig ein seltener Außenseiter auf dem Feld. Noch bevor ich auf die bestehende Literatur eingehe: Könnte man diesem Unternehmen nicht vorwerfen: Entia non sunt multiplicanda …? Muss dem bestehenden Angebot nun noch ein neues hinzugefügt werden? Reicht es nicht, zusammen mit der philosophischen Fachdidaktik die allgemeine Hochschuldidaktik zur Kenntnis zu nehmen? Nein, es reicht nicht. Zunächst einmal zur Frage, was genau hinzugefügt werden soll – eine ganz neue Disziplin? Hierzu ein Zitat des oben erwähnten Johannes Rohbeck, einem der Pioniere der philosophischen Fachdidaktik in Deutschland. In dem von ihm herausgegebenen Buch Hochschuldidaktik Philosophie27 von 2007, dem – soweit ich sehen kann – einzigen deutschsprachigen Werk zur spezifisch philosophischen Hochschuldidaktik –, schreibt er in seiner Einleitung: »In diesem Band wird auf dem Gebiet der Didaktik der Philosophie und Ethik ein neues Forschungsfeld eröffnet, das Feld der Hochschuldidaktik Philosophie. Völlig neu ist dieses Thema insofern, als sich die Philosophie- und Ethikdidaktik bisher auf den Unterricht an allgemeinbildenUm wieder einen Blick in die englischsprachige Literatur zu werfen: Es gibt hierzu eine Fülle von Büchern, nur kurz seien genannt: Teaching Philosophy: A Guide von Steven M. Cahn, Teaching Philosophy von Andrea Kenkmann, ganz zu schweigen von den dutzenden Büchern zu »Critical Thinking«, also einem an amerikanischen Colleges äußerst populären Einführungskurs zu informaler Logik. Solche Kurse werden oftmals parallel bzw. als Ersatz angeboten zu anderweitig obligatorischen Kursen zur Mathematik im Rahmen von »General-Education«Kursen, solchen also, die alle Studentinnen absolvieren müssen, um eine Grundund Allgemeinbildung zu erlangen, je nachdem, wie die Ausrichtung des Colleges bzw. der Universität es vorsieht, also ob es sich um ein Liberal Arts College oder eine religiöse Hochschule handelt. 27 Dresden: Thelem, 2007. 26

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den Schulen und auf das Philosophieren mit Kindern beschränkt hat. Nun steigt diese Fachdidaktik sozusagen in die höhere Etage der Lehre an Universitäten und Hochschulen.« (Rohbeck 2007, 7)

Rohbeck begründet diesen »Aufstieg« mit den neu eingeführten (2007) B.A.– und M.A.-Studiengängen, was eine größere Verschulung des Fachs zur Folge habe. Wird hier also eine neue Disziplin eingeführt? Nach Rohbecks Logik nicht, denn es wird die bestehende Disziplin lediglich »aufgestockt«, um im Bilde zu bleiben. Sie steigt in die nächsthöhere Etage, auf der sie ein neues Betätigungsfeld für sich eröffnet sieht. Ich würde Rohbeck zustimmen wollen, dass Didaktik Didaktik bleibt und nichts grundsätzlich Verschiedenes sein kann, wenn sie eine höhere Etage erklimmt. Dennoch erkennt er an, dass es sich bei der Hochschuldidaktik eben um ein »neues Feld« handelt, das eigene Forschung erfordert. Hier kann ich ihm nur zustimmen: Die Anwendung der Pädagogik auf Studentinnen und der Status der Dozentin als Forscherin schaffen eben genau dieses neue Niveau. Umso erstaunlicher ist es allerdings – und welche Gründe es hierfür gibt, entzieht sich mir komplett –, dass auf diesen ersten Anfang in der philosophischen Hochschuldidaktik – der Band ist sehr zu empfehlen! – vor über einem Jahrzehnt nichts mehr folgte, soweit ich es überschauen kann. Ich möchte also den vorstehenden Band nicht als »Erbe« dieses Anfangs oder als »Einlösen« von Rohbecks »Programm« verstanden wissen, sondern bescheidener als weitere Erforschung und Bearbeitung des Feldes, das Rohbeck28 meines Erachtens völlig richtig als Feld definiert und überhaupt erst erschlossen hat.29 Ihm gebührt diese Auszeichnung sowie den weiteren Beiträgerinnen des Bandes, Philipp Thomas, Hans-Bernhard Petermann, Urs Thurnherr, Thomas Rentsch, Michael Flacke, Volker Steenblock, Julia Dietrich, Jochen Berendes, Georg Mildenberg und dem bereits genannten Johannes Wildt. 29 Als m.W. neuestes Werk, das die Lehre der professionellen Philosophie zumindest streift, erwähne ich noch das von Eva Schürmann, Sebastian Spanknebel und Héctor Wittwer herausgegebene Formen und Felder des Philosophierens. Konzepte, Methoden, Disziplinen (Freiburg, Alber, 2017). Wie der Titel schon andeutet, behandelt es verschiedene Formen des Philosophierens (Hermeneutik und Phänomenologie, Sprachanalyse, Pragmatismus, »alternative« Formen wie etwa den Roman oder experimentelles Philosophieren etc.) wie die traditionellen 28

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Schließlich möchte ich noch auf ein Werk zu sprechen kommen, das in der deutschsprachigen philosophischen Literatur seit seinem Erscheinen 2014 für ziemliches Aufsehen sorgte, nämlich das Buch des sehr klugen Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik30. Man würde Hampes Intentionen in diesem Werk sicherlich missverstehen, wenn man es in die Rubrik »Hochschuldidaktik« einreihen würde. Vielmehr geht es ihm – im Kontext der neo-pragmatischen Kritik an der bisherigen abendländischen Philosophie – um eine Kritik am westlichen philosophischen Selbstverständnis, wozu auch ihre Vermittlung gehört. Ich würde daher Hampes Buch der Kategorie »Metaphilosophie« zuordnen.31 Denn in dem Buch geht es gerade um dieses Selbstverständnis der (westlichen) Philosophie, die laut Hampe die ausdrückliche Intention »zu belehren und zu erziehen« hat. Hampe unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei Formen des Ausdrucks, dem Behaupten und dem Erzählen. Das Erzählen ist individuierend und nicht verallgemeinernd; wer behauptet, stellt dagegen allgemeine Tatsachen fest. Es entspricht dem bisherigen Selbstverständnis der Philosophie, dass sie, wie die anderen Wissenschaften auch, Allgemeines behauptet. Nur Behauptungen können gelehrt und damit auch gelernt werden. Dies ist für Hampe »doktrinäre« Philosophie.32 Sie lehrt, und was sie lehrt, sind allgemeine, wiederholbare, musterhafte Lehren. Hampe versteht sich demgegenüber folgerichtig als Kritiker der »Lehren der Philosophie« – als Vertreter einer nichtdoktrinären Philosophie, die erzählen will: »Dagegen bemühen sich Vertreter nichtdoktrinärer Philosophie darum, mög-

Felder (Metaphysik, Ontologie, Anthropologie, Ethik etc.), auch in ihrer heutzutage transformierten Form. Die Lehre dieser »Formen und Felder« wird gelegentlich gestreift. Vor allem die Auseinandersetzung damit, wie man heutzutage traditionelle Felder interpretieren kann oder sollte, macht diesen Band wertvoll. 30 Suhrkamp, Frankfurt/M. 2014. Dass das Buch einige Aufmerksamkeit auf sich zog, zeigt sich an der »erweiterten« Neuauflage von bereits 2016, welche Kommentare von Gottfried Gabriel, Petra Gehring, Gerhard Ernst, Rahel Jaeggi, Holm Tetens, Jasper Liptow und Gerson Reuter enthält sowie eine Erwiderung auf seine Kritiker vom Autor selbst. 31 Für diejenigen, die sich bescheidener als Philosophiehistoriker verstehen (wenn auch nur zum Teil), sei vor allem der »Epilog zur Philosophiegeschichte« (a.a.O., S. 435 – 439) empfohlen. 32 Vgl. a.a.O., S. 13. 52

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lichst wenig oder gar nichts zu behaupten. Ihre Hauptintention ist eher, herauszufinden und den Behauptern selbst sichtbar zu machen, warum sie meinen, etwas behaupten zu müssen, und welche Konsequenzen das hat.« 33 Die Vorstellung und Verteidigung dieser nichtdoktrinären, narrativen »Philosophie« 34, die sich mehr dem vor-platonischen Sokrates verpflichtet fühlt35, impliziert ex negativo auch eine Kritik der bestehenden Philosophie, auch der Art, wie sie gelehrt wird. Denn sofern Philosophie im traditionellen Selbstverständnis behauptend ist, ist die Lehre dieser Disziplin ebenso behauptend bzw. darauf ausgerichtet, diese Behauptungen zu vermitteln (durch neue Behauptungen). Dagegen schlägt Hampe vor, dass Philosophie als »reflektierende Tätigkeit, der einzelne Menschen nachgehen, unterrichtet werden sollte, so wie die Malerei und der Umgang mit Pinsel, Farbe und Leinwand« (a.a.O., 53). Weil das so ist, kann die Philosophie in dieser Weise nur schlecht »vorgemacht« werden bzw. nur, weil die Dozentin es »vormacht«, heißt das nicht, dass es die Studentin auch »mitmacht«, auch wenn sie eifrig mitschreibt: »Sofern jemand die Tätigkeit des Philosophierens in der Vorlesung oder dem Lehrbuch ›vorgemacht‹ bekommt, so macht sie oder er als Zuhörerin und Aufschreiber ja noch nicht wirklich bei dieser Tätigkeit mit, so wenig wie jemand, der beim Boxen, Schwimmen oder Fahrradfahren zuschaut und sich Notizen macht, selbst boxt, schwimmt oder Fahrrad fährt. Selbst diejenigen, die eine philosophische Vorlesung halten oder ein philosophisches Lehrbuch schreiben, gehen nicht unbedingt der Tätigkeit des Philosophierens in diesem Sinne [des Reflektierens] nach, sondern reden und berichten über Texte von Leuten, die dieser Tätigkeit einmal nachgegangen sind« (a.a.O., 54). Daraus folgt, dass

Ebd. 34 Es ist eine berechtigte Frage, ob man die Vorsokratiker als narrative Philosophen bezeichnen kann, aber ich kann diesen Gedanken hier nicht verfolgen. 35 Der »Ahnherr« Hampes ist in dieser Hinsicht Richard Rorty, der bereits mit seinem Mirror of Nature von 1979 ein vor-platonisches Philosophieren wiederbeleben wollte, ein solches also, welches das große Narrativ Platons, das die westliche Philosophie bis ins 20. Jahrhundert beherrschte, fundamental in Frage stellte. Hampe grenzt sich allerdings behutsam (d.h. nur in bestimmten Punkten, nicht fundamental) von Rorty bzw. dem Pragmatismus ab, cf. a.a.O., S. 31f. 33

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eben die Art von nichtdoktrinärer Philosophie, wie Hampe sie vorschlägt, nicht so gelehrt werden kann wie die doktrinäre. Ich will hier Hampes Plädoyer für eine nichtdoktrinäre Philosophie nicht weiterverfolgen. In der Tat geht es in diesem Buch um eine Kritik der Lehre der doktrinären Philosophie. Aber die grundsätzliche Frage nach der Lehrbarkeit von Philosophie und »echter«, »wahrer« Philosophie, noch bevor sie in die universitäre Akademie kam und eine universitäre Disziplin wurde, stellt sich jede Lehrende der Philosophie, und das spätestens von dem Moment an, an dem ihre Leidenschaft in einen Beruf übergeht, der eine Dauer von 15 Wochen pro Semester hat. Ich will also Hampes Bedenken und Zweifel an der doktrinären Lehrbarkeit von Philosophie keineswegs vom Tisch fegen. Im Gegenteil, ich glaube, die Frage stellt sich für jeden, der Philosophie lehrt; bzw. jede Philosophiedozentin sollte sich diese Frage stellen, inwiefern sie selbst Philosophie – also Philosophieren – lehrt oder nur Doktrinen vermittelt. Es handelt sich also um die Spannung zwischen Philosophie als Beruf, den man ausüben kann wie andere auch, ohne von der Leidenschaft für diesen ergriffen zu sein, und Philosophie als Leidenschaft, die man eben vorlebt, auch wenn das Doktrinäre dabei vielleicht zu kurz kommt – ähnlich wie man Koch aus Beruf und aus Leidenschaft sein kann (und viele Köche und Philosophinnen beginnen ihren Beruf aus Leidenschaft, um ihn dann als Beruf im täglichen Betrieb weiterzuführen). Die Spannung zwischen Philosophie als Beruf und Philosophie als Leidenschaft sollte man nicht kleinreden, sondern sich ihr stellen, sofern man eben »professionelle Philosophin« ist oder es werden will, und sie für sich kritisch beantworten. Dies muss nicht zu einer harmonischen Lösung führen, sondern kann durchaus als Spannung ausgehalten werden. Und nicht wenige haben diese Spannung für sich so gelöst, dass sie sich – trotz überragenden Talents – gegen die Philosophie als akademischen Beruf entscheiden. Solche Leute leben aber nicht selten mit der Melancholie, dass sie sich gegen ihre Leidenschaft und für einen (wenn auch hoffentlich gutbezahlten) Brotberuf entschieden haben. Nach dieser Vorstellung einiger Werke zur Didaktik (im weiteren Sinne), die ich alle zur Lektüre empfehle, wende mich in den folgenden Kapiteln dem eigentlichen Thema dieses Buches zu, der Vermittlung von Philosophie an der Hochschule.

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2.1 Warum die Lehre der Philosophie etwas Eigenes ist Im Rahmen einer Hochschule war die Philosophie immer etwas Eigenes, Besonderes und wird es auch bleiben, sofern sie nicht in andere Disziplinen diffundiert (ein immerhin mögliches Szenario). Die Gründe hierfür sind seit der Zeit Kants und der Deutschen Idealisten – also der Zeit, als in deutschen Landen die moderne Universität nach dem Humboldt’schen Modell entstand – ausführlich dargestellt und diskutiert worden.1 Ich kann diese Gründe hier nicht referieren, denn in diesem Buch geht es ja um die Besonderheit der philosophischen Lehre, auch wenn die Lehre einen wichtigen Teil der damaligen Reformen ausmachte. Ich beschränke mich auf die drei aus meiner Sicht auffälligsten Gründe dafür, dass die Lehre der Philosophie etwas Besonderes ist: a) Der Gegenstand der Philosophie ist nicht ein Lehrbestand, der erlernbar (durch »Pauken« und Auswendiglernen) und dann abrufbar ist. Natürlich gibt es ein paar Eckdaten und -pfeiler, die man sich merken sollte (etwa welches Epoche machende Werk im Jahre 1781 in erster Auflage erschien; dass es eine kulturell äußerst fruchtbare Phase zwischen den Weltkriegen im 20. Jahrhundert gab), aber der Hauptunterschied zu anderen Fächern ist eben, dass in der Philosophie nicht wie in anderen Fächern ein propositionales Wissen gelehrt und gelernt werden soll, sondern eher das, was man einen Habitus, Duktus oder einen Stil nennen könnte. Hiermit meine ich im gut aristotelischen Sinn eine beigebrachte Haltung, die zur zweiten Natur wird, oder wie es Kant bekanntlich gesagt hat, nicht Philosophie

Zur Rolle der Philosophie in der deutschen Hochschullandschaft vgl. die schöne Zusammenstellung von Primärtexten Gelegentliche Gedanken über Universitäten von J.J. Engel, J.B. Erhard, F.A. Wolf, J.G. Fichte, F.D.E. Schleiermacher, K.F. Savigny, W.v. Humboldt, G.W.F. Hegel. Hg. v. Ernst Müller. Leipzig: Reclam Leipzig, 1990. 1

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lehren wir Lehrenden, sondern Philosophieren. Was für ein Habitus ist das?2 Wie dieser Habitus aussieht, dafür sind Sie, als Lehrende, verantwortlich, denn zunächst einmal sind Sie das lebendige Vorbild dafür, und es hängt auch von Ihnen ab, diesen Habitus vorzuleben und dadurch zu vermitteln. Hierzu gehört etwa der Duktus des Fragens, die Art, Fragen zu stellen, solche Fragen etwa, die quer stehen zu den geradlinigen, offenbaren. Dazu gehört auch, wie Sie zuhören können. Seien Sie ehrlich: Sind Sie eine gute Zuhörerin? Gelingt es Ihnen, und wie, Gespräche und Diskussionen in Gang zu bringen, zu moderieren im Sinne des lateinischen moderare, also Diskussion nicht zu Streit verkommen zu lassen? Weiterhin (zum Duktus und Habitus): Wie nähern Sie sich einem Text? Haben Sie Respekt vor der Autorin und ihren Thesen? Bringen Sie Sympathie für ihre Position auf oder sind Sie (allzu) schnell dabei, kritische Fragen zu stellen? Zum Habitus: Zu Beginn meines Studiums hatte ich eine sehr »romantische« Vorstellung vom Professor, die ich keineswegs mehr teile, aber sie sei doch genannt: natürlich männlich (es gab so gut wie keine Professorinnen zu meiner Studienzeit), abgehoben, distanziert und irgendwie »edel«. Ich stellte mir vor, Philosophieprofessoren seien »ganz besondere« Menschen, die alle irgendwie diesen genannten Typus verkörperten. Dass manche sich über die kaputte Kaffeemaschine ärgern oder sich über den Rüpel im Auto vor ihnen aufregen könnten, schien mir sehr weit hergeholt. Ich habe dann aber in meinem akademischen Leben viele Typen von Philosophinnen kennengelernt, die ganz anders waren, einmal angefangen von den Unterschieden des jeweiligen nationalen Typus, die natürlich idealisiert sind (aber jedes Klischee hat auch ein »fundamentum in re«: das des »ironischen« Engländers, »emotionalen« Südländers, »lockeren« Amerikaners etc.), und dann eben auch Typen, die alles andere als »edel« waren, nämlich streitsüchtig, beißend polemisch, komisch bis zur Parodie, vulgär, eitel oder ungepflegt und vieles mehr. Sie alle – ok, vielleicht ausgenommen die vulgären, aber viele von ihnen – waren auf ihre Weise beeindruckend und haben den Typus »Philosoph«

Zum Habitus der Philosophie-Dozentin habe ich bereits einiges in Kap. 1 gesagt. Hier geht es um den Habitus des Philosophierens im Allgemeinen. 2

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oder »Philosophin« 3 authentisch verkörpert und mir die Philosophie vorgelebt und damit nahegebracht – und mir vor allem gezeigt, dass man sich für seinen eigenen Charakter nicht schämen muss.4 Hier einen gemeinsamen Nenner zu finden, ist schwer, gar unmöglich, aber: sie alle haben – auf ihre Weise authentisch und ernsthaft – Philosophie gelebt. Das ist der Typus »Philosoph« oder »Philosophin«, der und die allein Philosophie lehren kann – gegenüber dem uninspirierten, langweiligen, in seiner elfenbeinernen Welt lebenden Typus, den man am besten nicht auf Studentinnen loslassen sollte. Ich denke, all das ist es, was unter den Begriff »Charisma« fällt, und Charisma legetai pollachos … Das ist selbst eine meines Erachtens wichtige Einsicht, wenn sie die eigene Wahrnehmung für alle möglichen Typen öffnet, die in ihrer Weise mit Ernst bei der Sache sind. Hierfür sollte man offen sein – als Studentin, als Kollegin. Zurück zum Sonderstatus der Philosophie, um den es hier ja geht: Ich meine doch, dass dieses Charisma hier wichtiger oder ausschlaggebender ist als in jeder anderen Disziplin. Das liegt an der in jeder Hinsicht untypischen Disziplin »Philosophie« selbst, die gewissermaßen immer ein seltsames, nicht ganz einfaches Dasein innerhalb der Hochschule führte. Geht es in anderen universitären Disziplinen um die Vermittlung propositionalen Wissens, ist die Philosophie strenggenommen eine vollkommene Außenseiterin, deOb die Typen des Philosophen bzw. der Philosophin auch gender-spezifisch sind, lasse ich hier offen. Ich glaube, offen gestanden, nicht, dass sich genderspezifische Unterschiede festmachen lassen, jedenfalls nicht mehr als in anderen Berufen auch (finden Sie Polizistinnen anders als Polizisten, oder Elektrikerinnen anders als Elektriker?). Das heißt allerdings nicht, dass nicht in der Wahrnehmung durch Studentinnen durchaus Stereotypen »festsitzen«, die man als durchweg problematisch ansehen kann. Vgl. hierzu unten, Kap. 5.1. 4 Ich nenne hier stellvertretend eine Person, bei der mir der Widerspruch – zwischen strenger Wissenschaft und persönlichem Auftreten – vielleicht am spürbarsten war: Karl Schuhmann. Als Forscher strenger und härter als wohl jeder andere – gegen andere wie gegen sich selbst –, als Mensch sarkastisch, humorig, launisch, respektlos. Erst später – und leider zu spät: er verstarb 2003 – ist es mir gelungen, diesen Widerspruch aufzulösen. Aber dies – die Einheit der Person – ist nur ein Seitengedanke. In der Generation meiner übrigen Lehrer war er einer derjenigen, die mir vorlebten, dass Philosophinnen nicht so sein müssen, wie ich ursprünglich dachte. Ich glaube, keiner, der ihn kannte, konnte ihm gegenüber indifferent sein, er war ein wahres Unikum. 3

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ren einziges »Existenzrecht« an der Universität vielleicht ihr angeblicher Status als »Königin der Wissenschaften« ist. Wenn die Wissenschaften schon eine »Königin« haben, benötigt diese auch ihren Ort an der Hochschule – der ihr aber seit ca. 150 Jahren kontinuierlich entzogen wird (so lange wird schon an ihrem Thron gesägt, nicht erfolglos). Es sollte uns Philosophinnen eine Lehre sein, dass wir nicht für alle Zukunft selbstverständlich und bedingungslos an der Universität willkommen sein werden, sondern um unser Existenzrecht kämpfen müssen bzw. nicht indigniert sein sollten, wenn wir uns den Kampf um dieses Recht explizit auf den Schild schreiben – und allem voran in der Lehre um unser Dasein kämpfen und uns daher gut zu »verkaufen« versuchen. b) Gegenüber anderen Disziplinen, die propositionales Wissen vermitteln, ist die Philosophie auch deswegen anders, weil sie sich anders situiert. Philosophie situiert sich, um es mit Kant zu sagen, zwischen Dogmatismus und Skeptizismus. Aus dieser eigentümlichen Stellung aber kann man wiederum Falsches ableiten, sofern man sie missversteht oder sie in Extreme drängt, in denen sie sich eigentlich nicht befindet, wenn man sie recht versteht. Wie man den Dogmatismus aufbricht, also die Kruste des »Normalen« und »Allgemeinverständlichen« und »Selbstverständlichen«, werde ich unten unter Punkt 3 in diesem Kapitel diskutieren. Mir geht es hier um das andere Extrem, also den Skeptizismus. Es herrscht gelegentlich das Vorurteil, Philosophinnen fragten immer (und immer nur) nach dem Warum.5 In einem gewissen Sinn ist das sicher nicht falsch (wenn auch viel zu vage und minimal, was die »Fähigkeiten« der Philosophie betrifft). Aber: Das ewige »Warum«-Fragen ist ein leerer und platter Skeptizismus, sofern er jeden einmal erreichten Kenntnis- oder Wissensstand wiederum hinterfragt. Natürlich ist die Frage, ob und wann und an welchem Punkt man etwas nicht mehr in Frage stellen sollte oder dürfte, selbst eine philosophische Frage. Aber die Idee, dass Philosophinnen nichts tun, als ständig Oder sie fragen grundsätzlich immer nur, ohne Antworten zu geben. Damit würden Sie zur leeren »Fragenschleuder«, die ihre Unkenntnis durch eine erneute Hinterfragung kaschiert. Im Übrigen: Eine iterative Hinterfragung mag die Unkenntnis, die man vielleicht hat, für kurze Zeit verbergen, enthüllt sich aber rasch, wenn keine Substanz dahintersteht. 5

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»Warum« zu fragen, und aufgrund ihres ständigen Warum-Fragens damit notwendig und allein Skeptiker sind und bleiben, ist eine Verballhornung des Philosophierens. Es ist aber leicht, im Geben und Nehmen von Fragen und Antworten im Seminar in die oben beschriebene Pose zu verfallen. Wer den Eindruck vermittelt, die Philosophie lasse sich auf einen Skeptizismus – einen Geist, der stets verneint – reduzieren, handelt verantwortungslos. Das mag eine Weile lustig und unterhaltsam sein, stößt aber schnell, jedenfalls früher oder später, an ein Ende. Natürlich geht es in der Philosophie zu einem großen Teil darum, falsche Dogmen zu entlarven und fehlerhafte Vorurteile zu identifizieren und dies durch gezielte Fragen zu tun, aber sie ist damit mehr als das. Sie stellt nämlich auch Thesen auf, konstruiert Argumente, baut Systeme, wie auch immer: die Philosophin steht am Ende ihrer Arbeit nicht mit leeren Händen da. Dass alle positiven Ergebnisse aber immer dem Zweifel, dem Sich-selbst-in-Frage-Stellen, dem radikalen Hinterfragen abgerungen sind und dass jeder erreichte Standpunkt wiederum kritisch hinterfragt werden sollte, zeichnet die Philosophie vor allen anderen Disziplinen aus, die gewissermaßen per definitionem zumindest immer von einem Dogma bzw. einem Thema ausgehen: In der Biologie geht es ums Leben, in der Psychologie um die Psyche6 usw. Wissenschaft schreitet von einem Dogma (ihrem jeweiligen Paradigma, was unangefochten gilt, also eine Art Dogma ist) zum nächsten fort. Worum geht es in der Philosophie? Das eben ist erst zu ermitteln! Die reine Pose des Fragens und Verneinens allerdings kann höchstens ein Anfang der Philosophie sein und ist niemals Selbstzweck. Wäre sie das, wäre die Tätigkeit der Philosophin unnötig, sofern jeder Wissenschaftlerin und jeder Wissensdisziplin, die sich ernst nimmt, ein intrinsischer Zweifel am Erreichten inhärent sein sollte. Man darf also nicht meinen, dass man, wenn man nur eine skeptische Haltung in jeder Disziplin »installiert« hat, sich der Aufgabe enthoben hätte, Philosophie als eigene Disziplin auszubilden.

Diese wissenschaftstheoretische Darstellung ist freilich sehr vereinfacht, sofern der wissenschaftliche Fortschritt gerade dazu führt, dass sich Grenzen verschieben, neue (Sub-)Disziplinen entstehen etc. Aber als Kontrast zur essentiell flexiblen Philosophie mag es wohl doch dienen. 6

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c) Das Lernen von Philosophie – das ist ja das »Korrelativ« zum Gesagten – besteht auch nicht im »Pauken« von Inhalten. Vielmehr geht es um das Verstehen von – im weiteren Sinne – Gedankenfiguren7, im konkreteren Sinne von Argumenten, die nur dann verstanden werden können, wenn man sie selbst im eigenen Denken durchspielt. In dieser Hinsicht ist das Lernen von Philosophie dem der Mathematik am ähnlichsten. Man muss es selbst »durchrechnen« oder »durchdenken«. »Blind« ein Argument oder eine Doktrin auswendig zu lernen bedeutet, dass sie unverstanden bleibt, genauso wie das Auswendiglernen von binomischen Formeln noch kein Verständnis derselben garantiert. Zum Verstehen in der Philosophie gehört, dass man die Struktur des Argumentes selbst durchschaut, dass man die Figur des Gedankens vor seinem inneren Auge sieht. Was Sie Studentinnen also beibringen, wenn Sie überhaupt etwas »beibringen« (abgesehen vom »Stilistischen« oder »Habituellen«), ist, dass Sie als »Denkanimateur« fungieren. Das heißt, dass Sie etwas vormachen, was die Studentinnen mitmachen müssen, um es zu verstehen. Studentinnen eben dazu zu bekommen, mitzumachen, das ist die Kunst der Lehre der Philosophie oder besser des Philosophierens. Hierin ist die Philosophie vielen anderen Disziplinen natürlich ähnlich, sofern auch hier das Verstehen des Stoffes wichtig ist, wobei das Verstehen in anderen Disziplinen nicht selten das Resultat von vielem Auswendiglernen ist (man denke nur an die Medizin oder die Geschichtswissenschaft), während in der Philosophie Verstehen oft spontan geschieht (der berühmte »Aha-Moment«). Diesen Moment kann es freilich überall geben, sofern mit klassischen Argumenten, etwa Syllogismen, hantiert wird. Natürlich verwenden auch andere wissenschaftliche Disziplinen Argumente (sie sind also nicht bloßer »Impressionismus«). Aber bei Letzteren ist das – wie man es nennen könnte – eigentliche (begriffliche, nicht deskriptive oder narrative) Denken und Verstehen erst möglich auf der Basis eines gewissen Bestands an propositionalem Wissen, was zunächst einmal erworben werden muss, »committed to memory«, wie es im Englischen pasPhilosophie funktioniert nicht ohne Argumente, kann aber auch nicht auf Argumente reduziert werden (wie es manche eher anämischen Philosophiekonzeptionen meinen). Ich finde die Metapher der »Figur«, die aus der Musik entlehnt ist, hilfreich, um die besonderen Gedankenformen der Philosophie zu beschreiben. 7

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sender Weise heißt. Philosophie kann immer »aus dem Stand heraus« begonnen werden. Einen Denk-Weg kann man immer irgendwo (zu konstruieren) beginnen (auch wenn die Schritte zu der Stelle, wo man begonnen hat, im Nachhinein zurückverfolgt werden müssen). Philosophie setzt zu aller Zeit – sofern Verstehen gelingt – eine »ursprüngliche Evidenz« voraus (um es mit Husserl zu sagen), das heißt, dass jeder Denkschritt immer ganz und gar klar sein muss, wenn Verstehen voranschreiten soll (und nicht jeder Denkschritt ist ein Glied einer Argumentationskette). Ich möchte aber gleich diejenigen beruhigen, die argwöhnen, ich schätzte die Leistungen anderer Wissenschaften gering, nach dem Motto »Die Wissenschaft denkt nicht«, ein Diktum, das ich ausdrücklich zurückweise. Mein Punkt ist nur, dass zum Verstehen eines philosophischen Textes eigentlich zu Anfang nichts anderes vorausgesetzt ist als das Durchdenken des Gedankengangs. Dass man diesen später natürlich »anreichern« muss (etwa bei den Platonischen Dialogen mit Informationen zur damaligen Gesellschaftsform, bei frühneuzeitlichen Denkern mit einem Minimum an Wissenschaftsgeschichte), versteht sich von selbst. Propositionales Wissen kommt also hinzu, spielt aber für systematisches Philosophieren eine untergeordnete Rolle. (Für alles in diesem Kapitel Gesagte gilt, dass ich von Anfängen spreche.)

2.2 Die »Abgehobenheit« der Philosophie Der Philosophie wird oft vorgeworfen, sie sei so abstrakt, so abgehoben. (Dass sie »schwieriger« als andere Disziplinen sei, taucht eigentlich auf universitärem Niveau nicht mehr häufig auf, weil es auch nicht stimmt; andere Disziplinen sind womöglich schwieriger – eine Behauptung, die ohnehin nicht gut messbar ist.) Was verbirgt sich hinter diesem Vorwurf, sofern er überhaupt ein Vorwurf (und nicht Zeichen von Hochachtung) ist? Ich führe hier ein Motiv ein, das mich in den nächsten Abschnitten dieses Kapitels beschäftigen wird. Es handelt sich bei diesem Vorwurf nämlich – behaupte ich – um nichts anderes als um die Autorität des gesunden Menschenverstandes, des common sense, der aufbegehrt und sich aufbäumt gegen die »Zumutung« der Philosophie, Dinge zu bedenken, die kontraintuitiv, kontrafaktisch oder schlichtweg – für ihn! – unzumutbar sind. Der 2. Zum Spezifikum der Philosophie in der Hochschullehre

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Vorwurf, dass etwas »unzumutbar« sei, rührt daher, dass ein wichtiger Teil des gesunden Menschenverstandes (das macht ihn eben »gesund« und nicht angekränkelt) ein festes Wertegerüst ist (oder einem solchen aufsitzt), das immer schon festgelegt hat, was gut und was schlecht, was angebracht und angemessen, was unangebracht und unangemessen ist. Der gesunde Menschenverstand meint, man müsse unbedingt so etwas wie ein festes Gerüst haben und ohne es sei es beispielsweise unmöglich, ein guter oder moralischer Mensch zu sein. So glauben etwa viele Theisten (vor allem Christen) mit einem solchen gesunden Menschenverstand, dass der Glaube an einen Gott – also eine unerschütterliche, infinite Instanz – notwendige Bedingung dafür sei, moralisch gut zu sein; wer nicht glaube, sei im Umkehrschluss ein schlechter oder moralisch sehr fragwürdiger Mensch. Das ist eine Variation des genannten Motivs, dass zum gesunden Menschenverstand ein normatives fundamentum inconcussum gehört, aus dem sich alles Wesentliche ableiten lässt. Und Erziehung – angefangen in der Grundschule – sollte daran arbeiten, ein solches aufzubauen. Dies mag in der Schule vielleicht in Ordnung sein (ich bin hier neutral), an der Hochschule ist diese Haltung aber nicht mehr angebracht. Bei aller Einführung in die Philosophie muss man sich vor Augen halten, dass dies – die Macht des gesunden Menschenverstandes – die erste und auch wohl größte Hürde ist, die man aus dem Weg zu räumen hat. Wie man das tun kann, davon gleich. Zunächst aber nochmals zum Prinzipiellen. Ich will hier keine Generaldebatte darüber führen, wie sich der gesunde Menschenverstand zur Philosophie verhält (also etwa Britische Empiristen vs. Deutsche Idealisten). Auch will ich jenen nicht verunglimpfen (im Sinne des Heidegger’schen »Man«). Denn dies ist natürlich selbst ein großes Thema der Philosophie seit der Antike, spätestens seit Sokrates, von dem Platon nicht müde wird zu sagen, dass die Athener ihn umgebracht hätten, weil er ihnen lästig war. Die Grunddebatte dreht sich hier, scheint es mir, um folgende Fragen: Steht die Philosophie quer zum gesunden Menschenverstand? Muss sie ihn geradezu ausrotten, umstülpen? Oder ist sie dazu da, ihn zu legitimieren, auf einer höheren Ebene wahr zu machen? Ich will, wie gesagt, hierzu keine Stellung beziehen. Wie Sie dazu stehen, definiert Ihr Philosophieverständnis. Wie dem auch sei (also wie Ihre Antwort 62

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dazu ausfällt), in jedem Fall unterscheiden Sie sich als Philosophin vom gesunden Menschenverstand, wenn Sie philosophieren. Sei es allein deshalb schon, weil sie vielleicht Fragen stellen, die sich der gesunde Menschenverstand nicht stellt; sei es, dass Philosophinnen dieselben Fragen des gesunden Menschenverstandes anders stellen; sei es, dass Sie den gesunden Menschenverstand überhaupt thematisieren (die meisten Menschen im Stand des common sense stellen ihn gerade nicht in Frage, das ist Teil seines Wesens und seiner Attraktivität, ähnlich wie Vorurteile, die eben ihren Anhängerinnen als wahr erscheinen, weil sie als – bloße – Vorurteile verborgen sind). Wie immer Sie also zum gesunden Menschenverstand stehen, Sie müssen sehen, dass Sie mit der und durch die Philosophie etwas tun, was der gesunde Menschenverstand aus eigener Kraft nicht schafft – oder schaffen will (aus welchen Gründen auch immer). Wenn Sie also den genannten Vorwurf (»zu abstrakt!«8, »zu abgehoben!«, »zu lebensfern!«) zu hören bekommen, dann sollten Sie sich innerlich darauf einstellen, woher der Ruf stammt. Den Vorwurf als solchen erst einmal zu würdigen, ihn zu thematisieren und zu problematisieren, kann ja schon einmal ein erster Anfang sein oder vielleicht besser ein zweiter Anfang, denn er kann ja erst erfolgen, wenn man mit der Philosophie begonnen hat, sich also aus dem »Herrschaftsbereich« des gesunden Menschenverstandes entfernt hat. Der Vorwurf kann immer erst eine Reaktion seitens des common sense auf die einmal erfolgte Konfrontation mit der Philosophie und ihre Provokation sein; er kann ja nur reaktiv sein, denn seine Herrschaft ist verborgen und implizit. Kommen wir also zu ein paar der vielen Möglichkeiten, wie Sie in die Philosophie einführen können. Sie sind – um es zu wiederholen – für Einführungsveranstaltungen gedacht und sind alle, wenn ich es recht sehe, Variationen des Themas »Umgang mit dem gesunden Menschenverstand«.

Zum Vorwurf der Abstraktheit der Philosophie vs. common sense sei – für die, die es noch nicht kennen – der zutiefst ironische Aufsatz von G. W. F. Hegel »Wer denkt abstrakt« von 1807 ans Herz gelegt, in dem Hegel das Verhältnis des vermeintlich konkreten gesunden Menschenverstands und des abstrakten philosophischen Denkens umkehrt (eine »Inversion«, die freilich erst vollkommen verständlich wird durch die dialektische Methode). 8

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2.3 Strategien der Einleitung in die Philosophie Viele Studentinnen, die sich in Ihr Seminar begeben – und ich rede hier von »blutigen« Anfängerinnen –, werden, sofern sie durchschnittlich begabt und mit urwüchsiger Intelligenz ausgestattet sind, der Philosophie gegenüber aufgeschlossen sein. Ich sagte »blutige« Anfängerinnen, denn es gibt auch solche, die gewisse Kontakte mit der Philosophie schon im Religions- oder Ethikunterricht hatten. Diese sind oftmals die schwierigeren Kandidatinnen, weil sie sich schon auf ein gewisses Philosophieverständnis festgelegt haben oder darauf durch ihre Lehrerinnen festgelegt wurden, die vielleicht nur nebenbei Philosophie unterrichten (die Lehrerinnen waren also vielleicht selbst keine sehr guten Philosophinnen). Solche Studentinnen haben, so würde ich es nennen, einen »höherstufigen« »philosophischen Dogmatismus« erlernt, der manchmal besonders schwierig aufzubrechen ist, weil er mit einer gewissen Arroganz und Überlegenheitsgesten daherkommt (dies sind die Studentinnen, die lächelnd nicken, wenn Sie etwas Ihnen bereits Bekanntes referieren). Daher ist es grundsätzlich immer sinnvoll, zu Anfang einer Einführungsveranstaltung in die Runde zu fragen, wer schon Philosophie rezipiert hat und in welcher Form (was übrigens auch ein ausgezeichneter Weg ist, eine erste Diskussion zu generieren). Dies ist, nebenbei bemerkt, vor allem in Deutschland eine besondere Herausforderung, wo in einem normalen Seminar vom Erstsemester bis hin zur Doktorandin alles bunt gemischt vorkommt,9 was natürlich auch Vorteile hat (die Jüngeren können von den Älteren lernen usw.); der Unterschied in der Reife macht es aber auch teilweise schwieriger, ein einheitliches Niveau zu kultivieren und einheitliche Diskussionen zu generieren, bei denen einerseits niemand gelangweilt, andererseits niemand überfordert wird.10 Dies ist sehr viel anders als etwa in Nordamerika, wo die Kursniveaus und Zugänge ziemlich starr festgelegt sind. Meist ist es sehr genau vorgeschrieben, welcher Studentinnentyp welche Kursstufen besuchen darf. Diese Struktur erleichtert die Lehre erheblich. 10 Eine ganz hohe Kunst der Lehre ist es – und ich habe das bisher nur sehr selten erlebt –, wenn es einem gelingt, auf zwei Ebenen gleichzeitig zu sprechen, also auf Anfänger- wie Fortgeschrittenen-Niveau. Ich muss gestehen, dass ich dieses »Geheimnis« nie enträtseln konnte. 9

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In jedem Fall sind die Studentinnen jüngerer Semester, die in Ihrer Einführungsveranstaltung sitzen (ob blutig oder nicht), zumeist aus freien Stücken gekommen, weil sie das Thema oder den Titel der Veranstaltung interessant fanden (oder vielleicht Berichten von der phantastischen Dozentin folgten, die alles, was sie lehrt, interessant macht!). Nebenbei bemerkt, was Betitelung und sonstige »Bewerbung« Ihrer Veranstaltungen betrifft: In dieser Hinsicht haben gute Seminarkommentare (in den sogenannten Kommentierten Vorlesungsverzeichnissen) eine wichtige Werbe-Funktion. Es lohnt sich, sich hierfür Zeit zu nehmen, in der Weise, wie Sie auch ein Abstract eines Artikels mit großer Sorgfalt verfassen, weil Sie ja dadurch die Zahl der Leserinnen (oder Besucherinnen Ihres Vortrags) zu erhöhen hoffen. Wer despektierlich meint, so etwas dürfe eine Dozentin an der Hochschule nicht tun, tut ihrer Disziplin keinen Gefallen. Freuen Sie sich über Zulauf, weil das eine direkte Bestätigung Ihrer Qualität als Lehrerin ist. Bei vielen Studentinnen werden Sie also »offene Türen einrennen«, aber es gibt doch immer eine gute Anzahl von ihnen, die sich der Philosophie nicht öffnen, es nicht wollen (oder können oder es nicht zu können meinen, etwa weil sie sich selbst für »zu dumm« halten11) und daher eine besondere Überzeugungskraft von Ihrer Seite benötigen. Hier sind ein paar wohlerprobte – und wie immer, nicht erschöpfende – Vorschläge. Sie müssen hierfür keine wie immer zu beschreibende meditative »Pose« einnehmen, sondern diese MethoDieser Gedanke sollte vielleicht ein wenig vertieft werden: Manche Studentinnen halten sich in der Tat und ganz ernsthaft für intellektuell zu minderbemittelt, um Philosophie treiben zu können. Freilich liegen solche, die meinen, dies einzusehen, von vornherein falsch, denn um so etwas (und sei es auch putativ) festzustellen, bedarf es schon einer gewissen Reflexionskraft. Aber sei’s drum, diejenigen, die das behaupten, würde ich einteilen in solche, die (a) zu wenig Selbstbewusstsein haben oder (b) denkfaul sind. Was (a) betrifft, so sind solche, denen Sie durch etwas positive Rückmeldung oder sonstige Zuwendung (etwa durch Gespräche in Ihrer Sprechstunde, zu denen Sie sie extra einladen) das Rückgrat stärken, oftmals die dankbarsten und später auch stärksten Studentinnen. Was (b) betrifft, so brauchen solche Studentinnen, die etwas renitent oder gar arrogant daherkommen (was meist nur Pose ist), eine explizite und nachdrückliche Aufforderung (einen – virtuellen – »Tritt in den Hintern«), um sie aus der Reserve zu locken. Ist die Indifferenz so groß, dass dies nicht gelingt, egal durch welche Provokation, verschwenden Sie keine Zeit mehr auf sie. 11

2. Zum Spezifikum der Philosophie in der Hochschullehre

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den sind für Sie vielleicht – sofern Sie schon gelehrt haben – bereits selbstverständlich geworden.

2.3.1 Konfrontation mit dem gesunden Menschenverstand

Im Grunde genommen sind alle Weisen, in die Philosophie einzuführen, Konfrontationen (um es so neutral wie möglich zu formulieren) mit dem gesunden Menschenverstand. Grundsätzlich scheint es mir, dass dies produktiv wie destruktiv sein kann. Beides hat seine Extremformen, und diese haben auch ihre Berechtigung in verschiedenen, jeweils angemessenen Kontexten; hiervon gleich. Denn man kann ja auch diesen ominösen »gesunden Menschenverstand« gar nicht erst thematisieren und (stillschweigend) erst einmal so tun, als würden Sie von diesem Standpunkt aus reden. Sie beginnen also auf dem Niveau des gesunden Menschenverstandes, und zwar sowohl ohne ihn zu erwähnen wie auch ohne dass Sie nun überhaupt den Übergang in die Philosophie »antreten«.12 In diesem Fall versetzen Sie sich in die Position, als würden Sie Ihren Studentinnen gewissermaßen auf Augenhöhe begegnen (denn es ist ja faktisch nicht so, weil Sie die Lehrende sind), und tun so, als würden Sie ganz selbstverständliche Dinge sagen. Damit »holen« Sie die Studentinnen dort »ab«, wo sie Ihrer Einschätzung nach stehen. Drehen Sie dann aber – in dem Moment also, wo Ihre Zuhörerinnen der Meinung sind, sie haben so weit alles gut verstanden – behutsam an der »Abstraktionsschraube« durch Problematisieren, Hinterfragen oder Kritik (»das klingt jetzt zwar plausibel, aber stimmt das denn?«). Spätestens dann (wenn Sie ein paar kritische bzw. potentiell destruktive Fragen in den Raum stellen) wird Ihren Studentinnen langsam klar, dass die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten entweder gar nicht selbstverständlich oder zwar selbstverständlich, aber philosophisch (also aus der Distanz) betrachtet ziemlich komplex und schwierig, wenn nicht gar Ein geeignetes Mittel hierzu ist das Beispiel oder die Anekdote, die Sie gewissermaßen »hemdsärmelig« oder »beiläufig« daher erzählen. Ist die von Ihnen erzählte Geschichte interessant, witzig oder spannend, ist Ihnen die Aufmerksamkeit Ihrer Studentinnen sicher. Wenn Sie dann den »Umschlag« (auffällig oder nicht) in die Philosophie machen, haben Sie immer einen guten Einstieg. 12

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paradox oder inkohärent sind. Es geht darum, diesen Kontrast aufzubauen, wenn es geht, zu verschärfen und für sich zu verwenden. Wie bereits gesagt, mag Ihre Position ja durchaus die sein, dass es in der Philosophie in erster Linie darum geht, die stummen oder impliziten Annahmen des gesunden Menschenverstandes explizit zu machen. Das würde ich eine produktive oder konstruktive Aneignung des gesunden Menschenverstandes nennen. Es geht dann weniger darum, »radikal« zu sein (also alles »radikal« in Frage zu stellen oder eine Frage »radikal zu stellen«), sondern darum zu explizieren, was zuvor nur implizit selbstverständlich war, und die Gründe dafür, warum es selbstverständlich war, zu rekonstruieren. Das wäre etwas, was Nietzsche »Genealogie« 13 und Foucault »Archäologie« genannt hat. Das wäre eine produktive Aneignung in dem Sinne, dass das, was vorher als ungerechtfertigt und unkritisch »galt«, nun durch das »Fegefeuer der Kritik« hindurchgegangen ist und dennoch (oder erneut, auf höherem Standpunkt) bestehen bleibt. Die positive (Meta-) Lehre dabei wäre: Das, was der gesunde Menschenverstand behauptet, ist grundsätzlich richtig (oder kann es potentiell sein), aber man kann dies erst dann richtig verstehen oder rechtfertigen, wenn man ihn philosophisch geprüft hat, nach dem Hegel’schen Motto: Was bekannt ist, ist damit noch nicht automatisch erkannt. Nur Rechtfertigung durch Kritik legitimiert. Keiner kann als mündiger Bürger sagen: »Das ist halt so«, auch wenn das Behauptete an sich stimmen mag. Aber auf das »an sich« kommt es an: Wieso stimmt es, was sind die (validen, belastbaren, überzeugenden) Gründe hierfür etc.? Die destruktive Variante, also alles in Frage zu stellen, ständig den Geist, der stets verneint, zu spielen, empfehle ich nicht. Zwar hat radikales In-Frage-Stellen sein Recht und seine Zeit, und so manche allzu selbstsichere Vollblut-Dogmatikerin hat es verdient, dass man ihr einmal richtig den Boden unter den Füßen wegzieht (was allerdings nie die Form von Demütigung annehmen darf, trotz aller Härte – was vielleicht nicht immer gelingt). Aber die Lust an der Destruktion muss auch Grenzen haben; weiß sie sich nicht zu beschränken, Nietzsches Programm der »Umwertung aller Werte« war sicherlich radikaler gemeint, als es oben für die vorstehenden Zwecke verwendet wird (dasselbe gilt eventuell auch für Foucault). Ich beanspruche hier also keine Texttreue gegenüber diesen Philosophen. 13

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dann ist alles umsonst und Sie haben außer der (etwas neurotischen) Demonstration des »Geistes, der stets verneint«, nichts Positives vorzuweisen. Anders gesagt, wenn Ihre Studentinnen am Ende (der Sitzung, des Seminars, des Tages) mit dem Eindruck entlassen werden, Philosophie könne immer nur kleinhauen und niedermachen, »verneinen«, »de(-kon-)struieren«, aber »nichts Positives beitragen«, »nichts aufbauen«, dann haben Sie Ihrem Fach einen schlechten Dienst erwiesen. Phrasen wie »Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens« oder »Die Philosophin zeichnet sich dadurch aus, dass sie alles immer hinterfragt« mögen schöne Sprüche fürs Poesiealbum sein, haben aber mit Philosophie, wie sie professionell, an einer Hochschule, betrieben wird, wenig zu tun. Und um genau diesen Unterschied zu verstehen – also mit Kant zu reden, zwischen Philosophie als Weltweisheit und Schulweisheit unterscheiden zu können –, kommen die Leute idealiter in Ihr Seminar. Kluge Sprüche klopfen kann jeder; kluge Thesen zu verteidigen und komplexe Texte zu verstehen, dazu bedarf es größerer Anstrengung. Kann denn die Destruktion überhaupt einen positiven Sinn haben? Zur skeptischen Methode gleich noch; aber grundsätzlich meine ich, dass der »Geist, der verneint«, seinen eingeschränkten Sinn haben kann, nämlich indem man ihn so weit treibt, dass er ein ebenes Spielfeld herbeiführt. Ein solches Spielfeld, auf dem nun alle »auf Augenhöhe« und mit gleichen Vorstellungen und Ideen stehen, ist natürlich Wunschdenken. Aber man kann es idealiter herbeizuführen versuchen, indem man wenigstens die gröbsten Dogmen und Fehlvorstellungen aus dem Weg räumt. Vielleicht ist an dieser Stelle ein Beispiel angebracht. Nehmen wir an, Sie leiten ein Seminar zur Ethik und es gibt im Seminar eine Person, die sehr stark religiös ist und alle Vorschläge der in Rede stehenden Philosophin kategorisch ablehnt mit dem Verweis darauf, dass das ihrem Glauben widerspräche. Hier gibt es grundsätzlich, scheint mir, zwei Möglichkeiten. Die »weichere« Variante wäre, Sie würden diese Studentin einmal zu den in ihrer Religion impliziten (oder auch expliziten) moralischen Maximen und Grundsätzen befragen, sie also bitten, die religiöse Terminologie und die damit einhergehende Selbstverständlichkeit beiseite zu lassen und einfach und frei heraus zu sagen und dann auch zu begründen, welche Handlungen erlaubt und welche verboten sind und warum. Antworten wie 68

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»weil es der Prophet so sagt« oder »weil es in der Bibel steht« sind nicht gestattet, es sei denn, es wird hier ein Argument mitgeliefert. Wenn es Ihnen gelingt, der Studentin echte Argumente – als so problematisch sie sich später auch herausstellen mögen – zu entringen und sie damit auf das Feld philosophischer Frage, Antwort und Kritik zu bringen, haben Sie im Prinzip schon erreicht, dass die Studentin wenigstens ihre Dogmen hinterfragt und der Kritik anheimstellt. Notabene: Nicht nur religiöse Menschen sind manchmal sehr verbohrt und dogmatisch; und nicht jede Religion ist exzessiv dogmatisch. Ich will mit der Wahl dieses Beispiels nicht Dogmatismus mit Religion bzw. religiösem Glauben verbinden, aber die meisten Dogmatismen rühren von einer übertriebenen Reverenz einer Religion oder eines einer Religion gleichenden Glaubenssystems gegenüber her. Auch werden Sie – behaupte ich – bei solchen Leuten die meisten Emotionen – meistens Wut, Ärger, Empörung – ernten. Also Vorsicht! Die »härtere« Variante ist in der Tat, die Warum-Frage bei solchen Leuten auf die Spitze zu treiben, also angefangen von »Steht das wirklich so in Ihrem heiligen Text, und wo? Kann man die Passage auch anders verstehen?« bis hin zu Fragen wie »Warum glauben Sie das?«, »Sind Sie diesem Glaubensbekenntnis immer treu?«, »Warum sollte man das glauben? Warum überhaupt glauben?« Wer diese »Warum?«-Fragen nicht ertragen kann, sollte nicht Philosophie studieren.

