Das Paar: Eine erotische Rechtfertigung des Menschen. Ein Beitrag zur philosophischen Anthropologie 9783495860656, 9783495485774


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort zur Neuausgabe
Einleitung
Rechtfertigung anstatt Sinn
Die Macht der Liebe oder der Eros als Sozialkapital
Der Eros und das Paar
Eros ist keine Ersatzreligion
Was die Leserinnen und Leser erwartet
Projekt: Vom Logos zum Eros
Kapitel 1: Wege der philosophischen Anthropologie
Der Mythos von der Teilung der Kugelmenschen
Negativität und Heilung
Begierde und Scham: heidnisch und christlich
Kants Naturalisierung der biblischen Sündenfall-Erzählung
Der erste Schritt der Vernunft
Weitere Vernunftfortschritte
Unvermeidbare Paradiesträume
Negative Anthropologie
Nietzsches Anthropologie des schönen Scheins
Philosophische Anthropologie im 20. Jahrhundert
Der Mensch als Mängelwesen
Kapitel 2: Rechtfertigung – ein vergessener Begriff
Zwei Begriffe von Rechtfertigung
Etappen der Rechtfertigungstheologie
Vernunft und Glaube
Dialektische Theologie
Begegnung mit Plato und Mozart
Kapitel 3: Das Schema des Eros
Der platonische Eros
Eros und Agape
Eros und Libido
Von der Gestalt zum Schema
Eros als biologisches Radikal
Eros als anthropologisches Medial
Eros als Rechtfertigungsschema
Teil I: Der Mensch unter Menschen
Kapitel 4: Eros und Intersubjektivität
Eine Urszene der Menschwerdung
Eros und Kultur: Sigmund Freud
Lustprinzip und Realitätsprinzip
Die sozialwissenschaftliche Integration der Psychoanalyse
Psychoanalyse und Verhaltensforschung
Liebe und Aggression
Von der Verhaltensforschung zur Ethnologie
Das Geschlechtsleben der Südseeinsulaner
Die Innenperspektive des Funktionalismus
Mann und Weib in Amerika und Samoa
Sozialanthropologie: Arnold Gehlen
Umkehr der Antriebsrichtung
Von der Psychoanalyse zur Kritischen Theorie der Gesellschaft
Kapitel 5: Der Mythos vom isolierten Subjekt
Kommunikatives Handeln
Existenzielle Kommunikation
Existenz und Gesellschaft
Symbolischer Interaktionismus
Das Schema der kämpfenden Hunde
Von Mead zu Habermas
Sprachanalytischer Einspruch
»Liebe als Passion«: Niklas Luhmann
»Liebe machen«: erotische Poesis
Kapitel 6: Die Schlange oder: Die Rhetorik der Verführung
Soziobiologie der Sexualität
Die alttestamentarische Sündenfallerzählung: Kampf dem Eros
Der Begriff der Verführung
Die Semiose der Verführung
Die Schlange als »Interpretant«
Vom Diskurs zur Rhetorik
Rhetorik und Stil
Teil II: Der Mensch bei sich selbst
Kapitel 7: Die Geburt des Individuums aus dem Paar
Horizonte der Identitätsbildung
Identität und Individualität
Vom logischen Ich zum Willen
Personale Identität und psychischer Apparat: Sigmund Freud
Infantile Sexualität und Selbstsublimierung
Selbst und Selbstobjekt: Heinz Kohut
Identität in der Paarliebe
Kapitel 8: Narziss und Feigenblatt
Sein und Haben
Mann und Frau
Feigenblatt und die Geburt der Differenz
Zweigeschlechtlichkeit theologisch: Sündenfall
Sündenfall anthropologisch: »to fall in love«
Begriffe der Scham
Nacktheit und Scham
Ödipuskomplex und Schuldbewusstsein
Die Narzissmustheorien Freuds und Kohuts
Kapitel 9: Paararbeit am Selbstbild
Abschied vom Cartesianismus
Das Bild als Medium der Selbsterfahrung
Körperschema und Körperbild
Vom Blick zum Bild des Anderen
Die intersubjektive Dimension des Selbstbildes
Intersubjektivität als »Interpoesis«
Zwei Menschenbilder
Die Grenzen des Menschlichen: ›Mind Children‹
Rechtfertigung im Bild
Teil III: Der Mensch in der Welt
Kapitel 10: Umwelten der Tiere und Welt des Menschen
Die Stellung des Menschen in der Welt
Die Zeckenwelt als Modell
Maschine und Maschinist
Das Weltbild der Amöbe
Biologische Bedeutungslehre
Kritik an der Umweltlehre
Zwischen Biologie und Anthropologie
Erkenntnis und Interesse
»Interesse« interessiert noch immer
Kapitel 11: Interesse und erotischer Weltbegriff
Zum Bedeutungsspektrum des Interessebegriffs
Freuds »infantile Sexualforschung«
Adams Interesse an Eva
Physiologie des Interesses
Psychologie des Interesses
Logik des Interesses
Ein erotischer Weltbegriff
Kapitel 12: Wie sich Überzeugungen rechtfertigen lassen
Nietzsches Interpretation der »berühmten Geschichte«
Kritik der Überzeugung
Don Juan der Erkenntnis
Formen wissenschaftlicher Überzeugungsfestlegung
Wille zum Glauben
›Testimonialtheorie‹ der Erkenntnis
Erkenntnis als strukturelle Kopplung
Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt
Kapitel 13: Die ewige Wiederkehr des Eros
Geschichtlichkeit des Eros
Von der Sittengeschichte zur Mentalitätsgeschichte
Zyklentheorien der Geschichte
Kunstformen des Eros: Antike
Christliches Mittelalter
Die Erotika der Neuzeit
Zyklen des modernen Eros
Epizyklen des postmodernen Eros
Eros gegen Christus?
Eros und Fortschritt
Kapitel 14: Paarwesen Mensch
Das Paar in der bürgerlichen Gesellschaft
»Ehepaare« und »Partnertausch«
Paarliebe und Ehe
Ein unbeachteter Zustand: das Paargefühl
Soziologie der Ehe: Helmut Schelsky
Die erotische Organisation der Familie: Talcott Parsons
Erotismus und erotischer Leistungsdruck
Erotische Demokratisierung
Von der Soziologie zur Anthropologie des Paares
Individuum und Paar
Kapitel 15: »Gewiss ist das Kind«
Nach dem Jahrhundert des Kindes
Paare und Eltern
Kinder als Last und als Hoffnung
Die Gewissheit des Kindes
Sicherheit der eigenen Elternschaft
Gotteskind und Menschenkinder
Verhältnis zwischen Eltern und Kindern
Rechtfertigung und Zukunftsgewissheit
Nachwort 2013
I: Individualität und Sexualität
II: Der Mensch, das rechtfertigungsbedürftige Wesen
III: Die Rolle der Paarbindung in der Evolution
Literatur
Personen
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Das Paar: Eine erotische Rechtfertigung des Menschen. Ein Beitrag zur philosophischen Anthropologie
 9783495860656, 9783495485774

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Ferdinand Fellmann

Das Paar Eine erotische Rechtfertigung des Menschen Ein Beitrag zur philosophischen Anthropologie

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860656

.

B

Ferdinand Fellmann Das Paar

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Der Autor über sein Buch: In einer Zeit, in der die Gesellschaft in Elementarteilchen zu zerfallen droht, wird die Frage akut, was die Welt zusammenhält. Meine Antwort: die Paarliebe als anthropologisches Radikal, das den Menschen von der tierischen Horde getrennt hat. Die Rekonstruktion der Entstehung des Menschen aus dem Paar ist der Versuch, die emotionale Dimension kommunikativen Handelns jenseits der Dualismen von Körper und Geist, von Gefühl und Intellekt zu erschließen. Im Nachwort zu dieser Neuausgabe wird noch deutlicher, was uns Menschen mit den Tieren verbindet, was uns von ihnen trennt. Auch Tiere kennen den Liebesrausch, aber nur der Mensch findet in der Paarbindung die Rechtfertigung seiner Existenz. Ein Beweis dafür, wie eng Eros und Religion im Menschsein zusammenhängen.

Der Autor: Ferdinand Fellmann, geb. 1939, von 1980–1993 Professor für Philosophie an der Universität Münster, von 1993–2005 Gründungsprofessor an der TU Chemnitz. Seither Gastprofessor an verschiedenen europäischen Universitäten. Wichtigste Buchveröffentlichungen: Das Vico-Axiom: Der Mensch macht die Geschichte (1975), Phänomenologie und Expressionismus (1982), Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey (1991), Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung (1993), Die Angst des Ethiklehrers vor der Klasse. Ist Moral lehrbar? (2000), Phänomenologie zur Einführung (2006), Philosophie der Lebenskunst zur Einführung (2009).

https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Ferdinand Fellmann

Das Paar Eine erotische Rechtfertigung des Menschen Ein Beitrag zur philosophischen Anthropologie Um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Die Originalausgabe erschien im Parerga Verlag, Berlin 2005 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagfoto: Sarkophag der Ehegatten, um 525 v. Chr. (Ausschnitt) Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48577-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86065-6

https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Projekt: Vom Logos zum Eros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Kapitel 1: Wege der Philosophischen Anthropologie . . . . . .

25

Kapitel 2: Rechtfertigung – ein vergessener Begriff . . . . . . .

46

Kapitel 3: Das Schema des Eros . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Teil I: Der Mensch unter Menschen . . . . . . . . . . . . . . .

71

Kapitel 4: Eros und Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . .

73

. . . . . . . . .

96

Kapitel 6: Die Schlange oder: Die Rhetorik der Verführung . . .

115

Kapitel 5: Der Mythos vom isolierten Subjekt

Teil II: Der Mensch bei sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Kapitel 7: Die Geburt des Individuums aus dem Paar . . . . . .

131

Kapitel 8: Narziss und Feigenblatt . . . . . . . . . . . . . . .

145

Kapitel 9: Paararbeit am Selbstbild . . . . . . . . . . . . . . .

159 5

https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Inhalt

Teil III: Der Mensch in der Welt . . . . . . . . . . . . . . 177 Kapitel 10: Umwelten der Tiere und Welt des Menschen

. . . . 179

Kapitel 11: Interesse und erotischer Weltbegriff . . . . . . . . .

197

Kapitel 12: Wie sich Überzeugungen rechtfertigen lassen . . . .

211

Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt . . . . . . . . 225 Kapitel 13: Die ewige Wiederkehr des Eros . . . . . . . . . . . Kapitel 14: Paarwesen Mensch

. . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Kapitel 15: Gewiss ist das Kind . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nachwort

227

265

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303

Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

6 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Vorwort zur Neuausgabe

Im Jahre 2005, als dieses Buch erschien, war der Zeitgeist dem Paar nicht gewogen. Der postmoderne Individualismus hatte mit der Anbetung des Ego einen Höhepunkt erreicht. Die Zweierbeziehung wurde weithin als Fessel empfunden, die Zahl der Eheschließungen war dramatisch gesunken und die der Scheidungen dramatisch gestiegen. Damit schien der Weg ins Paradies der Single-Gesellschaft geebnet. »Endlich frei!« titelten die einschlägigen Frauenzeitschriften. Wenn doch noch ein Kind zur Welt kam, haben Frauengruppen die Erziehung übernommen. Schließlich schien das Netzwerk der Freunde die Familienbande zu ersetzen, da man schnell »mal weg« sein kann, wie es so schön im Bestseller-Jargon heißt. Derartige Vorstellungen haben deutlich an Attraktivität verloren. Zwar sitzt die Angst vor festen Beziehungen immer noch tief, aber das Paar wird wieder gesellschaftsfähig. In Filmen als »Traumpaar«, in den Medien als »Promi-Paar« und in Fernsehserien als »Versöhnungspaar«. Hier führt natürlich der Kitsch die Regie, aber Kitsch hat bekanntlich seine Wahrheit. Sie verweist auf die Natur des Menschen, die sich durch kulturelle Konstrukte nie ganz unterdrücken lässt. Selbst das Glücksversprechen, das von der »freien Liebe« ausging, die heute als »Polyamorie« daherkommt, lebt von der Transgression gegenüber dem elementaren Bedürfnis nach exklusiver Partnerschaft und Geborgenheit. Was überholt und von vorgestern zu sein scheint, das Paar und die Familie, haben in Wahrheit ihre Macht nicht eingebüßt. Die Familienbande sind stärker als die Linien, die das mit sich selbst beschäftigte Individuum um sich herum zieht. Wie unzerstörbar die Paarbindung sein kann, lehrt Michael Hanekes Film Liebe (2012), der das Lebensende eines alten Paares in schmerzhafter Schönheit zeigt. Eine im Zeitalter des Jugendwahns überraschende Wendung, aber eine aufschlussreiche Wendung. Sie lässt erkennen, wie stark der »flexible Mensch«

7 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Vorwort zur Neuausgabe

von einer bedingungslosen Bindung abhängt, da in schweren Zeiten nur die Familie hilft. Natürlich ist nicht zu übersehen, dass sich die Rollen im Zusammenleben von Mann und Frau grundlegend geändert haben. Die Fragen, wie Paare sich finden, wie lange sie sich binden und warum sie auseinander gehen, sind intensiv von der Soziologie erforscht worden. Die Forschungen lassen erkennen, dass der Liebesrausch sich nicht mehr so leicht in dauerhafte Kanäle leiten lässt. Wenn es auch keine Weltformel der perfekten Liebe gibt, da die sozialen Kontexte sich wandeln, so bleibt doch das Paar der Ort, an dem sich die Liebenden ihrer personalen Identität bewusst werden. Liebe ist keine Erfindung der Romantik, sondern die elementare Antwort auf die biologische Sonderstellung des Menschen. In der Paarbindung begegnen sich Eros und Thanatos in ihrer Absolutheit. Daher teile ich die Überzeugung postmoderner Denker nicht, dass sich die Frage nach der menschlichen Natur überlebt habe und dass das Zeitalter der Paare vorbei sei. Ich interpretiere die Paarbindung als wesentlichen Bestandteil des Menschseins und verstehe unter erotischer Rechtfertigung das, was dem Individuum im freien Fall Halt gibt. Da ich meine Rehabilitierung des Paares auch in Zeiten hoher Scheidungsraten nach wie vor für richtig halte, habe ich am Text nur geringfügige Änderungen vorgenommen. Ich bin aber im Nachwort auf die Diskussionen eingegangen, die das Buch ausgelöst hat. Dabei beschränke ich mich auf drei Punkte: Zunächst verteidige ich meine Beschreibung des Menschen als Paarwesen im Rahmen der erotischen Liebe, die trotz ihrer zeitlichen Begrenztheit über die Lust des Augenblicks hinausweist. Alle Dinge unter dem Himmel gehen zu Ende, aber gerade in der Endlichkeit und Zufälligkeit der gemeinsamen überirdischen Augenblicke liegt der absolute Wert der Liebe. Sodann vertiefe ich den Begriff der erotischen Rechtfertigung, der Anlass zu Missverständnissen gegeben hat. Mir geht es nicht darum, dem religiösen Glauben Konkurrenz zu machen. Im Gegenteil: Ich will zeigen, dass die Gottesliebe in der unmittelbaren Bindung an eine geliebte Person ihren greifbaren irdischen Ausdruck findet. Schließlich unterfüttere ich die Identitätsfindung des Selbst in der Zweierbeziehung durch eine evolutionsbiologische Hypothese, die den Schritt vom Tier zum Menschen in neuem Licht erscheinen lässt. Entgegen der Meinung mancher Verhaltensforscher, dass die Rückkehr zu unserer animalischen Natur 8 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Vorwort zur Neuausgabe

der Königsweg zum guten Leben sei, sehe ich in der Sonderstellung der menschlichen Sexualität die Voraussetzung für die Unvergleichlichkeit des menschlichen Bewusstseins. Die drei Aspekte dienen weniger der Revision als vielmehr der Verdeutlichung und Ergänzung meiner ursprünglichen philosophischen Intention.

9 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Einleitung

Das moderne Leben bietet dem kritischen Blick des Soziologen ein ambivalentes Bild. Auf der einen Seite die Befreiung des Individuums von traditionellen Strukturen, die ausgeprägte Selbstdarstellung im öffentlichen Raum, die sich im coolen Umgang der Geschlechter miteinander äußert. Auf der anderen Seite die Bewahrung exklusiver persönlicher Beziehungen, die von einem ausgeprägten Besitzindividualismus zeugt. Männer wie Frauen sind vom Wechsel der Begegnungen fasziniert, haben Angst vor Bindungen, zugleich aber sehnen sie sich nach Geborgenheit und Dauer, wie sie die große Liebe verspricht. Das Individuum befindet sich in einem Schwebezustand zwischen Selbstbehauptung und Hingabe, der dem am nächsten kommt, was der Existentialismus ›gefesseltes Bewusstsein‹ genannt hat. Die Menschen durchschauen ihre Zufälligkeit, an der sie leiden, mit kühler Faszination als Schein, können sich davon aber nicht befreien. Die optimistische Gleichgültigkeit der ›Generation Golf‹ ist längst einem Gefühl der Ernüchterung und Unsicherheit gewichen, das sich hinter der Fassade der Selbstsicherheit nur schwer verbergen lässt. Wie es zu diesem zwiespältigen Zustand gekommen ist, dafür lassen sich mehrere soziale und ökonomische Gründe anführen, die derzeit unter dem Stichwort ›Vereinbarkeit von Beruf und Familie‹ diskutiert werden. Der tiefere philosophische Grund liegt aber wohl darin, dass mit der Emanzipation des Individuums von den traditionellen Formen der Familie und der Gesellschaft der Mensch ganz ohne Schutz sich selbst begegnet. Die postmoderne Flexibilität allein bringt nicht die innere Sicherheit, die für ein stabiles Selbstwertgefühl nötig wäre. Die notorische Aggressivität der ›Power-Typen‹ beiderlei Geschlechts verdeckt oft genug nur die Schwäche des Charakters. So haben die maßlosen Ansprüche des Individualismus auf allen Gebieten des persönlichen Lebens eine Not erzeugt, die mit den Leitbegriffen der Zivilgesellschaft nicht zu beheben ist: Emanzipation, Transparenz, 11 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Einleitung

Kommunikation und wie die Stichworte der Selbstbestimmung alle heißen – keines von ihnen hat die Glücksversprechen einlösen können. Der Einzelne fühlt sich von äußeren Zwängen zwar weitgehend befreit, er spürt aber, wie innere Zwänge ihn fest im Griff haben. Ihm geht es wie Wittgensteins Fliege im Fliegenglas: Ihr ist alles durchsichtig, die Welt scheint offen zu stehen, und dennoch findet sie aus ihrer »Glasglocke« keinen Weg ins Freie. Offenbar hat das Bewusstsein in seinem Kern einen blinden Fleck, der durch Selbsterfahrung und Selbstreflexion allein nicht zu beseitigen ist.

Rechtfertigung anstatt Sinn Ein Indiz dafür, dass mit der Interface der Geschlechter etwas nicht in Ordnung ist, liefert die Konjunktur des Begriffs ›Sinn‹. Er ist zum Leitbegriff einer neuen Theologie des Individualismus aufgestiegen. Der moderne Mensch befindet sich permanent auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Der Sinnbegriff, der eng mit dem modernen Krisenbewusstsein verbunden ist, umfasst dabei ein semantisch weites Spektrum. Es reicht von der rein pragmatischen Abwägung, ob sich der Aufwand des Lebens angesichts seiner Verletzlichkeit und Unsicherheit lohnt, bis hin zur metaphysischen Frage nach dem letzten Grund des Daseins. Vor diesem Hintergrund hat sich nach und nach eine gewaltige Sinnvermittlungsindustrie etabliert, die den Individuen ein ›gutes Leben‹ durch Techniken der Selbsterforschung verspricht. Die Sinnindustrie boomt wie nie zuvor, doch dieser Boom vermag kaum darüber hinwegzutäuschen, dass er in mehrerlei Hinsichten auf bloßen Nachahmungsstrategien basiert. Ein Blick in die Geistesgeschichte zeigt, dass die Sinnfrage erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Erstarken nihilistischer Strömungen bedeutsam wurde. Von dort her hat sie im 20. Jahrhundert auch in kirchliche Katechismen Eingang gefunden: Die Sehnsucht nach Sinn tritt an die Stelle des Glaubens an den personalen Gott. Allerdings verschwindet das religiöse Moment nicht restlos, ein Umstand, der die Sinnindustrie zu einem fragwürdigen Unternehmen macht. Schon in den 1970er Jahren hat der Kulturphilosoph Günther Anders in einer bissigen Kritik die Praktiken der Sinngebung geschildert und ›Sinn‹ in diesem Zusammenhang als »Kaffee fürs Volk« be12 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Einleitung

zeichnet: »Tausende von Psychotherapeuten führen die, sie wegen chronisch gefühlter ›Sinnleere‹ konsultierenden Patienten, mit solchem feierlichen Gerede in die Irre«. Statt Sinn zu versprechen, sollten sie nach Anders dem vom Gefühl der Sinnlosigkeit Geplagten klaren Wein einschenken und erklären: »Aber glauben Sie nur nicht, der von Ihnen verwendete Ausdruck ›Sinn des Lebens‹ habe irgendeinen Sinn, oder Sie hätten das, was sie so schmerzerfüllt bei mir als Verlustobjekt anmelden, vorher jemals besessen. […] Warum setzen Sie eigentlich voraus, dass ein Leben, außer dazusein, auch noch etwas ›haben‹ müsste oder auch nur könnte – eben das, was Sie Sinn nennen? Lassen Sie sich doch nicht weismachen, dass Sie Ihren Lebenssinn ›finden‹ könnten.« (Die Antiquiertheit des Menschen II, 368 f.). Man wird ihn deshalb nicht finden, weil der Begriff Weg und Ziel miteinander vermischt, so dass die Grenze zwischen diesseitigen und jenseitigen Werten verschwimmt. Dass derlei Warnungen vor einer Fetischisierung von Sinn heute noch höchst aktuell sind, zeigt ein Blick in die einschlägige Literatur. So findet sich im Editorial des populärwissenschaftlichen Magazins Psychologie heute aus dem Jahre 2003 der bezeichnende Satz: »[…] die unermüdliche Suche nach dem Sinn ist immer sinnvoll«. Das ist zweifellos Unsinn. Der in diesem Zusammenhang immer wieder bemühte Spruch: »Der Weg ist das Ziel« macht die Sache nicht besser. Er belegt nur, dass die Sinnfrage das eigentliche Dilemma des modernen Individualismus verdeckt: Nachdem Gott die Bühne verlassen hat, kann Selbstbestimmung die Lücke nicht ausfüllen. Sinnversprechen sind keine Antworten auf die Aporien des Lebens. Sie sind nur Symptome dafür, dass der Mensch mit seiner Vernunft allein keinen Grund für seine Existenz findet und immer rechtfertigungsbedürftig bleibt. Das ist der tiefere Sinn humaner Sinnsuche, so dass Günther Anders ›Sinn‹ mit Recht als »säkularisierte Rechtfertigung« bezeichnet. Bevor der Sinnbegriff das Selbstverständnis vollständig in Beschlag nehmen konnte, hat der religiöse Glaube den Menschen Halt gegeben. Im Glauben an Gott lag die Rechtfertigung des Menschen trotz all seiner Schwächen und Fehler. Allerdings scheint das längst Geschichte zu sein, denn die Rechtfertigungslehre wird selbst von Theologen heute kaum noch als zentrales Thema angesehen. Die Kirchen haben sich der Sinnindustrie insofern angepasst, als sie den Glauben wie eine Art Sinnbefriedigung behandeln. So wird Religion heute gern auf ein ›Bedürfnis nach Transzendenz‹ zurückgeführt, ja manche 13 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Einleitung

Geistliche verstehen sich geradezu als ›Anbieter auf dem Markt für Sinn-Angebote‹. Das klingt verlockend nach »Cafeteria-Religion« (um eine ironische Bezeichnung des protestantischen Theologen Ingolf Dalferth aufzunehmen); man vergisst darüber jedoch, dass der Gehalt christlichen Glaubens in der Offenbarung liegt, die sich grundsätzlich nicht auf menschliche Sinngebung reduzieren lässt. Ausgangspunkt des Glaubens ist und bleibt die Wirklichkeit Gottes, die alle Konstruktionen der Vernunft nicht aus der Welt schaffen können. Daher stellt die Transformation des Glaubens in Sinnsuche einen Rückfall hinter das von der theologischen Anthropologie längst erreichte Reflexionsniveau dar. Wenn Gott in einer säkularisierten Gesellschaft nicht mehr als Rechtfertigungsinstanz zur Verfügung steht, dann muss sich die Wissenschaft vom Menschen, die Philosophische Anthropologie, nach einer innerweltlichen Rechtfertigung jenseits der individuellen Sinnsuche umsehen. Das ist sicherlich kein ungefährliches Unterfangen, da alle diesseitigen Instanzen nicht an den religiösen Glauben heranreichen, der den Menschen auch dort rechtfertigt, wo die Vernunft an ihre Grenzen stößt. Will man den ursprünglichen Sinn von Rechtfertigung bewahren, so ist nach einer Lebensform Ausschau zu halten, die dem Glauben als persönlicher Gemeinschaft von Mensch und Gott entspricht. Diese Lebensform kann ihrer rechtfertigenden Funktion nur dann genügen, wenn sie den anderen Menschen einbezieht. Hier bietet sich die Macht an, die Männer und Frauen in allen Ländern und zu allen Zeiten leidenschaftlich und aufrichtig zu Paaren verbindet: die erotische Liebe.

Die Macht der Liebe oder der Eros als Sozialkapital Eine Vorstellung vom Eros als Rechtfertigungsinstanz macht es erforderlich, zunächst den Begriff selbst genauer zu bestimmen. Seine heutige Verwendung in Verbindungen wie ›Eros-Center‹ lässt vergessen, dass es sich um den Namen eines in der Antike hochverehrten Gottes handelt. Hinzu kommt, dass er einen hässlichen Bruder namens ›Porno‹ erhalten hat, mit dem man sich nicht gern in der Öffentlichkeit zeigt. Trotzdem verdient es der einstige Liebling der Götter, dass sein Andenken gewahrt bleibt und sein Name nicht ganz verkommt. Unter ›Eros‹ wird daher hier nicht die sexuelle Lust verstanden, die sich zu14 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Einleitung

nächst anonym auf alle möglichen Partner richtet. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Liebe zwischen Mann und Frau, die in einer exklusiven Beziehung als Paar zusammenleben. So sehr die sexuelle Begierde dazu gehört, der Eros geht doch über den Sexus hinaus. Seine die Sexualität überdauernde Bindungskraft macht ihn zum Sozialkapital, das vielen anderen lebensweltlichen Ressourcen überlegen ist. Leider wird durch den zunehmenden Erotismus das kostbare Gut oft sinnlos verschwendet, wo es doch ebenso wie das Wissen und die Sprache besonderer Ausbildung und Pflege bedürfte. Durch seine vitale Verankerung in der Sexualität unterscheidet sich der Eros von anderen Formen der Gemeinschaftsbildung in einem wesentlichen Punkt: Er tendiert dazu, in alle Bereiche des menschlichen Lebens einzudringen. Das Erotische beschäftigt die Phantasie der Menschen unablässig und gibt keine Ruhe, bis es alle privaten und öffentlichen Verhältnisse von der Freundschaft bis zur Wirtschaft durchdrungen hat. Die subtile Allgegenwart des Eros lässt sein Kapital trotz der Verschwendung nicht schrumpfen. Im Gegenteil: Je mehr davon ausgegeben wird, desto stärker vermehrt es sich. Insofern gehört die Liebe zur alternativen Ökonomie des Überflusses, welche die Ökonomie der Knappheit von Anfang an begleitet. Im Überfluss ist der Eros der Quell aller Irrungen und Wirrungen, die das zwischenmenschliche Leben bestimmen. In gewisser Weise trifft der von dem Soziologen Ulrich Beck geprägte Titel Das ganz normale Chaos der Liebe (1990) den Nagel auf den Kopf; nur dass der chaotische Charakter der Liebe dem festen Glauben an ihre Macht keinen Abbruch tut. Viel mehr liegt in der Täuschungsanfälligkeit und der daraus resultierenden Unordnung die Bestätigung der Liebe als erlebte und empfundene Gewissheit, die nicht auf Argumente und Begründungen angewiesen ist. Durch diese Gewissheit wird der Eros zum Medium, das allen übrigen Medien der Vergesellschaftung wie Sprache, Geld oder Macht, bereits durch seine Allgegenwärtigkeit deutlich überlegen ist. Damit soll keiner Mystifikation der Liebe das Wort geredet werden. Wie schon die Eros-Lehre Platons deutlich macht, ist Liebe keine Substanz, sondern eine Relation; und zwar eine solche, die dem Menschen nicht äußerlich bleibt. Die erotische Beziehung prägt das menschliche Selbstverständnis in einer Weise, die über die Gewissheit des Selbstbewusstseins hinausgeht. Dass sich das isolierte Subjekt als unzureichend für das Selbstverständnis des Menschen erweist, dafür lässt sich der berühmte Brief Hamlets an Ophelia als eindrucksvoller Beleg anführen: 15 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Einleitung

»Zweifle, ob lügen kann die Wahrheit, nur an meiner Liebe zweifle nicht«. Sein philosophisches Gewicht bekommt dieser Vers im Lichte des methodischen Zweifels von Descartes, der im Selbstbewusstsein eine letzte und unangreifbare Evidenz zu finden glaubte. Hamlet dagegen stellt die Evidenz seiner Liebe höher als die seiner eigenen Existenz. Der Grund, aus dem jemand eine andere Person liebt, mag der rationalen Einsicht unerfindlich bleiben, aber die Grenzen des objektiven Wissens zerstören die subjektive Gewissheit nicht. Die der Liebe eigentümliche Struktur gibt den Menschen die Gewissheit, nicht aus der gesellschaftlichen Welt fallen zu können. Um es an einem utopischen Beispiel zu illustrieren: Wer zu den Aliens auf einen fremden Stern reist, mag sich verlassen und bedroht fühlen, bis er einem Liebespaar begegnet. Dann weiß er, dass er unter Menschen ist.

Der Eros und das Paar Die unübersehbare Vielfalt der Formen, in denen der Eros zu allen Zeiten und an allen Orten in Erscheinung tritt, macht es schwer, ein Urbild ›wahrer Liebe‹ zu rekonstruieren. Dennoch deutet vieles darauf hin, dass es nur eine einzige Liebe gibt, die den Kern der menschlichen Existenz ausmacht. Das mag verdächtig nach dem romantischen Ideal des Liebespaares klingen, über das der ›flexible Mensch‹ und die auf ihre Partialtriebe bedachte ›Neue Frau‹ nur lächeln können. Und das mit Recht, da es heute nur wenigen vergönnt ist, sich wie Friedrich Schlegels Lucinde mit ihrem Julius ganz aus der Welt und ihren Verhältnissen zurückzuziehen. Man sollte allerdings trotz dieser Zweifel nicht vergessen, dass das Paar für die meisten Menschen immer noch das leitende Ideal ist. Dies ist kein Zeichen von ›falschem Bewusstsein‹ oder ›bürgerlicher Ideologie‹. Es gehört zur Natur des Menschen, sein Leben auf privilegierte Partnerschaften aufzubauen. Und so kommt alles darauf an, sich vom Paar als Leitbild einen realistischen Begriff zu machen. Der Mensch ist das unbekannte Wesen. Noch unbekannter ist das Paar. Zwar leben die meisten Erwachsenen in dieser Beziehungsform oder träumen zumindest davon; aber die wenigsten wüssten wohl anzugeben, was es eigentlich bedeutet, ein Paar zu sein. Wie das Beispiel der Schuhe lehrt, besteht ein Paar aus zwei ungleichen, aber zueinander passenden Einzelstücken. So ist es auch beim Liebespaar, zu dem 16 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Einleitung

sich Mann und Frau verbinden. Aber im Liebespaar sind die Partner doch anders aufeinander zugeordnet als zwei Schuhe. Paar sein bedeutet für Mann und Frau, die Beziehung ständig neu gestalten – ein Prozess, der in der Regel nicht ohne Konflikte abgeht. Liebespaare sind, wenn man so will, private Ereignisse, subjektive Zustände, Versprechen; sie sind zugleich aber auch soziale Tatsachen, die Rückschlüsse darauf zulassen, wie es mit einer Gesellschaft im Ganzen bestellt ist. Anders als die Institution der Ehe bedeutet die Paarliebe für das Individuum, die Fülle der Möglichkeiten in sein Leben integrieren und neue Anschlüsse an die Welt finden zu können. Der Anschluss gehört zur Logik des Eros, der stets für Überraschungen gut ist. Es gibt keine Garantie, dass die Paarbindung ewig dauert. Häufig genug gelangen die Partner zu der Einsicht, nicht den ›Richtigen‹ gefunden zu haben. Das bedeutet, dass sie die Authentizität des Partners als Quelle der Gewissheit anzweifeln. Dann kommt es zum Bruch der Liebesbeziehung, ein notwendiger Schritt, der in früheren Zeiten durch die Institution der Ehe häufig verhindert wurde. Allen Auflösungstendenzen der Ehe zum Trotz ist erkennbar, dass sich in den westlichen Industrienationen inzwischen neue Formen der Paarbindung ausbilden, die auch gesellschaftlich als Freiheitsgewinn bewertet werden. Zwar sind junge Liebespaare als Zweierzelle zunächst asozial, aber gerade die temporäre Abgeschlossenheit ermöglicht es, dass sich die Partner zu selbständigen Personen entwickeln können. Insofern macht es keinen Sinn mehr, das Individuum an den Anfang zu setzen und daraus eine Gesellschaft konstruieren zu wollen. Bei diesem Ansatz zieht die Individualität immer den Kürzeren, da sie durch die Gesellschaft aufgesogen wird. Das Paar bietet demgegenüber einen Rahmen, in dem sich autonome Persönlichkeiten gegenseitig stützen und korrigieren können. Das Paar fungiert so als Ort der sozialen Erziehung, die nicht von anderen organisiert zu werden braucht, sondern sich aus dem Wesen der Paarliebe selbst ergibt. Der Eros stellt zweifellos eine ambivalente Macht dar, die bindet und zugleich trennt; aber darin ist er allen Formen der Selbstbestimmung überlegen, die von der angeblich ›reinen‹ Vernunft dem Menschen aufgezwungen werden.

17 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Einleitung

Eros ist keine Ersatzreligion Das Projekt einer erotischen Rechtfertigung des Menschen ist der Versuch, innerweltliche Wege der Versöhnung zwischen Individuum und Gesellschaft aufzuzeigen. Natürlich kann es nicht darum gehen, einer neuheidnischen Religion des Fleisches nach dem Vorbild Nietzsches zu huldigen. Eros ist nicht Dionysos und tritt auch nicht die Nachfolge des todgesagten Gottes an. Er ist und bleibt vielmehr eine rein innerweltliche Instanz, die uns in Gestalt des geliebten Anderen begegnet. Auf der Suche nach dem, was man heute »Spaß miteinander haben« nennt, geben sich Männer und Frauen relativ ungehemmt einander hin. Aber mit der Lust am Sex ist immer zugleich eine weiterführende Erwartung verknüpft, die den Suchenden freilich oft nur halb zum Bewusstsein kommt. Der unbewusste Wunsch geht darauf, den Richtigen oder die Richtige zu finden, mit der man das Wagnis eines gemeinsamen Lebens eingehen kann. Den oder die Richtige erkennt man nicht zuletzt daran, dass sie uns neue Seiten und Perspektiven unseres eigenen Selbst zugänglich macht. Wo dies nicht geschieht, machen sich Enttäuschung und Aggression breit. Denn mögen auch Schuld und Sünde mittlerweile aus der Paarbeziehung abgeschafft worden sein: Die Gemeinheiten zwischen frustrierten Partnern sind, wie man weiß, dieselben geblieben. Der Eros zeigt ein Doppelgesicht. Er lässt die Hüllen fallen und setzt Mann und Frau einer Erschütterung aus, deren Effekte schwer kalkulierbar sind. Es lassen sich aber zwei Grundmöglichkeiten erkennen: Entweder führt der Eros die sich unsicher fühlenden Partner an die Grenze der Selbstaufgabe, oder er gibt den Liebenden die Gewissheit, vom anderen so akzeptiert zu werden, wie man ist. Der Eros mag egoistisch sein, vereinnahmend bis zur Brutalität, doch in der Sublimierung der anonymen Geschlechtslust setzt er schöpferische Kräfte frei, die alle anderen Bindungen – selbst noch die zwischen Mutter und Kind – an Bedeutung übertreffen. Ob der Eros sein Versprechen dauerhaft einlöst, mag zweifelhaft sein. Aber das ändert nichts daran, dass er die einzige innerweltliche Kraft ist, die aufgrund ihrer Intensität die Liebenden vor sich selbst rechtfertigt. Das geht weit über die Erlösung hinaus, die noch Goethes Humanismus demjenigen versprach, der »immer strebend sich bemüht«. In der Liebe reicht das Streben allein nicht aus, es müssen gemeinsame Erfahrungen folgen. Denn im Paar stoßen zwei Absolutheitsansprüche aufeinander, die nur zum Aus18 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Einleitung

gleich gebracht werden können, wenn einer dem anderen vertraut und ihn als verlässlichen Partner ernst nimmt. Darin unterscheidet sich der Eros von anderen Funktionen des gesellschaftlichen Lebens wie Arbeit oder Herrschaft: Er ist Umfang und Zentrum menschlichen In-der-Welt-Seins zugleich. Er befreit den Einzelnen aus seinem Selbstbehauptungs- und Selbstgerechtigkeitswahn, ohne dabei seine personale Autonomie zu zerstören. Durch die Anerkennung und Gestaltung der gegenseitigen Begierde in der erotischen Liebe wird der Mensch zum Maß aller Dinge. Die Gerechtigkeit, die Mann und Frau in der Liebe erfahren, ist so gesehen nicht die ›fremde Gerechtigkeit‹ eines unbegreiflichen Gottes, sondern die Gerechtigkeit als Fairness, die in der Paarbeziehung ihre lebensweltliche Wirksamkeit entfaltet. Das Paar ist der Ort, an dem das Ich auf seinen Eigensinn verzichten muss, damit sein Eigenstes gerettet werde und sich frei entfalten kann. Hier liegt das Paradox der erotischen Rechtfertigung: dass sie nicht in Verschmelzung der Liebenden endet, sondern Mann und Frau aus der intimen Verbindung als ›persönliche Individuen‹ entlässt.