2.3.2 Hegel’sche (skeptische) Strategie

Mit dem, was ich hier die »Hegel’sche« Strategie nenne, meine ich im Wesentlichen zwei Weisen, wie man die Skepsis für die Lehre produktiv verwenden kann. Um sie für sich produktiv zu verwenden, muss man freilich kein Hegelianer sein! Dennoch aber sei hier Hegel empfohlen: In gewisser Weise ist seine Philosophie die wohl interessanteste und originellste Weise, mit dem Skeptizismus produktiv umzugehen, und das gerade in der Frage, wie man in die Philosophie einführt. Die Phänomenologie des Geistes ist nichts anderes als ein großer systematischer Versuch, dies zu erreichen. Wie immer Sie also zu Hegel stehen (als Systematiker, als »Logiker« etc.) – ich empfehle, 2. Zum Spezifikum der Philosophie in der Hochschullehre

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diesen Aspekt bei Hegel zum Zweck der Einleitung in die Philosophie zu studieren. Hier also der »moderate Hegelianismus«: Die erste Strategie geht von der durchgängigen Kontinuität von gesundem Menschenverstand und Philosophie aus; damit meine ich, dass der gesunde Menschenverstand nicht vollkommen »umgekrempelt« werden muss, um ins Philosophische gewendet werden zu können. Sie versetzen sich also in die Position des gesunden Menschenverstandes, gleichgültig, welches Thema Sie behandeln. Sollte es sich um praktische Themen handeln, könnte ein solcher Anknüpfungspunkt etwa der sein, dass es doch sehr plausibel sei, dass es ausgleichende Gerechtigkeit wäre, einen Mörder seinerseits seines Lebens zu berauben (ob Sie selbst dies für gerecht halten, ist hier gleichgültig, bzw. Sie sollten Ihre persönliche Meinung ohnehin für sich behalten). In der Explikation dieses Standpunktes nun können Sie auf interne Probleme hinweisen, also Widersprüche aufweisen in der als vormals plausibel oder kohärent empfundenen Position, im Beispiel, ob man sich nicht unwiederbringlich schuldig macht, wenn man jemanden tötet, der sich später als unschuldig herausstellt; oder ob das Töten eines Menschen prinzipiell gegen seine Würde verstößt, egal wie schlimm die Tat war; oder ob die Idee der »ausgleichenden Gerechtigkeit« nicht in Wahrheit höchst ungerecht ist. (Diese Widersprüche können freilich auch durch Fragen ans Plenum aufgedeckt werden, das ist sogar noch wirkungsvoller; oder Sie können Ihre Studentinnen einladen, hier Probleme zu suchen und zu formulieren: »So, das scheint ja nun plausibel zu klingen; ist es das aber wirklich?«) Die Einsicht, dass der vermeintlich kohärente Standpunkt voller interner Widersprüche steckt, sollte jeden rational denkenden Menschen dazu führen, ihn zumindest kritisch in Frage zu stellen, sich von ihm zu distanzieren, vielleicht sogar ihn aufzugeben. Wenn man ihn doch wieder in sein Recht versetzt, dann ist das nur möglich durch eine Neukonstituierung auf höherem Standpunkt. Das und nichts anderes verstehe ich unter dialektischer Methode (und hoffe, hiermit den Hegel-Experten nicht zu sehr auf die Zehen zu treten!). Dieses Verfahren ist produktiv insofern, als der jeweiligen Position nicht mit dem Holzhammer beigekommen wird, sondern intern, mit einer gewissen Sympathie, warum sie durchaus, prima facie, intuitiv einleuchtet. Aber nicht jede Intuition ist auch gerechtfertigt bzw. kann 70

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gerechtfertigt werden oder kann ohne Widerspruch behauptet werden. So viel zur intrinsischen Legitimität von »Intuitionen«. Manche gehören einfach abgeschafft, auch wenn sie sich noch so hartnäckig halten bzw. »intuitive« Überzeugungskraft besitzen. Intuitionen sind gut, sofern sie eine erste (zum Teil auch emotionale oder pathische) Zugangsweise zu einer Thematik bieten, aber sie zu rechtfertigen oder innere Widersprüche aufzudecken, das ist der eigentlich philosophische Umgang mit ihnen. Die etwas offensichtlicher »Hegel’sche« Methode ist es, zur These die Antithese einzunehmen. Sagt einer A, sagen Sie einfach nicht-A und begründen die Anti-Position mit Argumenten. Dies hat zur Folge, dass die Person, die A vertritt, vielleicht zum ersten Mal überhaupt in die Position gerät, Argumente für ihre Position finden zu müssen. Allein schon das – die Aufforderung, überhaupt Argumente für die eigene Position zu finden – mag manchen als skandalös oder zutiefst zudringlich, d. h. als Eindringen in die Privatsphäre, erscheinen. Für viele sind ihre Dogmen – vor allem religiöser Natur, wie bereits gesagt – wie ein sehr privates und intimes Eigentum, sie sind »ihr gutes Recht« und kein anderer hat die Befugnis, diese Dogmen auch nur zu hinterfragen, auch nicht die Dozentin (Ressentiment Ihnen gegenüber ist also vor allem dann möglich, wenn die betreffende Studentin Ihren Unmut aus übertriebener Ehrerbietung gegenüber einer »Respektsperson« nicht herauslässt). Nehmen wir nochmals das Beispiel des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Wortes Gottes etwa in der Bibel. Wenn jemand behauptet, es sei so, »weil es in der Bibel steht«, so mag das sowohl richtig sein wie auch der Verweis darauf das gute Recht der Person, die dies äußert, als Privatperson; aber im philosophischen Kontext wird dies nicht ausreichen. Die genuin philosophischen Fragen sind hier »Warum sollte dies stimmen, selbst wenn es das geoffenbarte Wort Gottes ist?«, »Welche rationale Rekonstruktion kann von diesem Dogma gegeben werden?« Es ist ja nicht so, dass alle Philosophinnen davon frei wären: Viele philosophischen Systeme – bekennend oder nicht – sind Ausdruck der letztlich religiösen Überzeugungen ihrer Autorinnen. Das heißt natürlich nicht, dass man sie deswegen ablehnen sollte; aber es ist immer lohnend, solche Grundüberzeugungen, die letztlich nicht mehr ra-

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tional begründet werden, auch bei großen Geistern (und nicht nur Studentinnen) aufzuspüren. So viel zu Verkrustungen, zu denen der gesunde Menschenverstand neigen kann: Allein die Frage, wodurch sich die eigene Position rechtfertigen lässt bzw. lassen kann, also Argumente für etwas zu finden, was einem selbstverständlich ist, ist für viele Anfängerinnen ein heftiger Stein des Anstoßes. Erwarten Sie daher also manchmal erheblichen, aus dem Bauch heraus geäußerten emotionalen Widerstand. Allein Studentinnen in die Lage zu bringen, in der sie sich hierfür öffnen, kann sich als äußerst schwierig erweisen, und bei manch einem hilft eben nur der bereits erwähnte Holzhammer. Und manche haben es in der Tat verdient, weil ihre Selbstverständlichkeiten manchmal wirklich nur der Borniertheit geschuldet sind oder – im schlimmeren Fall – bösartig sein mögen und (u. a. dadurch) aktuell oder potentiell anderen Unrecht oder Verletzungen zufügen. Aber auch in diesem Fall von Hegelianismus – also der radikalen Verneinung einer These in Form einer »bestimmten Negation« – hat dieses Verfahren seine Grenzen. Je nachdem, wie radikal Sie sind (sind Sie wirklich der – begründeten – Meinung, Babys dürfen im Falle von Behinderungen getötet werden?), sollten Sie ab einem bestimmten Punkt klarmachen, ob Ihre Antithese ernst gemeint ist oder vielmehr als radikales Kontrafaktum ins Feld geführt wird, um der Thesenvertreterin die Absurdität oder Inkonsistenz ihrer Behauptung vor Augen zu führen. Alles darf behauptet werden, sofern es durch Argumente verteidigt wird; aber manches sagt man wirklich nur um des Argumentierens willen. Aber das Verneinen bloß um des Verneinens willen mit der Inkaufnahme einer allzu radikalen These kann durchaus pädagogischen Wert haben, wie eben beschrieben. Auch dieser Unterschied – zwischen ernst gemeinten und kontrafaktischen (oder wild-hyperbolischen) Thesen – kann eigens reflektiert werden. Grundsätzlich sollte im philosophischen Seminar als Ethos gelten: Jede These darf vertreten werden, jede hat ein Recht zu ihrer Meinung, aber die basale Regel, die Sie gleich zu Anfang einführen sollten, muss sein, dass alles, was gesagt wird, immer mit Argumenten (und nicht etwa nur anhand von Beispielen) vorgebracht werden sollte. Zur universitären Lehre der Philosophie gehört es, dass Studentinnen klar wird, dass hier eine Unterscheidung zu treffen ist zwischen dem vorbzw. außerphilosophischen Behaupten von scheinbar Evidentem 72

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oder Verlautbaren bloßer Meinungen und dem kritischen Befragen der eigenen Meinungen. Wichtig hierbei ist, dass Angriffe auf Positionen nie ad hominem zu erfolgen haben (was sich natürlich von selbst versteht). Sie müssen durch Ihr eigenes Vorbild deutlich machen, dass Sie strikt trennen zwischen der Person, die als Studentin im Seminar Thesen vertritt, und ihrer (und Ihrer!) Person als privater, deren Meinung ganz anders sein kann, aber auch niemanden etwas angeht. Zu den wenigen festen Meinungen, die ich vertrete, gehört diese Trennung zwischen Wissenschaftlerin und Privatperson, wie sie in Max Webers »Wissenschaft als Beruf« mit einer gewissen Leidenschaft vertreten wird.14 Jede Position, die Sie lehren, muss so vertreten werden (mit Argumenten, aber auch Überzeugungskraft), als wäre sie die Ihre; Ihre eigene Position oder Meinung aber hat im Seminarraum nichts zu suchen. Wer das Seminar als Schallraum zur öffentlichen Kundgabe seiner eigenen Position verwendet, missbraucht auf verVgl. Wissenschaft als Beruf (1919), Stuttgart: Reclam, 1995, S. 28f., zur Frage, ob Politik »in den Hörsaal« gehört; ich denke, seine – eloquent vorgebrachte – Argumentation zur Trennung von privat und amtlich gilt allgemein (bzw. sollte es): »Man sagt und ich unterschreibe das: Politik gehört nicht in den Hörsaal. Sie gehört nicht dahin vonseiten der Studenten. […] Aber Politik gehört allerdings auch nicht dahin vonseiten des Dozenten. Gerade dann nicht, wenn er sich wissenschaftlich mit Politik befasst, und dann am allerwenigsten. Denn praktischpolitische Stellungnahme und wissenschaftliche Analyse politischer Gebilde und Parteistellung ist zweierlei. Wenn man in einer Volksversammlung über Demokratie spricht, so macht man aus seiner persönlichen Stellungnahme keinen Hehl: gerade das: deutlich erkennbar Partei zu nehmen, ist da die verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Die Worte, die man braucht, sind dann nicht Mittel wissenschaftlicher Analyse, sondern politischen Werbens um die Stellungnahme der Anderen. Sie sind nicht Pflugscharen zur Lockerung des Erdreiches des kontemplativen Denkens, sondern Schwerter gegen die Gegner: Kampfmittel. In einer Vorlesung oder im Hörsaal dagegen wäre es Frevel, das Wort in dieser Art zu gebrauchen. Da wird man, wenn etwa von ›Demokratie‹ die Rede ist, deren verschiedene Formen vornehmen, sie analysieren in der Art, wie sie funktionieren, feststellen, welche einzelnen Folgen für die Lebensverhältnisse die eine oder andere hat, dann die anderen nicht demokratischen Formen der politischen Ordnung ihnen gegenüberstellen und versuchen, so weit zu gelangen, dass der Hörer in der Lage ist, den Punkt zu finden, von dem aus er von seinen letzten Idealen aus Stellung dazu nehmen kann. Aber der echte Lehrer wird sich hüten, vom Katheder herunter ihm irgendeine Stellungnahme, sei es ausdrücklich, sei es durch Suggestion – denn das ist die illoyalste Art, wenn man ›die Tatsachen sprechen lässt‹ – aufzudrängen.« 14

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antwortungslose Weise sein Amt (das Bonmot »It’s all politics« ist Ideologie, keine Philosophie). Das Sich-Zurücknehmen als Privatperson heißt aber auch, dass jeder Text oder jede Autorin, die Sie behandeln, es verdient, ernstgenommen zu werden, auch wenn Sie sich (eventuell in Übereinstimmung mit dem ganzen Seminar) am Ende dagegen aussprechen. Je länger Sie den Anschein aufrechterhalten, dass Sie etwas ernst nehmen, bis zu dem Punkt, wo Ihre Studentinnen sich fragen, ob Sie das jetzt wirklich ernst meinen, desto effektiver ist die spätere Widerlegung, umso mehr, als Sie sie im Kollektiv entwickeln (»was können wir nun gemeinsam gegen diese These/Position vorbringen?«). Zum Widersprüchlichen im Allgemeinen und der stets möglichen heftigen Reaktion hierauf: Was tut man, wenn jemand damit, in konkreten und faktisch gelebten Widersprüchen zu leben, in Verzweiflung gerät? Dies ist kein konstruierter Fall, sondern sehr realistisch und alles andere als selten. Trotz der angemahnten Professionalität und Wissenschaftlichkeit bleibt es nicht aus, dass Emotionen ins Spiel kommen, und recht verstanden stehen Emotionen mit Wissenschaftlichkeit in keinem Widerspruch (auch das ein Punkt Webers!). Daher: Ein sehr praktisch und existential erfahrenes Erlebnis mit der Philosophie ist, dass das Durchschauen dessen, was vormals als selbstverständlich und kohärent empfunden wurde, also schlichtweg keine Probleme bereitete, auf einmal völlig in Frage gestellt wird, durch und durch problematisch erscheint, dass man also das Gefühl hat, dass einem der Boden unter den Füßen wankt bzw. noch schlimmer, man gar keinen Boden mehr unter sich spürt. Die Erkenntnis der eigenen inkohärenten Position ist nur eine Variante dieser möglichen Krisen.15 Diese existentiellen Aufwühlungen sind in Was die eigene gelebte Inkohärenz betrifft (einfaches Beispiel: jemand hat Sympathie für Vegetarismus, isst aber dennoch Fleisch), so ist es ja nicht so (in den meisten Fällen), dass das Philosophieseminar diese erst offenbaren würde. Viele Menschen leben mit Widersprüchen, wissen davon, aber verstehen es auch, sie vor sich zu verbergen und mit ihnen zu leben. (Welcher Mensch lebt nicht mit irgendwelchen Widersprüchen?) Das erklärt aber, warum oftmals solches durchaus gewaltsame Aufdecken von Widersprüchen für viele an die eigene Substanz geht, sie sich persönlich angegriffen fühlen, was wiederum die oftmals sehr aggressive und emotionsgeladene Reaktion hierauf erklärt. Seien Sie also vorgewarnt, wenn Sie zu diesem Manöver greifen – die geballte Reaktion mehrerer oder gar aller 15

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der Erfahrung mit der Philosophie nichts Neues, wenn man an Kleists bekanntes Kant-Erlebnis denkt (um nur ein prominentes zu nennen16 ), und wie man damit umgeht, ist eine wichtige Frage in der Lehre der Philosophie. Was tut man also, wenn hierdurch Studentinnen nicht außer sich vor Begeisterung sind, sondern in emotionale Schräglage geraten? Zunächst einmal können solche Erfahrungen kathartisch wirken. Wenn etwa einer, der sich nicht für einen Sexisten hielt, aufgezeigt bekommt (oder ihm durch eigene Reflexion klar wird), dass viele seiner Handlungen und Taten doch sexistisch bzw. gegenüber anderen Geschlechtern diskriminierend waren, und als Resultat »in sich geht«, sich wandelt und sich zu bessern versucht, ist dies natürlich zu begrüßen, und sofern Sie der Auslöser für dieses Umdenken waren, gebührt Ihnen Lob und Anerkennung. Im Allgemeinen rate ich vor allem in Übersichtsseminaren (etwa Erkenntnistheorie, Anthropologie oder Ethik) sehr dazu, solche vom »mainstream« abweichenden (bzw. diesen selbst in Frage stellenden) Lektüren (klassische etwa, wie Youngs »Throwing Like a Girl« oder Codes »Is the Sex of the Knower Epistemically Relevant?«) in den »normalen« Ablauf (also von weißen heterosexuellen Autoren) einzubauen. Sie werden sich wundern, wie wirkungsvoll solche Texte sind (auch wenn die Wirkung oftmals verspätet und indirekt erfolgt). Ich meine aber auch den Fall, der bei psychisch labilen Menschen durchaus eintreten kann, dass Gedanken an Schlimmes bis hin zum Suizid erwogen werden. Solche Fälle mögen selten sein; möglich sind sie aber doch in der Philosophie jederzeit (nun gut, einmal von Seminaren zu formaler Logik abgesehen). Hier gilt es, Ihre MenschenTeilnehmer ist in solchen Momenten auch möglich! Ich insinuiere nicht, dass Sie dies vermeiden sollten, sondern Sie können es auch gezielt-absichtlich durchspielen – nur wundern Sie sich nicht über die Heftigkeit der Reaktion! 16 Nach der Lektüre von Kants Kritik der reinen Vernunft überkam Heinrich von Kleist die Erkenntnis, »dass hienieden keine Wahrheit zu finden ist«, wie er an seine Braut im Jahre 1801 schreibt, eine Einsicht, die ihn in seinem »heiligsten Inneren« traf. Wie er weiter schreibt: »Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, ich habe nun keines mehr.« Gottlob erholte sich der Dichter aber wieder davon: Die in der älteren Kleistforschung vertretene These, dass diese Krise seine gesamte Persönlichkeit verändert habe, ist in der neueren Forschung relativiert worden. Der Suizid erfolgte erst ein Jahrzehnt später. 2. Zum Spezifikum der Philosophie in der Hochschullehre

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kenntnis einzusetzen, sofern Sie überhaupt etwas davon bemerken (dass Sie auf Kommunikation und Verhalten und deren Auffälligkeiten achten, gilt für jede Lehrerin). Reden Sie mit der betroffenen Person und versuchen Sie herauszufinden, was sie aufregt. Vielleicht geht es darum, dass Sie die »Schuldige« sind (durch eine bewusste oder vielleicht auch unbewusste Verletzung) oder zumindest einen Beitrag dazu geleistet haben. Man kann aber auch von vornherein zur »Entschärfung« beitragen. Vielleicht verwenden Sie Beispiele, die Sie als nicht-anstößig empfinden, die aber trotzdem auf manche Menschen verletzend wirken können. Vielleicht können Sie – statt defensiv zu sein – mutmaßlich anstößige Beispiele vermeiden und andere verwenden, ohne an der Substanz Ihres Punktes etwas vernachlässigen zu müssen (ein regelmäßiger innerer »Kehraus« der gern und leider auch wiederholt verwendeten Lieblingsbeispiele sei ohnehin empfohlen). Egal als wie großherzig und »edel« man sich selbst empfindet, man kann es nicht allen recht machen. So manche Studentin, die anfangs redselig war und nun schweigt, mag »eingeschnappt« sein, weil jemand im Seminar – und das müssen nicht Sie sein – etwas gesagt hat, was sie nachhaltig verletzt hat. Gehen Sie auf solche Leute zu und reden Sie (privat) mit ihnen. Sie können kein Seelsorger für jede Studentin sein, aber etwas Fingerspitzengefühl zeigt, dass Ihnen Ihre Studentinnen wichtig sind (sind Sie es nicht, sind Sie im falschen Beruf). Was aber tun, wenn es in der Tat zur ernsten existentiellen Krise kommt und Sie davon betroffen sind bzw. damit direkt (oder auch indirekt) konfrontiert werden? Die Antwort hierauf ist meines Erachtens eindeutig und nicht philosophiespezifisch: Es gibt hierfür Strukturen in Ihrer Universität oder Ihrem sozialen Umfeld, welche professionell helfen, und Sie sollten potentiell problematische Fälle auf diese Instanzen verweisen. Die Philosophie dazu zu Hilfe zu nehmen, empfehle ich nicht. Es gehört wiederum zur Professionalität Ihrer Position, seine Grenzen einzusehen.

2.3.3 Verschiedene Formen der Vernunft (»instrumentelle Vernunft«)

Eine wichtige Einsicht von Philosophinnen der Moderne, und zwar sehr verschiedener Couleur, besteht darin, die Vernunft zu plurali76

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sieren, d. h. die verschiedenen Weisen von Rationalität, die es gibt, zu identifizieren und aufzuweisen (und Einseitigkeiten zu kritisieren und was hierunter alles noch fällt). Dies mag Hegels »Ahnengalerie von Geistern« in der Phänomenologie des Geistes sein oder Husserls Kritik an den »Faktenmenschen« in der Krisis der europäischen Wissenschaften oder die Aufklärungskritik der Frankfurter Schule – alles Ideen, die zu diskutieren spannend ist und die noch lange nicht ausdiskutiert sind. Mein Punkt hier erfolgt aber wiederum in didaktischer Absicht, nämlich dass man sich diese Einsicht zu Nutze machen kann, um wiederum die einseitige Verhärtung des gemeinen Menschenverstandes bzw. dessen Verständnis von »Verstand« und »Vernunft« (oder »Denken« im Allgemeinen) explizit zu machen. Was ich meine, ist eben genau die naive Auffassung, dass es nur eine Art von Vernunft gibt, in diesem Fall das, was man etwa »instrumentelle Vernunft« nennen könnte, die alles am Maßstab der Effizienz oder Nützlichkeit misst. Diese Vernunft soll hier ja nicht widerlegt, sondern lediglich in ihre relativen Schranken verwiesen werden. Mein Vorschlag ist, den Spieß umzudrehen und diejenigen, die den Philosophinnen vorwerfen, dass sie keine Gewinne erwirtschaften oder der Gesellschaft »nichts bringen«, ihrerseits in Rechtfertigungsnot zu bringen, indem man sie bittet zu erklären, wieso eigentlich immer alles am Maßstab der Nützlichkeit gemessen werden müsse. Dies ist insofern etwas anderes als die »Hegel’sche« Methode, als es hier nicht um die Aufdeckung von Widersprüchen geht (zumindest nicht in erster Linie), sondern um die Einsicht in die Standpunktgebundenheit selbst von so etwas wie der vermeintlich »objektiven« Vernunft. »Objektivität« mag ein Ideal sein, aber eben nur eines, und als das ist es alles andere als unproblematisch. Dieses Verständnis von Vernunft als instrumentell – also nutzenund effizienzorientiert, mit dem fest eingebauten Glauben an den Erfolg und den Fortschritt – ist im Übrigen zwar für viele vorphilosophische Menschen selbstverständlich und Teil des gesunden Menschenverstandes, rührt aber historisch von anderswo her, was für dieses Vernunftverständnis nicht unwichtig ist. Denn es ist ein spezifisch neuzeitliches Phänomen, nämlich ein Überbleibsel des Positivismus und Szientismus, die sich historisch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt haben, also der von der obsolet gewordenen Religion auf die Wissenschaft übertragene Glaube, dass es 2. Zum Spezifikum der Philosophie in der Hochschullehre

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»objektive (also standpunktungebundene) Wahrheit« gebe und dass allein die moderne, naturalistische (Natur-)Wissenschaft zu dieser »objektiven Wahrheit« führe. Diese historische Bemerkung sei hier freilich nur ganz en passant gemacht, um darauf hinzuweisen, dass Sie in der Lehre der Philosophie bedenken müssen, dass die Ausgangsposition vieler Studentinnen, vor allem solcher, die mathematischnaturwissenschaftlich begabt sind, ein solcher »Naturalismus« (wenn man hiermit verkürzend den Reduktionismus und die Wissenschaftsgläubigkeit benennen darf) ist. Der gesunde Menschenverstand heutiger junger Menschen ist stark davon getränkt. Dieser Naturalismus ist nicht dasselbe wie der instrumentelle Rationalismus, beide gehören aber eng zusammen und sind miteinander sehr kompatible Partner. Aber Ihre Studentinnen sind »von Hause aus« Instrumentalisten, Naturalisten – und meistens auch (zumindest in Deutschland) und als direkte Konsequenz jener -ismen Atheisten. Sie müssen verstehen, von wo sie kommen, um sie in der richtigen Weise aus der Reserve zu locken und ihr Allerheiligstes in angemessener Weise zu würdigen und zu kritisieren. Wenn es Ihnen gelingt, einen anderen Rationalitätstyp dem entgegenzustellen und diesen zu verteidigen, haben Sie schon viel erreicht. Aber freilich kann das erst der Anfang des Umdenkens sein. Ein solcher, Ihren Studentinnen noch unbekannter Rationalitätstypus mag etwa allein darin bestehen, den der instrumentellen Rationalität in Frage zu stellen; damit sind Sie aber wieder nur parasitär auf jene bezogen und gleichen dem Skeptiker. Schwieriger, aber philosophisch auch spannender ist es, einen solchen anderen, für sich selbst stehenden Typus richtig zu profilieren und als kohärent auszuweisen. Kandidaten hierzu gibt es in der westlichen Philosophiegeschichte – zu nennen wären etwa Pascals »Logique du coeur«, Kants reflektierende Urteilskraft, Hegels Dialektik, Husserls Phänomenologie als »objektive Wissenschaft vom Subjektiven«, Jaspers’ existentialistischer Vernunftbegriff, um nur ein paar aufzuzählen (von der feministischen Kritik am westlich-männlichen Rationalitätsideal ganz zu schweigen, die natürlich selbst wieder vernünftig vorgebracht wird und zumeist von westlichen Frauen). Ich sage bewusst »westlich«, weil hiermit das große Gebiet des Nicht-Westlichen noch gar nicht betreten ist, welches in vielem radikal von allen Vernunftsorten abweicht, die die westliche Tradition auch nur als Rationalität aner78

2. Zum Spezifikum der Philosophie in der Hochschullehre

kennen würde. Ich bin nicht in der Lage, hierüber kundig zu sprechen; dies wäre auch ein Motiv bzw. eine Möglichkeit, den westlichen Kanon aufzubrechen, einen Westen mithin, der der Meinung ist, es gäbe nur eine Vernunft und sie sei nur im Westen auffindbar.

2.3.4 In den performativen Widerspruch verwickeln

Diese Idee stammt der Sache nach von Aristoteles, der einmal sagt, dass jeder philosophiere, und wer gegen die Philosophie argumentiere, philosophiere dadurch selbst.17 Eine solche Methode – also zu erklären, warum man Philosophie ablehnt – sollte »angewandt« werden auf Leute, die der Meinung sind, Philosophie sei Schwachsinn und sie bräuchten sie nicht. Man kann sie bitten, sich zu erklären, warum sie mit Philosophie nichts zu tun haben wollen. (Stummes Schulterzucken ist hierbei nicht erlaubt!) Der performative Widerspruch besteht dann darin, dass sie – eben – die Philosophie nur philosophierend von sich weisen können. Damit kann man ganz besonders hartgesottene Vertreter »ärgern«, denn Freunde macht man damit sich (und der Philosophie) meistens nicht. Aber wer sich nicht hinter Dogmatismus oder schlichter Diskussionsverweigerung verschanzt, kann vielleicht hierdurch noch hervorgelockt werden. Wer sich nicht ärgert oder eingeschnappt ist, mag diese Realisierung des Selbstwiderspruches auch humorig nehmen. Auch damit tragen Sie einen Sieg davon – Philosophie kann geistreich und spaßig sein, kein Schenkelklopfer, sondern der beste Humor, den man sich vorstellen kann, wenn man an den geistreichen Witz etwa der Sketche von Monty Python denkt, die die Philosophie verballhornen. Diese Komikercombo (bestehend im Übrigen aus Leuten, die selbst Philosophie studiert haben) ist ein gutes Beispiel für einen performativen Widerspruch, sofern sie zwar die Philosophie aufs Korn nehmen, aber selbst durchaus philosophisch redlich sind. Ich empfehle hier die Clips »The Argument Clinic« oder »Oxbridge Philosophy«, die Sie leicht auf Youtube finden werden und die man auch – ohne Niveauverlust – Diese Argumentationsfigur stammt historisch wohl aus Aristoteles’ apokryphem Frühdialog »Protreptikos«. Trotz mehrerer Nachfragen bei Kolleginnen habe ich die exakte Passage nicht auffinden können. 17

2. Zum Spezifikum der Philosophie in der Hochschullehre

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im Unterricht verwenden kann. Der Lacherfolg mag allerdings bei jungen Studentinnen ausbleiben, da sie den Duktus vieler professioneller Philosophinnen noch nicht kennen und sie lediglich für übergeschnappt halten … Freilich bleibt die Frage, ob man durch das Verfahren des »Selbstwiderspruchnachweises« »positiv« jemanden zum Philosophieren bringen kann. In dem Moment, wo Sie zu einem solchen Verfahren greifen (oder keine andere Möglichkeit sehen), ist wahrscheinlich für die betreffende Studentin »der Zug abgefahren«, sich noch positiv für die Philosophie begeistern zu lassen. Aber wenigstens können Sie dies erreichen, dass die Ablehnung der Philosophie zumindest philosophisch – also mit Argumenten – vorgebracht oder wenigstens artikuliert wird (oder dies versucht wird). Wenn jemand zu dem Punkt kommt, wo er sagen kann: »Ich lehne Philosophie ab, und dies sind meine Gründe hierfür: XYZ«, dann haben Sie doch einen »Achtungserfolg« erreicht, wie ich meine. Wenn Sie jemanden aus Ihrem Seminar entlassen, der sich auf diese Weise artikulieren kann, dann bleibt zumeist auch ein gewisser Respekt für die Philosophie übrig. Und für die, die die Philosophie ablehnt oder einfach nicht mag, kann man nichts Besseres für die Sache der Philosophie selbst »herausholen«. In einem seltenen Fall von studentischem Übermut (oder Demut?) schrieb mir ein Student einmal, nachdem das Semester vorbei war und er in einem für alle Studentinnen obligatorischen Einführungskurs keine besonders gute Note erreicht hatte (sinngemäß): »Philosophie ist schwer, sehr schwer, und ich kann sie nicht besonders gut, aber zumindest weiß ich jetzt, warum.« Mehr kann man doch eigentlich von dieser Sorte von Studentin (ich empfand Hochachtung für diese Ehrlichkeit!) nicht verlangen. Dies sind also ein paar Beispiele, wie man Studentinnen dazu bekommt, »in die Philosophie zu gelangen«. Dies mag vielleicht etwas aus dem Kontext gerissen oder künstlich erscheinen, sofern der normale Seminarverlauf ja gewissermaßen von selbst die Einführung in die Philosophie bietet: Man öffnet das Buch, liest darin und redet über das Geschriebene, und schon ist man in ihr drin. Das stimmt natürlich. Dennoch aber mag es von Nutzen sein, explizit über solche Weisen der Einführung nachzudenken, noch bevor man den Seminarraum betritt, um sich mögliche Wege im Vorfeld klarzumachen. Dies gilt besonders – wie eingangs gesagt – für Einführungsveran80

2. Zum Spezifikum der Philosophie in der Hochschullehre

staltungen, bei denen es wirklich ums »Ganze« und ganz Grundsätzliche geht (»Warum machen wir das überhaupt? Warum sind wir überhaupt hier zusammen?«) und wo der Anfang so wichtig ist. Wenn man den »verbockt«, hat man seine Studentinnen (oder zumindest manche von ihnen) vielleicht für immer verloren und man kann es danach nicht mehr richten. Umso wichtiger also, den Anfang gut zu gestalten. Wie dies geschehen kann, soll hier in einigen Punkten vorgestellt werden.

2.4 Die »Langzeitwirkung« von Philosophie Wie keine andere Disziplin in der Universität hat die Philosophie ein fernes »Ablaufdatum«. Sie kann nicht nur das Leben Ihrer Studentinnen sofort und dauerhaft verändern, sie hat auch eine Langzeitwirkung, die sich erst langsam und zum Teil sehr spät entwickelt.18 Diesen Umstand sollte man sich klar machen und daraus Kapital schlagen. Auch wenn Studentinnen nur wenige Seminare zur Philosophie besucht haben, sind dies doch die Lehrveranstaltungen, an die sich Menschen Jahre und Jahrzehnte später am meisten erinnern, weniger wohl an den Inhalt (also bestimmte Argumente etwa), aber – eben – an den Duktus und Denkstil, der dort gepflegt wurde, der angesichts ihres späteren Arbeitslebens retrospektiv als »Insel der Seligen« empfunden wird. Das sollten Sie sich bewusst vor Augen An meiner Universität etwa – und ähnliche Erhebungen führen alle Universitäten in den USA durch – werden Alumni regelmäßig nach ihren Erinnerungen an ihre Alma Mater gefragt. Das Ergebnis ist immer das Gleiche: Fragt man sie ein bis fünf Jahre nach ihrem Abschluss, an welche Kurse sie sich am lebhaftesten oder nachhaltigsten erinnern, nennen sie meist solche ihres Hauptfachs. Fragt man sie aber mehr als zehn Jahre später, wird zumeist der für alle Studentinnen obligatorische Kurs in philosophischer Anthropologie genannt. Die Bedeutung solcher Kurse ist also erst latent, um dann später immer mehr hervorzutreten. Diese Beobachtung ist zugegebenermaßen sehr auf das amerikanische System bezogen, wo man als B.A.-Studentin neben den Veranstaltungen der Haupt- und Nebenfächer auch sogenannte »General-Education«-Veranstaltungen belegen muss. Sie ist aber doch insofern auch cum grano salis auf das deutsche System übertragbar, als auch in Deutschland Studentinnen nicht selten Kurse belegen (etwa im Rahmen eines »Studium Generale« oder eines universitätsweiten Vortragszyklus), die nicht in ihr Studienfach gehören. 18

2. Zum Spezifikum der Philosophie in der Hochschullehre

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halten, wenn Sie anscheinend gelangweilte, unaufmerksame oder widerwillige Studentinnen vor sich sitzen haben: Sie werden mehr behalten, als Sie (und sie selbst) sich denken können. Diese Tatsache sollten Sie bedenken und sich zu Nutze machen. Was meine ich mit »Nutzen«? Freilich nicht den praktischen, den ich oben kritisiert habe (im Rahmen der instrumentellen Vernunft)! Nutzen Sie vielmehr die Gelegenheit, Studentinnen, von denen Sie wissen, dass dies höchstwahrscheinlich eine einmalige Erfahrung sein wird, mit allem Ihnen zur Verfügung stehenden Einsatz deutlich zu machen, weshalb Philosophie es wert ist, betrieben zu werden, und sei es, dass nur dies als ein bloßer Eindruck zurückbleiben mag: dass Sie offenbar ihre Begeisterung für Ihr Fach glaubhaft vermittelt haben; dass Philosophie einen intrinsischen Wert hat, der nicht gemessen werden kann von der instrumentellen Vernunft, der die Studentinnen höchstwahrscheinlich später wieder folgen werden; dass es da etwas gibt, was sinnvoll ist, weil es unter anderem darüber nachdenkt, was überhaupt Sinn (und dann: Sinn des Lebens) ist; dass es für sie selbst und für die Gesellschaft wichtig ist, dass es Philosophie weiterhin als Universitätsfach gibt; dass Philosophie eine ernsthafte und zum Teil zumindest streng-wissenschaftliche Disziplin mit eigenen Fragestellungen, Methoden und Antwortarten ist – und kein Geschwafel. Es kann nicht bei allen Studentinnen in gleichem Maße sinnvoll sein, sie zur Philosophie zu »bekehren« (ohnehin eine merkwürdige Kategorie für Philosophie, die ja kein Glaubensbekenntnis ist), und nicht jede Ihrer Studentinnen sollte Philosophie weiter betreiben, sei es aus Mangel an Talent oder aus Mangel an Stellen. Aber setzen Sie sich zum Ziel, dass die Veranstaltung in diesem Fach etwas sein wird, woran sie sich später erinnern werden, nicht zuletzt vielleicht durch die Leidenschaft und den professionellen Ernst, mit dem Sie sie vermittelt haben. Das heißt auch, dass Sie sich nicht scheuen sollten, zumindest in manchen Sitzungen aufs Ganze zu gehen und die »ganz großen« Fragen (also Fragen nach »Gott, Freiheit, Unsterblichkeit«) aufzuwerfen. Wenn Sie nicht zumindest ein einziges Mal im Semester die Frage stellen: »Wozu machen wir das hier überhaupt?«, »Was soll das Ganze?«, dann geben Sie die Möglichkeit, dass sich Studentinnen an solche »großen« Momente erinnern, aus der Hand. Trauen Sie sich!

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2. Zum Spezifikum der Philosophie in der Hochschullehre

3. Wie lehre ich Philosophieren?

Dieses Kapitel setzt sich zum Ziel, bestimmte Lehrmethoden darzustellen, die für die Lehre der Philosophie an der Hochschule spezifisch sind, und ist damit das zentrale Kapitel dieses Buches. Ich werde am Ende auch ein paar (anonymisierte) Fallbeispiele und Standardsituationen vorstellen und diskutieren. Es handelt sich hierbei um Situationen, die mir und anderen Kolleginnen immer wieder und in verschiedenen Kontexten wie verschiedenen Sprachen, Ländern, Systemen begegnet sind. Es mag nationale Unterschiede bei den Studentinnen geben; in der Art und Weise, wie sie der Philosophie begegnen und sich mit ihr auseinandersetzen, sind sie, würde ich behaupten wollen, alle mehr oder weniger gleich. Unterschiede in der Bildungsstruktur vor allem der Sekundarstufen mögen gewisse nationale Unterschiede hinsichtlich der Vorbereitung des (Philosophie)Studiums mit sich bringen; sind sie aber einmal im Hörsaal, ebnet sich alles wieder ein. Eine andere Sache ist die Frage des Geschlechts, worauf ich im nächsten Kapitel eingehe. Es sollte klar sein, dass die Abgrenzung von anderen Fächern, vor allem den übrigen Geisteswissenschaften, nicht immer einfach ist, und in vielem sind die Themen und Methoden identisch; sei es, dass Fächer wie etwa Theologie oder Literaturwissenschaft selbst sehr philosophisch sind oder umgekehrt die jeweilige Philosophin historisch oder soziologisch forscht. Letzteres ist zunehmend der Fall, zumal es in unserer Zeit Mode ist, die kanonischen Definitionen, Methoden und Termini dessen, was traditionell Philosophie ist oder sein soll, in Frage zu stellen. Dennoch ist die Lehre der Philosophie etwas Besonderes. Die Lehre dieses Faches bedarf besonderer Reflexion, weil Philosophie eine Reflexionsdisziplin ist. Sind andere Disziplinen solche »über…«, ist die Philosophie eine Disziplin über das »Über«! Obwohl sie natürlich beträchtliche Berührungspunkte mit anderen Disziplinen aufweist und mit »Reflexion« nicht »Nabelschau« gemeint ist (Reflexion ist also nicht immer selbstbezogen, sondern hat selbst gewisse Themen), ist sie damit etwas Eigenes, Einzigartiges. Daher beginne ich dieses Kapitel mit einer Reflexion über das, was Philosophie meines Erachtens eigentlich ist. Es ist nicht 83

die Aufgabe dieses Buches, die Philosophie zu definieren oder unter den vielen virulenten eine bestimmte Definition zu verteidigen; denn dafür ist der Raum zu klein. Auf eine solche metaphilosophische Diskussion will ich mich gar nicht einlassen, sondern ich möchte eine Beschreibung herausgreifen, die vielleicht nicht allzu kontrovers, sondern eher dazu geeignet ist, das Fach, was die Lehre betrifft, zu umreißen: eine Definition der Philosophie in der Hochschullehre oder Philosophie als Lehrfach.

3.1 Philosophie als Orientierung und als Orientierungswissen Es ist für professionelle Philosophinnen nicht allzu kontrovers, wenn ich behaupte: Man sollte von der Philosophie nicht erwarten, dass sie der betreffenden Person einen starken oder gut zu verteidigenden Wertekanon »einpflanzt« oder einem erklärt, was Wahrheit ist und wie man gut und richtig zu handeln oder richtige ästhetische Urteile abzugeben habe. Allerdings ist genau dies die Standard-Erwartungshaltung der meisten Studentinnen, die als »unbeschriebene Blätter« in die Lehrveranstaltung kommen. Dieses »Dogmatismusbedürfnis« (vor hundert Jahren hätte man gesagt »Bedürfnis nach Weltanschauung«), das typisch für Studienanfängerinnen ist, sollte man ihnen so schnell wie möglich austreiben. (Skeptikerinnen würden freilich versuchen, ihnen das Gegenteil einzupflanzen, aber ich rate in der Lehre davon ab, alle zu Skeptikern zu bekehren – ein Resultat, das im Übrigen nicht schwer zu erzielen ist.) Auch dies ist ganz normal und es ist eigentlich trivial, dies eigens hervorzuheben: Junge Menschen sind in den meisten Fällen auf der Suche: nach sich, nach ihrem Platz im Leben, nach ihrem Beruf, ihrer Sexualität, dem Sinn ihres Lebens (und dem anderer, Freunde, Partner, Mitmenschen, Tiere …). Viele – vor allem in den westlichen Industrienationen – haben die Hoffnung aufgegeben, bezüglich dieser Bedürfnisse in den großen Religionen (vor allem in den Spielarten des Christentums) fündig werden zu können. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht weiterhin auf der Suche danach sind, manchmal sogar verzweifelt. Allzu leicht wird die Philosophie eine Ersatzreligion, und manchmal ist das der Grund, philosophische Lehrveranstaltungen aufzusuchen. Allzu leicht schließen sich manche auch hier einem »Guru« an, und sei es, dass der 84

3. Wie lehre ich Philosophieren?

oder die in der Form einer charismatischen Lehrerin daherkommt. Damit will ich natürlich nicht sagen, Sie sollten nicht charismatisch sein! Nur müssen Sie sich über die Erwartungen, die Ihnen entgegengebracht werden, im Klaren sein. Das ist aber nicht der Hauptpunkt hier (den ich auch schon in Kapitel 1 abgehandelt habe), sondern nur eine Warnung, Philosophie nicht als das, was Ihre Studentinnen davon denken, zu vermitteln bzw. sich hier auf einen Konflikt zwischen Erwartung und Realität einzustellen und dieser Erwartungshaltung, hier würde ihnen »die Wahrheit« oder »die Weisheit« geboten, entschieden entgegenzusteuern. Sicherlich ist es kein Lernerfolg, wenn Studentinnen Sie als eine »Weisheitsgöttin« verehren – auch hier müssen Sie ihren eigenen Narzissmus in Grenzen halten! Wenn es also nicht »klare, feste Werte« oder »Wahrheit« oder »deutliche Handlungsanweisungen« sind, die die Philosophie als Lehrfach vermitteln kann (oder es vielleicht kann, aber meines Erachtens nicht sollte), was dann? Meine Antwort hierauf wäre Orientierung. Kant spricht bekanntlich von einer »Orientierung im Denken«, die vergleichbar ist mit der Orientierung im Raum; der Begriff ist also der Philosophie nicht fremd und die Verwendung dieses Begriffs für das Lernziel der Philosophieveranstaltung auch nicht originell. Die Philosophie wäre dann eine Disziplin, die Orientierung vermittelt und damit ein Orientierungswissen lehrt. Was meine ich damit? Wer sich im Raum orientieren kann, kommt gut zurecht. Wer die Gegend oder die Landschaft, in der man sich befindet, kennt, weiß, wo man sich gerade verorten kann und wie man von A nach B kommt. Im Sinne dieses Bildes ist die Philosophie nicht etwas, das einem sagt, was etwas ist, sondern wie man sich in der Landschaft des Wissens (oder des »Geistes«, wenn man solche hehren Worte nicht scheut) zurechtfindet, wie man sich in ihr orientiert und zu den Dingen verhält, die einem begegnen. Es geht in der Philosophie meines Erachtens weniger um bestimmte Denkinhalte, sondern um die Art und Weise, wie man sich zu ihnen verhält, wie man zu ihnen steht, ihnen gegenübersteht (bzw. ihnen gegenüber steht), ihnen gegebenenfalls aus dem Weg geht, zu ihnen in größerer oder geringerer Distanz steht; wie man verschiedene Dinge zueinander in Beziehung setzt und sie aufeinander und auf sich bezieht, wie man sie gegeneinander abwägt oder 3. Wie lehre ich Philosophieren?

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ordnet oder gegebenenfalls hierarchisiert (oder hiervon bewusst Abstand nimmt). Eine Philosophin ist also jemand, die möglichst viel von der Landschaft und – wichtig! – der Geschichte dieser Landschaft kennt – und möglichst viele Landschaften. Die Philosophin verfügt über einen unkorrumpierbaren Sinn dafür, Dinge wiederzuerkennen, die ihr in der Landschaft bereits begegnet sind (oder in ähnlicher Gestalt in anderer Landschaft), und kann die Gemeinsamkeiten wie die Unterschiede gut erkennen, trotz allem, was die Menschen so darüber sagen. Solch eine Philosophin lässt sich nur schwer einen Bären aufbinden. Zur Orientierung gehört ferner die Geschichte: die Geschichte der Menschheit, der geographischen Welt, der eigenen Disziplin. Es ist die Aufgabe der Philosophinnen, alte, wieder aufgewärmte (und vormals abgetane) Argumente, Denkfiguren und Denkweisen zu identifizieren und sie als das, was sie sind, bloßzustellen – oder, wenn es sein muss, sie wieder zu validieren und mit Hinweis auf ihre Erfolgsgeschichte zu stärken (oder zu warnen, dass Ähnliches in der Vergangenheit nicht gut funktioniert hat). Die Philosophin ist in diesem Sinne auch ein Gradmesser, eine Warnerin davor, alten Wein in neuen Schläuchen zu präsentieren, ebenso neuen Wein in alten Schläuchen. Wichtig hierbei: Die Person, die Orientierung gibt, kann, aber muss selbst nicht notwendig orientiert sein. Ist sie in einer bestimmten Hinsicht nicht orientiert (sie hat eine gewisse »Landschaftsgestalt« noch nie gesehen und ist daher vorläufig noch nicht sicher, wie sie dazu steht, und gibt dies zu), ist sie damit kein Wendehals, aber doch idealiter neutral, abgewogen, mit einer ruhigen Hand ausgestattet und in der Tiefe wie in der Breite fundiert. Kurzum: Die Philosophin, die sich zu orientieren weiß, kennt sich in der Landschaft des Denkens ausgezeichnet aus und ist nicht weltfremd, auch wenn sie natürlich keine Expertin aller verschiedenen Regionen sein kann. Aber überall wird gedacht, d. h. erwogen, reflektiert, sich besonnen, hinterfragt, kritisiert, untersucht, beschrieben usw.; alle Menschen tun das auf ihre Weise, normale Menschen wie Wissenschaftler. Was nun das Denken in all seinen verschiedenen Anwendungsweisen betrifft, so können bzw. tun das Philosophinnen eben besonders gut, weil sie es professionell gelernt und »Erfahrung im Denken« haben (um es mit einer Heidegger’schen etymologischen Pointe zu sagen: sie haben die Landschaft des Denkens im wörtlichen 86

3. Wie lehre ich Philosophieren?

Sinne er-fahren). Beigebracht haben ihnen dieses Wissen die Texte der großen Philosophinnen und Philosophen, aber eben auch die lange Erfahrung mit ihnen. Sie haben als philosophische Lehrerin die Aufgabe, diese Texte und das darin Gedachte zu vermitteln. Ich meine also, Philosophie in der Weise, wie sie gelehrt werden sollte, sollte ein solches Orientierungswissen erstreben. Es geht also nicht in erster Linie um Inhalte (solche besonderer Disziplinen oder eventuell der Philosophie selbst), sondern um eine Art und Weise, wie man sich zu Wissen – zum eigenen oder dem aus anderen Disziplinen stammenden – verhält. Man wird als Philosophin, einmal ausgebildet (was natürlich ein nie endender Prozess ist), gewissermaßen »stilsicher« und verlässlich in seinem Denken und Urteilen – und damit auch in seinem Handeln. Wenn man will, kann man dies auch Methode nennen. Ich würde es aber zudem als Übung und Disziplin bezeichnen, denn wer sich zu orientieren weiß, muss mit den Dingen und anderen Menschen nicht kollidieren. Philosophie ist Streit auf höchstem Niveau, allerdings (und das ist darin impliziert) ohne Zuhilfenahme der Brechstange oder des Hammers – höchstens im Sinne des berühmten Nietzsche’schen Hammers, der überkommene und schal gewordene Werte zertrümmert. Um bei diesem drastischen Bild zu bleiben: Was immer im Disput geschieht, in jedem Fall schlägt die Philosophin niemandem ins Gesicht und bleibt nüchtern im Angesicht hoch aufgetürmter und aufgestauter Emotionen (was nicht bedeuten soll, dass die Philosophin emotionslos agiert, sondern sie kann ihre Argumente mit Leidenschaft und Engagement vorbringen). Was immer Philosophinnen behaupten und wie und mit welchen Argumenten, sie sind vor allem eins: Vorbilder im zivilen Umgang miteinander. Das heißt, im Sinne des eben Gesagten: Sie orientieren sich und andere, direkt und selbstbezogen, indem sie andere miterleben lassen, wie Sie es selbst tun, coram publico. Dieses Wissen (eher ein know-how als ein knowing-that) sollte es mehr als alles andere sein, was Sie nach meiner Überzeugung vermitteln und wofür Sie ein lebendes Beispiel sein sollten. Nun zur Weise, wie man solches Wissen vermittelt!

3. Wie lehre ich Philosophieren?

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3.2 Verschiedene Formate der Lehre Freilich gibt es viele verschiedene Lehrformate; es geht hier nicht darum, diese Formate ausführlich zu erörtern, sondern zu diskutieren, was sie für das Fach der Philosophie bedeuten. Ich glaube, dass es schwer, wenn nicht unmöglich ist, allgemeine pädagogische Prinzipien zu formulieren. Was ich hier also ausführe, bezieht sich – wie zu erwarten – in erster Linie auf die Philosophie.

3.2.1 Frontal

Der Frontalunterricht – also hie auf dem Podium bzw. am Pult die Lehrerin, dort die Studentinnen, dazwischen viel Raum – ist in jüngerer Zeit sehr in Verruf geraten. Dieser Unterrichtsform hängt etwas sehr Altertümliches, Patriarchalisches (wenn nicht sogar Paternalistisches) an. Er führt die Vorstellung mit sich, dass die Professorin allwissend sei und die Studentinnen ignorant bis ahnungslos und dass es bei der Lehre in erster Linie darum gehe, die Studentinnen mit Wissen vollzustopfen, das sie in sich aufnehmen und lernen sollten – ohne Dialog, ohne Hinterfragung, ohne Kritik. Das Gesagte – reine Faktenvermittlung – soll von einem Kopf in den anderen, der »Transmissionsriemen« ist die Frontallehre. Kritiker dieser Vermittlungsform sagen, historisch nicht zu Unrecht, der Frontalunterricht stamme aus einer anderen Zeit, einer Zeit, in der »Vorlesung« wörtlich gemeint war – sei es als reine Vermittlung von propositionalem, abrufbarem Wissen, sei es noch wörtlicher genommen eine Vorlesung aus einem Kompendium, welches auch Philosophinnen früher benutzten, weil Bücher unerschwinglich teuer waren und es immerhin auch so etwas wie ein allgemein anerkanntes »Schulwissen« gab, einen klar definierten Kanon und Inhalt. Ich stelle nicht in Frage, dass an diesem Klischee etwas dran ist, und auch ich habe solch vermeintlich schlechte Form des Frontalunterrichts in meinem Studium schon erlebt und mich darüber geärgert bzw. über mich selbst, dass ich mich so früh aus dem Bett gequält habe – für so etwas! Vielleicht war es ja »gut für mich«, aber ich mochte es nicht. Was meine ich mit »schlecht«? Allzu oft habe ich es erlebt, dass der Professor dieses Veranstaltungsformat für die eigene, eitle 88

3. Wie lehre ich Philosophieren?

Selbstdarstellung nutzte (»pontification« ist der treffende englische Ausdruck hierfür). Nicht nur war die Form schrecklich, sondern auch der Inhalt langweilig, trivial, schlecht strukturiert, fahrig, inkohärent. Das alles kann es geben, und den Zuhörerinnen wird hier sicherlich einiges zugemutet; es muss aber nicht so sein. Denn Frontalunterricht kann nützlich sein. Was nun folgt, ist eine Eloge auf den Frontalunterricht zum Zwecke der Vermittlung von Philosophie – wenn er gut gemacht ist. Philosophie ist schwierig, sowohl in der Artikulation wie im Nachvollzug. Um bei der Artikulation zu bleiben: Wie es einmal ein Lehrer von mir treffend sagte (übrigens ein Meister des oben beschriebenen Vorlesungsstils, unter kompletter Vermeidung jeglichen Augenkontakts, aber hierin hatte er recht:), es geht in der Darstellung der Philosophie darum, die Multidimensionalität des Gedankens in die Eindimensionalität der Sprache zu übertragen. Ich bin kein Sprachkritiker, und ich halte gelungene philosophische Prosa für jeder Lyrik und Literatur ebenbürtig. Aber die verschiedenen, durcheinander feuernden, sich aufdrängenden Gedanken »im Kopf« in die lineare Abfolge klarer und deutlich vorgetragener Sätze, logisch aufeinander folgend, zu transponieren, ist sehr schwer und schwer zu erlernen. Wer diese Kunst beherrscht, hat eine große Sprachgewalt und ist ganz eindeutig eine gute (wenn auch nicht unbedingt originelle) Philosophin, was die Lehre derselben betrifft (viele großartige Lehrerinnen der Philosophie sind nur mediokre Philosophinnen, wenn man als Kriterium dafür die »Originalität« nimmt!). Der philosophische Gedanke, der zu vermitteln ist, ist also nur selten im Hin und Her von Argumenten zu entwickeln, sondern bedarf der sorgfältigen und unaufgeregten Darstellung eines im Verstehen nüchternen und durch Unterbrechungen ungestörten Kopfes (denn in Diskussionen darf es ruhig aufgeregt daher gehen!). Auch wenn die meisten Studentinnen es bevorzugen mögen, herausgefordert und gefragt zu werden (und da bin ich mir gar nicht so sicher), ist dies dem philosophischen Inhalt und dessen Vermittlung nicht immer zuträglich. Wenn es also um die klare, ungestörte und gut strukturierte Darstellung eines schwierigen, komplexen Inhalts geht, um die logische Aufeinanderfolge von Gedanken oder Argumentationsschritten eines Syllogismus oder die Rekonstruktion eines gewaltigen Gedankenge3. Wie lehre ich Philosophieren?