Was die Leserinnen und Leser erwartet Das bisher Gesagte lässt in Umrissen erkennen, worauf die erotische Rechtfertigung des Menschen hinausläuft. Der Logos mit seinen Derivaten wie Bewusstsein, Sprache, Sinn reicht offenbar nicht aus, um das Selbstverständnis des modernen Menschen angemessen zu beschreiben. Denn überall ist ein Lebensgefühl im Spiel, das dafür sorgt, dass Selbstreflexion nicht ins Leere geht. Zum Logos muss also der Eros hinzukommen, der philosophisch zwar keinen so guten Ruf hat wie der Logos, der diesem aber zu allererst Leben einhaucht. Das besagt: Nicht die einzelnen Menschen mit ihren Eigenschaften, sondern die Art und Weise ihrer Verbindung untereinander entscheidet darüber, ob das Leben sich zum Guten oder Schlechten wendet. Warum aber genügen die traditionellen wirtschaftlichen und rechtlichen Beziehungen nicht, um den Menschen zu definieren? Weil sie in ihrer Funktionalität, die immer nur Teile des Menschen betrifft, dazu neigen, sich zu verselbständigen und so »eindimensionale Menschen« zu erzeugen. Dagegen bieten exklusive Beziehungen den Beteiligten Raum, ihre Persönlichkeit in alle Richtungen zu entfalten und 19 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Einleitung

sich somit vor Instrumentalisierungen zu schützen. In diesem Punkt unterscheidet sich die erotische Liebe von anderen persönlichen Beziehungen wie Blutsverwandtschaft oder Freundschaft. Aus Verwandten werden Clans, aus Freundschaften Freundeskreise oder Seilschaften mit all ihren Stärken und Schwächen. Nur die erotische Paarbeziehung in ihrer Exklusivität lässt sich nicht ausdehnen, und gerade darin liegt ihre durch nichts zu ersetzende soziale Bedeutung. Im Gefühl der Lust erfasst der Eros den ganzen Menschen und gibt ihm die Gewissheit seiner Existenz, die von keiner Reflexion eingeholt werden kann. Pointiert kann man es so formulieren: Weil der Mensch sich selbst zu nahe steht, ist er auf den Eros angewiesen, um im Paar den archimedischen Punkt zu finden, vom dem aus er sich als Individuum in seiner Einzigartigkeit selbst erfahren und selbst bestimmen kann. Das ist der Grundgedanke, von dem sich das Projekt der erotischen Rechtfertigung leiten lässt. Die mit Projekt überschriebenen Kapitel legen die Koordinaten eines neuen, aus der Paarbindung entwickelten Menschenbildes fest. Das erste Kapitel gibt einen kurzen Abriss der Geschichte der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert. Das Bild, das die Philosophen vom Menschen zeichnen, fällt vornehmlich negativ aus, was zu dem Schluss führt: Der Mensch ist von Natur aus ein rechtfertigungsbedürftiges Wesen. Im zweiten Kapitel wird die christliche Rechtfertigungslehre rekonstruiert und gezeigt, dass sie eine Denkform enthält, die für die Philosophische Anthropologie von Bedeutung ist. Dazu ist ein Exkurs in die Geschichte der protestantischen Theologie notwendig: Nach dem Ersten Weltkrieg hat die sog. »Dialektische Theologie« den Rechtfertigungsgedanken erneuert und zu einer Grundstruktur des Menschseins, zu einem Existential entwickelt, das auch außerhalb des religiösen Kontextes Gültigkeit besitzt. Das dritte Kapitel schließlich stellt die Paarliebe formal als »Schema des Eros« dar, das die Tiefenstruktur der erotischen Beziehung zum Prototyp des In-der-WeltSeins macht. Der Eros bildet somit insgesamt ein transzendentales Schema – ›transzendental‹ hier im Sinne allgemeiner Strukturen der Erfahrung. Die Liebe als Weg der Welterschließung bricht den traditionellen Dualismus von Subjekt und Objekt auf. Zwischen Mensch und Welt tritt der Eros als ›Mittler‹, der beide voneinander trennt und zugleich miteinander verbindet. Im ersten Teil (Kapitel 4–6) wird gezeigt, dass die Paarbeziehung dem Individuum vorangeht – ein auf den ersten Blick paradoxer Ge20 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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danke, der sich jedoch durch genauere Analysen der Art und Weise, wie Mann und Frau im Paar verbunden sind, als haltbar erweist. Auf eine Kurzformel gebracht: Die Paarbeziehung steht für den Primat der Intersubjektivität gegenüber dem isolierten Subjekt. Rationalistische Theorien kommunikativen Handelns bedürfen, so lautet hier die These, einer Ergänzung durch die protosoziale Form emotionaler Bindungen. Sie bilden den Stoff, aus dem die Diskursrationalität ihre Argumente bezieht. Der zweite Teil (Kapitel 7–9) rekonstruiert die Genese von personaler Identität und Individualität aus der Perspektive der Liebe zwischen Mann und Frau. Damit wird dem gängigen Mutter-Kind-Modell eine andere Instanz vorgeordnet. Natürlich entwickelt sich das Kind zeitlich primär im Verhältnis zur Mutter, aber diese wird eine menschliche Mutter erst im Paar. Hier gewinnt das Herdentier Mensch zuallererst die notwendige Distanz, um vom ›zufälligen‹ zum ›persönlichen Individuum‹ zu werden. Im Paar, so wird sich zeigen, entwickeln erwachsene Menschen kreative Formen des Umgangs mit ihrer Geschlechtsidentität, die sie zu Mann und Frau machen. Im dritten Teil (Kapitel 10–12) schließlich wird die für den Menschen spezifische Weltoffenheit auf den Eros zurückgeführt. Die These lautet hier: Auch die theoretische Einstellung, die dem logischen Aufbau der Welt zugrunde liegt, setzt ein Interesse voraus, das der erotischen Neugierde entspringt. Für den spezifisch menschlichen Weltbegriff ergibt sich daraus eine bedeutsame Erweiterung des geschlossenen Weltbildes der Naturwissenschaften; freilich so, dass damit die wissenschaftliche Rationalität bzw. die Geltung wissenschaftlicher Aussagen und Theorien in keiner Weise in Zweifel gezogen wird. Ingesamt machen die drei genannten transzendentalen Funktionen das Schema des Eros zum Leitfaden einer Neugestaltung der Philosophischen Anthropologie, die nunmehr dezidiert als Anthropologie des Paares auftritt. Im abschließenden Prospekt (Kapitel 13–15) geht es – und zwar erneut am Leitfaden der Paarliebe – um die Frage nach den Grundwerten, die der europäischen Kultur seit der Aufklärung wesentlich sind. Die in Zeiten der Kulturvergleiche vordringliche Aufgabe der Formulierung einer für alle Menschen verbindlichen Wertskala darf nicht auf das Feld sozioökonomischer Strukturen eingeschränkt bleiben. Vielmehr kommt es auch hier darauf an, Emanzipation und Individualismus auf die gesellschaftliche Integration der Paarbeziehung zu be21 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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ziehen. Was das bedeutet, wird zunächst an der Geschichte der erotischen Liebe demonstriert; wobei sich zeigt, dass die ewige Wiederkehr des Eros den Zivilisationsprozess im Ganzen als ein dialektisches Verhältnis von Fortschritt und Zyklus charakterisiert. Im Anschluss daran wird die Paarbindung aus der Binnenperspektive der Beteiligten beleuchtet und dargestellt, wie sie auch und gerade für das Selbstverständnis des emanzipierten Individuums den unhintergehbaren Bezugspunkt abgibt. Das ist der Kern der in diesem Buch vertretenen Anthropologie des Paares. Sie lässt sich von der jüdischchristlichen Überzeugung leiten, dass Gott die Menschen als Mann und Frau erschaffen hat. Dabei darf freilich nicht unterschlagen werden, dass auch das Paar als soziale Lebensform seine Gefahren in sich birgt. In den modernen Industrieländern, in denen Mann und Frau gleichermaßen berufstätig sind, hat sich ein spezifischer Paaregoismus ausgebildet, dessen Überwindung noch erhebliche Gedankenarbeit kosten wird. Am Ende des Buches rückt schließlich – und zwar unabhängig vom religiösen Glauben – eine einzig von der Paarbeziehung her zu denkende Form der Gewissheit in den Fokus der Aufmerksamkeit, die über die Lebenszeit des Paares hinausreicht: die Gewissheit des Kindes. Ohne sie würde eine Gesellschaft aus lauter ›letzten Menschen‹ aufhören, eine menschliche Welt zu sein.

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Projekt: Vom Logos zum Eros

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Kapitel 1: Wege der philosophischen Anthropologie

Der Mensch ist Herr der Gegensätze. (Thomas Mann, Der Zauberberg)

»Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.« Noch heute, zweieinhalbtausend Jahre nach seiner ersten Formulierung, stellt der Homo-Mensura-Satz des Sophisten Protagoras für Menschen, die an absolute Werte glauben, eine Provokation dar. Schon Platon hat den ironischen Einwand erhoben, nach Protagoras könne man ebenso gut behaupten, »das Maß aller Dinge ist das Schwein oder der Affe«, aber damit trifft er wohl kaum das, worauf der horrende Satz eigentlich hinweisen will: auf die Sonderstellung des Menschen nämlich, der, anders als das Tier, nicht nur Teil der Natur ist, sondern sich auch aus der Natur heraushebt, weil er sich selbst distanziert gegenübersteht. Wie aber kann der Mensch, der sich in einer solch zwiespältigen Situation befindet, von sich beanspruchen, das Maß aller Dinge zu sein? Die antike Philosophie lässt sich als Bemühen verstehen, mit der Provokation des Homo-Mensura-Satzes fertig zu werden. Der Kosmos-Gedanke lieferte den umfassenden Rahmen, in dem die Natur des Menschen ihren festen Platz fand. Mit dem Aufkommen des Christentums aber hat sich die Perspektive vom Kosmos auf den personalen Gott verschoben. Dadurch rückt die Frage nach der Maßstäblichkeit des Menschen erneut ins Zentrum der philosophischen Reflexion. Dieser Perspektivenwechsel prägt das Denken des Kirchenvaters Augustinus, der das Individuum aus dem Kosmos herauslöst und in seiner unmittelbaren Beziehung zu Gott betrachtet. Er gilt daher als der Denker, der die ›anthropologische Frage‹ in die Philosophie eingeführt hat, die Frage des Menschen nach sich selbst im Angesicht Gottes. Die Frage kann nicht mehr in objektiver Form gestellt werden – »Was ist der Mensch?« –, sondern nur noch aus der Perspektive des Subjekts, das 25 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Projekt: Vom Logos zum Eros

sich selbst ein Rätsel ist: »Wer bin ich?« Das ist keine theoretische Frage, sondern eine existentielle, die sich aufdrängt, insofern der Mensch trotz aller Bemühung um Selbsterkenntnis im dunklen Winkel seiner selbst lebt. Bei Augustinus wird die Unsicherheit des aus der antiken Kosmos-Frömmigkeit herausgelösten Menschen deutlich spürbar, so dass das Maß des Menschen im Vergleich zu Gott nur negativ sein kann. Es ist dadurch aber nicht nichts, sondern negativen Zahlen vergleichbar, die Größen sind, mit denen man rechnen kann. Forscht man nach dem tieferen Grund der Negativität des menschlichen Selbstbewusstseins, so stößt man auf einen elementaren biologischen Sachverhalt: die Zweigeschlechtlichkeit, genauer die Art, wie die Menschen sie erleben und damit umgehen. Tiere haben infolge ihrer Instinktbindung kein Problem mit der Paarung als Instrument der Fortpflanzung. Der Mensch dagegen fühlt sich als Mann oder Frau durch das andere Geschlecht ergänzungsbedürftig. Natürlich begehren auch die Tiere ihren Geschlechtspartner, aber man kann nicht davon ausgehen, dass sie diesen Drang als Mangel empfinden. Das auf Dauer gestellte sexuelle Verlangen des Menschen dagegen erzeugt eine Befindlichkeit, die in das Innere des Selbst eindringt. Das Tier wird von der Sexualität gleichsam periodisch befallen, der Mensch dagegen ist das erotische Wesen, dessen Sein vom Bewusstsein der Geschlechtsdifferenz permanent geprägt ist. Das im Eros angelegte Bewusstsein der Differenz und damit des Mangels liegt noch vor dem Bewusstsein der Sterblichkeit, das in der Regel als wesentlicher Unterschied des Menschen gegenüber dem Tier angesehen wird. Die Bedeutung der Zweigeschlechtlichkeit für das Menschenbild ist schon sehr früh erkannt und dargestellt worden. Das bezeugen zwei Mythen aus benachbarten Kulturkreisen: der heidnische Mythos des Kugelmenschen und der biblische Mythos des Sündenfalls. Beide Mythen begreifen unbeschadet ihrer theologischen Verschiedenheit den Menschen nicht primär als Vernunftwesen, sondern als Triebwesen, das sein Selbstverständnis aus der Beziehung zum anderen Geschlecht bezieht. Im heidnischen Mythos ist das offenkundig, da es sich um den Eros als Leiter und Heiler des Menschen handelt. In der alttestamentarischen Sündenfall-Erzählung ist für den heidnischen Gott natürlich kein Platz, aber er spielt doch in verkleideter Form eine Rolle als Augenlust sowie als Glücksversprechen, das der Schlange in den Mund gelegt wird. Daher macht es durchaus Sinn, beide Mythen nebeneinan-

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der zu stellen und sie als Ausgangspunkte für die Entwicklung der Philosophischen Anthropologie zu interpretieren.

Der Mythos von der Teilung der Kugelmenschen In Platos Symposion befindet sich in der Runde der Tischgenossen des Sokrates der Komödiendichter Aristophanes. Unter den Lobreden auf den Eros ist seine Darstellung zweifellos die witzigste, zugleich aber auch tiefsinnigste. Denn der heidnische Mythos von der Entstehung von Menschen männlichen und weiblichen Geschlechts enthält eine basisanthropologische Wahrheit, die von der Physiologie ausgeht. Dagegen sind die Ausführungen des Sokrates über die Natur der Liebe erheblich intellektualistischer. Natürlich endet das Menschenbild des aristophanischen Mythos nicht im rein Physiologischen, aber es entfaltet den daraus resultierenden emotionalen Untergrund und kommt daher ohne spekulative Begründung aus. Der von Aristophanes erzählte Mythos muss vor dem Hintergrund der thrakischen Dionysios-Kulte gelesen werden. Dem Gott der Begeisterung und der Besessenheit zu Ehren wurden in Thrakien orgiastische Feste gefeiert, in denen auf dem Umweg über die Maske oder die Trance der Unterschied zwischen Mann und Frau aufgehoben wurde. In Umzügen trugen junge Burschen einen riesigen Phallus vor sich her, um Fruchtbarkeit und Lebensfülle zur Schau zu stellen. Der allgemeine Taumel, in den die Zurschaustellung männlicher Potenz die Beteiligten beiderlei Geschlechts versetzte, führte aber auch dazu, dass dem Einzelnen das Fremde, das er in sich trägt, zu Bewusstsein kam. Insbesondere konnte er sich der Erfahrung nicht entziehen, dass der Mensch in seiner geschlechtlichen Begierde ein schwaches Geschöpf ist, das zur Befriedigung seiner Triebe auf einen anderen Menschen angewiesen ist. Denn dem Menschen fehlt die Ganzheit, die den Göttern vorbehalten ist und die sie zu einem autarken Leben befähigt. Der Ganzheitsgedanke macht den tieferen Sinn verständlich, der im Mythos von der Teilung des Kugelmenschen steckt. Der Mythos selbst ist schnell erzählt: Ursprünglich waren die Menschen Doppelwesen von runder Gestalt. Sie hatten vier Hände und vier Beine, einen Kopf mit zwei Gesichtern und zwei nach außen gerichtete Genitalien auf der gegenüberliegenden Seite des kugelförmigen Leibes. Durch kreisförmige Bewegungen konnten sie sich 27 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Projekt: Vom Logos zum Eros

schnell fortbewegen und entwickelten durch die große Anzahl von Gliedmaßen eine gewaltige Kraft. Der männliche Teil des Kugelmenschen bezog seine Kraft aus der Sonne, der weibliche aus der Erde. Die Fortpflanzung erfolgte nicht durch direkte Kopulation, sondern indirekt durch Ablage der Samen in die Erde. Die Furcht erregenden Geschöpfe fingen an, sich gegen den Olymp zu erheben. Sie wollten den Himmel erstürmen und die Macht der Götter an sich reißen. Die Bestrafung für diesen Frevel ließ nicht lange auf sich warten. Aber statt diese Geschöpfe kurzerhand zu vernichten, dachte sich der Göttervater eine Form von Bestrafung aus, die, wie Aristophanes ironisch bemerkt, den Göttern selbst zugute kam, da sie die Ehrenbezeugungen und die Opfer der Menschen nicht missen wollten. Die Strafe fiel nun so aus, dass sie die Menschen zwar schwächte, ihre Anzahl aber verdoppelte. Die Kugelmenschen wurden nämlich in der Mitte durchgeschnitten, eine Prozedur, die Aristophanes sehr realistisch schildert. Die nach außen gerichteten Gesichter wurden nach innen gedreht, die Haut über den Bauch gezogen und zum Nabel zusammengebunden. Das Resultat dieser Operation fasst Aristophanes in die Worte: »Nachdem nun die Gestalt entzwei geschnitten war, sehnte sich jedes nach seiner anderen Hälfte, und so kamen sie zusammen, umfassten sich mit den Armen und schlangen sich ineinander, und über dem Begehren zusammenzuwachsen, starben sie aus Hunger und sonstiger Entbehrung, weil sie nichts voneinander getrennt tun wollten. […] Da erbarmte sich Zeus und gab ihnen ein anderes Mittel an die Hand, in dem er ihnen die Schamteile nach vorne verlegte, denn vorher trugen sie auch diese nach außen und erzeugten nicht eines in dem anderen, sondern in die Erde wie die Zikaden. Nun aber verlegte er sie ihnen nach vorne und bewirkte vermittels ihrer das Erzeugen ineinander, in dem Weiblichen durch das Männliche, deshalb, damit in der Umarmung, wenn der Mann eine Frau träfe, sie zugleich erzeugten und Nachkommenschaft entstände« (191a). Allerdings entstehen durch die Zerteilung der mann-weiblichen Kugelmenschen nicht nur Männer und Frauen, die sich dann zu Paaren zusammenschließen, sondern es gibt auch rein männliche sowie rein weibliche Kugelmenschen, die nach ihrer Zerteilung zwei Männer bzw. zwei Frauen hervorbringen, die sich in homosexueller bzw. lesbischer Liebe wieder zu vereinigen suchen. So entsteht aus der Teilung die Menschheit in der heutigen Form, zu deren Natur der Eros als Streben zur liebenden Vereinigung zweier Menschen wesenhaft gehört: »Von 28 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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so langem her also ist die Liebe zueinander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wieder herzustellen, und versucht aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen« (ebd.).

Negativitt und Heilung Das Fazit, das Aristophanes aus seinem Mythos zieht, enthält die Stichworte für eine anthropologische Interpretation. Die Natur des Menschen wird nicht aus sich heraus definiert, sondern aus dem Verhältnis der Menschen zu übermenschlichen Wesen, zu den Göttern. Am anderen Ende der Skala stehen die Tiere, die im Mythos durch die Fortpflanzungspraxis der Zikaden repräsentiert sind. In dieser Hinsicht stehen die Kugelmenschen noch auf der Stufe des tierischen Lebens. Nur ihr Kraftüberschuss und der Drang, es den Göttern gleich zu tun, reißt sie aus der Gebundenheit der tierischen Natur. Die Folge ist die Strafe der Götter in Form einer Beraubung, einer Privation. Die Privation erzeugt die sexuelle Begierde, die dauerhafte Suche nach Vereinigung mit der verlorenen Hälfte. So geraten die Menschen in eine Stellung zwischen den Göttern und den Tieren, was zur spezifisch menschlichen Erfahrung der Individualität als einer Erfahrung der Unvollständigkeit führt. Die Zerteilung der äußeren Gestalt ist auch ein Symbol für die innere Zerrissenheit, die den einzelnen Menschen in seinem Drängen nie zur Ruhe kommen lässt. Diese Bestimmung des Menschen ist für das frühe griechische Denken außergewöhnlich, geradezu revolutionär, und insofern stellt der aristophanische Mythos des Kugelmenschen einen bedeutenden Schritt in Richtung auf das moderne Selbstverständnis des Menschen dar. Wenn die Natur des Menschen durch Privation, durch inneren und äußeren Mangel definiert ist, dann wird die erotische Liebe zum Heilmittel, ohne das der Einzelne nicht leben kann. Das Paar fungiert als Ersatz der für immer verlorenen Einheit, der Zweck der Paarung liegt also nicht ausschließlich außerhalb der Individuen in der Fortpflanzung, sondern ist für das gute Leben der Partner selbst unverzichtbar. Aristophanes versucht sogar, die Denkform der Wiederherstellung auch für homosexuelle Paare zu belegen. Das ist natürlich eine Konzession an die antike Idee und Praxis der Männerfreundschaft. Für die lesbischen Beziehungen begnügt sich Aristophanes mit der Feststellung ihrer Existenz. Zu den homoerotischen Beziehungen da29 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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gegen gibt er Erklärungen, die beweisen sollen, dass homosexuelle Freundschaften für das Leben der Polis vorteilhaft seien. Nun kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass es sich bei diesen Erklärungen um gekünstelte Konstruktionen handelt. Denn der Mythos lässt keinen Zweifel daran, dass der Eros in der Zweigeschlechtlichkeit seine physiologische Grundlage hat und dass die Sehnsucht nach Vereinigung vom Streben nach Penetration des männlichen in das weibliche Geschlecht getragen wird. Nur so kann man von Wiederherstellung, von restitutio ad integrum, sprechen. Eingeschlechtliche Paare bleiben dagegen von Natur aus unvollständig, so dass hier nicht die Rede davon sein kann, Eros sei der Rückführer in die alte Natur und Stifter der Totalität als des höchsten Gutes, dessen die Menschen teilhaftig sein können. So sehr der Eros als Wiederherstellung der verlorenen Einheit in der heterosexuellen Paarbindung auch gefeiert wird, unverkennbar bleibt, dass für Aristophanes die Heilung oder Wiederherstellung nie vollkommen sein kann. Es bleibt ein unaufhebbarer Mangel, welcher durch die Bestrafung ja auch bewirkt werden sollte. Aber die Strafe der Teilung hat einen Nebeneffekt, den der Göttervater nicht beabsichtigt hat. In der Unendlichkeit des Verlangens nach Einheit, das niemals zur ersehnten definitiven Erfüllung gelangen kann, liegt der Antrieb für das aktive Leben der Menschen und damit für ihre kulturelle Entwicklung. Insofern hat die Strafe der Götter das frevelhafte Streben der Kugelmenschen nicht gänzlich ausgetilgt. Es hat das Streben nur umgeleitet in das zwischenmenschliche Leben, das dadurch erst die Dynamik erhält, die es von der tierischen Existenz unterscheidet. Auch nach der Teilung bleibt das Leben der Menschen durch den Eros immer gefährdet und gefährlich, so dass die Ungerechtigkeit nie ganz verschwinden wird: »Es steht also zu besorgen, wenn wir uns nicht sittsam betragen gegen die Götter, dass wir noch einmal zerspalten werden und so herumgehen müssen wie die auf den Grabsteinen Ausgeschnittenen, die mitten durch die Nase gespalten sind, und dass wir dann werden wie die geteilten Würfel, von denen die andere Hälfte der andere hat. Aber aus dieser Ursache sollte nun jeder Mann jedem zureden, den Göttern Erfurcht zu beweisen, damit wir diesem entgehen, jenes aber erlangen, wozu Eros uns führt und befehligt« (193a).

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Begierde und Scham: heidnisch und christlich Der Kugelmensch-Mythos scheint ganz einer vor- oder altgriechischen Tradition anzugehören, in welcher der Schritt vom Mythos zum Logos noch nicht vollzogen ist. Aber der erste Eindruck täuscht. Die Art, wie der Komödiendichter den Mythos in Anwesenheit von Sokrates erzählt und interpretiert, lässt erkennen, dass schon hier am Intellektualismus der Logos-Philosophie Kritik geübt wird. Eine Kritik, die auch bei Sokrates, dem das Wesen der sinnlichen Begierde keineswegs fremd ist, durchaus auf Verständnis stößt. Damit rückt der Kugelmensch-Mythos unerwartet in die Nähe eines anderen Mythos, nämlich der biblischen Sündenfall-Erzählung des Alten Testaments. Natürlich gehören beide Mythen verschiedenen kulturellen Welten an, aber auf anthropologischer Ebene gibt es doch Übereinstimmungen, die der Beachtung wert sind. Eine historische Bestätigung dieses Gedankens liefert die wenig beachtete Tatsache, dass unter den Kommentatoren des Symposion zur Zeit der Renaissance nur jüdische Autoren die erotische Liebe in ihrer Körperlichkeit positiv gewertet haben, während sich die christlichen Neuplatoniker in allegorische Auslegungen flüchten mussten. Hinsichtlich der Strukturaffinitäten zwischen beiden Mythen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass auch Adam und Eva sich gegen Gott aufgelehnt haben, allerdings nicht wie die Kugelmenschen aus eigenem Kraftüberschuss, sondern verführt durch die Schlange. Wenn auch die Bewertung des Ungehorsams gegen Gott eine andere ist – die Vorstellung der Sünde und der Begriff des Falls sind dem heidnischen Mythos unbekannt –, das Resultat bleibt dasselbe: Die Menschen werden nicht vernichtet, sondern bestraft. Auch die Art der Strafe, die Halbierung, ist mit der Sündenfall-Erzählung vergleichbar. Adam und Eva erkennen ihre geschlechtliche Differenz, nur äußert sich diese nicht in der sexuellen Begierde, sondern in der Scham. Diese aber ist nichts anderes als die Kehrseite der Begierde, nämlich die Erfahrung, vom anderen Menschen in der geschlechtlichen Bedürftigkeit ertappt zu werden. Die Zurschaustellung seiner Bedürftigkeit kann der Mensch nur ertragen, wenn er vom anderen in seiner Individualität vorbehaltlos anerkannt wird. Das ist beim Paar der Fall, das damit die Totalität repräsentiert, die Adam und Eva im Paradies letztlich wie Kugelmenschen zusammenleben lässt. Dass in der erotischen Liebe der Mensch auch nach der Teilung dem göttlichen Leben nahe kommt, belegt der Ausgang der Sündenfall-Erzählung. Gott bietet nämlich alle Mittel auf, um 31 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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die Menschen davon abzuhalten, vom Baum des Lebens zu essen. Wenn ihnen das gelänge, würden sie die ursprüngliche Einheit des paradiesischen Lebens wiedergewinnen und damit Gott gleich werden. Eine dritte und letzte Übereinstimmung liegt darin, dass auch in der Sündenfall-Erzählung die Strafe Konsequenzen für das Leben der Menschen hat, die aus anthropologischer Perspektive durchaus positiv zu bewerten sind. Mit dem Bewusstsein der geschlechtlichen Differenz entsteht nämlich die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, die ein Leben außerhalb des Paradieses möglich macht und sogar Perspektiven eröffnet, die dem paradiesischen Leben verschlossen waren. In der Spannung der Geschlechter entwickeln sich die Völker als Generationenfolge, in der sich die Bereiche des sozialen und religiösen Lebens ausdifferenzieren. Obwohl es im Alten Testament nicht ausdrücklich gesagt wird, auch hier ist der Eros die Kraft, die das materielle sowie geistige Leben vorantreibt. Der Bund mit Gott setzt ein konstantes Rechtssubjekt voraus, das sich nur dort herausbilden kann, wo die Menschen sich kontinuierlich fortpflanzen und Traditionen bilden.

Kants Naturalisierung der biblischen Sndenfall-Erzhlung Die alttestamentarische Sündenfall-Erzählung lässt sich ebenso wie der Kugelmensch-Mythos anthropologisch lesen. Die theologischen Kommentatoren weisen diese Lesart natürlich zurück, so dass es lange gedauert hat, bis sich die Philosophen im Zeitalter der aufklärerischen Bibelkritik der Sache angenommen haben. Immanuel Kant hat hier den Vorreiter gespielt. In einer kleinen Schrift aus dem Jahre 1786, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, die im populärwissenschaftlichen Ton gehalten ist, vollzieht Kant eine überraschende anthropologische Wende. Die Brisanz seiner Schrift kommt in der Rede von einer »unwiderstehlich treibenden Vernunft« zum Ausdruck, eine Charakterisierung des menschlichen Geistes, die mit der Idee einer »reinen Vernunft« kontrastiert. Denn reine Vernunft wird als Funktion von Denkhandlungen dargestellt, deren Formen im analytischen Teil der Kritik der reinen Vernunft logisch geklärt werden. In der »Dialektik« allerdings, aus anthropologischer Sicht der interessantere und modernere Teil der Kritik, deutet sich schon an, dass die Vernunft als reine Selbsttätigkeit zwar autonom, aber keineswegs autark ist. Denn im Denken der Ideen verwickelt sie sich in unauflösbare Widersprüche. 32 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Das deutet darauf hin, dass die Motivation des Denkens nicht im Denken selbst liegt. Die Spontaneität der Denkakte wird aus Quellen gespeist, die in der leiblichen Fundierung der menschlichen Vernunft liegen. Kant selbst spricht von »Zuständen« der Vernunft und steigt damit von abstrakten Denkformen zu konkreten Lebensformen hinab, zu den unbewussten Einstellungen und Überzeugungen, die sich nicht beliebig kontrollieren lassen, da sie gleichsam im Rücken der Vernunft wirksam sind. Vor diesem durch die Dialektik der reinen Vernunft vorbereiteten Hintergrund wird die anthropologische Wende zwingend, die Kant im Mutmaßlichen Anfang vollzieht. Er geht hier von der biblischen Sündenfall-Erzählung aus. Diese Wahl ist einigermaßen überraschend. Nahe liegender wären die Naturzustandskonstruktionen von Hobbes oder von Rousseau gewesen. Dass Kant sich an die Genesis hält, ist systematisch von großer Bedeutung. Denn unter den überlieferten Schöpfungsmythen werden allein im Alten Testament die ersten Menschen als Mann und Frau mit Namen genannt. Adam und Eva bilden ein Paar und haben als solches ein persönliches Schicksal, das paradigmatisch für die gesamte Menschengeschichte steht. Diese Besonderheit macht es Kant möglich, die theologische in eine anthropologische Beschreibung zu übersetzen, ohne damit in einen kruden Naturalismus zu verfallen. Der Sündenfall als Übergang von der tierischen zur menschlichen Natur – verhaltenstheoretisch gesprochen: von tierischer Umweltgebundenheit zu menschlicher Weltoffenheit – bleibt nicht in der Anonymität eines Gattungsgeschehens, sondern wird zum Übergang aus dem »Stand der Natur« in den »Stand der Freiheit«, man kann auch sagen: vom Natur- zum Kulturzustand. Kultur entsteht erst dann, so die Lehre aus Kants anthropologischer Interpretation des Sündenfalls, wenn natürliche Funktionen ins Bewusstsein treten. Wenn das in Kants Text auch nicht so deutlich ausgesprochen wird, die Sündenfallerzählung lässt erkennen, dass unter den natürlichen Vorgängen die Sexualität eine Sonderstellung für die kulturelle Bewusstwerdung einnimmt. Denn Adam und Eva erfahren sich als Individuen in der Spannung zwischen ihrem natürlichen Fortpflanzungsstreben und dem ›unnatürlichen‹ Verbot, ihre Geschlechtsidentität zur Kenntnis zu nehmen und daraus eine Quelle der Lust zu machen.

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Der erste Schritt der Vernunft Wie sehr sich Kant bei seiner philosophischen Interpretation des biblischen Sündenfalls der naturalistischen Transformation theologischer Gehalte bewusst war, belegen seine Reflexionen zum Begriff des ›ersten Anfangs‹, der auf die creatio ex nihilo verweist und sich dem Historiker prinzipiell entzieht. In der naturgeschichtlichen Betrachtung hingegen kommt das Prinzip des Aktualismus zum Tragen, demzufolge am Anfang dieselben Kräfte wirksam waren wie im Fortgang der Naturgeschichte. Ferner bedient sich Kant der Begriffe »Naturanlage«, »Trieb« sowie »Instinkt«, um das menschliche Verhalten in Analogie zum Verhalten der Tiere zu beschreiben. Den Instinkt nennt er »die Stimme Gottes, der alle Tiere gehorchen«, und die auch den Menschen »am Anfang allein leitete« (Akad. Ausg. VIII, 111). Die Abweichung von der tierischen Instinktleitung gliedert Kant in mehrere Schritte, wobei jeweils ein bestimmter Trieb den Ausgangpunkt bildet, die Vernunft aber immer schon personales Bewusstsein einschließt. Kant geht von zwei Instinkten oder Trieben aus: Hunger und Liebe. Den Anfang macht der Nahrungstrieb, ein natürliches und notwendiges Bedürfnis, welches die Tiere an bestimmte Nahrung bindet. Der Mensch hingegen löst sich von dieser Bindung, indem er durch Vergleich verschiedener Früchte das Nahrungsangebot über das Notwendige hinaus erweitert. Die Nahrung wird so vom »Lebensmittel« zum Gegenstand der »Lüsternheit«, wobei der Anblick der verschiedenen Früchte und Speisen wichtiger wird als ihr Sättigungswert. Verantwortlich für diese Verschiebung macht Kant die »Einbildungskraft«, deren Wirksamkeit nach dem Schema ›kleine Ursache – große Wirkung‹ beschrieben wird. Die Instinktabweichung nennt er nämlich »nur eine Kleinigkeit«, eine zufällige Abweichung, die stark an das »Klinamen« des epikureischen Atomismus erinnert. Damit nähert sich Kants naturgeschichtliche Betrachtungsweise bedenklich dem Materialismus des 18. Jahrhunderts. Die große Wirkung der kleinen Ursache führt zur Entstehung einer Welt; freilich nicht nur der materiellen, sondern auch und zunächst der geistigen Welt. Sie entsteht mit dem Bewusstsein des Menschen von seiner Vernunft als einem Vermögen der Selbstbestimmung. Die damit verbundene emotionale Veränderung beschreibt Kant als ambivalent. Sie erzeuge im Menschen ein gemischtes Lebensgefühl, das in geradezu existenzphilosophischer Weise geschildert wird: »Er 34 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Wege der philosophischen Anthropologie

entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen und nicht gleich anderen Tieren an eine einzige gebunden zu sein. Auf das augenblickliche Wohlgefallen, das ihn dieser bemerkte Vorzug erwecken mochte, musste doch sofort Angst und Bangigkeit folgen: wie er, der noch kein Ding nach seinen verborgenen Eigenschaften und entfernten Wirkungen kannte, mit seinem neu entdeckten Vermögen zu Werke gehen sollte. Er stand gleichsam am Rande eines Abgrundes; denn aus einzelnen Gegenständen seiner Begierde, die ihn bisher der Instinkt angewiesen hatte, war ihm eine Unendlichkeit derselben eröffnet, in deren Wahl sich er noch gar nicht zu finden wusste; und aus diesem einmal gekosteten Stande der Freiheit war es ihm gleichwohl jetzt unmöglich, in den der Dienstbarkeit (unter der Herrschaft des Instinkts) wieder zurück zu kehren« (112). Die Beschreibung des Übergangs von der Geschlossenheit der tierischen Umwelt zur Offenheit der menschlichen Welt gibt das Schema vor, nach dem die Philosophische Anthropologie in der Folge verfahren wird. Die schlagartige Vermehrung möglicher Triebziele, die »Reizüberflutung«, wie sich später Arnold Gehlen ausdrücken wird, bedarf der »Entlastung«, die den Menschen vor die Aufgabe stellt, Mittel der »Komplexitätsreduktion«, wie es schließlich bei Niklas Luhmann heißt, zu entwickeln. Den Inbegriff dieser Mittel nennt Kant »Kultur«. Und wenn Gehlen den Menschen »von Natur aus« ein Kulturwesen nennt, so kann er sich dafür mit Recht auf Kant berufen.

Weitere Vernunftfortschritte Das Essen vom Baum der Erkenntnis und die Verführung durch die Schlange und durch Eva, die in der biblischen Erzählung ineinander übergehen, behandelt Kant getrennt. Im Unterschied zum Nahrungstrieb handelt es sich beim Geschlechtstrieb zwar um ein natürliches, nicht aber um ein notwendiges Bedürfnis. Die Befreiung von der periodischen Bindung an den tierischen Geschlechtstrieb vollzieht sich nach demselben Schema wie beim Nahrungstrieb. Auch hier fällt der Einbildungskraft die Rolle der Distanzierung vom unmittelbaren Sinnesgenuss zu, was den Übergang »von bloß empfundenen zu idealischen Reizen« bewirkt (113). Die Idealisierung durch Distanzierung verhilft der Vernunft zu einem weiteren Schritt in der Herrschaft über die Sinne, die im ästhetischen Gefühl ihren höchsten Ausdruck findet. 35 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Die menschliche Weltoffenheit äußert sich nicht nur in der Fülle der Objekte und der Qualität ihrer Reize, sondern betrifft auch die Öffnung der zeitlichen Dimension. Das macht den dritten Schritt der Vernunft aus. Er versetzt den Menschen in die Lage, über den Genuss des gegenwärtig Gegebenen hinaus auch die zu erwartenden Reize zu genießen. Die Vergegenwärtigung des Zukünftigen empfindet der Mensch als Vorzug gegenüber dem Tier, das ausschließlich in der Gegenwart lebt. Aber dieser Vorzug hat seinen Preis: Er wird zum »Quell von Sorgen und Bekümmernissen, die die ungewisse Zukunft erregt und welcher alle Tiere überhoben sind« (ebd.). Das Bewusstsein der Sterblichkeit und die Furcht vor dem Tode, die in der biblischen Erzählung als Strafen für den Ungehorsam dargestellt werden, bekommen bei Kant eine natürliche Ursache, die aber dadurch den Menschen nicht weniger belastet und in ihm die Sehnsucht nach der Sorglosigkeit der verlorenen tierischen Gegenwartsgebundenheit aufkommen lässt. Die vierte und letzte Etappe der Vernunftentwicklung betrifft die Anerkennung des Anderen als eines Mitmenschen. In ihm findet die Herrschaft, die Gott den Menschen über alle anderen Kreaturen zuerkannt hat, ihre Grenze. Zur Erklärung der Anerkennung der Gleichheit aller Menschen bemüht Kant eine etwas künstlich erscheinende Konstruktion des Bewusstseins vom Gegensatz, das sich an der Ausübung der unbeschränkten Herrschaft gegenüber dem Tier herausbilden soll. Wie immer es mit dem Erklärungswert dieses Gedankens auch stehen mag, überzeugend ist auch hier die Darstellung der Gefühlsambivalenz, die der vierte Schritt der Vernunft zur Folge hat. Denn zu dem Hochgefühl der schrankenlosen Herrschaft über die Welt gesellt sich das Bewusstsein von Einschränkungen, die in der sittlichen Verpflichtung ihren Ausdruck finden. Wie im dritten Schritt die Geburt der Ästhetik, so wird im vierten Schritt die Geburt der Ethik anthropologisch aus der Sinnlichkeit des Menschen rekonstruiert.