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bäudes oder eines Systems, geht nichts über die klassische Form der Vorlesung. Auch wenn Studentinnen manchmal gelangweilt dreinblicken mögen oder sich beschweren, ist der Lernerfolg einer gut strukturierten Vorlesung – also eines über eine längere Strecke hinweg vorgetragenen Gedankengangs – erheblich und oftmals viel größer als die lebhafteste Diskussion, bei der sich hinterher, wenn der Staub sich gelegt hat, alle fragen: »Und um was genau ging es hier jetzt?«. Ob es eine gute Idee ist, Vorlesung und Diskussion zu mischen, dazu unten. Man mag einwerfen, dass das Format der klassischen Vorlesung – übernommen aus einer Zeit, in der Bücher bzw. Druckwerke teuer und schwer zugänglich waren und in der Sinn und Ziel der Vorlesung in der Tat das Vorlesen sonst nur teuer zu erstehender Bücher war – gestrig, wenn nicht vorgestrig sei, vor allem in einer Zeit, in der nunmehr alle Texte im Internet verfügbar sind und man sie sich sogar elektronisch vorlesen lassen kann, sofern sie das richtige Format haben.1 Diese Kritik ist nicht von der Hand zu weisen. Bücher oder philosophische Texte sind ubiquitär zugänglich, der ursprüngliche Zweck von Vorlesungen ist in der Tat nicht mehr gegeben. Wieso sollte man sich also die Mühe machen, sich aus dem Bett zu quälen, wenn man den Stoff auf dem Handy lesen oder gar anhören kann? Mindestens drei Punkte sprechen aus meiner Sicht dafür, sich aus den vier Wänden zu begeben, um einer Vorlesung zuzuhören, zumal in der Philosophie. Erstens hat es einen sozialen Aspekt, sich in die Universität zu begeben und seine peers zu treffen, mit denen man Austausch pflegen kann (in dem Maße, in dem man das will). In einer Zeit, in der zunehmend Studentinnen über Überforderung, Depression, Burnout und Einsamkeit trotz Echokammern klagen, ist es wiederum und erneut angemessen, diesen sozialen Aspekt des Studiums hervorzuheben. Weiterhin ist eine Vorlesung heute eben mehr

Ein anderer Aspekt des Internets, der meine obige Behauptung bestätigt: Ein absoluter Renner auf Youtube sind Vorlesungen! Wie oft habe ich von Studentinnen gehört, dass sie sich eine Sache auf diese Weise haben erklären lassen, weil ihnen der Text zu schwierig (nicht zugegeben: sie zu faul zum Lesen) oder die Dozentin zu schlecht war. Notabene: Was hierbei begehrt und benutzt wird, sind Vorlesungen, Menschen, die ihre gesprochene Rede aufgenommen haben (oftmals angereichert durch peppige Graphiken, hierzu unten noch). 1

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3. Wie lehre ich Philosophieren?

als nur das Verlesen eines (aus der Feder einer anderen Autorin stammenden) Primärtextes, sondern die eigene Darstellung der Dozentin. Und schließlich, wenn man einmal die eigene Lektüre eines Textes mit dessen Darstellung in einer Vorlesung vergleicht, scheitert die Eigenlektüre von Primärtexten heutzutage nicht selten an der mangelnden Aufmerksamkeitsspanne der typischen Studentin. Diese Furcht vor Primärtexten kann einem mehr als alles andere eine Vorlesung nehmen. Denn eine gute Vorlesung »bricht« (neudeutsch) den Stoff »herunter«, das heißt sie arrangiert ihn sinnvoll und logisch (und vielleicht anders, als es die Primärautorin tat) und enthält nicht zuletzt auch ein Element von Unterhaltung, das nicht gering zu schätzen ist! Nicht zuletzt ist – um bei der deutschen Sprache zu bleiben – das Deutsch von Klassikern aus dem 18. und 19. Jahrhundert für junge Menschen heute schwer verdaulich, wenn nicht gar unverständlich.2 Wie aber erreicht eine Vorlesung am besten den hier skizzierten gewünschten Erfolg? Wie man eine Vorlesung hält bzw. vorträgt, ist nun wiederum – würde ich sagen – nicht philosophiespezifisch. Mein Rat ist aber grundsätzlich, nicht abzulesen, sondern mit Stichpunkten als Handleitung frei zu reden und sich gern auch auf Exkurse und Seitengedanken einzulassen, sofern man den Pfad des ursprünglich geplanten Gedankengangs wiederzufinden weiß. Studentinnen – ja, jede intellektuell interessierte und neugierige Person – sehen gern dabei zu, wie sich das Denken bei einer Person entwickelt, wie es sich gewissermaßen hervor- und sich seine (zum Teil sehr unerwartete) Bahn bricht (und bei jedem Menschen anders). In diesem Sinne ist eine gelungene Vorlesung ein gutes Beispiel für Sartres Diktum, dass nicht wir denken, sondern dass es »in uns denkt«. Sofern diese Zurschaustellung nicht ein eitles Angeben mit der eigenen Gelehrsamkeit und

Die Tendenz, Texte für den Unterrichtsbedarf – auch an der Universität – »aufzunorden«, also mit moderner Zeichensetzung und Orthographie an den gegenwärtigen Sprachstand anzupassen, ist in letzten Jahren wieder etwas aus der Mode gekommen; ob das an und für sich gut ist, lasse ich offen (für die Forschung benutzt man natürlich, wenn möglich, kritische Editionen); für den Unterricht ist es ausdrücklich hilfreich, da der »Verfremdungseffekt« geringer ist. (Einen Text vorzurappen empfehle ich hingegen nicht …) 2

3. Wie lehre ich Philosophieren?

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Brillanz ist (und die Grenze hier zu ziehen, ist nicht immer leicht, denn schließlich sollte man – wie ich einmal las – siebenmal mehr als das wissen, was man je vortragen kann), ist eine solche »Show« nichts, worauf man mit Herablassung blicken sollte, sondern durchaus beeindruckend und höchst effektiv, auch wenn sich nicht jeder zu einer rhetorischen Meisterleistung erheben mag. Auch ein kleinschrittiger, in einfachen Worten vorgetragener Gedankengang – der eben nur dann verständlich wird, wenn er ununterbrochen, ungestört, in Ruhe vorgetragen werden kann –, wird seine Wirkung nicht verfehlen, auch wenn er ohne Pomp vorgebracht wird. Überdies es ist nahezu unmöglich, einen komplexen Gedankengang oder ein kompliziertes Argument im Dialog zu entwickeln (wer je versucht hat, einen Dialog zu führen, wie er in den Platonischen Dialogen zwar meisterhaft, aber höchst artifiziell vorgeführt wird, weiß das). Aus diesen Gründen ist die Übermittlung von zentralen »Lehrstücken« der Philosophie nur in Form eines länger andauernden, ununterbrochenen mündlichen Vortrags unumgänglich. Ich rate daher also jedem, diese Kunst des freien, aber gebundenen (also im Zusammenhang gesprochenen) Redens zu üben und daran zu arbeiten, sich darin ständig zu verbessern. (Man kann sich herantasten über Vorlesungsskripte in der Form der »full sentence outline«, die man systematisch immer weiter verkürzt und verknappt; am Ende kommt man mit Notizen und Stichworten aus.) Glauben Sie es mir: Studentinnen werden es sehr schätzen, solche »Lektionen« zu erhalten. Inhaltlich ist eine philosophische Vorlesung am besten eine wohl dosierte Mischung aus Kontext und Argument. Was mit »Argument« gemeint ist, ist deutlich: Welches sind die Argumentationsschritte, die die Autorin geht, um ihren Punkt zu beweisen oder zu begründen? Hier so kleinschrittig wie möglich vorzugehen – eventuell mit Tafelanschrieb oder kleinschrittiger Darstellung von Prämissen und Zwischenschritten –, ist ratsam (ohnehin ist eine visuelle Darstellung philosophischer Inhalte, wo möglich, sehr zu empfehlen – viele Studentinnen sind visuelle Denkerinnen, s. hierzu unten, 95 – 97). Auch ist es hilfreich, die Argumente den Studentinnen später zur Verfügung zu stellen (etwa als Handout oder auf einer virtuellen Plattform, die in unterschiedlicher Form heute jede Uni anbietet), damit sie sie sich im Nachhinein nochmals vergegenwärtigen können. Nicht immer ist die Konzentrationsspanne Ihrer Hörerinnen lang genug, um dem Ar92

3. Wie lehre ich Philosophieren?

gument bis zum Ende zu folgen. Also seien Sie gnädig mit Ihren Studentinnen und geben Sie ihnen die Gelegenheit, das Material später nochmals zu sichten. Mit »Kontext« meine ich Verschiedenes. Kein Mensch interessiert sich für Argumente, wenn er nicht weiß, wozu das Argument dient oder warum die Autorin solche Argumente aufbaut und kunstvoll konstruiert. Kontext ist gefragt, im weitesten Sinn des Wortes! Wenn man den – meines Erachtens längst überwundenen, aber immer noch wirksamen – etwas klischeehaften Vergleich zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie hier bemühen möchte, so liegt in der analytischen Tradition der Fokus auf Argumenten, als ob diese an sich das seien, was Philosophie ist. Philosophie geht nicht ohne Argumente, sie ist aber nicht auf Argumente zu reduzieren. Wenn Sie also nicht verdeutlichen, was die Argumente sollen, wozu sie dienlich sind, was sie erreichen sollen, aus welchem Kontext sie erwuchsen, ist alle »Geisteskraft« verschwendet. Sie müssen den Kontext bereitstellen und entwickeln, damit man versteht, was die ganze Anstrengung soll. Zum Beispiel: Warum würde einer Philosophin überhaupt einfallen, für X ein Argument zu finden oder zu konstruieren? Um gegen Y zu argumentieren? Um eine ganz neue Richtung des Gedankens aufzuzeigen? Um eine andere Argumentationslinie ad absurdum zu führen? Oft gleitet die Forschung zu großen Philosophinnen heutzutage ab in eine Art Scholastik, die mit der Hyperspezialisierung zu tun hat, die leider unvermeidlich ist (s. hierzu unten, 130 – 134). Ich bin mir sicher, dass viele dieser großen Philosophinnen enttäuscht und missmutig wären, könnten sie sehen, wozu heute ihre Anstrengungen verkommen sind. Jedes noch so kleinteilige und komplizierte Argument etwa in der Kritik der reinen Vernunft wird von seinem Autor nicht in erster (und auch nicht in zweiter) Linie vorgebracht, um ein diskretes Argument wasserdicht zu machen oder in einem Schlagabtausch mit einem Opponenten einen Punkt zu gewinnen, sondern steht im Geiste der Idee der Aufklärung und Emanzipation und Freiheit (oder was immer die »große Agenda« Kants war, worüber man streiten kann). Die Argumente sind also Steigbügelhalter für die »größere Agenda«. Gelingt es Ihnen nicht, diese zu explizieren und attraktiv zu machen, ist alle Liebesmüh’ umsonst. Schließlich sollten Sie jeden Gedanken- oder Argumentationsgang mit einer Zusammenfassung abschließen (und das gilt für die Vor3. Wie lehre ich Philosophieren?

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lesung im Ganzen immer). Es gibt für Studentinnen nichts Unbefriedigenderes, als wenn eine Vorlesung in der Luft hängen gelassen wird oder im Gerede verpufft. Selbst wenn Sie nicht das erreicht haben, was Sie wollten, und der – allzu verständlichen – Tendenz folgen, den Gedankengang (oder das, was Sie sich für die Stunde vorgenommen haben) noch zu Ende zu führen, dabei Ihre Rede immer weiter beschleunigend: Bremsen Sie sich! Brechen Sie drei bis fünf Minuten vor dem Ende ab und fassen Sie zusammen, egal wo Sie stehen (und ohne sich darüber zu ärgern, dass Sie nicht so weit gekommen sind, wie Sie wollten). Sagen Sie nochmals in aller Deutlichkeit und Bestimmtheit, was der Sinn und Zweck dessen, was Sie heute ausgeführt haben, ist. Wieso das Ganze? Was will uns die Philosophin sagen? Welche größere Bedeutung hat das Gesagte? Dies sollten Sie am Schluss zu vermitteln versuchen, auch wenn Sie vor der Situation stehen, dies ganz frei und ohne Manuskript zu tun. Weisen Sie vielleicht darauf hin, was Sie hätten tun wollen, was Ihnen aber aus Zeitgründen nicht gelungen ist und was in der nächsten Stunde folgt (»teaser« bzw. »cliff-hanger«). Dies ist, würde ich sagen, in der Philosophie wichtiger als in allen anderen Disziplinen, weil es außer um Gedanken in der Philosophie eigentlich um nichts anderes geht. Freilich tragen Beispiele zum Verständnis bei, sind dabei aber eher »Krücke« und wohlfeiles Hilfsmittel. Und man sollte anstreben, zumindest einmal im Semester die »große Agenda«, das »ganz große Bild« zu entwerfen und panoramahaft vor den geistigen Augen Ihrer Studentinnen entstehen zu lassen. Ich lasse offen, was Sie unter diesem »ganz großen Bild« verstehen – einen Überblick über das Erkenntnisproblem von Plato bis Kant; einen ganz großen Überblick über das Hegel’sche System; einen Überblick über die Hauptrichtungen der heute vorhandenen Moralphilosophien –, aber wenn sich die Gelegenheit ergibt, sollten Sie diese Momente nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sie werden zu den Highlights der Lernerfahrung Ihrer Studentinnen gehören. Diese Gelegenheiten kommen meistens unerwartet und unangekündigt und sind nicht gut planbar, also planen Sie sie nicht ein! Ergreifen Sie die Gelegenheit beim Schopf. Auch hier würde ich behaupten wollen, ein Generalüberblick ist gerade in der Philosophie unentbehrlich, weil man leicht den Wald vor lauter Bäumen (sprich: Argumenten) übersieht. 94

3. Wie lehre ich Philosophieren?

Aber: Überziehen Sie nicht. Wenn die Glocke läutet (in Wirklichkeit oder metaphorisch), schneiden Sie sich das Wort ab!

Exkurs: Visualisierung in der Philosophie?

Dieser Punkt wäre sicherlich an verschiedenen Stellen dieses Buches angebracht, also setze ich ihn – etwas arbiträr – hierhin, sofern es die Vorlesung betrifft: Was ist von Visualisierungen, zum Beispiel Diagrammen aller Art, in der Philosophie zu halten? Hiermit meine ich Tafelanschriebe aller Couleur (inklusive mit elektronischer Hilfe angefertigte, etwa Powerpoint-Präsentationen, Whiteboard-Darstellungen etc.), angefangen von Namen von Philosophinnen (sofern sie vielleicht nicht ganz bekannt sind oder ungewöhnliche Schreibweisen haben, wie z. B. Vischer), Begriffsmonster (»Transzendentalphilosophie«), bis hin zu Diagrammen, die etwa ein System darstellen sollen (man kommt auch nicht umhin, sich bei der Verdeutlichung so mancher Systematik zu denken, dass einige Philosophinnen es ebenso gemacht haben, bevor sie ihren eigentlichen Text schrieben). Technisch gesehen gibt es heute mehr Möglichkeiten als je zuvor, und dies ist für die Lehre im Allgemeinen uneingeschränkt ein Segen. Sofern Sie jung sind, kennen Sie das alles zur Genüge und brauchen keine Erläuterung; sofern Sie etwas älter bzw. nicht so computeraffin sind, rate ich Ihnen: Nutzen Sie die Angebote an Ihrer Hochschule, um die neuesten Techniken zu erlernen. Ihre Studentinnen erwarten es von Ihnen bzw. können (oder wollen) eventuell auch gar nicht mehr anders lernen. Alles, was dem Verständnis dienlich sein kann, sollte willkommen sein. Deshalb ist eine Skizze bzw. ein Diagramm, die erläutern, an welcher systematischen Stelle man sich gerade befindet, hilfreich. Skizzen sind also meines Erachtens niemals Trivialisierungen, die besser in »Langschrift« oder »Langrede« ausformuliert sein sollten, sondern nützliche Hilfskonstruktionen, anhand derer man das Gesagte verdeutlichen kann; die Hörerinnen können dadurch Ihren Vortrag am Schaubild optisch mitverfolgen. Ein paar Worte zu den verschiedenen Formen solcher Schaubilder: Diese Formen ergeben sich oftmals organisch-natürlich aus der Denkweise der jeweiligen Philosophin (etwa die typischen Genus-Spezies-Unterscheidungen 3. Wie lehre ich Philosophieren?

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bei Aristoteles anhand von »Beindiagrammen«). Manchmal sind solche Diagramme komplizierter und erfordern größere Mühe. In diesem Fall empfehle ich, sie sich im Vorhinein zu überlegen und dazu Software zu Hilfe zu nehmen. Nichts verwirrt am Ende mehr als ein schlecht gezeichnetes Schaubild oder eines, dessen Proportionen nicht stimmen, weil man die Tafel falsch eingeschätzt hat. Auch wer nicht über eine sichere und lesbare Schreibschrift verfügt, sollte lieber die Software benutzen. Allzu leicht gibt man die Vorteile von Tafelanschrieben aus der Hand, wenn man unleserlich oder zu klein schreibt.3 Allerdings sollte man es damit auch nicht übertreiben, denn manchmal sind Diagramme auch kontraproduktiv bzw. bei manchen Gedankenfiguren einfach nicht möglich (jedoch: versuchen Sie es, wenn Sie genug Phantasie haben!). Vielleicht haben Sie auch einfach kein Talent dazu. Vorsicht auch bei der spontanen Zeichnung von Diagrammen, die gründlich danebengehen kann, wenn Sie sie vorher nicht durchdacht und konzipiert haben. Weiterhin schlage ich vor, statt spontaner Zeichnung (sofern Sie keine gute Hand dafür haben) lieber vorbereitete Folien zu verwenden oder Slides, die Sie vorher am Bildschirm gestaltet haben. Denn nichts kann ein einmal erreichtes Verständnis nachhaltiger beeinträchtigen als ein schlecht ausgedachtes oder (zwar gut ausgedachtes, aber) schlecht umgesetztes Schaubild. Nicht jeder hat graphisches Talent, wie auch übrigens nicht jeder eine schöne Handschrift hat: Ist das bei Ihnen der Fall, üben Sie entweder oder verlassen Sie sich auf vorbereitete Folien. Nochmals grundsätzlich zur Visualisierung des philosophischen Gedankens: Die Lehre der Philosophie geschieht freilich in erster Linie sprachlich, also in Rede, Mitteilung, Gespräch, Frage und Antwort. Der eigentliche Gedanke ist aber nicht notwendiger Weise selbst sprachlicher Natur; ob das stimmt, ist natürlich wiederum ein philosophisches Problem. Unzweifelhaft aber ist, dass es vorsprachliche oder parasprachliche Verständnisformen gibt, also Weisen des SichVerständlichmachens, die nicht verbal sind, sondern eben zum Beispiel visuell. Sagen wir es vielleicht so: Menschen machen sich GeWas die konkreten Programme betrifft (Powerpoint etc.), so gibt es hierzu viele Tipps, etwa nie mehr als eine maximale Anzahl von Spiegelstrichen pro Folie oder nie zur Leinwand sprechen etc., die ich zu konsultieren rate. 3

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3. Wie lehre ich Philosophieren?

danken auf sehr verschiedene Weise klar und verständlich; Diagramme, die sie sich beim Lesen zeichnen, sind oftmals der Art nach auf erstaunliche Weise unterschiedlich und in jedem Fall kreativ.4 Alle diese Möglichkeiten sollte man meines Erachtens zulassen bzw. sich selbst und andere dafür sensibilisieren, diese Lern- und Verständnisformen in sich zu entdecken (sicherlich ist die Visualisierung als Form des Verständlichmachens bei weitem nicht die einzige Möglichkeit! Man denke an Filme oder kürzere Clips, Gedichte, Musiktexte, etc.). Letztlich ist die Mitteilung und die Verschriftlichung das notwendige Vehikel, um den Gedanken »weiterzutragen«: Allein die schriftliche Form ist in der Philosophie letztlich Gegenstand der Beurteilung und Benotung. Also kommt es auf das Sprachliche am Ende am meisten an. Dennoch sollte man einen Sinn dafür entwickeln, welche anderen Formen es gibt, die man an sich entdecken kann. Und wenn man sie in der Lehre einsetzen kann, umso besser!

3.2.2 Vorlesung – dialogisch

Grundsätzlich gibt es zwei Seminarformen (von Subformen, etwa mit Arbeitsgruppen, und ganz anderen Formaten, also online-Kursen, einmal abgesehen), solche mit und solche ohne (aktive) Studentinnenbeteiligung. Die Vorlesung, wie sie oben vorgestellt wurde, ist per definitionem eine Veranstaltung ohne Beteiligung anderer außer der Dozentin (auch wenn der Frontalunterricht in »Reinform« nur noch selten vorkommt). Sofern alle anderen Veranstaltungsformen die Beteiligung der Studentinnen zulassen oder ihre Miteinbeziehung sogar einfordern, ist es meines Erachtens gerechtfertigt, einfach zwischen »frontaler« Veranstaltungsform und »allen anderen« zu unterscheiden; um die Letzteren geht es im Folgenden. Unter »dialogisch« verstehe ich entsprechend nicht die Weise, wie Sie eine Diskussion in der Philosophie führen können (hierzu siehe Ein Kollege erzählte, dass er seine Logik-Veranstaltung immer in zwei Parallelsektionen anbietet: bei gleichem Stoff einmal in der Form von Mengenlehre, einmal in der Form von formaler Notation. Er lässt die Studentinnen aussuchen, welche Lehrform ihnen besser gefällt. Die Gruppe teilt sich zumeist zur Hälfte in beide Formen. 4

3. Wie lehre ich Philosophieren?

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unten die Abschnitte 3.3 & 3.4), sondern wie Sie sinnvoll Dialog oder Diskussion in eine Vorlesung einbauen. So wichtig es meines Erachtens ist, im Seminar diskussionsfreudig und dialogoffen zu sein, sollte doch in einer Vorlesung der freie Vortrag der Dozentin den Löwenanteil beanspruchen. Dennoch ist es in der Tat etwas aus der Mode gekommen – zu Recht –, neunzig Minuten am Stück zu reden. Wenn Sie eine solche Zeitvorgabe bekommen, sollten Sie zwischendurch eine Pause einlegen. Andernfalls ist es sinnvoll, dass Studentinnen einen Mix aus frontaler Vorlesung und Diskussionsangebot erhalten. Um sich nicht aus dem Rhythmus und der Konzentration bringen zu lassen, andererseits aber Dialogoffenheit zu signalisieren, halte ich es für ratsam, eigens Zeitblöcke für die Diskussion zu reservieren. Halten Sie Ihre Studentinnen dazu an, sich während des Zuhörens Fragen aufzuschreiben; dies hilft auch der – viel zu sehr vernachlässigten – Praxis des aktiven, aufmerksamen Mitschreibens. Das Mitschreiben erfolgt sicher nicht mehr – wie in alten Tagen analog zur traditionellen Vorlesung – in Steno und ist überhaupt ein leider aus der Mode gekommenes Handwerk, welches im späteren Leben (nicht nur im Leben einer Akademikerin) in vielen Situationen hilfreich ist: das gekonnte, sinnvolle Mitschreiben, bei dem man sowohl das für einen selbst Wichtigste notiert als auch Fragen am »Rand«. Sollten Sie Ihre Vorlesung straff und gut strukturiert haben, dann sind geschickt platzierte, kurze Diskussionsblöcke sinnvoll, um eine fokussierte Diskussion des eben Dargestellten zu erlauben – anstatt dass die Diskussion in verschiedene Richtungen geht (zur Gesprächsführung selbst weiter unten, 102 – 120). Der angesprochene »Mix« aus frontaler Vorlesung und dialogischer Diskussion sollte also strikt getrennt werden. Dies dient der Strukturierung und Vermittlung des Stoffs (in der frontalen Rede) wie auch der Disziplin der Studentinnen, eben nicht sogleich die Hand zu heben, wenn etwas nicht verstanden wurde, sondern die Frage eigens zu formulieren und zu stellen (gleichzeitig können Sie lernen, die Körpersprache oder Mimik Ihrer Studentinnen zu beobachten und gegebenenfalls neu anzusetzen, wenn Sie Unverständnis oder gedankliches Abdriften bemerken). Diese Methode diszipliniert einerseits die »Schnellen«, gibt aber auch den eher »Bedächtigen« die Zeit, die sie benötigen. Grundsätzlich gesagt: Philosophisches Verständnis

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3. Wie lehre ich Philosophieren?

braucht Zeit. Die meisten Jüngeren brauchen viel davon; geben Sie sie ihnen. Dies ist kein Allheilrezept, wie man die doch recht »sperrige« Veranstaltungsform der Vorlesung durchführen muss. Ich gebe hier lediglich Tipps, wie man die etwas in die Jahre gekommene Großmutter aller Universitätsveranstaltungen etwas aufhübschen und modernisieren kann. Aber auch in philosophicis spricht – wie ich hoffentlich klar machen konnte – einiges dafür, viel Mühe und Sorgfalt in diese Veranstaltungsform zu stecken.

3.2.3 Online lehren?

In vielen Universitäten ist es seit einigen Jahren Mode geworden, neben normalen »Backstein- und Mörtel-Kursen« (»Brick and Mortar«, also in realen Gebäuden stattfindende) auch Online-Kurse anzubieten. Diese Tendenz geht durch alle Disziplinen und nimmt eindeutig zu (in Deutschland vielleicht etwas verspätet, aber dennoch). Es stellt sich die legitime Frage, ob dies nicht vielleicht die Zukunft der Hochschulausbildung sein wird. Vom finanziellen Standpunkt spricht vieles dafür: Es ist billiger, Online-Kurse anzubieten (also die digitalen Voraussetzungen dafür zu schaffen), als neue Gebäude zu bauen (die meisten Unis platzen ohnehin aus den Nähten und haben kein Geld, neue Immobilien in engen und teuren Innenstädten zu kaufen oder zu bauen), und sofern man Studiengebühren erhebt, sind Online-Kurse eine riesige Einnahmequelle, vor allem wenn man an die Massive Open Online Courses denkt, die im Prinzip keine Zugangsbeschränkung kennen. Was immer hierzu zu sagen ist, kann also nicht wirklich philosophiespezifisch sein. Man kann höchstens die Frage stellen, ob das überhaupt noch mit der Lehre, wie wir sie bisher kennen, zu tun hat und ob es pädagogisch sinnvoll ist. Meine Antwort verrät etwas über mein Alter: Ich bin Jahrgang 1969 und – in einem modernen Begriffsgebrauch – kein digital native, sondern ein digital immigrant, also jemand, der noch ohne Internet aufgewachsen ist (ich bekam meine erste E-Mail-Adresse 1996 vom Rechenzentrum der Uni zugewiesen, und das auch nur, weil ich mich vor einem bevorstehenden Auslandsaufenthalt extra darum bemühte!). Dagegen sind alle Studentinnen, die Sie jetzt unterrichten, 3. Wie lehre ich Philosophieren?

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online beheimatet; eine Welt ohne Internet und ständige OnlineExistenz ist Ihnen nicht bekannt. Grundsätzlich ist bei allen Überlegungen, die Online-Sachverhalte in der Lehre betreffen, zu bedenken, dass Ihre Studentinnen auf jeden Fall digital-»native« sind, Sie vielleicht nicht. Diese Diskrepanz, sofern Sie bei Ihnen existiert, ist auch nie ganz eliminierbar. Sie können sie auch nicht ignorieren. Sofern es für Sie ein Problem darstellt, müssen Sie sich vor Augen halten, dass die Eingeborenen Ihr Problem gar nicht als solches nachvollziehen können. Was auf jeden Fall wegfällt bei der Online-Lehre, ist das Gespräch von Mensch zu Mensch, Auge in Auge. Sofern man dies für essentiell für die Lehre in der Philosophie hält – und ich glaube, das ist schwer zu bestreiten –, dann ist dies sicherlich ein ganz großer Nachteil bei allen Online-Formaten. Es ist die Frage, ob dieser Nachteil nicht so schwer wiegt, dass es das ganze Unternehmen »Philosophie Lehren bzw. Lernen durch Online-Kurse« nicht vollkommen unterminiert. Die Antwort hierauf kann nur in der Zukunft liegen, zumal die technische Entwicklung solcher Online-Plattformen noch ganz in den Anfängen steckt. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass in der (vielleicht sogar nahen) Zukunft Programme und Formate gefunden werden (Hologramme?), die den Mangel an direkter Interaktion (fast) vollkommen kompensieren. Wie dies gehen soll – etwa durch mehr Interaktion durch neue mediale Formen, etwa die effizientere Nutzung von Cyberspace –, muss als noch offen gelten (zumindest habe ich dafür nicht genug Phantasie!). Wie Online-Kurse derzeit gestaltet und durchgeführt werden, ist ganz auf die Lernweise und die sozialen Umgangsformen junger Menschen – etwa durch soziale Medien – abgestellt. Darin mag ein Vorteil liegen, sofern junge Menschen Schwierigkeiten mit traditionellen Lern- und Umgangsformen haben, die Ihnen nicht mehr zugänglich erscheinen (einen halben Tag »offline« vor einem einzigen Buch zu sitzen). Wie dem auch sei: Auch wenn die Online-Lehre derzeit noch in vielerlei Hinsicht mit Problemen behaftet ist (technisch, pädagogisch) und zu fragwürdigen Ergebnissen führt, wird die Philosophie jedenfalls nicht aussterben (wenn auch vielleicht in der Form, in der sie jahrhundertelang gelehrt wurde). Vielleicht wird sie durch geeignete OnlineFormate einen ungeahnten Aufschwung erfahren; ich halte das für denkbar. Aber wie das aussehen wird, darüber maße ich mir – als 100

3. Wie lehre ich Philosophieren?

Einwanderer, der in diesem Land nie ganz heimisch werden kann – keine Prognose an. Sofern man sich auf die Lehrform der reinen Vorlesung beschränkt, sehe ich in der Online-Lehre keinen Nachteil, sondern möglicherweise auch Vorteile: Ob eine Studentin ihre Dozentin eine Vorlesung halten hört in einem beengten, schlecht beleuchteten und gelüfteten Hörsaal oder zuhause auf der Couch im Video, macht inhaltlich keinen Unterschied. Manche Menschen fühlen sich zuhause einfach wohler können und sich dadurch besser konzentrieren (wenn auch unter Verlust des sozialen Aspekts). Dagegen könnte man halten, dass es in der Online-Lehre keine Institutionalität gibt bzw. sich keine herausbilden kann. Auch die Teilnahme an einer peer group wird nicht zustande kommen können, wenn Studentinnen sich persönlich fast nie begegnen (was an einer Massenuni in einer Großstadt auch jetzt schon schwierig ist). Ob die Zugehörigkeit zu einer solchen peer group für das Dasein einer Studentin wichtig ist und zur Persönlichkeitsentwicklung wesentlich oder am Rande beiträgt, ist eine allgemeine Frage, die nicht spezifisch für die Philosophie ist und die ich daher hier nur in den Raum stelle. Eine durchaus philosophische Frage ist die nach der Zukunft der Philosophie in der Zeit des Internets und der ubiquitären sozialen Medien, die unsere Kommunikationsstruktur und unser soziales Verhalten durchgreifend und zutiefst verändern. Es ist damit zu rechnen, dass sich diese tiefgreifenden Änderungen auch auf das Universitätsleben auswirken werden: Sie haben das im Grunde schon getan, wenn man etwa an die hauptsächliche soziale Umgangsform professioneller Akademikerinnen denkt: E-Mail-Korrespondenz und Tagungen. Zunehmend wird der »virtuelle« Faktor ausschlaggebend sein, also Teilnahme durch Skype und Ähnliches. Welche Auswirkungen dies auf die Lehre haben wird, ist noch offen. Vor allem aber müssen Dozentinnen sich ganz neu auf das aufgrund der sozialen Medien veränderte Sozialverhalten von Studentinnen einstellen, einschließlich der Wirkungen, die es auf sie selbst haben kann, etwa durch das unautorisierte Mitschneiden von Seminarsegmenten und deren Hochladen auf Youtube und andere Plattformen, das Aufnehmen von Augenblicken, wo Sie eventuell Dinge öffentlich sagen, die Ihnen später zutiefst leidtun und von denen Sie bereuen, dass Sie sie je gesagt haben (Sie können es noch so sehr verbieten, es geschieht 3. Wie lehre ich Philosophieren?

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dennoch, ob Sie es wissen oder nicht). Hierüber zu philosophieren ist wohl eher die Aufgabe von Medienethikerinnen und anderen angewandten Philosophinnen. Nur so viel: Sie werden es nicht erreichen, das Rad der Zeit zurückzudrehen, und ein Beklagen der furchtbaren Gegenwart und eine Glorifizierung der guten alten Zeit hilft nie weiter. Das heißt natürlich wieder nicht, dass man sich an alles anpassen und jeden Trend mitmachen muss. Schon jetzt gibt es die Gegenbewegung vieler Dozentinnen, die Laptops und Internetgebrauch im Unterricht verbieten. Manchmal hilft es also, der brave new world Einhalt zu gebieten, die in alle Klassenzimmer der westlichen Welt Einzug gehalten hat, weil Verwaltungsleute es wichtiger finden, Geld für Technik auszugeben als für mehr Personal … Bei allen weiteren Unterrichtsformen steht der Dialog bzw. das Gespräch im Vordergrund, so dass ich das, was hierzu zu sagen ist, in den Abschnitten 3.3 und 3.4 abhandeln werde.

3.3 Gesprächsführung bzw. Diskussionsleitung Weil die aktive Interaktion mit Studentinnen zentral für die Lehre der Philosophie ist, besteht ein wesentlicher Teil der Veranstaltungsvorbereitung darin, diese Interaktion gut zu planen und sie gründlich zu reflektieren, bevor man in die Veranstaltung geht. Dialoge sind seit der Antike Teil des Kanons westlicher Philosophie und damit ein intrinsischer Bestandteil dieser Tradition. Philosophie ohne Dialog, ohne Gespräch, ohne wechselseitige Kritik und Hinterfragung – das ist in der westlichen Tradition undenkbar. Es sagt mehr über diese Form von Philosophie aus als bloße Methode, Herangehensweise, Vermittlungsweise. Vielmehr ist damit das Selbstverständnis der westlichen Philosophie berührt. Die Philosophin ist nicht eine Weise, die isoliert von der Gesellschaft auf einem Berg sitzt und die Weisheit verkündet. Denn wer in dieser Tradition aufgewachsen ist, für den gibt es solche »Weisheit, die vom Himmel fällt«, nicht. Philosophisches Wissen ist aus sich heraus offen für Debatte, Widerspruch, kritische Prüfung, gegenseitige Kritik, erneute Hinterfragung, Zeiten der Unklarheit und des Forschens und Suchens, des Findens und des Hinterfragens des neu Gefundenen. Das ist keine Eloge auf die westliche Philosophie, die zu Lasten anderer intellektueller Traditio102

3. Wie lehre ich Philosophieren?

nen – etwa aus Asien, Indien und anderswo – gehen sollte. Es bedeutet auch keine Privilegierung der westlichen Tradition. Das einzige, was ich damit sagen will, ist, dass Deutschland (und Europa im Allgemeinen) eben ein Erbe dieser Tradition ist und nicht wenig zu dieser Tradition beigetragen hat, worauf man als Deutscher stolz sein kann. Jedoch, bei aller Vorsicht hinsichtlich der unkritischen Glorifizierung solcher Traditionen: Jede Distanzierung von ihr – sei es kritisch, widerlegend, zweifelnd, skeptisch – ist selbst als performativer Akt Teil dieser Tradition. Dies mag man wiederum kritisch in Frage stellen, aber es ist der Boden, auf dem man in Europa aufgewachsen ist, allein schon durch die Staats- und Regierungsform der Demokratie. Aus den genannten Gründen sind das Gespräch und die Diskussion in der Lehre der Philosophie, wie wir (wir Westlichen, und dazu zählen natürlich auch Amerika und andere Teile der Welt) sie geerbt haben, ein wesentlicher und nicht wegzudenkender Teil derselben und damit ganz zentral auch der Lehre der Philosophie. Wenden wir uns also diesem Aspekt zu.

3.3.1 Ist der westliche philosophische Diskurs im Kern sexistisch?

Bevor ich mich aber der konkreten Praxis der Diskussionsführung und -leitung zuwende, möchte ich noch auf einen Punkt eingehen, der in Form einer dialektischen Negation der obigen Eloge auf die westliche Philosophie oft auf dem Fuße folgt: nämlich der Vorwurf, dass diese Art von Philosophie und die Weise, sie vorzubringen – im kämpferischen Dialog, im Streitgespräch, im leidenschaftlichem Hin und Her von Argumenten, Diskussionen, bei denen es nicht selten hoch und heiß her geht – in sich sexistisch sei. Der Gedankengang dieses Vorwurfs läuft in etwa so: Diese Art zu philosophieren ist nichts anderes als eine Verlängerung des männlichen, testosterongesteuerten Temperaments; sie lässt sanftere Töne und Emotionen, die die Domäne der Frauen sind, nicht zu Wort kommen, lässt keinen Raum für sie. Dies ist auch ein Grund dafür, warum es weniger und insgesamt so wenige Frauen in der professionellen Philosophie gibt, nämlich weil sie sich von diesem männlichen Gehabe abgestoßen fühlen. Sie fühlen sich in einer Umgebung nicht wohl, wo macho3. Wie lehre ich Philosophieren?

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haftes Gegockel zum Maßstab erhoben wird; wo es im philosophischen Streitgespräch vor allem anderen darum geht, recht zu behalten und den anderen zu »bezwingen«, und sollte es um den Preis der Einschüchterung und der Mundtotmachung der Gesprächspartnerin geschehen (bitte weiterlesen, bevor Sie nun wütend das Buch weglegen wollen!). Meine Antwort hierauf – konziliant, wie immer – ist die folgende: Was die Darstellung des weiblichen Charakters geht, so werden – meines Erachtens zu Recht – viele Frauen wütend, wenn sie so etwas lesen. Zunächst einmal sind beides – der streitsüchtige Mann, die weiche, emotionale Frau – Klischees. Weiterhin begeht derjenige, der »die Frauen« als so oder so bezeichnet, den essentialistischen Fehlschluss, zu meinen, etwas über »die Frau« (und ebenso »den Mann«) sinnvoll auszusagen, als ob es sich hierbei um unveränderliche Substanzen handelt, Platonische Formen, die sich nie wandeln. Dass »die Frauen« also von »dem männlichen Diskurs« abgestoßen werden, läuft auf eine triviale (und historisch, soziologisch und psychologisch nicht haltbare) Essentialisierung von Frauen, ja beider Geschlechter hinaus. Keiner, weder Mann noch Frau, sollte sich in solch ein Klischee pressen lassen. Was nun den kämpferischen, testosterongesteuerten, sich gegenseitig unterbrechenden Diskussionsstil betrifft, so ist es in der Tat wahr, dass so manche Diskussion, vor allem wenn es um emotional hoch aufgeladene Themen geht, in Geschrei und gegenseitige Vorwürfe ausartet, wo sich die Parteien (in der Tat sind es oftmals Männer, auch wenn damit keine Wesensaussage über Männer getroffen ist!) gegenseitig unfair beschuldigen, sich nicht ausreden lassen, sich über den Mund fahren, unterbrechen und vieles mehr, was einem philosophischen Gespräch nicht zuträglich ist. Solche Ausartungen sollte man als Dozentin unterbinden und im Fall von Exzessen abbrechen. Natürlich darf in der Philosophie – und wohl nicht nur westlicher Prägung – gestritten werden, auch leidenschaftlich; aber es gibt Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen und wo die Dozentin einschreiten muss, bevor das Ganze ausartet. Hierfür kann aber gesorgt werden, wenn Sie gleich zu Anfang des Semesters (womöglich auch schriftlich, etwa in einem Syllabus) die Grundregeln festlegen, die Sie etwa so formulieren können:

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3. Wie lehre ich Philosophieren?

Keiner wird unterbrochen, jeder darf ausreden. Jede Äußerung wird mit Respekt behandelt. Keiner wird aufgrund seiner oder ihrer Äußerung ausgelacht oder mit Verachtung gestraft. Alles ist zu sagen erlaubt, solange es niemanden beleidigt (dies gilt ganz besonders für Anwesende).

Usw. Diese Regeln mögen zwar allzu trivial und offensichtlich sein; dennoch werden sie immer wieder gebrochen. Es kann nie schaden, die Wahrheit zu wiederholen. Wenn Sie solche basalen Regeln von vornherein festlegen (und den Sinn und den Wert derselben erklären) und dann dafür sorgen, dass sie auch eingehalten werden, haben Sie den Grundstein dafür gelegt, dass die Diskussionen – hoffentlich – zivil ablaufen. Das meines Erachtens beste Argument, diese Regeln einzuhalten, liegt wiederum in der Natur der Sache: Diese Art der respektvollen Gesprächsführung ist ein wesentlicher Bestandteil der Philosophie-wie-wir-sie-imWesten-kennen. Philosophie im Umgang mit anderen ist eine Einübung in Demokratie, die historisch nun einmal ein Produkt des westlichen Abendlandes ist, bei aller Kritik, die auch hieran zu üben ist. Aber diese Kritik – hierin würde ich mich doch zum Westen »bekennen« – muss demokratisch und zivil vorgebracht werden, auch wenn es zugegebener Maßen verschiedene Formen der Zivilität und Humanität gibt, die anerkannt werden sollten, sofern sie zum Gespräch beizutragen bereit sind. Habe ich damit »die westliche Philosophie« essentialisiert? Ich denke nicht, sofern auch diese einem ständigen Wandel unterliegt (auch Gesprächspraktiken und Streittaktiken verändern sich über die Zeit) und man auch ihr kritisch gegenüberstehen kann. Dies gilt auch für radikale Ablehnung: Bekanntlich hat Heidegger Nietzsche den »größten Metaphysiker« genannt. Natürlich bin ich nicht einverstanden mit Heideggers Begründung (weil Nietzsche die »abendländische Metaphysik vollendet« habe oder dergleichen); der valide Punkt ist allerdings der, dass alle Versuche, sich von der Philosophiewie-wir-sie-kennen zu distanzieren (und Nietzsche ist hierfür das klassische Beispiel), sich in einen performativen Widerspruch bege3. Wie lehre ich Philosophieren?

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ben, weil die Kritik an der traditionellen Philosophie – will sie ernst genommen werden und sich nicht in einen rhetorischen Kokon verpuppt und damit disqualifiziert – natürlich selbst wieder mit Argumenten vorgetragen wird. Ich halte das für nichts anderes als die Einhaltung und Einforderung der Grundideen der Aufklärung. Ich bin damit alles andere als ein naiv-blinder Verfechter dieser »Ideale der Aufklärung«, schon gar nicht, wenn diese für selbstverständlich erachtet werden. Aber allen Kritikern des westlichen Denkens (vor allem denen, die selbst aus dem Westen stammen) ist vor Augen zu halten, dass alle Kritik, die sie üben (am westlichen, weißen, männlichen, heterosexuellen etc. Ideal), und bei allem Recht, ihren Standpunkt nur gewinnen und verteidigen kann, indem sie sich gegen das, was sie ablehnt, stellt und damit wiederum von ihm auch abhängt. Was folgt daraus? Dass alle Kritik sinnlos ist? Nein; sondern dass alle Kritik fair und vernünftig vorgetragen werden und sich jede Kritik ihres notwendig blinden Flecks bewusst sein muss. Ist damit »die« westliche Philosophie im Kern sexistisch? Ich denke nicht; wohl aber gibt es wie überall auch in der Philosophie Sexisten und auch Rassisten, Nihilisten etc.. Sofern eine Gruppe der Menschheit (oder auch einzelne) angegriffen und verunglimpft werden, ist diese Haltung mit dem Ideal der westlichen Philosophie unvereinbar, und das gilt auch für die, die im Namen der ausgegrenzten Gruppen den Mainstream wiederum verunglimpfen. Statt den Fokus der Verunglimpfung zu verschieben, sollte man eher daran arbeiten, alle Formen von Verunglimpfung zu identifizieren, zu durchschauen und letztlich abzuschaffen.

3.3.2 Die sokratische Methode – und ihre Probleme

Kommen wir nun zur konkreten Gesprächsführung. Die klassische und für die westliche philosophische Tradition »stilbildende« Form des Dialogs finden wir bei Platon, der meisterhaft vorexerziert, wie Gespräche geführt werden können. Die platonischen Dialoge sind nach wie vor eine ausgezeichnete Einführung in die Philosophie; und wenn die Gadamer’sche Kategorie des Klassischen – das Klassische ist das, was nie veraltet – plausibel ist, ist Platon der Klassiker der Philosophie par excellence. Allerdings verbindet Platon mit seiner Art 106

3. Wie lehre ich Philosophieren?

bzw. Kunst der Gesprächsführung auch philosophisches »Gepäck«, denn die Art der Fragestellung ist bekanntlich »mäeutisch«, ahmt also die Kunst der Hebamme nach, die hilft, das »Erkenntnisbaby« durch Fragen zu entbinden. Die richtige Lehrerin im Platonischen Sinn lehrt also nicht, wenn das heißt, die Schülerin mit Information zu versehen, die diese auswendig lernen soll; vielmehr ist bei Platon diese Art des Philosophierens – zumindest in Dialogen wie dem Menon – eng mit seiner großen philosophischen These, der Ideenlehre, verbunden.5 Die Seele, selbst nicht-materiell, hat vor der Geburt in den sterblichen Körper alle Ideen schon gesehen, und Lernen ist nichts anderes als Wiedererinnern dieser Ideen. Die Lehrerin (meistens in der Form des Sokrates in den platonischen Dialogen) tut nichts anderes, so die These, als den Gedanken, der schon in der Seele ist, aber vergessen schlummert, durch die rechten Fragen zum Leben zu erwecken. So viel zur »sokratischen Methode«. Die Reaktion, die ich von Studentinnen ernte, wenn ich sie einen platonischen Dialog lesen lasse und sie danach nach ihren ersten Eindrücken frage, ist zumeist das Urteil: Das sind alles Suggestivfragen, »leading questions«, von denen man aus amerikanischen Court Room Dramas weiß, dass sie nicht erlaubt sind, weil sie sich mangelnder Distanz und Objektivität schuldig machen und das Gespräch illegitimerweise in eine bestimmte Richtung lenken wollen. Die gesunde Skepsis der Studentinnen entzündet sich also daran, dass es nicht wirklich, nicht ernsthaft so sein könne, dass der Gesprächspartner (Menon etwa) selbst auf die Antwort gekommen ist, die er unwissend bereits in sich trug, sondern dass der Fragende, trotz allem Anschein der Neutralität, hierbei doch kräftig nachgeholfen hat. Für viele Studentinnen diskreditiert das Sokrates und seine Methode. Die Fragen sind nichts anderes als paternalistische »Nudges« von einem scheinbar wohlmeinenden Mentor, der genau weiß, was für seine Schützlinge am besten ist, wie er seine Schülerinnen zu führen und damit auch – eben – zu manipulieren hat. Wie ist solche Einschätzung zu bewerten? Ist die sogenannte »Sokratische Methode« in der Tat in die Jahre gekommen, so dass sie

Es wird hier natürlich nicht beansprucht, eine definitive Stellungnahme zur platonischen Ideenlehre vorzubringen. 5

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in den Papierkorb der Geschichte geworfen werden kann bzw. sogar sollte? Zunächst einmal zur praktischen Umsetzbarkeit der sokratischen Methode. Nicht zufällig handelt es sich bei den sokratischen Gesprächen in den platonischen Dialogen in den meisten Fällen um ein Zwiegespräch zwischen Sokrates und einem Schüler; dass andere Figuren zugegen sind, ist häufig nur für den Zweck der Rahmenhandlung bedeutsam und eigentlich für die Entwicklung des Arguments nebensächlich, wenn nicht gleichgültig. Das heißt, in die heutige Praxis übersetzt: Wer versucht, ein sokratisches Gespräch in einem Seminar von zwanzig oder mehr Studentinnen in Gang zu bringen, selbst wenn er sich eine Studentin als Gesprächspartnerin heraussucht, wird kläglich scheitern. Die Praktikabilität der sokratischen Methode bei größeren Seminaren, wie sie heute (leider) üblich sind, ist – würde ich sagen – fraglich. Sollten Sie ein solches Gespräch zustande bringen, dann höchstwahrscheinlich nur eins zu eins oder in einer sehr kleinen Gruppe. Gelingt es, kann es sehr wirksam sein. Ich will diese Methode also nicht diskreditieren oder gar verteufeln, sondern stelle nur ihre praktische Umsetzbarkeit in Frage. Aber nochmals: Nehmen es Ihnen Ihre Studentinnen ab, wenn Sie Ihnen weismachen wollen, Sie hätten Ihnen nichts, aber auch gar nichts beigebracht, sie seien ganz von selbst und nur durch Ihre Fragen geleitet (sehen Sie! Sie leiten doch!) zu einer bestimmten Erkenntnis gelangt? Ich glaube nicht. Heißt das, wiederum, dass rhetorische Fragen obsolet (geworden) sind? Nicht ganz vielleicht. Solche Fragemethode mag in gewissen Fällen ihren Sinn und ihre Überzeugungs- und Suggestivkraft besitzen. Als generelle Methode, Gespräche und Diskussionen in der Lehre zu gestalten, empfiehlt sie sich aber eher nicht (und es ist die Frage, ob sie jemals als Lehrform mit mehr als zwei Teilnehmerinnen sehr erfolgreich war). Kurzum, man muss meines Erachtens vorsichtig damit sein, die Methode zu glorifizieren, die sozusagen die Standardmethode der westlichen Philosophie ist. Man sollte sie aber deshalb auch nicht gleich in Bausch und Bogen verwerfen.

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3. Wie lehre ich Philosophieren?

3.3.3 Wie stellen Sie sinnvoll Fragen?

Wie stellt man nun sinnvoll Fragen, also strukturiert und in einer systematischen Ordnung, so, dass zunächst das Verständnis abgefragt wird, bevor eine Diskussion zustande kommt (also vorläufig noch keine Nachfragen zu Wortmeldungen verlangt werden)? Fangen wir also an mit Fragen, die eine Diskussion sinnvoll vorbereiten und auf den Weg bringen: »abfragen«! Hierfür hat sich eine (altbekannte, tradierte) »Fragetrias« sehr bewährt, die auch ich hier empfehle. Man mag es mir verzeihen, wenn diese Fragen-»Checkliste« allzu trivial anmutet, aber es kann nie schaden, Grundlagen (oder was man dafür hält) zu repetieren, denn für ein erstes »Abtasten« des Textes sind sie so grundlegend wie unerlässlich: Was sagt die Autorin? Welche Begründung liefert sie hierfür? Hat sie recht?

Die erste Frage testet, ob Studentinnen überhaupt begriffen haben, worin die These oder die Behauptung besteht (oder die Strategie, sofern es erst um Einleitendes geht). Es ist erstaunlich, wie viele Studentinnen fast blind gegenüber auch nur der Auffindung und erst recht korrekten Wiedergabe der These oder des Hauptarguments sind. Dem (an sich richtigen) Einwand, dass es die Autorinnen den Leserinnen nicht immer einfach machen, ist zu erwidern, dass es sich nicht um Wissenschaftstexte (der positiven Wissenschaften) handelt, worin lediglich Fakten und Untersuchungsergebnisse berichtet werden (was freilich etwas reduktiv ist), sondern dass die Schreibweise selbst (also der rhetorische Faktor) in vielen Fällen ein Teil der Aussage ist. Hier, in der Philosophie, werden nicht selten solche rhetorischen Mittel gekonnt und mit Gusto verwendet. Viele Philosophinnen sind bewundernswerte Sprachkünstlerinnen, die von ihrer Kunst weidlich Gebrauch machen. Auf diese Kunst aufmerksam zu machen und hierfür zu sensibilisieren, gehört zu den ehrenvollsten Aufgaben, die Sie erbringen können, sofern es Ihnen am Herzen liegt, Leidenschaft und vor allem Ehrerbietung für die intellektuellen (also auch sprachlichen) Spitzenleistungen der großen Philosophinnen zu 3. Wie lehre ich Philosophieren?

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erwecken. Das Niveau, auf dem sich die großen Philosophinnen bewegten und bewegen, muss erst einmal erreicht werden. Weiterhin ist zu beachten: Nicht selten sind philosophische Texte so strukturiert, dass sie zunächst die These, die es zu widerlegen gilt, wiedergeben, um sodann eine Kritik hieran zu formulieren (ob die zu widerlegende These, die der Gegnerin in den Mund gelegt ist, fair wiedergegeben wird, ist eine weitere Frage). Stellen Sie durch die richtige Nachfrage sicher, dass diese »dialektische« Argumentationsstruktur (wogegen grenzt sich die Autorin ab, was vertritt sie selbst?) klar verstanden wird. Auch ist es erstaunlich, wie viele Studentinnen absolut schwerhörig bzw. begriffsstutzig sind, wenn es um Ironie, Sarkasmus oder Humor geht. Stellen Sie dies heraus, sollte es nicht deutlich sein. (Die politische Korrektheit hat sicher viel Gutes und Richtiges erreicht; sie zeichnet sich aber auch durch puritanische Humorlosigkeit aus.) Stellen Sie weiterhin heraus – sofern Sie mir hier zustimmen –, dass die gegebenenfalls ironische Behandlung der Gegnerin nichts von der Strenge der Argumentation wegnimmt, sondern durch manchmal hyperbolische oder extreme Formulierungen einen Punkt besonders deutlich machen oder ihn besonders hervorheben kann. Als zweites fragt man nach dem Argumentationsgang oder der Begründungsstrategie. Welches sind die Argumente, die die Autorin für ihre Behauptung aufbietet? Trennen Sie hierbei Thesen von Argumenten. Sind Letztere überzeugend? Ist der Argumentationsgang sauber oder enthält er rhetorische oder logische Erschleichungen, ist er zirkulär, ist er ad hominem (oder was dergleichen logische Fehlschlüsse es geben mag). (Überhaupt ist es in Einführungsveranstaltungen sinnvoll, erst einmal Argumente zu studieren und die Arten, wie man sie erschleicht.) Hierzu gehört auch die Untersuchung der Widerlegungsstrategie der Gegnerin: Ist diese fair? Oder ist die Position, die kritisiert wird, ein Strohmann, eine Karikatur, eine (stärkere oder schwächere) Verzerrung? Nur wenn man die These in ihrer Argumentationsstrategie voll würdigt und in die einzelnen Schritte auseinandernimmt (oder zumindest in den Hauptzügen wiedergibt), kann man sie auch wirklich in ihrem Wahrheitsgehalt einschätzen. Schließlich, am Ende dieser Übung, aber auch erst dann (!), kann – und muss – die Frage gestellt werden, ob das Behauptete auch richtig sein kann. Aber erst am Ende: Studentinnen springen allzu gern und 110

3. Wie lehre ich Philosophieren?

zu leichtfertig ans Ende, bevor die Kärrnerarbeit geleistet ist. Ihnen dies abzugewöhnen, erfordert viel Disziplin und »Strenge«, aber die Mühe lohnt sich und führt zu effektiverer Arbeit am Text. Und erst ein gutes und umfassendes Textverständnis ermöglicht sinnvolles und effektives Diskutieren über den Text. Die Frage, ob die Autorin mit ihren Argumenten nun recht hat, kann nun in der Tat zur offenen Diskussion führen, worin die Studentinnen endlich ihre – wohl begründete – Meinung äußern dürfen. Idealiter wird die Frage »Hat nun die Autorin mit dieser Behauptung recht?« sogleich zu Wortmeldungen führen, aber das ist nicht immer der Fall. Oftmals erfordert die Komplexität einer These oder ihrer Argumentationsstruktur etwas Zeit, um die These und ihre Implikationen oder Konsequenzen richtig einschätzen oder ausbuchstabieren zu können. Um diese herauszustellen bzw. explizit zu machen, können Fragen helfen, die in folgender Weise die Frage »Hat sie recht?« modulieren können: »Meinen Sie, das kann wirklich richtig sein?« »Finden Sie das richtig? Sind Sie hier nicht vor den Kopf gestoßen? Ist das nicht kontraintuitiv?« »Wenn das nun auf Sie zuträfe, dann hieße das als Konsequenz X. Wären Sie damit einverstanden?« »Wenn das nun ein allgemeines Gesetz würde, wären Sie damit glücklich bzw. könnten Sie gut damit leben?«

Wichtig hierbei ist wiederum die Zeit. Viele Studentinnen brauchen entweder Zeit, um den Text voll zu rezipieren oder um sich ihre Antwort zurechtzulegen oder um den Mut aufzubringen, auf eine Frage zu antworten. Ganz wichtig daher: Seien Sie keine »Frageschleuder«, die den Fehler macht, wenn auf die erste Frage keine Antwort kommt, aus Ungeduld eine oder gleich mehrere Folgefragen hinterherzuwerfen, von denen Ihr Publikum nicht weiß, ob das nun eine zweite oder dritte Frage ist oder eine Variante der ersten. Die Versuchung, eine zweite (oder dritte oder vierte) nachzuschieben, wenn auf die erste Frage nur Schweigen erfolgt, ist sehr groß; dennoch widerstehen Sie ihr! Stellen Sie eine sinnvolle Frage (vielleicht mit 3. Wie lehre ich Philosophieren?

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etwas Vorlauf, worin Sie die Frage erläutern, eventuell mit einem Beispiel) und halten Sie dann den Mund! Geben Sie Ihren Studentinnen Zeit. Nichts verwirrt mehr als mehrere Fragen hintereinander, was dazu führt, dass Studentinnen nicht wissen, auf welche sie nun antworten sollen, und was die Diskussion wirr werden und in verschiedene Richtungen gehen lässt. Glauben Sie nicht, dass, wenn eine Antwort auf eine Ihrer in verschiedene Richtungen gehenden Fragen kommt, dann die Diskussion gerettet ist. Spätestens wenn die nächste Wortmeldung kommt, die auf eine andere Frage eingeht, sind Sie bzw. ist Ihre Strategie geliefert! Wenn ein paar Antworten kommen, dann kann die Diskussion wirklich losgehen, in der Sie sich zurücknehmen und auf die Moderation konzentrieren bzw. beschränken sollten. Wenden wir uns also nun der Gesprächsführung bzw. Moderation zu.

3.3.4 Inklusive und effektive Gesprächsführung

Idealiter schießen nach der Darstellung eines philosophischen Sachverhalts, den Sie spannend und sogar packend dargelegt und mit passenden Beispielen illustriert haben, die Hände der Studentinnen in die Höhe und nun geht es darum, die Diskussion sinnvoll zu führen. Wie gelingt dies am besten? Zunächst einmal nenne ich einige allgemeine Grundsätze, die für jede Gesprächsführung gelten sollten, die ich dann aber speziell in die Richtung des philosophischen Gesprächs lenke. 1. Jede Äußerung sollte mit Respekt und Anerkennung gewürdigt werden, ohne sich zu mokieren, einander ins Wort zu fallen oder sich abschätzig (durch Mimik und Gestik) zu behandeln. Diese Grundregeln sollten Sie zu Anfang der Sitzung oder, besser noch, des Semesters ganz klar und deutlich voranstellen (und sich selbst und andere dazu zwingen, sich daran zu halten – und um Verzeihung bitten, wenn Sie Ihre eigenen Prinzipien verletzt haben). Nicht nur gebieten das der Anstand und der Respekt vor den anderen, sondern als performativer Akt des Philosophierens signalisiert er die Anerkennung der anderen (oder des anderen), auch wenn man selbst dem von ihr Geäußerten nicht zustimmt (bzw. gerade dann). Kein Grundsatz, der mit dem demokratischen Diskurs und sachlich-phi112

3. Wie lehre ich Philosophieren?

losophischen Dialog übereinstimmt, kann je etwas gutheißen, was dem widerspricht. Ja, das gilt auch für solche Äußerungen, die den demokratisch legitimierten Rahmen selbst sprengen. Gerade dies ist ein heikler Punkt, der vor allem in der öffentlichen Diskussion oft zur Sprache kommt, wenn manche Politiker, Parteien oder deren Angehörige bewusst Tabus brechen. Anders als in anderen demokratischen Ländern, wo die freie Meinungsäußerung konstitutionell verankert ist, gilt dies nicht uneingeschränkt in Deutschland, wo die Leugnung des Holocaust oder das Singen der ersten Strophe der Nationalhymne verboten sind. Was tut man also, wenn jemand unter Berufung auf eben das hier genannte Prinzip der Würdigung jeder möglichen Äußerung Meinungen von sich gibt, die den Rahmen der politischen Korrektheit oder, schlimmer noch, des legal Erlaubten sprengen? Was, um es noch schwieriger zu machen, wenn andere Studentinnen sich hierüber aufregen und von Ihnen fordern, dem Einhalt zu gebieten? Verteidigen Sie die Studentin, die zum Beispiel Mord von behinderten Kindern gutheißt, auch oder gerade, wenn sich andere Teilnehmerinnen des Seminars lautstark aufregen? Eine schwierige Situation, für die es keine Patentlösung gibt. Mein Vorschlag: Pacta sunt servanda. Keiner darf niedergeschrien werden, keiner darf mit Respektlosigkeit behandelt werden; niemand. Ein weiterer teachable moment kann darin bestehen, die Studentin, die das gesagt hat, darauf hinzuweisen, dass diese Äußerung (in dieser oder ähnlicher Form) entweder direkt behauptet oder in der Konsequenz auf etwas hinausläuft, was im Dritten Reich zur Ermordung von Menschen geführt hat und was daher seit der Neugründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 als öffentliche Meinungsäußerung verboten ist. Ja, man kann anerkennen, dass es dem anderen (und doch eigentlich allgemeineren) Grundprinzip der freien Meinungsäußerung widerspricht, aber doch erklären, warum das so ist und auch so richtig (oder vielleicht problematisch) ist. Es ist durchaus möglich, dass Ihrer Studentin die Tatsache der bewussten Beschränkung der Redefreiheit in Deutschland einfach nicht bekannt war oder sie sich der Konsequenz dieser Äußerung, die sie tat, nicht bewusst war. In jedem Fall kann es nicht darum gehen, die Person zu blamieren oder öffentlich bloßzustellen, sondern einen Lerneffekt zu erzielen, der im optimalen Fall wieder zu beruhigten Nerven und zur Aufrechterhaltung des anfangs genannten Prinzips führt. Optimaliter. 3. Wie lehre ich Philosophieren?

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2. Nachfragen und Zusammenfassen der Äußerung. Zwei Reaktionsweisen auf Wortmeldungen von Studentinnen sind vor allem effektiv, um das eigene Verständnis derselben zu fördern, aber auch, um zu einer effektiven Diskussion beizutragen: Erstens die konkrete Nachfrage. Manche Äußerungen sind – gerade wenn sie in der Hitze des Gefechts vielleicht etwas schnell oder salopp daher gesagt wurden – noch unausgegoren oder begrifflich unpräzise, enthalten aber einen wertvollen Kern. Hier sollten Sie, wenn auch nicht mit Strenge abweisen, so doch auch keine Laissezfaire-Haltung einnehmen, sondern eingreifen und konkret nachfragen, was die Person gemeint hat. Was meint sie mit Begriff »X«, den sie scheinbar (oder anscheinend) arglos, unreflektiert oder missverständlich verwendete? Meint sie X oder Y? Kann sie nochmals präzisieren? Oder kann sie die Nachfrage beantworten, bevor die »Freigabe« zur weiteren Diskussion gegeben wird? Solche Interventionen sind kein unfaires »Hineingrätschen«, sondern können kurze, aber genaue Nachfragen zu Äußerungen sein, bevor es dann weitergeht, wenn – im erfolgreichen Interventionsfall – alle verstehen, was genau gesagt wurde (wie soll man sich auch zu einer missverständlichen Aussage sinnvoll äußern?). Wie man etwas krude Äußerungen »professionell« (im Sinne der Fachdisziplin) zusammenfassen kann oder das Beste herausholen kann, dazu gleich. Der Punkt hier ist, dass man zwar manchmal Diskussionen – gerade auch, wenn Sie nicht involviert sind, sondern nur moderierend begleiten – laufen lassen kann, aber sie im eben beschriebenen Sinn eng begleiten sollte, nicht zuletzt, um deutlich zu machen, dass Sie stets zu hundert Prozent bei der Sache sind – und solche Nachfragen stellen auch für Sie sicher, dass Sie alles genau mitverfolgen und alles verstanden haben. (Haben Sie den impliziten Verweis auf eine populärkulturelle Person richtig verstanden? Wissen Sie genau, warum auf einmal alle lachen?) Sorgen Sie sich nicht darum, durch solche Interventionen zu »nerven« oder mutwillig oder obstruktiv zu unterbrechen, sondern machen Sie deutlich, dass Sie es im Sinne der Studentin tun, dass Sie das Beste aus dem herausholen wollen, was jene noch unklar, undeutlich (auch ihr selbst gegenüber) zum Ausdruck gebracht hat. Wenn Sie der betreffenden Studentin durch ihre Nachfrage dazu verhelfen, ein überzeugendes Argument oder einen starken Einwand vorzubringen, wird diese an Selbstbewusstsein gewinnen und sich beim nächsten Mal so 114

3. Wie lehre ich Philosophieren?

anstrengen, dass Ihre Intervention nicht mehr nötig sein wird. Sie zeigen damit auch, dass Ihnen die entsprechende Person nicht egal ist. Zweitens die Zusammenfassung, sowohl nach einem bestimmten Abschnitt als auch – besonders wichtig – am Ende der Diskussion bzw. der Unterrichtsstunde: Sie ist wichtig, um den Gedankengang einer Diskussion (deren Verlauf ja oftmals vollkommen unantizipierbar ist) festzuhalten, zu rekonstruieren und auf das Kommende vorzubereiten, und sie ist einerseits eine Zwischen-Intervention, die den Zweck hat, die bisherigen Hauptpunkte zusammenzufassen. Dies ist von großer Bedeutung, denn oftmals geschieht es, dass drei, vier oder noch mehr Studentinnen im Wesentlichen das gleiche Argument vorbringen (indirekt oder in Variation); in anderen Fällen gibt es drei Wortmeldungen zum Kern des Problems, während ein paar andere am Punkt vorbeiargumentieren (und daher mit – höflichem – Schweigen bedacht werden sollten). Wenn es Ihnen gelingt, aus zehn Wortmeldungen zwei oder drei Hauptargumente zu »destillieren«, haben Sie das Wesentliche getan, um die Diskussion sinnvoll auf das Weitere vorzubereiten, ohne dass sich die Diskutantinnen an technischen Kleinigkeiten festbeißen und das große Bild aus den Augen verlieren. Gerade wo es um Argumentationen im Ganzen, Teile von Argumentationen oder begriffliche Klärungen geht, ist ein solches aktives Eingreifen manchmal unerlässlich. Sie kennen das betreffende Argument genau, Sie wissen, welche Gegenargumente dagegen vorgebracht wurden, wie darauf zu reagieren ist. Dieser Blick aus der Vogelperspektive ermöglicht es Ihnen zu antizipieren, wohin ein Argument oder eine Diskussion gehen wird, was gleich als Gegenargument eingeworfen werden wird (vielleicht auch von wem – solches Wissen sollten Sie beim spontanen Aufrufen einsetzen), wer sich eventuell nicht vor Begeisterung oder Aufregung wird halten können etc. Je mehr Sie Ihre Souveränität demonstrieren – nicht durch Maßregelung, sondern durch kluge und geschickte Moderation in der beschriebenen Weise –, werden Sie zu einem effektiven und gewinnbringenden Gespräch im Unterricht beitragen. Zum anderen die Diskussion zum Ausklang der Unterrichtsstunde: Diese ist häufig sinnvoll, um Sie etwas zu entlasten und weil der Stoff im Prinzip »behandelt« ist und es nun um seine Festigung und Fixierung geht. Hier eine nicht entwirrte oder – noch schlimmer – unstrukturierte Diskussionslage am Ende zu belassen, vielleicht noch 3. Wie lehre ich Philosophieren?

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mit dem Kommentar: »Das können wir jetzt nicht erschöpfend diskutieren, überlegen Sie es sich im Stillen und wir können nächste Stunde nochmals darauf zurückkommen«, gehört zum Unbefriedigendsten, was Studentinnen erleben können. Daher mein dringender Rat: Wenn Sie in einer solchen Lage sind und selbst wenn die Diskussion prima und aufregend verläuft, zwingen Sie sich (und Ihre Studentinnen) zum Einhalten. Brechen Sie die Diskussion ab und verwenden Sie die letzten drei bis fünf Minuten dazu, die Diskussion oder, besser noch, den Gedankengang der ganzen Sitzung zusammenzufassen. Ihre Studentinnen werden dann nicht in einer verwirrenden Stimmungslage entlassen (»Was war jetzt das Ergebnis?«, »Was genau haben wir jetzt erreicht?«), sondern mit einem Endpunkt oder zumindest Zwischenpunkt, mit dem Sie eine gewisse »closure«, einen gewissen Abschluss erreichen, zumindest für den Moment. Nichts ist schlimmer als eine abgebrochene Diskussion, die nur für Verwirrung und Unklarheit sorgen wird. Bringen Sie die Sitzung zu einem ordentlichen, »richtigen« Ende – und sei es mit »Gewalt«.

3.3.5 Bewertung von Diskussionsbeiträgen

Wie sind nun sinnvoller Weise Diskussionsbeiträge zu bewerten? Im Grundsatz ist hier in der Philosophie nichts anderes als in anderen Fächern geboten: die Studentinnen gebührend loben (auch wenn vielleicht nicht die perfekte Antwort gegeben wurde), sie ermuntern sich zu melden, sie aufrufen, auch wenn sie sich nicht gemeldet haben (»cold calling«, wie man im Englischen sagt – ich kann die Wichtigkeit dieser Methode nicht genug hervorheben), ihre Beiträge auf verschiedene Weise würdigen (durch Nachfrage oder Zusammenfassung im obigen Sinn) und so weiter. All das gilt durchgängig für jede Disziplin und soll daher auch nicht weiter besprochen werden.

3.3.5.1 Beiträge von Kant, Leibniz etc.

Es gibt aber doch eine Methode der Bewertung von Beiträgen, die sich vielleicht weniger auf die Philosophie als auf Philosophinnen (also die konkreten Autorinnen) bezieht und die meiner Erfahrung nach zur 116

3. Wie lehre ich Philosophieren?

Bescheidenheit wie zur Ermächtigung dienen kann. Außerdem sorgt sie oftmals für Heiterkeit (dass Humor in der Lehre der Philosophie eine wichtige und auch instrumentalisierbare Rolle spielt, hatte ich bereits gesagt). Auch hier kann man sich die relative Unkenntnis der Studentinnen zu Nutze machen. Diese besteht zum Beispiel darin, dass sie oftmals annehmen, eine mögliche Antwort oder einen bestimmten Lösungsvorschlag zum allerersten Mal in der Geschichte der Menschheit formuliert zu haben, worauf sie besonders stolz sind. Diesen Zahn muss man ihnen freilich ziehen, aber man kann es auf eine nicht verletzende, sondern pädagogische Weise tun. Um ein ganz einfaches Beispiel zu nennen: Studentin A sagt, voller Begeisterung und mit funkelnden Augen: »Alles ist doch eins!« – worauf Studentin B beharrt: »Nein, es besteht doch alles aus Gegensätzen, ohne gut kein schlecht, ohne richtig kein falsch, und so überall!« Statt diese Wahrheiten aus der Urzeit des Denkens zu belächeln, könnten Sie diese Äußerungen Ihrer Studentinnen hier auf ein neues Niveau heben, indem Sie antworten: »Wie Sie alle sehen können, Frau A ist Spinozistin, oder vielleicht doch eher Parmenideerin, wohingegen Frau B Hegelianerin oder vielleicht eher Herakliteerin zu sein scheint!« Nun erklären Sie, warum das so ist. Die entsprechenden Personen werden sich sehr geehrt fühlen, dass ihre Äußerung das Niveau eines Hegel oder Spinoza hat, werden aber sogleich einsehen, dass der Einwurf, so originell er ihnen erschien, gar nicht ist. Die angesprochene Demut wird klar erkannt, ohne dass man dies hervorheben muss; doch die gefühlte Ehrung wiegt weitaus schwerer: Eine ansonsten eher schüchterne oder exzessiv selbstkritische Studentin begreift, dass auch sie zu einem Gedanken fähig ist, der die »Dignität« eines Klassikers der Philosophie hat. Und eine Anknüpfung an die großen Philosophinnen der Tradition ist immer zu begrüßen. Dies ist natürlich nur ein – zugegeben, eher trivialer – Anfangsoder Anknüpfungspunkt für die weitere Diskussion, aber er hilft Ihnen, von Gemeinplätzen zu Substantiellerem vorzudringen. Denn jetzt können Sie auf dem Niveau des jeweiligen Klassikers weitermachen und die Position in größerem Detail und höherer Komplexität ausführen und sogleich die Probleme oder möglichen Einwände dagegen formulieren. So lässt sich aus einer vermeintlich trivialen Aussage, über die man ansonsten kopfschüttelnd und augenverdre3. Wie lehre ich Philosophieren?

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hend am liebsten still hinweggegangen wäre, ein Anknüpfungspunkt für eine weitaus differenziertere Debatte finden. Auch können Sie durch Nachfragen (siehe oben) die genaue Natur des Hegelianismus Ihrer Studentin weiter herausarbeiten. Diese »Identifizierung« mit einem Klassiker, sofern sie authentisch ist (also die Studentin nicht nur »ja, ja« sagt und das Gesagte nachäfft), kann auch ein Eigenleben annehmen, sofern Studentinnen dies zum Anlass nehmen, ihre eigenen Gedanken mit denen des entsprechenden Klassikers zu vergleichen und die eigene Position weiterzuentwickeln. Gerade die Konfrontation mehrerer Studentinnen mit solchen gegensätzlichen Positionen kann auch die Gespräche zwischen ihnen im Privaten befruchten und anregen. So sagte mir einmal ein Student am Rande einer Klasse, nachdem ich seine Position mit »Nietzsche« identifiziert hatte, er und sein Kommilitone (aus dem gleichen Seminar, allerdings gläubiger Jude) hätten unlängst eine heiße Debatte »Nietzsche versus Judentum« geführt, er in der Rolle von Nietzsche. Dies zeigt, dass bei den Studentinnen die Motivation zum Weiterspinnen eigener philosophischer Gedanken oft durch die Kenntnis der Ansätze und Positionen ausgewiesener großer Denker entsteht.

3.3.6 Was tun, wenn jemand Unsinn redet?

Auch wenn man noch so oft betont, es gäbe eigentlich keine »wirklich« dummen Fragen, jede Frage habe ihren Sinn, in jeder Frage stecke etwas Wahres und so weiter, muss man einfach anerkennen, dass es dumme Fragen und dummes Gerede leider doch gibt. Wie geht man also damit um, wenn jemand wirklich Unsinn redet, in einer Weise, dass es jedem auffällt (was man am Augenrollen einiger weniger höflicher Studentinnen ablesen kann)? Aber was genau ist Unsinn? Zunächst einmal zu einer Arbeitsdefinition von »Unsinn«. Der Unsinn des Gesagten kann darin begründet liegen, dass die betreffende Studentin ganz offensichtlich den aufgegebenen Text nicht gelesen hat – und dies sollte man im Übrigen auch deutlich sagen, sofern es augenfällig ist. »Unsinn« würde ich hier also definieren als komplette Unkenntnis dessen, was die Gesprächsgrundlage ist bzw. 118

3. Wie lehre ich Philosophieren?

sein sollte. (Lassen Sie es Ihren Studentinnen nicht durchgehen, unvorbereitet ins Seminar zu kommen!6 ) Was aus dem »hohlen Bauch« gesprochen wird, kann vielleicht gelegentlich aus Zufall ins Schwarze treffen; wenn es aber das Ziel verfehlt, würde ich von »Unsinn« sprechen. Weiter würde ich als Unsinn bezeichnen, was spekulativ, ohne Sicherheitsnetz, also entsprechende Argumente vorgetragen wird, meist ebenfalls aus Unkenntnis des zu besprechenden Textes oder Themas. Gerade Philosophie wird oft als »Laberfach« angesehen, und es herrscht die Meinung, man müsse sich nicht vorbereiten und könne einfach mitreden. Philosophie sei »einfach«, weil man ja »nur reden« müsse – leider kommen allzu viele Studentinnen damit durch, weil sie es offenbar verstehen, ihre Dozentinnen mit einem Redeschwall zu beeindrucken. Lassen Sie Ihren Unterricht und Ihre Diskussion nicht hierzu verkommen oder den Eindruck entstehen, als ob so etwas bei Ihnen erlaubt und toleriert werde (etwa aus »Dankbarkeit« dafür, dass überhaupt jemand etwas sagt). Wer meint, in der Philosophie mit solchem Geschwätz durchzukommen, und sich sogar unter seinen peers damit brüstet, dass es die Dozentin nicht bemerkt habe, dem sollte in aller Entschiedenheit klargemacht werden, dass dies nicht akzeptabel ist. Schließlich gibt es aber die Möglichkeit, dass jemand unbewusst über das Ziel hinausschießt – was dann? Was also, wenn nicht einem Windbeutel (siehe oben), sondern einer wirklich bemühten und ernsthaft denkenden Studentin ein solches Missgeschick unterläuft? Auch hier sollte man als Dozentin versuchen, einen teachable moment daraus zu machen. Dieser kann darin bestehen, nachzuweisen, worin Ein Kollege hat hierzu Folgendes vorgeschlagen, was vielleicht wenig höflich (immerhin ist er Engländer!), aber doch effektiv ist. Ich gebe es hier nur weiter: Man solle gleich zu Anfang des Semesters jemanden »kalt« aufrufen (»cold calling«) und die Person bitten, etwas zum aufgegebenen Text zu sagen. Gäbe die betreffende Person zu erkennen, dass sie keine Ahnung oder den Text nicht gelesen hat, solle man sie coram publico herunterputzen und darauf hinweisen, dass die vorherige Lektüre des Textes Pflicht für alle Seminarbesucherinnen sei. Diese öffentliche Bloßstellung sei zwar eine (bewusst in Kauf genommene) Übertretung der Höflichkeitsregeln, sie sei aber so effektiv, dass man es für den Rest des Semesters nie wieder tun müsse. Ich empfehle diese Methode nicht unbedingt, so effektiv sie auch sein mag. Unter anderem ist sie deshalb problematisch, weil sie einen unter Druck setzt, von da an konsequent alle oder zumindest viele Seminarteilnehmerinnen aufzurufen. Tut man dies nicht, so verpufft die Androhung. 6

3. Wie lehre ich Philosophieren?

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der Fehler besteht: in der falschen Grundprämisse? In der fehlerhaften Logik? Hier bietet sich allerdings das sokratische Gespräch an, worin Sie durch gezielte Nachfragen die Studentin selbst darauf kommen lassen, dass sie falsch lag (sie also selbst nicht gezwungen sind, zu sagen: »Sie haben Unsinn geredet«). Möglicherweise gelingt es Ihnen, trotz allem Falschen einen Kern an Wahrem und Gutem zu extrahieren und ihn zu einem validen Punkt zu entwickeln. Weiterhin gibt es die Möglichkeit des »produktiven Missverständnisses«, indem Sie an irgendetwas, und sei es nur ein von der Studentin verwendetes Wort, anknüpfen und es zum Anlass nehmen zu sagen, was Ihnen hier das Richtige zu sein scheint. Hiermit haben Sie auf elegante Weise »Gesichtswahrung« betrieben. Denn jemanden öffentlich bloß zu stellen, scheint mir die denkbar schlechteste Lösung und ist höchstens (siehe vorige Anmerkung) als »last resort« zu empfehlen. Und aus Dankbarkeit, dass man »geschont« wurde, wird Ihnen das vermeintliche »Missverständnis« auch niemand zum Vorwurf machen.

3.4 Gruppe und Individuum Wie verhält sich das Individuum in einer Gruppe, insbesondere einer Lerngruppe? Wie prägt und beeinflusst die Lerngruppe das Individuum? Diese Fragen stellen sich in jeder Seminarform und jeder Disziplin. Die Philosophie bietet allerdings die (vielleicht einzigartige) Chance, dieses Verhältnis, diese »Dialektik«, zu reflektieren und für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Dies ist vor allem möglich in Seminaren zu ethischen oder moralphilosophischen Themen, wo »Intuitionen« und Meinungen eine große Rolle spielen (aber natürlich nicht nur da). Hier also ein paar praktische Beispiele oder Szenarien, in denen Sie Gruppe und Individuum in Gegensatz oder gar in Spannung zueinander bringen können: Beispiel eins: Schildern Sie eine hypothetische oder aus der jüngeren Medienberichterstattung oder der aktuellen öffentlichen Diskussion stammende Situation, die ethisch kontrovers ist. Nehmen Sie etwas, was gerade in der Öffentlichkeit umstritten ist (jedes Beispiel du jour wird durch das nächste bereits überholt – ich gebe also kein konkretes). Seien Sie – wie immer bei solchen Beispielen, real oder 120

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fiktiv – neutral. Dann fragen Sie: Wer würde in dieser Situation, wenn es ihn beträfe, X tun? Warten Sie, bis die Hände in die Höhe gehen. Manche Studentinnen werden sofort und spontan ihre Hand heben und sich aufgrund ihrer moralischen Unkorrumpierbarkeit überlegen fühlen und dies anderen gegenüber deutlich machen (durch verächtliche Mimik oder Bemerkungen oder durch die Aufforderung, sich ihnen anzuschließen). Als Reaktion darauf werden Sie bemerken, dass manche sich in der Tat zögerlich anschließen werden, andere bei ihrer Meinung (also der Verweigerung des Handzeichens) bleiben und damit auf ihre Weise ebenso moralische Überlegenheit signalisieren werden. Dieses Experiment kann zu mancherlei dienlich sein. In diesem ersten Fall (also der ersten »Schicht«, wenn Sie so wollen) können Sie Mehrheiten ermitteln. Vielleicht ist es wirklich so, dass die überwältigende Mehrheit der Studentinnen der einen Seite zuneigt. Um diese Übung sinnvoll weiterzuführen, können Sie sich nun Argumente liefern lassen, warum die knifflige Situation zugunsten von X und nicht Y ausfallen sollte oder warum die Situation, anders als es den Anschein hat, vielleicht gar nicht so knifflig ist. Menschen leben nicht gern mit zwei- oder mehrdeutigen Antworten auf eine Situation und werden das Beste tun, um sich herauszuwinden und zu Eindeutigkeit zu gelangen. Auch diesen moralpsychologischen Mechanismus (oder Automatismus) können Sie explizit machen und diskutieren. Warum ist das so, ist es wirklich natürlich oder nur »uneigentlich« und lässt sich dies philosophisch verteidigen? Verschiedene Antworten sind hier möglich und vertretbar. Beispiel zwei oder vielleicht eher (weiter in die Tiefe gehend) Schicht zwei: Hier geht es darum, auf das Phänomen des Sich-zueiner-Gruppe-Schlagens zu reflektieren. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen. Die erste Möglichkeit ist schon angedeutet worden, aber Sie können noch weitergehen: Machen Sie, anders als die Teilnehmerinnen, deutlich, warum die Situation doch viel komplexer und schwieriger ist, als ihre Lösungsvorschläge es suggerieren. Vielleicht gibt es ja noch dritte und vierte Optionen. Das verdeutlicht die Komplexität der Welt und die manchmal geradezu schändliche Vereinfachung seitens der (im Lehnstuhl darauf reflektierenden) Philosophinnen. Das soll nicht die Impotenz von Philosophie demonstrieren (denn disambiguieren kann man ja auch nur wieder durch Philosophie), sondern einfach nur verdeutlichen, wie komplex 3. Wie lehre ich Philosophieren?

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die Situation ist, auf die die Philosophie zu reflektieren hat, und wie komplex, a fortiori, dies die Theorie selbst macht bzw. wieviel es von der Theorie fordert. Simple Gemüter geben sich mit simplen Antworten zufrieden. Dass Komplexität und das Aufzeigen verschiedener Aspekte eines Problems selbst nichts Schlechtes sind, auch wenn es dem gemeinen Menschenverstand widerstrebt, ist eine wichtige Demonstration der Macht der Philosophie, des rigorosen Denkens. Etwas einfacher als diese Übung, aber nicht weniger beeindruckend ist es, wenn Sie der Mehrheit die Antithese ihrer Meinung vorargumentieren und Sie versuchen, sie hiervon zu überzeugen. Es geht also nun nicht in erster Linie um die Überzeugung auf der Objektebene, sondern auf der Meta-Ebene um den Nachweis, dass viele Menschen, die glauben, feste Überzeugungen zu vertreten, nichts als Blätter im Wind sind. Gelingt Ihnen dies (soweit Sie sehen), führen Sie eine neue Umfrage durch. Fällt diese in Ihrem Sinne aus, gibt Ihnen dies wiederum Anlass, die Manipulierbarkeit der Gruppe zu exemplifizieren, umso mehr, wenn Sie deutlich machen, dass dies eigentlich gar nicht Ihre eigene Meinung war (die Sie natürlich nie auf Ihrem Revers tragen sollten), sondern dass Sie sie nur als advocatus diaboli oder for the sake of arguing eingenommen haben. Dies ist kein Beispiel für die Beliebigkeit der Philosophie (nach dem Motto: man kann für alles Gründe finden – diese Haltung ist zynisch), sondern für die Macht der Rhetorik (vor allem wenn Sie hinterher verdeutlichen, welche Sophismen Sie verwendet haben) und die Beeinflussbarkeit der Gruppe. Beispiel drei (oder Schicht drei) betrifft die Kontrastierung von Gruppe und Individuum. Hier können Sie wiederum verschiedene Aspekte thematisieren, zum Beispiel die Dynamik von group think (Gruppendruck), also die eingangs bemerkte Tatsache, dass sich manche (oder viele) sofort melden und dann doch nicht wenige, als Reaktion auf die vermeintlich erdrückende Mehrheit, bereit sind, zurückzustecken. Mehreres kann dabei thematisiert und explizit werden: die Beeinflussbarkeit der Masse; die ganz offenbare Tatsache, dass manche ihrer eigenen moralischen Urteilskraft nicht trauen; die gegenteilige Haltung, dass sich niemand von seinen Intuitionen (und damit Meinungen) abbringen lässt, obwohl er den Argumenten der anderen Partei zustimmt. Als Lernergebnis ist dabei hervorzuheben: die Standhaftigkeit des Einzelnen angesichts der überwältigenden 122

3. Wie lehre ich Philosophieren?

Gruppe und dass diese »Widerständler« nicht selten als Märtyrer oder moralische Helden in die Geschichte eingehen; weiterhin, wie leicht es ist, moralisch »umzufallen« und zur Mehrheitsgruppe überzulaufen, sei es, weil man spontan überzeugt wurde oder sich von einer gewissen Begeisterung anstecken ließ, sei es, dass man sich eben selbst kein sicheres Urteil zutraut. Solche Übungen sind im Land des größten Verbrechens an der Menschheit nicht sinnlos und sollten immer wieder Anlass zur Reflexion geben, wobei dies in verschiedene Richtungen gehen kann: die Einzelne, die im Nachhinein auf der richtigen Seite der Geschichte war; die Einzelne, die sich für die falsche Sache begeistern ließ; die Einzelne, die im hartnäckigen Glauben an die eigene moralische Unfehlbarkeit den historischen Kairos verfehlte. Bei alledem sollte also nicht mit dem moralischen Zeigefinger gezeigt werden (denn den gibt es in den meisten Fällen nicht, jedenfalls nicht einfach so und geradehin), sondern differenziert und ausgeglichen demonstriert werden, welche psychologischen und gruppendynamischen Mechanismen am Werk sind. Zum Beispiel wurde schon das Phänomen des Gruppendrucks genannt, der dazu führen kann, dass das Individuum zu der Auffassung gelangt, man könne an der Mehrheitsmeinung nicht mehr rütteln, weil sie alles-dominierend sei; man könne nichts tun, als sich zu fügen und sich ihr anzuschließen. Folglich geht es darum, sich in die »in-group« zu integrieren. Andererseits gibt es eine gewisse Arroganz der Mitglieder der »in-group«, die denjenigen der »out-group« mit Herablassung begegnen oder sie sogar ignorieren und ihre eigene Zugehörigkeit über alles andere stellen. Gleichzeitig lässt sich oft beobachten, dass die »out-group« sich lieber als Sub-Kultur zelebriert, als auch nur den Versuch zu machen, die Mehrheit von ihrer Sache zu überzeugen. Das Individuum, das sich von der Mehrheit ausgegrenzt fühlt, sucht stattdessen außerhalb (in unserem Beispiel außerhalb des universitären Kontextes) seine peers in virtuellen Echokammern und gibt sich dort der ungebremsten (und anonymisierten) Hetze hin. Hierzu hat es gerade in letzten Jahren viel Forschung sowohl in der empirischen Soziologie wie der Sozialphilosophie gegeben, vor allem hinsichtlich der Demarkationslinien bezüglich Geschlecht, Sexualität (also sexuelle Präferenz) oder gesellschaftliche Schichten. All diese Themen sind ausgezeichnete Gegenstände philosophischer Reflexion, einer Reflexion, die deswegen in diesem Kontext relevant ist, weil sich 3. Wie lehre ich Philosophieren?

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im Seminar die Dynamik von Gruppe und Individuum besonders widerspiegelt. Eine weitere Variante dieser Kontrastierung von Gruppe und Individuum ist es, wenn es Ihnen gelingt, moralische Vorurteile aufzudecken (die meist selbst Teil von group think sind, statt dass sie eigens reflektiert bzw. explizit konstruiert wurden). Dies gelingt etwa durch Manipulation oder Modifikation eines Beispiels. Sie können dies wiederum direkt durch spontane Umfrage demonstrieren oder durch bekannte Beispiele, die oftmals gerade im utilitaristischen Kontext gern verwendet werden: Rettet man lieber die deutsche Kanzlerin oder eine Gruppe von Verbrechern? Kann man sich rechtlich davon freimachen, einer Person, die auf der Straße zusammenbricht, zu helfen? Wie sieht es mit der praktischen Umsetzung aus, wenn die Person nach Alkohol riecht? Etc. Sie können hierbei scheinbar »eindeutige« Situationen wiederum komplexer und mehrdeutiger gestalten, wenn es Ihnen gelingt, sie so zu modifizieren, dass das Umfrageergebnis bei strukturell gleicher Konstellation unterschiedlich ausfällt. Entscheidend ist jeweils der eigene oder der Gruppenvorurteil, was hierbei auf beeindruckende Weise ans Licht kommt. Wenn es Ihnen so gelingt, die Vorurteile Ihrer Studentinnen ans Licht zu bringen, haben Sie eine große Leistung vollbracht. Es liegt nun an Ihnen, daraus Kapital zu schlagen. Sie können etwa ein Fallbeispiel so anordnen, dass die Person, die vermeintlich zu Unrecht angeklagt wird, eine den üblichen Normen entsprechend als normal zu bezeichnende Person ist (also eine weiße, heterosexuelle Frau etwa). Wenn die Argumente, die Ihnen geliefert werden, für einen Freispruch der Person oder ihre moralische Entlastung sprechen, modifizieren Sie das Beispiel auf eine Weise, dass die »Zielperson« etwas von der Norm Abweichendes ist, etwa ein Sexualstraftäter (es muss nicht unbedingt so extrem sein), und dann stellen Sie die gleiche Frage erneut. Es geht hierbei darum, den Studentinnen zu demonstrieren, dass sie offenbar nach »zweierlei Maß« urteilen. Das Maß kann hier nur das positive Vorurteil gegenüber dem »Normalen« und das negative gegenüber dem »Nicht-Normalen« sein. Der Zweck der Übung ist, gegenüber der Meinung, es gehe da immer nur rational ab oder Vorurteile ließen sich mit Vernunft einfach eliminieren, explizit zu machen, dass unserem moralischen Urteilen eine Substruktur zugrunde liegt. Es geht mir hier nicht um eine 124

3. Wie lehre ich Philosophieren?

bestimmte Agenda, die ich Ihnen suggerieren will, sondern lediglich um die Auffächerung der verschiedenen Dimensionen, die etwa in moralischen Urteilen in der Spannung zwischen Individuum und Gruppe am Werk sind. Zusammenfassend: Das Verhältnis zwischen Gruppe und Individuum im (Philosophie-)Studium ist wichtig, weil sich Ihre Studentinnen in vielerlei Hinsicht als Individuen in einer Gruppe situieren müssen, in der Gruppe ihrer peers, in der Gesellschaft. Der Kontrast zwischen den eigenen Werten, Vorurteilen und Meinungen und denen anderer und schließlich der Gruppe, der »Gesellschaft«, diese diffuse und amorphe Masse, ist daher ein eminent philosophischer Themenkomplex, der ganz besonders in Diskussionen im Seminar selbst ans Licht kommt und daher auch behandelt und genutzt werden sollte. Zu helfen, sich hier »Orientierung im Denken« zu verschaffen, ist eine der vornehmsten Aufgaben, die Sie als Philosophin Ihren Studentinnen stellen können – und eine der schwierigsten, denn Sie müssen als Philosophin zwischen den Extremen des Dogmatismus einer- und des Skeptizismus andererseits navigieren.

3.5 Philosophieren im geschriebenen Wort Zum Philosophieren im Seminar gehört nicht nur das Mündliche, auf dem bisher der Fokus lag. Ein großer Teil Ihrer Verantwortung als Dozentin besteht darin, schriftliche Arbeiten Ihrer Studentinnen – Hausarbeiten, Klausuren, Abschlussarbeiten – zu lesen, zu bewerten und ggf. zu begutachten. Hierzu könnte man wohl eine eigene Abhandlung schreiben7 ; ich belasse es bei den meines Erachtens wichtigsten Punkten. Vor allem an den Massenuniversitäten ist der diesbezügliche Betreuungsbedarf von den einzelnen Dozentinnen nur

Es gibt viel Literatur dazu, wie man am besten schreibt, aber wenig oder nichts darüber, wie man evaluiert, abgesehen von Hinweisen darauf, welche Kriterien für gewisse Noten erfüllt sein müssen, aber wie man diese dann auch anwendet, ist nicht immer deutlich. Das ist eine interessante und paradoxe Situation dem gegenüber, dass das Gutachtenwesen in den letzten Jahrzehnten (wenn man an den Review-Prozess bei Zeitschriften, Buchreihen und nicht zuletzt Drittelmittelorganisationen wie ERC, DFG etc. denkt) eher zugenommen hat. 7

3. Wie lehre ich Philosophieren?

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schwer zu leisten, gerade wenn man pro Seminar vierzig oder mehr Studentinnen hat. Das Folgende ist »vom Standpunkt des Ideals« aus formuliert, also wie es optimalerweise sein sollte (und worauf Studentinnen der Philosophie meines Erachtens auch einen berechtigten Anspruch haben). Ich sehe in der Vermittlung des philosophischen Schreibens, der Komposition von überzeugenden Texten, die argumentativ stark und stilistisch einwandfrei sind, neben der Ausbildung des kritischen Denkens und Sprechens eine der wichtigsten Aufgaben der philosophischen Hochschuldidaktik, hier aber auch die größten Defizite. Diese Schwächen sind einerseits, wie bereits gesagt, der Tatsache geschuldet, dass die deutschen Universitäten zum größten Teil Massenbetriebe geworden sind mit einem viel zu hohen Betreuungsschlüssel (in der Diskussion um die Wettbewerbschancen deutscher Universitäten müsste meines Erachtens zunächst einmal dieser Punkt betrachtet und hier eingegriffen werden: Der Mangel an fest angestellten bzw. unbefristeten Dozentinnen ist das größte Defizit der deutschen Universitäten – aber das gehört hier nicht hin). Das, was Dozentinnen leisten müssten und sollten, um gute Betreuung und Ausbildung zu gewährleisten, ist ihnen schlichtweg aufgrund der Masse an zu betreuenden Studentinnen nicht möglich. Dass der Mangel an Schreibkompetenz noch zusätzlich durch minderwertiges Geschreibe in sozialen Medien verschlimmert wird, dies nur nebenbei. Aber gut – es soll hier nicht der Untergang des Abendlandes beschworen werden; sondern aus all dem folgt die Notwendigkeit, dieses basale Stück humanistischer Ausbildung hervorzuheben und seine Wichtigkeit zu betonen. Wie lehrt man nun effektiv gutes philosophisches Schreiben (im optimalen Fall)? Ich würde hier vor allem drei Dinge empfehlen, die zum Teil nicht nur zu Ihren eigenen, individuellen Aufgaben zählen, sondern vielleicht auch Ihren ganzen Fachbereich betreffen (also als Kollektiv zu diskutieren und einheitlich den Studentinnen zu vermitteln sind):

1. Kriterien festlegen

Wenn Sie gutes Schreiben einfordern, haben Ihre Studentinnen auch ein Recht zu erfahren, was Sie darunter verstehen. Zu sagen: »Lesen 126

3. Wie lehre ich Philosophieren?

Sie Kant«, ist sicherlich keine gute Empfehlung – einerseits sollen die jungen Leute einen eigenständigen Stil entwickeln, andererseits sind viele philosophische Autorinnen sicherlich in Stilfragen kein Vorbild – hiervon noch gleich. Es hilft also sehr, Kriterien zur Verfügung zu stellen, die einen Text als sehr gut, gut, befriedigend, ausreichend bzw. nicht mehr ausreichend qualifizieren, und das in verschiedener Hinsicht (Komposition, Zitation, etc.). Im Englischen heißen solche Tabellen »Rubrics« und gehören zum Standardinventar vieler Kurse oder ganzer Fachbereiche.8 Solche Kriterien kann man zwar im Internet zur Genüge finden und sie ggf. übernehmen, aber eigentlich ist es die Aufgabe der einzelnen Dozentin, mehr noch, Ihres ganzen Fachbereichs, diese Kriterien für sich selbst festzulegen. Warum also regen Sie nicht an (sofern es das noch nicht gibt), dass Ihr Fachbereich als ganzer eine solche Kriterientabelle entwirft? Das würde auch die Diskussion darüber befördern, was als gutes Schreiben gilt und was nicht. Je mehr Einigkeit und Übereinstimmung hier erzielt wird, desto besser für den Fachbereich selbst und das geschlossene Auftreten gegenüber der Studentinnenschaft. Und jeder Fachbereich, abhängig davon, welche Schwerpunkte seine Mitglieder haben, wird diese Kriterien auf seine Weise formulieren, was nichts Schlechtes sein muss. Grundsätzlich aber: Je mehr Mitglieder Ihres Fachbereichs Sie hinter dieser Sache vereinigen können, desto besser für die Sache selbst. Es obliegt damit nicht der Verantwortung einzelner, die sich eventuell vorwerfen lassen müssen, ihre Kriterien seien idiosynkratrisch. Ihre Studentinnen werden Ihnen für eine solche Tabelle dankbar sein und Ihre Korrekturarbeit wird erträglicher, weil sie mit besseren Ergebnissen rechnen können. Ich sagte eben, jeder solle zu seinem eigenen Stil ermuntert werden. Aber, könnte man einwenden, fördert eine solche Tabelle nicht die Konformität? Wäre das schlimm? Viele Philosophinnen, die vor allem aus der analytischen Tradition kommen, würden Stileigenheiten wohl ganz ablehnen. Ein Text sei umso besser, je mehr er »anonym« ist, also bei dem man die Autorin nicht anhand ihres Schreibstils erraten kann (ganz so wie es in anderen Disziplinen, vor allem den Solche »rubrics« sind leicht im Internet zu finden. Viele Fachbereiche in den USA haben sie offiziell sanktioniert und verwenden sie bzw. verweisen auf sie in den Syllabi ihrer Kurse. 8

3. Wie lehre ich Philosophieren?

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Naturwissenschaften, sich nicht ziemt, persönliche Stileigenheiten auszuprägen). Auch hier ist meine Position moderat: Einerseits versuchen viele Studentinnen, gerade in einer Sprache, die (zum Teil zweifelhafte) Sprachkünstler wie Nietzsche und Heidegger hervorgebracht hat, in ihrer Begeisterung für ihre »Lieblingsphilosophin«, diese auch sprachlich zu imitieren. Sofern dies zu grandiosen Formulierungen oder obskuren Wendungen führt (also etwa Hegel oder Heidegger nachahmend), sollte dies sogleich unterbunden werden (durch gezieltes Nachfragen, was zum Beispiel »Grund als AbGrund« bedeuten soll). Das, würde ich sagen, ist zu viel der Idiosynkrasie. Andererseits sollte man sich zwar bemühen, klar, luzide und straff zu schreiben, dabei muss man aber auch den eigenen Stil (sofern man überhaupt ein Gehör dafür hat) nicht ganz aufgeben. Wer etwa einen eigentümlichen oder humorvollen Stil pflegt, ohne sich in selbstverliebte Spielereien zu verlieren, sollte hierzu durchaus ermuntert werden (es kommt wohl auch auf die Teildisziplin innerhalb der Philosophie an). Aber alle Eigenheiten abzulegen und die komplette Anonymität anzustreben, wäre meines Erachtens das andere Extrem. Überhaupt ist es auffällig, wie junge Studentinnen in der Mehrzahl absolut taub sind gegenüber Ironie, Sarkasmus oder anderen Weisen, die »lingua recta«, um es einmal so zu formulieren, zu umgehen oder in Frage zu stellen. Wo immer sich solche Phänomene finden, sollte man sie für die Studentinnen hervorheben. Auch das gehört zum philosophischen Lesenlernen.

2. Textbeispiele zur Verfügung stellen

Um die gerade vorgeschlagene Tabelle inhaltlich anzureichern, empfiehlt es sich, Textbeispiele vor- oder zur Verfügung zu stellen (warum erstellen Sie nicht eine eigene persönliche Website als »Repositorium« hierfür?), die allerdings nicht aus Zitaten der Klassiker bestehen sollte, sondern besser aus (selbstverständlich anonymisierten) Passagen aus Arbeiten früherer Studentinnen. Hierdurch ist der konkrete Bezug zu peers hergestellt. Um die Frage nach dem persönlichen Stil zu untermauern, ist es auch denkbar, etwa zwei sehr verschiedene Antwortessays zur gleichen Prüfungsfrage, die beide die gleiche Note bekamen, zu posten, damit deutlich wird, dass beide 128

3. Wie lehre ich Philosophieren?

Studentinnen trotz sehr verschiedener Stile ihre Aufgabe sehr gut (oder gut oder nur befriedigend …) gelöst haben. Je näher der Beispieltext Ihren Studentinnen ist, desto besser können diese sich damit identifizieren. Wichtig auch, und wohl noch effektiver: Beispiele auflisten, wie man es nicht machen sollte, und zeigen, weshalb. Worin genau besteht in diesem Text der Fehler? Warum wurde in diesem Fall nur ein »befriedigend« gegeben? Sie können es anhand Ihrer Tabelle genau begründen. Anhand von sehr guten oder guten Texten kann man nicht so viel lernen wie von wirklich schlechten. Allerdings ist nicht jedem immer deutlich, weshalb etwas wirklich schlecht geschrieben ist. Wenn Sie dies genau zeigen können (schlampige Argumentation, konfuser gedanklicher Aufbau, mangelnde sprachliche Präzision), helfen Sie wahrscheinlich eher, als wenn Sie »Streicheleinheiten« für sehr gute Leistungen verteilen. Das soll nun nicht ein »Ruf nach der Peitsche« sein – natürlich verdient es eine sehr gute Leistung, eigens gelobt zu werden, also sparen Sie nicht mit Lob, wenn es angebracht ist.

3. Feedback geben

Schließlich – in einer perfekten Welt – sollten Sie so viel Rückmeldung geben wie möglich, und das am besten schriftlich. Dieser Rat ist einerseits trivial, andererseits angesichts der schieren Masse an Studentinnen oft schwer umsetzbar. Praktischer Tipp daher: Finden Sie heraus, welche Art von Korrekturmodus für Sie am besten ist: Bevorzugen Sie Ausdrucke oder ist es für Sie bequem(er), Texte am Bildschirm zu korrigieren, und wie? Wenn Sie Ihre konkreten Wünsche in dieser Hinsicht Ihren Studentinnen klar kommunizieren, werden diese es sehr schätzen. In meinen ersten Seminaren habe ich noch jede Hausarbeit mit einem kleinen Gutachten (1 – 2 S.) bedacht und die Note begründet. Ein älterer Kollege sagte dazu verächtlich: »Sie haben zu viel Zeit!«, und in der Tat hatte ich damals mehr Zeit als heute. Dennoch ist es – sofern es Ihnen möglich ist – eine sehr gut angelegte Zeit, was die Lernerfolge Ihrer Studentinnen betrifft.

3. Wie lehre ich Philosophieren?

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Abschließend hierzu: Philosophisches Schreiben gehört zum Schwierigsten, was die Schriftsprache im Allgemeinen betrifft, und muss daher gelernt und immer wieder eingeübt werden. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen (etwa wenn man sich so manche Frühschrift späterer klassischer Philosophinnen ansieht!), aber wer sich allein autodidaktisch an den Klassikern bildet, wie es viele Studentinnen tun, ist nicht gut auf den philosophischen »Alltag« vorbereitet, der effizientes und sicheres und vor allem zügiges Schreiben erfordert – nicht zuletzt in der schriftlichen Kommunikation mit Ihren Studentinnen. Wenn Sie die Zeit hierfür finden, haben Sie einen sehr großen und äußerst wichtigen Teil Ihrer pädagogisch-philosophischen Aufgabe erfüllt.

3.6 Spezialisierung in der Forschung – Generalisierung in der Lehre Schließlich ist noch auf einen wichtigen Umstand, ja eine krasse Diskrepanz hinzuweisen, die es vermutlich auch in anderen Disziplinen gibt, die sich aber nirgends so stark auf die Vermittlung des Faches auswirkt wie in der Philosophie, und das ist die unvermeidliche Spezialisierung in der Forschung, die zu einer, man könnte sagen, »Hyperspezialisierung« führt, die mit der allgemeinen »Hyperprofessionalisierung« der Profession im Ganzen einhergeht. Die Philosophie verliert sich immer mehr in extrem kleine Details. Das ist in der Forschung notwendig, weil schon so viel geschrieben wurde. Zahllose junge Menschen müssen Qualifikationsarbeiten verfassen, wofür sie sich eine neue Nische suchen müssen. Als ich ein junger Student war, hieß es: »Eine Dissertation muss eine Forschungslücke schließen; eine Habilitationsschrift muss ein neues Forschungsfeld eröffnen.« Nach diesem Kriterium gibt es heute wohl fast keine »echten« Habilitationsschriften mehr, falls es sie je gegeben hat. Und keine Dissertation kann von sich beanspruchen, eine Lücke exhaustiv zu füllen. Da die Spezialisierungs-»Felder« relativ klar abgesteckt sind und sich nur langsam verändern bzw. die Grenzen verschieben, führt das unweigerlich dazu, dass man immer mehr in die Tiefe bohren muss, um noch etwas Neues zu finden.

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3. Wie lehre ich Philosophieren?