Unvermeidbare Paradiestrume Das Fazit, das Kant aus seiner anthropologischen Lesart der biblischen Sündenfall-Geschichte zieht, bestätigt im Großen und Ganzen das Bild, das die moderne Evolutionsbiologie vom Tier-Mensch-Übergangsfeld entwirft. Schon Kant sieht im Urzustand ein Stadium tierischer Umweltgebundenheit, das nichts mit dem Glück der Ungebundenheit zu 36 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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tun hat, das die Naturzustandslehren dem natürlichen Menschen zuschreiben. In diesem Punkt übt er scharfe Kritik, die sich nicht nur allgemein gegen paradiesische Naturzustandskonstruktionen, sondern speziell gegen Jean-Jacques Rousseau richtet. Dessen Kulturentstehungstheorie hält er entgegen, dass die beklagte Vertreibung aus dem Paradies nichts anderes gewesen sei »als der Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte, aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit« (115). Weit davon entfernt, das Verlassen des Paradieses als Unglück zu beklagen, sieht Kant darin vielmehr das Glück einer Befreiung des Menschen zum Kulturwesen, das heißt zur geschichtlichen Existenz. Er bewertet das Essen vom Baum der Erkenntnis durchaus positiv als kreative Abweichung der Vernunft vom Naturzwang. Dass sich daraus etwas Fortschrittliches entwickeln kann, nämlich Erkenntnis und schließlich Wissenschaft, erklärt er damit, dass die unbeabsichtigten Nebenfolgen eine Handlung nachträglich rechtfertigen können. Durch diese Argumentation wird der theologische Sündenbegriff geschichtsphilosophisch aufgehoben, wobei Kant sich die Option des Glaubens allerdings offen hält. Das heißt aber andererseits nicht, dass Kant in der Vorstellung vom Paradies ein verzichtbares Trugbild der christlich inspirierten Naturrechtslehre sieht. Das Paradies ist für ihn eine zur menschlichen Weltoffenheit gehörige Projektion und Illusion, die notwendig aus der menschlichen Unrast folgt. Der Traum eines ruhigen Lebens ist es, der die Menschen in Bewegung hält. Die Vernunft wird gerade dadurch zur »rastlosen« und »unwiderstehlich treibenden«, die sich erst viel später zur »reinen« Vernunft läutert. Vernunft und Einbildungskraft sind am Anfang eins, bleiben nach dem Auseinandertreten in der weiteren Entwicklung aber immer aneinander gekoppelt. Die gleiche Einbildungskraft, die den Menschen aus dem Naturzustand getrieben hat, führt ihn im Kulturzustand zurück ins eingebildete Paradies. Paradiesträume gehören also notwendig zum Menschen, und sie hören nie auf, da sie eben niemals Wirklichkeit werden können. Kants Fundierung der Vernunft in der Einbildungskraft bewegt sich ganz im Rahmen der Vermögenspsychologie des 18. Jahrhunderts. Sie lässt demgemäß die Frage offen, woher die Einbildungskraft stammt. Erst eine Antwort auf diese Frage jedoch würde den Übergang von tierischer Umweltgebundenheit zur menschlichen Weltoffenheit 37 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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verständlich machen. Ein versteckter Hinweis auf die anthropologische Basis der Einbildungskraft findet sich bei Kant selbst, nämlich dort, wo er die Abkopplung der Sexualität vom Fortpflanzungsinstinkt als einen Schritt bezeichnet, der »wichtiger« für die Kulturentwicklung sei als alle folgenden (113). Nicht nur wichtiger als alle folgenden, so müsste man korrigierend ergänzen, sondern auch bedeutender als der vorherige, den Kant allein auf die Abweichung vom Nahrungstrieb zurückführt. In diesem Punkt ist die biblische Erzählung, die den Akt des Essens vom Baum der Erkenntnis mit dem Akt der Verführung durch das Geschlecht kombiniert, gewissermaßen klüger. Jedenfalls liegt die Vermutung nahe, dass die Basis der Einbildungskraft, der Kant im Prozess der Menschwerdung die zentrale Rolle zuschreibt, im Eros zu suchen ist. Bei Kant bleibt die, wie Freud sich ausdrücken würde, »erogene Rolle« des Auges verdeckt, weil er die Wirkung der Einbildungskraft als eine bloß zufällige Abweichung vom Nahrungsinstinkt darstellt. Der Nahrungstrieb allein kann die Abweichung vom Instinkt aber nicht verständlich machen. Von Anfang an ist Sexualität im Spiel, die im Gegensatz zum Nahrungstrieb unersättlich ist und ohne die es Eva nicht gelungen wäre, Adam zur Menschwerdung zu verführen. Hier wird deutlich, wie die Dialektik, mit der Kant seinen eigenen Vernunftbegriff untergräbt, ihr anthropologisches Fundament in der Liebe besitzt, die stärker als der Hunger die Konstitution des Menschen bestimmt. Kants skeptische Anthropologie, die den Menschen im Anschluss an die Moralisten seiner Zeit als ein »krummes Holz« betrachtet, erfährt auf diesem Weg eine unerwartete Zuspitzung: Der Mensch wird durch die Grenzenlosigkeit seiner sexuellen Begierde unter Umständen bis zur Selbstzerstörung getrieben. Diese Einsicht führt zu einer bedrohlichen Verdüsterung des Menschenbildes. Die neuzeitliche Affirmation vernünftiger Selbstbehauptung bekommt Risse. Die Entstehung einer negativen Anthropologie ist die Folge.

Negative Anthropologie Die Bezeichnung Negative Anthropologie ist in den 1960er Jahren durch einen Titel von Ulrich Sonnemann geläufig geworden. Aber der Sache nach hat die Wende zur negativen Anthropologie schon viel früher eingesetzt. An erster Stelle ist Arthur Schopenhauer zu nennen, 38 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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der immer noch unterschätzte Vater der philosophischen Moderne, zu dessen geistigen Erben Nietzsche und Dilthey, aber auch Wittgenstein zählen. In Die Welt als Wille und Vorstellung (1818/1859) betrachtet er die Individualität als Täuschung, deren sich die Keimbahn zur Erhaltung der Gattung bedient. Die sexuelle Triebhaftigkeit gaukelt dem Menschen ein Glück vor, das nie erreicht wird. Denn Trieberfüllung ist mit Enttäuschung verbunden. Weil das Leben nie hält, was es den Menschen verspricht, wird es wesenhaft zum Leiden, das der Welt als Jammertal »etwas Höllenartiges« verleiht (WWV II, 747). Zwar sei der Mensch in der Lage, durch Anschauung und Verstand objektive Erkenntnis zu erlangen, die erkannte Welt aber deckt sich nicht mit dem Lebensgefühl des Menschen. Die Differenzerfahrung verschiebt die philosophische Reflexion in Richtung auf die Frage nach dem Grund der Existenz, die mit der Frage nach dem Wesen des Menschen selbst zusammenfällt. Die Unbeantwortbarkeit dieser Frage, die von der Philosophie nicht erst im 19. Jahrhundert gestellt wird, führt Schopenhauer zur Einsicht in die absolute Zufälligkeit des menschlichen Daseins. Der Mensch erfährt sich als Geworfener, weil für ihn, anders als für die Tiere, die ganz in der Gegenwart leben, Weltzeit und Lebenszeit auseinander klaffen. Alle Fragen nach dem Warum?, Woher? und Wozu?, die zu beantworten sich die Metaphysik anheischig macht, hält Schopenhauer für »absolut unerforschlich« (823). »Mit unserer Vernunft stoßen wir überall an unauflösliche Probleme wie an die Mauern unseres Kerkers« – ein Bild, das der Schopenhauer-Leser Wittgenstein auf die Sprache übertragen hat. In dieser aporetischen Situation bleibt der Philosophie nichts anderes übrig als die Zurücknahme ihrer überzogenen metaphysischen Begründungsansprüche: »Die Philosophie kann nirgends mehr tun als das Vorhandene deuten und erklären, das Wesen der Welt, welches in concreto, d. h. als Gefühl, jedem verständlich sich ausspricht, zur deutlichen, abstrakten Erkenntnis der Vernunft bringen, dieses aber aus jeder möglichen Beziehung und jedem Gesichtspunkt aus« (WWV I, 376). Schopenhauer nennt seine Philosophie »immanent«: »Eben deshalb aber lässt sie noch viele Fragen übrig, nämlich: warum das tatsächlich Nachgewiesene so und nicht anders sei usw.« (WWV II, 821). Sichere Ergebnisse liefert allein die Auslegung des unmittelbar Gegebenen, des Selbstbewusstseins, in dem aber nichts von einer ›reinen Vernunft‹ anzutreffen ist. Schopenhauer entdeckt im Selbstbewusst39 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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sein nur einen dranghaften Willen, der durch nichts endgültig zu befriedigen ist. Durch den »Primat des Willens im Selbstbewusstsein« wird allen Versuchen, die Übel der Welt zu rechtfertigen, der Boden entzogen. Er weist die optimistische Theodizee von Leibniz empört als »ruchlose Denkungsart« zurück. Er bezeichnet die Welt als »die schlechteste unter den möglichen«, weil ihre Existenz vom kosmischen Zufall abhängt. Der »Logodizee«, d. h. der Rechtfertigung der den Menschen von Gott gegebenen Vernunft, setzt er den Agnostizismus entgegen. Die sarkastische Ironisierung der »besten aller möglichen Welten« in Voltaires satirischem Roman Candide bleibt demgegenüber an der Oberfläche, da schon vorher bekannt war, dass es mit der diesseitigen Welt nicht zum Besten bestellt ist. Auch Kants Feststellung des Scheiterns aller Versuche der Theodizee hat nicht so zerstörerisch gewirkt wie Schopenhauers Pessimismus. Denn für Kant eignet sich die Vernunft zwar nicht zur Theodizee, da ein- und dieselbe Instanz nicht Kläger, Beklagter und Richter zugleich sein kann, aber das schließt für Kant eine Rechtfertigung durch den Glauben an Gott nicht aus. Schopenhauer dagegen entzieht den Verteidigern Gottes auch diesen Strohhalm, indem er mit der Grundlosigkeit des Willens zum Leben jeden außerweltlichen Bezugspunkt, jede Transzendenz zerstört. So negativ Schopenhauers Anthropologie sich auch ausnimmt, auffällig bleibt doch, dass er wenig über das Nichts nach der von ihm ethisch propagierten »Verneinung des Willens zum Leben« verlauten lässt, viel Aufmerksamkeit dagegen der Welt im Zustand der Bejahung des Willens widmet. Gerade das Bewusstsein der Grundlosigkeit und der ständige Anblick des Abgrundes führen zu einer ungeahnten Intensivierung des Lebensgefühls, die nichts von christlicher Askese erkennen lässt. Hier liegt das Paradox der Philosophie Schopenhauers, das ihn zum ersten Denker der Moderne macht: die Realdialektik von Verneinung und Bejahung des Willens zum Leben, die durch Vernunftgründe nicht aufgehoben werden kann. Insofern birgt der Abgrund des Lebens doch mehr als nur Leid. Er ist wie die Büchse der Pandora Quell aller Verlockungen, die den Menschen trotz der Leiden an das Leben binden. So konnte Schopenhauer, der in der Jugend dem Eros verfallen war, mit der Gelassenheit des Alters doch noch ein ganz behagliches Leben führen.

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Nietzsches Anthropologie des schnen Scheins Mit dem Auftritt Nietzsches aber verschärft sich die Lage deutlich: Auf der einen Seite steht die Einsamkeit des isolierten Individuums, auf der anderen Seite die unstillbare Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, nach Solidarität. Nietzsche hat diese Spannung bis in den erlösenden Wahnsinn hinein gesteigert, er log sich in die Vielheit, in die alles verbindende Liebe hinein, die ihm als Denker aber auch als Mensch versagt blieb. Seine Radikalisierung der Anthropologie verwandelt den »Willen zum Leben« in »Willen zur Macht«, der sich freilich noch nicht als politische Macht versteht. Die Macht, von der der Künstlerphilosoph träumt, bleibt die Macht der Phantasie, aus der er in der Geburt der Tragödie (1872) eine »ästhetische Rechtfertigung der Welt« ableitet: »Je mehr ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerden durch den Schein gewahr werde, umso mehr fühle ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht: welchem Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm bestehend, als das wahrhaft Nichtseiende, d. h. als ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Kausalität, mit anderen Worten, als empirische Realität zu empfinden genötigt sind« (KSA 1, 38). Wen will Nietzsche durch den schönen Schein rechtfertigen? Nicht mehr den einen unergründlichen Gott des Christentums, den er für tot erklärt, sondern den Olymp der antiken Götter, die den Menschen sehr ähnlich sind. Nicht die Vernunft, sondern die schöpferische Produktivität des Künstlers, der seine eigenen Welten gestaltet, stellt die Übereinstimmung zwischen den Göttern und den Menschen her, so dass Nietzsche sagen kann: »Derselbe Trieb, der die Kunst ins Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, ließ auch die olympische Welt entstehen, in der sich der hellenische ›Wille‹ einen verklärenden Spiegel vorhielt, so rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben – die allein genügende Theodizee!« (36). Mit diesem Satz transformiert Nietzsche die negative Anthropologie in eine mediale Anthropologie. Denn die Götter des Olymp stehen auf einer Stufe mit dem künstlerischen Menschen. Beide, Menschen und Götter, arbeiten an der Überwindung der Kontingenz durch den schönen Schein der Kunst. 41 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Die Frage bleibt natürlich, ob der schöne Schein zur Rechtfertigung des Menschen angesichts der vom Menschen verursachten Schrecken dieser Welt noch genügt. Wo die Verbrechen derart ins Ungeheuerliche anwachsen, dass die Menschlichkeit selbst bedroht ist, stößt die ästhetische Rechtfertigung an ihre Grenzen. Sie bekommt etwas Kompensatorisches. Das mögen diejenigen gespürt haben, welche die nicht nur rhetorisch gemeinte Frage gestellt haben, ob man nach Auschwitz noch ein Gedicht schreiben könne. Zur Beantwortung solcher Fragen bedarf es einer Instanz, die über den Glauben hinausgeht und eine Dimension der Reflexion eröffnet, die aus der Lebenswirklichkeit selbst mit all ihren Abgründen und Widersprüchen hervorgeht. Die Suche nach dieser Instanz, die Nietzsche im ausgehenden 19. Jahrhundert als Tragödie eines aristokratischen Geistes vorgelebt hat, stellt im 20. Jahrhundert die Philosophie vor schwierige Aufgaben. In welchem Gewand kann der Wille zur Macht die mit sich selbst zerfallene Moderne zur Vernunft bringen, die Individuen trotz ihrer Selbstbehauptungswut gerecht machen?

Philosophische Anthropologie im 20. Jahrhundert Die Suche nach Antworten auf diese Frage hat im 20. Jahrhundert zur Entstehung der Philosophischen Anthropologie geführt, die sich als Erbin der Metaphysik versteht. Die Transformation der Metaphysik ist mit dem Namen Max Scheler verknüpft. Seine 1927 erschienene Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos kann als Gründungsdokument der modernen Philosophischen Anthropologie bezeichnet werden. Scheler verfährt empirisch, er hält sich an die Ergebnisse der Biologie und der Verhaltensforschung, aber er begnügt sich für sein Menschenbild nicht mit einer bloßen Aufzählung von Eigenschaften, sondern interpretiert diese im Lichte der spätidealistischen Weltanschauung. Der Mensch ist ein Triebwesen, das seine Triebe anders als die Tiere unkontrolliert ausleben kann. Das zeigt sich insbesondere am Sexualtrieb. Freilich liegt die Würde des Menschen darin, dass er seine Triebnatur beherrschen kann. Diese Fähigkeit schreibt Scheler dem »Geist« als einem dem Leben entgegengesetzten Prinzip zu. Daraus leitet er die »Sonderstellung« des Menschen ab, der als »weltoffenes« Wesen ans Göttliche heranreiche. Das klingt in Schelers emphatischer Sprache so: 42 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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»Der Mensch ist das Lebewesen, das kraft seines Geistes sich zu seinem Leben, das heftig es durchschauert, prinzipiell asketisch – die eigenen Triebimpulse unterdrückend und verdrängend, d. h. ihnen Nahrung durch Wahrnehmungsbilder und Vorstellung versagend – verhalten kann. Mit dem Tiere verglichen, das immer ›Ja‹ zum Wirklichsein sagt – auch da noch, wo es verabscheut und flieht –, ist der Mensch der Neinsagenkönner, der Asket des Lebens, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit« (55). Schelers Negativismus ist von besonderer Art. Im »Nein« zur Triebnatur sieht er die Befreiung des Menschen zum »Geist«, und so überrascht es nicht, dass sich Scheler gegen die »negative Theorie des Menschen« wendet, wie sie von Arthur Schopenhauer und dem späten Freud vertreten wird. Aber hier handelt es sich offenbar um ein Selbstmissverständnis. Denn durch Verneinung wird der Drang, der selbst ein Ausdruck des Mangels ist, nicht aufgehoben, sondern nur verstärkt ins Bewusstsein gehoben. So wird das »Problem der menschlichen Natur«, das Scheler im spannungsreichen Verhältnis der Triebhaftigkeit zu idealen Werten verortet, nicht gelöst. Schelers Anthropologie ist der heroische, aber letztlich zum Scheitern verurteilte Versuch, zu einem definitiven Ausgleich der im Menschen widerstreitenden Kräfte zu kommen.

Der Mensch als Mngelwesen Ihren naturalistischen Höhepunkt erreicht die Philosophische Anthropologie in Arnold Gehlens Werk Der Mensch (1950), ein Buch, das zu den Klassikern philosophischen Denkens zählt. Gehlen bestimmt den Menschen als »Mängelwesen«, das im Unterschied zum Tier über nur schwache Instinkte verfügt und keine hoch spezialisierten Organe besitzt. Die biologische Sonderstellung des Menschen als Gattungswesen ist aber nicht das Entscheidende. Zwar sind die Menschen in der Lage, ihre Mängel durch Kultur und Institutionen auszugleichen, doch erfolgt die institutionelle Entlastung gleichsam hinter dem Rücken des Individuums. Laut Gehlen ist der Mensch nicht nur biologisch, sondern auch geistig ein Mängelwesen. Denn weit davon entfernt, zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Institutionen beizutragen, arbeitet die Subjektivität stillschweigend an ihrer eigenen Zerstörung. Für Gehlen stellt insbesondere die überzogene Selbstreflexion 43 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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eine Gefahr für das menschliche Leben dar. Obwohl er das Bedürfnis des Menschen nach Selbstdeutung heraushebt, überlässt er die Deutung dennoch nicht dem Subjekt. Als legitime Deutungsinstanz erkennt Gehlen vielmehr einzig die unpersönlichen Institutionen an; denn nur die institutionelle Außenstabilisierung sei in der Lage, Gesellschaften vor zersetzendem Subjektivismus zu bewahren. Der Antisubjektivismus geht bei Gehlen letztlich so weit, dass seine Anthropologie die Wende zum Subjekt, welche die anthropologische Frage zum Ausdruck bringt, geradezu rückgängig macht. Auch das ist eine Form der negativen Anthropologie, die in ihren gesellschaftspolitischen Konsequenzen nach rückwärts weist, die in der Zerstörung der klassischen Subjektphilosophie dagegen voll auf der Höhe der Zeit ist. Das Gegenstück zu Gehlen liefert Theodor Adorno mit seiner Negativen Dialektik (1966). Die Zerstörung des von der klassischen Subjektphilosophie krampfhaft festgehaltenen Identitätsprinzips hinterlässt ein Menschenbild, das sich jeder Festlegung – übrigens auch der auf den ›Antihelden‹ – entzieht. Auch die Sinnfrage hält Adorno für deplaziert: »Fragt ein Verzweifelter, der sich umbringen will, einen der ihm gut zuredet, davon abzulassen, nach dem Sinn des Lebens, so wird der hilflose Helfer ihm keinen nennen können« (369). Nimmt man die von Kant aufgedeckte antinomische Struktur des Denkens wirklich ernst, so zeigt sich, wie Adorno meint, auch die Unrettbarkeit der protestantischen Paradoxie des Glaubens. Damit zerstört Adorno freilich jede Hoffnung auf Versöhnung, da nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Individualität durch ihr ungebremstes Selbsterhaltungsstreben unwahr und gewaltsam geworden ist. An der skizzierten geistigen Konstellation hat sich bis heute kaum etwas geändert. Die Strukturen der verwalteten Welt haben sich weltweit ausgedehnt und der als Kommunikation angepriesene Verblendungszusammenhang, in dem die Einzelnen sich eingerichtet haben, hat die Widersprüchlichkeit der Subjektivität noch gesteigert. In einer solchen Lage ist die Anthropologie in gewisser Weise aktueller denn je. Zu den gesellschaftlichen Problemen ist seit kurzem eine weitere Bedrohung hinzugekommen: die Manipulierbarkeit der biologischen Konstitution des Menschen durch die Gentechnologie. Je mehr der Mensch sich gleichsam von innen her rekonstruieren kann und die Fortpflanzung zu einem technischen Akt im Labor wird, desto rätselhafter muss ihm sein Personsein erscheinen. Wie schon in Goethes Faust bei der Erzeugung des Homunkulus die Frage nach der Mittäter44 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Wege der philosophischen Anthropologie

schaft des Teufels auftaucht, so wird auch heute die anthropologische Frage immer mehr zur Rechtfertigungsfrage; und Philosophische Anthropologie kann vor dem Hintergrund der gentechnischen Entwicklungen im Grunde nur noch als Rechtfertigungslehre betrieben werden.

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Kapitel 2: Rechtfertigung – ein vergessener Begriff

Das Wort »Rechtfertigung« erregte ihre Bewunderung – und auch ihren Neid, wie mir schien. Es ist ein gutes Wort. (Marc Twain, Auszüge aus Adams Tagebuch)

»Alles untergeistige Wesen steht jenseits der Frage von Wert und Recht, es ist schlechthin. Höhe aber und Bedrängnis des Menschen presst sich in die Formel zusammen, dass er sein Sein rechtfertigen muss«. Dieser Satz des Soziologen und Kulturphilosophen Georg Simmel gibt zu denken. Wenn der Mensch im Unterschied zum Tier (dem »untergeistigen Wesen«) das Wesen ist, das sein Sein rechtfertigen muss, so kann es sich nicht um den Akt handeln, den wir im normalen Sprachgebrauch unter Rechtfertigung verstehen. Sich rechtfertigen bedeutet, erklärende oder entschuldigende Gründe für einzelne Handlungen anzuführen, die für sich genommen unverständlich oder unakzeptabel sind. Das aber macht im Bezug auf das Sein des Menschen keinen Sinn, da sich niemand dafür zu entschuldigen braucht, dass es ihn gibt. Die Formel von der Rechtfertigungsnotwendigkeit des Menschen verweist daher auf einen anderen Sinn des Wortes, der im kulturellen Diskurs heute weitgehend verloren gegangen ist und der erst durch geistesgeschichtliche Reflexion wiedergewonnen werden muss.

Zwei Begriffe von Rechtfertigung ›Rechtfertigung‹ wird heute vornehmlich in der sprachanalytischen Philosophie im Sinne von Begründung gebraucht. ›Epistemische Rechtfertigung‹ (engl. epistemic justification) heißt eine Argumentation, die zu ›wahrem Wissen‹ führen soll. Damit verliert Wahrheit ihren Absolutheitsanspruch und wird auf ›gerechtfertigte Behauptbarkeit‹ 46 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

2 Rechtfertigung – ein vergessener Begriff

innerhalb eines Systems von sich gegenseitig stützenden Aussagen reduziert. Da der Argumentationszusammenhang als Ganzer unbegründbar bleibt, kommen analytische Rechtfertigungsprozesse nicht ohne normative Momente aus. Denn anders ließe sich die behauptete Beziehung zwischen Rechtfertigung und Wahrheit nicht erklären. Daran kranken alle Theorien epistemischer Rechtfertigung, die letztlich immer auf die Frage hinauslaufen: Was sollen wir glauben? Die Antwort kann nur eine ›Ethik des Meinens‹ liefern. Das gibt einen Hinweis auf die Sprachanalytikern oft nicht bewusste Tatsache, dass sich hinter ihrem scheinbar rein kognitiven Begriff von Rechtfertigung eine theologische Bedeutung verbirgt. Theologisch ist ›Rechtfertigung‹ ein forensischer Begriff. Er bezeichnet ein Urteil, das der Mensch am Ende aller Tage zu erwarten hat. Das Jüngste Gericht ist kein Zivilgericht, sondern ein Strafgericht, das jedem Menschen drohend bevorsteht. Die Härte des Gerichts resultiert aus der alttestamentarischen Tradition, in der das Verhältnis zwischen Mensch und Gott als Rechtsverhältnis gedacht wird (»Alter Bund« im Sinne von Vertrag). Durch den Sündenfall als Übertretung des göttlichen Verbots erfährt das Rechtsverhältnis eine nachhaltige Störung (Erbsünde). Vor dem Forum des Jüngsten Gerichts gibt es keinen Verteidiger und auch keine Berufung, sondern nur Gnade. Was der Mensch zu seiner Rechtfertigung oder Entschuldigung anführen kann, sind die gottgefälligen Werke (Werkgerechtigkeit). Dieses forensische Modell erfährt im Neuen Testament eine bedeutsame Transformation, die zur Bedeutungsverschiebung des Begriffs führt. Im Brief an die Römer versteht der Apostel Paulus unter ›Rechtfertigung‹ die Wiederherstellung des gestörten Verhältnisses zwischen Mensch und Gott ›allein durch den Glauben‹ an Gott (justificatio ex fide). Der Gegensatz zum Judentum äußert sich auch darin, dass für Paulus die Rechtfertigung des Sünders durch Christus gegenwärtige Wirklichkeit geworden ist. Aber der entscheidende Punkt bleibt der Primat des Glaubens, weshalb Paulus von Denkern der jüdischen Tradition gern als der ›Einfältige‹ hingestellt wird – so auch von Adorno in der Dialektik der Aufklärung (1947). Durch den Glauben wird nach Paulus Gottes Gnade aber nicht etwa bewirkt, sondern sie wird als geistige Lebensform für den Menschen überhaupt erst verständlich. Das verkehrt die Richtung des Prozesses der Rechtfertigung. Denn indem sich der Mensch des Neuen Bundes nicht auf die Werke des Gesetzes berufen kann, verzichtet er auf seine Verteidigung und 47 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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legt sein Schicksal ganz in die Hand des Richters. Nach diesem Muster heißt Rechtfertigung: ›Abnehmen von Schuld‹ oder ›Freisprechen‹ des Menschen, der durch sein schuldhaftes Verhalten nach Maßstäben irdischer Gerechtigkeit eigentlich mit ewiger Verdammung rechnen müsste. Das ist der von Gott ausgehende Akt der Gnade, eine einmalige Tat der Versöhnung, die der Einzigartigkeit des Individuums jederzeit zuteil wird. Innerhalb der protestantischen Theologie ist die Bedeutung der Rechtfertigungslehre umstritten. In der historischen Schule hat sich daher die Meinung durchgesetzt, Paulus habe die Lehre nur zur Abwehr gegenüber dem Judentum entwickelt oder andersherum, er sei damit in die pharisäische Vergangenheit zurückgefallen. So kann Wilhelm Dilthey in seiner Abhandlung Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert (1891/92) den Satz formulieren: »Ich leugne durchaus, dass der Kern der reformatorischen Religiosität in der Erneuerung der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung durch den Gauben enthalten ist« (GS II, 211). Die dogmatische Frage ist hier nicht das Thema, aber es muss festgehalten werden, dass es auch eine andere Interpretation des Verhältnisses der paulinischen Rechtfertigungslehre zum Judentum gibt: Paulus, der als Jude aufgewachsen war, habe in der Rechtfertigung eine neue Antwort auf die für jeden Juden alles beherrschende Lebensfrage: Durch welche Werke bestehe ich vor dem Letzten Gericht? gegeben (Karl Holl, Rechtfertigungslehre des Protestantismus, 1922). Für diese Interpretation spricht, dass damit der Rechtfertigungslehre ein bedeutsamer anthropologischer Gehalt zugesprochen wird. Er kommt dort zum Tragen, wo die Selbstvergewisserung des Menschen an ihre Grenzen stößt.

Etappen der Rechtfertigungstheologie Um die anthropologische Bedeutsamkeit der Denkform zu ermessen, dürfte es hilfreich sein, einige Etappen der Rechtfertigungslehre Revue passieren zu lassen. Die Geschichte der Rechtfertigungslehre geht vom Paulinismus aus und findet im Werk von Augustinus ihre erste dogmatische Ausarbeitung. Seine Rechtfertigungslehre entwickelt Augustinus im Rahmen seiner Sündenlehre, die das Essen vom Baum der Erkenntnis als sexuelle Begierde interpretiert. Der Sündenfall Adams, der die unmittelbare Verbindung mit Gott unterbricht, wirkt fortan im 48 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

2 Rechtfertigung – ein vergessener Begriff

Leben aller Menschen als Stolz und Selbstliebe weiter. Die Erbsünde kann nur durch Gnade aufgehoben werden, die Gott allen Menschen vorbehaltlos gewährt. Anders als Paulus hält Augustin den Glauben allein nicht für hinreichend. Glaube muss durch Werke der Liebe ergänzt werden, um den Gnadenweg zu ebnen. Indem Augustin die Erbsünde zum Kern der Rechtfertigungslehre macht, bricht er mit dem Primat der Vernunft, an dem seine theologischen Widersacher, die Pelagianer, festhalten. Augustin ist darin ein wahrer Theologe, dass er mit seiner Rechtfertigungslehre den Menschen in Abhängigkeit von Gott bringt. Doch das schließt nicht aus, dass sich Augustin in der Beschreibung des Zustands der Gnade am Eudämonismus der antiken Philosophen orientiert. Rechtfertigung heißt für ihn, dass der Mensch in Gott die Seelenruhe findet, die in der Antike mit der Metapher des stillen Meeres umschrieben wird. Diesen Zustand erreicht man nicht durch einen einmaligen Akt. Es handelt sich um einen im Diesseits nie abgeschlossenen Prozess der inneren Beruhigung, der Glättung der Wogen sexueller Begierde, die in der Jugend besonders hoch schlagen. Welche Bedeutung dem Wort des Apostels Paulus im Übergang von der irdischen Liebe zur Gottesliebe zukommt, erfahren die Leser der Bekenntnisse in der berühmten Schilderung des Bekehrungserlebnisses. Der noch im Stand der Sünde lebende Epikureer Augustinus schlägt aufs Ungefähr die Paulusstelle auf: »Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Schlafkammern und Unzucht …«. Damit zerspringen dem durch Gott Erwählten die Fesseln der irdischen Lust; er entsagt im Alter von zweiunddreißig Jahren für immer dem Weibe und gewinnt die ewige Ruhe in Gott. In der Rechtfertigung wird der durch die Sünde ›entleerte‹ Mensch durch Gottes Gnade schrittweise mit der Liebe zu Gott ›erfüllt‹. Liebe zu Gott heißt Überwindung der sinnlichen Begierden, aber es bleibt doch ein starkes Moment der Intersubjektivität in Form von Zuwendung und Hilfeleistung (caritas). Der Reformator Martin Luther hat hier angesetzt. Zwar räumt er der geschlechtlichen Liebe pragmatisch einen angemessenen Platz in der Ehe der »Christenmenschen« ein. Aber von der Werkgerechtigkeit, die zu den Ablasspraktiken des Klerus verkommen war, kehrt er zur genuin paulinischen »Rechtfertigung allein durch den Glauben« zurück. In seiner Vorlesung über den Römerbrief hat sich Luther dazu so geäußert: »›Gerechtigkeit‹ und ›Ungerechtigkeit‹ wird in der Heiligen Schrift ganz anders verstanden, als die Philosophen und Juristen 49 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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sie auffassen« (Werke 1, 178 f.). Das andere Verständnis besteht darin, dass es sich nicht um eine Strafgerechtigkeit handelt, sondern um ausgleichende Gerechtigkeit. Der Ausgleich, den Gott dem Sünder gewährt, ist kein Straferlass, sondern liegt in der Einsicht des Menschen in seine Sündhaftigkeit. Das ist insofern ein Gnadengeschenk, als der Mensch dazu tendiert, sich selbst blauen Dunst vorzumachen, der ihn in seiner Selbstgerechtigkeit von den anderen Menschen isoliert. Auf der anderen Seite liegt Luther nichts ferner, als das Individuum in mittelalterliche Unmündigkeit und Abhängigkeit von der Institution der Kirche zurückzustoßen. Er beschreibt das In-der-WeltSein des Menschen als direkte Beziehung zu Gott, was für das Individuum eine schwere Aufgabe bedeutet. Denn jeder muss sich nun nicht nur für einzelne Werke verantworten, sondern im Glauben steht seine ganze Person unter Rechtfertigungszwang. Daher geht Luther bei der Beschreibung des Verhältnisses zu Gott von ontologischen zu relationalen Kategorien über, wodurch ein dialektischer Grundzug in das Verhältnis von Glaube und Gnade gelangt. Die Gnade soll ganz von Gott ausgehen, aber ohne den Glauben als die Bereitschaft zur Aufnahme bliebe die Rechtfertigung im diesseitigen Leben wirkungslos. Luther macht alle Anstrengungen, das Problem der Verschränkung von Aktivität und Passivität im Sinne der absoluten Souveränität Gottes zu lösen, ohne den Menschen gänzlich der Freiheit einer Mitwirkung an seinem Heil zu berauben. Obwohl alle Aktivität von Gott ausgehen soll, betrachtet Luther die Rechtfertigung als Prozess, in dem sich die vergebende Gnade Gottes, die iustitia dei passiva, dem Menschen schrittweise mitteilt. Das prägt das ›Gesetz des Glaubens‹, dem zufolge der Mensch zu täglicher Buße, d. h. zur Selbstüberwindung seines Autonomieanspruchs bereit sein muss. Das bedeutet, wie Adolf Harnack in seinem Lehrbuch der Dogmengeschichte (3 Bde., 1886–90) sich ausdrückt, »dass die Rechtfertigung beides in eins ist, nämlich ein Gerechtsein und ein Gerechtwerden; jenes, sofern durch den Glauben, der die Vergebung erreicht, der Mensch wirklich vor Gott gerecht ist; dieses, sofern der Glaube, der seines Gottes gewiss geworden ist, allein gute Werke hervorzubringen vermag« (III, 844 f.). Hier nimmt das Bemühen um eine Synthese von Glaube und »guten Werken«, das nach Harnack zum »Wesen des Christentums« gehört, entwicklungsgeschichtliche Formen an, die im Neuprotestantismus des 19. Jahrhunderts immer stärker hervortreten.

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Vernunft und Glaube Es gehört zu den geistesgeschichtlich zu wenig beachteten Momenten, dass der transzendentale sowie der metaphysische Idealismus als Versuche gelesen werden müssen, die theologische Rechtfertigungslehre in eine den Ansprüchen der philosophischen Rationalität genügende Form zu bringen. Kants Vernunftkritik, die sich nicht zufällig an der Gerichtsmetaphorik orientiert, demonstriert die Stärke der menschlichen Vernunft an der Fähigkeit der Selbstgesetzgebung. Diese betrifft immer nur einzelne Handlungen. Kant ist sich aber im Klaren darüber, dass die Rechtfertigung des Menschen nicht von der einzelnen Tat abhängen kann, sondern »dass ihm sein ganzes Leben dereinst werde vor Augen gestellt werden, nicht bloß ein Abschnitt desselben« (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Zweites Stück, Erster Abschnitt). Das Verlangen nach Rechtfertigung der ganzen Person führt zur Erhöhung des moralischen Drucks: Wenn man im Menschen bei dem Richter, »der in ihm selbst ist, anfragt, so beurteilt er sich strenge; denn er kann seine Vernunft nicht bestechen« (ebd.). Eben diese Unbestechlichkeit macht Rechtfertigung zu einer »unendlichen Aufgabe«, die vom Menschen den Mut erfordert, die »Faulheit der Vernunft« zu überwinden. Kant reflektiert die moralische Rechtfertigungsproblematik ganz im Rahmen von Rechtsbegriffen. Der Protestantismus Hegels geht noch einen Schritt weiter in der Säkularisierung des religiösen Glaubens. Sein Begriff der Freiheit des »bei sich selbst seienden« Subjekts baut auf der paulinischen Gewissheit des Glaubens auf. Entsprechend seiner Idee einer konkreten Sittlichkeit verwandelt Hegel die im Protestantismus hervortretende Innerlichkeit der Subjektivität in die Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft, wodurch die Rechtfertigung zu einem weltgeschichtlichen Prozess wird. Ausgangspunkt dieses Prozesses ist die im Zeitalter der Industrialisierung sich abzeichnende Entzweiung des Subjekts, die Hegel an einer unorthodoxen Interpretation des Sündenfalls expliziert. Daraus resultiert nach seiner Auffassung ein »Bedürfnis nach Versöhnung«, die »nur Versöhnung sein (kann) mit der Wahrheit« (Werke 17, 52). In dem Moment, wo »die Rechtfertigung durch den Begriff Bedürfnis ist«, weil durch den Zerfall der Einheit des Inneren und Äußeren »im Glauben nichts gerechtfertigt ist«, ist für Hegel der Zeitpunkt der Aufhebung der Religion durch die Philosophie gekommen (17, 343). Eben darin sieht Hegel die Versöh51 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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nung, die allein der Philosophie vorbehalten ist, denn »diese Versöhnung ist die Philosophie«. Mit Kant und Hegel sind die beiden philosophischen Koordinaten markiert, entlang derer sich im 19. Jahrhundert die Weiterentwicklung der Rechtfertigungslehre vollzieht. Ein Exponent dieser Entwicklung ist Albrecht Ritschl, der Vater des deutschen Kulturprotestantismus, der, ideenpolitisch betrachtet, den Liberalismus und Realismus des gebildeten Bürgertums im sich formierenden Deutschen Reich repräsentiert. Im Anschluss an Kant steht Ritschl für die Vollendung der Aufklärung, von der aus er zugleich der Linie Hegels folgt. Diese Doppelgleisigkeit kommt im Titel seines Werkes Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (1870–74) klar zum Ausdruck. Ziel der Rechtfertigung als Versöhnung ist laut Ritschl die Verwirklichung des christlichen Lebensideals in der bürgerlichen Gesellschaft. Es geht also nicht mehr um die streng paulinische »Rechtfertigung allein durch den Glauben«, sondern um die Anstrengung der Christen, den Glauben mit einem praktischen Lebensideal zu verbinden. Damit verliert Rechtfertigung ihren forensischen Charakter. An die Stelle des Richters tritt der Vater, dessen Gnade trotz der bösen Taten der Kinder keine Grenzen kennt. In Christus sendet dieser den Mittler, der den unsichtbaren Gott vor dem Menschen repräsentiert, dessen Schicksal aber auch die Menschen vor Gott repräsentiert. Durch die Gleichsetzung mit Versöhnung rückt Rechtfertigung in die Nähe zum weltlichen Familiengeist, so dass man den kulturprotestantischen Rechtfertigungsbegriff durchaus als eine Form des Kommunitarismus auffassen kann.

Dialektische Theologie Die enge Verbindung von Christ und Welt im Kulturprotestantismus ist nach dem Ersten Weltkrieg durch die Dialektische Theologie gesprengt worden. Karl Barth hat in seinem berühmten RömerbriefKommentar (1922, 2. Aufl.) die Gewissheit des Glaubens von der Welt abgetrennt und der Wirkung Gottes als des »ganz Anderen« zugeschrieben: »Der Glaube begründet Gewissheit, sofern er der ewige Schritt ins ganz und gar Unanschauliche und also selbst unanschaulich ist. Jeder anschauliche Hergang und Zustand, jeder zeitliche Weg, jede beschreibliche Methode und Pragmatik, die ihn begleitet, ist auch seine 52 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Negation. Nur insofern ist Glaube Glaube, als er der ›Schritt‹ des Menschen ist, der nur von Gott, von Gott selbst, von Gott allein möglich und verständlich ist. Nur insofern ist er schöpferisch, als er Licht ist vom ungeschaffenen Lichte, nur insofern lebendig, als er Leben aus dem Tode ist, nur insofern positiv, als der Mensch durch ihn begründet ist in der Unbegründetheit Gottes. Nur um deswillen wird er ›angerechnet als Gerechtigkeit‹, macht er den Menschen zum Empfänger göttlicher Verheißung. Abgesehen von dieser, dem ›Gesetz‹, dem menschlich anschaulichen Offenbarungseindruck immer jenseitigen göttlichen Qualifikation ist auch der tiefste, feurigste, ernsthafteste Glaube Unglaube« (Der Römerbrief, 120). Wenn es für den Menschen überhaupt Versöhnung und Heilung geben sollte, dann nur durch die Gnadenfügung Gottes, die keinen Vergleich mit weltlicher Gerechtigkeit zulässt. Die Gerechtigkeit Gottes zeigt sich nach Barth erst dann, wenn der Mensch die Wirklichkeiten, in denen er lebt, nicht mehr als den höchsten Wert betrachtet. Für den Gläubigen, der sich ganz auf die Gnade Gottes verlässt, erscheint sogar die Vernunft als nichtsnutzig, geradezu als unvernünftig. In der »Paradoxie des Glaubens« erschließt sich dem Menschen ein »ganz Anderes«, das sich der »Gestalt der Welt« grundsätzlich entzieht. Das gilt für die leibliche Gestalt ebenso wie für die geistige. Dem widerspricht die Fleischwerdung Gottes nicht, da sie durch die Auferstehung Christi den menschlichen Erfahrungshorizont transzendiert. Die Reaktion der sich »dialektisch« nennenden Theologie war für die Philosophie eine starke Herausforderung. Sind ihr doch die unüberschreitbaren Grenzen vor Augen geführt worden, die der Vernunft in ihrem Bemühen um Versöhnung mit der Wirklichkeit gezogen sind. Ihr wurde klar, dass absolute Rechtfertigung der menschlichen Existenz aus logischen Gründen ebenso unmöglich ist wie eine Letztbegründung des Wissens. Angesichts der Heillosigkeit der Welt bleibt nach Ansicht der Dialektischen Theologen dem Menschen nur die radikale Negation alles Zeitlichen, aber auch die Negation der Geltungsansprüche überzeitlicher Vernunftwahrheiten. Die beiden Erscheinungsformen Gottes, Gericht und Gnade, übersteigen den Horizont der menschlichen Vernunft und verweisen auf die unauslotbaren Tiefen einer sich selbst dem Paradox preisgebenden Gottheit. Damit war ein theologischer Begriff von Rechtfertigung etabliert, der sich jeder positiven Darstellung grundsätzlich entzieht. Mit dieser radikalen Position wurde die Synthese von protestantischer Theologie 53 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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und transzendental-idealistischer Philosophie endgültig in Frage gestellt. Wie soll es in dieser Situation mit der Rechtfertigung weitergehen? Für eine Anthropodizee muss nach einer innerweltlichen Instanz Ausschau gehalten werden, die den Menschen trotz seiner Neigung zum Bösen vor sich selbst rechtfertigt. Die Vernunft, die noch bei der Leibniz-Theodizee der Aufklärung Pate gestanden hat, genügt nicht mehr. Das kann natürlich nicht bedeuten, dass der Rationalitäts- und Autonomieanspruch des modernen Menschen aufgegeben wird. Es bedarf vielmehr einer Erweiterung des Logos, der in sich selbst kreist. Gefragt ist eine offene Form der Rationalität, die neben der objektiven auch die subjektive Seite der Vernunft berücksichtigt. Das muss nicht automatisch in einer ›Uterodizee‹ enden, wie sie neuerdings Peter Sloterdijk vorschwebt. Der Mutterschoß ist für den modernen Europäer sicherlich nicht mehr der kultische Ort, an dem der Logos sich zur Humanität entwickelt.

Begegnung mit Plato und Mozart So unbefriedigend Barths Versuche, in der Welt zu bleiben und sich zugleich von ihr zu distanzieren, auch sind, seine Verteidigung dieser Haltung enthält doch für die Anthropologie interessante Aspekte: »Wir müssen die große Sachlichkeit wiedergewinnen, in der sich Paulus mit den Propheten, mit Plato begegnet. Christus ist das unbedingt Neue von oben, der Weg, die Wahrheit und das Leben Gottes unter den Menschen, der Menschen Sohn, in welchem sich die Menschheit ihrer Unmittelbarkeit zu Gott bewusst wird. Aber Distanz wahren! Keine noch so feine psychische Dinglichkeit der Form dieses Bewusstwerdens darf die wahre Transzendenz dieses Inhalts ersetzen oder verschleiern. Allzu klein ist der Schritt vom Jahwe-Erlebnis zum Baal-Erlebnis, und allzu verwandt sind die religiösen mit den sexuellen Vorgängen« (Der Christ in der Gesellschaft, 42). Wie wahr! Aber der Verwandtschaft entledigt man sich nicht, indem man sich aus der Welt verabschiedet. Beizupflichten ist Barth darin, dass er sich gegen das abstrakte Denken Gottes wendet und für einen »wurzelhaften, prinzipiellen, ursprünglichen Zusammenhang unseres Lebens mit jenem ganz anderen Leben« plädiert (45). An die Stelle des theologischen Hantierens mit dem Gottesbegriff soll die religiöse Erfahrung des Subjekts treten. Der 54 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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ersehnte Wiedergewinn der »großen Sachlichkeit«, in der Paulus sich mit Plato trifft, kann aber nur erreicht werden, wenn man dem platonischen Eros gerecht wird und überdies die Transformationen berücksichtigt, die der Eros durch die moderne Tiefenpsychologie erfahren hat. Wenn Barth von »Eros« spricht, und das tut er im RömerbriefKommentar ausführlich, so hat er offensichtlich nicht nur an Platon gedacht, sondern auch an die Libido, die in Gestalt von Freuds Sexuallehre die Geister in Unruhe versetzte. Barth scheint durchaus ein Gespür dafür zu haben, dass im Eros mehr steckt, als seine Invektiven zugeben. So warnt er selbst vor einer Unterschätzung der Macht des Eros: »Das Ziel jenes allgemeinen Lebensdranges ist ein Ende. Der Zeugung unmittelbar gegenüber steht der Tod. Was geschaffen ist, ob Geschöpf oder Werk, ist für die Zeit geschaffen. Wenn Geschöpf oder Werk in ihrer höchsten Schönheit zu uns reden (Mozart!), dann, gerade dann ist’s tiefe Wehmut, die da redet. Wer wüsste das nicht?« (Der Römerbrief, 457). Der Verweis auf Mozart spricht Bände. Der Mozart-Verehrer Barth sagt dazu in seinem späten Werk Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert (1946): »Er hörte, wie sein Don Juan, den Schritt des steinernen Gastes. Er ließ sich aber, wie sein Don Juan, nicht irre machen darin, rein weiter zu spielen in Gegenwart des steinernen Gastes« (53). Die Erwähnung von Mozarts Don Giovanni deutet darauf hin, dass Barth die Tragik dieser Gestalt geistig durchdrungen hat und sich durchaus vorstellen kann, dass der Mensch auch ohne Glauben an Gott durch das Spiel mit der Liebe bestehen kann. Don Giovanni eilt von Genuss zu Genuss, aber er erfährt in der Vergeblichkeit der endgültigen Befriedigung die Anwesenheit eines »ganz Anderen«. Sollte der Eros nicht doch einen Weg zur Erlösung weisen? Vielleicht ist der Eros so verschieden nicht vom Glauben, der in der Furcht des Herrn seinen Anfang nimmt und in der Liebe Gottes endet. Trotz aller Unsicherheiten gleicht die Paarliebe einem Forum, vor dem über zwei absolute Geltungsansprüche entschieden wird. In dieser einmaligen menschlichen Konstellation helfen keine ethischen Normen weiter; denn es geht nicht um die Bewertung moralischer Qualitäten, sondern um die Darstellung der gemeinsamen Lust. In dieser Hinsicht hilft »Rechtfertigung« als forensischer Terminus freilich nicht weiter. Denn dem Forum der Paargerechtigkeit sitzt kein allwissender Richter vor, sondern das Paar selbst. Nur die Liebenden können über ihre Gefühle Auskunft geben. In dieser Konstellation wird aus 55 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Gottes Liebe menschliche Liebe, die sich über alle Gründe hinwegsetzt. Der Begriff der Rechtfertigung gewinnt damit außerdem eine neue Bedeutungsdimension: Rechtfertigung heißt Klärung der Lust in der Paarbeziehung, in der Mann und Frau sich so begegnen, dass sie sich ihrer Lust nicht zu schämen brauchen. Damit dürfte deutlich geworden sein, was es heißt: Philosophische Anthropologie als Rechtfertigungslehre. Wenn für die Rechtfertigung Gott nicht mehr zur Verfügung steht, kann nur der Eros seine Stelle einnehmen. In der erotischen Liebe gewinnen Mann und Frau das Bewusstsein dessen, wer sie sind und was sie eigentlich vom Leben erwarten. Diese Einsicht wird ihnen durch die Anerkennung des geliebten Partners zuteil. Auf diese Weise lösen sich die Aporien eines Menschenbildes auf, das sich allein auf den in sich selbst zentrierten Logos stützen will. Zwar kann auch durch Liebe niemand die Stelle des anderen einnehmen, aber jeder kann durch sie sich selbst oder, mit Simmel zu sprechen, seinem »Sein« ein Stück näher kommen. Die Paarliebe ist die einzige Form der Rechtfertigung, die ganz auf Gegenseitigkeit beruht. In der geschlechtlichen Vereinigung ist jeder Objekt und Subjekt zugleich: So lautet die Lehre von der erotischen Rechtfertigung des Menschen. In welcher Form der überraschende Metamorphosen liebende Eros seine Lehre in die Praxis umsetzt, soll im folgenden Kapitel geklärt werden.

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Kapitel 3: Das Schema des Eros

Eros, der der schönste ist unter den unsterblichen Göttern, der Gliederlösende, aller Götter und aller Menschen Sinn und verständige Absicht bezwingt er in ihrer Brust. (Hesiod, Theogonie)

Wie sehr der Theologe die Konkurrenz der Welt fürchtet, geht aus Barths Ausfällen gegen den Eros hervor. Sie lassen den Moralismus des Viktorianers erkennen. Die Liste der Vorwürfe ist lang: Als biologische Funktion ist der Eros schwankend: »Er schlägt nur zu schnell aus Hitze in Kälte um.« Psychologisch mangelt es ihm an Aufrichtigkeit: »Eros ist ein Heuchler« (Der Römerbrief, 477). Aber auch intellektuell bleibt er hinter der Vernunft zurück: »Eros ist nicht nur unaufrichtig, sondern auch unkritisch« (478). Das ist alles nicht ganz falsch, verkennt aber doch die Bedeutungsdimension, die den Eros vom Sex unterscheidet. Das gilt schon für den platonischen Eros, aber nicht minder für seine modernen Formen. Daher zunächst ein kurzer Rückblick auf Plato, der den Eros mit dem geistigen Leben verbindet.

Der platonische Eros Unter den Neukantianern, die um 1900 Plato rationalistisch interpretieren, ist Ernst Cassirer der einzige, der in seiner Rekonstruktion der Philosophie Platons die Verflechtung des Logos mit der Eros-Lehre herausarbeitet. Dass das Resultat des Denkens, der Begriff, die vergänglichen Akte des Denkens überschreitet und dauerhafte Bedeutungen schafft, schreibt Cassirer dem Eros zu: »In ihm ist Reichtum und Armut der Erscheinung beschlossen und geeint: der Mangel selbst wird hier zum Ausdruck der Fülle, die Fülle zum Ausdruck des Mangels. Der Eros ist kein Gott, denn alles Göttliche ist in sich selbst vollendet, so 57 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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dass es keines anderen bedarf; aber ebenso wenig gehört er der bloß sterblichen Natur an, da ihm das Hinausgreifen über alles Sterbliche, über alles bloß Endliche und Bedingte wesentlich ist. So ist er ein großer Dämon: denn alles Dämonische ist zwischen Gott und dem Sterblichen. Als Dolmetscher und Mittler geht er zwischen Göttern und Menschen hin und her. So hat jede menschliche Seele am Eros teil: denn ohne ihn wäre sie nicht Seele, sie würde ins bloß Physische, Bewusstlose zurücksinken und ihrer geistigen Natur verlustig gehen. Aber erst der Philosoph blickt auf den Grund dieser Beziehung: erst der Dialektiker versteht die Sprache des Eros. Wieder erweist sich hier die zentrale Stellung des Bedeutungsproblems in der Platonischen Philosophie« (Philosophie der Griechen, 110). In diesen Sätzen sind wesentliche Aspekte der Bedeutung des Eros für den Logos konzentriert: das expressive Moment, die Offenheit und Unabschließbarkeit, die Differenz von Genesis und Geltung sowie schließlich die Sprachlichkeit. Der epochale Schritt Platos besteht darin, dass er für den Eros eine neue, höhere Beschreibungsebene gefunden hat: die semantische. Damit erhalten sowohl der Logos wie auch der Eros eine neue Bedeutung. Der vorsokratische Logos steht für ein Seinsprinzip, wie beispielsweise das Feuer bei Heraklit. Plato dagegen macht aus dem Logos ein reines Gedankending, eine Bedeutungsfunktion, in der alles materielle Sein aufgehoben ist. Mit dieser Reinigung des Logos hat es Plato aber nicht bewenden lassen. Er hat den Logos mit dem Eros verbunden und damit der europäischen Rationalität ihre unverwechselbare Gestalt verliehen: »Die große Leistung des Sokrates, wie Plato sie verstand […], lag eben in der Einsicht, dass die ›Vernunft‹ des Seins, dass sein Logos sich nicht in den Dingen, sondern nur im Denken und im Tun offenbaren könne. In der Vereinigung von Denken und Tun, in der unlöslichen Wechselbeziehung beider, wie sie sich in Sokrates darstellt, trat ihm zuerst das ›Logische‹ nicht in der Abstraktion, sondern in seiner wahrhaften Lebendigkeit, in seinem selbständigen und ursprünglichen Vollzug entgegen. Dieser Vollzug des Logos war es, der für Plato den Sinn und den Gehalt des Lebens von Grund auf umgestaltet hat. Hier entdeckt er hinter der sokratischen Silenhülle das Götterbild« (88). So die unübertreffliche Charakteristik aus der Feder Ernst Cassirers. Damit bekommt auch der Eros einen neuen Status. In der Gestalt des Sokrates koppelt Plato den Eros von der Reproduktion ab. Er wird zu einem geistigen Prinzip, zu einer Denkform, die aber das Triebhafte 58 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Das Schema des Eros

nicht ganz abstreift. In der Knabenliebe demonstriert Plato, wie der Eros am Logos als Weg zur Einsicht in das Reich der Ideen teilhat. Sokrates, der beim Blick unter das Gewand des jungen Charmides außer sich gerät, wird später selbst zum Verzauberer der Jugend. Die stumpfnäsige Hässlichkeit des Alten hindert den jungen Alkibiades nicht daran, sich von seinen Worten bezaubern zu lassen. Warum fasziniert der hässliche Alte durch seine Reden den schönen Jüngling? Weil dieser spürt, dass in Sokrates trotz des körperlichen Verfalls die Glut der Begierde weiterlebt. Das hat nichts mit Sublimierung zu tun, denn Sokrates braucht nichts zu verdrängen. Er bekennt sich zu seiner Begierde, nur ist er klug genug, sich nicht von der Biologie vorführen zu lassen. In dieser Umkehrung liegt die Faszination des Eros. Der Aufstieg von der körperlichen zur geistigen Liebe, von den vergänglichen Erscheinungen zu den unwandelbaren Ideen ist mehr als das Erklimmen einer Leiter, die man dann wegwirft. Auch in den höchsten Formen der Geistigkeit wirkt die sinnliche Begierde weiter, da der Impetus zur Überwindung aus ihr selbst kommt. Das macht die Paradoxie des Eros aus: Begierde und ihre ›Aufhebung‹ zugleich zu sein. Das Ineinander von Mangel und Fülle im Eros macht den platonischen Eros zur Chiffre des Menschseins. Eros ist kein Gott, denn zum Göttlichen gehören Vollendung und Selbstgenügsamkeit. Eros dagegen verkörpert das Streben nach dem, was er nicht ist und nie sein kann: die vollkommene Schönheit. Im Symposion lässt Plato den Sokrates die rhetorische Frage stellen: »Nicht wahr, der Eros ist erstens doch Liebe zu etwas, sodann Liebe zu dem, woran er selbst Mangel leidet?«, auf die Alkibiades mit einem überzeugten »Ja« antwortet. Hier geht es nicht um den Mangel einer beliebigen Eigenschaft, auf die man verzichten kann, sondern um einen Mangel im Kern des Menschen, in seinem Lebenswillen, so dass man von einem ontologischen Mangel sprechen kann. Dadurch wird der Eros zum Dämon, der als Mittler zwischen Gott und den Menschen, zwischen Körper und Geist hin- und hergeht. Aus diesem spannungsvollen Wechselspiel interpretiert auch Cassirer Platons Auffassung des Eros: »Der Eros der Seele ist die tiefste und unmittelbarste Offenbarung des dialektischen Charakters der empirischen Wirklichkeit« (Philosophie der Griechen, 109 f.). Sicherlich ist seit Freud das Bild der Seele nicht mehr so ungetrübt wie zu Platons Zeiten. Aber das sollte nicht dazu verleiten, den Dialektiker, der nach Cassirers Meinung allein die Sprache des Eros versteht, mit dem Psy59 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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choanalytiker zu verwechseln. Die Dialektik, die Platon im Auge hat, ist das ›synergistische‹ Gespräch, in dem nach einer gemeinsamen Basis der Verständigung gesucht wird: »Der Eros ist der Logos der Seele«, heißt es denn auch bei Cassirer. Das bedeutet: Der Eros ist keineswegs die Nachtseite des Logos, nicht das innere Afrika der verdrängten Wünsche und der daraus resultierenden Gewalttätigkeiten. Er steht vielmehr für die Klärung der Begierden durch das Gespräch, das nur Liebende miteinander führen können. Der Psychiater bietet dafür keinen Ersatz. Die Dialektik des Eros übersteigt die negative »Dialektik der Aufklärung«, die sich nach Horkheimer und Adorno nicht aus der »Hassliebe gegen den Körper« befreien kann und zur Selbstzerstörung des Logos führt. Sie liegt vielmehr in der positiven Wechselwirkung mit dem Logos, die im Mythos noch erhalten ist, aber dort nicht zu begrifflicher Klarheit gelangt. Das gelingt erst, wenn man die Liebe nicht mehr als Teilhabe an überzeitlichen Ideen, sondern als Konzept ansieht, das aus der Lust herauskonstruiert werden muss. Diese Arbeit leistet der Eros, der als Mittler und Überwinder des Gegensatzes fungiert. In diesem Punkt geht Cassirer über den Platonismus hinaus. Er dekonstruiert die Idee der Liebe im Sinne des modernen Funktionalismus und schließt den platonischen Eros an die Lebensform der Moderne an.

Eros und Agape In der neukantianischen Lesart gewinnt die platonische Eros-Lehre eine kulturphilosophische Bedeutung, die von der Theologie als Bedrohung empfunden wurde. Das belegt der Römerbrief von Karl Barth. Er hat ein feines Gespür dafür, dass der christliche Begriff der Liebe in der modernen Lesart des Eros eine ernsthafte Konkurrenz erfährt: »Bedeutungsvoll soll sie sich betätigen: wirklich würdig ihres (geliehenen!) Namens Agape, wirklich ein positives Ethos, wirklich als Protest gegen die Strömung, in der sich der Mensch als Mensch befindet. Das versteht sich nie und nirgends von selbst. Denn wo tritt die Menschenliebe anders auf als in der Gestalt, der sie sich ja von Haus aus gerade nicht fügen sollte: in der Gestalt des Eros?« (Der Römerbrief, 477). Das bezieht sich auf das Hohelied der Liebe, das der Apostel Paulus im Ersten Brief an die Korinther singt. Da die christliche Liebe nicht mit dem 60 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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antiken Eros zusammenfallen darf, hat Paulus denn auch das ungebräuchliche Wort »Agape« gewählt. Trotz des heroischen Bemühens von Denis de Rougemont, Agape als Bindungsform der Ehe über die Leidenschaft zu stellen (Die Liebe im Abendland, 1939/1972), fällt es nicht leicht, eindeutige Abgrenzungskriterien anzugeben. Das überrascht nicht, da die Leidenschaft aus der Begegnung der Geschlechter nicht wegzudenken ist. Ähnliche Schwierigkeiten bietet die Abgrenzung der mittelalterlichen Caritas vom Eros, obwohl hier durch das Moment der Fürsorge und Barmherzigkeit ein eindeutiges Kriterium gegeben ist. Mag Karl Barth auch den Eros verdächtigen, so zeigt das nur, wie stark er die Nähe von Eros und Agape gespürt und gefürchtet hat. Der Eros ist mehr als eine biologische Funktion. Seine geistige Dimension liegt in der Bezogenheit, die Barth für das Verhältnis des Menschen zu Gott überwinden will, nach der aber alles menschliche Denken und Tun verläuft. Man darf nicht vergessen, dass Paulus trotz missverständlicher Äußerungen kein Dualist war und die dem Christentum oft nachgesagte Lust- und Körperfeindlichkeit seiner Vorstellung von der Einheit von Körper und Seele nicht gerecht wird. Durch die Menschwerdung des unsichtbaren Gottes in Christus wurde die erotische Dimension eingeholt, die der alttestamentarische Gott zunächst verlassen musste, um den Mythos zu überwinden. Eine philosophische Aufwertung des Eros läuft Gefahr, in den Strudel neuheidnischer Strömungen zu geraten, wie sie im so genannten »kosmogonischen Eros« von Ludwig Klages zum Ausdruck kommen. Das sind spätkulturelle Formen der Regression, vor der sich die Anthropologie in Acht nehmen muss. Die Versuchung zu derartigen Regressionen wird nicht zuletzt durch die Beschäftigung mit außereuropäischen Naturreligionen verstärkt, in denen die Sexualität an den Fruchtbarkeitskult gebunden bleibt. Sicherlich ist auch beim platonischen Eros der dionysische Hintergrund der »Erosfrömmigkeit« nie ganz verschwunden (A. Nygren, Eros und Agape, 1954). Aber das Heilsversprechen des Eros kann nicht als religiös im Sinne des Monotheismus bezeichnet werden. Der vom humanistischen Bildungsbürgertum viel beschworene »Glaube der Hellenen« bleibt ein Diesseitsglaube, der dem Mythos nicht völlig entwachsen ist.

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Eros und Libido Barth sieht im Eros nur die »Libido, die Begierde« und kann sich dafür sogar auf Sigmund Freud berufen, nach dessen eigenem Dafürhalten die Libido eine »vollkommene Deckung« mit dem platonischen Eros aufweist (GW XIII, 99). Ob die Deckung wirklich so vollkommen ist, wie Freud meint, ist allerdings mehr als fraglich. Statt sich dieser Einschätzung einfach anzuschließen, tut man besser daran, das Verhältnis von Platos Eros zu Freuds Libido-Theorie genauer unter die Lupe zu nehmen. Erst wenn ein tragfähiger Begriff des Eros gewonnen ist, der Plato wie auch Freud gerecht wird, kann die philosophische Alternative zum »ganz Anderen« hervortreten, die Barth selbst geahnt und gefürchtet hat. Eros und Libido decken sich nicht vollkommen, sie beschreiben aber ein und dasselbe Phänomen aus verschiedenen Perspektiven. Plato betrachtet den Eros top down, Freud bottom up. Was beide sichtbar machen, ist ein Streben, an dessen innere Komplexität und dialektische Spannung keine andere menschliche Funktion heranreicht. Die Dialektik liegt in der unauflösbaren Verknüpfung von Erwartung und Enttäuschung, von Begierde und Verzicht, aus deren Bewältigung die geistige Dimension des Eros resultiert. Bei Plato ist es der hässliche Silen Sokrates, der den schönen Jüngling Alkibiades durch seine Reden an sich fesselt. Im modernen Roman ist es der alternde Universitätsprofessor, der einer jungen Studentin verfallen ist und in diesem Zustand des Verfalls von der Biologie als ›sterbendes Tier‹ vorgeführt wird. Freud versteht unter Eros den »Lebenstrieb«, der in der Sexualfunktion seinen sichtbarsten Ausdruck findet. Ziel des Eros ist die Erhaltung des Lebens durch Vereinigung. Gespeist wird der Lebenstrieb aus der Libido, einer unspezifischen psycho-physischen Energie, die im Unbewussten, im Es angesiedelt ist, die Freud aber auch im Ich konzentriert sieht. In späteren Phasen der Entwicklung wird die Libido vom Ich auf Objekte ausgedehnt. Mit der triebtheoretischen Deutung entfernt sich Freud vom platonischen Eros. An die Stelle der Teilhabe am Schönen tritt nun ein Prozess der Klärung, in dem die Liebe als Konzept fungiert. So kann man sagen, Freud habe mit seiner Sexualtheorie dem platonischen Eros ein Stockwerk untergebaut, in dem sich Dinge abspielen, von denen die Lustfeindlichkeit seiner Zeit nichts wissen mochte. 62 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Das Schema des Eros

Das Provozierende an Freuds Sexualtheorie liegt darin, dass er den Begriff ›sexuell‹ von der Genitalerotik abkoppelt und alle Phasen frühkindlicher Lustbeschaffung darunter subsumiert. Diese Auffassung hat Freud dazu geführt, zwischen den Begriffen sexuell und genital zu unterscheiden. Die spätere Verlagerung auf die genitale Sexualität der Erwachsenen betrachtet er als kulturell erzwungene Kanalisierung der Sexualität, die im Normalfall einen gelungenen Anpassungsprozess des Individuums an die Erfordernisse der Gesellschaft darstellt, häufig aber auch zu lebenslangen Störungen führen kann. In jedem Fall bestimmt die Sexualentwicklung des Säuglings das ganze spätere Leben, so dass der Mensch als Kulturwesen ganz vom »Triebschicksal« geprägt ist.

Von der Gestalt zum Schema Einen Anhaltspunkt für eine Neubewertung des Eros gibt Barth, der das, was beim Apostel Paulus »die bestehende Gestalt dieser Welt« heißt, mit »Schema des Eros« übersetzt: »Vielleicht verfehlen wir uns am wenigsten, wenn wir die ›Gestalt dieser Welt‹ inhaltlich bestimmen als das ›Schema des Eros‹« (Der Römerbrief, 457). Mit »Schema des Eros« hat Barth eine prägnante Formel für das zwischenmenschliche In-der-Welt-Sein gefunden. Er denkt offenbar an ein einfaches Auslöser-Schema, das als »Kindchen-Schema« eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Kindliche Kopfformen beispielsweise rufen beim Betrachter automatisch Pflegeverhalten hervor. Entsprechend beschreibt das sexuelle Auslöser-Schema das Anspringen von werbendem Verhalten auf bestimmte optische, aber auch olfaktorische Reize, die von einem potentiellen Geschlechtspartner ausgehen. Hier sei an den »Zauberduft« erinnert, der Faust unwiderstehlich in Gretchens Stube lockt. Das aber dürfte zur Charakterisierung des Eros als der spezifisch menschlichen Form des Sexualverhaltens kaum ausreichen und verfehlt so ganz gewiss die »Gestalt der Welt«. Einen tragfähigen Schema-Begriff gewinnt man, wenn man darunter mehr als eine bloße Auslöser-Funktion versteht. Eine solch weiterführende Konzeption ist in der Biologie und Psychologie entwickelt worden. Hier seien nur Jakob von Uexküll und Jean Piaget genannt, die in ihren Beschreibungen des tierischen und des menschlichen Verhaltens den Begriff des Schemas verwenden. Nach von Uexküll werden 63 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Projekt: Vom Logos zum Eros

Zusammenführung und Zusammenstimmung von Lebewesen, insbesondere im Funktionskreis der Sexualität, durch Schemata geregelt. Ein Schema ist semantisch eine Form von Bedeutungsbildung, was von Uexkülls Ausführungen über »Schema und Funktion« bestätigen (Theoretische Biologie, 141 ff.). Er zitiert Kant mit den Worten, der Schematismus sei »eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden«. Hier wird erkennbar, wie die biologische Betrachtung die transzendentalphilosophische Konstruktion des Erkenntnisvorgangs in Verhaltensregulative übersetzt. Etwa ein halbes Jahrhundert nach Jakob von Uexküll hat Jean Piaget seine genetische Erkenntnistheorie auf dem biologischen Begriff des Schemas aufgebaut. Er stellt dem zweigliedrigen Reiz-ReaktionsSchema Handlungsschemata gegenüber, die er auch als »Ordnungsschemata« bezeichnet. Er versteht darunter dreigliedrige Relationen, die als offene Systeme alle Bereiche des emotionalen und mentalen Lebens regulieren. Die menschlichen Handlungsschemata sind von hoher Komplexität und bilden Hierarchien. Sie haben den Status logischer Typen, die Piaget einer »Logik des Instinkts« zuordnet (Biologie und Erkenntnis, 1974). Damit nimmt er eine transzendental-pragmatische Position ein, wie sie in den neueren handlungstheoretischen Ansätzen vorherrschend geworden ist. Einzelhandlungen verschiedener Art vom Herstellen bis zum Sprechen werden als Aktualisierungen von Handlungsschemata interpretiert, die Kooperation und Kommunikation ermöglichen. Als allgemeiner Grundzug der menschlichen Handlungsschemata gilt, dass zwischen Reiz und Reaktion eine Verzögerung eintritt. Das macht das menschliche Handeln zu einem bewussten Vorgang, der sich von automatisch ablaufenden Verhaltensformen der Tiere prinzipiell unterscheidet. Im postmodernen Dekonstruktivismus von Jacques Derrida führt die Skepsis gegenüber der traditionellen Konsequenzlogik zu einer »Logik des Schemas«, wobei unter »Schema« keine mustergültige Form und auch keine Verfahrensregel zu verstehen ist, sondern ein Erwartungsmuster, das die Transformation von Vorstellungen und Gedanken in Handlungen steuert. Damit gerät die Logik ins Gleiten, da die subjektive Seite der Erfahrung in den Prozess der Bedeutungsbildung integriert wird. Die damit einhergehende Bedeutungsverschiebung des Wortes »Schema«, das bei Derrida unbestimmt bleibt, gewinnt Konturen, wenn man darunter kein allgemeines Handlungs64 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Das Schema des Eros

schema, sondern die spezifische Form der Artikulation des menschlichen Begehrens versteht. Das Schema transformiert die Lust von innen heraus – ein Prozess, der das Schema des Eros zu einem konkreten Apriori der intersubjektiven Bedeutungsbildung macht.

Eros als biologisches Radikal In der traditionellen Liebessemantik wird die sinnliche der geistigen Liebe untergeordnet. Diese Einschätzung verkennt die anthropologische Differenz. Das freie Ausagieren körperlicher Lust gehört seit jeher zum Sexualleben der Menschen und ist alles andere als ›tierisch‹. Nach menschlichen Maßstäben gemessen, wären Tiere eher als ›prüde‹ zu bezeichnen. Ihnen fehlt die Spielernatur des Menschen, die erotischen Ursprungs ist. Der Eros entspringt einer Leidenschaft, die wie jede Spielleidenschaft den Menschen nie loslässt. Das macht den Eros zum »biologischen Radikal«. Mit diesem Begriff bezeichnet der Psychiater Rudolf Bilz angeborene Verhaltensdispositionen, die in der leiblichen Organisation des Menschen angelegt sind: »Mit dem Terminus ›Radikal‹ soll das Wurzelhaft-Ursprüngliche bezeichnet werden. Wesentlich ist dabei, dass es sich um Gegebenheiten a priori handelt, die allerdings über die Erziehung in ihren Wirk-Charakteren gefördert oder bis zu einem gewissen Grade umgeformt werden […]. Dabei handelt es sich immer um Erleben und Verhalten, das von einer typischen Emotionalität erfüllt ist. Das Gefühlsmoment kann man gar nicht hoch genug einschätzen! Die Welt ist bisher immer im Wesentlichen emotional geordnet, und soweit auch Logik im Spiel ist, handelt es sich gewöhnlich um eine Logik der Rechtfertigungen« (Wie frei ist der Mensch? Paläoanthropologie I, 175 f.). Die Rede vom ›Radikal‹ hebt die Unaufhebbarkeit der erotischen Weltorientierung hervor. Der Eros bedarf also einer Sexualtheorie, die biologische, psychologische und soziale Aspekte verbindet (vgl. Götz Kockott, Die Sexualität des Menschen). Dieser Auffassung zufolge ist Sexualität eine Funktion, die sich erst in der Pubertät voll entwickelt und im Alter physiologisch bedingt abnimmt. Vor anderen Funktionen wie der Nahrungsaufnahme zeichnet sich die Sexualität dadurch aus, dass ihre Ausübung ein Maximum an sich selbst genügender Lust bereitet. Die Lust enthält zwei in Wechselwirkung stehende Momente: Geschlechtsidentität und Partnerorientierung. 65 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Geschlechtsidentität entfaltet sich psychologisch und sozial erst nach der Pubertät. Auch in homosexuellen Beziehungen fühlt sich der Mann als Mann und die Frau als Frau. Sexuelle Partnerorientierung wird heute mehrdimensional gesehen, erweist sich trotz Variationen des sexuellen Verhaltens aber als relativ stabil. Nach dem derzeitigen Stand der Sexualforschung ist eine die Geschlechtsidentität und die Partnerorientierung umfassende Theorie noch nicht erreicht (29). Das überrascht nicht, da die empirische Forschung auf Kategorien angewiesen ist, die nur von einer philosophischen Anthropologie des Paares ausgearbeitet werden können. Seine Geschlechtsidentität gewinnt der Mensch über die sexuelle Partnerorientierung. Mit der Wechselwirkung beider Momente ist die Paradoxie vorprogrammiert, die das Schema des Eros auszeichnet: das Aufeinanderbezogensein und darin bzw. dadurch voneinander getrennt bleiben. Die sexuelle Partnerorientierung strahlt auf das gesamte individuelle und dann auch gesellschaftliche Leben der Menschen aus. Davon sind alle Lebensabschnitte betroffen. Junge Menschen orientieren ihre Lebenserwartungen und alte Menschen ihre Lebenserfahrungen an der Klimax des heterosexuellen Lebens. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass das Denken und Fühlen aller Menschen von sexuellen Inhalten beherrscht wird, aber die zukunftsorientierte Aufgeregtheit junger Menschen sowie die vergangenheitsorientierte Gelassenheit alter Menschen ist eine Funktion der sexuellen Gestimmtheit, die man mit Freud »Psychosexualität« nennen kann. Allerdings hat sich Freud für die erotische Bindung zwischen Erwachsenen nie wirklich interessiert, von der Alterssexualität ganz zu schweigen. Sein Blick blieb auf die infantile Sexualität fixiert und auf die Pathologien, die im Erwachsenenalter hervortreten, wenn die Phasen der prägenitalen Sexualität nicht normal ablaufen. Aber das ist eine Verengung der Perspektive. Denn offenkundig gibt es nicht nur die von Freud herausgestellte prägenitale, sondern auch eine postgenitale Sexualität. Sie besagt, dass bei aller Verlagerung der Gefühle auf zärtliche Zuneigung und Zufriedenheit die Lust des Geschlechtsverkehrs doch das Original bleibt, an dem sich das erotische Erleben orientiert. Erst wenn man die Erweiterung der Sexualität zur Partnerorientierung berücksichtigt, wird man zu einer angemessenen Beurteilung der Rolle des Eros in der gesellschaftlichen Natur des Menschen gelangen.