Ganz besonders schlimm ist dies bei den sogenannten »Klassikern«, solchen Philosophinnen also, von denen sich junge Menschen (nicht zu Unrecht) erhoffen, dass sie, wenn sie hierzu eine gute Qualifikationsarbeit schreiben, später ohne größere Probleme eine Stelle finden werden (nach dem Motto »Kant-Forscher werden immer gesucht«, ebenso wie Klempner und Mechaniker). Dies führt dazu, dass das Terrain der »klassischen Klassiker«, also die Kant-, Hegel-, Leibniz-, Platon-, Aristotelesforschung dermaßen »abgegrast« ist, dass es immer schwieriger wird, hierzu ein Thema zu finden, das noch nicht bearbeitet wurde. Meistens handelt es sich um Diskussionen und Meta-, Meta-, Metadiskussionen früherer Diskussionen von Primärtexten, welche (sowohl die Primärtexte wie die frühen Sekundärschriften) – Stichwort: »Idealisierung der wissenschaftlichen Lebenswelt« – schon längst in Vergessenheit geraten sind. Das führt vor allem in der Geschichte der Philosophie dazu, dass die anderen »Nebenfiguren« immer weiter aus dem Blickfeld geraten und der Kanon der »Klassiker« immer enger wird, wie unlängst Michael Beany in seiner Rolle als Herausgeber des British Journal for the History of Philosophy angemerkt hat.9 Dies ist sicherlich keine gute Tendenz, was die akademische Forschung betrifft, und schon gar nicht, was die Geschichte der Philosophie betrifft, die sich in dieser Sichtweise eher wie ein Flickenteppich als wie eine kontinuierliche Schriftrolle ausnimmt. Ein Hoch auf die am Wegesrand liegengelassenen Philosophinnen! Es geht mir hier nicht um Polemik gegenüber der Philosophie als wissenschaftlicher Disziplin; diese Tendenz ist unvermeidlich und unumkehrbar, gerade für solche, die sich ihren Weg in die akademische Disziplin der Philosophie bahnen. Wichtig ist mir die Auswirkung, die diese Tendenz auf die Lehre hat: nämlich ebenso hyperspezialisiert vorzugehen. Und darin sehe ich in der Tat ein Problem. Anders gesagt: In welchen Seminarformen ist Hyperspezialisierung angebracht, wenn überhaupt? Meine Antwort: nur in den »obersten« Kategorien, also Hauptseminaren, Doktorandenkolloquien (wo Studentinnen ihre Abschlussarbeiten vorstellen) und ähnlichen Formaten (sofern es sie an Ihrer Institution gibt). Hier – also gelehrt von In einem Post bei Dailynous.com (22. Januar 2018) unter dem Titel »The Most Popular Philosophers in the ›Absurdly Narrow Canon‹ of Philosophy«. 9

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Dozentinnen, die ganz in der Materie »drin« sind, sei es durch ihre derzeitigen Forschungen, sei es durch ihre gerade abgeschlossenen Qualifikationsarbeiten – ist es angebracht und möglich, eine solche Hyperspezialisierung zu betreiben, wobei man in der Regel dann auch nicht mehr als ein halbes Dutzend Studentinnen hat, eine Menge, die für ein solches Spezialgebiet vollkommen ausreichend ist (man darf also nicht beleidigt sein, wenn man nur eine kleine Gruppe anspricht). Aber solche Seminare sind wohl nur für ca. 10 % der Studentinnen zugänglich und mit Erfolg zu besuchen, wobei diese nicht unbedingt selbst Examenskandidatinnen oder Doktorandinnen sein müssen. Als Kriterium für die Teilnahme genügt die Spezialisierung, etwas, was man manchmal auch schon bei jüngeren Studentinnen antrifft und was man unbedingt fördern sollte (durch entsprechende Einladungen in Seminare und weitere Kooperationen), sofern sie reif genug hierfür sind und nicht einer Mode hinterherjagen, die sie zu früh spezialisiert, bevor sie ausreichend breit ausgebildet sind. Jedoch – und darum geht es mir hier – ist von solcher Art Spezialisierung in allen anderen Seminaren dringend abzuraten. Im Gegenteil sollte die Lehre der Philosophie die Generalisierung anstreben. Das soll natürlich nicht dazu führen, dass Plattitüden und Trivialitäten verkündet werden – aber die Art von Spezialisierung, die für die Qualifikation in der akademischen Philosophie vonnöten ist, ist geradezu kontraproduktiv in der Lehre. Wer in einer Forschungsnische richtig »drin« ist, sieht oftmals den Wald vor lauter Bäumen nicht. Was ist hier der Wald? Er findet sich meines Erachtens in der Antwort auf folgende Fragen: Worum geht es der betreffenden Philosophin wirklich – am Ende – in der Konsequenz ihres Denkens? Worum geht es in dieser hochspezialisierten Debatte wirklich, was ist wirklich »at stake«, warum, wofür und zu welchem Zweck wird so heftig und leidenschaftlich gestritten um diesen scheinbar kleinen Punkt? Wer tief in einer Forschungsdebatte steckt und diesen Kenntnisstand bei seinen Studentinnen im Seminar ebenso voraussetzen kann, muss hierauf keine Antworten finden. In allen anderen Seminaren aber ist dieser Weitblick, dieses zooming out, absolut notwendig und essentiell, damit Ihre Studentinnen weiterhin bei der Stange bleiben. Sie werden den Erfolg dieses »Malens mit dem großen Pinsel« sofort an der Seminarzahl und -beteiligung feststellen können.

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3. Wie lehre ich Philosophieren?

Anders gesagt: Es ist heute wohl nicht anders möglich, als eine gewisse »Schizophrenie« (zu diesem abfälligen Wort gleich noch) zu leben bzw. sich an sie zu gewöhnen, also von der alten Idee der Universität, als der universitas, Einheit von Lehre und Forschung, Abschied zu nehmen. Ich denke, dies ist heute aufgrund zweier einander entgegenlaufender Tendenzen nicht mehr zeitgemäß und nicht mehr möglich: der Hyperspezialisierung in der Forschung einerseits sowie der Bedeutung andererseits, die die Philosophie im heutigen Kanon der höheren Bildung innehat, die nicht mehr in erster Linie darauf hinausläuft, Fachphilosophinnen auszubilden, sondern einen allgemein-humanistisch-geistesgeschichtlichen Schwerpunkt bei den Studentinnen zu kultivieren (die ihr philosophisches Wissen dann in anderen Feldern anwenden) oder Lehrerinnen auszubilden, die das Fach in der Schule lehren werden – gerade hier darf es keine (Hyper-) Spezialisierung geben. »Einheit von Lehre und Forschung« ist eine wunderbare Sache, aber reservieren Sie sich das für Ihre Oberseminare. In normalen Lehrveranstaltungen, vor allem dem typischen Format »Vorlesung für Hörerinnen aller Fakultäten«, werden Sie niemanden erreichen, wenn Sie das, was Sie »in der Werkstatt« beschäftigt, auch in der Vorlesung vortragen. Statt über den sinkenden Bildungsstand zu lamentieren, sollten Sie sich lieber zwei Identitäten – als Forscher, als Lehrer – zulegen und diese »gesunde« und heute unvermeidliche Inkonsequenz pflegen (und nicht negativ von »innerer Zerrissenheit« reden). Scheuen oder schämen Sie sich nicht, mit genügend allgemein formulierten philosophischen Fragen alle Ihre intelligenten und neugierigen Studentinnen anzusprechen. Wenn Philosophie in der heutigen Hochschullandschaft überleben soll, dann nur, wenn Sie nicht nur »für die, die hören können«… (frei nach Nietzsche) vorgetragen wird. Man kann diese Zwiegesichtigkeit der philosophischen Persönlichkeit auch ganz anders und auf positive Weise formulieren: Sie sollten sich darüber freuen, dass Sie in der Lehre die Detailkenntnis, die Sie für Ihre Forschung unbedingt brauchen, ausblenden und Ihr Fach ganz frei und »no strings attached« vorstellen können. Stellen Sie sich die – der Forschung fernliegende – Frage: »Was mache ich hier

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wirklich, worum geht es eigentlich?« 10 Als historisches Beispiel sei Kant genannt, der bekanntlich nie seine kritische Philosophie in der Vorlesung behandelte. Der »Alleszermalmer« hat in seinen Lehrveranstaltungen »brav« die »Schulphilosophie« vorgetragen. Das ist natürlich historisch so nicht ganz richtig und Kant gegenüber auch nicht fair. Denn wenn man einmal in solche Texte hinsieht, die er Studenten (hier allerdings ist die männliche Form angemessen) vorgetragen hat, sieht man, dass Kant durchaus ein begabter Pädagoge war, der einen komplizierten Stoff gut strukturiert und sogar unterhaltsam präsentieren konnte. Seine Lehrveranstaltungen (denkt man an die populäre »Anthropologie«-Vorlesung) waren beliebte und allgemein bekannte Ereignisse, an denen Kant offensichtlich selbst Freude hatte. Nur wer die angesprochene Zwiegesichtigkeit nicht versteht, wird Kant hier »Schizophrenie« vorwerfen. Und schließlich: Das Gleiche sollten Sie übrigens bei Ihren Studentinnen zu erreichen versuchen. Lassen Sie sie nicht so schreiben wie Kant, Hegel oder Nietzsche (siehe oben), sondern helfen Sie ihnen beim klaren Ausdruck, fern von Jargon, teutonischem Tiefsinn und neumodischen Nebelwerfern. Die später (bei einigen) erfolgende Spezialisierung wird das ihre tun, aber lassen Sie sie beim Elementaren und Grundsätzlichen anfangen.

Ich kann mir die Bemerkung nicht verkneifen, dass die Lehre mancher meiner Dozentinnen, bei denen ich während meiner Studentenzeit in Seminar und Vorlesung gesessen habe, vermutlich deutlich besser gewesen wäre, wenn man Sie gezwungen hätte, allen Jargon und alles Sich-Verschanzen hinter der Forschungsliteratur zu vermeiden und zu erklären, und sei es auch nur einmal, was denn nun »X« (= das Forschungsgebiet oder Philosophin) eigentlich und in ganz einfachen Worten bedeute. 10

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3. Wie lehre ich Philosophieren?

4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

In diesem Kapitel möchte ich auf spezifische Probleme eingehen, die sich in der Lehre der Philosophie ergeben (können). Man mag sich fragen, ob es für ein Buch wie das vorliegende überhaupt angemessen ist, sich besonderen Problemen zu widmen, also Ausnahmesituationen, die hoffentlich nur selten, im besten Fall nie auftauchen? Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass es Probleme im weitesten Sinn in der Philosophie eigentlich immer gibt, ja, dass man in solche hineinrennt wie in ein offenes Messer, was oftmals gleich zu Anfang eines Seminars oder eines Semesters geschieht und damit eigentlich das ganze Semester von Beginn an verderben kann. Hier meine ich im Wesentlichen zwischenmenschliche Probleme, die sich immer dann ergeben, wenn Menschen aufeinander treffen, die aber, wenn es um die Hochschullehre und zumal die Lehre der Philosophie geht, eine besondere Bedeutung annehmen bzw. eine Situation und Dynamik entstehen lassen können, die sich völlig (und bis zur totalen Katastrophe) verfahren oder in der Intensität steigern kann und damit eine für alle unangenehme und letztlich ungewollte Situation hervorbringt. Hat man ein solches Problem an der Hand (sei es auch nicht selbstverschuldet, und manchmal merkt man es erst ex post), ist es gut, wenn man einige solcher Szenarien kennt, deren »Skript« man dann verwenden kann. Solche Möglichkeiten will ich in der zweiten Hälfte dieses Kapitels durchspielen. Die hier diskutierten Probleme (oder das, was ich so nenne) sind meines Erachtens nur mutatis mutandis auf andere Disziplinen zu übertragen; sie erwachsen aus der spezifischen Natur der Philosophie und damit der philosophischen Lehre. Man könnte hier viele wesentliche sachliche Unterschiede zwischen der Philosophie und anderen Disziplinen aufführen, aber diese Diskussion gehört nicht hierhin. Vielmehr möchte ich mich in diesem Kapitel auf einige Punkte fokussieren, die mir sowohl wesentlich als auch typisch für die Philosophie zu sein scheinen: einmal der Schwerpunkt auf menschlichen Individuen, die Philosophie hervorgebracht haben; zweitens Probleme und Punkte, die sich am ehesten um den Begriff Gender 135

herum gruppieren lassen (gemeinsam mit dem großen Thema politische Korrektheit); drittens die existentielle Dimension des Philosophierens und die daraus entstehenden Probleme und besonderen Situationen und wie man mit ihnen umgehen kann oder sollte.

4.1 Wie lehrt man Philosophinnen? Ganz anders als in den Naturwissenschaften oder den meisten anderen empirischen Wissenschaften ist es in der Philosophie, zumal in bestimmten Seminaren, üblich, sich auf einen Philosophen bzw. eine Philosophin zu beschränken und sein bzw. ihr Denkgebäude (oder Ansatz oder Methode oder System) zu verstehen, ja sich darin zu vertiefen und zu versuchen, die Welt aus dieser speziellen Sichtweise zu verstehen. Seminare mit Titeln wie »Kants Ethik« oder »Aristoteles’ Metaphysik« oder »Die Phänomenologie Husserls« sind also durchaus üblich, wohingegen man nie ein Seminar in der Physik mit dem Titel »Newtons Physik« finden würde (es sei denn, man studiert Wissenschaftsgeschichte). Mit Ausnahme etwa der Theologie oder der Literaturtheorie (bei der es selbstverständlich um bestimmte Autorinnen gehen muss) gibt es in keinem anderen Fach einen solchen Fokus auf Individuen und ihr Denken. Dies hat spezifische Folgen für die Behandlung des Stoffes. Wenn man eine Autorin in einem systematisch angelegten Seminar hinsichtlich ihrer Stellung zu einem bestimmten Problem konsultiert, ist diese Spezifik zu vernachlässigen. Aber selbst in Überblicksseminaren (etwa »Einführung in die Ethik« oder »… in die Erkenntnistheorie«) sind meist ein paar Seminarsitzungen einer bestimmten Autorin gewidmet (Platon, Aristoteles, Hume, Kant, Mill, um die diesbezüglichen Klassiker zu nennen). Man muss sich also auf eine einzelne Person einlassen, um den allgemeinen Ansatz zu verstehen (Kants Ethik etwa wird bekanntlich nur dann verständlich, wenn man die Antinomienlehre zumindest im Ansatz begriffen hat). Es geht also letztlich um die »Denkungsart« einer spezifischen Person.1 Eine eigene Frage ist, ob und wie man bei der Einführung einer bestimmten Philosophin über ihr Leben spricht. In manchen Fällen kann das Anekdotenhafte 1

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4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

4.1.1 Kant vs. »Kantchen«

Bleiben wir zunächst bei Einführungsveranstaltungen. Wie lehrt man einen komplexen Philosophen wie Platon oder Kant in einer Einführungsveranstaltung? Insbesondere die, die sich mit den Klassikern des Fachs ausführlicher auseinandergesetzt haben, wissen, dass es eigentlich fast unmöglich ist, Studienanfängerinnen die Komplexität und Tiefe einer solchen Autorin zu vermitteln. Bis man so weit kommt, Erst- oder Zweitsemestern auch nur annähernd den Sinn der Frage »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« oder der aristotelischen Vierursachentheorie (gerade angesichts der Differenz zwischen der heutigen und der antiken Bedeutung des Wortes) klar zu machen, müsste man – denkt man manchmal verzweifelt – erst einmal ein Semester lang die Geschichte des Problems oder Ähnliches referieren. Wie soll man also auch nur anfangen, Platon oder Kant zu lehren? Man steht vor einem Trilemma, denn man riskiert, Studentinnen (1) gleich zu Beginn zu verschrecken oder (2) auf der weiteren Strecke zu verlieren, wenn man »zu weit oben einsteigt«, oder (3) allzu platte Trivialitäten zu verbreiten. Aber was ist die Alternative? Die Alternative dazu, »Kant« zu lehren, ist meines Erachtens, sich einzugestehen, dass man Anfängern eigentlich »Kantchen« vermittelt, also eine Babyversion von Kant. Aber – und das ist der entscheidende Punkt –, es gibt einen Unterschied zwischen verantworein unterhaltsamer Einstieg sein (Kants angebliche Pünktlichkeit, Heideggers Liebe zum Schwarzwald), sofern man daraus einen systematischen Punkt ableiten kann (»Rigorismus« hier, Zivilisationskritik da). Mehr sollte aber hier nicht gesagt werden, zumal es eine natürliche, aber bedenkliche Tendenz vor allem junger Studentinnen ist, sich über das Biographische (oder noch schlimmer, das Psychologische) einer Denkerin zu nähern. Diese Tendenz ist durchaus kritikwürdig, weil sie dazu neigt, eine Denkerin zu »psychologisieren« (also aus gewissen möglichen psychischen Dispositionen, etwa Traumata, irgendwelche Thesen dieser Denkerin abzuleiten) oder historisch zu relativieren (»so dachte man eben damals«), womit man die Substanz des Denkens nicht ernst nimmt. Man behandelt dann eine Philosophin so, wie eine heutige Naturwissenschaftlerin etwa Newton behandeln würde, als historisch damals in ihrem Recht und sogar gegenüber den Zeitgenossinnen fortschrittlich, aber geradezu lächerlich veraltet im Lichte des Standes der heutigen Wissenschaft. Ich komme auf dieses Problem weiter unten noch zu sprechen. 4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

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tungsloser Trivialisierung und einer generellen Vereinfachung, die aber dennoch nicht falsch oder schief ist. Und wenn Sie es richtig machen, dann brauchen Sie sich hierfür nicht zu schämen. Denn – und das ist eine nicht-triviale Feststellung – es ist ein Kennzeichen klassischer Philosophinnen, dass sie auf mehreren Ebenen lesbar sind und auf jeder Ebene einen guten – der Ebene entsprechenden – Sinn ergeben. Wählen Sie zum Einstieg die einfachste Ebene und erklären Sie, was, ganz elementar gesprochen – das Hauptanliegen, das eigentliche Problem, der eigentliche Denkanstoß für das Philosophieren dieser Person war. Sich das klar zu machen (also zu versuchen, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen), kann für das eigene Verständnis sehr instruktiv sein. Es ist natürlich möglich, dass Sie sich täuschen, wenn Sie etwa werktheoretische Aussagen von Philosophinnen lesen; aber es ist immer möglich, die Autorin besser zu verstehen, als sie selbst dazu in der Lage war. Das kann überheblich wirken, wenn Sie sich hiermit brüsten; manchmal aber kann ein solches Anders-Verstehen durchaus mit Sympathie und charity einhergehen. Mein Vorschlag ist also: Legen Sie die Darstellung einer Klassikerin so an, dass sie diese verschiedenen Ebenen – oder zumindest zwei davon, eine oberflächliche und eine tiefere – ansprechen. Sie geben damit freimütig zu, dass Sie von einem Thema bzw. einer Autorin wirklich nur die oberste Ebene behandeln. Es ist nicht notwendig, für die Trennung der Ebenen bestimmte Kriterien zu formulieren bzw. sie immer streng getrennt zu halten. In manchen Fällen geht es von selbst und organisch weiter in die Tiefe, vor allem wenn Sie merken, dass Ihre Studentinnen »mitgehen« und selbst weiterführende Fragen stellen. Hier können Sie problemlos sagen: »Eigentlich wollte ich an dieser Stelle nicht weiter in die Tiefe gehen, da es Sie aber zu interessieren scheint, …«.2 In anderen Fällen ist es eher angebracht zu

Solche »Fährten« zu legen, ist auch eine gute Möglichkeit, begabte Studentinnen gewissermaßen »zwischen den Zeilen« anzusprechen (»wen das genauer interessiert, der sollte hierzu Passage X [oder Aufsatz Y] lesen, die wir hier leider nicht besprechen können«); Ihre sehr guten Studentinnen werden diesen Fährten folgen, und Sie sollten die Gelegenheit, diese privat oder in der Sprechstunde mit ihnen zu diskutieren, auf jeden Fall ergreifen! 2

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4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

sagen: »Das Thema hat noch weitere Probleme, die uns aber zu weit ab bringen würden, also möchte ich hier abbrechen.« In einer Einführungsveranstaltung sollten Sie sich dann auf die einfachere Ebene beschränken. Das bedeutet: Scheuen Sie sich nicht, das Ihrer Meinung nach Trivialste, das die Autorin offenbar sagt, klar zu identifizieren. Sie brauchen nicht zu befürchten, dass die Autorin »sich im Grabe herumdreht«, wenn Sie zugeben, dass sie gewiss auch »X« gesagt hat, auch wenn von einer differenzierteren Warte aus diese Aussage nicht nur heillos trivial, sondern eventuell auch falsch erscheinen mag. Denken Sie daran, dass Ihre eigene, vermeintlich differenziertere Haltung Ihnen möglicherweise nach nicht allzu langer Zeit durch erneute und vertiefte Lektüre selbst ebenfalls als trivial erscheinen wird! Auch das gehört zu den Klassikern des Fachs: Dass Ihnen bei der Lektüre noch so klassischer und Ihnen scheinbar hinten und vorn bekannter Texte immer wieder ein Licht aufgehen wird! Ihnen selbst kann also bei erneuter Lektüre klarwerden, dass Ihr eigenes, noch vor kurzer Zeit klar erscheinendes Verständnis für Sie jetzt durchaus eine »Babyversion« war. Sie haben vormals das Kleinkind, jetzt die »junge Frau« verstanden; vielleicht in ein paar Jahren die reife Denkerin. Der Begriff »Baby-Kant« ist dabei nicht abwertend gemeint: Philosophische Klassiker können auch in einer »Light«-Version gelehrt werden, ohne der Autorin Unrecht zu tun oder sie bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren. Um ein Beispiel zu nennen, welches oftmals sehr effektiv als Einführungstext eingesetzt wird (und ich will Ihnen ausdrücklich raten, dieses Highlight der Philosophie zu lehren, sofern sich für Sie die Möglichkeit dazu ergibt): Platons Höhlengleichnis. Es gibt nur wenige Texte im Kanon der westlichen Philosophie, die ein solch eindringliches Bild entwerfen, und die Experten-Interpreten diskutieren darüber bis heute (was nach Gadamer ein Kriterium des Klassischen ist). Wer mehr als die oft zitierte Passage kennt, weiß natürlich, dass das Gleichnis nur im Kontext mit dem Linien- und dem SonnenGleichnis zu verstehen ist und dann weiterhin im großen Kontext des Dialogs, des (vermeintlichen) Hauptwerkes von Platon, und damit selbstverständlich die Hauptpunkte seiner Philosophie im Ganzen – Ideenlehre, politische und praktische Philosophie – betrifft. Die Deutungsvielfalt und die verschiedenen Ebenen des Gleichnisses sind vermutlich kaum zu ermessen. Es ist ein wunderbarer Text, der immer 4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

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wieder begeistert und auch einen selbst noch staunen lässt, was man alles hierin findet.3 Und da sind wir wieder bei den Studentinnen: Wenn Studienanfängerinnen diesen Text lesen, werden sie vieles nicht verstehen und vieles Wichtige wird ihnen nicht auffallen. Das ist aber überhaupt nicht schlimm! Sofern Studentinnen sich über die Lektüre des Textes für die Philosophie begeistern können, sollten Sie sich keinen Vorwurf machen, dass »das Wesentliche ungesagt« blieb. Um eine vermeintlich triviale Einsicht anzuführen: Wenn manche Studentinnen »lediglich« aus dem Text mitnehmen, dass man »nie wieder in die Höhle zurückkehren« kann (was immer das »auf unterster Ebene« bedeuten kann, etwa die Unumkehrbarkeit von Bildung und Aufklärung), so ist dies nicht viel, aber doch etwas. Wenn dies also nicht mehr als die Darstellung der Wirkung von Bildung auf die eigene Seele (was immer das bedeutet) ist, dann sollten Sie mit Ihrer pädagogischen Leistung zufrieden sein, sofern diese Einsicht (streng nach Platon) Erstaunen oder Verwunderung hervorruft. Gestehen Sie sich ein, dass unabhängig von Ihren pädagogischen Anstrengungen viele Anfängerinnen nicht viel mehr aus diesem Text mitnehmen werden, weil ihre intellektuellen Fähigkeiten an ihre Grenzen stoßen oder es an Interesse oder an Zeit mangelt. Haben Sie deshalb kein schlechtes Gewissen, sondern konzentrieren Sie sich vielmehr darauf, dass dieses Ergebnis, deutlich expliziert und vielleicht nochmals in nicht-trivialer Weise dargestellt und diskutiert, klar und verständlich dargelegt wird und – hoffentlich – hängenbleibt. Sie werden erstaunt sein, welche »trivialen« Resultate Menschen im Gedächtnis bleiben, die einmal Philosophie in dieser Weise studiert haben. Wenn wenigstens das am Ende übrig bleibt (und nicht vielmehr nichts), ist das wunderbar und Sie Interessant bei der Verwendung dieses Textes, der in kaum einer Anthologie fehlt, ist die Weise, wie er zitiert wird. Denn fast keiner weiß, wo der Text (»das Höhlengleichnis«) eigentlich aufhört (der Anfang in Buch X ist ziemlich eindeutig, auch wenn es sich um einen kontinuierlichen Dialog handelt und die Einteilung in Bücher nicht von Platon selbst stammt). Manche Herausgeberinnen beenden das Zitat da, wo die unmittelbare Gleichnisrede aufhört; andere lassen die daran anschließende Erläuterung noch folgen, wobei auch hier einmal früher, das andere Mal später abgekürzt wird. »Das Höhlengleichnis« ist also eine fast undefinierbare Textpassage, was für meine These von der Vieldimensionalität klassischer Texte spricht. 3

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4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

haben Ihre Aufgabe sehr gut erfüllt. Dass Sie diese Lehren dann später (bei reiferen, älteren) Studentinnen vertiefen, ist das nächste; denn dass das Tiefer-Eindringen eine radikal andere, gar gegenteilige Interpretation nahelegt, davon ist nicht auszugehen.4 Das Tiefer-Eindringen wird neue Elemente, neue Details, neue Einsichten, breitere Kontextbildungen etc. zutage fördern, alles Dinge, die auf der ersten Ebene aufbauen (oder, der Metapher entsprechend, von da aus in die Tiefe führen).

4.1.2 Aristoteles und Aristotelismus

Auf einem höheren Lehrniveau gibt es eine aus meiner Sicht gefährliche Tendenz – der man sich leicht hingibt, wenn man in die Defensive gerät –, wenn kluge Studentinnen die Thesen der in Rede stehenden Autorin in Frage stellen: die Tendenz nämlich, die Autorin entweder auf die Person zu reduzieren oder zu historisieren. Die defensive Antwort würde dann etwa so lauten: »Das hat er nun einmal gesagt« oder »So hat man damals offenbar gedacht (ich kann nichts dafür, Verzeihung)«, geradezu als Entschuldigung dafür, dass die Autorin etwas behauptet, was ganz und gar nicht einleuchtend und überholt klingt. Fast jede Philosophin hat »Leichen im Keller«. Ich wähle hier als Beispiel Aristoteles, einen Autor also, der – wie man ohne weiteres sagen kann, auch wenn man hierfür kein Experte etwa in der Wissenschaftsphilosophie sein muss – ein anderes wissenschaftliches Weltbild hatte, als wir es heute haben, und darüber Mir fällt kein Beispiel ein, bei dem dies der Fall ist. Man könnte sich vielleicht einen explizit postmodernen Text denken, wo der »manifeste« Text eine »latente« Intention verdeckt, aber solche Texte sind sicherlich die Ausnahme (und für Einführungsveranstaltungen sind sie nicht empfehlenswert). Etwas anderes sind meines Erachtens satirische Texte oder solche, die ironisch oder sarkastisch gebrochen sind. Ein bekanntes (wenn auch nicht direkt philosophisches) Beispiel wäre etwa Swifts Pamphlet von 1729, A Modest Proposal: For Preventing the Children of Poor People in Ireland from Being a Burden to Their Parents or Country, and for Making Them Beneficial to the Publick, eine »Bürde«, die bekanntlich durch Swifts Empfehlung, die armen Kinder als Nahrungsmittel zu verwenden, abgewendet werden soll. Auch stilbewusste Autoren wie Hegel oder Nietzsche verwenden nicht selten Ironie, Sarkasmus und Hyperbolie. Auf diese muss man Studienanfängerinnen oftmals geradezu gewaltsam stoßen. 4

4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

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hinaus Dinge behauptet, die wir heute als anstößig empfinden. Das Paradebeispiel ist Aristoteles’ Behauptung von der Existenz von physei douloi, also Menschen, die von Natur aus zu Sklaven geboren sind bzw. eine Sklavenmentalität haben. Diese Auffassung war zu Aristoteles’ Zeit nichts Ungewöhnliches, noch war sie es in weiten Teilen der Welt bis ins späte 19. Jahrhundert; die Abschaffung der legalen Sklaverei ist in der Geschichte der Menschheit ein ziemlich neues Phänomen. In ähnlicher Weise wird man sehr leicht wissenschaftliche Aussagen von Aristoteles zitieren können, die dem heutigen Menschen, geprägt vom wissenschaftlichen Weltbild, schnell als lächerlich erscheinen. Man darf es der heutigen Leserin also nicht übelnehmen, wenn sie fragt: »Wieso sollte man das heute noch lesen, wenn es doch ganz offenbar falsch ist?«, oder schlimmer: wenn solche Aussagen wie physei doulos5 dazu führen, dass man die Texte nicht einmal lesen möchte, weil man von vornherein eine extreme Abneigung gegen sie empfindet? Wie kann man immer noch eine Autorin lesen, die Dinge behauptet, die entweder falsch (wissenschaftlich überholt etwa) sind oder nicht mehr den heutigen Sensibilitäten entsprechen, mehr noch, die als hochgradig anstößig gelten? Kann man noch ernsthaft einen Philosophen lesen, den manche als Vordenker der Nazis ansehen oder als antisemitischen Weltverschwörer? Wie kann bzw. sollte man auf solche verständlichen Reaktionen als Lehrende reagieren? Meiner Meinung nach wäre es ein großer Fehler, die Autorin auf ihre Zeit bzw. ihre Person zu reduzieren und sie zu relativieren, weil man sie damit diskreditiert. Wenn Sie auf diese Weise auf Kritik an der Autorin reagieren, wird es keinem mehr einleuchten, dass man sie überhaupt lesen sollte – außer als historische Kuriosität oder aus einem falsch verstandenen Respekt vor der Tradition, die man ehrt, weil sie eben die Tradition ist, aber von der man nicht weiß, wieso das wichtig sein sollte. Das Schlimmste, was Sie einer Autorin antun können, ist, bildlich gesprochen, hinter ihrem Rücken Faxen zu machen, also sich von ihr zu distanzieren oder sie ins Lächerliche zu ziehen. Denn nichts anderes tun Sie mit einer Relativierung. Sie müssen die Autorin, die Sie behandeln, mit einem »straight face«, also Weiterhin wäre aus dem aristotelischen Corpus zu erwähnen: die Unterwerfung der Frau unter den Mann (Pol. I). 5

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4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

ohne distanzierende Ironie, lehren, gerade wenn heutzutage anstößige Dinge behauptet werden. Ansonsten versteht keiner, warum es die Zeit wert ist, sich hiermit zu befassen. Wenn Sie relativieren, tragen Sie selbst bei zum Bedeutungsverlust der Theorien bei, die Sie lehren (und um die es ja gehen soll). Was kann man also tun, wenn sich solche Passagen finden? Meine Antwort hierauf ist die Unterscheidung zwischen Aristoteles und dem Aristotelismus, und dies zu erklären bzw. umzusetzen, ist nicht einfach, vor allem wenn es erfordert, in die Wissenschaftsgeschichte einzusteigen. Ich meine das Folgende. Die historische Person Aristoteles hat Ihnen für das sachliche Problem, das Sie erklären wollen, vollkommen gleichgültig zu sein (was nicht heißt, dass es nicht manchmal angebracht ist, Anekdoten einfließen zu lassen, was zur Auflockerung und Erheiterung beiträgt). Sie lehren nicht Aristoteles, sondern Aristotelismus. Es gibt einen Unterschied zwischen der Philosophin selbst, die eben »ein Kind ihrer Zeit« war, und ihrer Philosophie.6 Es geht nicht darum, der Person ihre Allzumenschlichkeit zu »verzeihen«, sondern die Lehre von der Person zu trennen, auch wenn die Person selbst der Auffassung war, das sei nicht möglich. Die Person – nochmals – muss ihnen egal sein. Dass die historische Person Aristoteles etwas sagte, was nicht in seine eigene Theorie passt (selten ist ein Philosoph von solchen Widersprüchen frei), hat allenfalls historische oder biographische, nicht aber philosophische Bedeutung. Ein Vergleich also oder Nachweis der Diskrepanz dessen, was etwa Kant einerseits über die Gleichheit aller Menschen und andererseits über Frauen sagt, hat allenfalls historische oder biographische Bedeutung. Für die Biographin Kants ist das sehr wichtig; für die Philosophin ist es vollkommen gleichgültig. Wer Kantianer (oder Aristoteliker oder Husserlianer etc.) ist, muss dies gleich zu Beginn ansprechen und aus dem Weg räumen, sonst ist der Anfang verpatzt. Der Autorin kann man oder mag man verzeihen (oder nicht); die Kategorie des Verzeihens ist für eine Theorie ungültig.

Es gibt manche, die diese Trennung für unzulässig halten, und hierfür haben sie auch gute Argumente. Ich kann mich hier nicht auf diese Diskussion einlassen, sondern will nur anerkennen, dass ich bei dieser Behauptung nicht mit hundertprozentiger Zustimmung rechnen kann. 6

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Um es anders zu sagen: Wenn Sie eine Philosophin lehren, die Sie ernst nehmen, müssen sie ihre Theorie so stark wie möglich machen. Sie müssen in ihren Schuhen laufen, nicht biographisch, sondern philosophisch (ein Paradebeispiel hierfür, auch wenn man mit ihr sachlich nicht übereinstimmen mag, ist die Aristotelikerin Martha Nussbaum). Es ist ein Zeichen von philosophischer Bildung, diesen Unterschied genau zu begreifen und dementsprechend mit der Diskrepanz zwischen der Person und ihrer Lehre zu leben. Wenn Sie eine ernstzunehmende Theorie lehren, müssen Sie Ihr Bestes tun, die Position plausibel zu machen, auch wenn eingeworfen wird, dieselbe Person habe sich selbst nicht an ihre Lehre gehalten. Diesem Vorwurf sollten Sie offensiv begegnen und ihn nicht als eine Peinlichkeit übergehen: Warum sollten Philosophen bessere Menschen sein (also sich an ihr Wort halten?), und wieso ist das für die Theorie, die jene vortrugen und die Sie verteidigen, relevant? Es ist also vielleicht keine triviale Einsicht, wenn Sie darauf pochen, dass Philosophinnen auch nur Menschen sind (und vielleicht auch gar keinen Wert darauf legten, sich an ihre Worte halten zu wollen7 ), und die Theorie, wenn sie vertretbar ist, muss auf eigenen Beinen stehen können. Dass sie historisch gesehen zum ersten Mal bei von historischen Person »X« gedacht wurde, ist gleichgültig. Nicht gleichgültig oder trivial ist, dass ein gewisses Denken bei der betreffenden Person vermutlich (mutmaßlich) ausgelöst wurde, weil sie in gewissen historischen Umständen lebte (Beginn der griechischen Polis, während der Französischen Revolution), und in dem Maße, in dem es dazu beiträgt, die »hermeneutische Position« der Autorin zu verstehen, sind solche historischen Kenntnisse nicht nur hilfreich, sondern manchmal auch notwendig. Aber nochmals: Sie sind nur relevant, sofern sie Kantianismus verstehen lernen, nicht Immanuel Kant, die Person (hierfür sind Biographen und Historiker zuständig – nichts gegen ihr Metier, aber sie sind hier nicht in erster Linie Philosophen und haben dementsprechend ein anderes Erkenntnisinteresse). Ich rate dazu, diesen Unterschied gleich zu Beginn und offensiv anzusprechen, nicht zu Scheler antwortete angeblich auf die Frage, wie er seinen Lebenswandel mit seiner Philosophie vereinbaren könne, sinngemäß: »Ich bin nur das Schild, das in die richtige Richtung weist, ich selbst kann nicht selbst dorthin gehen« – eine nicht nur witzige, sondern auch sehr kluge Bemerkung. 7

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4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

verschweigen oder gar betreten oder mit Ärger darauf zu reagieren. Solche Herangehensweisen sind für Anfängerinnen normal, aber eben nur das – Anfängerfehler.

4.1.3 Das Problem der Philosophin

Das nächste Phänomen liegt ungefähr am entgegengesetzten Ende des Spektrums. Es taucht mit anderen Worten gerade dann auf, wenn die Lehrende entweder ein höheres (fortgeschritteneres) Seminar leitet oder sehr viel von der Materie versteht oder – schlimmstenfalls! – beides. Ich meine die Tendenz, sich nicht mehr darum zu bemühen, ein Problem überhaupt als ein solches aufzufassen und es entsprechend darzustellen und zu erörtern, das für die Studentinnen zunächst voller ungeklärter Voraussetzungen steckt und erst einmal vollkommen uneinsichtig scheint. Das Gegenteil des Sich-nicht-Auskennens ist das Etwas-zu-gut-Kennen. Wer gerade eine Dissertation oder eine andere Qualifikationsschrift, die viel Hingabe und tiefes Eindringen erfordert, hinter sich hat (oder gerade mitten drin steckt), ist zumeist an der Materie zu nah dran. Das ist für das Abfassen der Schrift notwendig, für die Lehre aber kontraproduktiv. Wer dann gerade diese Materie lehrt, macht mit fast hundertprozentiger Sicherheit den hier angesprochenen Fehler, das weniger Wichtige und Randständige vom Wesentlichen nicht mehr zu unterscheiden. Gelehrte in solchen Situationen können in der Regel den schon genannten Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen – sie können den Text nicht mehr so lesen wie Studienanfängerinnen ihn lesen. Sich aber diese Leseweise in Erinnerung zu rufen, ist notwendig, um ihnen auf ihrer Ebene zu begegnen. Diese Diskrepanz zu bemerken und zu versuchen, sie zu verringern, macht den eigentlichen pädagogischen Erfolg aus. Ein Kollege (ein Meisterlehrer seines Fachs) sagte mir einmal in Bezug auf dieses Problem, man sollte eigentlich eher das lehren, was man nicht kennt, als das, was man kennt. Das ist natürlich übertrieben. Denn damit meinte er freilich nicht, dass man in Unkenntnis einer Sache oder mangelhaft vorbereitet ins Seminar gehen sollte – gründliche Vorbereitung ist immer notwendig –, sondern dass es manchmal für die Studentinnen wie für einen selbst besser ist, wenn man neu in der Materie, als wenn man ein alter Hase (oder ein junger, 4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

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eifriger Hase!) ist. Denn wenn man sich etwas Neues für die Lehre erarbeitet (und das auch nur für die Lehre, also nicht für die spätere »Ausschlachtung« für eigene Publikationen), geht man frischer und unbefangener an eine Sache heran und kann auch noch die erste Verwunderung über die Behauptungen, die einem noch so neu erscheinen, mit Begeisterung in den Hörsaal tragen. Es schmälert Ihre Autorität nicht, wenn Sie zugeben, dass die Materie neu für Sie ist oder Sie das besagte Buch zum ersten Mal lesen (auch wenn Sie sich später, bei erneuter Lektüre zur Seminarvorbereitung, eingestehen müssen, dass Ihr erstes Verständnis sehr oberflächlich war oder in die falsche Richtung ging). Sie sind immerhin ausgebildete Philosophin, die im Prinzip in der Lage sein sollte, wenn nicht alles, so doch sehr vieles innerhalb Ihres Fachs bzw. Ihrer Teildisziplin, was Sie ursprünglich nicht gelernt haben, sich anzueignen und für Studentinnen aufzubereiten. Manchmal sind solche Seminare, in denen sowohl die Studentinnen wie die Dozentin neu und frisch an einen Text herangehen, die besten und pädagogisch wertvollsten – sowohl für die Studentinnen wie für Sie selbst. Dies gilt in der Regel aber nur für fortgeschrittene Seminare.8 Diese Beobachtung lässt sich in vielen Fächern machen, gilt aber doch im Besonderen für die Philosophie. Denn gute Philosophie hat es ja immer an sich, dass sie bei der Leserin Verwunderung (vielleicht auch Bewunderung) und Staunen auslöst, auch wenn Sie massiv widersprechen mögen. Wenn es Ihnen gelingt, Ihre erste Reaktion auf einen Ihnen vorher unbekannten Text im Unterricht zu vermitteln, geben Sie dieses Gefühl auch an Ihre Studentinnen weiter. Wenn Sie dagegen etwas behandeln, was Sie vollkommen durchdacht haben (manchmal vielleicht auch in falschem Glauben an Ihr Wissen oder in falscher, weil ausgeleierter Routine), machen Sie vielleicht nicht nur Wiederum ein persönliches Beispiel: Ich saß einmal als junger Student in einem Oberseminar zu Aristoteles, in dem wir im ganzen Semester ein Kapitel aus dem Organon (also maximal 2 Seiten) lasen. Ich saß das ganze Semester mit zunehmendem Staunen darin, weil ich nicht begriff, wie man sich so viele Wochen mit so einem kleinen Textabschnitt beschäftigen konnte! Dabei war es ein Highlight für Aristoteles-Kenner, weil wir jedes Wort in seine Verästelungen in der Aristoteles-Literatur (primär und sekundär) verfolgten. (Ich bestand die Abschlussprüfung nicht. Recht geschah’s mir – auch wenn ich den unterschriebenen Seminarschein des inzwischen verstorbenen Professors noch aufbewahre!) 8

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den oben angedeuteten Fehler, sondern Sie riskieren auch, Ihre Studentinnen zu langweilen oder sie zu überfordern, weil Sie das, was für Sie selbstverständlich und einleuchtend ist, Ihren Studentinnen beim besten Willen nicht interessant und anregend nahebringen können. Denn Sie selbst finden es – seien Sie ehrlich! – auch nicht (mehr) interessant und spannend. Dieser »Abschleif-Effekt« stellt sich immer wieder ein, gerade wenn man eine intensive Zeit mit der Materie hinter sich hat. Die Lehre hieraus: Variieren Sie Ihren Lehrstoff, selbst innerhalb der eigenen Spezialdisziplin! Auch wenn ich oben davon sprach, welchen Vorteil es hat, sich etwas »nur« für die Lehre anzueignen: Wenn Sie etwa ein Doktorandenseminar leiten, kann die Vorbereitung auch für Ihre eigene Forschung gewinnbringend sein. Aber darüber sollte Ihre Aufmerksamkeit für Ihre Studentinnen nicht in den Hintergrund geraten. Während es meines Erachtens vollkommen in Ordnung ist, Seminare so zu planen, dass Sie mit Ihren Forschungsvorhaben korrelieren (etwa auch in der Wahl der Themen), sollte das nie ablenken von Ihrer Sorge um Ihre Studentinnen. Aber für Sie selbst gilt: Wenn Sie sich umfassend in die Materie einarbeiten, in einer Vorbereitung, die über das hinausgeht, was Sie im Unterricht brauchen, sollten Sie eigentlich genug Material haben, um etwas für sich daraus zu ziehen, oder zumindest die Basis hierfür. Dies als Tipp, wie Sie an das Material für Ihren Unterricht herangehen bzw. die Herangehensweise im Voraus planen (und seien Sie dafür offen, dass das Thema Sie mehr interessieren kann, als Sie ursprünglich dachten!). Die »Einheit von Lehre und Forschung« ist im heutigen Universitätsbetrieb vielleicht nicht mehr oder nicht immer durchzuhalten – ein Ideal, nach dem wir an einer Hochschule streben sollten, bleibt sie dennoch.

4.2 Gender in der Lehre der Philosophie Nun zum zweiten großen Themenkomplex dieses Kapitels. Das Thema »Gender« wurde uns vor allem durch den Feminismus auf den Radar gebracht. Zum Feminismus9 wäre vieles zu sagen, und Mir ist natürlich klar, dass »der« Feminismus eine vollkommen unzulässige Generalisierung ist, angefangen mit dem First-wave-Feminismus und den Wellen 9

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sicherlich gelten die Einsichten, die er uns gebracht hat – unbequeme, weil an vielem Vertrauten rüttelnd, aber notwendige! –, nicht nur in der Lehre der Philosophie. Da es aber unkontrovers ist (bzw. sein sollte), dass der Feminismus als intellektuelle Denkrichtung (und nicht etwa politische Praxis) in der Philosophie entstand, sei es als Kritik an ihr bzw. ihren traditionellen Formen, sei es als Weiterführung mancher Denkmuster und -motive, ist hier ein eigener Abschnitt zu Gender und zum Feminismus in der Lehre der Philosophie im weitest denkbaren Sinne angebracht. Ich diskutiere hier also nicht verschiedene Versionen des Feminismus oder schlage mich einer Richtung zu (und beanspruche hier auch keine besondere, schon gar nicht höhere Kompetenz). Nur so viel sei gesagt: Meines Erachtens hat nichts so sehr die Universitätslandschaft im Allgemeinen, das Fach Philosophie und die Lehre desselben im Besonderen verändert wie der Einzug des Feminismus und das In-den-Fokus-Rücken von Gender (freilich nicht nur in der Lehre). Ich bin der Meinung, dass dieser Einzug – was immer er konkret heißen kann und wie immer er exekutiert wurde und wird – notwendig und überfällig war, ganz so, wie die Studentenrevolte von 1968 notwendig und überfällig war, auch wenn man sich im Nachhinein von so manchem distanzieren möchte. Wie man dazu steht, ob kritisch, ablehnend oder affirmativ, fest steht, dass man nicht hinter die wichtigsten Einsichten des Feminismus zurück kann. Wer dies versucht, gleicht dem, der das Kopernikanische Weltbild leugnet. Jemand sagte einmal, der Feminismus sei in der Universitätswelt ein wahrer Game Changer geworden, also etwas, was das ganze »Spiel« des Akademischen ändert, angefangen von der Weise, wie (wie viele sind es inzwischen?), die danach gekommen sind, bis hin zu den verschiedenen Ausrichtungen (nicht alle Feministinnen und Feministen sind liberal oder politisch links), Anwendungen, Untersuchungsgebieten, Forderungen und Anliegen (nicht alle sind politisch). Wenn ich also diesen, für viele gar nicht mehr passenden Begriff verwende, so meine ich damit ganz global alle Untersuchungsarten und Disziplinen, die sich mit der Geschlechterdifferenz befassen – auch die binäre Geschlechterunterteilung ist ja inzwischen wieder vollkommen problematisch. Also vielleicht besser so: alle Untersuchungen, die uns als »sexuierte« (englisch: »sexed«) Wesen betrachten, diesen Themenkomplex aber nicht nur (und nicht in erster Linie) biologisch, sondern auch historisch, soziologisch und philosophisch betrachten. 148

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Forschung betrieben wird, über den Usus bei Stellenausschreibungen und Praktiken bei Berufungen, bis hin zur Lehre selbst. Ich glaube, dass diese Einschätzung richtig ist, auch wenn sich der Feminismus noch gar nicht überall in vollem Maße durchgesetzt hat (was auch stark landes- und systemabhängig ist). Zu allem anderen könnte man vieles Interessante und Wichtige sagen, aber es geht mir hier nur darum zu betonen, dass ich (a) den Feminismus für eine wichtige Bewegung innerhalb der Gesellschaft im Ganzen und so auch an der Universität halte, so wichtig, dass man seine Existenz nicht ignorieren kann und darf, und (b) dass ich seine Forderungen für berechtigt halte, weil sie Teil des allgemein-aufklärerischen Prozesses des Mündigwerdens und der Emanzipation und Befreiung des Menschen aus Formen der Unterdrückung sind. Dennoch werde ich mich hier auf die Lehre der Philosophie beschränken.

4.2.1 Die Frage nach Gretchen: Warum so wenige Frauen in der Philosophie?

Wenn man die Hauptintention des Feminismus grob definiert als die aktive Herstellung von Gleichheit zwischen den Geschlechtern in allen Hinsichten des öffentlichen wie privaten Lebens, dann ist die wohl größte Auffälligkeit, dass die Geschlechterverteilung an der Universität unter Studentinnen im Ganzen bei ca. fünfzig-fünfzig ist, bei Philosophiestudentinnen ebenfalls nahezu gleich ist (freilich von Uni zu Uni oder [westlichem] Land zu [westlichem] Land schwankend), dass der Frauenanteil aber abnimmt, je weiter man auf der Hierarchieleiter nach oben schaut. Spätestens wenn man zu den qualifizierten Bewerberinnen auf Professuren kommt, sind Frauen radikal in der Minderheit (und das gilt weltweit). Bei dieser massiven Unterzahl ist es dann natürlich nicht verwunderlich, dass Frauen bei Bewerbungen oftmals im Vorteil sind, einfach nur, weil sie so rar sind. Diese erfolgreichen Frauen sind dann eben keine »Quotenfrauen«, sondern ihr Erfolg geht im Gegenteil mit der Anerkennung einher, dass – freilich nachdem die fachliche Kompetenz schon ermittelt ist – sie eine Minderheit ausmachen, was angesichts der nackten Zahlen (also anfangs bei 50 %) nicht hinzunehmen ist. Es ist, denke ich, nicht

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kontrovers, wenn man sich dafür einsetzt, hier ein Gleichgewicht zu erreichen.10 Es ist aber vielleicht nicht selbstverständlich, die These zu vertreten – wie ich es hier tue –, dass der Philosophieunterricht an der Universität der wohl beste Ort ist, um eine Geschlechterbalance herzustellen bzw. aktiv zu fördern. Dies muss freilich sensibel getan werden; denn niemand wird gern als Almosenempfänger wahrgenommen. Das Stichwort sollte eher »Empowerment« heißen, also Hilfe zur Selbsthilfe, die Frauen (und überhaupt alle!) ermächtigt, sich aus eigener Kraft und intrinsisch motiviert einzubringen und durchzusetzen gegenüber der zum Teil übermächtigen Dominanz der Männer im Seminarraum (ohne diese wiederum zu verunglimpfen oder unter Generalverdacht zu stellen). Dies kann man positiv wie negativ tun, und jeweils sollte man sich alle Mühe geben, es zu tun, ohne jemanden dabei zu verletzen, zu beleidigen oder sonstwie zu benachteiligen. Das heißt: Die Förderung von Frauen bedeutet nicht automatisch eine Benachteiligung von Männern. Die Ermächtigung einer Minderheit kommt nicht eo ipso einer Emaskulierung der Mehrheit gleich. Zunächst zum Negativen: Es wird von manchen vertreten, dass Philosophie, vor allem im Diskurs (also nicht bei der Lektüre im stillen Kämmerlein), »an sich« maskulin sei, sofern man darunter eine aktive, lautstarke und leidenschaftliche Diskussionspraxis versteht, wo es um Streit und Dissonanz geht, die sogar noch auf die Spitze zu treiben sind, um Differenzen herauszuarbeiten, Argumente zu schärfen, recht zu behalten (gegen erbitterten Widerstand). Daher sei Philosophie »an sich« ein männliches Metier, was Frauen, die angeblich eher harmonieorientiert oder -bedürftig seien, nur ungern Man sieht sofort, dass Gleichheitsbemühungen nicht mit der Geschlechterparität aufhören dürfen, sondern auch Minderheiten verschiedenster Art einbezogen werden müssen. Hier – also bei der Identifizierung der Minderheiten – gibt es nationale Unterschiede: In den USA zählen etwa Latinos und Afroamerikaner – worüber man sich in den USA allgemein einig ist – zu den »underrepresented minorities«, während in Deutschland etwa türkischstämmige Deutsche so gut integriert sind (von aus Italien, Spanien und anderen »Gastarbeiterländern« stammenden ganz abgesehen), dass die Forderung nach etwa einer Quote für sie unplausibel erschiene. Das heißt natürlich nicht, dass nicht ein Land wie Deutschland ebenfalls seine unterrepräsentierten Minderheiten hat (neuerdings etwa ehemalige Flüchtlinge). 10

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mitmachten. Die Antwort desjenigen, der dies vertritt, nämlich des »Essentialisten« (nicht nur der Philosophie, sondern auch der Geschlechterdifferenzen), um diesem Problem beizukommen, ist, dass Frauen sich eben »nicht so haben sollen«, sich den Männern anpassen und, eben, »männlicher« werden und sich wie ihre männlichen Kommilitonen ebenso lautstark und impulsiv einbringen sollten (das war die Stoßrichtung der »Lean-in«-Bewegung). »Frauen sollen sich nicht ducken, sondern sich auch etwas trauen«! Die Ironie hierbei ist meistens, dass Frauen dann wiederum ihre angeblich fehlende Weiblichkeit zum Vorwurf gemacht wird. Wie man es macht – man kann bei diesem Spiel nur verlieren; macht frau nicht bei diesem Hahnenkampf mit, gilt sie als stilles Mauerblümchen; macht sie mit, gilt sie als männlich und damit unweiblich, unattraktiv oder was immer sonst. Eine solche Argumentationssituation entsteht nur, wenn man unreflektiert Essentialist ist: bezüglich dessen, wie »Mann« und »Frau« »an sich« (»biologisch«) angeblich sind, aber auch bezüglich dessen, wie »die Philosophie« ist (oder dementsprechend zu sein hat). Ich halte solchen »Essentialismus« für wenig überzeugend. Es geht hier nicht um eine großangelegte Widerlegung, sondern mein Anliegen ist weit weniger ambitioniert. Ein Haupteinwand, der gegen den Essentialismus vorzubringen ist (ohne in eine postmoderne Position zu verfallen), ist ganz einfach, dass er die historische Entwicklung, in der wir stehen, übersieht. Dies mag vielleicht nicht überall gleichermaßen der Fall sein (wer mag, kann die Einsicht »Noch kriegen Frauen die Kinder« für essentialistisch halten), aber was unser gesellschaftlich-sozial-politisches Leben betrifft, so hat sich in Sachen Geschlechterdifferenz und -verhältnis sehr viel verändert. Man mag das gutheißen oder bedauern, abstreiten aber kann man es nicht. Um dies anzuerkennen, muss man nicht jeder neuesten Mode hinterherjagen, aber wer heute noch darauf besteht, unverheiratete Frauen mit »Fräulein« anzureden, macht sich einfach lächerlich. Es mag ja Wesenheiten (das Wesen des Schönen) geben, aber einen solchen »Prinzipialismus« auf die Geschlechterverhältnisse anzuwenden, ist – nicht einfach falsch, sondern: – albern. Um ein Beispiel für essentialistisches Denken zu geben: Es ist nicht abzustreiten, dass bei philosophischen Debatten und Argumenten oftmals Emotionen im Spiel sind; dies muss an sich nichts Schlechtes 4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

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sein, und alle Emotionen zu verbannen, ist ebenso künstlich (in der aus meiner Sicht falschen Annahme, in der Philosophie sei Vernunft von Leidenschaft schroff zu trennen). Aber bei philosophischen Debatten, bei denen mehrere Studentinnen aktiv und engagiert mitdiskutieren, kann dies dazu führen, dass Machtmechanismen ins Spiel kommen – gegenseitiges Unterbrechen, »Überfahren« der anderen, genervtes Stöhnen. Hier kann man doch, wenn zu viel »Testosteron« ins Spiel zu kommen droht (von wem auch immer), versuchen, etwas das Tempo herauszunehmen und im Ganzen zu bremsen, etwa indem man darauf hinweist, dass Student oder Studentin A Student oder Studentin B unterbricht oder nicht ausreden lässt. Diese Anweisung versteht sich von selbst und hat nichts mit den Geschlechtern zu tun, auch wenn die Praxis eben doch oftmals geschlechterspezifisch ist. Selten sind es Frauen, die Männer in dieser Weise überfahren, aber dafür »das Wesen des Mannes« in Anspruch zu nehmen, wäre lächerlich. Das »Überfahren« einer anderen Studentin ist grundsätzlich niemals angebracht. Wer sich so verhält, sollte gemaßregelt werden, was nur im Extremfall coram publico geschehen sollte. Mit der negativen Weise, die Dominanz von Männern einzudämmen, ist also gemeint, dass man aktiv eingreifen sollte, wenn dies vorkommt. Das kann nicht nur durch Ermahnen geschehen, sondern auch durch die Etablierung gewisser Verhaltensregeln, die Sie für Ihren Unterricht festzulegen das Recht haben. Es gehört auch zur feministischen Grundhaltung, dass man solche philosophischen Verhaltensregeln, Regeln, wie philosophiert wird, konkret thematisiert und eventuell alternative Weisen vorstellt und auch praktiziert. Hierbei darf man jedoch auch nicht in einen antithetischen Essentialismus verfallen, nach dem Motto, jetzt solle man einmal nach dem harten Streiten eine eher weibliche Form des Philosophierens praktizieren. Ich weiß nicht, was das sein soll: »weibliche Form des Philosophierens«, und selbst wenn mir jemand etwas Derartiges erklären könnte, so bin ich sicher, dass eine beträchtliche Anzahl von Frauen den hierbei ausgedrückten Essentialismus für unpassend, antiquiert oder vorurteilsbehaftet halten würde. Von solchen Maßnahmen, ein Gleichgewicht im Umgang zwischen den Geschlechtern herstellen zu wollen, warne ich. In erster Linie geht es darum, Gerechtigkeit in jeder Hinsicht herzustellen, also die aktive Beteiligung von weiblichen wie männlichen Studierenden in gleichem 152

4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

Maß. Sowohl die Berufung auf Aussagen wie: »Philosophie ist so, Ihr (die Ausgeschlossenen) müsst auch so werden« wie auch auf: »Philosophie kann auch anders betrieben werden, nämlich wie die (die Ausgeschlossenen) es tun, also lasst es uns einmal so versuchen« ist kontraproduktiv und auch philosophisch schwer begründbar. Denn philosophisch zu begründen ist alles in der Lehre der Philosophie. Nun zum Positiven: Wie bringt man also Frauen (und andere), die still sind, zum Mitmachen? Generelle Aufforderungen wie »Jetzt sollen einmal die Frauen etwas sagen, sie sind so still, meine Damen, trauen Sie sich!« würden hierbei sicherlich und zu Recht als paternalistisch oder unpassend empfunden. Ich glaube nicht, dass die verschiedenen Möglichkeiten, wie man stille Studentinnen zum Reden bringen kann, philosophiespezifisch oder genderspezifisch sind. Die Methoden, die man hier anwenden kann, sind für alle »Schweigenden« verwendbar, also die persönliche Ansprache, das Signalisieren von Offenheit fürs persönliche Gespräch und, sollte sich dieses ergeben, das deutliche Signal, dass man an dem, was jemand zu sagen hat, Interesse hat. In einem solchen persönlichen Gespräch, etwa unter vier Augen in der Sprechstunde, können durchaus Genderprobleme angesprochen und kann gemeinsam nach Lösungen gesucht werden. Lassen Sie Ihre Studentinnen wissen, dass Sie ernst nehmen, was sie zu sagen haben, und dass Sie Diskriminierung jeglicher Art keinesfalls tolerieren. Bitten Sie sie, Sie darauf aufmerksam zu machen, sofern es solche schon gegeben hat, die Ihnen vielleicht entgangen ist. Grundsätzlich sollte jemand, der in einer Ecke steht (weshalb auch immer), nicht weiter in diese Ecke gedrängt werden und auch nicht darin bleiben. Mit anderen Worten: Sie machen es niemandem einfacher, wenn Sie auf vermeintliche Schwächen oder Nachteile auch noch nachdrücklich hinweisen. Keiner ist gern in der Opferrolle; wenn eine Person es sich in einer solchen Rolle bequem gemacht hat (vielleicht ohne eigenes Zutun oder Wissen), sollte man sie auffordern, sich aus der Ecke herauszubewegen. Bremsen Sie also Studentinnen, wo sie andere zu »überfahren« drohen, und fördern Sie die, die es nötig haben – oder nötig zu scheinen haben –; denn manche sind gern still und in der Zuhörerrolle; man sollte niemanden zu etwas zwingen. Wenn Sie sich aber hierauf im Namen der Gender-Essentialität berufen, tappen Sie eben in die Essentialismus-Falle. Die Ursachen der vermeintlichen Stille 4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

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von Frauen und der Dominanz von Männern sind in historisch gewachsenen Geschlechterverhältnissen zu suchen. Hieran ist zu arbeiten, aber nicht durch die Festlegung neuer, »aufgeklärter« Genderwesensdefinitionen. Erreicht man es, dass in einer oder zwei Generationen mehr Frauen auf Philosophielehrstühlen sitzen, wenn man sie im Seminar zur aktiven Teilnahme bringt? Diese Hoffnung ist natürlich naiv; zum Ungleichgewicht unter den Geschlechtern gehören noch viele andere Faktoren, unter anderem die allgemeine Kultur der akademischen, institutionalisierten Philosophie, die bisher (also bis in die jüngste Vergangenheit) ein reiner (weißer, heterosexueller) Männerverein war. Aber indem man Studentinnen, die scheu sind nicht aufgrund ihres Wesens, sondern aufgrund von aktiver Einschüchterung seitens der Männer (bewusst oder unbewusst), zur gleichberechtigten Teilnahme bringt, hat man schon vieles erreicht. Denn hierdurch verändert man das Gesprächsklima im Seminar und damit a fortiori auch auf Tagungen und im allgemeinen Umgang miteinander. Wenn die Balance der Geschlechter erreicht ist, dann ändern sich auch die Verhaltensweisen und vor allem die Spielregeln. Darauf hinzuarbeiten, sollte für alle von Interesse sein.11 Nochmals grundsätzlich zum »Stand« des Feminismus bei Ihren Studentinnen und Ihnen selbst: Sofern Sie älter sind als jene (und je älter Sie werden, desto größer wird die Differenz), mag Ihre Form von Feminismus nicht der Ihrer Studentinnen sein. Manche mögen vom »Virus« noch gar nicht erfasst sein und bedürfen ganz eindeutig der Aufklärung, und zwar sehr; ziehen Sie aber auch in Erwägung, dass manche Ihrer viel jüngeren Studentinnen viel weiter als Sie sind12 und Diese Vermutung ist neuerdings statistisch belegt, vgl. den Post von Eric Schwitzgebel auf seiner Blogseite »The Splintered Mind«, »In Philosophy Departments with More Women Faculty Award More PhDs to Women« (1. Februar 2019). 12 Mit »weiter« meine ich natürlich nicht »weiter fortgeschritten«, sofern es hier eine Teleologie gibt (oder wie immer man es sich vorstellen mag, etwa als unendliches Approximieren an ein kantisches Ideal), sondern einfach zeitlich »fortgeschritten« im Sinne von »der Zeit und den veränderten Umständen gefolgt und ihnen angepasst«. Die Kämpfe, die Sie einmal gekämpft haben, sind nicht mehr die Kämpfe Ihrer heutigen Studentinnen. Dass Ihre (für den Fall, dass Sie eine Frau sind) Mütter und Großmütter für das Tragen von Hosen auf die Straße 11

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4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

die Probleme, die Sie haben bzw. mit denen Sie in der Vergangenheit zu kämpfen hatten (sofern Sie als Frau nicht für voll genommen wurden oder unter Sexismen zu leiden hatten, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann), für Ihre Studentinnen schon längst überwunden und »kalter Kaffee« sind. Prüfen Sie und bringen Sie also Ihre eigene Position, was die Geschlechterdifferenz betrifft, immer wieder auf den neuesten Stand.