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Eros als anthropologisches Medial Die Motivation, die den Eros zum anthropologischen Radikal macht, liegt im Lustprinzip, das die Menschen in Bewegung hält. Da es sich bei der Sexualität um ein zwar natürliches, aber nicht notwendiges Bedürfnis handelt, kann sich im Eros die menschliche Sexualität von der Fortpflanzungsfunktion abkoppeln. Dadurch wird die Lust absolut gesetzt, so dass sich das Mittel-Zweck-Verhältnis umkehrt. Das muss aber nicht zu einer hedonistischen Auffassung des Eros führen. Durch das distanzierende Schema geht in die Lust immer ein kognitives Moment ein. Damit wird der Eros vom biologischen Radikal zum anthropologischen Medial. Mit dem Kunstwort »Medial« sollen die Konnotationen genutzt werden, die den Gebrauch des Adjektivs in anderen Wissenschaften leiten. In der Sprachwissenschaft heißt »medial« eine passivische Form in aktiver Bedeutung. In der Medizin wird mit »medial« die Lage zur Mittellinie des Körpers hin bezeichnet und in der Parapsychologie geht es um die Eigenschaften des spiritistischen Mediums. Alle Formen der Vermittlung sind im Begriff »anthropologisches Medial« zusammengefasst, der auch den Unterschied zur soziologischen Betrachtung markiert. Als »Kulturmedium«, wie der Medienwissenschaftler Werner Faulstich sich ausdrückt, ist Liebe in ihrer gesellschaftlichen Steuerungsfunktion sozialgeschichtlich verortet worden. Demgegenüber ist hier der basisanthropologische Hintergrund das Thema. Die mediale Funktion des Eros tritt noch deutlicher hervor, wenn man sie mit der Sprache vergleicht. Sprache ist mit allen Formen des Handelns verbunden und insofern kann man sagen, dass die Sprache alle Arbeiten des Menschen ›noch einmal‹ macht. Das hat dazu geführt, die moderne Sprechakttheorie zur Sprachhandlungstheorie auszubauen, die seitdem die gesamte Sozialphilosophie handlungstheoretisch aufgebaut hat. Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass Sprache auch und in erster Linie Geschehen ist, da der Sprachgebrauch in den seltensten Fällen einen wirklich schöpferischen Akt darstellt. Genauso verhält es sich mit der Liebe, die keine Handlung neben oder über anderen ist. Zwar spricht man von ›Liebe machen‹, aber darunter wird der Geschlechtsakt verstanden, der im Leben der Menschen nur einen relativ geringen Raum einnimmt. Liebe bleibt ein Hintergrundgeschehen, das sich nicht in einzelne Handlungen aufspalten lässt, und als solches fungiert es noch vor der Sprache als Medium der Vergesellschaftung. 67 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Eros als Rechtfertigungsschema Damit sind bereits die beiden Hauptmomente genannt, die den Eros zur innerweltlichen Rechtfertigungsinstanz machen. Rechtfertigung ist immer ein Verhältnis von Person zu Person, ohne das der Mensch seinen Halt verlieren würde. Ein Rechtfertigungsschema ist kein reines Handlungsschema. Denn Rechtfertigung stellt – wie das Erotische überhaupt – eine Form intersubjektiver Bedeutungsbildung dar. Daher handelt es sich um eine Artikulationsform, deren Parameter in jeder konkreten Paarbeziehung gleichsam immer wieder neu eingestellt werden müssen. Und doch gilt, dass das Schema des Eros allen Formen der Repräsentation sowie der Artikulation intimer sexueller Beziehungen zugrunde liegt. Der Eros vermittelt zwischen den Erwartungen der Liebenden in einer Weise, die sich gegenüber allen funktionalen Beziehungen durch ihre Unbedingtheit auszeichnet. Auch wenn in der Beziehung jeder das Seine tun muss, gilt doch, dass sich die Liebe nicht rational planen lässt. Der Mensch kann allenfalls die Bedingungen schaffen, unter denen in der Paarbeziehung aus der Liebe eine Lebensform wird. In der integralen, alle Dimensionen von Intersubjektivität umfassenden Form liegt die rechtfertigende Funktion des Eros. Anders als ein Handlungsschema, das abstrakte und geschlechtslose Subjekte voraussetzt, macht das Schema des Eros die Liebenden zu Personen, die sich nicht in eine Kette von Einzelhandlungen zerlegen lassen. Natürlich gehören zur Liebe auch Handlungen. Aber Handlungen ›aus Liebe‹ gehen über die Selbstverpflichtung isolierter Subjekte hinaus. Sie schaffen Vertrauen, das der Vertrautheit entspringt: Vertrauen des Menschen zum Anderen, zu sich selbst und zur Welt. Dieses Vertrauen liefert die Rechtfertigung, die durch Selbstbestimmung niemand allein erreichen kann. Die Rechtfertigung liegt in der Liebe als Lebensform, die in Paaren Männer und Frauen verbindet. Das ist die elementare Unterscheidung, auf die menschliche Freiheit immer wieder zurückkommen kann, denn im Eros steckt trotz aller Fixierung auf augenblickliche Lustmaximierung ein Glaube an die Zukunft der Beziehung, der dem Glauben an Gott in nichts nachsteht. Insofern ist Philosophische Anthropologie von der theologischen Anthropologie nicht so weit entfernt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Solange im Paar Eros und Logos miteinander verbunden bleiben, ist der Einzelne trotz all seiner Schwächen und Abgründe im Part68 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Das Schema des Eros

ner gerechtfertigt. Die notorische Unverträglichkeit von Mann und Frau folgt aus der Abtrennung des Logos vom Eros, der Vernunft vom Leben; und alle Formen der Entfremdung resultieren in letzter Instanz aus der Zertrümmerung der Liebe in Fragmente des Sexus. Das gilt für die traditionelle Form der Zwangsehe genauso wie für moderne Formen des ›Partnertausches‹. Natürlich kommt der moderne Mensch nicht ohne Arbeitsteilung aus; aber die objektive Trennung der Bereiche ist nur erträglich, wenn es gelingt, in der erotischen Paarliebe die Ganzheit zu bewahren, die Individuen brauchen, um mit ihrer Freiheit in der Gesellschaft zu bestehen. Wenn es überhaupt gelingen sollte, die Entfremdungen des modernen Lebens zu überwinden, dann wohl nur durch den Eros als Schema innerweltlicher Rechtfertigung des Menschen.

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Teil I: Der Mensch unter Menschen

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Kapitel 4: Eros und Intersubjektivitt

Einstweilen bis den Bau der Welt Philosophie zusammenhält, erhält sie das Getriebe durch Hunger und durch Liebe. (Friedrich Schiller, Die Weltweisen)

Die bekannte aristotelische Definition des Menschen als geselliges Wesen (lat.: animal sociale) hat bis in die politische Philosophie der Gegenwart ihre Faszination behalten. Der Kommunitarismus etwa sieht darin eine Alternative zum Kontraktualismus der Neuzeit, der seit Hobbes den Staat auf einen kalkulierten Akt der Selbsterhaltung einander bekämpfender Individuen zurückführt. Dass sich der Mensch im Naturzustand wie eine Bestie gebärdet, wusste natürlich auch schon Aristoteles: »Und daher ist er denn ohne Tugend das ruchloseste und wildeste Lebewesen und in Bezug auf Geschlechts- und Gaumenlust das schlimmste von allen.« Aber der Mensch ist für Aristoteles nicht nur Naturwesen, wie das aus seiner zweiten Definition des Menschen als »Lebewesen im Besitz des Logos« hervorgeht. Handeln und Sprechen gelten ihm als gleichursprünglich, so dass die naturhafte und die gesellschaftliche Seite des menschlichen Lebens in einem allumfassenden Telos vereint sind. In der politischen Philosophie der Neuzeit verliert die Teleologie, die Auffassung von der natürlichen Zweckgerichtetheit des Lebens, an Bedeutung. Natur und staatliche Ordnung fallen auseinander, Individuum und Gesellschaft treten in Opposition zueinander. Gesucht wird nach einem die sich selbst überlassenen und ganz dem Besitzstreben ergebenen Individuen vereinigenden sozialen Band, das in der Regel auf Seiten des Rechts oder der Ökonomie vermutet wird. Nur durch Verträge oder durch die Vorteile des Tauschhandels lassen sich die Menschen bändigen. Entsprechend werden passende Menschentypen 73 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil I: Der Mensch unter Menschen

kreiert, unter denen der homo oeconomicus wohl am populärsten geworden ist. So erhellend diese Konstruktionen auch sind, für sich genommen leisten sie nicht, was sie versprechen: nämlich die Vereinigung von Individuum und Gesellschaft. Hier verhält es sich ähnlich wie in der Erkenntnistheorie: Sind Subjekt und Objekt erst einmal getrennt, kann der Abgrund nur durch Behelfsbrücken überwunden werden. Die Menschen lassen sich zwar durch funktionales Handeln wieder verbinden, aber dieses erfasst immer nur eine Seite des individuellen wie des gesellschaftlichen Lebens. Die andere Seite, die Emotionen und Überzeugungen, aus denen heraus gehandelt wird, entziehen sich rein handlungstheoretischen Modellen. Das soziale Band ist breiter als die Intentionalität der Handelnden; es ist aus Beziehungen gewebt, die sich hinter dem Rücken der mit Willen und Bewusstsein planenden und agierenden Individuen bilden. Unter den sozialen Beziehungen, die in modernen Großgesellschaften überwiegend unpersönlicher Natur sind, hebt sich eine Gruppe heraus, welche sich nicht auf das Ökonomieprinzip reduzieren lässt. Es sind die persönlichen Bindungen wie Freundschaft, Liebe und Mitleid, unter denen die erotische Liebe zwischen Mann und Frau eine Sonderstellung einnimmt. Auf welche Weise die erotische Paarliebe als Medium der Vergesellschaftung fungieren kann, wird erst verständlich, wenn man die Sonderstellung der Paarbindung gegenüber rein funktionalen Beziehungsformen herausarbeitet. Jenseits der Opposition von Individuum und Gesellschaft ist das Paar die Urform personaler Beziehung. Sie begreift den Menschen auch außerhalb sozialer Ordnungen als gesellschaftliches, und damit eben nicht nur als geselliges Wesen. Der Unterschied resultiert daraus, dass die Liebe zwar auf dem Geschlechtstrieb basiert, dass sie aber über die sexuelle Lustbeschaffung hinausgeht. Entsprechend ist das Soziale nicht nur eine Ausweitung der naturhaften Bindungen, sondern ihre Transformation nach dem Schema des Eros. Die Art und Weise, in der das Schema zwischen den tierischen Fortpflanzungsgemeinschaften und der menschlichen Gesellschaft vermittelt, lässt sich idealtypisch an einer Urszene der Menschwerdung verdeutlichen.

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Eine Urszene der Menschwerdung Die klassischen Naturzustandskonstruktionen der politischen Philosophie gehen immer von Individuen aus, die bald im Kampf aller gegen alle, bald in friedlicher Eintracht miteinander leben, bis durch einen Gewaltakt die gesellschaftliche Ordnung hergestellt wird. Berücksichtigt man dagegen, dass die Übergänge vom menschlichen zum tierischen Leben fließend sind, so ergibt sich ein anderes Szenario: Unter den zahlreichen Tieren bewegen sich Horden von Primaten. Als Hordenwesen leben sie nicht miteinander, sondern nebeneinander wie die anderen Herdentiere, die als Exemplare der Gattung auftreten. Das Leben in der Horde wird von der Bedürfnisbefriedigung gesteuert. Der Hunger ist beständig da, die Sexualität dagegen kommt in Wellen. Meist ist es das Leittier, dessen Begierde die Weibchen in Unruhe versetzt. Sie empfinden die Begierde der Männchen als bedrohliche Penetration und versinken nach der Begattung, eng aneinander gekauert, in einen Zustand dumpfer Entspannung. So geht es von Monat zu Monat, bis sich die Horde durch die wachsende Kinderzahl teilt und jede Gruppe unter der Führung eines neuen starken Alpha-Männchens eigene Wege geht. Eines Tages aber geschieht etwas Einmaliges: Ein Weibchen löst sich aus der Herde, hält sich in vorsichtiger Entfernung und lockt ein junges Männchen zu sich heran, mit dem es sich eng verbindet. Was sich dann im Einzelnen abspielt, darüber gibt die alttestamentarische Sündenfallerzählung Auskunft, die noch aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten sein wird. An dieser Stelle ist zunächst nur soviel festzuhalten: Mit der Aussonderung aus der anonymen Horde entsteht das Paar als jene Urbeziehung, die durch eine Kraft zusammengehalten wird, die es in der Horde nicht gab – den Eros. In der Horde regiert der Sexualinstinkt, in der Paarbeziehung wird daraus die erotische Liebe, die Exklusivität beansprucht. So wenig empirische Kenntnis wir über die Menschwerdung besitzen, für die Philosophische Anthropologie bietet sich die Paarbeziehung als das neue Prinzip an, das den Übergang von der Natur zur Kultur erklärt. Die hier skizzierte Urszene der Menschwerdung lässt erkennen, dass die Opposition von Individuum und Gesellschaft eine Abstraktion ist. Beide Pole entstehen erst aus dem Paar. Ein Paar entsteht nicht aus einer Verbindung zweier bereits ausgebildeter Individuen, sondern Individualität entsteht ebenso wie Identität erst durch die Intensivierung 75 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil I: Der Mensch unter Menschen

der Paarbeziehung. Daher gilt: Das Individuum ist weder Atom noch Element der Gesellschaft, sondern eine Funktion der Paarbindung. Wie das Paar das Individuum hervorbringt, so entlässt es auch die Gesellschaft als die Gesamtheit möglicher Paarbeziehungen, und zwar nicht durch bloße Addition von Paaren, wohl aber durch die Standardisierung der erotischen Beziehung infolge ständiger Wiederholung. Die unpersönlichen und funktionalen Beziehungen der Gesellschaft gleichen inhaltlich weitgehend den naturwüchsigen und instinktiven Verhaltensweisen innerhalb der Horde, die dem Prinzip der Selbsterhaltung unterliegen: Im Durchgang durch die Paarkonstellation erhalten sie aber einen anderen Status. Ihre Funktionalität wird sekundär, da sie der Objektivierung und Teilung der Paarliebe entspringt. In diesem Sinne ist der Eros das primäre Medium der Vergesellschaftung – und zwar noch vor dem Hunger, den der Mensch mit den Tieren teilt. Es war Sigmund Freud, der diese Einsicht wohl als erster in ihrer ganzen Tragweite erkannt hat.

Eros und Kultur: Sigmund Freud Freud lässt die Gesellschaft – er selbst spricht meistens von »Kultur« – mit der Horde beginnen. Für ihn ist es der Kampf der Söhne gegen den Vater um die Gunst der Frauen, speziell der Mutter, der den ödipalen Konflikt heraufbeschwört. Der Sexualtrieb stört also die Naturordnung; wobei Sexualität im Bannkreis des Mutter-Kind-Verhältnisses verbleibt. Freuds Sexualtheorie sowie seine Urhordenhypothese sind vielfältiger Kritik unterzogen worden, und in der Tat sind erhebliche Zweifel angebracht. Trotzdem bleibt eine Auseinandersetzung auch in diesen Punkten lohnenswert. Nicht nur, um eine Kontrastfolie zu schaffen, sondern auch, weil es Freud gelingt, die biologische Seite der Menschwerdung mit psychologischen Einsichten zu verbinden. Im Gegensatz zum Platonismus, der den Eros als geistiges Streben nach dem Schönen auffasst, begreift Freud den Eros – und zwar ganz im Sinne der sich im 19. Jahrhundert formierenden Wissenschaften vom Menschen – als eine biologische Funktion. Der Eros hat seinen Ursprung in der Sexualität, von der es heißt, dass sie sich »durch keinerlei Kunststück aus dem Seelenleben eliminieren lässt« (GW XI, 428). Die Rede vom Eros besitzt daher bei Freud nicht mehr den griechischen Klang des Wortes, sondern nähert sich dem an, was man heute 76 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

4 Eros und Intersubjektivitt

landläufig unter ›Sex‹ versteht. Das bedeutet zweifellos einen Bruch mit der humanistischen und der jüdisch-christlichen Tradition (Helmut Kuhn). Zwar behauptet Freud, sein Begriff der Libido decke sich mit dem platonischen Eros, aber das ist sicherlich eine Schutzbehauptung. Richtig ist vielmehr, dass er durch die Bindung des Eros an die Sexualfunktion den platonischen Eros aus dem Ideenhimmel wieder auf die Erde zurückgeholt hat. Durch sein patriarchalisches Vorurteil hat er ihm freilich auch ein Konfliktpotential verliehen, das übrigens schon bei Platon angelegt ist. Freud weist die Auflösung der Liebe in ein »ozeanisches Gefühl«, das alle Menschen verbinden soll, zurück. Er besteht auf der aggressiven Widersprüchlichkeit des Eros, die zum Vatermord als dem Sündenfall geführt hat, von dem die Kultur ihren Ausgang genommen hat. Das im Eros liegende sozialpsychologische Konfliktpotential erschließt sich besonders dann, wenn man einen Blick auf Freuds Trieblehre wirft. Unter »Trieb« versteht er »die psychische Repräsentanz einer kontinuierlich fließenden innersomatischen Reizquelle« (GW V, 67). Die somatische Reizquelle ist die Sexualfunktion, die wie eine Art Kraftwerk arbeitet, das eine besondere Form von Energie produziert, die von Freud »Libido« genannt wird. Die Libido, auch als »Exponent« des Eros bezeichnet, vergleicht Freud mit einem Strom (69) – eine Metapher, die natürlich an den Bewusstseinsstrom in der Psychologie von William James erinnert. Freud unterscheidet zwei Klassen von Trieben, nämlich Selbsterhaltungstriebe und Sexualtriebe – wobei er die Selbsterhaltungstriebe, unter denen elementar der Hunger rangiert, den Sexualtrieben unterordnet. Die Sexualtriebe weisen über das Individuum hinaus, sie sind auf die Fortpflanzung gerichtet und stehen insofern für das Leben der Gattung. Das Individuum dagegen gilt Freud als »kurzlebiges Anhängsel an ein mit virtueller Unsterblichkeit begabtes Keimplasma« (GW XI, 429). Diese Depotenzierung des Individuums lässt erkennen, dass die Bindungskraft, die Freud dem Eros zuschreibt, anonymer Natur ist. Sie findet ihren reinsten Ausdruck in der fordernden Abhängigkeit des Kindes von der Mutter, die im Grenzfall bereit ist, ihr Leben für das Kind zu opfern; eine Verhaltensweise, die übrigens auch im Tierreich anzutreffen ist.

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Teil I: Der Mensch unter Menschen

Lustprinzip und Realittsprinzip Freud betrachtet sexuelle Lust als die stärkste Form der Lustempfindung und als »Vorbild für unser Glücksstreben« (GW XIV, 441). Allerdings ist er sich darüber im Klaren, dass der Mensch aus dem Lustprinzip kein dauerhaftes Glück gewinnen kann. Gleichwohl kann er dem Lustprinzip nicht abschwören: »Das Programm, welches uns das Lustprinzip aufdrängt, glücklich zu werden, ist nicht zu erfüllen, doch darf man – nein – kann man die Bemühungen, es irgendwie der Erfüllung näher zu bringen, nicht aufgeben« (442). Damit scheint Freud nichts anderes zu sagen als das, was schon den antiken Philosophen zum Verhältnis von Lust und Glück aufgegangen war: Glück ist zwar eine Funktion des Luststrebens der Menschen, fällt aber nicht mit der Lust momentaner Bedürfnisbefriedigung zusammen. Das wird an der sexuellen Lust besonders deutlich. Niemand kann den Orgasmus auf Dauer stellen, so dass Glück für den Menschen nur dann erreichbar ist, wenn es ihm gelingt, das Lustprinzip »unter dem Einfluss der Außenwelt zum bescheideneren Realitätsprinzip umzubilden« (455). Allerdings bekommt die unvermeidbare Umbildung des Lustprinzips zum Realitätsprinzip bei Freud insofern ein besonderes Gewicht, als er die Sexualität auf das Verhältnis des Säuglings zur Mutter ausdehnt. Dadurch wird die Sexualentwicklung, die verschiedene Phasen durchläuft, zu einem das ganze Leben der Individuen sowie der Gesellschaft prägenden Vorgang, der unaufhebbare Leiden mit sich bringt. Auf eine einfache Formel gebracht: Menschen bleiben im Kern ihres Charakters verwöhnte Kinder, die sich nie ganz mit der Vertreibung aus dem Mutterschoß abfinden können. In Das Unbehagen in der Kultur (1930) hat der späte Freud einen teleologischen Begriff des Eros entwickelt. Dieser stellt insofern eine philosophische Provokation dar, als er den aufklärerischen Begriff der Vernunft ersetzt, die alle Menschen zu einer Weltgemeinschaft verbinden soll. An die Stelle der Vernunft rückt der Eros, dessen Ziel von Freud darin gesehen wird, die Menschen zu immer größeren Einheiten zusammenzufassen, so dass schließlich die ganze Menschheit eine Gemeinschaft von emotional aneinander gebundenen Mitgliedern bildet. Die als »libidinös« bezeichnete Bindung geht über die Notwendigkeit einer Arbeitsgemeinschaft hinaus, welche nicht ausreiche, um Menschen dauerhaft zusammenzuhalten. Hinsichtlich der Einheitsbildung gesteht Freud freimütig: »Warum das geschehen müsse, wissen wir 78 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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nicht! Das sei eben das Werk des Eros« (GW XIV, 481). Mit dem Warum bleibt aber auch das Wie unklar, da größere Gemeinschaften offenkundig nicht auf alleiniger Basis direkter sexueller Beziehungen bestehen können. Es bedarf daher einer vertieften Interpretation, um herauszufinden, wie sich die erotische Bindung gestalten soll. Die Stärke der Idee des »ewigen Eros« als beständigem Motor des Zivilisationsprozesses liegt wohl darin, dass damit eine basisanthropologische Erklärung für den Antagonismus der Vergesellschaftung gefunden ist. Alle Strukturwidersprüche wirtschaftlicher und politischer Natur haben hier ihren Ursprung. Der Antagonismus ergibt sich daraus, dass das Ziel des Eros, die Menschen zu einer »innig verbundenen Masse« zu vereinigen, nur auf Wegen der Sublimierung erreicht werden kann, die das Ziel konterkarieren. Wie Verdrängung bezieht sich Sublimierung primär auf die Sexualität und die von ihr ausgehenden Energien. Während die Verdrängung zu psychischen Schäden führt, transformiert Sublimierung die Sexualität in ein formbildendes Potential, das die Kultur dauerhaft mit repressiven Zügen belastet. In diesem Punkte lässt sich Freuds Kulturtheorie mit den Worten charakterisieren, mit denen Kant Rousseau attestiert, er habe »ganz richtig den unvermeidlichen Widerstreit der Kultur mit der Natur des menschlichen Geschlechts, als einer physischen Gattung, in welcher jedes Individuum seine Bestimmung ganz erreichen sollte« gezeigt (Akad. Ausg. VIII, 116). Mit dem Begriff des ›Widerstreits‹ ist das Stichwort gefallen, das den philosophischen Hintergrund der Freudschen Eros-Lehre sichtbar macht. Es ist die Willensmetaphysik Arthur Schopenhauers, die Freud als Ursprung seiner Trieblehre ausdrücklich nennt (GW XIII, 53). Der Bezug auf Schopenhauer beschränkt sich nicht auf die Gleichsetzung des Eros mit dem blinden Willen als dem Kern der menschlichen Existenz. Wichtiger sind die Konsequenzen, die sich daraus für die Vergesellschaftung ergeben. Schopenhauer betrachtet personale Individualität als Illusion, die im lediglich der Gattung dienenden Liebeswahn ihren Höhepunkt erreicht. Dabei handelt es sich allerdings um keine zufällige, sondern um eine notwendige Täuschung, da der Wille zu seiner Erhaltung auf konkrete Formen der Realisierung angewiesen ist. Das macht die »innere Zerrissenheit« aus, die Schopenhauer im Willen entdeckt und die bei Freud als »Zwist im Haushalt der Libido« weiterlebt. Individualität ist für ihn einerseits Resultat von Deformationen der ursprünglichen Wünsche, andererseits aber kann die Kultur 79 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil I: Der Mensch unter Menschen

auf Individuen nicht verzichten, die zur Formung ihrer sexuellen Triebenergien fähig und bereit sind. Nach Freud ist der Widerstreit zwischen Eros und Kultur unvermeidlich und unauflösbar. Diese Einschätzung macht den Realismus und Radikalismus seines Ansatzes aus, der sich von idealistischen Identitätsphilosophien ebenso unterscheidet wie von materialistischen Utopien. Der Widerstreit äußert sich physisch in den Aggressionen, die mit dem Eros verbunden sind und die Freud zum Dualismus von Eros und Destruktionstrieb steigert. Psychisch äußert sich der Konflikt im Schuldgefühl, das die Gesellschaft aus dem uranfänglichen Vatermord als Erbsünde begleitet. Freud sieht die Hauptaufgabe seiner Kulturtheorie darin, »das Schuldgefühl als das wichtigste Problem der Kulturentwicklung hinzustellen und darzutun, dass der Preis für den Kulturfortschritt in der Glückseinbuße durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird« (GW XIV, 493 f.). Wie aus der antagonistischen Konstellation der Kultur dennoch deren erotische Rechtfertigung hervorgehen kann, verraten die Bilder eines paradiesischen Zustands, die Freud gelegentlich beschwört. So malt er sich etwa ein Leben ohne Neurosen aus, das dann gewährleistet wäre, wenn die Gesellschaft »das kindliche Sexualleben frei gewähren ließe, wie es bei vielen Primitiven geschieht« (GW XVII, 131). Dieser Traum ist durch die ethnologische Feldforschung freilich längst ausgeträumt; und es ist äußerst fraglich, ob eine Kulturgemeinschaft aus lauter Liebespaaren, die sich selbst genügen, oder, wie Freud sich ausdrückt, aus »Doppelindividuen«, die »libidinös gesättigt« vor sich hin leben, wirklich einen »wünschenswerten Zustand« darstellt (467). Sicherlich ist dem amerikanischen Soziologen David Riesman zuzustimmen, wenn er dieses Bild einen »Liebestraum eines halbwüchsigen Kinogängers« nennt. Aber Freud war viel zu realistisch, um umstandslos in diese Kategorie eingereiht werden zu können. Freuds Vision soll vielmehr besagen, dass der Traum einer paradiesischen Bedürfniserfüllung, die sich an der ursprünglichen Einheit der Mutter-Kind-Beziehung misst, die subjektive Form ist, in der die Triebkraft des Eros die Menschen dazu bewegt, die von der Gesellschaft auferlegten Einschränkungen des Lustprinzips zu ertragen. Es handelt sich um einen Traum, der von den Menschen infolge ihrer »Triebschicksale« immer wieder geträumt werden muss.

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Die sozialwissenschaftliche Integration der Psychoanalyse Die Rolle des Eros als Medium der Vergesellschaftung bleibt in Freuds Kulturtheorie auf die Ebene des anonymen sexuellen Verlangens beschränkt. Erst in Formen der Sublimierung, die einer Negation der basisanthropologischen Dimension gleichkommen, fungiert der Eros als Kulturfaktor. In diesem Punkt sind die Denker des Frankfurter Instituts für Sozialforschung einen deutlichen Schritt weiter in Richtung auf die Anerkennung der erotischen Liebe in der Paarbeziehung gegangen. Insbesondere Herbert Marcuse ist es gelungen, in seinem Buch Triebstruktur und Gesellschaft (engl.: Eros and Civilisation, 1955) Freuds psychoanalytisches Theoriegebäude in gesellschaftspolitische Kategorien zu transformieren und in dieser Form einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wie immer es mit Marcuses eigener Vision einer sexuell befreiten Gesellschaft stehen mag: wegweisend bleibt seine Einsicht, dass Freuds Trieblehre mehr ist als ein bloßer Beitrag zur Sexualwissenschaft. Mit der methodischen Erweiterung ist eine inhaltliche Akzentverschiebung verbunden. Marcuse gibt sich nicht mehr mit Freuds pessimistischer Weltsicht zufrieden und sucht im Eros einen Weg, die Gesellschaft aus den Fesseln der frühkindlichen Sexualität und der Ödipusgeschichte zu befreien. In der erotischen Liebe erkennt er positive Aspekte, die Freuds autoritärem Denken entgangen sind. Marcuse knüpft an die klassische Frankfurter Schule an, die schon in den 1930er Jahren die Psychoanalyse in die Theorie der Sozialwissenschaften zu integrieren versucht hat. Als marxistischer Prophet einer »sexuellen Revolution« ist Wilhelm Reich hervorgetreten, dessen politische Träumereien ihn allerdings ins Abseits geführt haben. Nachhaltiger hat Erich Fromm gewirkt, der Freuds individualpsychologische Trieblehre als Modell für eine materialistische Gesellschaftstheorie rekonstruiert: »Die libidinöse Struktur einer Gesellschaft ist das Medium, in dem sich die Einwirkung der Ökonomie auf die eigentlich menschlichen, seelisch-geistigen Erscheinungen vollzieht« (Analytische Sozialpsychologie, 39). Mit der Bezeichnung der »libidinösen Struktur einer Gesellschaft« als Medium geht Fromm über Freuds Trieblehre hinaus, die Sexualtriebe sowie Selbsterhaltungstriebe auf den direkten Lusterwerb bezieht. Fromm dagegen hebt hervor, dass die Befriedigung der Sexualtriebe vorwiegend im Reich der Phantasie vor sich geht. Konkret gesprochen heißt das: »Den Hunger der Men81 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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schen kann man nur mit Brot befriedigen, aber etwa ihre Wünsche, geliebt zu werden, mit einer Phantasie von einem gütigen, liebenden Gott oder ihre sadistischen Tendenzen mit blutigen Volksschauspielen«(11). Die sozialpsychologische Anwendung der psychoanalytischen Kategorien liefert Fromm in seinem Buch Die Furcht vor der Freiheit (1980) (engl.: Escape from Freedom, 1947). Dort analysiert er auf eindrucksvolle Weise die psychische Struktur des Protestantismus, der die geistige Freiheit des modernen Individuums gestärkt habe, zugleich aber Isolierung und Ohnmacht des Einzelnen gegenüber den ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen zur Folge hatte. Der Glaube stelle einen Fluchtmechanismus dar, welcher die Erlösung, die der moderne Mensch als freies, sich selbst bestimmendes Wesen nötig hat, nicht bringen kann. Mit dieser Einschätzung rückt Fromm den Glauben in eine Reihe mit anderen innerweltlichen Fluchten – etwa derjenigen ins Autoritäre oder ins Konformistische. Die einzig positive Art, mit dem Doppelgesicht der Freiheit fertig zu werden, sieht Fromm in der Liebe zwischen Menschen, die durch produktive Hingabe ausgezeichnet sei. Damit wendet er sich nicht nur gegen die paulinische ›Rechtfertigung allein durch den Glauben‹, sondern auch gegen Freuds Eros-Theorie. Aufgrund seines »patriarchalischen Vorurteils« sei dieser nicht in der Lage gewesen, das Wesen der erotischen Liebe zu erfassen, das auf der Polarität von Mann und Frau als gleichberechtigten Partnern beruhe: »Aus diesem Grund ist sein ganzes System um die sexuelle und nicht um die erotische Liebe zentriert« (186). In seinem populären Klassiker, Die Kunst des Liebens (1956), geht Fromm in der Rechtfertigung der erotischen Liebe noch einen Schritt weiter. Sie stelle zwar eine problematische Form des Liebens dar, da Zweierbeziehungen tendenziell in die Isolation führen: Die Liebenden »machen dann zwar die Erfahrung, ihre Einsamkeit zu überwinden, aber da sie von der übrigen Menschheit abgeschnitten sind, bleiben sie auch voneinander getrennt und einander fremd; ihr Erlebnis der Vereinigung ist damit eine Illusion« (69). Gleichwohl bleibt die erotische Liebe die einzige Form der wirklichen Kommunikation. Nur müsse sie »die ganze Menschheit, alles Lebendige« umfassen. Da das aber nicht auf sexueller Basis geschehen kann, wie Fromm selbst einräumt, entsteht eine unauflösbare Spannung zwischen der allgemeinen und der individuellen Form der Liebe: »Insofern wir alle eins sind, können wir jeden auf die gleiche Weise im Sinne der Nächstenliebe lieben. Aber 82 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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insofern wir auch alle voneinander verschieden sind, setzt die erotische Liebe gewisse spezifische, höchst individuelle Elemente voraus« (70). Ob und wie diese Spannung in der Paarbeziehung überwunden werden kann, dazu äußert sich Fromm nicht. Auch in Freuds Schriften lassen sich Äußerungen ausmachen, die der erotischen Liebe in der Kultur eine Chance geben. So räumt er ein, dass die »rastlose Ausbreitungstendenz des Eros« im Gegensatz zur konservativen Natur der Triebe steht und daher zum »Ausgangspunkt weiterer Problemstellungen werden« (GW XIV, 477) könne. Die weiterführenden Problemstellungen liegen in der Befreiung des Eros vom Druck der Sexualmoral. Gegenüber Freud, der in diesem Punkt nicht nur ein Opfer der viktorianischen Moralvorstellung, sondern auch der politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts ist, hat Fromm eine interessante Klarstellung gebracht: »Freuds homo sexualis ist eine Variante des klassischen homo oeconomicus« (Analytische Sozialpsychologie, 175). Als Folge davon habe Freud nicht erkennen können, dass das menschliche Luststreben nicht nur aus dem Bedürfnis resultiert, sich vom Mangel zu befreien, sondern auch »ein Phänomen des Überflusses ist, das auf größere Intensität und Vertiefung menschlichen Erlebens abzielt« (177). Die sozialwissenschaftliche Integration der Psychoanalyse ist als Versuch zu lesen, das geschlossene System der frühkindlichen Sexualität in ein offenes System freier und egalitärer erotischer Beziehungen zu verwandeln, das als Vorbild für den Zusammenhalt der Gesellschaft dienen kann. Eine Bestätigung dafür liefern die biologische Verhaltensforschung und die ethnologische Feldforschung. Sie liefern Belege dafür, dass die gattungsmäßige Sexualfunktion nicht das einzige Bindemittel zwischen den Menschen ist. Auf ihrem Hintergrund entwickeln sich exklusive Beziehungen, die jeweils zwei Individuen vom kollektiven Verhalten abheben. Durch diese Forschungsergebnisse wird die These vom Primat der Paarbeziehung auf eine breitere Basis gestellt, als es durch Freuds Sexualtheorie geschieht. Die hinzukommenden sachlichen Aspekte sind um so ernster zu nehmen, als alle hier zu behandelnden Forscher sich mehr oder weniger explizit mit Freud auseinandergesetzt haben. Sie weichen in der Sexualtheorie von Freud ab, bestätigen aber seine Einsicht, dass eine Theorie der Vergesellschaftung ohne Einbeziehung des Eros Gefahr läuft, sich in idealistische Subjekttheorie zu verflüchtigen.

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Psychoanalyse und Verhaltensforschung Das Verhältnis von biologischer Grundlage zur kulturellen Formung in der Paarbeziehung erscheint durch die Verhaltensforschung, die zu Freuds Zeiten erst im Entstehen begriffen war, in neuem Licht. Ein Pionier auf diesem Gebiet ist bekanntlich Konrad Lorenz, an dessen Forschungsergebnissen eine Philosophische Anthropologie nicht vorbeigehen kann. Seine Untersuchungen der Graugänse, die ihn als Vater der Ethologie berühmt gemacht haben, lassen zahlreiche Formen des Zusammenlebens von der »anonymen Scharbindung« bis zur »persönlichen Paarbindung« erkennen. Bei der Auswertung ist zu beachten, dass die Beispiele aus der Welt der Vögel nicht in einen phylogenetischen Zusammenhang mit dem Verhalten der Menschen gebracht werden können, da es sich um zwei weit auseinanderliegende Entwicklungslinien handelt. Das Paarungs- und Paarverhalten der Vögel kann nur als allgemeine Folie instinktgeleiteter Problemlösungsmuster angesehen werden. Allein die dem Menschen am nächsten stehenden Säugetiere, die Primaten, eignen sich zu direkten Vergleichen. Lorenz spricht bei Tieren von »Stimmungen« anstatt von Gefühlen (Abhandlungen I, 267). Selbst wenn sie das Verhalten zu einem festen Partner durchgehend prägen, haben Stimmungen doch stets etwas Unpersönliches und Zuständliches, das sich nicht restlos in intentionalistisches Vokabular übersetzen lässt. Lorenz bezeichnet die Partner bei Vögeln als »Kumpane« und spricht von »Elternkumpan«, »Kindkumpan«, »Geschlechtskumpan«, »sozialer Kumpan« und »Geschwisterkumpan« (115 ff.). Wenn sich dieser Sprachgebrauch in der Verhaltensforschung auch nicht durchgesetzt hat, so handelt es sich doch um eine aufschlussreiche Wortwahl. Denn ›Kumpan‹ bezeichnet im Deutschen einen Partner, der keine vollwertige sittliche Person darstellt (›Saufkumpan‹, ›Kumpanei‹). Ein Vogel ist dem Anderen ›Kumpan‹ im Hinblick auf eine oder mehrere Funktionen, so dass das Kumpansein unpersönlich bleibt. Obwohl Lorenz in der Zuschreibung von Gefühlen äußerst vorsichtig ist, kommt er nicht umhin, die Paarbindungen selbst bei Vögeln mit Begriffen wie »Treue«, »persönliche Freundschaft« und sogar »Liebe« zu beschreiben. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass diese Bindungen strikt außengesteuert sind; beispielsweise bei Storchenpaaren, die stets am selben Platz nisten. »Einen extremen Fall einer individuellen, aber nicht an ein individuelles Erkennen und Lieben des Partners 84 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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gebundene Beziehung stellt die als ›Ortsehe‹ bezeichnete Bindung dar. Will man nicht in einen krassen Anthropomorphismus verfallen, so tut man gut daran, die Rede von »Freundschaft« oder »Liebe« an solchen Stellen metaphorisch zu verstehen. Das ›zärtliche‹ Verhalten der Vögel ist offenbar nicht wie beim Menschen intentional auf den Partner ausgerichtet, sondern der Partner scheint nicht mehr als ein Referenzobjekt eines artspezifischen und insgesamt streng determinierten Verhaltens zu sein.