4.2.2 Die Dialektik von politischer Korrektheit und Redefreiheit – Versuch einer Rekonstruktion

Eines der wohl auffälligsten und am heftigsten diskutierten Phänomene, die im Zuge des Feminismus aufgekommen sind13, ist die politische Korrektheit. Wohl nirgendwo sonst in der Gesellschaft hat sie so ihre Macht ausgespielt und ausgeweitet wie in der Universität, sowohl auf dem Campus als auch in der Sprache wissenschaftlicher Schriften, bis hin zu Verhaltenskodizes bei zwischenmenschlichen Verhältnissen (romantischer oder sexueller Natur), sofern die »Akteure« Studentinnen oder Professorinnen (oder Studentinnen mit Professorinnen!) sind. Was früher Gang und Gäbe war und weitgehend toleriert wurde, ist heute ein Grund zur sofortigen Entlassung,

gegangen sind, Sie hingegen für ganz andere Rechte, macht Sie nicht fortgeschrittener, sondern zeigt nur, dass Ihre Mütter und Großmütter mit ganz anderen Problemen konfrontiert waren. 13 Man könnte auch umgekehrt argumentieren, dass der Feminismus ein Resultat der oben beschriebenen Dynamik ist oder beide Tendenzen »gleichursprünglich” sind und der gleichen allgemeinen Tendenz folgen. Interessant hierbei ist, dass es eben bei beidem – dem Feminismus und der politischen Korrektheit – auch liberale und konservative Varianten gibt, die sich bis vor kurzem noch in kritischem Dialog befanden. Ein Grund, weshalb die Debatte heute so explosiv geführt wird, ist meines Erachtens der allgemein herrschende Eindruck, dass die linke Seite hierbei die Oberhand gewonnen oder gar ganz gewonnen hat. Es ist eine sehr bedauernswerte Konsequenz der ins Extrem gesteigerten politischen Korrektheit, dass erst gar keine Diskussion mehr stattfindet, weil die eine Partei (die Verlierer) eingeschüchtert wurde und Angst hat, sich zu äußern. Dass man lieber schweigt und sich dadurch der Zorn und die Wut steigern, ist ein psychologisches Phänomen, das man in vielen Kontexten dieser Art heutzutage sieht. 4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

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sofern es sich hier nachweislich um Machtmissbrauch und nicht konsensuelle Handlungen von Erwachsenen handelt. Das Phänomen der politischen Korrektheit hat also, so weit möchte ich doch gehen, alle Bereiche der Universität infiltriert und ist zum fast alles bestimmenden Faktor geworden. Für die einen bedeutet es eine lang überfällige Befreiung aus Unfreiheit und Diskriminierung, für die anderen eine Qual, unter der sie leiden, sofern sie das neue »Hassobjekt« sind und »die Welt nicht mehr verstehen«, weil anscheinend alle Werte »umgewertet« wurden. Es gibt also Grund, hierüber an dieser Stelle zu reflektieren, weil sich das angesprochene Phänomen nicht mehr aus dem Universitätsleben wegdiskutieren lässt. Ich will so neutral wie möglich zu beschreiben versuchen, wie die Dinge aus meiner Sicht stehen. Hierbei ist meine These, dass sich das Phänomen der politischen Korrektheit nur adäquat im dialektischen Gegenspiel zum Phänomen der Redefreiheit verstehen lässt, beides aber wiederum Phänomene sind, die historisch zum gleichen Zeitpunkt auftauchten und von nahezu derselben Personengruppe hervorgebracht wurden: protestierenden Studentinnen in den späten 60er Jahren, zunächst in den USA, später dann (und auf ihre nationalen Kontexte und deren besondere Probleme zugeschnitten) in der Hauptsache in Frankreich, Deutschland und England. Daher möchte ich hier etwas weiter ausholen und die Geschichte dieser merkwürdigen Konstellation nachzeichnen, soweit sie für das vorstehende Phänomen relevant ist. Man könnte historisch sehr weit ausholen (man müsste wohl zur Unabhängigkeitserklärung Amerikas zurückgehen), aber fangen wir mit den 1960ern an: Die Studentinnenrevolte der späten Sechzigerjahren, die zunächst in den großen Universitäten der USA begann (am bekanntesten ist Berkeley) und dann nach Europa überschwappte (Paris, Berlin), hatte von allem Anfang an dieses »dialektische Dynamit«, welches wir nun detonieren sehen (nunmehr weltweit): Einerseits war die Bewegung angetreten, die Rechte der Unterdrückten (im weitesten Sinne: also Afroamerikaner, Homosexuelle – damals wohl die hauptsächlichen Gruppen, später dann andere Ethnien und Sexualitäten und Gender-»Konstruktionen«) einzufordern bzw. erst einmal als schützenswerte Rechte zu deklarieren; hier also vor allem zu schützen vor nicht nur verbalen Beleidigungen, sondern 156

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auch vor politischen Strukturen, die sie zu Bürgerinnen zweiter Klasse machten. Dies geschah im Zuge der ein Jahrzehnt früher beginnenden Bürgerrechtsbewegung in den USA, die gleiche Rechte für Afroamerikaner forderte. In diesem Sinne ist so etwas wie der feministische Impuls, die Einforderung gleicher Rechte für Frauen, im Kielwasser dieser Tendenz anzusiedeln. Später schlossen sich andere diskriminierte (Rand-)Gruppen dieser Bewegung an, bei denen weniger die Hautfarbe als die sexuelle Orientierung der Formierungsgrund war: Homosexuelle, später dann anders »sexuierte« Gruppierungen, die sich heute unter dem Banner der »LGBTQ«-Bewegung ansiedeln. Von Anfang an ging es auch um eine veränderte Sprachpraxis: Um Mitglieder dieser Gruppen nicht zu unterdrücken, musste man aufhören, sie mit erniedrigenden Termini zu benennen oder zu beschreiben, die vornehmlich auf äußere Merkmale abhoben und sie damit aus dem »WASP« als Resultat des ethnischen Schmelztiegels, der aber weitgehend aus weißen Europäern bestand, ausgrenzten. Diese Merkmale sollten ausgeblendet und eine »korrekte« Anrede geschaffen werden. Die sprachliche Regelung sollte – so die Logik – zu anderen (nonverbalen) Verhaltensweisen führen, indem alles Diskriminierende aus der Sprache getilgt wurde. Damit war die »politische Korrektheit« geboren. Die politische Korrektheit ist dadurch motiviert, dass unsere unreflektierte und von Kindesbeinen an erlernte und verwendete Alltagssprache bewusst oder unbewusst (zumeist Letzteres) diskriminierend ist, weil sie unreflektiert Menschen und Verhältnisse beschreibt und damit Stereotypen und Vorurteile kreiert, diese über Generationen weiterträgt und am Leben erhält, die, wenn man sie sich bewusst macht, selbst nicht rechtfertigen kann.14 Manche dieser Diskriminierungen habe ich selbst noch in meiner Jugend als vollkommen harmlos empfunden, um nun, wenn ich sie mir vor Augen führe, dabei rot vor Scham zu werden (mit Zartbitterschokolade umhüllte Sahnetörtchen auf Waffeln bezeichneten wir in meiner Jugend als »Negerküsse« – Sie kennen Sie erinnern sich sicher an ältere Menschen (sogar aus Ihrer Familie?), die bis an ihr Lebensende davon überzeugt waren, dass sie eine »jüdische Nase« »auf Anhieb erkennen« könnten. Hierin stecken gleich zwei Vorurteile: Dass es so etwas wie »eine jüdische Nase« überhaupt gibt und dass es im Interesse der Jüdin sei, das Jüdische zu verstecken. 14

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selbst Beispiele aus Ihrer eigenen Erfahrung!). Macht man sich diese verschwiegenen Diskriminierungen bewusst – wozu es oftmals anderer bedarf, die einen darauf aufmerksam machen (andere im eigenen Umfeld, andere einer ganzen Sprachgemeinschaft) –, sollte man – so diese Logik weiter – sein Vokabular durchgehen und sich selbst und andere anhalten, gewisse Worte eben einfach nicht mehr zu verwenden. Idealiter führt diese Tendenz der politischen Korrektheit in ein sprachliches Purgatorium, welches diskriminierende Redewendungen, die auf den ersten Blick nicht so aussehen mögen, zu identifizieren und auszumerzen sucht.15 Hat man diese Identifizierung und Purgierung durchgeführt, geht es darum, neue Worte zu finden (oder vielleicht ganz darauf zu verzichten, neue Worte zu finden, denn ein Nicht-Benennen einer Unterscheidung hebt sie auf), die allgemein akzeptabel sind. Die Akzeptanz geht idealiter aus einem offenen Diskussionsprozess hervor. Dass dies realiter eher »hinter verschlossenen Türen« stattfindet, ist ein Grund dafür, dass manche solche sprachlichen Neuprägungen zurückweisen (der Prozess ist nicht öffentlich, auf einmal ist ein neuer Begriff korrekt, und gebraucht man den alten, wird man ertappt und verurteilt). Diese Neuregelung der Sprache findet nicht als einmalige begriffliche »Neutaufe« statt, bei der ein für alle Mal alles Diskriminierende ausmerzt wird. Vielmehr ist dieser Prozess eine fortschreitende »Arbeit am Begriff« und hört nie auf. Z. B. war es in den USA noch in den 70er Jahren »korrekt«, Afroamerikaner als »Negroes« zu bezeichnen (das war ein Fortschritt gegenüber dem »hässlichen NWort«), nun ist sogar »black« anstößig, eine Zeitlang war (und ist zum Teil noch) »Afro-American« der Begriff du jour, für manche Amerikaner heute ist sogar die Referenz zu »Afrika« (also als Abkömmling von früheren Sklaven) anstößig16. Momentan gilt der Begriff »People of Color«, der nunmehr auch Latinos umfasst, als akZum Beispiel beinhalten die durchaus noch üblichen Wendungen »das Kriegsbeil begraben« oder »eine Friedenspfeife rauchen« streng genommen eine Diskriminierung indigener Völker Amerikas – sofern Hollywoodfilme uns glauben machen, dass dies übliche, primitive Verhaltensweisen jener Völker waren. 16 Möglicherweise hat die Figur Barack Obamas einen Anteil daran gehabt, denn als Sohn einer Weißen und eines schwarzen Intellektuellen, der als junger Mann als Student in die USA kam, galt er vielen als kein »echter« Afroamerikaner, weil bei ihm der Sklavenhintergrund fehlte. 15

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zeptabel, aber in 10 Jahren sicher nicht mehr. Hieraus nährt sich der hartnäckige Glaube der Befürworter, man sei auf dem Weg einer konstanten Besserung, die schließlich in eine Welt ohne Diskriminierung mündet. Hieraus stammt aber auch die Kritik der Gegner, diese Tendenz gehe »zu weit«, weil man nicht wisse, wann sie aufhört (also der Vorwurf: »Jetzt muss aber auch mal Schluss sein«; »wenn ich jetzt schon nicht mehr ›X‹ sagen darf, wo soll das enden?«). Dabei ist – wie auch beim dialektischen Widerpart, auf den ich gleich komme – natürlich die nationale Geschichte eines Landes sehr wichtig; daher ist die Art und Weise, wie sich die politische Korrektheit jeweils in einem Land durchsetzte, sehr unterschiedlich und muss auch getrennt betrachtet werden. Erst die Globalisierung durch das Internet ergab – und auch erst kürzlich – eine Art internationale Vereinigung dieser Bemühungen, was sich an globalen Kampagnen (etwa der #metoo-Bewegung) ablesen lässt. Andererseits – nun die dialektische Antithese, wieder auf die USA beschränkt – ging es eben diesen Studentinnen (oder im weiteren Sinne Intellektuellen17 ) auch um Protest gegen ein Regime, das ihnen nicht die Wahrheit sagte, etwa was kriegerische Auslandseinsätze anging (Vietnam), und das in Unrechtshandlungen verwickelt war angesichts des Kalten Krieges, der eben nicht alles Unrecht rechtfertigte. In der Tat wissen wir nun, dass von höchster Regierungsebene aus und vorgeblich zum Zwecke der »nationalen Sicherheit« sowie aus Furcht vor kommunistischer Unterwanderung Professoren bespitzelt wurden. Man fürchtete die durch kommunistische Professoren vorangetriebene Radikalisierung der talentierten Jugend und ihre Annäherung an den Systemfeind Sowjetunion. Als Resultat aus Letzterem verloren viele Professoren (unter dem damaligen ultrarechten Senator McCarthy) ihre Stellen (Anklage: antiamerikanische Propaganda, die die nationale Sicherheit in Gefahr bringt). Die Tatsache, dass nicht wenige dieser Professoren Intellektuelle jüdischer Herkunft waren und solche Praktiken der Bespitzelung durch Agentinnen oder als Agentinnen abgestellte Studentinnen viele an das

Dieser Hinweis ist wichtig – die schwarze Bürgerrechtsbewegung war in den USA ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Der Kampf um free speech war in erster Linie beschränkt auf die Universitätslandschaft. 17

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zeitlich noch nicht ganz so ferne Nazideutschland denken ließen, verliehen diesem Protest seine besondere Brisanz. Der Protest in dieser zweiten Hinsicht ging also um das seit der Unabhängigkeitserklärung verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerung ohne Furcht vor Repressalien. Die Redefreiheit steht für die Freiheit aller Rede, vor allem der also, die man selbst nicht mag, mit der man nicht übereinstimmt, die man gar abstoßend findet. Denn dies auszuhalten – so die Denkweise –, ist aktive Erziehung in demokratischem Verhalten, was nicht natürlicherweise im Menschen angelegt ist, sondern erlernt und, einmal erlernt, auch immer wieder erstritten werden muss. Zur Demokratie gehört wesentlich der Streit, durch den sich erst Konsense herausbilden können. Es ist ein Fortschritt der Menschheit, wenn sich dieser Streit vom Sich-gegenseitigauf-die-Nase-Hauen zum gesitteten verbalen Schlagabtausch sublimiert. Hier – im Pochen auf uneingeschränkte Redefreiheit – besteht auch ein Hauptunterschied zu Deutschland. Vielleicht ist damit zu erklären, dass die Debatte damals nicht so radikal verlief wie etwa in den USA, dafür aber Jahrzehnte später – jetzt – hochkocht, als ob etwas nachzuholen wäre: Im Gegensatz zu den USA gab es in der Bundesrepublik Deutschland nach der Neugründung – und bis heute – keine uneingeschränkte Redefreiheit: Wie man weiß, sind einige Wörter oder Texte – die erste Strophe des Deutschlandliedes, Hitlers Mein Kampf – nicht erlaubt, weder in öffentlicher Äußerung noch zum Verkauf. Juristisch sind solche Verbote sicherlich hoch problematisch, aber damals hat man sich gefügt18, was lange gut ging. Aber auch hier (wie im oben beschriebenen Prozess dessen, was p.c. ist) gibt es Bewegung: Noch vor zwei Jahrzehnten wurde einer meiner Professoren in die »rechte Ecke« gestellt, weil er es zu fordern wagte, man müsse doch auch ein Seminar (in der Geschichte oder Germanistik) zu Mein Kampf abhalten dürfen. Nunmehr gibt es seit ein paar Jahren eine legal verkäufliche Edition dieses Buches, allerdings stark kommentiert, die in der Tat an der Universität Gegenstand wissenAuch die Nürnberger Prozesse waren juristisch umstritten und höchst problematisch, aber die Deutschen waren damals verständlicher Weise nicht allzu sehr geneigt, gegen vermeintliche Justizirrtümer zu protestieren, und der Rest der Welt war auch nicht gerade darauf erpicht, Deutschland hier zur Hilfe zu eilen. 18

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schaftlicher Beschäftigung ist, ohne dass die sich damit beschäftigende Forscherin als »Neonazi« bezeichnet wird (jedenfalls nicht automatisch). Also ist diese Publikation nur sanktioniert durch die historische Situierung durch Experten. Ob sich also die Einschränkung der Redefreiheit in Deutschland halten wird, steht dahin (ich denke persönlich nicht, da man einsehen wird, dass sie rechten Gruppierungen in die Hände spielt). Aber zurück zum allgemeinen »dialektischen« Befund: Hierin bestand gleich zu Anfang der Studentinnenproteste die Dialektik zwischen Redeverbot und Redefreiheit. Der – philosophisch relevante und interessante – Punkt hierbei ist die Dialektik zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung auf der einen Seite und dem Verbot (Befürworter würden vielleicht sagen: freiwilligen Verzicht) von Worten und Phrasen auf der anderen, die auf andere Bevölkerungsgruppen verletzend wirken (aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Neigung, politischen Orientierung, ihrer Religionszugehörigkeit oder ethnischen Herkunft). Beides kann man nicht gleichzeitig führen: den Kampf um das Recht auf freie Meinungsäußerung hier, den Kampf um die Gleichberechtigung unterdrückter Minderheiten mit Hilfe des Verbots gewisser Worte da, das das Recht auf freie Meinungsäußerung wiederum einschränkt. Eine und dieselbe Grundrichtung forderte einerseits uneingeschränkte Redefreiheit und andererseits »qualifizierte« Einschränkung derselben, wenn es um Diskriminierung anderer, also per definitionem »Hate Speech«, geht, die sich durch Anwendung der Sprachregelung umgehen lässt. Der Streit geht nun darum, dass die eine Partei auf das Recht pocht, alles sagen zu dürfen, und die andere postuliert: »Du darfst nicht alles sagen, denn Du darfst andere nicht diskriminieren«, oder, positiv gewendet, »um andere nicht zu diskriminieren, darfst Du fortan nur diese (momentan ›freigegebenen‹) Begriffe verwenden«. Die hierbei beschuldigte Partei antwortet dann: »Ich lasse mir meine Freiheit nicht nehmen, Du hast nicht das Recht, mir vorzuschreiben, was ich sagen darf und was nicht« (Redefreiheit), die andere: »Ich kann es nicht zulassen, dass Du mich (oder andere) verletzt« (politische Korrektheit). Beide haben unzweifelhaft intuitiv recht, und doch hat die Bewegung der politischen Korrektheit in der jüngsten Vergangenheit mehr oder weniger gesiegt und die Differenz hat sich verlagert: von zwei 4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

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gleichursprünglichen Bewegungen, die gegen das Establishment kämpften (also per definitionem links waren), zu konservativ (free speech) vs. liberal (political correctness). Dass die heutige Free-speechBewegung weltweit von den Konservativen vorangetrieben wird, ist eine Ironie der Geschichte. Da die Redefreiheit diesen Kampf verloren hat, hat sich bei ihr – wie bei jedem Verlierer, der aber weiterhin seine Existenz behaupten will – viel Wut aufgestaut und ihre Kritik hat sich weiter differenziert. Da sie nunmehr in der Defensive ist, lohnt es sich, ihre Logik zu verstehen. Denn die Kritik seitens der Redefreiheit ist noch schärfer, sie kritisiert an der politischen Korrektheit nämlich nicht nur das Redeverbot, sondern weiterhin, dass sie diejenige ist, die den Diskurs definiert und festlegt, dass man also »imperialistisch« aufoktroyiert bekommt (von Leuten, mit denen man nicht übereinstimmt), welche Worte akzeptabel sind und welche nicht. Die Kritik seitens der Redefreiheit richtet sich also gegen die Verletzung einer »Metaregel«, die vonseiten der politischen Korrektheit durch eine vorgängige, als fait accompli empfundene Sprachregelung unterlaufen wird. Die Metaregel lautet: Es wird im Diskurs bestimmt, welcher Diskurs erlaubt sein soll. Die Verletzung dieser Regel besteht darin, diesen (Meta-) Diskurs zu verweigern. Welches Kriterium gibt es dann aber hierfür, wenn nicht den Diskurs darüber, was erlaubt sein darf? Die Antwort lautet: die Verletzung der Gefühle derjenigen, die durch Worte beleidigt (offended) werden. Deshalb ist das große Wort der politischen Korrektheit (und das Kriterium dafür, dass jemand Opfer politisch inkorrekter Rede wird) »to be offended«, also das Gefühl verletzt zu werden in dem, was man ist. Dieses Kriterium ist letztlich nichts anderes als ein emotionales. Es ist ubiquitär, jeder darf diese Karte ausspielen, denn an den Emotionen, die man empfindet, kann man bekanntlich nichts ändern und man kann dafür nichts, auch nicht sagen, wann und ob man je dieses Trauma überwunden haben wird.19 Jeder hat das Recht darauf, In ähnlicher Weise wird dann eine Variante des oben beschriebenen Gefühls des »Jetzt ist aber einmal gut« vonseiten der Konservativen vorgebracht: »Nach 30 Jahren – oder wie lange immer – von Bemühungen, Gleichberechtigung herzustellen, muss doch einmal genug sein, denn wir haben schon so viel erreicht.« Hierauf die Antwort derjenigen, die nach wie vor darauf pochen, »offended« sein 19

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verletzt zu werden, also kann dieser Kampfplatz beliebig ausgedehnt werden (neuerdings nehmen auch Befürworter der Redefreiheit selbst hierzu Zuflucht), und wer ihn betritt, den darf man zum Schweigen bringen, selbst zwingen: das ist das Phänomen des »shouting down«, also des »Zum-Schweigen-Bringens« (silencing), nicht durch konstruktive oder ruhige Kritik, sondern durch emotionsgeladene, laute Rhetorik, die die Gegnerin »mit Argumenten nicht mehr durchkommen lässt«. Dieses Mittel ist explizit erlaubt, denn man habe sich solche verletzende Behandlungsweise schon lang genug bieten lassen – ein legitimes Mittel gegen den Missbrauch ist Gewalt als »last resort«. Diese Tendenz wird neuerdings durch die anonymen Echoräume des Internets angefeuert. Lässt sich die Gegnerin ihrerseits zu emotionalen verbalen Gegenattacken hinreißen, ist das Ziel erreicht. Und in einem solchen gegenseitigen emotionalen Sich-Beschuldigen gibt es keine Gewinner, sondern jeder sieht sich letztlich im Recht und fühlt rechtmäßige Empörung (rightful indignation), also wieder eine emotionale Reaktion gegen den Gegner ohne jeden Versuch der Verständigung und des Verstehens des Gegenübers (jeder Versuch hierzu würde ja bedeuten, sich auf die – a priori falschen – Prämissen der anderen einzulassen). Rekonstruiert man die Dialektik dieser Tendenzen auf diese Weise, dann kann man (wenn man in der Lage ist, einen Metastandpunkt einzunehmen) für die sich in der Defensive befindliche Redefreiheit doch eine gewisse Sympathie empfinden. Aber man muss sich die Tatsache klarmachen, dass sie vor allem an der Universität, zumal im Seminardiskurs, eindeutig ins Hintertreffen geraten ist. Die Frage ist nun, wie man hiermit in universitären Lehrveranstaltungen umgehen kann, ohne einerseits die Debatte ganz zu umgehen (also sich aus Furcht vor Konsequenzen in etwas zu fügen, das man nicht gutheißt oder zumindest problematisch findet) und ohne andererseits einen virtuellen »shit storm« zu erleiden. Nach dieser langen historischen Ausführung, für die ich die Leserin um Verzeihung bitte, also nun zur konkreten Situation an der Universität und der Lehre der Philosophie.

zu dürfen: »Man kann Opfern nicht vorschreiben, wann die Zeit ihrer Trauerarbeit vorüber zu sein hat.« 4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

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4.2.3 Die Dialektik von politischer Korrektheit und Redefreiheit in der Lehre der Philosophie

Wie sollte man sich also angesichts dieser höchst delikaten und auch nur schwer rekonstruierbaren Situation in der Lehre verhalten, vor allem angesichts der Tatsache, dass die Seite der politischen Korrektheit im Prinzip den Gewinn davongetragen hat? Um meine Karten auf den Tisch zu legen: Beide Parteien überzeugen mich auf ihre Weise. Ich kann aber nicht verhehlen, dass ich für die Redefreiheit eine gewisse Sympathie habe – aber recht verstanden so, dass eine qualifizierte Insistenz auf Redefreiheit nicht synonym ist mit einer Akzeptanz von verbal diskriminierender Rede anderer – und politische Korrektheit insofern ablehne, als sie zu Redeverboten führt und dazu, dass man über gewisse Themen gar nicht mehr diskutieren darf. In diesem Extremfall darf man ein Thema gar nicht erst anreißen, ohne zum »-isten« welcher Form auch immer verdammt zu werden. Politisch korrekte Rede ist so zu verstehen, dass sie das Vermeiden einer offensichtlichen20 Beleidigung anstrebt; es sollte sich hier aber nicht um ein Redeverbot handeln mit der Begründung, dass vermeintlich eine Sache »durchdiskutiert« wurde und »erledigt« ist. Hierbei ist aber noch ein Punkt zu erwähnen, der oben kurz angerissen wurde und der für die politische Korrektheit unausgesprochene Prämisse ist: Ist es wirklich so, dass veränderte Rede zur Verhaltensänderung führt? Ist es wirklich der Fall, dass die Sprachregelung hin vom »hässlichen N-Wort« zu »Negro« zu »Af-

Es gibt freilich auch den Fall der unbewussten Beleidigung, etwa wenn man sich in einem fremden oder nur zum Teil bekannten Sprachraum bzw. Soziolekt aufhält. Hier ist es wichtig bzw. menschlich gefordert, dass man selbst Sympathie kultiviert und aktiv wird, wenn man miterlebt, wie jemand »ins Messer« läuft, also die betreffende Person beiseite nimmt und ihr erklärt, weshalb ein gerade verwendetes Wort anstößig ist. Wenn Sie das nächste Mal »offended« sind über das, was jemand sagt, dann fragen Sie sich, ob es nicht etwa nur aus Unkenntnis geschieht, nicht weil die Person aktiv und bewusst verletzen will. Dieses »principle of charity« wird in solchen Fällen meines Erachtens viel zu selten angewandt. Ich habe es etwa bei Einwanderern erlebt, dass ihnen noch über 20 Jahre nach ihrem Beitritt zu einer neuen Sprachgruppe solche unbewussten »Tritte ins Fettnäpfchen« unterliefen. 20

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rican-American« hin zu … (wer weiß das schon?) zu einer Verbesserung der Lage diskriminierter Personen führt? Vieles spricht dafür, dass das nicht der Fall ist, und vieles spricht auch dafür, dass die vermeintliche Verbesserung, die zu verbuchen ist, nicht auf die Sprache, sondern auf etwas anderes (politischer Strukturwandel, Gesetzesänderungen etc.) zurückzuführen ist. Um das Leiden eines anderen zu begreifen und zu verbessern, reicht es (könnte man argumentieren), die Umstände zu sehen; man muss nicht auch noch darüber reden – oder meinen, dieses Reden ändere etwas, wenn man die Redeweise ändert.21 Natürlich sind neue Gesetze sprachliche Phänomene, aber – so konnte man im Gegenzug behaupten – man erreicht ein verändertes Handeln nicht durch ein »Umdenken«, das durch künstlich stipuliertes und unfreiwillig aufoktroyiertes »Neusprech« erzwungen wird. Die Prämisse ist also weder logisch haltbar – noch historisch eindeutig belegbar, sofern das Leiden der betroffenen Gruppe nicht wirklich verbessert wurde, und wenn ja, dann nur scheinbar aufgrund der neuen Sprechweise. Selbst die Rede, dass es »ein Schritt in die richtige Richtung« sei, verschleiert den eigentlichen Misserfolg der politisch korrekten Rede. Ich bin, wie gesagt, nicht gegen politisch korrektes Reden; was mir hier wichtig ist, ist zu betonen, dass die Logik der politischen Korrektheit in vielen Punkten durchaus problematisch ist. Dennoch ist den Befürwortern der Redefreiheit entgegenzuhalten: Wollt Ihr wirklich im Namen der Redefreiheit den Status quo in Frage stellen, was gleichbedeutend damit wäre, die Zeit zurückzudrehen? Dieser Punkt ist durchaus kontrovers. Rorty etwa hat argumentiert, dass die Leidenden dieser Welt aufgrund ihres Leidens selbst nicht sprechen könnten, sondern eine Stimme bräuchten, die ihnen nur von der Literatur oder vom Journalismus oder anderen Formen von Sprache verliehen werden könne (die Dichter und Journalisten seien die »Voices of the Oppressed«). Daher seien solche Deskriptionen wichtig, die dazu dienten, uns aus unserer heimeligen Deskription unserer selbst und unserer Umwelt herauszuholen und uns alternative (Re-)Deskriptionen zu präsentieren. Rorty übte vor allem auf die Literaturwissenschaft (insbesondere die »Theory«-Bewegung) großen Einfluss auf. Es ist daher vielleicht kein Zufall, dass die Fokussierung auf politische Korrektheit durch korrekte Sprachverwendung gerade in der Literaturwissenschaft (aller, selbst antiker Literaturen) Einzug gehalten und von da aus auf andere Geisteswissenschaften ausgestrahlt hat (vor allem das, was noch vor kurzem »kontinentale Philosophie« genannt wurde). 21

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Wollt Ihr ernsthaft wieder anfangen, Frauen mit »Fräulein« anzusprechen oder Sinti und Roma als »Zigeuner« (um typische Beispiele aus der deutschen Sprache heranzuziehen)? Die Befürworter der Redefreiheit fechten meines Erachtens die falsche Fehde aus, wenn ihr rechtmäßiger Kampf um Redefreiheit diese Konsequenzen hätte, den gegenwärtigen Status zurückzudrehen. Nicht jede Sprachregelung der politischen Korrektheit sollte frag- und kritiklos akzeptiert werden (nichts sollte von der Philosophin kritiklos akzeptiert werden), aber statt melancholisch der Vergangenheit nachzutrauern, sollten die Vertreter dieser Position in der Gegenwart verankert und in die Zukunft gerichtet sein. Damit meine ich: Man muss dem Volk aufs Maul schauen, auch dem gebildeten Volk. Manche Sprachregelungen sind, wenn auch nicht diskriminierend, so doch misslich, lenken in anderer Weise das Denken in die falsche Richtung, sind begrifflich unsauber oder historisch inkorrekt. Also: Wenn Sie Verfechter der Redefreiheit sind, trauen Sie sich, Worte, die Ihnen nicht gefallen, zu kritisieren, nicht in der Intention, zu den alten zurückzukehren, sondern in der Absicht, die vermeintlich falsche oder historisch unsensible Logik der politischen Korrektheit zu verbessern und zu korrigieren. Das erreichen Sie aber nie durch Insistieren auf dem alten, gerade abgelegten Sprachgebrauch (auch wenn der aus Ihrer Sicht einiges für sich gehabt haben mag). In diesem Zusammenhang ist etwas anderes wichtig und absolut und immer legitim: Fordern Sie in ihrem universitären Umfeld Transparenz und öffentlichen Diskurs ein über die Sprachregelung, die die alte ersetzen soll, und die Argumente, die zu ihr geführt haben. Lassen Sie es nicht zu, dass solch ein Diskurs »hinter verschlossenen Türen« einiger weniger Eingeweihter stattfindet. Die Eingeweihten – also die, die unter Diskriminierung zu leiden haben – können natürlich am ehesten das Verletzende der bestehenden Sprache identifizieren. Sie brauchen aber Hilfe bei der Artikulation desselben. Damit ist keinem Paternalismus das Wort geredet. Aber die Diskussion über das, was politisch korrekte und was politisch inkorrekte Rede ist, gehört in die Öffentlichkeit. Der Zustand, dass man über gewisse Dinge nicht einmal mehr reden darf, ist inakzeptabel. Hierfür muss man als Bürgerin eines demokratischen Landes kämpfen, erst recht als Mitglied einer Hochschule.

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Was heißt das nun konkret in der Lehre? Müssen Sie sich als Dozentin jedem Trend beugen, der gerade angesagt ist? In Ihrer eigenen Rede müssen Sie sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen. Ist es für Sie akzeptabel, das generische Maskulin zu verwenden? Wenn nicht, ändern Sie Ihren Redestil. Machen Sie Hausputz und schicken Sie die Worte, die Sie bisher unhinterfragt benutzt haben, die aber einer kritischen Überprüfung nicht standhalten, in den Ruhestand. Dass Sie das tun, also Ihre Sprache kritisch überprüfen, das kann sehr wohl von der politischen Korrektheit eingefordert werden. Es macht Sie zu einer aufgeklärten Person, dass Sie idealiter keine ungeprüften Vorurteile mit sich herum- (oder auf der Zunge) tragen. Ein Ideal freilich, aber eines, das von Ihnen legitimer Weise verlangt werden kann. Sie hinterfragen kritisch das, was Sie denken und meinen; warum nicht auch das, was Sie sagen? Bloß weil Sie es so gelernt und sich angewöhnt haben, ist es nicht deswegen richtig (das »argument from tradition« ist ein sehr schlechtes). Gibt es etwas, das Sie in der jeweils neuen Sprachregelung nicht mitmachen möchten bzw. das Sie nicht überzeugt: dann rechtfertigen Sie sich und finden dafür Argumente, die Sie im Bedarfsfall schnell zur Hand haben. Argumenten, die vernünftig, ruhig und sachlich vorgebracht werden, wird sich keiner verschließen, zumal im Seminar (wo Sie die Spielregeln festlegen); Sie sind nicht auf der Straße, sondern an einem »heiligen Ort« des rationalen Diskurses. Engagieren Sie diejenigen, von denen Sie glauben, dass sie durch Ihre Sprache verletzt werden könnten. Reden sie mit diesen Menschen darüber. Lassen Sie den Gesprächsfaden nicht abreißen. Wo dies geschehen ist, herrscht Unmut und wächst die Wut auf der anderen Seite. Seien Sie guter Absicht. Dies wird natürlich nicht immer gelingen, weder die gute Absicht, noch dass sie als solche aufgefasst wird. Aber sich auf den Standpunkt zu stellen, man sei hier zu keiner Rechtfertigung verpflichtet und niemandem etwas schuldig, ist – oder wirkt – arrogant, und Rechtfertigung kann immer eingefordert werden. Wie gesagt – diese Empfehlungen werden nicht immer von Erfolg gekrönt sein. Aber wie in allen menschlichen Beziehungen sind gegenseitige Offenheit und Aufeinanderzugehen wichtig. Wenn Sie starke Emotionen gegen gewisse Worte empfinden oder gegen die Idee, Sie müssten jetzt so reden, fragen Sie sich, woher diese kommen.

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Wenn Sie trotz allem guten Willen die Erfahrung machen, dass Sie niedergebrüllt werden, so müssen Sie sich klarmachen, dass wahrscheinlich »das Kind« schon vor längerer Zeit »in den Brunnen gefallen« ist. So etwas passiert nicht spontan und ohne Vorgeschichte. Wenn Sie als »Sexist« oder »homophob« wahrgenommen werden, dann ist dies nichts, was aus einer einzigen Äußerung hervorgeht, für die man sich – wenn man sie bemerkt – entschuldigt, sondern ein Eindruck, der sich über längere Zeit aufgebaut hat. Dass Sie das vielleicht nicht bemerkt haben, spricht gegen Sie. Seien Sie also aufmerksam, was Ihre Wirkung auf andere betrifft. Hierüber mit Freunden und Ihnen wohlgesonnenen Weggefährten zu sprechen, ist hilfreich. Schließlich noch etwas zu Humor oder Ironie. Eine Folge der politisch korrekten Rede ist die Tendenz, protestantisch-humorlos zu sein, nach dem Motto: Das, was Sie gerade gesagt haben, finden Sie vielleicht witzig, es ist es aber nicht. Es ist in der Tat so: Die meisten Witze, die es gibt (Mark Twain soll einmal sieben Grundtypen unterschieden haben), finden auf Kosten anderer statt, und damit sie witzig sind für größere Gruppen von Menschen, müssen es Witze sein, die auf Kosten einer genau identifizierbaren Gruppe von »Außenstehenden« funktionieren, über die es erlaubt ist, Witze zu machen. Wenn Sie in Deutschland heute Witze über Juden machen, so werden Sie kein Publikum finden (nicht einmal bekennende Antisemiten, würde ich behaupten). Es ist in der Tat zum Problem für Komiker, Kabarettisten und Satiriker aller Art geworden, dass die Gruppe von Menschen, über die man sich amüsieren darf, immer kleiner wird, und wenn man auf dem – nicht unbegründeten – Standpunkt steht, dass man sich eigentlich grundsätzlich nicht auf Kosten eines anderen amüsieren darf, dann darf man eben konsequenter Weise gar keinen Humor mehr benutzen.22 So ist die Humorlosigkeit der politischen Korrektheit zu erklären. Wie gesagt, sie

Manche Komiker ziehen daraus die Konsequenz, dass man eigentlich nur noch sich selbst als Gegenstand des Humors benutzen kann oder sich selbst als Mitglied einer bestimmten Gruppe. Ein Hauptbestandteil (und, würde ich behaupten, Hauptgrund) des Erfolges des Stand-up-Komikers Louis CK (jedenfalls vor seinem Fall) war der Humor über den privilegierten weißen Mann (also eine Gruppe, der er selbst angehört). 22

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kommt oftmals protestantisch und moralinsauer daher, aber das ist verständlich, wie die Befürchtung, jemanden durch das Sich-lustigMachen über ihn zu verletzen. Das heißt nun aber für die, die gerne humorvoll sind: Passen Sie auf, worüber Sie Scherze machen! Denn es hilft nichts, wenn Sie antworten, sollte Ihnen jemand vorwerfen, Sie hätten mit Ihrem Witz gerade die Gruppe »X« verletzt: »Ach, das war doch nur ein Witz.« Freilich ist Humor eine eigene Form des Lebens, die zum Leben notwendig dazugehört23 und ohne die das Leben, vor allem in widrigen Umständen, nicht lebenswert wäre (wie man an der Witzkultur in Gefängnissen oder unterdrückenden Regimen sieht); aber der Witz an sich ist keine Rechtfertigung für beleidigende Rede (auch nicht, wenn die Leidtragende – manchmal erzwungenermaßen – ihre Zustimmung erteilt). Selbst wenn Sie selbst als Repräsentant der »bewitzten« Gruppe öffentlich deklarieren, dass Sie diese Witze nicht schlimm finden, haben Sie nicht das Recht dazu zu meinen, dass es anderer dieser Gruppe genauso empfinden müssen (»ich finde es doch auch ok, warum nicht dann auch XY?«). Wenn Sie selbst eher der anderen Gruppe, derjenigen der politischen Korrektheit, angehören, dann bedenken Sie, dass politisch korrekte Rede für viele »Nicht-Initiierte« eine Provokation ist, die viele erst einmal vehement und emotional ablehnen werden. Sollte Ihnen eine solche Reaktion begegnen, sollten auch Sie sich verpflichtet fühlen, Ihre Sprachregelung und die Gründe dafür darzulegen, zu erklären und zu rechtfertigen, und seien Sie dafür offen, Gegenargumente zu hören und auf sie zu reagieren, und zwar ruhig und argumentativ, nicht emotional und aus der Haut fahrend. Sie sollten die Übernahme neuer, Ihrer Meinung nach richtiger Sprachregelungen als Ergebnis einer Überzeugungsarbeit Ihrerseits auffassen, nicht unvermittelt und ohne weitere Erklärung hinstellen als etwas, was »man« in der Hochschule eben so macht. Solch eine »Uneigentlichkeit« (also statt einer erklärenden Rechtfertigung, warum etwas geschieht, der Verweis darauf, dass »man« oder »frau« es eben so macht) ist an der Hochschule nicht zulässig und leider manchen Vertreterinnen der politischen Korrektheit vorzuwerfen. Auch sie S. hierzu Jennifer Marra, »Humor as a Symbolic Form: Cassirer and the Culture of Comedy«, in: T. Friedman, S. Luft, eds., The Philosophy of Ernst Cassirer – a Novel Assessment (Berlin: De Gruyter, 2015, S. 419 – 434). 23

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müssen sich, wie alle anderen auch, erklären! Selbst wenn sie völlig davon überzeugt sind, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, dürfen Sie das nicht und niemals für selbstverständlich nehmen (denn dass man sich täuscht, ist immerhin möglich). Schließlich, wie sollten Sie mit Studentinnen umgehen, die darüber in Streit geraten (untereinander oder mit Ihnen), welche Worte zu verwenden seien oder ob man für Redefreiheit oder politisch korrektes Sprechen optieren soll? Was tun, wenn also ein Streit darüber, was man sagen darf (und was nicht) in Ihrem Seminar selbst ausbricht? Nun, eine Option – die freilich sehr leicht eine ganze Seminarsitzung in Anspruch nehmen kann (aber ist die Situation ernst genug, sollten Sie sich die Zeit nehmen) – ist natürlich, eine Art »Anamnese« der Situation zu referieren, in dem Sinne, wie ich es im vorigen Abschnitt getan habe. Zu verstehen, wie es zu einer solch verfahrenen Situation kommen konnte, hilft immer, diese Situation zu verstehen. Wie immer Sie weiter verfahren, rate ich auch hier dazu, den Gesprächsfaden – zwischen Ihnen und Ihren Studentinnen, unter den Studentinnen selbst, zwischen ihnen moderierend – nie abreißen zu lassen und alles zu unternehmen, damit alle Parteien miteinander im Gespräch bleiben. Als Seminarleiterin können Sie das einfordern. Das Schlimmste ist immer, wenn eine (oder gar alle) Parteien nur noch schmollen und sich gar nicht mehr wechselseitig herausfordern. Das ist der Tod der Demokratie, der Tod des öffentlichen Diskurses, den zu lehren und idealtypisch in Ihrem Seminar vorzuführen Sie berufen sind. Wird der demokratische Diskurs nicht gepflegt, erfolgt der Rückzug in Echokammern, wo sich nur noch Gleichmeinende treffen und sich in ihrer rechtmäßigen Empörung bestärken. So entsteht zunehmend Wut, Ressentiment und gegenseitige Entfremdung. Tun Sie alles in Ihrer Macht Stehende, damit es so weit nie kommt. Sie sind nicht nur Dozentin, die Stoff vermittelt, sondern Sie leben den Diskurs selbst vor, den einzufordern Sie auch dann erst das Recht haben.

4.3 Wie soll man mit schwierigen Situationen umgehen? Schließlich zum dritten Thema dieses Kapitels. Ein philosophiespezifisches Problem – das freilich auch in anderen fachlichen Kontexten 170

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begegnet, in denen »existentiale« Dinge besprochen werden, wie etwa in der Literatur, das spezifische Genre von »philosophischen Romanen« einmal ausgenommen (Goethe, Proust, Auster) – ist eine Situation, die sich vor allem im leidenschaftlichen Hin und Her zwischen Dozentinnen und Studentinnen ergeben kann, nämlich dass existentiale Betroffenheit (»tua res agitur!«) zu großen und aufgewühlten Reaktionen seitens der Studentinnen führt. Glauben Sie, dass ich übertreibe? Warten Sie, bis Ihnen etwas Derartiges passiert, und denken Sie dann an diesen Kapitelabschnitt (und überspringen ihn fürs erste). Dies kann etwa dadurch ausgelöst werden, dass devot gläubige Menschen (welcher Religion auch immer) mit entschieden religionskritischen, ja vielleicht sogar radikal atheistischen Positionen (»Blasphemie« aus Sicht der Gläubigen im weitesten Sinn) konfrontiert werden oder auf irgendeine ähnliche Weise gewisse Werte und Normen einer kritischen Untersuchung unterzogen werden (wie bereits gesagt, ist manchmal schon dies, die kritische Überprüfung, zu viel). Ich habe diesen Punkt bereits in Kapitel 2 thematisiert, dort aber bezogen auf die philosophische Novizin. Ich möchte das Problem nochmals aufgreifen, etwas vertiefen und verallgemeinern. Zum Einstieg einige Beispiele: Eine strenggläubige katholische Studentin hat mir einmal nach der Lektüre und dem Studium von Kants Ethik gestanden, dass sie mit ihrem eigenen Wertesystem auf eine Weise konfrontiert wurde, wie es ihr noch nie im Leben passiert ist. Sie war dadurch, wie sie selbst sagte, aufgewühlt. Für manche, die Kant besser kennen, mag das erstaunlich klingen, aber so war es bei ihr nun einmal. Manch andere mag etwa existentialistische Thesen wie die Sinnlosigkeit der Existenz und allen Seins im Seminar spöttisch und ironisch abtun, »im stillen Kämmerlein« aber zutiefst betroffen sein und schlimmste Dinge erwägen bis hin – das ist keine Übertreibung – zum Suizid. Sie sieht den Eifer, mit dem ihre Mitstudentinnen ihre Karriere verfolgen, als Bestätigung des letztlich sinnlosen »Willens zur Macht«. Ein anderes Beispiel ist der tiefgreifende Eindruck auf eine junge Frau, die, traditionell und konservativ erzogen, zum ersten Mal mit feministischen Thesen konfrontiert wird, die ihr klarmachen, wie sehr sie selbst völlig unbewusst, unemanzipiert und von männlichen Stereotypen geprägt gelebt hat. Sie zweifelt nicht nur an sich selbst, 4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

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sondern an ihrem Elternhaus, ihrer Erziehung, ja ihrer ganzen Kultur.24 Ein anderer ist verärgert bis hin zum Zorn über Philosophinnen, die zwar viel reden, aber nichts tun bzw. deren Reden und Schriften »nichts bringen« und keine Wirkung im öffentlichen Raum entfalten. Der Student beschließt aus Verzweiflung, mit der Philosophie endlich einmal »ernst zu machen« und radikalisiert sich. Nicht wenige, die in den Untergrund abgetaucht sind oder sich einer Terrororganisation angeschlossen haben, taten dies (und tun es noch heute) aus vermeintlich religiösen und auch philosophischen Motiven (oder einem ununterscheidbaren Mix aus beidem), die sie mit tiefem Ernst, radikal und in völliger Konsequenz umzusetzen versuchen.25 Bei so manchem Hier kommt die Geschlechterdebatte eindeutig dazu: Dass diese Studentin mir, einem Mann, von ihrem aufgewühlten Seelenzustand überhaupt erzählte, ist hierbei das eigentlich Verwunderliche. Ich glaube, dass Frauen untereinander (von Studentin zu Studentin, bzw. zwischen Dozentin und Studentin) eher gewillt sind, über Derartiges zu reden. Immerhin ist es die »Welt des Mannes«, der sie kritisch gegenüberstehen. Ich behandle regelmäßig feministische Ansätze in meinen Einführungsveranstaltungen und bekomme fast nie Rückmeldung von weiblichen Studentinnen. Ob es glaubhaft oder auch nur angemessen ist, dass Männer Feminismus lehren? Wer hieran zweifelt, hat meines Erachtens das tiefere aufklärerisch-humanistische Element dieser Bewegung noch nicht begriffen. Dennoch ist diese Erfahrung, dass ein Mann über die Unterdrückung von Frauen seitens der Männer doziert, für viele diesem Phänomen zum ersten Mal (in intellektueller Form) ausgesetzten Frauen irritierend, wofür ich Verständnis habe (aber nur anfangs!). 25 Ein Beispiel für Philosophie, die zu Radikalität führen kann bzw. geführt hat (und auch so konzipiert war), ist natürlich die Philosophie Nietzsches. Interessant hierbei ist der Aufstieg Nietzsches in der amerikanischen Universitätslandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, was angesichts der Kriegserfahrungen eigentlich verwunderlich ist und den vor allem ein wichtiger Nietzsche-Forscher und -Übersetzer, Walter Kaufmann, zu verantworten hat. Kaufmann hat Nietzsche in den USA durch seine Übersetzungen, aber auch durch seine Interpretation dieses Denkers bekannt gemacht, die in weiten Teilen seine Radikalität herunterspielt und betont, das sei alles gar nicht so »wörtlich« zu nehmen. Der Aufstieg Nietzsches zu einem der bedeutendsten Philosophen in den USA nach dem zweiten Weltkrieg ist meines Erachtens vornehmlich hierdurch zu erklären. Diese Tendenz halte ich für gefährlich und unverantwortlich. Zur rechten Darstellung einer Philosophin gehört auch, dass man die (potentielle oder manifeste) Radikalität derselben klar ausbuchstabiert (das gilt besonders für deutsche Philosophinnen, gerade wenn sie von deutschen Dozentinnen in deutschen Hochschulen gelehrt werden!). Natürlich handelt man sich hierdurch potentiell die oben besprochenen 24

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Amokläufer hat man neben Hetzliteratur auch Texte aus der Philosophie gefunden, wenn nicht gewisse (Pseudo-)Philosophien selbst die Hauptmotivation für ihren Amoklauf waren.26 Der Dozentin – sofern sie ihre Lehre distanziert im Weber’schen Sinn durchgeführt hat – ist hierfür sicherlich kein Vorwurf zu machen, aber dennoch kam die entsprechende Person mit diesem Gedankengut in der Veranstaltung von Prof. X zum ersten Mal in Kontakt. Was hier positiv zu vermerken ist, ist, dass wohl nur wenige Disziplinen dieses »Aufwühlungspotential« und Sie damit als Lehrende eine einzigartige Möglichkeit haben, ihren Studentinnen sehr nahe zu kommen und sie auf eminente Weise zu prägen, wobei die Stärke, mit der Sie prägend Einfluss nehmen können, begrenzt ist (und zu viel »Prägungswille« ist auch übergriffig). Es ist hierbei selbstverständlich nicht Ihre Aufgabe, sie zum Atheismus oder zur Annahme einer Ihnen genehmen oder sympathischen Position zu bekehren oder – um nochmals das Schlimmste nicht zu verschweigen – sie zu radikalisieren. Hier halte ich es – wie bereits gesagt – mit Max Weber, der den Universitätslehrenden eine strenge Trennung zwischen ihrer Existenz als Lehrenden und als Privatmenschen nahegelegt hat. Wohl aber kommen Sie nicht umhin, die in manchen Texten anzutreffenden »existentialen« Dinge anzusprechen, die eben das Potenzial haben, einen bedeutenden und tiefgreifenden Effekt auf Ihre Studentinnen auszuüben. Gewisse Themen bzw. Felder in der Philosophie sind hierzu mehr geeignet als andere, vor allem Ethik, insbesondere in ihren vielen »angewandten« Varianten, politische und soziale Philosophie. Seien Sie sich also Ihrer enormen Verantwortung und der potentiell großen Wirkung Ihrer Lehre bewusst! Wer von diesen Szenarien abgeschreckt wird und sich denkt: »O Gott, ich werde alles tun, um solche Texte oder Themen zu vermeiden«, sollte sich klarmachen, dass Philosophie eigentlich immer ra-

Probleme ein, aber solche Dinge unter den Tisch zu kehren, damit man »keinen Ärger bekommt«, ist – wie ich finde – problematisch und eigentlich fahrlässig. 26 Ich denke hier etwa an den Norweger Breivik, dessen Amoklauf in direktem Zusammenhang mit seinem Glauben an die Überlegenheit der »nordischen Rasse” stand. Der Zusammenhang – vor allem in Deutschland – zwischen Studentinnen mit Hochbegabung und terroristischer Aktivität (etwas in der Zeit der Studentenrevolte und des »deutschen Herbstes«) ist bereits festgestellt worden. 4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

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dikal ist. Darin liegt ja unter anderem ihr Reiz; Dogmen sind eben für die Philosophin dazu da, gebrochen zu werden, und die Frage »Wann höre ich mit dem radikalen Fragen auf, ohne unredlich zu sein?« ist eine eminent wichtige Frage für die Philosophie, die manche mit »Nie« beantworten. Außerdem können Sie die Reaktion, die die von Ihnen behandelten Texte oder Denkerinnen auf Ihre Studentinnen haben, nur zum Teil beeinflussen. Wohl können Sie aber die »Flucht nach vorn« einschlagen und in der behandelten Position implizit enthaltene Radikalitäten direkt ansprechen und diskutieren. Das ist um ein Vielfaches besser als »beredtes« oder »vielsagendes Schweigen«. Nochmals: Was Studentinnen aus den Inhalten Ihrer Lehrveranstaltungen mitnehmen, unterliegt nur bedingt Ihrer Kontrolle und entzieht sich damit auch Ihrer Verantwortung. Aber die Verantwortung, den Lehrstoff angemessen und fair aufzubereiten, ohne das potentiell Problematische darin zu verschweigen, tragen Sie doch.27 Dieser Effekt von Philosophie auf Studentinnen28 kann verschiedene Formen annehmen, und auch hier sollten Sie sich klarmachen, dass verschiedene Typen von Studentinnen unterschiedlich reagieren und dass die Ihnen oder dem Seminar gegenüber manifeste Reaktion nicht die im Inneren empfundene sein muss. Solche offen zur Schau gestellten Reaktionen reichen von nervösem Gelächter und triefendem Sarkasmus – ohnehin beliebten Reaktionen, wenn man »tief innerlich« berührt ist –, über Ungläubigkeit, Ablehnung, SichEchauffieren (im Namen des »gesunden Menschenverstands«) bis hin zum kompletten Schweigen und zur Nicht-Reaktion, und Letzteres umso mehr, je mehr man auf einem Punkt insistiert. Man wird

Grundsätzlich gilt aber: Reden Sie nie schlecht über die Texte oder Philosophinnen, die Sie behandeln (»Es tut mir leid, ich muss eben laut Curriculum X behandeln«). Das ist feige und unverantwortlich. 28 Ich rede hier hauptsächlich von jungen Studentinnen, aber verschweigen sollte man auch nicht den Effekt, den Philosophie auf »gestandene« Männer und Frauen haben kann, also solche etwa, die zum Beispiel Kriege durchlebt haben. Auch sollte man bedenken, dass gerade in Deutschland angesichts der Ankömmlinge aus Kriegsgebieten zu erwarten ist, dass eine neue Generation von Studentinnen an den Universitäten studieren wird, die Kriegserlebnisse und andere traumatisierende Erfahrungen hinter sich hat und diese auch in der Auseinandersetzung mit der Philosophie aufarbeiten wird. Dass dies eine Frage der Zeit ist, muss sich jede Dozentin an der Hochschule klarmachen. 27

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Ihnen nicht immer den Gefallen tun, so zu reagieren, wie Sie es sich erhoffen oder erwarten! Manchmal stößt die größte Provokation Ihrerseits auf Schweigen, welches, weil es eben still ist, meistens falsch interpretiert wird. Das Extremste hierbei ist, um es zu wiederholen, dass radikale Thesen die Person dazu verleiten, ihr Leben radikal zu ändern, also sich auf eine Weise zu radikalisieren, dass das Umfeld konkret in Gefahr gerät – obwohl es an sich nichts Schlechtes sein muss, sein Leben zu verändern, etwa wenn sich jemand aus den dogmatischen Verkrustungen seiner Jugend löst. Wenn die ernste Auseinandersetzung mit der Philosophie Rilkes berühmten Ausspruch vernehmen lässt (»Du musst Dein Leben ändern«) und Sie derjenige sind, der hierzu den Ausschlag gegeben hat, ist Ihre Lehre durchaus als Erfolg zu bezeichnen. Wie sollte man im Falle einer »schlechten« Radikalisierung reagieren? Wie die Leserin sich bereits denken kann, gibt es keine Einheitslösung für diese zahllosen unterschiedlichen Reaktionen und Situationen. Aber hier ein paar Gedanken und Vorschläge: Erregung und Empörung ernstnehmen: Sie werden als sehr kalt und hochnäsig empfunden, wenn Sie ernsthaft vorgebrachte Einwände, die aber offenbar in Erregung vorgetragen werden, nicht ernst nehmen. Selbst wenn Sie selbst etwas »lustig« oder »drollig« finden, müssen das Ihre Studentinnen nicht so empfinden, und hier sollten Sie sensibel vorgehen, sollten Sie das Gefühl bekommen, jemandem – auch ohne Ihr Wissen und Wollen – zu nahe gekommen zu sein. Wenn Sie etwa das Thema »Abtreibung« behandeln – selbst wenn Sie es nur als Beispiel für ein ethisches Dilemma verwenden –, müssen Sie sich darüber im Klaren sein, dass manche Studentinnen hier vielleicht einschlägige persönliche Erfahrung haben, die sie (Singular und Plural) oder ihn nicht indifferent sein lassen. Wenn es möglich ist, wählen Sie unverfängliche Beispiele. Manchmal aber ist es weder möglich noch erwünscht, wovon gleich. Sich entschuldigen: Wenn Sie das Gefühl bekommen, dass Sie jemandem durch Ihre Worte zu nahe getreten sind, sollten Sie sich entschuldigen, am besten so schnell wie möglich (ob coram publico oder privat, hängt sehr von der Situation ab, das müssten Sie selbst beurteilen, oder sprechen Sie mit einer Kollegin darüber, am besten eine, die die betreffende Studentin kennt). Sie sollten selbstver4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

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ständlich niemanden absichtlich verletzen wollen; provozieren schon, aber eine Provokation kann schnell zu provokant werden und als Angriff wahrgenommen werden. Es ist schwer und letztlich eine Frage der Erfahrung (der Studentin, der Lerngruppe, des Landes, etc.), hierfür ein richtiges Gespür zu bekommen, also die Grenze zwischen der provokanten Aufstellung einer These und einer direkten oder indirekten Beleidigung zu kennen. Rechnen Sie auch damit, dass jemand etwas provozierend findet, was Ihnen nicht im Entferntesten so vorkommt und womit Sie nie gerechnet hätten.29 Wie bereits im vorigen Abschnitt ausgeführt, »verrennt« man sich auch schnell selbst und macht leichtfertig »Witze« oder »lustige Bemerkungen«, die einem hinterher leidtun (oder leidtun sollten!). Die meisten werden heutzutage den »Peitschen-Spruch« Nietzsches kaum lustig oder passend finden (sei es, dass Sie den Kontext richtig fanden, sei es, dass Sie meinen, er sei in Nietzsches Corpus aus dem Kontext gerissen; beides ist hier gleichgültig). Aber es gibt noch viele scheinbar unverfänglichere Beispiele, die Sie in diesem Zeitalter des »AnstoßNehmens« und »Beleidigt-Sein« einfach antizipieren müssen. Um bei diesem Sujet zu bleiben: Viele der »alten Philosophen« – man kann es nicht schönreden – waren misogyn und Sexisten oder lebten nicht das, was Sie sagten, und man sollte manche ihrer bedauerlichen Äußerungen nicht in der Meinung zitieren, man könne sich hinter den großen Namen verschanzen (nach dem Motto: Wenn es Nietzsche gesagt hat, muss ja etwas dran sein). Natürlich muss man hier »Nietzsche, das Kind seiner Zeit« von »dem Denker« 30 trennen, und manches mag hierdurch entschuldbar sein bzw. werden, aber machen Sie nicht den Fehler, Dinge, die einfach nicht schön zu reden sind, zu verteidigen. Kants Sicht auf Frauen (aufgrund der Äußerungen, die er über Frauen direkt gemacht hat, nicht die, die sich aus Um nochmals ein persönliches Beispiel anzuführen: Als ich an meiner derzeitigen Universität – einer katholischen Einrichtung – das erste Mal ein meiner Meinung nach absolut unverfängliches, kristallklares Beispiel verwendete (Abtreibung – natürlich, so meinte ich, ist hier jeder dafür), wurde ich damit konfrontiert, dass mindestens die Hälfte aller Studentinnen dagegen war. Ich hatte mich also radikal verschätzt und musste – das geschah mir natürlich recht – heftig zurückrudern. 30 Vgl. hierzu, was ich zum Unterschied zwischen »Kant« und »Kantchen« oben sagte. 29

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seinen Ausführungen zur Menschenwürde ableiten lassen) ist nicht nur nicht politisch korrekt, sie ist auch einfach unsinnig (und eigentlich auch innerhalb seines Denkens inkonsequent).31 Wer sie verteidigen will, verschwendet nur Zeit. Für Aussprüche, die in unseren Ohren bedauerlich sind, sollte man sich weder entschuldigen noch sie verteidigen. Sie gehören zur Person und sind nicht zu ändern; aber man sollte sie von den Thesen, die Sie für bedenkens- und bewahrenswert halten, trennen. Das heißt freilich nicht, dass man sie verschweigt, aber Trennung ist wichtig. Wenn sich das eine auf das andere reduzieren ließe, gäbe heute es keinen Grund mehr, Aristoteles oder Kant zu lesen (vgl. hierzu Kap. 4.1). Schwierig ist eine solche Trennung von Leben und Werk freilich bei solchen Philosophen, die gerade diese Trennung für unmöglich erachten bzw. sie mit ihrer Philosophie (oder ihrer Person oder beidem) kritisieren wollen. Hierzu gehört der bereits erwähnte Nietzsche oder neuerdings – bekannter wohl – Heidegger. Aber hier empfehle ich, das philosophische Problem als Problem »an sich« ernst zu nehmen – und es ist meines Erachtens ein ernstzunehmendes philosophisches Problem, dass etwa Heidegger darauf bestand, dass Philosophieren ein Ausdruck der eigenen faktischen Existenz ist – und sich nicht auf eine Diskussion über Nietzsches vermeintliche Homosexualität oder Heideggers Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus einzulassen. Mit welchen Argumenten (auch performativen, verschwiegenen) hat die Person diese Trennung in privat und öffentlich (oder professionell) unterlaufen oder es versucht? Das ist meines Erachtens eine Möglichkeit, das Biographische auf ein philosophisch interessantes Niveau zu heben. »Make it a teachable moment« ist der englische Ausdruck, für den ich, wie bereits gesagt, keinen guten deutschen finde. Damit ist gemeint, dass Sie versuchen sollten, jede potentiell problematische, Auch hier gebe ich zu bedenken, dass die Kant-Forschung in der Zwischenzeit zu sehr viel differenzierteren Auffassungen gekommen ist; etwa behaupten manche, dass sich Kants Sicht auf Frauen (und andere Gruppen, etwa nicht-weiße Europäer) im Laufe der Jahre verändert (auch wenn Kant dies selbst nicht offen zugibt) und sein Frauenbild sich gebessert habe. Ich will hier keinen Beitrag zur Kant-Forschung liefern, sondern nur anmerken, dass das »Kant-Bashing«, das man in diesem Kontext oft vernimmt (z.T. auch von mir selbst), evtl. unfair ist. 31

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peinliche oder emotional aufgeladene Situation so »umzubiegen«, dass daraus ein pädagogisch wertvoller Augenblick wird. Diese Maxime gilt freilich generell, aber sie ist in der Philosophie wie in keinem anderen Fach ein mächtiges pädagogisches Mittel, das Sie freilich nicht herbeireden oder irgendwie künstlich erzeugen können, und oftmals führt der bestgemeinte Versuch zur Blamage – der betreffenden Philosophin und schlimmstenfalls von einem selbst. Aber wenn es gelingt, den Kairos zu ergreifen und ein Lehrstück daraus zu machen, haben Sie die Möglichkeit, einen Glanzpunkt Ihrer Lehre zu erleben. (Der Kairos ist eben deswegen ein Kairos, weil er nicht oft gelingt.) Dies kann natürlich auf unzählige Weisen geschehen, eben weil der Moment so unvorhersehbar ist. Der grundsätzliche Punkt ist hier, dass man einem Moment, der peinlich oder an einem nicht zu überwindenden Scheideweg gelandet ist, durch eine gelungene Wendung der Diskussion eine neue Richtung verleiht. Ein Beispiel: Sie »verwenden« die moralische Empörung von Person A, um Person B (der Opponentin von A) zu verdeutlichen, dass das, was sie selbstverständlich nicht anstößig findet, für andere keineswegs so ist, die – das muss wichtig zu betonen sein – ihre Gegenargumente ebenso gut begründet vorbringen. Der Erfolg bestünde hier zum Beispiel darin, beiden streitenden Parteien klarzumachen, dass die jeweilige Gegenposition nicht trivial, sondern bedenkenswert ist; oder allgemein darauf hinzuweisen, dass die Aufgabe dieses Seminars nicht sein kann, ethische Richtlinien dogmatisch aufzustellen, sondern deutlich zu machen, dass die Erwägung einer Situation von verschiedenen ethischen Standpunkten aus zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen kann und dass eine philosophische Reflexion auf Dinge, mit denen wir tagtäglich konfrontiert werden, alles nur noch schwieriger macht (was es aber auch wiederum unmöglich macht, das philosophische Reflexionsniveau zugunsten des platten common sense zu unterbieten). Wer meint, er sei aus Gründen der Erlangung eines »moralischen Kompasses« in einem philosophischen Seminar, hat nicht begriffen, was Philosophie ist oder zu sein hat.32 Ich erhalte nicht selten, wenn ich verschiedene ethische Theorien vorstelle und die jeweilige (mögliche) Antwort auf ein bestimmtes Szenario diskutiere, von Studienanfängerinnen die Reaktion, dass sie mich erstaunt fragen: »Was, man 32

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4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

Wenn Sie solche Tendenzen bei Ihren Studentinnen entdecken, wirken Sie ihnen entgegen. Nochmals zum Grundsätzlichen in schwierigen Situationen: Sollte sich ein solcher Moment ergeben, vor dem Sie sich potentiell ängstigen (oder aufgrund von Erzählungen anderer hoffen und beten, er möge Ihnen nie zustoßen), sollten Sie sich klarmachen, dass mit etwas argumentativem Geschick und Rhetorik die Katastrophe, worin immer sie bestehen möge – es entsteht Geschrei, einer oder mehrere sind eingeschnappt, ein anderer verlässt den Raum, es entsteht unruhiges Gerede und Sie haben das Gefühl, Ihnen entgleitet die Kontrolle –, zu etwas Positivem umzuwenden ist – idealerweise. Aber: Manchmal hilft alles nichts. Wenn die Wogen zu hochschlagen, müssen Sie auch den Mut und die Souveränität haben sich einzugestehen, dass jedweder Beschwichtigungsversuch nicht funktionieren wird. In diesen – seltensten – Momenten ist es am besten, die Sitzung abzubrechen. Aber selbst den Abbruch können Sie noch verwerten, indem Sie erklären, wie es aus Ihrer Sicht dazu gekommen ist und warum ein Abbruch jetzt das bestmögliche Szenario ist (vielleicht nicht im Moment der allgemeinen Aufregung, sondern später, vielleicht per E-Mail an alle Teilnehmerinnen oder zu Beginn der folgenden Sitzung). Wenn es Ihnen zum Beispiel in der darauffolgenden Sitzung zu rekonstruieren gelingt, wie es zum Streit kommen konnte, und Sie allgemeine Zustimmung erhalten, haben Sie einen solchen »teachable moment« erfolgreich genutzt. Können Sie hingegen stolz darauf sein, dass Ihnen solche »Aufreger« in Ihrer unaufgeregten Art noch nie vorgekommen sind? Freilich. Aber vielleicht fragen Sie sich dann einmal, wieso es noch nie dazu gekommen ist. Vielleicht kommen Sie zum Schluss, dass etwas existentiales Pathos manchmal angebracht ist. Das soll nicht mit dem Rat verbunden sein, sich künstlich oder stilisiert aufzuregen, sondern nur, Ihr Wesen als Philosophie-Lehrende erneut und wieder einmal zu überdenken. Es ist sicherlich keine Tugend an sich, wenn man von sich sagen kann: »Bei mir kommt so etwas nie vor«, genauso wie es keine ist, stolz darauf zu sein, dass man die Emotionen der Studen-

kann hierzu verschiedene Antworten finden?«. So stark ist das Bedürfnis nach ethischer Letztbegründung. 4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

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tinnen nach Belieben hochtreiben kann (um sich dann daran zu ergötzen). Bei allem sollten Sie sich des potentiellen Ernstes der Lage im Klaren sein: Für Sie sind diese Positionen schon lang und breit durchdacht und ausführlich dargestellt worden. Für manche Ihrer Studentinnen wird es das erste Mal sein. Sie sollten sich zurückerinnern, welche Schockwellen diese Einsichten bei Ihnen beim ersten Mal ausgelöst haben. Sie sitzen an einer wichtigen Schaltstelle, was die intellektuelle Entwicklung Ihrer Studentinnen betrifft, das sollten Sie nie vergessen. Schließlich noch das »Katastrophenszenario«: Was ist, wenn etwas, das Sie im Seminar gesagt haben, auf welche Weise auch immer aufgenommen und ins Internet gestellt wird und sodann der neuerdings sogenannte »Shitstorm« über Sie hereinbricht? In solchen Fällen ist mein Rat eindeutig und konzis: Sie müssen sich rechtlichen Rückhalt (vornehmlich von Ihrer Hochschule) suchen. Ist es so weit gekommen, ist Ihnen die Kontrolle entglitten und Sie können nicht mehr selbst Herrin der Lage werden.

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4. Besondere Probleme beim Lehren von Philosophie

5. Konkrete Ratschläge zur Selbstverbesserung

Die konkreten Ratschläge in diesem letzten Kapitel sind nicht philosophiespezifisch. Sie sind jedoch nach meiner Erfahrung extrem wichtig. Daher führe ich sie hier zum Abschluss des Hauptteils dieses Buches an.

5.1 Evaluationen Als in Deutschland Evaluationen eingeführt wurden, gab es dagegen erheblichen Widerstand und emotional aufgeladene Reaktionen. Auch jetzt sind Evaluationen nicht flächendeckend in Deutschland eingeführt bzw. wo sie eingeführt sind, sind sie oft nicht gut organisiert. Mitunter geschieht die Evaluation freiwillig und wird zum zahnlosen Tiger, weil sie im Prinzip folgenlos bleibt. Unter anderem sind Evaluationen auch deswegen weitgehend wirkungslos, weil die Studentinnen selbst sie nicht allzu ernst nehmen (»weil ohnehin nichts passiert«, wie mir manche gesagt haben) und daher auch nicht einfordern – abgesehen davon schließlich, dass Dozierende sie in ihrer großen Mehrzahl ablehnen oder gar nach wie vor geradezu hassen. Das ist meines Erachtens bedauerlich, weil damit eine Gelegenheit verpasst wird. Um es gleich frei heraus zu sagen: Ich bin trotz aller (berechtigten) Kritik für Evaluationen, sehe sie aber auch nicht als ein Allheilmittel zur Verbesserung der Lehre. In der Tat halte ich ihre Wirkung für sehr begrenzt, was die tatsächliche Qualität der Lehre im Allgemeinen betrifft. Man darf von ihnen keine Wunder erwarten. Unerlässlich sind sie dennoch. Im Folgenden möchte ich einige Kritikpunkte vortragen und entkräften sowie noch ein paar andere diesbezügliche Punkte diskutieren. Der wohl gewichtigste Einwand, der gegen Evaluationen vorgebracht wird, ist, dass Studentinnen schlichtweg nicht in der Lage seien – emotional, intellektuell, was ihre Reife betrifft –, ihre Dozentinnen zu beurteilen. Es sei doch geradezu unerhört, dass Studentinnen, die in der Universität sind, um zu lernen und dafür benotet zu werden, im 181

Gegenzug ihre Dozentinnen benoten! Universitäre Lehre sei schließlich kein Schönheitswettbewerb. Es gehe darum, etwas zu lernen, und universitäre Lehrveranstaltungen dürften nicht danach bewertet werden, ob sie »Spaß machen« oder »unterhaltsam sind«. Studieren sei immerhin »harte Arbeit«, und »schöne« Lehrveranstaltungen könnten davon nur ablenken. Zunächst einmal handelt es sich bei Evaluationen nicht um Notengebungsverfahren wie bei den Studentinnen, die eine bestimmte Zensur erhalten. Es ist ähnlich wie bei einem TOEFL-Test: Man bekommt eine (eventuell durch ein Punktsystem gestützte) Einschätzung und kann auch nicht »durchfallen«. Es gibt auch bei den unterschiedlich differenzierten Evaluationssystemen, die die Universitäten benutzen, keine »Gesamtnote«, sondern es werden verschiedene Kriterien evaluiert, die sich nur zum Teil auf die Dozentin beziehen, mit verschiedenen Gradmessern. Dies ist inzwischen zu einer richtigen »Wissenschaft« geworden,1 und auf jeden Fall ist eine Zensur in einem Seminar oder für eine Hausarbeit mit einer Lehrevaluation nicht vergleichbar. Ferner sind Studentinnen keine Kinder. Sie sind in der Regel mindestens achtzehn und älter, so dass sie offiziell reif genug sind, zu wählen oder ein Auto im Straßenverkehr zu bewegen. Aber nehmen wir einmal an, sie wären in der Tat unreif, so wäre das noch kein Grund, weshalb sie keine Einschätzung der Lehrqualität ihrer Dozenten geben können. Und was heißt hier schon »unreif«? Dass die Evaluation oberflächlich, wenig detailreich, (nur) destruktiv (und zu wenig konstruktiv) ist? Und weshalb sollte eine unreife Person nicht auch ihre Bewertung abgeben (dürfen)? Wer kann schon erwarten, dass Erstsemester reif sind? Dafür sind sie schließlich an einer höheren Bildungsstätte. Reife lernen sie durch den Umgang mit (hoffentlich reifen) Lehrenden. Wie auch immer: Ich sehe nicht, dass »Reife« – ohnehin eine sehr weiche Kategorie – ein Kriterium für die Fähigkeit sein kann, die Effektivität der Lehre einzuschätzen. Viele Evaluationen werden seit einigen Jahren online durchgeführt, finden also nicht mehr, wie anfangs, auf Papierbögen statt und werden zunehmend differenzierter (die letzte mir bekannte Evaluation bezog sich auf ein Seminar im Wintersemester 2017/18 an der Universität Köln und umfasste ein PDF-Dokument von 53 Seiten). 1

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5. Konkrete Ratschläge zur Selbstverbesserung

Um es positiv zu wenden: Ich finde es wichtig, erstens, dass Studentinnen die Möglichkeit bekommen, sich über ihre Dozentinnen auszulassen. Die Universität ist kein autoritärer Staat, in dem es keine freie Meinungsäußerung gibt. Das Evaluieren selbst ist anonym und daher auch kein persönlicher Angriff (bzw. wenn er das ist, disqualifiziert sich die evaluierende Person damit selbst). Aber nach meiner eigenen Erfahrung sehen Studentinnen in der Regel das Positive und sind selten »gemein« oder werden persönlich. Die persönlichen Angriffe in den Evaluationen, die ich seit mehr als zwanzig Jahren erhalte, sind an einer Hand abzuzählen, was nicht daran liegt, dass ich in der Lehre überragend bin, sondern weil Studentinnen reif genug sind, ihre Zeit nicht mit kleinlicher Kritik zu verschwenden. Richtig verstanden (vonseiten der Evaluierenden) ist die Evaluation die Möglichkeit, der Dozentin zu sagen, was einem nicht gefallen hat und warum, ohne sich vor »Rache« oder sonstigen Nachteilen fürchten zu müssen. Von daher rate ich Studentinnen: Füllen Sie den Evaluationsbogen bedacht und reflektiert aus! Geben Sie sich Mühe und seien Sie ehrlich und fair (und »menschlich«). Ihre Dozentinnen, die gut und effektiv lehren möchten, werden die Evaluationen sorgfältig studieren, sich dafür (also für konstruktive Kritik) dankbar zeigen und es Ihnen – bzw. der Generation nach Ihnen – lohnen. Und ich rate Dozentinnen: Reden Sie mit Ihren Studentinnen über die positive Bedeutung von Evaluationen und bitten Sie sie, die Bögen gewissenhaft auszufüllen. Sie partizipieren damit am demokratischen Leben an ihrer Hochschule. Weiterhin verschaffen Ihnen Evaluationen – in den Feldern, wo Studentinnen persönliche Kommentare freistehen2 – einen einzigartigen Einblick in deren Seelenleben, wie sie wirklich denken und »ticken«. Sie können daher, abgesehen vom »manifesten« Inhalt, auch »zwischen den Zeilen« lesen, also weniger auf das achten, was sie von Ihnen halten, als auf das »Hintergrundgeräusch«. Hierdurch sind Sie in der Lage, Trends und Veränderungen in den Interessen und Vorlieben Ihrer Studentinnen besser zu verstehen. Vielleicht hilft Ihnen dies auch, sich zu »modernisieren« oder an neuere Gepflogenheiten

Diese Möglichkeit besteht nicht immer; ich finde sie allerdings sehr wichtig. Mein dringender Rat an diejenigen, die diese Formulare erstellen, ist, dieses »Fenster ins Seelenleben« nicht zu verbauen! 2

5. Konkrete Ratschläge zur Selbstverbesserung

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und Sensibilitäten anzupassen.3 Eventuell rangieren Sie hierbei alte Beispiele bzw. kulturelle Referenzpunkte aus, die für Sie bzw. für die Studentinnen vor 10 Jahren noch Bedeutung hatten, die aber heute weitgehend unbekannt oder, falls bekannt, »kalter Kaffee« sind. Die Studentinnen von 2009 waren andere als heute, und 2029 werden sie sehr andere Empfindungen und Befindlichkeiten haben als jetzt. Was vor zehn Jahren noch durchging, wird heute als verletzend empfunden; etwas Ähnliches wird in zehn Jahren auch zu erwarten sein. Wenn Sie so viel wie möglich über Ihre Studentinnen herauszubekommen versuchen (ohne sie zu »trollen«), sind Sie flexibler und anpassungsfähiger an eine sich stetig wandelnde »Klientel«, also junge Menschen, denen gegenüber Sie einen Bildungsauftrag haben. Denken Sie stets daran, dass Sie die Person sind, die altert und sich daher immer weiter von der Jugend entfernt. Sie müssen »am Ball bleiben«! Hierbei möchte ich nicht der Bemühung das Wort reden, immer aktuell und möglichst »in« zu sein in jeder Hinsicht (was »coole Sprüche« oder Phrasen oder Popkultur-Referenzen etc. betrifft), denn ab einem gewissen Alter wirkt das nur noch lächerlich; aber wenn Sie heute noch allen Ernstes die Pros und Kontras der Homoehe diskutieren, haben Sie nicht nur die Rechtslage verpasst, sondern kommen in die Situation, Ihre Studentinnen fast sicher zu beleidigen oder vielleicht sogar persönlich zu verletzen. Des Weiteren erhalten Sie, wenn Sie die Evaluationsbögen durchgehen, die Möglichkeit, auf wirkliche Schwächen hingewiesen zu werden, die einerseits sehr konkret sein mögen und daher leicht behoben werden können – Sie reden zu leise oder zu schnell, Ihr Tafelanschrieb ist zu klein –, andererseits aber auch ein echter Indikator sein können für Trends und Ihre persönliche Entwicklung, die Sofern Sie Vorlesungsskripte mehrmals verwenden – was nicht ausbleibt bei in regelmäßigem Turnus wiederkehrenden Veranstaltungen –, sollten Sie diese vor allem hinsichtlich der von Ihnen verwendeten Beispiele durchgehen und auf einen neueren Stand bringen. Es ist erstaunlich – und dies verstärkt sich exponentiell in dem Maße, wie man altert! –, wie sehr Ihnen noch lebendig im Gedächtnis bleibende Beispiele aus dem öffentlichen Leben von »vor wenigen Jahren« Ihren »immer jünger werdenden« Studentinnen komplett unbekannt sind. Wenn Sie dann versuchen, anekdotenhaft diese Geschichten »von früher« zu erzählen (ein großer Schnarchfaktor für Studentinnen, auch wenn Sie dies wahrscheinlich sehr gern tun!), verlieren Sie nur kostbare Zeit. 3

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5. Konkrete Ratschläge zur Selbstverbesserung

Sie ernst nehmen und reflektieren sollten. Einen einzelnen Angriff können Sie, wie gesagt, ignorieren. Er kommt möglicherweise von einer Person, die Sie aus welchem Grund auch immer nicht mag. Aber wenn Sie Trends erblicken, etwa wenn gleich mehrere Leute dasselbe monieren oder wenn verschiedene Bemerkungen in die gleiche Richtung gehen oder wenn bestimmte Beschwerden über die Jahre hinweg zunehmen, dann können Sie davon ausgehen, dass wirklich etwas dahinter steckt, worüber Sie nachdenken sollten. Und wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie sich eingestehen, dass die Studentinnen – nachdem Ihr Zorn oder Ihre Enttäuschung verklungen sind – am Ende doch etwas Richtiges (wenn auch vielleicht etwas grausam, zu krude oder unscharf) gesehen haben. Unterschätzen Sie nie die Intelligenz und Beobachtungsgabe Ihrer Studentinnen! Eine andere, im Grunde defensive Reaktion ist vielleicht: »Aber das habe ich doch immer so gemacht!« Mag sein, aber was bis vor wenigen Jahren noch selbstverständlich war, ist es jetzt vielleicht nicht mehr. Hier haben Sie zwei Möglichkeiten: Gestehen Sie sich ein, dass Sie die Sache, was immer sie ist, eben nicht mehr tun sollten. Oder Sie stehen dazu und vertreten es explizit. Vielleicht wird Ihnen ja »vorgeworfen«, dass Sie zu altmodisch sind, weil Sie etwa zu wenige Medien (Powerpoint und Ähnliches) verwenden. Vielleicht kann Ihnen das aber die Gelegenheit geben, explizit zu betonen und zu begründen, dass es für Sie bestimmte Methoden gibt, die Ihnen am Herzen liegen (also etwa die sokratische Gesprächsführung versus andere »modernere« Vermittlungsweisen, oder die »Arbeit am Text« mit dem offenen Buch vor der Nase), und warum Sie diese weiterhin einsetzen werden. Nicht alles, was einem vorgeworfen wird, muss man als Vorwurf stehen lassen; nicht jedem Ratschlag, auch wenn er gut gemeint sein mag, muss man folgen. Die Mehrheit ist nicht immer im Recht. Und nicht jede Modernisierung ist sinnvoll. In den USA, dem Ursprungsland der Evaluationen, wird immer wieder fälschlicher Weise behauptet, dass Evaluationen unter Umständen einen Dozenten den Job zu kosten könnten. Ihnen werde damit viel zu viel Macht eingeräumt. Lehre sei schließlich kein Beliebtheitswettbewerb, und wenn es keinen Spaß mache, dann sei das eben so. Aber warum sollte es keinen Wettbewerb über gute Lehre geben? Ich würde mir mehr Lehr-Preise und -Auszeichnungen wünschen. Dass weiterhin Beliebtheit zu Lasten der Qualität bzw. des Niveaus geht, ist erst einmal 5. Konkrete Ratschläge zur Selbstverbesserung

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eine reine Behauptung. Natürlich kennen Sie alle Lehrende – vor allem aus der Schule –, die beliebt sind, weil sie »nett« und »unkompliziert« sind. Aber wenn Sie genau hinhören, werden solche Lehrerinnen von Schülerinnen oft nicht ernst genommen. Auch in der Universität muss man sich fragen: Ist eine Dozentin unter Studentinnen beliebt, weil sie nach der Veranstaltung mit den Studentinnen in die Kneipe geht, oder wird sie respektiert, weil sie schwierige Sachverhalte phantastisch erklären kann? Respekt wird sich auch in Beliebtheit niederschlagen, in einer anderen Form von Beliebtheit als der, die darauf zurückgeht, dass die Dozentin mit einer Gruppe nach dem Seminar »einen drauf gemacht hat«. Das heißt nicht, dass man nicht mit Studentinnen am Ende des Semesters die traditionelle »Abschlusskneipe« machen sollte; aber Ihnen sollte nur die Anerkennung wichtig sein, die Sie durch gute Leistung erlangt haben. Zurück zum Vorwurf des »Make-it-or-break-it«-Status von Evaluationen in den USA: Hierzu muss man sich die Bedeutung der Evaluationen durch Studentinnen in den USA genau ansehen, wofür ich etwas weiter ausholen muss. In einem üblichen Verfahren zur Entfristung (tenure) von Assistenzprofessorinnen mit Tenure-Laufzeit gibt es normalerweise (und je nach Hochschule unterschiedlich gewichtet) drei Säulen, die in die Beurteilung einfließen: Forschung, Lehre und Anteil an der Selbstverwaltung. Innerhalb der Bewertung der Lehre wiederum sind in der Regel drei Faktoren ausschlaggebend: Evaluationen seitens der Studentinnen, seitens der peers (also Kolleginnen, die die Lehre bewerten) und schließlich die eigene Darstellung der Lehre und der eigenen Schwerpunkte in der Lehre. Evaluationen seitens der Studentinnen stellen also gerade einmal ein Drittel eines Drittels eines sehr komplexen Verfahrens dar! Und hier sind freilich vor allem Trends entscheidend: Wenn die bewertende Kollegin meint, Sie nähmen zu wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse Ihrer Studentinnen, und diese Einschätzung sich auch in den Evaluationen auffallend oft niederschlägt – also hier ein Muster sichtbar wird –, wird das der Kommission schon zu denken geben. Wird aber schlechte Lehre aufgewogen durch exzellente Forschung und aufopferungsvolle Teilnahme an Gremien, dann wird das letztlich nicht dazu führen, dass die Entfristung verweigert wird. Also bei aller Kritik an Lehrevaluationen sollte man die Kirche im Dorf lassen: Sie sind weder ein Allheilmittel noch wirklich entscheidend für die berufliche 186

5. Konkrete Ratschläge zur Selbstverbesserung

Zukunft. Diese Evaluationspraxis gibt es freilich (noch) nicht in Deutschland, aber erstens mag das noch kommen, da nun Juniorprofessuren mit Tenure-Option die Norm werden; zweitens geht es mir um die Richtigstellung eines oft wiederholten Missverständnisses.

5.2 Videoaufzeichnungen Wenn ich auf die Wichtigkeit und Effektivität von Videoaufzeichnungen bei der Selbstverbesserung poche, mache ich mich nicht unbedingt beliebt. Die Argumente dagegen sind etwa, dass man durch die Aufzeichnung, die einem ein Spiegelbild vorhält, möglicherweise ein schlechtes Körper-Image vermittelt bekommt; dass man noch irritierter von sich selbst ist (wenn man seine Bewegungen »von außen« sieht) und damit noch unsicherer wird. Ich weiß nicht, wie ich diese Einwände beurteilen soll, denn, obwohl es sicherlich alles andere als angenehm ist, sich selbst im Film zu sehen, kenne ich auch viele Kolleginnen, denen es ganz und gar nichts ausmacht bzw. die es sogar ausdrücklich begrüßen (eitel sind Dozentinnen ja alle auf ihre Weise!). Die »Selfie-Kultur« hat auch bewirkt, dass die bisherige Form der Selbstdarstellung auf ein ganz neues Niveau gehoben wurde und überhaupt nichts Besonderes mehr an sich hat. Dennoch sollte man für die, denen das Betrachten ihrer selbst unangenehm ist, betonen: Man muss hier auch einen gewissen Gewöhnungseffekt in Rechnung stellen. Mag es auch unangenehm sein: Sich selbst auf Video aufzeichnen zu lassen und es sich danach anzusehen, ist notwendig, um sich als Lehrende zu verbessern. Nur so lernen Sie, sich von außen, »objektiv«, zu sehen, also so, wie die Studentinnen Sie wahrnehmen. Nur so kann man Schrullen oder Angewohnheiten bemerken, die man selbst nicht wahrnimmt oder von denen man zwar weiß, an die man aber lieber nicht erinnert werden will und die man daher ignoriert. Wie bei den Evaluationen gilt auch hier: Oftmals sind die Dinge, die auffallen, geringfügig und leicht behebbar, zum Beispiel die (vollkommen unbedeutende, aber doch für manche Teilnehmer nachteilige) Angewohnheit, beim Aufrufen von Studentinnen eine Seite des Raumes zu bevorzugen oder den sich zu Wort Meldenden nicht in die Augen zu sehen. Aber wenn Sie dies nie jemals bemerken, werden Sie solche Verhaltensweisen nicht ändern können. Der Brennspiegel der Film5. Konkrete Ratschläge zur Selbstverbesserung

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aufnahme, die einen selbst zeigt, ist jedoch kein Zerrspiegel; nur so sieht man sich von außen. Vieles von dem, was man normalerweise unbewusst tut, wird einem erst so bewusst. Sie können noch so viel vor dem Spiegel üben; sind Sie in the action im Seminarraum, ist es immer anders, trotz aller guten Vorsätze. Mein konkreter Rat: Lassen Sie sich vom IT-Service Ihrer Universität die technischen Gegebenheiten dafür einrichten, dass mehrere Ihrer Veranstaltungsformate (Vorlesungen, kleinere und eventuell größere Seminare) auf Video aufgezeichnet werden können. Eine Sitzung pro Format reicht vollkommen aus (denn so originell und vielschichtig ist man nun auch wieder nicht). Wenn Sie die Datei haben, schauen Sie sie sich erst im stillen Kämmerlein an (und trinken Sie dazu ein Glas Wein). Wenn Sie das »verdaut« haben, schauen Sie es mit einer Freundin an, jemandem, dem Sie vertrauen und der Ihnen ehrlich die Wahrheit sagt. Als nächstes versuchen Sie Problem(chen) zu identifizieren, und versuchen Sie dann, daran zu arbeiten (machen Sie sich einen Merkzettel, den Sie ins Seminar mitnehmen!). Je nachdem, wie peinlich es Ihnen ist oder für wie bedeutend Sie es halten, sprechen Sie diese Punkte, an denen Sie arbeiten möchten, im Seminar an. Es schwächt Sie nicht, im Gegenteil; Sie werden als jemand wahrgenommen, dem es wichtig ist, gute Lehre abzuliefern, und der sich dafür professionelle Hilfe verschafft hat. Bitten Sie um Rückmeldung, etwa am Ende des Semesters (eventuell durch einen anonymen Fragebogen). Wiederholen Sie dies in einem Jahr. Wenn Sie mit Ihrer Performance bzw. Ihren Verbesserungen zufrieden sind, wiederholen Sie es in drei Jahren. Spätestens dann nämlich haben sich neue Schrullen eingeschlichen oder alte haben sich wieder »rekonstituiert«, weil Sie nachlässig geworden sind.

5.3 Weiteres Feedback suchen Bei aller Lehre gilt: Kein Meister ist je vom Himmel gefallen. Und: Keiner, der zum Meister geworden ist, bleibt dies ohne kritisches Feedback von Studentinnen und Kolleginnen. Man lernt nie aus und man hat die eigenen Fehler nie ganz überwunden (oder verfällt wieder in die alten Muster, wenn man sich nicht ständig kritisch prüft), und

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5. Konkrete Ratschläge zur Selbstverbesserung

schließlich ist es nicht ausgeschlossen, dass man mit zunehmendem Alter neue Fehler macht bzw. neue schlechte Eigenschaften annimmt. Nutzen Sie so vieles von dem oben Genannten wie möglich. Nehmen Sie Ratschläge und auch Kritik ernst. Versuchen Sie, das Gute und Hilfreiche darin zu verstehen. Ärgern Sie sich nicht über Angriffe ad hominem, die Sie bekommen werden – von übelgesinnten Kolleginnen, von Studentinnen, die sich über schlechte Noten ärgern. Lassen Sie sich durch nichts und niemanden Ihre Freude und Ihre Leidenschaft für Ihr Fach und dessen Vermittlung an Studentinnen vermiesen. Das ist einfach gesagt, aber nicht einfach getan. Versuchen muss man es dennoch, gegen alle Unkenrufe, sonst verbittert oder resigniert man. Meines Erachtens spricht man unter Fachkolleginnen (und auch fachübergreifend in der Hochschule) viel zu wenig über die Lehre. Das ist in fast jedem System, das ich bisher kennen gelernt habe, so. Es ist fast so, als fiele das Thema unter ein Tabu. Jeder hat seine eigenen Methoden ausgebildet, entwickelt sie weiter und lässt die anderen »nicht in die Karten« schauen. Aber welchen Sinn soll das haben, wenn nicht eigene Unsicherheit zu kaschieren? Warum sich nicht gegenseitig supervidieren? Warum setzen wir uns nicht öfters in Veranstaltungen von Kolleginnen, um zu sehen, wie sie arbeiten, gerade etwa um zu sehen, wie sie den Stoff, den auch wir behandeln, aufbereiten (und umgekehrt, laden sie zu sich ein)? Was sind ihre »Tricks« bei der Vermittlung von notorisch schwierigen Theorieteilen, die wir alle vermitteln müssen, wo wir alle auf dieselben Schwierigkeiten stoßen? Warum erbitten wir uns nicht öfters Hilfe und Kritik von Kollegen? Ich lasse das Argument, dass man als junge Dozentin (womöglich ohne Festanstellung) verletzbar ist, nur zum Teil gelten. Die Maxime, unter der man operieren sollte, ist zunächst einmal: »Niemand will mir etwas Schlechtes; meine Kolleginnen wollen, dass ich erfolgreich bin.« Das ist natürlich wieder »im Ideal« gesprochen; Kollegien sind notorisch bekannt für ihre Fraktionsbildungen, und mit Menschen zusammen zu arbeiten, ist grundsätzlich eine Herausforderung. Aber lassen Sie sich die Chance nicht entgehen, sich von wohlgesonnenen Kolleginnen (und dass sie das sind, sollte man grundsätzlich unterstellen, es sei denn, man hat persönliche – nicht von Dritten zugetragene – Erfahrungen) helfen zu lassen. Und auch Übelgesonnene mögen manchmal vielleicht, trotz aller Häme, den Finger auf den 5. Konkrete Ratschläge zur Selbstverbesserung

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richtigen Punkt legen. Das Gleiche gilt, wenn Sie schon länger im Amt sind: Wieso sollten wir das, was man zukünftigen Lehrerinnen zumutet, nicht auch uns »Altgedienten« zumuten? Weiterhin: Warum plant man nicht öfters Workshops oder Symposien, um über Lehre und Lehrinhalte gemeinsam zu reden, gerade wenn man Ähnliches lehrt (zum Beispiel Einführungsveranstaltungen verschiedenster Art)? Sie können selbst zu der Kultur, der Sie kraft Mitgliedschaft in einem Lehrkörper angehören, beitragen. Je früher man anfängt, ein Klima der Selbstkritik und der wechselseitigen und dabei immer wohlwollenden, respektvollen und hilfreichen Kritik unter Kolleginnen zu kultivieren, desto besser wird die Lehre des Fachbereichs im Ganzen – und desto glücklicher sind die Studentinnen (und desto mehr und besser und mit größerem Gewinn lernen sie). Und – weil sich das herumspricht – desto besser und geschlossener stehen Sie als Fachbereich an Ihrer Universität da. Ein Fachbereich wird von außen unter anderem danach beurteilt (und das gilt auch für die Wahrnehmung seitens der Verwaltung), wie Studentinnen über ihn reden. Umgekehrt vergiftet nichts so sehr die Atmosphäre wie eine Riege voneinander und von Studentinnen abgewandter, lehrunwilliger, sich gegenseitig isolierender (oder, noch schlimmer, ignorierender) Dozentinnen. Sie können keine besseren Botschafterinnen für Ihren Fachbereich (und damit für das Fach, das Sie lieben) haben als die Studentinnen, bei denen es Ihnen gelungen ist, eine Begeisterung für Ihr Fach zu wecken. Dazu gehört auch, dass Sie außerhalb der Lehrveranstaltungen präsent sind. Sie müssen nicht bei allem mitmachen und in jedem Kolloquiumsvortrag sitzen (auch wenn das eigentlich zu Ihrem Amt dazu gehört), aber eine präsente Dozentin ist präsent dadurch, dass sie auch sonst in verschiedenster Weise »da« ist. Fazit: Es gibt nur Gewinner bei dem allseitigen und gemeinsamen Versuch, sich selbst und Ihre Kolleginnen in ihrer Lehre zu verbessern. Lassen Sie in Ihrem diesbezüglichen Bemühen und darin, dass Ihre Kolleginnen, vor allem die jüngeren, das Beste aus sich machen, niemals nach! Lassen Sie sich durch missliebige, schlecht gelaunte und resignierte Kolleginnen nie entmutigen! Leben Sie vor, was für eine Dozentin Ihrer Meinung nach ein Ideal ist, nach dem man streben sollte, auch wenn Sie selbst nicht immer dieses Ideal erreichen. Aber zeigen Sie, was es heißt, sich »immer strebend zu bemühen«! 190

5. Konkrete Ratschläge zur Selbstverbesserung

Anhang 1: Analytische und kontinentale Philosophie in der Lehre

Die Unterscheidung zwischen den Lagern der »analytischen« und der »kontinentalen« Philosophie hat die philosophische Landschaft weltweit in den letzten 50 Jahren mehr als alles andere geprägt und verändert. Im Jahre 2019 scheint diese Abgrenzung vielen überwunden oder obsolet; allerdings ist sie institutionell noch durchaus gültig und wichtig, auch in Deutschland und dem Rest Europas. Welche Bedeutung hat sie für die Lehre?