Liebe und Aggression Konrad Lorenz, der sich mit der Übertragung seiner im Tierreich erzielten Forschungsergebnisse auf den Menschen über Jahrzehnte eine große Zurückhaltung auferlegt hat, konnte schließlich dem Druck nicht widerstehen, seine biologische Betrachtungsweise am Menschen auszuprobieren. In seinem höchst erfolgreichen Buch Das sogenannte Böse (1963) geht er den angeborenen sowie erworbenen Formen der Aggression im menschlichen Verhalten nach. Er stützt sich auf die präzise Definition seines Instinktbegriffs, spricht aber auch von Nahrung, Fortpflanzung, Aggression und Flucht als den »vier großen Trieben« (124), die das menschliche Verhalten steuern. Wenn Lorenz »Instinkt« und »Trieb« synonym gebraucht, so lässt das auf eine deutliche Distanz gegenüber der psychoanalytischen Trieblehre Freuds schließen. Zwar verhält sich Lorenz nicht mehr ganz so ablehnend gegenüber Freuds Triebbegriff, den er in den 30er Jahren noch als »abwegig« (Abhandlungen I, 284) bezeichnet hat, aber auch jetzt bleibt für Lorenz die Beobachterperspektive, aus der Instinkte und Triebe als Verhaltensmechanismen erfahren werden, wichtiger als die von Freud favorisierte Innenperspektive, deren Rekonstruktion sich einer methodischen Kontrolle entzieht. Ohne Zweifel läuft der sozialbehavioristische Ansatz von Lorenz Gefahr, den Menschen in direkter Analogie zum Tier lediglich als Exemplar der Gattung zu betrachten. Aber die biologische Perspektive macht am Verhalten des Menschen doch überindividuelle Muster sichtbar, die dem subjektiven Standpunkt des Individuums verborgen bleiben. Lorenz nimmt diese Erfahrung zum Anlass, die Menschen vor der Überschätzung ihrer Einzigartigkeit zu warnen (Das sogenannte Böse, 292). Die Sittlichkeit des Menschen lasse sich nicht auf ange85 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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borene Verhaltensmuster reduzieren, es bestehen aber funktionale Analogien, die im Gefühlsleben durchschlagen: »Schwüre binden nicht, und Verträge gelten nicht, wenn die vertragsschließenden Partner nicht eine Grundlage unverbrüchlicher, zu Riten gewordener Gepflogenheiten gemeinsam haben, bei deren Durchbrechung sie von (einer) magischen Vernichtungsangst befallen werden« (115). Es steht außer Frage, dass Lorenz mit seiner Theorie der Aggression einen wichtigen Beitrag zum Verständnis zwischenmenschlicher Bindungen geleistet hat. Die Bedeutung seiner Theorie liegt darin, dass sie den Dualismus von Lebens- und Todestrieb, zu dessen Einführung sich der späte Freud veranlasst sah, durchgehend vermeidet. Zwar billigt Lorenz Freud zu, dass er erstmals auch die Aggression in ihrer Relevanz für das menschliche Verhalten erkannt habe; doch weist er die Annahme eines Aggressionstriebes bzw. Todestriebes als unbiologische Behauptung strikt zurück (vgl. 70). Während Freud die Bindung zwischen Menschen allein dem Eros zuschreibt, die Auflösung der Bindungen dagegen dem Thanatos, erkennt Lorenz zwischen Liebe und Aggression ein komplementäres Verhältnis. In diesem Sinn kann er den Satz prägen: »Keine Liebe ohne Aggression« (290). Demzufolge könnte man Lorenz geradezu eine erotische Rechtfertigung zuschreiben, da er »das Band der persönlichen Liebe und Freundschaft, auf dem auch unsere menschliche Gesellschaftsordnung aufgebaut ist« (367) letztlich auf einen sozialverträglichen Umgang mit den aggressiven Trieben zurückführt.

Von der Verhaltensforschung zur Ethnologie Die Ergebnisse der Verhaltensforschung finden in der Ethnologie ihre transdiziplinäre Bestätigung. Sozialpsychologen wie Havelock Ellis und Kulturanthropologen wie Edward Westermarck haben in diesem Zusammenhang reiches kulturgeschichtliches Material zum Geschlechtsleben der Völker zusammengetragen. So unsicher und manchmal dubios die von diesen Forschern benutzten Quellen auch sein mögen, sie lassen doch den Relativismus erkennen, der auf dem Gebiet des Sexuallebens herrscht. Es scheint keine noch so abwegig erscheinende Sitte zu geben, die nicht in irgendeinem Winkel der Welt zur gesellschaftlichen Norm erhoben worden wäre. Besonders auffällig an den älteren Materialien ist die übereinstimmende Behauptung, dass 86 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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bei Naturvölkern romantische Liebe für das Eingehen einer Ehe so gut wie keine Rolle spielt, da für die Eheschließung vor allem ökonomische Motive bestimmend sind. Sicherlich ist der Eros überall in verschiedene Formen der Vergesellschaftung eingebunden, wobei er insbesondere in den Dienst der Machterhaltung tritt. Anders als im europäischen Kulturkreis, wo die Sexualität weitgehend ins Private abgewandert ist, hat er beispielsweise bei melanesischen und afrikanischen Stämmen eine bedeutende öffentliche Rolle im Rahmen von Herrschaftszeremonien gespielt: in Form von Ritualen, die übrigens oft mit grausamer Brutalität vollzogen wurden. Aber es handelt sich hier offenbar um soziale Überbauphänomene. Das gleiche gilt auch für die Polygamie und die Polyandrie, die zwar weit verbreitet sind, aber immer besondere gesellschaftliche Ursachen haben. So bleibt es bei der Feststellung des Evolutionsbiologen Jared Diamond: »Die meisten Erwachsenen in den meisten menschlichen Gesellschaften sind zu jedem beliebigen Zeitpunkt in einer langfristigen Paarbeziehung gebunden, die oft nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in der Praxis monogam ist« (Warum macht Sex Spaß?, 17). Vielfältige Belege für diese nüchterne Feststellung hat die Feldforschung der amerikanischen Kultur- und Sozialanthropologie geliefert.

Das Geschlechtsleben der Sdseeinsulaner Der unbestrittene Klassiker auf dem Gebiet der empirischen Sexualerforschung von Naturvölkern ist Bronislaw Malinowskis Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien (1929). Das von ihm erarbeitete Bild straft das Viktorianische Vorurteil Lügen, die ›Wilden‹ frönten einer rohen und ungezügelten Sexualität. Seine Forschungen lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass bei den Bewohnern der Trobriand-Inseln von sexueller Promiskuität keine Rede sein kann, sondern die Sexualität in streng geregelte soziale Strukturen eingebettet ist. Zwar wird den Heranwachsenden ein Maximum an sexueller Freizügigkeit zugestanden, aber für die Erwachsenen vollzieht sich das Sexualleben im Rahmen der Paarkonstellation und der Ehe mit matriarchalischen Familienstrukturen. Zweifellos kreisten die sozialen Strukturen der Naturvölker stärker um die emotional als bedrohlich empfundene Sexualität als in der 87 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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westeuropäischen Kultur mit ihrer »innerweltlichen Askese« (Max Weber), aber auch auf den Südseeinseln, wo die materiellen Lebensbedingungen durch Überfluss gekennzeichnet waren, herrschte zwischen Sexualität und Kultur eine deutlich erkennbare Spannung: »Geschlechtlichkeit hat für den primitiven Südseeinsulaner ebenso wenig wie für uns die bloße physiologische Verrichtung zum Inhalt, sondern auch Liebe und Liebesleben; sie bildet den Kern so altehrwürdiger Institutionen wie Ehe und Familie; von ihr ist die Kunst durchdrungen, sie hat ihre Beschwörungsformeln und ihre Magie. Tatsächlich beherrscht sie fast jede Erscheinungsform der Kultur« (14). Die Rede von einer »erotischen Kultur« darf demnach nicht zu einem sozialromantischen Bild einer Gesellschaft führen, die durch repressionsfreie Liebesbeziehungen zusammengehalten wird. Das übergreifende Muster, nach dem auch bei den Trobriandern die erotischen Beziehungen zur Paarbindung führen, ist das des Ausgleichs, der sich auf materielle wie auf ideelle Güter erstreckt. Das Paradigma bildet der zeremonielle Tausch (cula), der das soziale Leben der Trobriander durchzieht und nach Malinowski »mit der Erotik mancherlei psychologische Verwandtschaft aufweist« (252). Dabei geht es nicht primär um wirtschaftliche Interessen, sondern es wird die reine Befriedigung am Tausch dargestellt. Damit wird die Lust am Geschlechtsakt, der, von Orgien abgesehen, im Verborgenen stattfindet, nach außen gewendet und erhält somit eine gesellschaftskonstituierende Funktion. Auf diese Weise löst sich das Erotische vom Gefühl der Verschmelzung und geht in den Austausch von Geltungsansprüchen über, der eine gegenseitige Achtungsbindung erzeugt.

Die Innenperspektive des Funktionalismus Malinowski hat das Liebesleben der Südseeinsulaner nicht nur aus einer funktionalistischen Außenperspektive betrachtet, sondern sich ernsthaft um eine Rekonstruktion der Perspektive der Beteiligten bemüht. In seinem Bemühen, die Innenperspektive zu erschließen, hat er sich an der psychoanalytischen Theorie orientiert. In seinem Werk Geschlecht und Verdrängung in primitiven Gesellschaften (1927), das sich mit den Lehren Freuds befasst, heißt es vom Sexualtrieb: »Dieser Trieb, derart allumfassend und übermächtig, würde sämtliche normalen Tätigkeiten des Menschen stören, jede sich anbahnende Form der Ver88 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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bindung vernichten und würde schließlich von innen heraus ein Chaos bewirken und alle möglichen Gefahren von außen heraufbeschwören. Wie wir wissen, ist das keine bloße Fantasie. Der Geschlechtstrieb ist seit jeher, seit Adam und Eva, die Quelle der meisten Verwirrungen gewesen. Die meisten Tragödien haben in ihm ihren Grund – ob sie nun der Gegenwart angehören, der Vergangenheit, der Sage oder der Literatur. Und doch zeigt gerade die Tatsache, dass es zum Konflikt kommt, dass es Kräfte gibt, die den Sexualtrieb kontrollieren; dass der Mensch sich seinen unersättlichen Begierden nicht ausliefert, dass er Schranken schafft und Tabus errichtet, die ebenso mächtig werden wie die Mächte des Schicksals selbst« (198 f.). Die Opposition von Sexualität und Kultur, an der Malinowski mit Freud festhält, hindert ihn allerdings nicht daran, den Eros als jene grundlegende Kulturform der Sexualität wahrzunehmen, die zwar Spannungen erzeugt, die aber zugleich als Bindungskraft fungiert, ohne die jede gesellschaftliche Organisation zerfallen würde. Damit unterläuft Malinowskis Funktionalismus den Dualismus von Natur und Kultur, von Phänomen und Konstrukt. Zwischen kulturalistischem Konstruktivismus und biologistischem Naturalismus weist er einen dritten Weg. Für ihn gibt es allgemeine Formen der Vergesellschaftung, die sich vom instinktiven Verhalten abheben, die aber »eindeutig das den Tieren durch die natürliche Auslese diktierte Verhalten nachbilden« (196). Dieses Fazit bestätigt von ethnologischer Seite die Sicht des Verhaltensforschers, der die Vielheit und den Eigenwert der Kulturen anerkennt, sie aber nur insoweit gelten lässt, wie sie sinnvolle Antworten auf die biologischen Lebensbedingungen darstellen.

Mann und Weib in Amerika und Samoa In ihrem Buch Mann und Weib (engl.: Male and Female, 1949), welches gleichzeitig mit Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht (1949) erschienen ist, zieht die Ethnologin Margret Mead aus ihren Adoleszenzstudien in Samoa sowie ihren Untersuchungen der nordamerikanischen Gesellschaft ein erheblich nüchterneres Fazit, das die hier vertretene Auffassung von der Paarliebe als Radikal und Medial bestätigt. Sie besteht auf der konstitutionellen Differenz der Geschlechter, welche die Menschen mit den Primaten teilen. Grob gesagt, liegt der Unterschied darin, dass die männliche Sexualfunktion auf eine 89 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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vom Organismus begleitete spontane Ausübung ausgerichtet ist, während der biologische Beitrag der Frau nicht im Paarungsakt selbst liegt, »der nur die Fähigkeit zum Stillhalten erfordert«, sondern in dem daraus resultierenden Reproduktionsgeschehen. Die Paarbeziehung müsse kulturell erlernt werden, so wie der Mann das Frau und Kind ernährende Verhalten erlernt hat, aber die sexuelle Partnerorientierung liefert die Zeitlinie. »Für welche Frauen und welche Kinder gesorgt wird, hängt ganz von der Struktur der Gesellschaft ab; doch scheint das wichtigste Schema das zu sein, dass ein Mann für die Frau sorgt, die sein Sexualpartner ist, und für alle Kinder, die sie bekommt« (150). Bei Primaten-Männchen sieht das anders aus. Sie kämpfen, um das Weibchen zu beschützen, aber sie ernähren es nicht. Der Tier-Vergleich zeigt, dass die Paarbeziehung sich aus der biologisch festgelegten Geschlechtsdifferenz sowie aus erlernten Verhaltensweisen zusammensetzt. Beim Menschen ist der Anteil kulturell erlernter Verhaltensweisen bedeutend größer als bei Tieren und der Freiraum entsprechend weiter. Das tierische Paarverhalten ist auf die Erhaltung der Gattung ausgerichtet, beim Menschen entwickeln sich Ansprüche des Individuums auf Gleichberechtigung. Diese dürfen nach Meads Überzeugung aber nicht so weit gehen, dass eine biologisch sinnvolle Arbeitsteilung ganz aufgehoben wird. Die Schlussfolgerungen, die sie aus ihren Kulturvergleichen zieht, mögen insgesamt einen konservativen und sogar biologistischen Eindruck hinterlassen. Bei genauerer Prüfung stellt sich jedoch eine realistische Einstellung heraus. Margret Mead hat erkannt, dass nur Formen der Paarliebe, die der männlichen wie der weiblichen Sexualität keine Gewalt antun, zu sozial verträglichen und moralisch stabilen Verhältnissen führen. Allein auf der Grundlage dauerhafter Paarbeziehungen, wie immer sie institutionell gestaltet sein mögen, können sich Mann und Frau in hochkomplexen Gesellschaften individuell entfalten. Die Paarkonstellation bildet das allgemeine Muster, und kein sozialtechnischer Versuch, sie gewaltsam durch andere Formen des Zusammenlebens zu ersetzen, hat die Menschen daran gehindert, immer wieder zu diesem Grundschema zurückzukehren.

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Sozialanthropologie: Arnold Gehlen Die Ergebnisse der Verhaltensforschung sowie der Ethnologie haben erkennen lassen, dass die Freudsche Eros-Theorie der Vergesellschaftung erst dann schlüssig wird, wenn man den Ort des Eros in die Paarbeziehung verlegt. Erst dann nämlich wird der Eros aus seiner anonymen Dranghaftigkeit befreit, die er bei Freud noch besitzt. Das eröffnet der kulturellen Entwicklung Perspektiven, die Freud infolge seiner infantilen Sexualtheorie und der daraus resultierenden Vergangenheitsorientierung verschlossen bleiben mussten. Umso spannender ist die Frage, wie die Philosophische Anthropologie im 20. Jahrhundert auf diese Entwicklung reagiert hat. Dazu ist nun noch einmal Arnold Gehlen zu betrachten, der wie Freud sein Menschenbild konsequent auf biologischer Grundlage aufbaut. Seine Theorie interessiert an dieser Stelle jedoch nur in dem Maße, wie sie Licht auf die hier vertretene These vom Eros als gesellschaftlichem Medium wirft. Anders als Freud räumt Gehlen dem Eros keine herausragende Stellung bei der Vergesellschaftung ein. Leitend ist für ihn allein das Selbsterhaltungsstreben, von dem aus der Mensch als handelndes Wesen die Gesellschaft aufbaut. Seinem handlungstheoretischen Naturalismus entsprechend führt Gehlen die Gemeinschaftsbildung primär auf die Zwangsläufigkeit der Nahrungsbeschaffung zurück. Der Nahrungstrieb zwinge die Menschen zur Zusammenarbeit – sei es nun bei der Jagd oder im Ackerbau, im Handel oder im Krieg. Die Zusammenarbeit wird allerdings durch eine besondere Form des Handelns, nämlich durch »rituell-darstellendes Verhalten« begleitet und gefestigt. So entstehen Ordnungen, die der Erhaltung der Gruppe nach außen und ihrer Stabilität nach innen dienen. Die Ordnungen entwickeln einen Eigenwert, der die subjektive Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen dem Erhalt der Gruppe unterordnet. Wie Gehlen in seinem Spätwerk Urmensch und Spätkultur (1956) gegen Malinowskis funktionalistische Betrachtungsweise hervorhebt, handelt der Mensch von Anfang an nicht nur im Hinblick auf subjektive Bedürfnisbefriedigung, sondern sein Handeln verläuft »sachorientiert« (62). Anders als das Tier begreife der Mensch die Mittel, die er zur Befriedigung der Not einsetzt, als Aufgabe, deren Eigenwert ihn dazu motiviert, die Aufgabe immer besser zu lösen. Das mache den Menschen auch in pragmatischen Ordnungen zu einem weltoffenen Wesen. 91 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Damit beachtet Gehlen freilich nur eine Seite der Medaille. Denn wie Freud herausgestellt hat, ist neben der Not die Liebe die zweite große Macht gesellschaftlicher Ordnungsbildung. Diese hat im Fortpflanzungsstreben zwar ihr biologisches Fundament, aber im Gegensatz zum Hunger lässt die Sexualität der menschlichen Phantasie einen wesentlich größeren Spielraum. Gerade weil die Sexualität nicht notwendig auf Befriedigung angewiesen ist, vermag sie Phantasien und emotionale Energien freizusetzen, welche die auf Sexualität aufgebauten Ordnungen in hohem Maße flexibel gestalten. Die Ablösung von der Bedürfnisbefriedigung führt dazu, dass die Gefühle eine neue Richtung und folglich eine neue Qualität erhalten. Sie haben nun nichts mehr mit der sexuellen Lust zu tun, sondern nehmen den Charakter von Selbstwertgefühlen an. So wie sich objektive Bedeutungen von der Funktion ablösen, löst sich hier Wertorientierung von der Emotion ab; wobei über den Wertbezug sowohl der Selbst- als auch der Gemeinschaftsbezug hergestellt wird.

Umkehr der Antriebsrichtung Dass auch Gehlen die soziale Bedeutung des Geschlechtsinstinkts klar erkannt hat, belegen seine wiederholten Zitate Portmanns, der auf die Bedeutung der »dauernden Sexualisierung aller menschlichen Antriebssysteme« (Der Mensch, 357 f.) hingewiesen hat. Die Dauersexualisierung führe beim Menschen zur »Umkehr der Antriebsrichtung«, die sich in Rausch und Askese gleichermaßen äußert. Gehlen beschreibt die ideologischen Auswirkungen in den westlichen Industriegesellschaften in Urmensch und Spätkultur unter der Überschrift »Magie in Hochkulturen«, wobei er unter den modernen Magiern oder Schamanen den dominierenden Typus des Intellektuellen versteht, der für sein Handeln nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Die negative Einschätzung der Innenwendung erotischer Energien hindert ihn aber nicht daran, in der Umkehr der Antriebsrichtung eine »sehr tiefe Wesenskategorie des Menschen« (242) zu vermuten. In der Zusammenfassung von Urmensch und Spätkultur erwägt Gehlen sogar, das mit »Umkehr der Antriebsrichtung« Bezeichnete als dritte Handlungsform neben das rational-praktische und das rituelldarstellende Verhalten zu stellen. Allerdings hat er diese dritte Handlungsform nicht weiter ausgeführt, was sich in dem extrem knapp aus92 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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gefallenen dritten Teil des Buches niederschlägt. Das dürfte kein Zufall sein, sondern spiegelt eine systematische Schwierigkeit, die Gehlen nicht bewältigt hat: dass nämlich die Umkehr der Antriebsrichtung gar keine Handlung ist, sondern ein Zustand, eine Motivation, die dem gesellschaftlichen Handeln eine besondere emotionale Tönung gibt. Hier meldet sich der Eros als Radikal und Medial, der die sexuellen Antriebe oder Triebe auf eine höhere Stufe hebt. Immerhin spricht auch Gehlen in einigen die Umkehr der Antriebsrichtung als angeblich selbständige Handlungsform erläuternden Sätzen von der »Explosionskraft« (260) des subjektiven Genusses und zitiert Freuds Erläuterung des Lust-Unlust-Prinzips. Aber die soziale Ausformung der Lust übersteigt doch deutlich Gehlens »Ekstase-Protrahierung« und geht einen dritten Weg zwischen Ekstase und Askese. Es ist der Weg der erotischen Liebe, der in die ganz normale Paarbindung führt. Die Reduktion der Sexualität auf Befriedigung von »Minimumbedürfnissen« und die völlige Ausklammerung des Eros als dem Medium, in dem sich die sexuellen »Antriebsüberschüsse« des Menschen artikulieren, haben Gehlen in eine Sackgasse geführt, aus der er sich auch in seinem späteren Werk trotz Annäherungen an Freud nicht befreien konnte. Die Ergänzungsbedürftigkeit der Gehlenschen Position wird vor allem auch am Thema Aggression deutlich, dem Gehlen, wie er selbst einräumt, in seinem Hauptwerk nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt. Erst später, nämlich in Moral und Hypermoral (1969), setzt er sich explizit mit dem Aggressionspotential des Menschen auseinander. Als Gegenkraft zieht er »die dauerwache sexuelle Ansprechbarkeit aller Menschen durch alle« in Erwägung. Das erinnert natürlich an den Dualismus von Eros und Thanatos bei Freud, der nun als »großer Psychologe« herbeizitiert wird. Gehlen übersetzt die von Freud beschriebene Spannung in die Vorstellung einer »dauerhaften und gleichzeitigen Durchdringung von Instinktresiduen und des Antriebsüberschusses«. Diese Uminterpretation mag der späten Auffassung einer »organischen Verdrängung« bei Freud entgegenkommen, die subjektive Seite bleibt damit aber unterbelichtet. Würdigt man die »Umkehr der Antriebsrichtung« nach dem Schema des Eros in ihrer vollen anthropologischen Bedeutung, so wird deutlich, wie sich auch diesseits und jenseits der Ehe Liebespaare bilden, von denen Widerstand gegen die Macht der Gesellschaft ausgeht. Selbstverständlich ist die Paarbildung von gesellschaftlichen Normen und Institutionen geradezu umringt. Ebenso wichtig aber ist, dass nur 93 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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die erotische Liebe ihrerseits eine Ehe dauerhaft stabilisieren kann. Dort, wo die institutionelle Form der Ehe und die erotische Bindung des Paares auseinanderklaffen, entstehen sexuelle Störungen und Beziehungsängste, die verhindern, dass sozial verlässliche Bindungen entstehen. Durch den Eros begegnen sich die Menschen als Mann und als Frau, und alle sozialen Beziehungen sind Rationalisierungen dieser sexuellen Partnerorientierung. Auch eine soziale Definition der Geschlechter bleibt auf die Geschlechtsidentität bezogen, die sich in den forcierten Versuchen ihrer sozialen Aufhebung am stärksten bemerkbar macht.

Von der Psychoanalyse zur Kritischen Theorie der Gesellschaft Die Gegenüberstellung Freuds mit Gehlen hat erwiesen, dass beide auf je eigene Weise das Wesen der erotischen Liebe verfehlen und daher der Paarbeziehung nicht die herausgehobene Stellung zwischen Individuum und Gesellschaft einräumen, die ihr gebührt. Während Freud den Eros an das frühkindliche Lustprinzip bindet, beschränkt Gehlen ihn auf die temporäre Ekstase, die seinem konservativen Weltbild gemäß angeblich nur durch die Institution der Ehe eingedämmt werden kann. Freuds Eros läuft auf einen inneren Naturalismus hinaus, der die sexuelle Partnerorientierung der Tyrannei infantiler Erlebnisse ausliefert, die nur durch moralische Sublimierung in sozialverträgliche Formen gebracht werden können. Dagegen steht Gehlens äußerer Naturalismus, der durch die nicht geringere Tyrannei der Institutionen der Subjektivität kaum Entfaltungsmöglichkeiten einräumt. Insofern ist der Unterschied zwischen Freud und Gehlen gar nicht so groß, wie er auf den ersten Blick erscheint. Beide Kulturtheorien beruhen auf Repression, nur ist bei dem einen der innere, beim anderen der äußere Zwang dominierend. Die Vertreter der älteren Frankfurter Schule haben aus sozialwissenschaftlicher Sicht den Versuch unternommen, Freuds repressives Modell der Vergesellschaftung durch Befreiung von ›unnötigen‹ Zwängen zu korrigieren, um Individuum und Gesellschaft zu versöhnen. Dabei blieb allerdings die Vorstellung einer ›repressionsfreien‹ Sexualität an Freuds infantiles Lustprinzip gebunden, so dass die Träume sexueller Befreiung ins Kraut schießen konnten: ›Make love not war‹ lautete denn auch das sympathische, aber naive Motto der 1968er Ge94 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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neration, die Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft zum Kultbuch erklärt hatte. Es war Jürgen Habermas, der schon 1958 in seinem Artikel Anthropologie Marcuse als amerikanisches Modell für die Verbindung von Psychoanalyse und Soziologie empfohlen hat – als ein Modell, welches dazu geeignet sei, die Anthropologie in eine Theorie der Gesellschaft zu transformieren. Zugleich aber hat er die Sozialforschung aus den Träumen der sexuellen Befreiung gerissen. Zwar hält er an der Integration der psychoanalytischen Kategorien in die Sozialwissenschaften fest; er tut dies jedoch nur, um zu einer Reflexionsebene zu gelangen, die nun ihrerseits keine Spuren der Liebe als Medium der Vergesellschaftung mehr aufweist. An ihre Stelle setzt Habermas die Sprache als diskursives Medium, das selbstreflexive Subjekte untereinander verbindet. Offen bleibt allerdings die Frage, ob Sprache die Kluft zwischen Individuum und Gesellschaft wirklich überbrücken kann. Keine Theorie der Vergesellschaftung nach Freud darf – um das bekannte Bild Wittgensteins zu bemühen – vergessen, dass der Eros der Fels ist, an dem sich der Spaten der Kommunikation zurückbiegt. Im Grunde war dies bereits die Botschaft der ersten Frankfurter Schulgeneration, von der sich Habermas distanziert hat. Seine kognitive Wende zur kommunikativen Handlungstheorie befreit den Prozess der Vergesellschaftung zwar vom Mystizismus einer alle Menschen umfassenden Liebe; doch sie kann dies nur in dem Maße tun, in dem sie sich selbst von den erotischen Grundlagen der Intersubjektivität entfernt. Von dieser Einschätzung ausgehend, wird das nächste Kapitel darlegen, wie ein Konzept menschlicher Subjektivität aussieht, sofern man es konsequent am Leitfaden der Paarliebe entwickelt.

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Kapitel 5: Der Mythos vom isolierten Subjekt

Man bilde sich nicht ein, dass die Menschen mit Diskussionen untereinander, mit Gesprächen und dem Austausch von Ideen wie die Hirten in einer Schäferdichtung anfingen! (Gabriel de Tarde, Die Gesetze der Nachahmung)

Bei der Gegenüberstellung von Freud und Gehlen wurde das Schema des Eros, so wie es sich in sozialen Beziehungen offenbart, aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Die Untersuchungen haben den Boden für eine Theorie der Vergesellschaftung bereitet, die es nicht mit der Gegenüberstellung von Individuen und Gesellschaft bewenden lässt, sondern von der Paarbindung ausgeht. Weder die psychoanalytische Kulturtheorie noch die biologisch fundierte Philosophische Anthropologie konnten sich jemals ganz vom Primat des Subjekts lösen. Wie wir gesehen haben, berücksichtigt Freuds Trieblehre nur die Abhängigkeit des Kindes von der Mutter und billigt der erotischen Liebe zwischen Erwachsenen daher keine Selbständigkeit zu. Und Gehlens Begriff der Kommunikation bleibt trotz der Anknüpfung an den Interaktionismus von George Herbert Mead rein sachorientiert, so dass der intersubjektiven Bindung allenfalls eine Hilfsfunktion im Umgang mit der Außenwelt zukommt. Der Grund für diese Begrenzungen ist darin zu sehen, dass den naturalistischen Ansätzen zwar die Bedeutung der Sexualfunktion nicht entgangen ist, dass sie aber die Transformation der Sexualität in Erotik nicht hinreichend gewürdigt haben. Gehlen sowieso nicht; aber selbst Freud, der die Sublimierung des Sexualtriebs zum Thema macht und im Eros den Motor der Gemeinschaftsbildung erkennt, hat die erotische Liebe nicht als Urbeziehung anerkannt. Geht man demgegenüber von der Paarliebe aus, stellt sich die Frage, wie sich die erotische Bindung auf die Gesellschaft übertragen lässt. Das ist insofern eine schwierige Frage, als die Liebe eine exklusive per96 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Der Mythos vom isolierten Subjekt

sönliche Beziehung ist, die jenseits aller funktionalen gesellschaftlichen Verhältnisse steht. Aristoteles hatte es in diesem Punkt leichter. Er hält sich an die Freundschaft, die sich auf die überschaubaren Strukturen der antiken Polis ausweiten lässt. Die von Aristoteles so genannte »Tugendfreundschaft« liefert das Vorbild für die Gerechtigkeit als den tragenden Wert des politischen Lebens. Dagegen lässt sich die erotische Liebe nicht auf die Gesellschaft ausweiten. Eine Gesellschaft besteht aus Individuen. Sie ist keine Addition von Paaren. Aber Individuen, die zur Konstruktion von Gesellschaft fähig sind, bilden sich nur in der Paarbeziehung. Diese ist, so die Leitidee dieses Buches, das primäre Medium intersubjektiver Kommunikation, das den Menschen aus dem Naturzustand der Horde herausführt. Natürlich gehen die höheren Stufen gesellschaftlicher Kommunikation über den Eros als Medial hinaus. Aber dass Menschen anders als Hordentiere in der Lage sind, als Individuen am Aufbau gesellschaftlicher Strukturen mitzuwirken, wird anthropologisch nur dadurch verständlich, dass das Paar zwischen Individuen und Gesellschaft vermittelt. Die vermittelnde Funktion ergibt sich aus der Paarliebe als besonderer Form der Kommunikation. Diese Beschreibung geht über eine rein emotivistische Auffassung der Liebe darin hinaus, dass sie eine die Leidenschaft übersteigende Form des Einverständnisses voraussetzt, ohne die es gar keine sachliche Verständigung geben kann. Die Leitfrage der folgenden Untersuchungen lautet daher: Welcher Begriff von Kommunikation kann diese Lücke schließen? Dass dies nicht durch eine Orientierung am Funktionalismus gelingen kann, dürfte nach den bisherigen Ausführungen bereits keine Frage mehr sein. Denn nach dem Schema des Eros ist Kommunikation eine Lebensund Wissensform, die den geliebten Anderen in seiner individuellen Eigenart ernst nimmt und ihn dadurch allererst als Person gesellschaftsfähig macht. Daraus müssen zwei Schlussfolgerungen gezogen werden. Erstens: Kommunikation darf nicht als Handeln, sondern muss als Zustand oder Geschehen begriffen werden. Zweitens: Kommunikation beschränkt sich nicht auf einzelne Inhalte, sondern betrifft den ganzen Menschen, der sich in seiner Welt vom anderen anerkannt fühlt. Wo hingegen isolierte Individuen aufeinander treffen, entstehen allenfalls Zweckgemeinschaften, denen das durch den Eros geschaffene Grundelement intersubjektiver Gemeinsamkeit fehlt.

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Kommunikatives Handeln Der Durchbruch zum Primat der Gesellschaft geht auf Jürgen Habermas zurück. Er hat die klassische Subjektphilosophie am Leitfaden der Sozialwissenschaften in eine Philosophie kommunikativer Rationalität transformiert. Hinter dem Subjekt der Selbstreflexion steht für Habermas immer das Sprachhandeln, durch dessen Regelstruktur das angeblich isolierte Individuum mit der Gesellschaft versöhnt wird. Die Aufwertung des Diskurses als unhintergehbares Medium der Vergesellschaftung ist seither zur Leitidee der Sozialphilosophie geworden. Eine Kritik oder gar Dekonstruktion dürfte nicht leicht fallen, da die Idee einer diskursiven Vernunft den revolutionären Impetus des Marxismus der 1968er mit dem System des demokratischen Kapitalismus versöhnt. In Form von Diskursen lässt sich Revolution auch subjektivistisch erleben als Synthese von Marxismus und Psychoanalyse. Habermas hat mit seiner Freud-Rekonstruktion im geistigen Kontext der 1960er Jahre einen gewaltigen Schritt in Richtung auf eine Konkretisierung der Bewusstseinsproblematik getan – ein Schritt, der alle Versuche, die klassische Subjektphilosophie zu retten, endgültig hinter sich lässt. So bahnbrechend jedoch der Vorstoß von Habermas auch war, seine Position bleibt dennoch der spätidealistischen Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins verpflichtet. Freuds hartnäckiges Festhalten an der Sexualtheorie etwa war, entgegen der Habermasschen Einschätzung, mehr als eine zeitbedingte Idiosynkrasie. Sie entspringt der ursprünglichen Einsicht Freuds, dass sich das psychische Leben der Menschen auf einer biologischen Matrix entwickelt, die darüber entscheidet, ob eine Verständigung zwischen Menschen gelingt oder nicht. Natürlich genügt es nicht, sich mit dieser biologischen Feststellung als solcher zu beruhigen. Aber vieles deutet darauf hin, dass die Rationalisierung von Hintergrunderwartungen nicht allein auf dem Wege einer Suche nach diskursiven Sinnkriterien erfolgen kann. Kommunikation hat ihre eigene, vom Sinnverstehen verschiedene Rationalität. Sie bildet eine Vernunftform, für die das leitende Modell allererst noch gefunden werden muss. Hinter dem Generalverdacht einer systematischen Verzerrung der Kommunikation verbirgt sich nicht nur Freuds Begriff der »Verdrängung«, sondern auch der Begriff der »Entfremdung«. Mit diesem Stichwort ist der zweite Kontext genannt, in dem sich die Habermassche Kommunikationstheorie entwickelt hat: die Gesellschaftstheorie 98 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Der Mythos vom isolierten Subjekt

von Marx. Die ›Kritische Theorie‹ von Habermas ist als Versuch zu lesen, die Arbeit, deren Entfremdung Marx für die Krisen des Kapitalismus verantwortlich gemacht hat, durch ein anderes Medium zu ersetzen, das eine Versöhnung des Individuums mit der Gesellschaft auch ohne Revolution möglich macht. Die Sprache wird als einziges Medium anerkannt, das die Menschengattung zur Mündigkeit führen soll. Deutlich ist dieser Position ihr hintergründiger Messianismus anzumerken, dessen Unerfüllbarkeit bereits darin zutage tritt, dass Sprachmissbrauch und Inszenierung der Kommunikation in den modernen Mediengesellschaften kritisches Denken unterdrücken. Habermas hat durch seine Absolutsetzung der Diskurse das isolierte Subjekt zum Mythos gemacht, zu dessen Entmythologisierung seine Theorie kommunikativen Handelns antritt. Diese geniale ideenpolitische Konstruktion bricht freilich in dem Moment zusammen, wenn man von der Intersubjektivität als Ursprung der menschlichen Subjektivität ausgeht. Dann erkennt man, dass im Subjekt immer schon der Bezug zum anderen enthalten ist. Allerdings nicht in Form des alle Menschen verbindenden Logos, sondern in Form des Eros, der zunächst immer nur zwei Menschen aus der anonymen Masse herauslöst. Habermas überspringt diese anthropologische Ebene und bewegt sich im Reich der diskursiven Vernunft, in dem es keine Antinomien geben soll. Bezeichnend ist, dass Habermas in seiner Typologie gesellschaftlicher Krisen von »Rationalitätskrise«, »Legitimitätskrise« und »Motivationskrise« spricht, dabei aber unterschlägt, dass es auch Kommunikationskrisen gibt, wie der heutige Stand der Ehen belegt. Denn Intersubjektivitäten enthalten immer ein Konfliktpotential, da Sinn und Motivation nicht automatisch zusammenfallen. Damit steht die Philosophie vor der Aufgabe, den Kommunikationsbegriff noch einmal vom anthropologischen Standpunkt aus zu klären.

Existenzielle Kommunikation Etwa zur selben Zeit als die Amerikaner C. E. Shannon und W. Weaver eine mathematische Theorie der Kommunikation entwickelt haben, die mit Hilfe statistischer Methoden die Qualität der Nachrichtenübermittlung berechnet, hat in Deutschland der Existenzphilosoph Karl Jaspers intersubjektive Kommunikation in den Mittelpunkt seiner Analyse des menschlichen Daseins gestellt. Jaspers ist sich darüber im 99 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Klaren, dass Vergesellschaftung sich weitgehend auf der Ebene objektiver, rein funktionaler Kommunikation vollzieht. Daher unterscheidet er in seinem Werk Philosophie (1932) zwei Arten von Kommunikation: »Daseinskommunikation« und »existenzielle Kommunikation«. Daseinskommunikation beinhaltet sachliche Interaktion, bei der das Persönliche ausgespart bleibt. Mit der Bezeichnung »Daseinskommunikation« folgt Jaspers noch einem vorheideggerschen Gebrauch des Wortes »Dasein«, so wie er im Neuidealismus von Rudolf Eucken geläufig war. »Daseinswelt« bedeutet die rein funktionale Welt der Geschäfte. Dagegen setzt Eucken »Lebenswelt« als organisches Ganzes persönlicher Solidarität und Verständigung. Im Sinne dieses lebensweltlichen Holismus versteht auch Jaspers existenzielle Kommunikation. Er sieht sie dort erfüllt, wo zwei Menschen sich in ihrer unvertretbaren Individualität einander offenbaren. Denn auch Jaspers weiß, dass persönliche Kommunikation nicht ohne Risiken vor sich geht. Daher spricht er von »liebendem Kampf«. In ihm wird nicht nur um sachliche Geltungsansprüche, sondern auch um die »Wahrheit der Existenz« gerungen. Diese könne nur in der Anerkennung und im Aushalten der individuellen Differenzen erreicht werden. Mit seinem Begriff existentieller Kommunikation hat Jaspers offenbar das Lebensgefühl der Generation zwischen den Weltkriegen getroffen. Der dramatische Strukturwandel der Öffentlichkeit in der Weimarer Republik, der als Orientierungskrise empfunden wurde, hat der Kommunikation seiner Zeit eine Aura verliehen, die heute nur noch schwer nachvollziehbar ist. Den hier vorliegenden Stilwandel, der einen Wandel im Lebensgefühl widerspiegelt, hat der Jaspers-Schüler Dolf Sternberger aus der Rückschau des Jahres 1983 in einem Zeitungsartikel eindrucksvoll geschildert: »Heute heißt ›Kommunikation‹ das Geschäft, das die Medien treiben, die Übermittlung von Nachrichten und Ansichten. Damals, in den späten 20er Jahren, im Hörsaal dreizehn der Alten Universität zu Heidelberg und im Philosophischen Seminar in der Augustinergasse, war es ein Herzenswort, das uns im Innersten traf, zugleich ein Mysterium und ethischer Anspruch, doch einer, dem zu genügen wir ganz bereit waren«. Der ethische Anspruch, den Jaspers mit dem Begriff verbindet, schwingt zwar heute noch nach, doch wird er eher mit Information und Wissen als mit Liebe in Verbindung gebracht.

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Existenz und Gesellschaft Mit dem Primat der existenziellen Kommunikation sieht sich Jaspers zunehmend dem Problem der Vereinbarkeit seiner Position mit den Erfordernissen der Gesellschaft ausgesetzt. Wo Vernunft Öffentlichkeit fordert, kann sich Verstehen nicht auf die Zweierbeziehung beschränken. Einen Ausweg aus diesem Dilemma hat Jaspers 1948 in seinem Buch Der philosophische Glaube gesucht. Angesichts der Kolonialisierung der Lebenswelten durch Wissenschaft und Technik plädiert er für eine integrale Vernunft, in der die objektive und die subjektive Seite der Kommunikation nicht auseinander fallen. Die Versöhnung des abstrakten, allgemeinen Bewusstseins mit der konkreten, personalen Existenz erhofft sich Jaspers von einer Gemeinschaft, die von »grenzenlosem Kommunikationswillen« und »restloser Kommunikationsbereitschaft« (149 ff.) getragen ist. Die Kommunikationsgemeinschaft wird schließlich zu einer Glaubensgemeinschaft, die zwar keinen Ausschließlichkeitsanspruch erhebt, sich aber doch der »Unbedingtheit des eigenen Grundes« gewiss ist: »Grenzenlose Kommunikationsbereitschaft ist nicht Folge eines Wissens, sondern der Entschluss zu einem Weg im Menschsein. Der Kommunikationsgedanke ist nicht Utopie, sondern Glaube. Es ist für jeden die Frage, ob er dahin drängt und ob er daran glaubt, nicht wie an ein Jenseitiges, sondern an ein ganz Gegenwärtiges: an die Möglichkeiten des Menschen, wirklich miteinander zu leben, miteinander zu reden, durch dieses Miteinander in die Wahrheit zu finden und erst auf diesem Wege eigentlich er selbst zu werden« (552). Trotz der doppelten Abgrenzung gegenüber der politischen Utopie einerseits und dem religiösen Jenseitsglauben andererseits ist unübersehbar, dass Jaspers mit seinem Glauben an die Kommunikation in Gedanke und Ton den religiösen Glauben nachahmt. Auf diesem Wege aber lässt sich das problematische Verhältnis von Vernunft und Existenz nicht lösen. Die »eigentliche Kommunikation«, von der sich Jaspers die Rettung aus der Krise der Moderne verspricht, führt schließlich zurück zur mystischen Kommunion, von der Jaspers ausgegangen ist. Das kommunikative Ethos bleibt damit letztlich doch privat, so dass die Theorie der existenziellen Kommunikation den gesellschaftlichen Menschen nicht erreicht. Diese Grenze macht den Kommunikationsbegriff von Jaspers aber nicht wertlos. Er enthält ein sozialphilosophisches Potential, das sich 101 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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erschließen lässt, wenn man existentielle Kommunikation nicht als Gleichklang verwandter Seelen auffasst, die in »Grenzsituationen« die Welt transzendieren, sondern als Verständigung der Menschen im Alltagsleben mit seinen Höhen und Tiefen. Obwohl sich das Denken von Jaspers in den Bahnen der »verstehenden Psychologie« bewegt, hat er dem Alltag keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Sehr zum Nachteil seiner »Existenzerhellung«, der dann nicht entgangen wäre, dass hier der Ort ist, an dem existenzielle Kommunikation für Männer und Frauen, die in der Regel als Paare leben, die Normalität darstellt.

Symbolischer Interaktionismus Es blieb Habermas vorbehalten, durch die Orientierung an Max Webers Begriff sinnhaften Handelns die existenzielle Kommunikation auf eine höhere Reflexionsstufe zu heben. In der Auseinandersetzung mit Jaspers hat Habermas insofern ein leichtes Spiel, als dessen Pathos nicht mehr in die nüchterne Sprache der modernen Sozialphilosophie passte. So kann er ihm vorwerfen, er traue mit seiner »Metalogik individueller Existenz« der »Logik des allen gemeinsamen Bewusstseins« zu wenig zu und flüchte in die Unbestimmtheit eines »philosophischen Glaubens« (Profile, 109). Dagegen eröffnet Habermas mit seiner Theorie kommunikativen Handelns dem Miteinander den Erwartungshorizont wissenschaftlich begründeter Rationalität. Sie bildet für ihn den homogenen semantischen Raum, in dem sich die universale Vernünftigkeit eines normativen Konsenses entfalten kann. Die existenzielle Kommunikation zwischen zwei Menschen kann nach Habermas diesen Raum nicht besetzen. Sie bleibe eine Insel im Netzwerk der diskursiven Kommunikations-gemeinschaft. Mit dieser schnellen und vielleicht doch vorschnellen Abfertigung ist Jaspers, der seinerzeit als Philosoph der Kommunikation par excellence angesehen wurde, ins Dunkel der Vorgeschichte der Theorie kommunikativen Handelns gerückt. Die Dominanz der philosophischen Kommunikationstheorie sollte jedoch Jaspers’ ursprüngliche Einsicht in die Paradoxie der Kommunikation – also in die Einheit der Vernunft bei gleichzeitiger Verschiedenheit der Existenz – nicht ganz in Vergessenheit geraten lassen. Sicherlich können die existenzphilosophischen Denkformen im Jargon der Eigentlichkeit nicht mehr unverändert an den geistigen Gegen102 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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wartshorizont angeschlossen werden; aber es ist immerhin eine Neuformulierung möglich und auch nötig, die den Gehalt des existenzphilosophischen Kommunikationsbegriffs zu retten vermag. Ein Weg zu dieser Neuformulierung führt über den amerikanischen Sozialwissenschaftler George Herbert Mead, an den sich auch Habermas für die Entwicklung seiner Theorie angeschlossen hat. Meads Theorie sozialer Kommunikation, die unter dem Stichwort ›Symbolischer Interaktionismus‹ bekannt geworden ist, bewegt sich auf einer Linie, die vom Jaspersschen Existenzialismus durch eine tiefe Kluft getrennt ist. Mead vertritt einen sozialpsychologischen Naturalismus, der allerdings reicher ausgestaltet ist, als die bekannten Formeln erkennen lassen. Anders als Jaspers, der von der Psychopathologie ausgeht, knüpft Mead an die experimentelle Psychologie von Wilhelm Wundt an; die philosophische Leitlinie liefert ihm der amerikanische Pragmatismus. Damit gewinnt er eine solide Beschreibungsebene, die ihn davor bewahrt, Kommunikation als einen ans Mystische grenzenden Vorgang zu betrachten. Mead betrachtet Kommunikation als eine Form des Sprachhandelns, das er biologisch als Problemlösen und gesellschaftlich als Kooperation zur besseren Realisierung von gemeinsamen Handlungszielen begreift. In diesem utilitaristischen Sinn kann man bei Mead durchaus von »praktischer Intersubjektivität« (Hans Joas) sprechen.

Das Schema der kmpfenden Hunde Praktische Intersubjektivität bildet den Hintergrund, auf dem sich laut Mead personale Identität bildet. Damit setzt Mead den Primat des Selbstbewusstseins außer Kraft. Seine pragmatische Wende in der Intersubjektivitätstheorie besagt, dass das Cogito eine Funktion kooperativer Prozesse ist, die nach dem biologischen Schema eines Kampfes rekonstruiert werden können. Als Beispiel wählt Mead »kämpfende Hunde«. Sie fechten einen ritualisierten Kampf aus, einen Schaukampf, der zwar immer mit dem Sieg eines der Rivalen endet, aber in der Regel nicht zu dessen Tod führt. Die Kampfhandlungen beschreibt Mead so: »Die Handlung jedes der beiden Hunde wird zum Reiz, der die Reaktion des Anderen beeinflusst. Es besteht also eine Beziehung zwischen den beiden; und da der andere Hund auf die Handlung reagiert, wird diese wiederum verändert. Eben die Tatsache, dass der Hund 103 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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zum Angriff auf einen anderen bereit ist, wird zu einem Reiz für diesen anderen, seine eigene Position oder seine eigene Haltung zu ändern. Kaum tritt dies ein, löst die veränderte Haltung des zweiten Hundes beim ersten wiederum eine veränderte Haltung aus. Hier werden Gesten ausgetauscht« (Geist, Identität und Gesellschaft, 81 f.). Bemerkenswert an dieser Beschreibung ist der Übergang von Handlungen zu Haltungen, der sich auf Grundlage des Reiz-Reflex-Schemas vollzieht. Im Kampf geht es nicht um direktes Aufeinanderstoßen von Bewegungen, sondern um den davor liegenden Austausch von Reizen, die Bewegungen auslösen. Die Bewegungen bilden Anfänge von Haltungen mit Ausdruckscharakter, nämlich Gesten, die dem Kampf eine Bedeutungsdimension verleihen. Von der Haltung ist es nur noch ein kleiner Schritt zur sprachlichen Kommunikation. Hinzukommen muss laut Mead die Internalisierung der Gesten, die zu der Fähigkeit führt, sich gegenseitig Reize »aufzuzeigen« (133). Geschieht dies, so verwandelt sich ritueller Kampf in sprachliche Kommunikation: »Ein Mensch kann einen anderen schlagen, bevor er es will; ein Mensch kann nach einem lauten Geräusch hinter seinem Rücken aufspringen und davonlaufen, bevor er noch weiß, was er tut. Wenn er es bewusst tut, drückt die Geste nicht nur diesen Sachverhalt gegenüber dem Beobachter aus, sie drückt auch den Gedanken dieses Individuums aus. Im ersten Fall sieht der Beobachter, dass die Haltung des Hundes Angriff bedeutet, doch behauptet er nicht, dies bedeute eine bewusste Absicht zum Angriff seitens des Hundes. Wenn jedoch jemand die Faust vor unserem Gesicht schüttelt, so nehmen wir an, dass er nicht nur eine feindselige Haltung ausdrückt, sondern dass dahinter auch noch eine Idee steckt« (84). Was Mead hier »Idee« nennt, ist die von einem Subjekt ausgehende Intention. Die spezifisch menschliche Intentionalität des Bewusstseins schreibt Mead aber nicht dem isolierten Subjekt zu, sondern lässt sie der Interaktion entspringen, die symbolischen Charakter annimmt: »Wenn nun eine solche Geste die dahinter liegende Idee ausdrückt und diese Idee im anderen Menschen auslöst, so haben wir ein signifikantes Symbol. Bei den kämpfenden Hunden sehen wir eine Geste, die richtige Reaktionen auslöst; im letzteren Fall erkennen wir ein Symbol, das einer Bedeutung in der Erfahrung des ersten Menschen entspricht und diese Bedeutung auch im zweiten Menschen hervorruft. An dem Punkt, an dem die Geste diesen Zustand erreicht, wird sie zu dem, was wir ›Sprache‹ nennen. Sie ist nun ein signifikantes Symbol und be104 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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zeichnet eine bestimmte Bedeutung« (84 f.). Der hier rekonstruierte Bildungsprozess sprachlicher Symbole markiert für Mead den Unterschied zwischen Mensch und Tier. Als spezifische Differenz betrachtet er die Fähigkeit, Symbole auch unabhängig von konkreten Handlungsabläufen interaktiv zu handhaben. Damit lässt Mead die Position des sprachphilosophischen Idealismus hinter sich. Vor der Sprache steht nicht das Denken, Kommunikation findet nicht primär in den Köpfen statt, sondern bildet von außen beobachtbares Verhalten ab. Sprachliche Kommunikation geht aus kooperativen Tätigkeiten hervor, verselbständigt sich dann aber und wird zur Grundlage des menschlichen Weltbegriffs: zum »logischen Universum« (306).

Von Mead zu Habermas Habermas hat Mead zum ›Vater‹ seiner Theorie kommunikativen Handelns erklärt. Er übernimmt von ihm den Primat der kommunikativen Interaktion, mit dessen Unterstützung er den Standpunkt des »einsamen Subjekts der cartesischen Tradition« zu überwinden trachtet. Bei seinem Versuch, die subjektive Perspektive mit der Beobachterperspektive zur Deckung zu bringen, unterscheidet sich Habermas von Meads Behaviorismus allerdings darin, dass er Kommunikation von vornherein als Sprachhandeln begreift. Darin folgt er dem linguistic turn der analytischen Philosophie, den er durch die Annahme ergänzt, dass der Sprache neben Arbeit und Herrschaft eine Sonderstellung als Medium der Vergesellschaftung zukommt. Nur im Sprachhandeln, das die anderen Medien der Vergesellschaftung begleitet, begegne das Subjekt sich selbst und könne über die bloße Selbsterhaltung hinaus Selbstreflexion im Sinne von politischer Mündigkeit entfalten. In seiner programmatischen Antrittsvorlesung Erkenntnis und Interesse aus dem Jahre 1965 hat Habermas diesen Gedanken schon mit Bezug auf die Kommunikation prägnant formuliert: »Das, was uns aus der Natur heraushebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach kennen können: die Sprache. Mit ihrer Struktur ist Mündigkeit für uns gesetzt. Mit dem ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmissverständlich ausgesprochen. Mündigkeit ist die einzige Idee, deren wir im Sinne der philosophischen Tradition mächtig sind. Vielleicht ist deshalb der Sprachgebrauch des Deutschen Idealismus, dem zufolge ›Ver105 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil I: Der Mensch unter Menschen

nunft‹ beide Momente: Willen und Bewusstsein enthält, doch nicht ganz obsolet. Vernunft meinte zugleich den Willen zur Vernunft. In der Selbstreflexion gelangt eine Erkenntnis um der Erkenntnis willen mit dem Interesse an Mündigkeit zur Deckung« (Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, 163 f.). Der hier dem dialogischen Sprechen unterstellte Wille zum Konsens, der direkt mit Vernunft identifiziert wird, führt Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1981) im Anschluss an Mead zu der Unterscheidung zweier Handlungsformen. Die eine wird als »erfolgsorientiertes Handeln« bezeichnet und kausal als Prozess des Interessenausgleichs beschrieben, über dessen Ausgang die Macht der Verhandelnden entscheidet. Dagegen nennt Habermas ein Handeln, das per se auf Konsens ausgerichtet ist, »verständigungsorientiertes« oder eben »kommunikatives Handeln«. In seinem Aufsatz Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln (1983) fasst Habermas seine Position gedrängt zusammen: »Demgegenüber spreche ich von kommunikativem Handeln, wenn sich die Aktoren darauf einlassen, ihre Handlungspläne intern aufeinander abzustimmen und ihre jeweiligen Ziele nur unter der Bedingung eines sei es bestehenden oder auszuhandelnden Einverständnisses über Situation und erwartete Konsequenzen zu verfolgen. In beiden Fällen wird die teleologische Handlungsstruktur insofern vorausgesetzt, als den Aktoren die Fähigkeit zu zielgerichtetem Handeln und das Interesse an der Ausführung ihrer Handlungspläne zugeschrieben wird. […] Der Begriff des kommunikativen Handelns ist so angesetzt, dass die Akte der Verständigung, die die Handlungspläne verschiedener Teilnehmer verknüpfen und die zielgerichteten Handlungen zu einem Interaktionszusammenhang zusammenfügen, nicht ihrerseits auf teleologisches Handeln zurückgeführt werden können. Verständigungsprozesse zielen auf ein Einverständnis, das von der rational motivierten Zustimmung zum Inhalt einer Äußerung abhängt. Einverständnis kann der anderen Seite nicht imponiert, kann dem Gegenspieler nicht durch Manipulation auferlegt werden. […] Dieses beruht stets auf gemeinsamen Überzeugungen« (144 f.). Die Gegenüberstellung der genannten beiden Arten des Handelns wird von Habermas durch Analysen zur Festlegung gemeinsamer Überzeugungen untermauert, die mit den Begriffen »Situation«, »Thema« und »Relevanz« arbeiten. Dabei verfährt Habermas nicht streng sprachanalytisch, sondern eher sozialpragmatisch. Ein Verfahren, das sich wie eine Übertragung der lebensweltlich 106 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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orientierten Theorie der Erfahrung seines Lehrers Erich Rothacker auf die soziale Interaktion liest. So erhellend diese Analysen auch sein mögen: sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Abgrenzungskriterium des »Einverständnisses« für das kommunikative Handeln eigentümlich unscharf bleibt, da es zwischen subjektiver und objektiver Betrachtung schwankt. Denn wo Zustimmung »rational motiviert« ist, wird sie durch die Sache selbst erzwungen. Für eine mathematische Wahrheit beispielsweise bedarf es keiner Kommunikation und keines »Einverständnisses«. Und wo andererseits ein faktisches Einverständnis vorliegt, verschwinden damit die partikularen Interessen auch bei so genannter »interner Abstimmung« keineswegs automatisch. In einer Räuberbande beispielsweise können alle Beteiligten ihr »Einverständnis« zu einer verbrecherischen Tat geben. Das ist der nicht seltene Fall einer Komplizenschaft, die zufällig bleibt und keinen mit »Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit« zu bezeichnenden höheren Wert erzeugt. Einverständnis kann demnach nicht als maßgebliches Kriterium für kommunikatives Handeln betrachtet werden. Wenn man Kommunikation überhaupt als ›Handlung‹ beschreiben will, dann schließt sie Erfolgsorientierung niemals aus. Konsens wird von Habermas nur deshalb so absolut gesetzt, weil er trotz seines handlungstheoretischen Vokabulars dem von ihm bekämpften Ontologismus verhaftet bleibt. Denn unter Konsens versteht er Teilhabe an der einen Wahrheit des einen Seins, dessen ›Sinn‹ die deutsche Philosophie nach Heidegger aufdecken will.

Sprachanalytischer Einspruch Der Begriff kommunikativen Handelns, den Habermas seiner Diskursethik zugrunde legt, ist von verschiedenen Seiten differenzierter Kritik unterzogen worden. Hier sei nur der Sprachanalytiker Ernst Tugendhat genannt, der in seinen Vorlesungen über Ethik den Kommunikationsbegriff von Habermas für unzureichend erklärt, da dieser durch seine Vernunftorientierung an die emotionale Seite der Interpersonalität nicht heranreiche: »Für das kommunikative Handeln im Sinne von Habermas ist ›Verständigung‹ grundlegend. Aber das ist nur eine wechselseitige Verständigung über, nämlich über die Interessen der Betroffenen, während die Kommunikation […] eine Kommunikation 107 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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mit den Anderen ist, und dass ist eine Kommunikation, die nur als affektive mit den Affekten der anderen möglich ist. Nicht die Interessen werden zur Übereinstimmung gebracht, sondern die Affekte. Es wird nicht ein Ausgleich der Interessen, sondern eine Harmonie der Affekte angestrebt« (295 f.). Tugendhat legt denn auch überzeugend dar, dass das Konsensmodell der Diskursethik als Ideal in sich widersprüchlich ist, da es die Subjektivität voraussetzt, die durch den Diskurs erst erklärt werden soll. Die Grenzen der Theorie des kommunikativen Handelns sind damit klar markiert. Der philosophische Grund für die Defizite ist darin zu sehen, dass Habermas Kommunikation primär im Rahmen der Wahrheitsproblematik behandelt. Das bindet kommunikatives Handeln an den Diskurs. Kommunikation aber lässt sich durch Diskurse allein nicht rechtfertigen, da diese eine Verstandesstruktur voraussetzen, die für sich selbst steht. Der Diskurs weitet lediglich die solipsistische ›Selbstreflexion‹ aus, ohne je den Mitmenschen in seiner Person auch nur im Entferntesten anzusprechen. Das macht die Weltlosigkeit ›kommunikativen Handelns‹ aus, das nicht zufällig in einer virtuellen ›Welt‹ des globalen Egalitarismus Zustimmung findet. Die mit der Intersubjektivität unmittelbar verbundene Rechtfertigung des Subjekts ist nicht religiös, sondern anthropologisch zu verstehen. In ihr befreit sich der Mensch aus der Hülle seiner Subjektivität, aus der Fessel seiner Bedürfnisse und Begierden, ohne dass diese damit negiert werden. Das zeigt sich in der erotischen Beziehung. Jeder Partner versucht, den anderen in den Kreis seiner Begierde hineinzuziehen. Aber diese »Zwangsbeziehung« wird vom Eros geöffnet, so dass sich in der erotischen Beziehung zwei interaktive Subjekte begegnen. Das macht den Eros als Urform der Kommunikation zum schöpferischen Werden der Freiheit. Diese Konzeption widerspricht der Auffassung von Habermas, der die Kommunikation als einen rein kognitiven Akt auffasst. Freud hat die Differenz zwischen »Traumgedanke« und »Trauminhalt« ins Zentrum seiner Traumdeutung (1900) gestellt und von da auf »zwei Leistungen« des Subjekts geschlossen. Diese Differenz hat Habermas in seiner Freudexegese übersprungen und daher die Tiefengrammatik des Eros nicht in den Blick bekommen. Aber der Eros mit seinen unauflösbaren inneren Widersprüchen lässt sich nicht so leicht übergehen. Zwar ist es richtig, dass in sachbezogenen Diskursen jeder voraussetzt, dass der Andere seine Meinung begründen kann. Aber das ist schon eine Rationalisierung der Urform der Kommunikation, die sich im Medium des Eros vollzieht. 108 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Die Lust ist die einzige Sprache, die beide Geschlechter unmittelbar verstehen.

»Liebe als Passion«: Niklas Luhmann Wie stark der Logozentrismus die Theorie kommunikativen Handelns tatsächlich bestimmt, lässt sich unter anderem daran ablesen, dass der direkte Gegenentwurf – nämlich Niklas Luhmanns Systemtheorie – von Habermas in sein eigenes Konzept integriert werden konnte. Im Rahmen seines systemtheoretischen Ansatzes beschreibt Luhmann Kommunikation als Schaffung und Erhaltung von Differenzen, ohne die das soziale Leben am Überfluss seiner eigenen Möglichkeiten im Chaos versinken würde. Kommunikation wird damit zu einer Form der Selbstreproduktion autopoetischer Systeme. Jede Kommunikation, die nach Luhmann keineswegs auf Konsens ausgerichtet ist, wie Habermas meint, bleibt vorläufig und kontingent in dem Sinn, dass es immer auch zum Abbruch kommen kann. Kommunikation lässt sich demnach nicht als intentionales Handeln von autonomen Subjekten begreifen, sondern als selbstreferentieller Prozess der Systemdifferenzierung, dem Luhmann auf die paradoxe Formel gebracht hat: »Nur die Kommunikation kann kommunizieren«. Aufschlussreich für Luhmanns Verständnis von Kommunikation ist ihre Qualifikation als »soziale Operation«. Vom Handeln unterscheidet sich eine Operation darin, dass es sich um ein von der Erhaltungsabsicht des Systems gesteuertes Verfahren handelt. Exemplarisch dafür sind militärische Operationen, die auf die Festschreibung von Freund-Feind-Verhältnissen bis zur Vernichtung des Feindes aus sind. Nach diesem Modell ist Kommunikation immer strategisch und erfolgsorientiert, Konsens käme dagegen einer Aufhebung von Kommunikation gleich. Das strategische Ausagieren von Unterschieden nennt Luhmann im Anschluss an die Theorie autopoetischer Systeme des Biologen Maturana »Beobachten«. Das ist der systemtheoretische Gegenbegriff zum »Verstehen« bzw. zur »Verständigung«, die Habermas als Apriori kommunikativen Handelns ansieht. Aus systemtheoretischer Perspektive löst sich das Apriori der Verständigung in ein komplexes System von Unterscheidungen auf, die durch »Beobachten von Beobachtungen« das Chaos der sozialen Beziehungen in sinnhafte Strukturen transformieren. Im Begriff der Beobachtung bzw. Selbst109 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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beobachtung wird sichtbar, wie nahe Habermas an Luhmanns systemtheoretischen Soziologismus herankommt. Habermas versteht Kommunikation als sprachliche Erweiterung der Selbstreflexion, die dem Deutschen Idealismus zufolge das Subjekt als Einheit von Erkenntnis und Praxis konstituiert. Dem entspricht Luhmanns Auffassung von Subjektivität als geschlossenes System, das auf Reize durch immanente Veränderungen reagiert. Wo Intersubjektivität grundsätzlich für unmöglich gehalten wird, kann das, was klassischer Weise »Verstehen« genannt wird, nur als innerhalb geschlossener Systeme sich vollziehende Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdreferenz beschrieben werden. Die Grenzen der systemischen Kommunikationstheorie treten im Thema Liebe deutlich zutage. Entgegen der noch heute verbreiteten romantischen Auffassung von Liebe als Gefühl betrachtet er in seinem Buch Liebe als Passion (1994) Liebe als »symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium«. Darunter versteht er die Verhaltens- und Sprachformen der Liebe, deren wechselnde Codes in Europa vom 17. Jahrhundert bis heute idealtypisch rekonstruiert werden. Die historische Soziologie zeigt diachron eine ähnliche Vielfalt von Liebescodes wie sie die empirische Anthropologie im synchronen Kulturvergleich zutage befördert. Es ist hier nicht der Ort, die von Luhmann herausgearbeiteten Epochen der Liebessemantik im Einzelnen einer Prüfung zu unterziehen. Beipflichten wird man aber sicherlich seiner Feststellung des höchst artifiziellen Charakters der Liebessemantik, die dazu tendiert, die naturale Basis physischer sowie psychischer Eigenschaften in symbolische Formen zu transformieren. Das gilt auch für die romantische Liebesauffassung, deren emotionale Unmittelbarkeit keineswegs so unmittelbar ist, wie sie sich gibt. Hier liegt ein weites Feld künstlicher Gefühle, die durch literarische Vorbilder geprägt sind. Demgegenüber tendiert die Liebessemantik in der postmodernen Erlebnisgesellschaft zur Trivialisierung, die eine Begleiterscheinung der Materialisierung und Veräußerlichung der Lebensformen zu sein scheint. Das Fazit, das Luhmann aus der modernen Liebessemantik zieht, ist negativ. Zwar macht er sich als Soziologe keine Illusionen über die Unausweichlichkeit des Wandels der Paarbeziehungen; aber er bezweifelt doch ihre reibungslose Integrierbarkeit in den gesamtgesellschaftlichen Interaktionszusammenhang. Die Authentizitätsforderung, die in der weitgehend auf sich selbst gestellten Zweierbeziehung in Unauf110 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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richtigkeit umschlägt und zur Therapeutisierung der Sexualität treibt, lässt sich nach Luhmann nicht in Sinnkriterien formulieren, die personale und soziale Systeme zusammenhalten. Aus dieser paradoxen Lage weiß er keinen überzeugenden Ausweg, und so endet sein Buch denn auch mit einer offenen Frage: »Was nun?«. Das düstere Bild, das Luhmann von der modernen Liebe zeichnet, spiegelt die Unübersichtlichkeit der Entwicklung, beruht darüber hinaus aber auf einer unreflektierten Voraussetzung. Sie liegt in der Überzeugung des Soziologen, dass personale und soziale Systeme ›Sinngebilde‹ sind. Aber lässt sich erotische Liebe wirklich angemessen in Sinnkategorien beschreiben? Natürlich wandelt sich die sprachliche Codierung, aber der Code ist nicht alles. Er holt nur heraus, was an emotionaler Wirklichkeit vorhanden ist. Die Wirklichkeit der erotischen Liebe ist reicher als alle Sinngebungen. ›Sinn‹ setzt ein übergeordnetes Ziel, ein Telos voraus, an das sich Handlungsschemata halten. Liebe aber entzieht sich der Teleologie; sie ist wie das Leben ihr eigener Beweis. Das Schema des Eros expliziert die in der Lust liegende Bedeutung, aber es ist kein Sinngebungsschema, das durch die Gesellschaft von außen an die Liebe herangetragen wird. Hört man erst einmal damit auf, Liebe in Sinnrahmen zu pressen, nimmt man also Liebe als »Passion« ernst und bezieht sie – anstatt auf Sinn – vielmehr auf Sinnlichkeit, dann tritt ein einfaches Bild hervor: Ein Mann und eine Frau – gibt es eine größere Rechtfertigung? Liebe ist wie das Leben ein Handwerk, dessen Techniken durch den Stoff bestimmt werden, der verarbeitet wird: die sexuelle Lust, die Liebende erfasst, wenn sie sich nackt gegenüber stehen. Hier bedarf es keiner Konstruktionen und keiner Argumente, sondern einer Abstandsregelung, die Nähe und Distanz im Gleichgewicht hält. Nur dann ist es möglich, miteinander zu leben, ein millionenfach vorkommender sozialer Tatbestand, der durch Diskursregeln ständig verzerrt wird, die asymmetrische Codierungen der Liebe festschreiben. Sich lieben und auf dieser Grundlage miteinander leben – genau das ist erotische Rechtfertigung. Dies hat Ulrich Beck klar gesehen, wenn er gegenüber dem soziologischen Paradigma sinnhaften Handelns einräumt: »Der Rechtfertigungsmodus der Liebe ist nicht traditional und formal, sondern emotional und individuell. Er entstammt also der Erfahrung und dem Glauben und Hoffen der Individuen und nicht irgendwelcher übergeordneter Instanzen. Die Liebenden und nur sie verfügen über Wahrheit und Recht ihrer Liebe. Nur sie können sich 111 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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das Recht nehmen – und es sprechen. Es ist damit allerdings ein Recht, das keine Satzung kennt, kein Verfahren. Damit aber auch: kein Unrecht selbst dort, wo es in flagranti geschieht – keine Einklagbarkeit, keine Revision, Liebe und Gerechtigkeit sind Wörter, die fremden Sprachen angehören« (Das ganz normale Chaos der Liebe, 254). Nur der letzte Satz Becks bedarf der Spezifizierung: Irdische, d. h. forensische Gerechtigkeit gehört nicht zur Liebe, wohl aber eine immanente Gerechtigkeit, da der Grund der Liebe immer nur die Liebenden selbst sind. Nun mag es sein, dass die Soziologen auch über die Liebe nur in Sinnkategorien sprechen können, aber aus der Perspektive der Philosophischen Anthropologie werden die Sätze unsinnig. Ihre Aufgabe beschränkt sich darauf, die Grenze zu ziehen zwischen der erotischen Liebe als Rechtfertigungsgeschehen und all dem, was Sozialwissenschaftler über sie sagen können.

»Liebe machen«: erotische Poesis In der erotischen Kommunikation nimmt die Interaktion der liebenden Körper die Form einer Darstellung des ganzen Menschen an. Im gegenseitigen Liebkosen wird der Körper des Anderen aus einem reinen Lustobjekt zu einem Zeichenträger, zur Interface, auf dem sich die Entfaltung des Eros ablesen lässt. Im erotischen Zustand ist der Körper kein weißes Blatt, keine tabula rasa, sondern ein vorstrukturiertes Medium, das wie der Marmor den Bildhauer auffordert, eine Statue daraus zu machen. Nacktheit verlangt Respekt und fordert auch zur Kreativität auf. Kein Liebender darf dem Anderen ein fremdes Bild aufdrücken. Das wäre die subtilste Form von Vergewaltigung. Die ›Liebeskunst‹ besteht darin, den Begierden des Geliebten die Form zu geben, die ihm gemäß ist, d. h., in der er sich selbst artikulieren kann. Erotische Kommunikation beruht somit auf einer besonderen Art von Formgebung, von »Information«. Die Sonderstellung der erotischen Information liegt darin, dass die Bedeutungszuschreibung keineswegs beliebig ist. Die Artikulation bleibt im Rahmen der Repräsentation der Gefühle. Sicherlich spielt sich erotische Kommunikation nicht immer ohne Zwang ab. Es ist der Zwang der Bedürfnisse, der aber genau dann im prägnanten Sinne ›kommunikativ‹ wird, wenn er sich im Medium der Liebe bricht. Das Medium ist dann nicht nur die Botschaft, es ist auch 112 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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die Freiheit. Eine Bestätigung dafür liefert Goethe, der Tasso sagen lässt: »Die Menschen kennen einander nicht; nur die Galeerensklaven kennen sich, die eng an eine Bank geschmiedet keuchen, wo keiner was zu fordern hat und keiner was zu verlieren hat, die kennen sich«. Das trifft auch auf die Liebenden zu. Auch die Liebenden kennen sich, weil sie an die Bank der Sinnlichkeit »geschmiedet keuchen«. Darin gleichen sie Sklaven der Lust. Im Unterschied zu Galeerensklaven aber haben Liebende etwas zu verlieren: sich selbst. Und sie haben auch etwas zu fordern: Hingabe und Rücksichtnahme. Das macht die Freiheit der erotischen Liebe aus. Die Darstellungsdimension bewahrt vor der gängigen Fehldeutung der erotischen Liebe als einer Art von Verschmelzung. Die sexuelle Begierde strebt nach Entblößung der Körper. Die Liebenden präsentieren sich gegenseitig nackt und ungeschützt. Im Orgasmus steigert sich die Ungeschütztheit so weit, dass man biologisch und psychologisch von Gefährdung und Entäußerung sprechen kann: »Im Orgasmus verliert das Subjekt seine Ich-Haftigkeit. Wer ›sich selber genug‹ ist, wird im Orgasmus seiner hybriden Sicherheit entkleidet. Er gerät gleichsam in einen ozeanischen Strudel, bei dem Leib und Seele und Geist zu einem verschmelzen und zugleich Innen und Außen ihre Grenzen verlieren. Die szenische, also erlebte Zeit zeigt bei diesem dionysischen Akt einen Stillstand. Je höher der Grad der zivilisatorischen Sklerose (Erlebnisunfähigkeit, Sperrung, Unfähigkeit sich hinzugeben), desto schwerer kann das Subjekt sich seiner Sicherungen begeben« (Rudolf Bilz, Wie frei ist der Mensch?, 215). Hier wird freilich nur ein Grenzzustand beschrieben, dessen Realisierung der Traum aller Mystiker und Romantiker ist. Vom Standpunkt der Kommunikation ist ›Verschmelzung‹ weder realisierbar noch wünschenswert, da damit die Trennung der Kommunizierenden aufgehoben wäre und kein Informationsfluss mehr stattfinden könnte. Es gehört zur Kommunikation nach dem Schema des Eros, dass der Partner über die körperliche Verschmelzung hinaus als identische Person anerkannt wird. Als Kontrast aus der Tierwelt kann man die Gottesanbeterin anführen, die das Männchen zunächst als Geschlechtspartner, dann als Beute ›erkennt‹ und auffrisst. Dieses Umschlagen macht deutlich, dass bei den Tieren die Verfügungsgewalt über die Bilder, die der Mensch durch den Eros gewinnt, fehlt. Der Eros verlangt nicht nur nach einem Lustobjekt, sondern nach einem Lustsubjekt, das auch dann noch erhalten bleibt, wenn die Sexualfunktion 113 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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abgelaufen ist. Insofern kennen Tiere nur Kooperation oder ihr Gegenteil, Aggression, aber keine Kommunikation im eigentlichen Sinne. Das Fazit der bisherigen Überlegungen lautet: Intersubjektive Kommunikation beruht auf der spezifisch menschlichen Form der Verausgabung und Gestaltung sexueller Energie, die seit Freud »Libido« heißt. In der Artikulation der Sinnlichkeit liegt die Wurzel und eigentliche Wahrheit der Intersubjektivität. In ihr ereignet sich die von Habermas und anderen Sozialphilosophen vergeblich gesuchte Einheit von Theorie und Praxis. Der Diskurs allein führt hier nicht zum Ziel, da er das Subjektive im Objektiven ausklammert, da er die Figur ohne den Hintergrund betrachtet. Nur der Eros hat die Kraft gegenseitiger Bestätigung, die den ganzen Menschen umfasst: Kommunikation als Anerkennung der Verschiedenheit der Personen in der Gleichheit des Verlangens. Um diese Dimension wieder einzuholen, soll im folgenden Kapitel die Sündenfallerzählung neu interpretiert und die Rhetorik als Instrument der Verführung rehabilitiert werden.

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Kapitel 6: Die Schlange oder: Die Rhetorik der Verfhrung

Mit Metaphern spielt man nicht. Die Liebe kann aus einer einzigen Metapher geboren werden. (Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins)

Kommunikation ist ein alltäglicher Vorgang, von dem die Beteiligten allerdings nicht wissen, was in der Tiefe abläuft. Nur soviel dürfte klar sein: Bloßer Austausch von Informationen schafft Verbindungen, aber keine Bindung. Menschliche Bindung entsteht erst dadurch, dass mit den Inhalten die Personen selbst zur Darstellung kommen. Dabei geht es nicht nur um ihre zufälligen Befindlichkeiten, um ihre emotionalen Zustände, sondern um die Persönlichkeit mit ihren Grundeinstellungen und Überzeugungen. Das ist mit der im vorigen Kapitel entwickelten Formel ›Kommunikation als intersubjektive Repräsentation‹ gemeint. Wie kommunikative Repräsentation aber funktioniert, das kann eine rein psychologische Beschreibung nicht erhellen. Aufgabe ist es vielmehr, Kommunikation formal zu rekonstruieren, ohne in einen Erlebnissubjektivismus zurückzufallen. Das führt ins schwierige Gebiet der Logik des Zeichengebrauchs, die aber ihre argumentativen Schrecken verliert, wenn man die Zeichentheorie oder Semiotik nach dem Muster der erotischen Liebe interpretiert. Die Liebe als Urform der Intersubjektivität beginnt in der jüdischchristlichen Tradition zwar mit einer Geste, mit der Darreichung der verbotenen Frucht, aber dabei ist es nicht geblieben. Aus der expressiven Geste hat sich ein raffinierter allegorischer Code entwickelt, der es möglich macht, Gefühle des Begehrens zu artikulieren und mitteilbar zu machen. Auf diesem Wege entsteht eine Rhetorik der Verführung, in der jeder Partner als Verführer und Verführter zugleich fungiert. Der Weg von der abstrakten Logik der Zeichen zur konkreten Rhetorik der Verführung soll in diesem Kapitel in einer Form nachgezeichnet

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werden, die auch für Leser nachvollziehbar ist, die zu logischen Untersuchungen nur schwer Zugang finden.