1. Zur Unterscheidung von »analytischer« und »kontinentaler« Philosophie Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte, Entstehung und philosophische Bedeutung von »analytischer« und »kontinentaler« Philosophie aufzurollen. Die Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde von diesem Schisma dominiert, wobei die sogenannte analytische Philosophie lange Zeit eindeutig die Oberhand hatte und die sogenannte kontinentale Philosophie immer mehr in die Defensive geriet. Die Teilung ging einerseits vom Siegeszug der sprachanalytischen Philosophie im Zuge des Linguistic Turn vor allem in England ab den Zwanzigerjahren aus (inspiriert durch Philosophen wie Russell, Carnap, Wittgenstein und andere), der als Überwindung der herkömmlichen Metaphysik und Philosophie alten Stils gefeiert wurde. Die Dominanz der analytischen Philosophie war daher in erster Linie ein Phänomen der englischsprachigen Länder, wobei sie durch die Durchsetzung des Englischen als Wissenschaftssprache nach dem Zweiten Weltkrieg auch zu einem weltweiten Phänomen wurde. Deutschland und mehr noch Frankreich haben sich dieser Tendenz länger als andere Länder widersetzt (mehr etwa als die Niederlande oder die skandinavischen Länder, in denen die englische Sprache im Wissenschaftsbetrieb fraglos dominiert). Allerdings ist die Dominanz der analytischen Philosophie auch (hochschul-)politischer Natur, vor allem in Nordamerika, wo die 191

analytischen Philosophen sich nach dem Krieg formierten und sowohl in den Departments wie den Organisationen, etwa der American Philosophical Association (APA), wichtige Posten einnahmen. Man kann sagen, dass der Höhepunkt dieser Machtposition im angloamerikanischen Diskurs ungefähr von den Siebziger- bis in die Neunzigerjahre reichte. In Deutschland und Frankreich war die kontinentale Philosophie bis dahin noch vorherrschend (so sehr, dass man als Student noch studieren konnte, ohne je den Begriff »analytische Philosophie« zu hören), wurde aber ab ca. der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts (vor allem in Deutschland) weit zurückgedrängt, so dass die weltumgreifende Dominanz der analytischen Philosophie den Kontinent mit einer Verzögerung von ungefähr einem halben Jahrhundert erreichte. Man kann beide Richtungen der Philosophie, deren Motivation (behaupte ich) in erster Linie institutionell und politisch ist (weil es in beiden Fällen letztlich um Stellen geht), nicht diskutieren, ohne kurz auf die inhaltlichen Unterschiede einzugehen. Eine Charakterisierung ist jedoch nicht möglich, ohne den polemischen Unterton mitzureflektieren, der die Charakterisierung der jeweils anderen Position begleitet: auf der einen Seite, seitens der »Kontinentalisten«, der Vorwurf, dass die mikroskopischen Feinanalysen der analytischen Philosophie dazu führten, dass sie sich nicht mehr traue, die »ganz großen« Fragen der Philosophie anzugehen. Auf der anderen Seite der Vorwurf der »Analytiker« an die kontinentale Philosophie, sie sei begrifflich vage und bis zur Ergebenheit orientiert an den großen Namen und deren Auslegung, worin sich die Philosophie erschöpfe. Zunächst kann man fragen, ob es diese Unterschiede überhaupt gibt und ob die Unterscheidung philosophisch gesehen nicht vollkommen oberflächlich oder gar willkürlich ist. Kann man ernsthaft philosophisch von zwei verschiedenen Richtungen der Philosophie sprechen, die sich gegenseitig pejorativ bewerten, oder ist es einzig philosophisch redlich, von guter und schlechter Philosophie zu reden? Und wer entscheidet darüber, wer redlich genug ist, schlechte von guter Philosophie unterscheiden zu können? Um eine kurze historische Reminiszenz einfließen zu lassen, die schon einen inhaltlichen Hinweis gibt auf die Unterscheidung beider Richtungen und auch auf die Bedeutung für die Lehre, darf ich an meine Studienzeit in den Neunzigerjahren an den traditionsreichen 192

Anhang 1: Analytische und kontinentale Philosophie in der Lehre

Universitäten Freiburg und Heidelberg erinnern, also an »kontinentalen« Hochschulen im besten Sinne des Wortes. Meine philosophische Ausbildung (den Begriff »analytische Philosophie« hörte ich, glaube ich, überhaupt erst nach meinem Magisterexamen) konzentrierte sich ausschließlich darauf, die Worte der Klassiker zu verstehen. Klassische Texte der Philosophie und ihre Verfasser (in überwältigender Mehrheit Männer) wurden als Heiligtümer angesehen. Es ging darum, die Texte so zu verstehen, wie der Autor sie gemeint hatte. Dies ging so vor sich, dass man versuchte, sich in die Position des Autors zu versetzen und die Texte immanent, aus einer auktorialen Perspektive, zu verstehen. Ob der Autor recht hatte und ob die Position plausibel war, waren zwar keine verbotenen Fragen, aber kamen allenfalls am Ende, wenn das Handwerk des Interpretierens zu einem ersten (wohl auch nur vorläufigen) Ergebnis gekommen war. Es ging darum, die Argumentation und Behauptungen des Autors bzw. Textes zu rekonstruieren. Kritikern, die »von außen« kamen und allzu fix ihre Einwände vorbrachten, wurde schnell das Wort abgeschnitten. Dazu kam, dass diese Texte zumeist schon älter bzw. sehr alt waren (wenn man an die Antike denkt) und daher die Frage, was diese Texte für uns heute bedeuten könnten, als eher abwegig angesehen wurde. Die Frage der Anwendung war eher nebensächlich und wurde als die Unwilligkeit von Studentinnen aufgefasst, sich den Texten ganz hinzugeben. Diese Frage galt eher als billiges Mittel, um die Klassiker in ihrer Bedeutung herabzusetzen und ihren Wahrheitsanspruch nicht vollkommen ernst zu nehmen. Sah man ihre Bedeutung nicht, war das unser Problem. Den Studentinnen, die ungeduldig fragten, was das nun »für uns heute« bedeutete, konnte man schnell entgegnen: »Lass uns doch erst einmal den Text rein immanent verstehen«. Nicht trivial ist vielleicht der Hinweis, dass die Dozierenden in ihrer großen Mehrzahl Männer waren. Wenn einer von ihnen nicht korrekt gekleidet erschienen wäre (wobei die philosophen-typische äußerliche Nachlässigkeit freilich zum guten Ton gehörte), hätten wir Studentinnen sie nicht ernst genommen. Zur Philosophie im klassischen Stil gehörten »bürgerliche« Umgangsformen und dazu auch die entsprechende Kleidung. Ein Dozent in zerrissenen Jeans oder

Anhang 1: Analytische und kontinentale Philosophie in der Lehre

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Schlabber-T-Shirt hätte keine Autorität besessen.1 Eher erlebte man Philosophen dieser letzteren Sorte als Gäste aus den »analytischen« Ländern, über die man sich gern lustig machte. Wenn also eine erste Charakterisierung der kontinentalen Philosophie erfolgen sollte, so wäre sie dies: ehrfurchtsvolles Versenken in die Klassiker der Philosophie, in der Absicht, sie aus sich selbst heraus zu verstehen. Dies setzt freilich einen anerkannten philosophischen Kanon und ein gewisses Philosophieverständnis voraus, das aus einer etwas merkwürdigen Mischung aus Historizität und Ahistorizität bestand: Einerseits muss die Abfolge der Klassiker historisch sein, weil jeder große Philosoph in seiner Weise auf seine Vorgänger reagiert und auf ihnen aufbaut, also nicht aus einem Vakuum heraus seine Position entwickelt. Andererseits ist das, worüber die Philosophen sprechen, nicht an ihre historische Epoche gebunden, sondern sie alle wachsen jeweils über ihre Epoche hinaus und steigen in einen Platonischen Himmel auf, wo es um die Wahrheit selbst geht (also »truth with a capital T«, wie Rorty sagen würde). Diese Sichtweise der Philosophiegeschichte, die manchen vielleicht als selbstverständlich vorkommt, wurde von den Neukantianern im 19. Jahrhundert entwickelt und »Problemgeschichte« genannt. Der Titel »kontinentale Philosophie« wurde wohl in erster Linie deswegen verwendet, weil man damit in der Hauptsache von Philosophen redete, die auf dem europäischen Festland lebten, und weil diese Art von Philosophie vor allem auf dem Festland betrieben wurde (hierzu zählt auch im weiteren Umkreis: Klassikerlektüre, Hermeneutik, die vor allem in den Literaturwissenschaften, der Geschichte und in der theologischen Exegese Anwendung fand). Demgegenüber lehnt die analytische Philosophie, die jenseits des Kanals (wie man um 1900 sagte) – unter Mithilfe von Philosophen aus Wien – entwickelt wurde, den traditionellen Ansatz, dass es in der Philosophie um Probleme geht, ab. Stattdessen seien, recht betrachtet, philosophische Probleme in Wahrheit der Verwirrung der Sprache geschuldet. Der viel beschworene linguistic turn, der die analytische Ein gemeinsamer Studienfreund hat mich auf eine Ausnahme hingewiesen: Christian Strub. Allerdings beeinträchtigt dies mein oben gezeichnetes Klischee nicht. Denn obwohl er unter anderem antike Philosophie lehrte, war er analytisch trainiert. 1

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Anhang 1: Analytische und kontinentale Philosophie in der Lehre

Philosophie begründete, besteht in der Auffassung, dass das, was traditioneller Weise als Problemgeschichte der Philosophie angesehen wurde, in Wahrheit sprachlicher Natur ist und dass Probleme mit der richtigen Sprachanalyse (der Analyse ihrer semantischen und pragmatischen Bedeutungen) therapiert werden könnten. Wenn man meint, auf diese Weise die Uhr der Philosophie auf Null setzen und ganz neu anfangen zu können, dann ist es nicht überraschend, dass Teil dieses philosophischen Selbstverständnisses ist, dass die Geschichte der Philosophie irrelevant sei und man nichts von ihr lernen könne. Vor dem linguistic turn habe es eben keine Philosophie im neuen, recht verstandenen Sinn des Begriffs gegeben. Wenn man Philosophie betreiben wolle, könne man nicht nur nichts von den vorsintflutlichen Philosophen lernen; man solle sich sogar aktiv von ihnen fernhalten. So ist die traditionell ahistorische Haltung der analytischen Philosophie der ersten und zweiten Generation zu erklären. Hinzu kommt das Paradigma der schriftstellerischen Klarheit, wie sie am besten in der englischen Sprache etabliert ist. Die sprachliche Präzision und Deutlichkeit, die alle der Sprache geschuldeten Zweideutigkeiten und alle Rhetorik bewusst vermeiden will, grenzt sich damit ab von einer philosophischen Prosa, die (angeblich bewusst) unklar, undeutlich, rhetorisch gewandt ist und sogar ins Poetische abgleitet. Das Problem war freilich, dass der linguistic turn spätestens mit der dritten Generation der Philosophen, die aus dieser Tradition stammen, als überwunden galt und damit das philosophische Grundparadigma ersatzlos wegfiel. Das Resultat war aber nicht der Niedergang dieser Tradition, sondern die Fortschreibung des Stils (der Klarheit, Deutlichkeit, Eindeutigkeit) zusammen mit der gleichbleibenden Nichtberücksichtigung der Geschichte des eigenen Fachs. Ich scheue mich hier, inhaltliche Gesichtspunkte zu nennen – etwa die Ablehnung von apriorischen Wahrheiten zugunsten eines durchgängigen Empirismus oder Naturalismus –, weil diese Punkte zu umstritten sind und selbst Gegenstand von Debatten waren (und immer noch sind). Trotz aller Unklarheit über das gültige Paradigma dessen, was inhaltlich die analytische Philosophie auszeichnete, hat sie sich dennoch auf beeindruckende Weise bis heute gehalten, wobei ich neben dem stilistischen Kriterium und der Ablehnung des Studiums historischer Texte um ihrer selbst willen noch einen Punkt nenne, nämlich Anhang 1: Analytische und kontinentale Philosophie in der Lehre

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die Idee der Kontinuität mit den Wissenschaften (»Naturalismus«, wenn man diesen Begriff hierfür wählen möchte), die impliziert, dass man auch in dieser Wissenschaft tatsächlich Fortschritte machen könne bzw. von der Idee des Fortschritts bestimmt sei, weshalb man, wenn man richtig philosophiere, immer am cutting edge orientiert sein müsse und nicht hoffen könne, von älteren Texten etwas zu lernen. Eine weitere Säule der analytischen Philosophie ist daher der wissenschaftliche Stil, also die Vorstellung bzw. der »Traum« (Husserl), Philosophie könnte Ergebnisse liefern und echte Fortschritte machen im Stile der exakten Wissenschaften. Daraus ergibt sich eine fundamentale Kontinuität zwischen Leben, Wissenschaft und Philosophie, und alle drei Lebensformen sollten durchdrungen werden vom gesunden Menschenverstand, dem sensus communis oder common sense. Dem steht die »kontinentale« These – so würde ich behaupten – von der fundamentalen Diskontinuität beider gegenüber. Danach hat die Philosophie ihre eigene Domäne, ihre eigenen Fragen und Behandlungsarten derselben, und diese haben eine ganz andere Bedeutung als die Fragen, die die Wissenschaften beantworten können. »Was ist der Sinn des Lebens?« ist keine Frage, die je eine Wissenschaft wird beantworten können, und die mögliche Antwort, die die Philosophie (hier anders als Religion oder Dichtung) geben kann, kann keinesfalls in die Sprache einer positiven Wissenschaft übersetzt werden (oder falls dies versucht oder gar getan wird, nur unter Verlust des Wesentlichen). An meiner etwas pointierten Darstellung sehen Sie, dass ich beide Charakterisierungen nicht vollständig ernst nehmen kann. Und überhaupt fällt es schwer, stichhaltige inhaltliche (also robuste, übers Stilistische und den Habitus hinausgehende) Kriterien zu finden, mit denen man beide Richtungen mit guten Argumenten voneinander abgrenzen kann. Welche Debatten hier geführt wurden und werden, kann an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden. Auch die Verlagerung der Debatte um den Unterschied zwischen inhaltlichen und stilistischen Fragen (also vermeintlich deutscher »Tiefsinn« hie, englischer »Klarsinn« da2, um wiederum Klischees zu zitieren), Ich entnehme diese Begriffe dem trefflichen Aphorismus von Arthur Schnitzler: »Tiefsinn hat nie ein Ding erhellt; Klarsinn schaut tiefer in die Welt.« 2

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Anhang 1: Analytische und kontinentale Philosophie in der Lehre

scheint mir nicht vollständig überzeugend, da man genügend Beispiele für »Abweichler« in beiden Gruppen finden kann. Ich will mich also gar nicht erst auf die inhaltliche Debatte einlassen – auch wenn man sich aufs Stilistische verlagert, gerät man schnell auf Abwege und Sackgassen. Daher lasse ich bewusst jedwede philosophische Unterscheidung beiseite. Sinnvoller erscheint es mir, die Trennung für eine institutionspolitische zu halten. Ob sie ursprünglich so motiviert war, kann ich nicht beurteilen, es scheint mir eher nicht der Fall zu sein. Aber dass sie irgendwann dazu wurde und heutzutage (noch) ist, ist unbezweifelbar, weil es um Macht, Einfluss und letztlich auch um Ressourcenzuweisungen geht. Ein Blick in die unmittelbare Geschichte der philosophischen Landschaft Nordamerikas kann dies illustrieren. Wie gesagt haben die analytischen Philosophen die Szene nach dem Krieg dominiert, was sich an der Gestaltung der drei großen Tagungen der APA über das Jahr hinweg und der Formierung der großen Zentren der Philosophie an den großen Forschungsuniversitäten ablesen lässt. Man muss nur die Programme der APA-Tagungen in diesen Jahren durchsehen – alle inzwischen online –, um diese Tendenz bestätigt zu finden. Die Dominanz der analytischen Philosophie lässt sich auch, und weiterhin, daran erkennen, dass sich nur wenige Departments dem Mainstream verweigerten bzw. von ihm abgrenzten. Mehr als ein Dutzend gab es in einer Universitätslandschaft von über 3000 Universitäten allein in den USA nie, und sie wurden als kontinentale Ausnahmeerscheinungen angesehen. Institutionspolitisch wurde dies an der Berufungspraxis deutlich und an der Gestaltung der meisten Departments, die nach »Lines«, d. h. (mehr oder weniger gleichen) Positionen, und nicht nach Lehrstühlen (mit ihrem »Tross«) organisiert sind und in der großen Mehrzahl analytische Philosophinnen aufwiesen mit der gelegentlichen Ausnahme einer Kontinentalphilosophin, die für den Existentialismus-Kurs (in humanistischen Curricula ein weithin beliebter Kurs) zuständig war. Philosophinnen kontinentaler Ausrichtung hatten also, in der Hochphase der Dominanz der analytischen Philosophie, weder auf den großen Tagungen

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noch in den meisten Departments etwas zu suchen und waren die seltene Ausnahme.3 Dieser Trend hat sich, wenig überraschend, von Nordamerika aus auf die ganze Welt ausgebreitet, wenn auch mit Verzögerung. Ich wage zu behaupten, dass Deutschland jetzt da ist, wo Nordamerika vor ca. 20 Jahren war. Und damit sind wir in der Gegenwart und ihrer eigentümlichen Situation, in der wieder alles ins Schwimmen gerät, angekommen.

2. Analytische und kontinentale Philosophie heute Seit ca. 2000 setzt eine ernsthafte Debatte darüber ein, die unter dem Banner »overcoming the continental/analytic split« läuft. Vor allem in Kreisen der analytischen Philosophie begannen Philosophinnen in den letzten 20 Jahren, ihre eigenen Paradigmen und Methoden zu überdenken, weil sich der Konsens durchsetzte, dass es solche Paradigmen und paradigmatische Methoden eben nicht mehr gibt, was an den großen Philosophinnen dieser Tradition lag (etwa Quine und anderen), die grundsätzliche Paradigmen dieser Tradition in Frage stellten bzw. als sinnlos widerlegten. Hierdurch öffnete sich ein Weg, der für traditionelle analytische Philosophinnen ganz ungangbar war, nämlich der Weg in die Geschichte der Disziplin, zunächst einmal zum Zweck einer Rekonstruktion der eigenen Tradition, zunehmend aber dann, um Vorgänger in der Philosophie positiv zu würdigen. Dies hat dazu geführt, dass auf einmal Philosophinnen der traditionellen Philosophiegeschichte mit der bekannten »analytischen Schärfe« behandelt und aus ihrer oftmals verkrusteten Forschung herausgelöst wurden.4 Auch zeigt sich eine Tendenz, die der Philosophiehistori-

Eine Ausnahme bildeten hierbei die katholischen Universitäten, die, nicht überraschend, immer einen Platz für Philosophiehistoriker (vor allem zu Antike und Mittelalter) hatten sowie für klassische Kontinentalphilosophen, die entweder (wie etwa Husserl) als Vertreter neuplatonischer Positionen angesehen oder (wie etwa Heidegger) für verkappte Theologen gehalten wurden. 4 Hierbei sind »Philosophinnen« durchaus wörtlich zu nehmen, denn ein Teil dieser Verkrustung bestand unter anderem darin, dass nur die kanonischen männlichen Figuren behandelt wurden. Ein großer Teil der gegenwärtigen his3

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kerin bisweilen etwas naiv anmutet, nämlich Probleme der Gegenwart auf Philosophen der Tradition anzuwenden und hierbei die Tradition nicht in ihrem Eigenrecht wahrzunehmen, sondern eher als »Steinbruch« für ausgetüftelte Argumente oder Denkfiguren, die man dem ursprünglichen Corpus für eigene Zwecke entnimmt. Gleichzeitig ist auf der »kontinentalen« Seite eine Öffnung hinsichtlich der analytischen Seite zu beobachten gewesen, spätestens ungefähr seit dem Moment, als Derrida im Jahre 2007 starb (um es an einem Datum festzumachen, übrigens starb in diesem Jahr auch Rorty) und damit eine gewisse historische Zäsur wahrnehmbar wurde (die von manchen aus diesem Lager gefeiert wurde), weil der Stil der intentionalen Obskuranz nun endlich eine Sache der Vergangenheit wäre. Äußerlich wahrnehmbar wurde dies durch die neuen Trends in diesem Lager, die die lange Dominanz Heideggers und der französischen Postmoderne durch eine Zuwendung zu eher »nüchternen« Philosophinnen, etwa Husserl, zurückdrängten. Die beiderseitige Öffnung für die jeweils andere Tradition hat neue »Säulenheilige« hervorgebracht, die für die Überwindung der Spaltung stehen, also etwa die Mitglieder der Pittsburgh School (McDowell, Brandom), die positiv an Kant und Hegel anknüpfen, oder etwa Rorty, der als strammer Analytiker anfing, aber zu einem der härtesten Kritiker der analytischen Philosophie wurde. Und so sehe ich die Situation in der Gegenwart, was diese Diskussion betrifft, im Wesentlichen zweigeteilt in die, die eine Überwindung des Schismas gutheißen und lebhaft begrüßen (hierzu zählt sich der Verfasser); und andere, die (von beiden Seiten her) diese Versuche bedauern und sich lieber eine klare Grenzziehung wünschen, wie sie damals, im »Kalten Krieg«, noch herrschte, als das Feindbild klar definiert war. Ein Argument der »Kalten Krieger« dürfte sein, dass durch das Schisma die Philosophie selbst reichhaltiger und differenzierter wird, was für die Sache der Philosophie selbst gut ist. Für diese Haltung ist es aber notwendig, Argumente oder Kriterien zu finden, die beide Gruppen eindeutig definieren. Ein etwas zynisches Argument wäre, dass man in den Zeiten des »Kalten Krieges« den Feind genau kannte

torischen Forschung bemüht sich – endlich – um eine Würdigung der nicht unbeträchtlichen Zahl an weiblichen Philosophinnen, etwa der frühen Neuzeit. Anhang 1: Analytische und kontinentale Philosophie in der Lehre

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und die Abgrenzung dagegen die eigene »Festung« stärkt. Und letztlich haben die Kalten Krieger aus dem Lager der Analytiker mehr zu verlieren (gehabt), nämlich den institutionspolitischen Einfluss, den sie viele Jahre fast ausschließlich innehatten. Es ist kein Zufall, dass jemand wie Brandom in Deutschland gefeiert wird (zu Recht oder Unrecht – er hat jedenfalls unter uns Hegel wieder salonfähig gemacht), während er in den USA nie zum Mainstream gehörte, trotz aller Preise und Ehrungen aus vielen Ländern, einschließlich seines Vaterlands.

3. Analytische und kontinentale Ausrichtungen in der Lehre? Wie wirkt sich diese Unterscheidung nun in der Lehre aus? Um zwei Extrempositionen vorzutragen, mit denen ich beiderseits nicht einverstanden bin: Da wären einmal diejenigen, die am liebsten so tun würden, als gäbe es diese Geschichte in der Philosophie des 20. Jahrhunderts gar nicht. Sie würden am liebsten die Klassiker (deren letzter um 1927 herum erschien) so weiter lehren, wie es bisher getan wurde, und die Tatsache, dass die analytische Philosophie die Dominanz beansprucht und kein Interesse an vor etwa 1920 erschienenen philosophischen Werken hat, ignorieren. Ich kenne Kollegen, die (auch auf Graduiertenniveau) die Klassiker lehren, als hätte es Literatur nach 1900 dazu nicht mehr gegeben. Da wären andererseits diejenigen, die Philosophie gern einfach nahtlos weiter rein vom analytischen Standpunkt aus betreiben würden. Das heißt, sie würden am liebsten die »Klassiker« und ihre Interpretation, wie sie die kontinentale Seite bisher betrieben hat – enge und immanente Textanalyse –, unter den Tisch kehren. Es lebt hier das alte Paradigma, dass Philosophie im ernstzunehmenden Sinne vor ca. 1920 nicht existierte. Beide Positionen halte ich für naiv. Fangen wir mit den Kontinentalphilosophinnen an: Diese sind zwar insofern zu loben, als sie den Sinn für die Klassiker der Philosophie weiterleben lassen wollen, denn diese lohnt es sich immer zu studieren; sie sind nicht zu Unrecht Klassiker, auch wenn man den »Kanon« stets überprüfen sollte bzw. immer wieder überlegen sollte, ob hier nicht Werke fehlen, eventuell weil sie jüngeren Datums sind (Quines Two Dogmas; Sellars’ Empi200

Anhang 1: Analytische und kontinentale Philosophie in der Lehre

ricism and the Philosophy of Mind etwa). Aber was diese Haltung naiv macht, ist, dass ihre Vertreterinnen die Praxis der Philosophie, wie sie in der Forschung in weiten Teilen der Welt nunmehr betrieben wird, damit völlig ignorieren. Wer seine Studentinnen in die Philosophie einführt, ohne auf dieses Schisma und die andere Seite hinzuweisen, erzieht selbige zur gleichen Naivität, die sie selbst an den Tag legen. Darüber hinaus halten sie sie auch bezüglich eines sehr großen Anteils der gegenwärtigen Philosophie völlig im Dunkeln. Diese Haltung ignoriert weiterhin, dass es auch in jüngerer Zeit Klassiker der Interpretation gibt, die aus dem »anderen« Lager stammen, die, wenn man sie nicht kennt, den Anschluss zwischen Klassikern und solchen Autorinnen, die zwar aus der analytischen Tradition kommen, aber dabei die Tradition des betreffenden Klassikers auf ihre Weise und häufig sehr kreativ fortschreiben möchten und hierbei sehr kreativ weiterphilosophieren, wobei manchmal auf sehr gesunde Weise bestimmte Teile der Philosophiegeschichtsschreibung ignoriert werden. Zu solchen modernen Klassikern der Forschungsliteratur zähle ich etwa Dreyfus’ Being-in-the-World von 1991, ein Buch, das eine ganze Generation, wenn nicht mehrere, von aus der analytischen Tradition stammenden Forscherinnen beeinflusst hat.5 Die analytischen Philosophinnen – die »Betonkopf«-Variante, die allerdings immer seltener wird – sind insofern naiv, als sie geschichtsblind sind. Ihnen ist anscheinend nicht bewusst – oder sie tun zumindest so –, dass die Probleme, mit denen Gegenwartsphilosophen sich auseinandersetzen, auch vor 1920 schon existiert haben. Nun ist der Verweis darauf, dass »Leibniz das auch schon gewusst

Was das Ignorieren bestimmter Lesarten betrifft, welches eher erfrischend und ggf. befreiend wirkt, meine ich etwa den Gegensatz – um beim gleichen Autor zu bleiben – zwischen dem Großteil der Heideggerforschung in Deutschland und im Ausland. Während in Deutschland das Heidegger-Bild seit der Veröffentlichung der »Schwarzen Hefte« vielleicht für immer braun gefärbt sein wird, sind es stets Interpretinnen anderer Länder vor allem in der westlichen Hemisphäre, die sich ihr Heideggerbild dadurch nicht zerstören lassen und um die nationalsozialistische Last unbesorgt sind. Ich habe gewiss wenig Sympathie für Heideggers nationalsozialistische Tendenzen und würde vielleicht so weit gehen, für die Untrennbarkeit von Werk und Person zu argumentieren; dennoch sind die Leistungen dieser »neuen« Heideggerianer insbesondere aus Nordamerika beachtlich und beeindruckend. 5

Anhang 1: Analytische und kontinentale Philosophie in der Lehre

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hat«, an sich kein Argument dafür, Leibniz zum in Rede stehenden Problem zu konsultieren. Aber so zu tun, als ob in der Philosophie ein radikaler Bruch stattgefunden habe, der das, was davor gedacht wurde, komplett obsolet macht, ist schlichtweg falsch, und wer sich hierauf versteift, tut damit nur seine historische Unkenntnis kund. Hierauf muss man nicht näher eingehen. Nun sind beide Positionen, in dieser Rigidität und schroffen Gestalt dargestellt, wechselseitig voneinander entfremdet und stehen sich zum Teil feindselig gegenüber, was bedauerlich ist. Meine Meinung, wie man diese Thematik behandeln sollte, siedelt sich jenseits der Unterscheidung an, und meine Empfehlung ist die folgende: Man kann den Bruch nicht unthematisiert lassen. Er gehört zur Geschichte der neueren Philosophie hinzu wie die Kopernikanische Wende Kants, wobei es hierbei eigentlich in beiden Fällen gleichgültig ist, wie man zu selbiger steht. Sie aber unerwähnt zu lassen, ist unverantwortlich, wenn man einigermaßen gerecht die Geschichte der Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts (im Falle Kants) und des 20. und 21. (im Falle der Spaltung zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie) referieren will. Die Frage ist, wie und vor allem wann man diese Episode thematisiert. Für Studienanfängerinnen ist das Thema gewiss nicht geeignet. Bei ihnen geht es in erster Linie darum, einen Sinn und eine Begeisterung für das Fach zu erwecken, am besten damit, dass man konkrete philosophische Fragen und deren Antworten diskutiert, wobei man sich hier – es sei denn, man gibt ein Seminar zu einem bestimmten Text oder Autor – eher des analytischen Philosophiestils bedienen sollte, also eine reine Diskussion der Argumente und Thesen. Ein Argument ex cathedra für wichtig zu erklären, weil es von einem der Säulenheiligen stammt, halte ich für vollkommen unangebracht. In Anfängerseminaren sollte man darauf hinweisen, dass es völlig gleichgültig ist, wer das nun gesagt habe, ob nun Platon oder Kant; die auctoritas autoris sollte man zu Anfang frech verachten. Gerade Anfängerinnen sollte die Freude an der Philosophie nicht durch paternalistische Sätze wie: »Nicht so schnell, lesen Sie erst einmal die Kritik der reinen Vernunft, bevor Sie das sagen!« oder: »Einen großen Philosophen wie Kant kann man doch nicht mit so einer billigen Kritik abtun!« oder »Sie argumentieren hier gegen 200 Jahre Forschungsliteratur!« vergällt werden. 202

Anhang 1: Analytische und kontinentale Philosophie in der Lehre

Spätestens in fortgeschrittenen Seminaren aber sollte man in das Schisma einführen und wie es die jüngste Philosophie beeinflusst hat. Dies ist Teil der Akkulturierung in die Disziplin, die u. a. auch darin besteht, gewisse Moden und Tendenzen zu kennen und sie zu reflektieren. Die Aufspaltung zwischen der analytischen und der kontinentalen Richtung ist, wie man im Nachhinein sagen kann, Ausdruck einer gewissen Mode gewesen, die, auch wenn sie durch eine neuere Mode abgelöst wurde, dennoch die Disziplin in den letzten Jahrzehnten bestimmt und geprägt hat, unter anderem weil sie gewisse Kuriositäten hervorgebracht hat, die man anekdotenhaft einfließen lassen kann. Gerade wenn man damit beginnt, sich in bestimmte Autoren oder Themen zu vertiefen, taucht die Frage nach »analytischen« oder »kontinentalen« Lesarten rasch auf, und das Mindeste hier ist meines Erachtens, darauf zu verweisen, dass es diese unterschiedlichen Annäherungsweisen gibt und dass man diesen Unterschied nicht ignorieren sollte, auch wenn man zu dem Schluss kommt, dass er für das in Rede stehende Problem letztlich irrelevant ist. Aber auch hier ist wieder der Hinweis wichtig, dass es – leider oder gottlob – in der Vergangenheit zwei Parallelwelten gab, die einander zum größten Teil ignorierten oder sogar feindlich gegenüberstanden. Auch die Philosophie, die Disziplin, die nach dem »Ewigen« strebt (sofern man das überhaupt behaupten möchte – jedenfalls versteht sie sich zumeist als abgehoben vom »normalen« Wissenschaftsbetrieb), ist Moden unterworfen. Irgendwie müssen Sie sich selbst letztlich hierzu positionieren. Nun zur Frage nach dem Wie. Meine Darstellung des Schismas habe ich objektiv-deskriptiv anzulegen versucht, sofern die Darstellung die jüngere Geschichte des Fachs richtig wiedergibt. Das empfinden Sie vielleicht nicht so, und das sei Ihnen zugestanden. Vielleicht passt Ihnen die historische Erklärung nicht; vielleicht nicht meine Charakterisierung. Machen Sie es, wie Sie es für richtig halten. Aber tun Sie nicht so, als gäbe es das Schisma nicht. Selbst eine Positionierung jenseits des Schismas ist nur möglich, wenn man auf beide antithetischen Positionen reflektiert. Aber merken Sie wohl, dass ich im Jahre 2019 schreibe: Vielleicht ist das Schisma schon in zehn, zwanzig Jahren eine historische Kuriosität. Vielleicht sind die institutionellen Strukturen doch stärker und halten es am Leben. Vielleicht freuen Sie sich über sein baldiges Verschwinden, sofern sie nicht zu der Anhang 1: Analytische und kontinentale Philosophie in der Lehre

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Fraktion gehören, die vielleicht ganz untergeht; vielleicht graut Ihnen davor, dass Ihnen der Untergang droht; aber in die Zukunft blicken können wir nicht. Daher ist das, was ich hier schreibe, extrem zeitgebunden. Es ist gut möglich, dass in zwanzig Jahren keiner mehr verstehen wird, dass ich dem überhaupt Platz einräume (was ein indirekter Beweis für meine These vom ephemeren Charakter dieses Schismas wäre). Ich persönlich würde mich darüber freuen. Aber das ist nur meine Meinung.

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Anhang 1: Analytische und kontinentale Philosophie in der Lehre

Anhang 2. Zur ewigen Orientierung an den USA

Wenn es darum geht, Vorschläge zur Verbesserung der Situation der Universitäten in Deutschland (oder Europa im Allgemeinen) einzubringen, geschehen zumeist zwei Dinge: Erstens wird auf die angeblich phantastische Situation in den USA verwiesen und man sucht dort nach Ideen oder Vorbildern. Zweitens erhebt sich fast im gleichen Atemzug der Chor derjenigen, die die ewige Orientierung an den USA anprangern und mit verschiedenen Argumenten darauf verweisen, dass (a) die USA und Deutschland (oder Europa im Ganzen) nicht zu vergleichen seien und man (b) diese ewigen Vergleiche nicht anstellen sollte, um »bei uns« nicht »amerikanische Verhältnisse« zu bekommen. Hierbei wird sich in beiden Fällen Klischees bedient bzw. schnell verfügbarer Feindbilder zur Stärkung der eigenen Position. Philosophinnen sollten nicht in die Denkmuster und die Rhetorik von Politikerinnen verfallen. Vieles läuft falsch, wenn die Diskussion auf diese Weise geführt wird. Auf der einen Seite sind da die USA-Verehrer, die am liebsten alles nach dem amerikanischen Modell umstrukturieren würden. Sie tun dies mit Verweis auf das internationale Renommee der amerikanischen Hochschulen, die weltweit die meisten Erfolge einheimsen (etwa Nobelpreisträger hervorbringen) und in der Forschung einzigartige Verhältnisse und Ausstattungen bieten (vor allem für Naturwissenschaftler bzw. solche, die Labore und andere teure Ausstattung benötigen), von den Gehältern ganz zu schweigen. Die, die so argumentieren, haben nicht unrecht. Das berufliche Leben derjenigen (wenigen) Professorinnen, die an den Elite-Hochschulen in den USA arbeiten (und das gilt auch für Geisteswissenschaftlerinnen), ist in vielerlei Hinsicht mit dem in »old Europe« nicht zu vergleichen. Auf der anderen Seite wird das Niveau der amerikanischen Universitäten, vor allem auf der Ebene der Bachelorausbildung, die das leistet, was im Prinzip die deutschen Gymnasien bereits leisten (bzw. einmal geleistet haben), beklagt. Kritisiert wird außerdem das Geschäftsmodell der privaten Hochschulen in den USA, die ihre Curricula und ihre Forschung nach den reichen Spendern ausrichten und nicht nach dem eigentümlichen (und nicht immer ertragreichen) 205

Gang der Wissenschaft. Die »Vermarktung« der Wissenschaft ist hier der Hauptkritikpunkt. Und auch die, die so argumentieren, haben auf ihre Weise recht. In der Tat: Vieles von dem, was vorgebracht wird, ist richtig, und doch gibt es zahlreiche unglückliche und vermeidbare Missverständnisse, die durch bessere Kenntnisse der Verhältnisse auf der jeweils anderen Seite des Atlantiks vermieden werden könnten. Viel Hilfreiches hat Mark Roche mit seinem – bereits erwähnten – Buch Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten (Meiner, 2014) hierzu beigetragen. Roches Buch bietet einen ausgezeichneten Überblick über das US-amerikanische Bildungssystem, den Vergleich mit Deutschland, Vorschläge, was man übernehmen kann und soll und was besser nicht. Ich verweise hier ausdrücklich darauf und empfehle es denen zur Lektüre, die dieses Thema interessiert bzw. die aufgrund ihrer Position an einer deutschen Hochschule mit dem Thema befasst sind. Was ich im Folgenden ausführe, soll wiederum mehr philosophie-spezifisch sein. Ich greife hierfür ein paar Punkte stichwortartig heraus. Analytisch-kontinental. Diesen Punkt habe ich bereits oben in Anhang 1 angesprochen. Hier ist nur nachzutragen, dass der Schwerpunkt der Philosophie in Amerika (und damit meine ich wiederum Nordamerika, also die USA und Kanada) nach wie vor in der analytischen Philosophie liegt, trotz aller Trends und Moden – einerseits. Dass sich diese Dominanz verringert oder zugunsten anderer Trends modifiziert, ist momentan nicht in Sicht, allem Gerede von der »Überwindung« des Schismas zum Trotz. Trotz der institutionellen Dominanz der analytischen Philosophie ist andererseits philosophisch gesehen die Differenz mehr oder weniger obsolet. Viele analytische Philosophen – vor allem die, die gegenüber der Geschichte der Philosophie offen sind – hegen, wie oben angerissen, neuerdings Sympathie für »kontinentale« Autoren, »sogar« Denker wie Hegel oder Heidegger. Ich prophezeie also, dass die schroffe Gegenüberstellung zweier verfeindeter Richtungen in einem oder zwei Jahrzehnten einem anderen Paradigma Platz machen wird (etwa: »echte«, »harte« Philosophie gegenüber angewandter Sozialphi-

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Anhang 2. Zur ewigen Orientierung an den USA

losophie, die sich mit Geschlecht, Hautfarbe und Sexualität befasst1). Wie man es dreht, hier spielt Nordamerika die Vorreiterrolle, und ob man will oder nicht, wird auch diese Tendenz mit einige Verzögerung den Weg über den Atlantik nehmen und in Europa tonangebend werden. Im Vergleich mit Deutschland ist allerdings festzustellen, dass man hier den Moden der USA, die man einerseits imitieren möchte, andererseits um ca. zwei Jahrzehnte hinterherhinkt. In der Tat ist es in Deutschland so, dass die analytische Philosophie sich immer noch ausbreitet und ihren Höhepunkt wohl noch nicht erreicht hat. Dies liegt unter anderem daran, dass es heutzutage für Jobbewerber fast de rigeur ist, eine Zeitlang in Amerika oder England studiert oder geforscht zu haben. Wer aus dem englischsprachigen Ausland zurückkehrt und nicht – neben ausgezeichneter Englischkenntnisse – etwas analytische Philosophie »im Gepäck« mitgebracht hat, hat – so die gängige Meinung – etwas Wesentliches verschlafen. Aller Kritik an der Amerikanisierung zum Trotz muss man beobachten, dass die Deutschen seit vielleicht einem Jahrzehnt – Musterschüler, die wir sind – in analytischer Philosophie aufgeholt haben. und zwar in einer Weise, wie sie selbst analytisch geprägten nordamerikanischen Philosophinnen im heutigen Zustand wohl zu radikal wäre. Das ist einerseits gut, sofern hochkarätige Forschung hervorgebracht wird, die international Ansehen genießen kann; andererseits schade, weil damit viel übersehen wird. Gerade letzterer Typ von Philosophin in Nordamerika sieht es im Gegenteil mit Verwunderung, dass die Deutschen ihre eigene große Tradition nicht besser schützen oder

Ich will diese letztere Tendenz nicht ins Lächerliche ziehen, im Gegenteil. Was etwa die Philosophie von »Race« betrifft: Für Amerikaner mit ihrer Geschichte der Sklaverei ist die Aufarbeitung dieser Vergangenheit ein ebenso wichtiger Teil ihrer Identität wie für die Deutschen die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit. Dass also gerade Disziplinen wie »Africana Philosophy« oder »LatinX Philosophy« derzeit hohe Konjunktur haben, darf einen nicht überraschen. Ähnliches gilt für philosophische (und nicht nur psychologische oder biologische) Auseinandersetzungen mit Gender und Sexualität. Es ist also zu erwarten, dass weltweit eine stärkere »Lokalisierung« bzw. Fokussierung auf Identitäten auch in der Philosophie einsetzt, also einzelne Länder (oder Bevölkerungsgruppen) sich auf ihre spezifische Geschichte und Tradition fokussieren und diese philosophisch zu betrachten versuchen. 1

Anhang 2. Zur ewigen Orientierung an den USA

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wertschätzen, nach dem Motto: »Für uns ist Schelling komplett unverständlich; aber Ihr könnt das sogar im Original lesen – macht doch etwas draus!« Ich rede hier nicht einer Schelling-Renaissance das Wort (auch mir scheint vieles, was das offenbare Genie verfasst hat, dunkel und undurchsichtig), aber jemand wie Schelling gehört immerhin zum nationalen Erbe, das es zumindest zu ehren gilt (das meine ich überhaupt nicht zynisch). Auf der gerade für jüngere Philosophinnen notorisch schwierigen Suche nach neuen Betätigungsfeldern täten wir Deutsche gut daran, den Reichtum unserer Tradition nicht verlegen zu verschweigen, sondern sich ihm zuzuwenden und mit der heute erwünschten »analytischen Klarheit« zu neuem Leben zu erwecken. Gerade Historikern der Philosophie, die nach »neuen Jagdgründen« suchen, ist die in vielem noch ungehobene und unbearbeitete deutsche Philosophiegeschichte ans Herz zu legen. Umgekehrt kann die Tradition ja selbst kein Argument sein, sondern es muss gute Philosophie produziert werden, also solche, die dem international anerkannten Standard von klarer Argumentation unter möglichster Vermeidung von jargonhafter Sprache und bewusster Dunkelheit genüge tut, und hier kann man sich von analytisch trainierten Philosophinnen »eine Scheibe abschneiden«, die mit dem klaren und schnörkellosen Vokabular alten und nahezu vergessenen Philosophinnen neues Leben einhauchen. Dies geschieht derzeit vornehmlich in der Philosophiegeschichtsschreibung der frühen Neuzeit (ich denke hier an Autoren wie Garber und die Philosophinnen, die sich vor allem den weiblichen Philosophen dieser Epoche zuwenden) oder wird beispielhaft von den Philosophen aus Pittsburgh (Brandom und McDowell) an Hegel vorgeführt. Man mag zwar mit ihren Interpretationen und dem, was sie aus Hegel (und anderen Deutschen) machen, nicht einverstanden sein, aber dass hier wirklich etwas Neues und Aufregendes (und auch »Gewaltsames«) entstanden ist, ist nicht zu leugnen. Hier wäre gegenseitiges Voneinander-Lernen besser als Abschottung und Polemik. Deutsch als Wissenschaftssprache. Der »Amerikanisierungs-« (oder Internationalisierungs-)Trend geht insofern weiter, als das Englische das Deutsche als Wissenschaftssprache auch in den Geisteswissenschaften abzulösen beginnt (oder schon abgelöst hat). Vieles in Deutschland Publizierte ist mittlerweile in englischer Sprache ge208

Anhang 2. Zur ewigen Orientierung an den USA

schrieben, und auf vielen Veranstaltungen wie Tagungen oder Kolloquien wird zum Teil, wenn nicht primär auf Englisch vorgetragen. In diesem Zusammenhang wird oft der Verlust oder die Verarmung des Deutschen als Wissenschaftssprache bemängelt – nicht zu Unrecht, rein historisch gesehen war das Deutsche um 1900 weltweit die dominante Wissenschaftssprache. Weiterhin folgt man Trends aus Amerika: War Hegel lange Zeit ein fast nicht mehr gelesener Autor, boomt er wieder hierzulande, aber erst, nachdem die genannten Philosophen aus Pittsburgh, Chicago und anderswo ihn hierzulande wieder legitimiert haben. Entsprechend ist viel Literatur zu Hegel auch »bei uns« auf Englisch verfasst. Aber auch hier gibt es eine Analogie zur Ausrichtung der Philosophie nach analytischem oder kontinentalem Lager: Man hat in Deutschland oftmals den Eindruck, es gäbe etwas nachzuholen, was Philosophieren auf Englisch betrifft. Ich will hier nicht in das Lamento des »Verlusts der Wissenschaftssprache Deutsch« einstimmen, nur Folgendes zu bedenken geben: Es gibt so etwas wie eine generische Wissenschaftssprache nicht, aber es gibt urwüchsige Sprachen der Philosophie, ich meine solche, in der originale Philosophie produziert wurde und sich zur Tradition herausgebildet hat. Es gibt viele solcher Sprachen, neben dem Englischen und Deutschen auch das Griechische, Lateinische, Französische, Italienische, Spanische, Arabische, von den anderen nicht-europäischen Sprachen ganz abgesehen. Ich will hier sicher nicht die mir absurd erscheinende These aufstellen, dass manche Sprachen besser für die Philosophie geeignet seien als andere. Wohl aber gibt es in manchen, ja vielen Sprachen große, klassische Texte und Traditionen, die mit der Weise, wie sich die jeweilige Philosophie herausgebildet hat (und dazu gehören auch soziopolitische Zusammenhänge), untrennbar verbunden sind. Das Deutsche ist eine solche Sprache, ob man es will oder nicht. Das Deutsche als Sprache der Wissenschaft und Philosophie und Kultur im Allgemeinen ist ein Produkt der europäischen Moderne und der in ihr sich ereignenden Aufklärung. Als Philosophen wie Wolff, Kant und Hegel, deren erste Wissenschaftssprache das Lateinische war, anfingen, auf Deutsch zu schreiben, war das keine Schrulle oder zufällige Idiosynkrasie, sondern hatte für sie mit dem in der Aufklärung einsetzenden Emanzipationsprozess (von kirchlichen und weltlichen Autoritäten) wie auch von Abgrenzungen gegenüber etwa Frankreich bzw. dem Anhang 2. Zur ewigen Orientierung an den USA

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Französischen zu tun (das Gleiche gilt umgekehrt auch für die französischen Autorinnen). Die Argumente Kants und anderer können freilich nicht auf die Sprache, in der sie (manchmal ziemlich krude) abgefasst wurden, reduziert werden; andererseits aber sind die deutschen Klassiker des 18., 19. und 20. Jahrhunderts nicht ohne die (deutsche und deutschsprachige) Geschichte und Kultur, in der sie lebten, zu verstehen. Sie waren Autorinnen, die nicht nur Beiträge zur Philosophie leisteten, sondern in den kulturellen, politischen und sozialen Kontext ihrer Zeit eng eingebunden waren. Sie also auf ihren philosophischen »output« zu reduzieren, was bei denen, die nur Übersetzungen lesen können (und oftmals ist das Nichtphilosophische nicht oder nur in Teilen übersetzt), nicht selten geschieht, verkürzt sie als Kulturpersönlichkeiten des öffentlichen Lebens erheblich. (Und ich beschränke mich hier für den vorstehenden Kontext auf das Deutsche.) Was ist daraus zu schließen? Dass man sich auf das Deutsche zurückbesinnen sollte? Was aber soll »Zurückbesinnung« besagen? Dass man nur noch auf Deutsch philosophiert (im geschriebenen wie gesprochenen Wort) und sich weigert, andere Sprachen zu sprechen oder über Kant, Hegel, etc. in einer anderen Sprache zu sprechen? Das wäre gleichbedeutend mit dem Versuch, das Rad zurückzudrehen, und wäre sicherlich eine absurde Verengung der möglichen Rezeption dessen, was zu diesen Autorinnen gesagt wird. Definieren wir hier also »Rückbesinnung« locker als die Aneignung dieser Autoren und ihre Fortschreibung in der deutschen Sprache. Als Muttersprachler, würde ich sagen, sollte man das tun: Wenn man in der Lage dazu ist, kann nichts die Fähigkeit ersetzen, einen Text in der Sprache, in der er geschrieben ist, zu lesen und zu verstehen (viele Liebhaber dieser Texte, die nur mühsam Deutsch lesen oder lernen, beneiden Sie darum!). Das soll natürlich nicht heißen, dass man sich gegenüber anderen Sprachen abschotten soll. Wer in der heutigen Philosophielandschaft herumkommen will (sowohl lesend als auch schreibend und sprechend), muss gut Englisch können. Dazu gehört auch, dass Studentinnen gutes Wissenschafts- bzw. Philosophenenglisch schriftlich beherrschen müssen (oder, wenn sie dessen nicht mächtig sind, es sich dringend aneignen müssen). Es hängt also davon ab, was man unter »Rückbesinnung« versteht. Auch wenn man nicht umhinkommt, englische Texte zu lesen, wenn man in der gegenwärtigen 210

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Diskussion »mithalten« möchte, heißt das nicht, dass man deshalb die Klassiker in Übersetzung lesen sollte (es gibt Forscher zu Kant, Hegel und anderen, die sich die Mühe, die Primärtexte zu lesen, gar nicht mehr machen). Wohl aber ist es ratsam, sich zumindest ein Vokabelheft (auf Papier oder im Gedächtnis) anzulegen, wie Begriffe wie »Verstand«, »Geist« oder »Erkenntnis« im Englischen normalerweise übersetzt werden (mit den bekannten Varianten, also etwa cognition oder knowledge für Erkenntnis), damit man rasch und mühelos »umschalten« kann. Die Spannung zwischen der Unvermeidbarkeit des Englischen im internationalen Diskurs und der Bewahrung des Deutschen als Sprache der Philosophie (bzw. der Wissenschaft allgemein) besteht leider als Spannung, die man aushalten muss. Man kann meines Erachtens das Dilemma nicht aus der Welt schaffen, indem man entweder die eine oder andere Tendenz verfolgt. Man muss die Situation sehen und, so gut es geht, beide Richtungen »bedienen«. Man kann sich aber auch einfach angewöhnen, zweisprachig zu sein und je nach Kontext beides zu sprechen. Damit hat man die Schere zumindest aus dem eigenen Kopf entfernt. Das ist heute nicht zu viel verlangt, und es sind oftmals vornehmlich Deutsche, die sich hierüber beklagen (denken Sie nur an Länder wie die Niederlande oder die skandinavischen Länder, wo Zweisprachigkeit zur Allgemeinbildung gehört). Ist die Mehrsprachigkeit ein sicher nicht immer zu erreichendes Ideal, sollte man doch zumindest eine missliche Tendenz sich nicht zu eigen machen: die Einsprachigkeit, die oftmals mit naiver Arroganz und schlimmstenfalls mit Ignoranz einhergeht. Aber was bedeutet das nun für die Lehre? Auch hier schlage ich einen doppelten Ansatz vor: Lehre sollte in beiden Sprachen stattfinden, ohne hier einem bestimmten Proporz das Wort zu reden (als internationale Formel: Landessprache + Englisch). Aber Studentinnen sollten in ihrem Studium auch dem Englischen in der Philosophie ausgesetzt sein (von Dozentinnen, die hoffentlich selbst des Englischen mächtig sind). Die Lehre und nicht nur die Lektüre sind hierbei wichtig. Wer die Fremdsprache nur durch Lektüre kennt, kennt sie lediglich als passive, tote Sprache. Im Falle von toten Sprachen wie dem Lateinischen oder Griechischen ist dies freilich in Ordnung. Nicht im Falle des Englischen. Nicht jedem gelingt es, ein oder mehrere Semester im englischsprachigen Ausland zuzubringen (auch Anhang 2. Zur ewigen Orientierung an den USA

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wenn dies wünschenswert wäre), aber jede Dozentin sollte sich ernsthaft überlegen, ob sie nicht ein Viertel (um eine beliebig herausgegriffene Zahl zu nennen) ihres Lehrdeputats auf Englisch anbieten könne, und dies nicht nur im Falle von Oberseminaren für Examenskandidatinnen und Doktorandinnen, sondern bewusst auch in Einführungsveranstaltungen, die jüngere Studentinnen nicht umhin kommen zu belegen (sofern dies gesetzlich erlaubt ist – wenn nicht, ist es Zeit für eine Gesetzesänderung). Je früher Studentinnen mit dem Englischen in der Philosophie (und anderen wissenschaftlichen Disziplinen – und die Philosophie ist hierbei keine Ausnahme mehr) konfrontiert werden, desto eher werden sie geeignet sein, sich zu professionalisieren, desto geringer ist die Hemmschwelle, am internationalen Diskurs teilzunehmen, desto besser sind letztlich die Jobchancen (die einen heutzutage eventuell aus dem Heimatland wegführen). Ist das nun ein »Ausverkauf des Deutschen« als Wissenschaftssprache? Ich meine nicht. Das Deutsche als Sprache der Philosophie – der vergangenen wie der gegenwärtigen – soll erhalten bleiben. Gleichzeitig muss man die weltweite Dominanz des Englischen als Faktum anerkennen und sich in ihm zu bewegen verstehen, in Wort und Schrift. Die Empfehlung also lautet, in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus, schlicht: Just do it (beides)! Zur Hochschulreform. Schließlich noch zum Thema Studien»Reform«, die sich nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa im Zuge des Bologna-Prozesses breit gemacht hat und die zu einer immer stärkeren (scheinbaren) Angleichung an das amerikanische Modell führt. Mir scheint, dass hier der größte Widerstand gegen die sogenannte »Amerikanisierung« vorherrscht. Die Argumentation lautet etwa wie folgt: »Wir (Europäer) hatten ein wunderbares, nach Nation je verschiedenes System und je eine eigene Tradition, die wir zerstört haben, indem wir alles über einen Leisten geschlagen haben (das B.A.– und M.A.-System aus Nordamerika). ›Bologna‹ macht alles konform, und unsere genuin-urwüchsigen Traditionen verschwinden.« Hierzu ist mehreres zu sagen: Im Zuge der Vereinheitlichung Europas ist eine solche Zusammenführung in der Bildungspolitik eigentlich nur folgerichtig. Eine solche Politik fördert die Vereinheitlichung und die kollektive Identität Europas. Wer zu »Europa« 212

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grundsätzlich »ja« sagt und sich nicht in nationalistische Denk- und Verhaltensmuster zurückziehen will, muss auch diesen Schritt prinzipiell gutheißen. Der Bologna-Prozess mag zwar in vielem noch unausgereift sein und voller Anfangsfehler stecken (davon gleich), aber er ist als Prozess, als Auf-dem-Wege-Sein grundsätzlich zu begrüßen und – das vor allem – unumkehrbar geworden. Ein Zurück in die alten Systeme wäre rein organisatorisch wohl unmöglich, zumal die jeweiligen Systeme ihre eigenen alten Studiengänge schon längst »ausgeschlichen« haben. Wer etwa in Deutschland wieder das alte Diplom oder den Magister einführen wollte, müsste wieder bei Null anfangen. Also rate ich: pragmatisch sein und lieber das bestehende System verbessern! Weiterhin ist es ja nicht so, dass »Bologna« vollkommen funktionieren würde und die nationalen Unterschiede beseitigt wären. Das Gegenteil ist (leider) der Fall und die Mobilität ist sogar gegenüber der Zeit vor Bologna zurückgegangen, weil Anerkennungspraktiken zwischen Ländern, ja sogar zwischen Universitäten im selben Land nicht gut (oder manchmal gar nicht) funktionieren. Auch kann man nicht immer sagen, dass die Einführung der neuen Studiengänge die Ausbildung verbessert hätte; zum Teil ist das Gegenteil der Fall.2 Man kann das bemängeln und hierüber missmutig sein, man kann aber auch den alt-europäischen Charme dieses neuen Systems, das an allen Ecken hakt und immer wieder und aufs Neue zurecht geruckelt werden muss, mit mitfühlender Sympathie beobachten und sein Bestes geben, es sich entwickeln zu lassen, bis es zu dem europäischen System geworden ist (das es in Perfektion vielleicht nie geben wird). Auch hier sei der Charme des alten Kontinents in Erinnerung gerufen: dass alles noch nicht so perfekt läuft, dabei aber doch irgendwie funktioniert und man am Ende doch alles ein bisschen gemütlicher macht, ist vielleicht ein selling point gegenüber dem Studium in Nordamerika, das in vielerlei Hinsicht Hektik und Stress pur bedeutet. Wie dem auch sei, auch wenn es bei dieser Reform nominell um eine Internationalisierung (und damit Angleichung an Nordamerika, von woher man das System importieren wollte) ging, so wird das Ein Beispiel hierfür ist der vor allem in Deutschland sehr beklagenswerte Umstand, dass ein B.A. in den Geisteswissenschaften schon innerhalb von drei Jahren absolviert werden soll. 2

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Resultat – sosehr man sich auch bemühen mag – nie dem amerikanischen ganz gleichen, sondern wird ein genuin europäisches bleiben. Das sollte man sich eingestehen. Die europäischen Universitäten sollten das aus den USA übernommene B.A./M.A.-System auf ihrer Weise umsetzen, so dass es ein europäisches System wird. Das heißt natürlich wiederum nicht, dass der Blick über den großen Teich nicht erlaubt sei. Alles, was zur Verbesserung beiträgt, ist erlaubt, egal woher es kommt. Aber was nach der Implementierung des »fremden« Systems im eigenen kommt, wird genuin eigen sein. Und das ist auch gut so. Grundsätzlich ist der Blick auf die andere Seite des Teiches geprägt von gegenstrebigen Empfindungen, Argwohn, Neid, Hochachtung und Bewunderung, Selbstbehauptung und Trotz. Ich will an diesen Gefühlen nichts kritisieren, ändern oder schönreden. Aber Extreme und Einseitigkeiten sind selten gut. Meine Intention mit diesem Buch war, so gut es geht, mit meiner Erfahrung Brücken zu bauen und dem gegenseitigen Verständnis förderlich zu sein. Wenn mir das ein Stück weit gelungen ist, wäre ich zufrieden. Das heißt aber auch, dass mein Blick auf das Verhältnis zwischen Europa und Amerika dezidiert von meinen persönlichen Erfahrungen in den letzten Jahrzehnten geprägt ist. Wenn ich auf das gleiche Verhältnis im Jahre 2039 reflektieren würde, würde vermutlich etwas (ganz) anderes herauskommen, und andere, die mein Alter haben bzw. in der Gegenwart darüber nachdenken, werden andere Erfahrungen zu berichten haben.

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