Soziobiologie der Sexualitt Um nun die semiotische Dimension der erotischen Liebe würdigen zu können, ist zunächst ein Blick auf den soziobiologischen Hintergrund des tierischen und menschlichen Paarungsverhaltens erforderlich. Infolge der starken Instinktbindung sowie der ausschließlichen Ausrichtung auf den Fortpflanzungserfolg haben Tiere bei der Partnerwahl wenig Spielraum. Anders die Menschen, die infolge ihrer Instinktlockerung in der Lage sind, sich auch mit Angehörigen anderer Rassen zu paaren. Menschen sind wie in der Nahrungsaufnahme so auch in der Sexualität »Allesfresser«. Aber gerade diese gattungsmäßige Offenheit hat ein gesteigertes individuelles Wahlverhalten zur Folge. Zwar haben Soziobiologen eine Tendenz zur Wahl gleichartiger Geschlechtspartner festgestellt, wobei die äußerlichen Merkmale dominieren. Aber das schließt Abweichungen von der Norm nicht aus, und das umso mehr, je stärker kulturelle Normen wirksam werden. Ein bekanntes Beispiel ist der Wandel des weiblichen Schönheitsideals. Breites Becken und volle Brüste, die Fortpflanzungserfolg verheißen, decken sich längst nicht mehr mit dem Bild, nach dem der moderne Mann seine Geschlechtspartnerin aussucht. Für den hier in Frage stehenden Zusammenhang ist eine weitere Besonderheit im Sexualverhalten zu nennen, welche die menschliche Fortpflanzung von derjenigen der Tiere unterscheidet. Bei allen Völkern waren und sind monogame Beziehungen zwischen Mann und Frau die Regel. Monogame Paarbildungen gibt es auch im Tierreich. Bekannt dafür sind bestimmte Gänsearten, die allerdings, darin dem Menschen ähnlich, vor ›Seitensprüngen‹ nicht zurückschrecken. Auch Gibbons leben streng monogam. Ihre Monogamie unterscheidet sich aber von der der Menschen darin, dass Gibbonpärchen in so großen Revieren leben, dass es so gut wie keine Kontakte zu anderen Gibbonpärchen gibt. Hier fehlt also schlicht und einfach die Gelegenheit, die Diebe macht. Aus soziobiologischer Sicht ist die menschliche Monogamie insofern überraschend, als Menschen verschiedenen Geschlechts einzeln oder in Paaren auf engstem Raum zusammenleben und eng miteinander kooperieren. Was die Menschen im Unterschied zu Tieren 116 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Die Schlange oder: Die Rhetorik der Verfhrung

daran hindert, jede Gelegenheit zur Kopulation zu nutzen, ist die sexuelle Scham. Diese Zurückhaltung ist reproduktionsbiologisch nicht zu erklären, da der Fortpflanzungserfolg in keiner Weise davon abhängt, unter welchen Bedingungen die Kopulation stattgefunden hat. Generell lässt sich das Paarungsverhalten der Tiere als multifunktionaler Kompromiss im Sinne der Arterhaltung auffassen. Der Kompromiss kommt durch Instinktverschränkung zustande und verbindet den Drang zur multiplen Verpaarung, der eine weite Streuung des Erbgutes ermöglicht, häufig mit einer monogamen Elternbeziehung, welche die Aufzucht des Nachwuchses begünstigt. Den Paarungsstrategien liegen verschiedene ›Kosten-Nutzen-Rechnungen‹ zugrunde, die sich auch auf den Menschen anwenden lassen. Daraus folgt, dass die Monogamie sich wahrscheinlich aus einem multiplen Paarbindungssystem entwickelt hat. Wenn es nicht mehr primär um Fortpflanzungserfolg geht, sondern um Lustgewinn, werden die evolutionsbiologischen Faktoren zwar nicht vollständig außer Kraft gesetzt, aber durch einen weiteren Faktor ergänzt. Es ist die soziale Kommunikation, die anders als bei der Signalgebung der Tiere nicht mehr rein biologischen Gesetzen unterliegt. Damit rückt die Eigenständigkeit der kommunikativen Funktion morphologischer Signale geschlechtlicher Bereitschaft in den Blick. Im Sexualverhalten der Menschen wirken diese Muster unbewusst weiter, aber sie werden nach kulturellen Wertmaßstäben kontrolliert. Insofern befreit sich der Mensch zwar nicht endgültig von der Biologie, aber das Paar löst sich definitiv vom Primat der Gattung. Beim Menschen führt die Sexualität zu individuellen Bindungen. Sie unterscheiden sich qualitativ vom Paarverhalten der Tiere, das allenfalls in metaphorischem Sinne als ›monogam‹ bezeichnet werden kann. In der tierischen Paarbindung verfolgen Männchen und Weibchen nur ihre eigenen Interessen. Das belegt die sog. »gemischte Fortpflanzungsstrategie«, die beispielsweise bestimmte Vogelmännchen dazu bringt, das Weibchen zu täuschen. Als Analogon dazu kann man die Verführung Adams betrachten, bei der Eva durch die Klugheit der Schlange unterstützt wird. Aber es gibt doch einen prinzipiellen Unterschied gegenüber den Listen der Tiere: Eva verwendet das Wissen der Schlange nicht im Interesse ihres eigenen genetischen Materials. Die Täuschung der Schlange betrifft das Schicksal beider Partner gleichermaßen, sie antizipiert die gesamte Menschengeschichte, die im Sündenfall ihren Anfang nimmt.

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Die alttestamentarische Sndenfallerzhlung: Kampf dem Eros Die menschliche Sexualität basiert auf einer Semantik, die über rein funktionale Interaktionen hinaus Repräsentationsverhältnisse entstehen lässt. Diese prägen, wie am biblischen Sündenfallmythos gezeigt werden kann, die Soziogenese der Paarbindung. Dabei kann Kants Interpretation des Sündenfalls als sozialer Mythos zum Vorbild genommen werden. Was Kant als Abweichung vom Instinkt beschreibt, fällt psychologisch unter den Begriff der Verführung. Bei der sexuellen Transgression spielt naturgemäß die Schlange eine prominente Rolle. Die meisten Theologen sehen in der von Gott wegen ihrer Klugheit verwünschten Kreatur die Verkörperung des Bösen im Fleisch. Alter Überlieferung zufolge steht die Schlange mit dem Teufel in Verbindung, als dessen »Muhme« sie noch in Goethes Faust bezeichnet wird. Es gibt auch häretische Interpretationen der Gnostiker, die unter der Schlange Gott selbst vermuten. Die theologischen Auslegungen sind hier nicht das Thema. An sie wird nur erinnert, um zu zeigen, wie sehr der alttestamentarische Gott religionsgeschichtlich als Antwort auf den Eros konzipiert ist. In der Sündenfallerzählung steht die Schlange für die verführerische Macht des Eros. Trotz ihrer Klugheit wird die Schlange von Gott verflucht. Damit bekräftigt der Logos der Offenbarung seinen Absolutheitsanspruch gegenüber den Formen sinnlicher Erkenntnis. Historisch bedeutet das eine Zerstörung der mythischen Phallus-Kulte Vorderasiens, die Formen der Fetischisierung des Eros darstellen. Dieser Vorgang hat sein Analogon in der Entgöttlichung der Himmelskörper, die in der Genesis zu »Lampen« werden. Die Sündenfallerzählung, deren erotische Konnotation mitschwingt, der aber alle orgiastischen Elemente genommen sind – die Verführung des ersten Menschenpaares macht geradezu einen harmlos bürgerlichen Eindruck –, versetzt damit der antiken Kosmosfrömmigkeit den Todesstoß. Noch eine weitere geistesgeschichtliche Stoßrichtung ist zu beachten. Die Sündenfall-Erzählung zerstört die Verbindung von Eros und Logos, wie sie in der Philosophie Platos hergestellt wird. In der Anamnesis-Lehre hat Plato beide Elemente so verbunden, dass er die ewige ›Idee der Liebe‹ vom Akt des Liebens trennen kann. In der Sündenfallerzählung wird diese Trennung durch Einführung der Schlange wieder rückgängig gemacht. Das Wissen der Schlange, so die Lehre des 118 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Die Schlange oder: Die Rhetorik der Verfhrung

jüdischen Monotheismus, hat nichts mit der Wahrheit zu tun, sondern bleibt an die Schwankungen der Sinnlichkeit gebunden, die dem Menschen keinen dauerhaften Halt bieten. So triumphale Formen der Sieg des alttestamentarischen Glaubens auch angenommen hat, eine endgültige Zerstörung des Eros ist ihm jedoch nie gelungen. Das zeigt sich religionsgeschichtlich bereits an der Entwicklung zur Christologie. In Christus nimmt das Wort des unsichtbaren Gottes wieder fleischliche Gestalt an. Christus fungiert als Vermittler, der Gott vor den Menschen und diese vor Gott repräsentiert. Damit nimmt Christus, der die Klugheit der Schlange lobt, ihre Stelle ein – eine Umbesetzung, der sich der sterbende Gottessohn in seinem Verzweiflungsschrei schließlich bewusst wird. Agape soll über dem Eros stehen, doch sie kann die lebendige Gestalt der Welt nie ganz abstreifen. Vor diesem religionsgeschichtlichen Hintergrund rückt der Sündenfall auch anthropologisch in ein neues Licht. Durch die Verführung, die theologisch negativ als Ungehorsam gegen Gott dargestellt wird, sind Adam und Eva ein Paar geworden. Vor dem Sündenfall lebten sie zwar unschuldig wie die Tiere, aber wie diese in der Horde nur nebeneinander, nicht miteinander. Nach der Verführung kommt es erstmals zum Gespräch zwischen Adam und Eva, und noch bedeutsamer: Es kommt auch erstmals zum Gespräch zwischen Gott und den Menschen. Vorher hat Gott ihnen zwar Anweisungen gegeben, aber er hat nicht im Sinne eines Dialogs mit ihnen kommuniziert. Erst durch erotische Kommunikation untereinander und mit Gott werden Mann und Frau zu gesellschaftlichen Wesen. Ein Schritt in die neue Dimension der geschichtlichen Existenz, aus der es kein Zurück ins Paradies tierischen Lebens gibt.

Der Begriff der Verfhrung Verführung als Grundform intersubjektiver Kommunikation ist hier im außermoralischen Sinne zu verstehen. Als solche ist sie vom rechtlichen Begriff streng zu unterscheiden. Verführung Minderjähriger ist ein eindeutig definierter Tatbestand, der keine Relativierung zulässt. Anders dagegen sieht es bei sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen aus. Wo hier von Verführung als schuldhaftem Verhalten die Rede ist, schwingt die bürgerliche Sexualmoral des 19. Jahrhunderts sowie 119 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil I: Der Mensch unter Menschen

der theologische Begriff der Versuchung stets hintergründig mit. Sören Kierkegaards existenzphilosophische Interpretation der Verführerrolle von Mozarts Don Giovanni hat dafür das Vorbild geliefert. Dem Verführer in Gestalt des Don Juan wird Angst und Verzweiflung vor dem Nichts zugeschrieben, die er durch seine erotische Existenz zu überdecken versucht. Das führt zur Transformation der dem Menschen zur Fortpflanzung verliehenen Sexualität in Erotik. Sie gilt als oberflächliche Flucht in die sinnliche Lust, die den Verführer einsam sein lässt: »Das Erotische ist für ihn Spiel und hat keine Konsequenzen für die Seele. In dieser Einstellung kann weder Eifersucht noch metaphysischer Sinn überhaupt Problem sein« (130), so definiert noch 1919 Karl Jaspers in seiner Psychologie der Weltanschauungen den Begriff des Erotischen. Wie immer es mit der moralischen Bewertung auch stehen mag: Die Verführung ist eine Operation, zu der immer zwei gehören. Anders als Täuschung ist Verführung keine Handlung im eigentlichen Sinne, sondern ein Geschehen, bei dem sich auf beiden Seiten Aktivität und Passivität verschränken. Der Verführer ist immer auch ein Verführter und umgekehrt. Jeder wird durch den Anderen zu etwas gebracht, was er selbst rational nicht wollen kann, wozu er aber emotional neigt. Daher ist es nicht der Verführer, dem man nicht widerstehen kann, sondern die Verführung. Sie hat den Charakter einer Grenzüberschreitung, einer Transgression nicht nur moralischer Normen, sondern auch psychischer und vielleicht sogar physiologischer Schwellen. Zumindest kann man soviel sagen, dass in der Verführung beide das wollen, was zu wollen niemand sich eingesteht. Wenn man Verführung als Grundform der Kommunikation begreift, so folgt daraus, dass Kommunikation ein gefährlicher Vorgang ist. Sie lässt sich nicht eindeutig in Motive und Absichten zerlegen, sondern die eigentliche Botschaft bleibt oft ungesagt. Das ergibt sich auch daraus, dass sich die Verführung weder allein im Kopf noch allein im Bauch abspielt, sondern im Zwischenbereich.

Die Semiose der Verfhrung Ist die Verführung erst einmal von ihren theologischen und moralischen Konnotationen befreit und als Grundphänomen intersubjektiver Kommunikation anerkannt, dann lassen sich die formalen Struk120 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Die Schlange oder: Die Rhetorik der Verfhrung

turen des Verführungsgeschehens deutlicher herausarbeiten. Verführung beginnt mit dem Zeichengeben. In der Sündenfall-Erzählung fungieren die Früchte vom Baum der Erkenntnis als Zeichen. Sie wecken die Schaulust der Menschen. Eva ist nun diejenige, die eine Frucht als Zeichen verwendet. In der Bibel wird die Frucht selbst nicht genannt, erst in der späteren Auslegung wird sie mit dem Apfel als hochsymbolischer Frucht identifiziert. Während es in der Genesis von Eva nur lapidar heißt, dass sie auch Adam von den Früchten zu essen gab, haben die bildlichen Darstellungen daraus die Geste der Darreichung des Apfels gemacht. Sie weist allerdings eine semiotische Besonderheit auf, deren Bedeutung nicht hoch genug veranschlagt werden kann: Der dargereichte Apfel fungiert als Zeichenträger, ist aber zugleich der bezeichnete Gegenstand selbst, zu dessen Konsum Eva Adam verführt. Hier liegt der paradoxe Fall vor, dass der Gegenstand als Zeichen auf sich selbst verweist. Diese Besonderheit bestätigt den erotischen Hintergrund des Vorgangs. Der Apfel steht für die weibliche Brust, die hier noch nicht als Mutterbrust, sondern als Signal der Geschlechtsreife wahrgenommen wird. Damit der Zeichencharakter des Eros deutlich hervortreten kann, sind zunächst einige Bemerkungen zur Semiotik selbst erforderlich. Als philosophische Disziplin ist die Semiotik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Logik der Relationen hervorgegangen. Der amerikanische Logiker Charles Sanders Peirce war es, der dem zeichentheoretischen Denken bereits früh seine heute noch verbindliche Form gegeben hat. Das Kernstück der Peirceschen Semiotik ist die Definition des Zeichens als dreistellige oder triadische Relation von Repräsentamen (Zeichenträger), Objekt (bezeichneter Gegenstand) und Interpretant. Für die kommunikative Funktion des Zeichens ist der Interpretant das entscheidende Moment. Wenn man unter »Interpretant« als Bedeutungsgeber nicht die platonische Idee verstehen will, so scheint nur der reale Zeichenbenutzer infrage zu kommen. Gerade diese Deutung aber will Peirce mit dem Kunstwort »Interpretant« ausschließen. Der Interpretant darf nicht mit einem Interpreten gleichgesetzt werden. Er steht vielmehr für das Wissen, das man braucht, um ein Zeichen verstehen zu können. Das Interpretantenwissen hat einen emotionalen Aspekt, der beispielsweise beim Verstehen musikalischer Zeichen im Vordergrund steht, einen energetischen Aspekt, der sich nach der geistigen Anstrengung bemisst, die das Zeichenverstehen erfordert, und einen kogniti121 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil I: Der Mensch unter Menschen

ven Aspekt, der die logisch-begrifflichen Voraussetzungen des Zeichenprozesses betrifft. Damit wird klar, dass Peirce der inhaltlichen Breite der am Zeichenprozess beteiligten Funktionen Rechnung trägt. Dieses breite Spektrum der Kommunikation ist später allerdings auf eine handlungstheoretisch fundierte Semiotik reduziert worden, die auch die Rhetorik nur als Vorstufe der Pragmatik betrachtet. Der Eros bietet dagegen die Möglichkeit, dem semiotischen Feld wieder seine ursprüngliche Fülle zurückzugeben. Appliziert man die triadische Zeichenrelation auf die Verführungsszene, so nimmt der Apfel die Stelle des Repräsentamen ein. Sein (Sex-)Appeal bedarf keiner Worte, denn seine sichtbaren Eigenschaften – die sachte Rundung seiner Gestalt und der verlockende Glanz seine Farbe – sprechen für sich. In der Skala der von Peirce vorgenommen Spezifizierung des Repräsentamen bewegt sich der Apfel zwischen Icon und Index. Index ist der Apfel nicht am Baum, sondern erst in der Hand Evas, als Teil der hinweisenden Geste. Icon ist der Apfel durch seine Ähnlichkeit mit der weiblichen Brust, mit der Eva von Natur aus ausgestattet ist. Daher kann man auch nicht behaupten, Adam sei von Eva ›manipuliert‹ worden. Der Apfel war für beide kein ›geheimer‹, sondern ein offener Verführer, allerdings mit einem unverkennbaren ›sexuellen Oberton‹. In der Geste des Darreichens fallen Zeichenhandlung und Vollzug zusammen, so dass man hier von erotischer Kommunikation als Mimesis, als schöpferischer Nachahmung des sexuellen Aktes, sprechen kann.

Die Schlange als »Interpretant« Eine noch prominentere Rolle als der Apfel spielt im Sündenfall die Schlange, die hier als eigentliche Verführerin auftritt. Semiotisch von Bedeutung sind dabei zwei Punkte. Erstens die morphologische Ebene, auf der die Schlange als Penissymbol fungiert. Das ist keine Erfindung der Psychoanalyse, sondern wird durch die Mythologie vielfach bestätigt Das Interessante an dieser symbolischen Form liegt darin, dass auch Adam damit ein aktiver Anteil am Prozess der Verführung zufällt. Wenn man davon ausgeht, dass der Anblick des erigierten Penis auf das weibliche Geschlecht stimulierend wirkt, so wird nun auch Eva durch Adam verführt. Das macht die Verführung zu einem in sich ge-

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schlossenen Prozess der Semiose, die durch keine Eingriffe von außen gesteuert wird. Mit der äußeren symbolischen Form ist jedoch erst ein Bedeutungsmoment der Schlange genannt. Diese tritt nämlich zweitens mit einem Wissen auf, mit dem sie Gottes Autorität in Frage stellt. Die Frage nach der Herkunft und dem Status des Wissens bereitet Theologen bis heute Kopfzerbrechen. Anthropologisch liegen die Dinge ziemlich klar. Die Schlange behauptet zweierlei: Zum einen, dass die Menschen durch den Genuss der verbotenen Frucht wie Gott zwischen Gut und Böse unterscheiden werden, und zum anderen, dass sie entgegen Gottes Ankündigung nicht sterben werden. Die erste Behauptung erweist sich als richtig, die zweite als falsch. Aber das Versprechen der Unsterblichkeit ist nicht von vornherein als Lüge zu bewerten, da erst nachträglich durch die erstaunlich heftige Reaktion Gottes dem Menschenpaar verwehrt wird, auch noch vom Baum des Lebens zu essen. Der durchwachsene Wahrheitswert dieser Aussagen deutet darauf hin, dass das Wissen der Schlange nicht von außen kommt, sondern von Adam und Eva selbst stammt. Es ist das emotionale Wissen, das den Eros zum Medial macht. Die Gewissheit der erotischen Liebe ist wie das Wissen der Schlange eine Vision. Es ist der Traum vom guten Leben, den jedes Liebespaar träumt, der Traum von der Unsterblichkeit ihrer Liebe. Dieser Traum mag sich oft genug als Illusion erweisen, so wie sich die Schlange mit der Verheißung der Unsterblichkeit getäuscht hat. Aber das macht sie ebenso wenig wie den Eros zur Betrügerin. Was sie Eva verspricht, ist für sie subjektive Gewissheit, sie glaubt wie alle Liebenden an ihre Erwartungen. Ihre Herkunft sowie der besondere Status ihres Wissens machen die Schlange formal zum Interpretanten, der – wie bereits erwähnt – nach Peirce nicht den Interpreten, sondern dessen Wissen selbst bezeichnet. Die Schlange als Interpretant: Diese semiotische Lesart des Sündenfalls macht deutlich, dass sich die Verführung unabhängig von ihrer theologischen Bedeutung als Prototyp intersubjektiver Kommunikation interpretieren lässt. Damit kehrt der Eros, der durch den jüdisch-christlichen Monotheismus vertrieben werden sollte, durch die semiotische Hintertür wieder ein. Denn durch die Verführungskunst der Schlange wird das explizit gemacht, was alle Liebenden zusammenhält: der Glaube an die Unendlichkeit des kommunikativen Prozesses, der mit der leidenschaftlichen Begierde beginnt und sich in gelassener Zuneigung fortsetzt. 123 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Vom Diskurs zur Rhetorik Wenn erotische Kommunikation auf Verführung beruht und diese ihrerseits als Semantik verborgener Wünsche verstanden wird, dann rückt eine Sprach- und Denkform in den Vordergrund, die in der neuzeitlichen Philosophie ein Schattendasein führt. Gemeint ist die Rhetorik, deren Denunziation Adorno als Zeichen der Barbarei der Reflexion bezeichnet: »Dialektik, dem Wortsinn nach Sprache als Organon des Denkens, wäre der Versuch, das rhetorische Moment kritisch zu erretten: Sache und Ausdruck bis zur Indifferenz einander zu nähern. Sie eignet, was geschichtlich als Makel des Denkens erschien, seinen durch nichts ganz zu zerbrechenden Zusammenhang mit der Sprache, der Kraft des Gedankens zu. Das inspirierte die Phänomenologie, als sie, wie immer naiv, der Wahrheit in der Analyse der Worte sich versichern wollte« (Negative Dialektik, 66). Im Licht dieser Feststellung überrascht es nicht, dass die Theorie kommunikativen Handelns von Habermas der Rhetorik keinen Platz einräumt. Habermas hätte seine Theorie kommunikativen Handelns durchaus als Teil einer Rhetorik formulieren können. Nicht zufällig gibt es Übereinstimmungen zwischen der von Chaim Perelman ausgearbeiteten »Neuen Rhetorik« als Argumentationstheorie und der Diskurstheorie von Habermas (vgl. Kopperschmidt, Neue Rhetorik als Argumentationstheorie, 110 f.). Habermas war aber an Perelmans Ansatz nicht interessiert, so wie er auch Gadamers Versuch, die Rhetorik im Rahmen der Hermeneutik zu rehabilitieren, zurückgewiesen hat. Der Grund ist klar: Rechtfertigung wird von Habermas im Sinne der Logik der Wahrheit auf Begründung reduziert. Auch Luhmann hält die Verabschiedung der Rhetorik in der Romantik für definitiv und gliedert die Liebe als Sonderbereich aus der öffentlichen Kommunikation aus (Liebe als Passion, 157). Die Codierungen der modernen Liebe sind nach Luhmann durchweg antirhetorisch. Die ausgearbeitete Liebesrhetorik im klassischen Sinne (»Galanterie«) habe direkten und pragmatischen Ausdrucksformen Platz gemacht. In der Rhetorik als Instrument der Verführung liegt eine Freiheit, über die der Begründungsdiskurs nicht verfügt. Freiheit ist hier freilich nicht im Sinne von metaphysischer Willensfreiheit gemeint, sondern als Ausdruckfreiheit, die Menschen brauchen, um sich gegenseitig verstehen zu können. Es ist die Offenheit der Liebesspiele, die Mann und Frau aneinander binden. Adam und Eva sind auch hier als Prototypen 124 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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anzusehen: Sie werden durch die Rhetorik der Schlange aus der Hülle ihres anonymen Herdenlebens befreit. Die Sündenfall-Erzählung bestätigt damit, wie eng Kommunikation und Eros miteinander verbunden sind, und dass in dieser Verbindung der Rhetorik eine leitende Funktion zufällt. Wenn Rhetorik überhaupt zu rehabilitieren ist, dann nur im Zeichen des Eros. Die erotische Kommunikation wendet sich nicht primär an den Verstand, sondern an das Gefühl. In der Weckung von Emotionen besteht die Verführung, die nichts mit Täuschung zu tun hat, sondern geheimen Wünschen Raum verschafft. Das lässt sich an der notorischen Schwierigkeit erläutern, die es Liebenden macht, die Person ihrer Begierde anzusprechen. Der Anfang der erotischen Kommunikation ist immer am schwersten, weil der Gegenstand der Kommunikation in den Kommunizierenden selbst liegt. Das erzeugt eine Befangenheit, die dem sachlichen Gespräch fremd ist. Ist aber einmal der Anfang gemacht und gegenseitiges Einverständnis hergestellt, kommen beide bald ›zur Sache‹. Ob sie gelingt, ist nicht nur von den vorgefassten Intentionen abhängig. Erotische Kommunikation entwickelt eine Eigendynamik, die sich oft genug der Steuerung entzieht, aber häufig auch Gefühle klärt. Es ist ein Prozess der Überzeugungsbildung, des Übergangs vom Zustand der Unsicherheit in den der Gewissheit. Das gilt physiologisch und psychologisch, aber auch kognitiv, wenn man daran denkt, wie Peirce Überzeugungsfestlegung als Übergang vom Zweifel zur Gewissheit beschreibt.

Rhetorik und Stil Mit der Rehabilitierung der Rhetorik wird ein Thema interessant, das in modernen Diskurstheorien keine Beachtung findet: der Stil. Stil ist seit jeher Gegenstand literatur- und kunstwissenschaftlicher Betrachtungen gewesen. Es gibt aber auch anthropologische Annäherungen an den Stil. Buffons berühmtes Diktum »Der Stil ist der Mensch« bringt die anthropologische Relevanz auf den Punkt. Stil bezieht sich dabei sowohl auf die Sprache als auch auf das Verhalten. Beides, Lebensstile und Sprachstile bedingen einander. Stil ist ein kollektives Phänomen. Sprachstile bilden sich im öffentlichen Sprachgebrauch heraus. Aber im Stil kann der Mensch seine individuellen Ansprüche geltend machen. Insofern ist der Stil 125 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil I: Der Mensch unter Menschen

das Medium, in dem jenseits des Austausches von Argumenten Kommunikation möglich wird. Das tut der Rationalität von Diskursen keinen Abbruch. Stil tritt nicht an die Stelle von Wahrheit, aber er bildet den Rahmen, in dem konkurrierende Geltungsansprüche personifiziert zur Kenntnis genommen werden. Insofern liegt Stil noch vor dem Konsens. Wo dieser erreicht ist, wird Kommunikation überflüssig. Eine Stiltheorie gehört demnach als Komplement ebenso zur kommunikativen Wahrheitstheorie, wie auch der Eros zum Logos gehört. Der Ort, an dem Stile sich ausbilden, ist das Paar als Urzelle sozialer Bindungen. Die Paarliebe ist keine ›Sonderpraxis‹ neben anderen kommunikativen Praktiken, sondern eine Protopraxis, die allen Diskursen zugrunde liegt. Natürlich beruht das gesellschaftliche Leben auf der Trennung des Privaten vom Öffentlichen, auf der Ablösung des Individuums von naturhaften Bindungen. Aber diese Ablösung geschieht nie vollständig. Der Stil der Paarbeziehungen prägt die Lebensformen einer Gesellschaft genau so nachhaltig wie wirtschaftliche und politische Institutionen. Insofern hängen die öffentlichen Diskurse und die Stile der Liebe wie kommunizierende Röhren zusammen. Wie Luhmann gezeigt hat, haben sich die Stile der Liebe im Laufe des europäischen Zivilisationsprozesses erheblich gewandelt. Der Eros der Moderne wird nicht mehr wie in der Klassik durch einen von außen auferlegten Formwillen bestimmt. In der Romantik hat sich die Erlebnisorientierung durchgesetzt, aber seither hat sich auch das Erlebnisprinzip grundlegend gewandelt. Es geht nicht mehr um unkontrollierte Hingabe an Gefühle, sondern das Erlebnisprinzip fordert, die Innerlichkeit von außen zu rekonstruieren. So kann im Eros das Erlebnis zum Code werden, der es den Liebenden ermöglicht, in der Distanzierung Unmittelbarkeit zu erfahren. Dieser Gestaltwandel des Liebesdiskurses bedeutet das Ende des tragischen Stils. Man spielt mit Möglichkeiten, wenn man sie hat, und man hat sie, wenn man mit ihnen spielt. Damit ändert sich auch der Verlauf der Liebesgeschichten. Ihre geschlossene Form mit Anfang, Mitte und Ende wird durch die offene Form der Serie abgelöst, durch die Reihung von Episoden, was dem Ende des Tragischen gleichkommt. Das heißt zwar keineswegs, dass es der Liebe an Ernst fehlt, aber der Ernst schafft sich offene Formen der Darstellung, die Anschluss an andere Bereiche des Lebens erleichtern. Auch die modernen Codierungen der Liebe müssen überzeugen, d. h., sie dürfen nicht in zu starkem Maße vom Zweifel ausgehöhlt werden. Aber im Unterschied zur romantischen Liebe, die ganz aus 126 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Die Schlange oder: Die Rhetorik der Verfhrung

Gefühlen besteht, entwickeln die coolen Codes einen Formwillen, der dem klassischen Diskurs in nichts nachsteht. Der neue Stil führt die Liebe zur Wirklichkeit zurück, zur Materie. Das bringt eine gewisse Direktheit, vielleicht sogar Vulgarität mit sich, die von zartfühlenden Liebenden nicht immer leicht zu verkraften ist. Die Rechtfertigung dieser neuen Artikulationsformen liegt in ihrem Wirklichkeitssinn, der die Liebenden mit den harten Fakten der Sexualität versöhnt und so die Möglichkeit bietet, in der Wirklichkeit den Traum von der wahren Liebe zu bewahren. Der moderne Eros codiert eine allgemeine Erwartungshaltung, in der sich ›Lust jetzt!‹ und distanziertes Abwarten mischen, coolness mit großen Gefühlen einhergeht, die Angst, zu spät zu kommen, von diffuser Hoffnung auf Erlösung gemildert wird. Die Kraft der Rhetorik liegt in der Repräsentation des nicht-repräsentierbaren Zustands, der Verführer und Verführten umschließt. Genau hierin tritt die Doppelseitigkeit des Eros zutage, der anthropologisches Radikal und kommunikatives Medial zugleich ist; eine Ambivalenz, die erotische Liebe zum Fundament aller Formen der Verständigung macht. Sie allein erfasst den ganzen Menschen, während funktionale Bezüge von den Personen ablösbar sind. Liebe lässt sich nicht delegieren, sie kennt keine Gründe und bedarf keiner Begründung. Sie fällt beim Menschen als dem verführbaren Tier überall auf fruchtbaren Boden. Es kommt darauf an, wie das zur Isolierung neigende Subjekt der Moderne diesen Boden bestellt. Erotische Rechtfertigung ist auch eine Stilfrage. Sie artikuliert und hebt ins Bewusstsein, was den Paaren heute schwer fällt: Eine eigene Sprache der Liebe zu finden, die das Begehren in einer kreativen Weise zum Ausdruck bringt.

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Teil II: Der Mensch bei sich selbst

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Kapitel 7: Die Geburt des Individuums aus dem Paar

Vergebens versucht man, sich ein von allem sozialen Leben losgelöstes Individuum vorzustellen. (Henri Bergson, Die zwei Quellen der Moral und der Religion)

»Wenn nun also ein Mensch schon dazu vorschreitet, die eingebildete Einheit des Ichs zur Zweiheit auszudehnen, so ist er schon beinahe ein Genie, jedenfalls aber eine seltene und interessante Ausnahme. In Wirklichkeit ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternenhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten«. Diese Passage aus Hermann Hesses Steppenwolf (1927), der seit Generationen junge Leser in den Bann schlägt, wirft ein poetisches Licht auf ein ernstes philosophisches Problem: Personale Identität ist für den flexiblen Menschen der Moderne keine selbstverständliche Gegebenheit, sondern eine Aufgabe, die ein Einzelner nur schwer ohne Hilfe eines anderen lösen kann. Philosophen der Subjektivität haben erst in neuerer Zeit die Rolle des Anderen beim Aufbau des Selbst in den Vordergrund gerückt. Für den Religionsphilosophen Emmanuel Lévinas etwa ist es das Antlitz des leidenden Anderen, von dem die Forderung ergeht, jene Verantwortung für ihn zu übernehmen, ohne die es keine Gerechtigkeit gibt. Und die ›Hermeneutik des Selbst‹ des französischen Phänomenologen Paul Ricoeur begreift den Anderen als Adressat eines Versprechens, durch das sich der Versprechende seiner »Selbstheit« bewusst wird. Hinter diesen und ähnlichen Konzeptionen, deren Humanismus beeindruckt, verbergen sich allerdings Voraussetzungen, die klärungsbedürftig sind. Personale Identität stellt einen komplexen Zustand dar, der vom Menschen keineswegs immer problemlos erfahren wird. Daher hat das Selbstsein die Philosophen seit jeher nachhaltig beunruhigt und die 131 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil II: Der Mensch bei sich selbst

anthropologische Frage: ›Wer bin ich?‹ hervorgebracht. Wer so fragt, stellt keine Wissensfrage, auf die sich mit Angabe von Lebensdaten, körperlichen oder charakterlichen Eigenschaften antworten lässt. Das ›Wer‹, nach dem hier gefragt wird, bezeichnet einen rätselhaften Tatbestand, den wir meinen, wenn wir ›ich‹ von uns sagen. Wir tun das zwar andauernd, aber ohne uns im Klaren darüber zu sein, was Selbstsein wirklich bedeutet. Wir sind uns zu vertraut, um zu wissen, worüber wir reden. Die hier liegende Problematik haben bekanntlich schon die alten Griechen bemerkt. Deshalb fordert das delphische Orakel die Menschen zur Selbsterkenntnis auf. Darunter ist eine Erkenntnis zu verstehen, die alle dem Menschen direkt oder indirekt zugänglichen Informationen über sich selbst an dem misst, was er selbst sein will und sein soll. Die Frage nach der personalen Identität verknüpft also Faktisches und Normatives in einer Weise, die den Menschen als das Wesen, dessen Sein von seinem Bewusstsein abhängt, von allen Tieren unterscheidet. Manchmal wünschen wir uns auch, ein Anderer zu sein. Das ist natürlich ein frommer Wunsch, dessen Erfüllung streng genommen darauf hinauslaufen würde, dass man selbst zu existieren aufhört und ein Anderer unsere Stelle einnimmt. In Wahrheit aber möchten wir nur andere Eigenschaften besitzen oder unter anderen Umständen leben. Dass wir uns damit nicht zufrieden geben und trotz der logischen Unmöglichkeit ein Anderer sein wollen, scheint mehr als eine sprachliche Ungenauigkeit zu sein. Dahinter steckt das philosophische Problem der Einheit des Selbstbewusstseins. Die klassische Subjektphilosophie unterscheidet zwischen einem unveränderlichen substanziellen Kern-Ich und seinen wechselnden Vorstellungen bzw. Akzidenzien. Aber dieses Modell wird der Selbsterfahrung offensichtlich nicht gerecht. Wir können unsere wechselnden Eigenschaften nicht von unserem Selbst abtrennen. Daher der schizophrene, aber nicht ausrottbare Wunsch, gelegentlich oder immer ein Anderer sein zu wollen.

Horizonte der Identittsbildung Die Identitätsproblematik liegt in der Natur des Menschen, die anders als die Natur der Tiere nicht ›festgestellt‹ ist und die vom Einzelnen oft genug als Beunruhigung erlebt wird. Damit es zur ›Feststellung‹ personaler Identität kommt, müssen Sein, Wollen und Sollen, die um das 132 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Selbstverständnis des Menschen konkurrieren, zum Ausgleich gebracht werden. Die drei Kategorien bilden ein Spannungsfeld, in dem der Ausgleich nicht immer gelingt. Hierin liegt der altbekannte Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, aber auch zwischen Neigungen, die sich gegenseitig ausschließen. Diese durch nichts aufhebbare Differenzerfahrung macht die Antwort auf die Frage nach dem Selbst erheblich schwerer als eine Antwort auf die vergleichsweise einfache moralische Frage nach dem, was man tun soll. Diese Erfahrung machen vor allem die so genannten ›problematischen Naturen‹, deren reflektiertes Selbstverhältnis sie in einen Zustand permanenter Unsicherheit über sich selbst versetzt. Sie müssen ständig damit rechnen, von sich selbst überrascht zu werden, und es bedarf einiger Anstrengungen, um nicht zum pathologischen Fall einer gespaltenen Persönlichkeit zu werden. Die Identitätsproblematik ist für das Individuum immer latent vorhanden. Es lassen sich Bedingungen angeben, unter denen die Frage akut wird. Zunächst springt die Situationsabhängigkeit personaler Identität ins Auge. Im normalen Alltag verläuft alles in vorprogrammierten Bahnen, äußere und innere Stabilität bedingen sich gegenseitig. Jeder spielt seine Rollen gemäß den Erwartungen, die die Gesellschaft an ihn stellt. Aber es gibt natürlich immer wieder Grenzsituationen durch unvorhergesehene Ereignisse, insbesondere durch berufliche Misserfolge oder familiäre Trennungen. Die Alltagspsychologie macht daraus das bekannte und gefürchtete »Unverhofft kommt oft«. Jedenfalls öfter, als einem lieb ist. Es sind die Momente, in denen man das Gefühl hat, dass sich der Teppich unter einem bewegt und man Mühe hat, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Personale Identität ist an eine zumindest relative Stabilität des engeren Lebenskreises gebunden, und der Wegfall dieser Stabilität erfordert vom Einzelnen ungewöhnliche Anstrengungen, um ein neues Lebensmuster zu finden. Einen weiteren, über das persönliche Leben hinausreichenden Horizont personaler Identität bildet die Gesellschaft, deren ökonomische und politische Strukturen das Leben des Einzelnen betreffen. Ebenso wichtig oder sogar noch wichtiger sind die ideologischen Rahmenbedingungen, die mit den genannten Realfaktoren immer einhergehen. Hier ist der Unterschied zwischen geschlossenen und offenen Gesellschaften entscheidend. In geschlossenen und traditionalistischen Gesellschaften bleibt der Einzelne in kollektive Verhaltens- und Denkmuster eingebunden, so dass nur für die Außenseiter echte Identitäts133 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil II: Der Mensch bei sich selbst

probleme entstehen. Aber das bedeutet, dass Individualität vollständig durch Rollenidentität aufgesogen wird – ein Zustand, der die Menschen zu bloßen Funktionären anonymer Strukturen macht. Anders verhält es sich in offenen Gesellschaften, in denen das emanzipierte Individuum in seiner Lebensgestaltung weitgehend auf sich selbst gestellt ist. ›Das Ende der Vorbilder‹ (Alexander Mitscherlich) äußert sich zunächst in der Auflösung der Familie. Vater und Mutter fungieren für das heranwachsende Kind nicht mehr als selbstverständlich anerkannte Autoritäten. Das hat zur ›vaterlosen Gesellschaft‹ geführt, die nun durch Mutterlosigkeit ergänzt wird. Denn sofern überhaupt noch Kinder geboren werden, entwickeln sich Mütter zunehmend zu Komplizinnen der Kinder, insbesondere der Töchter, mit denen sie ›Beziehungsprobleme‹ besprechen. Der Wandel vollzieht sich schleichend und ist schichtenspezifisch, aber die Entwicklungstendenz in Richtung auf einen egalitären Individualismus, der für Kinder wie für Erwachsene neue Identitätsangebote schafft, lässt sich nicht übersehen.

Identitt und Individualitt Diese grobe Skizze der Identitätsparameter lässt erkennen, dass ein tragfähiger Begriff personaler Identität nicht ohne Klärung der Individualität erfolgen kann. Der hier einschlägige Begriff von Individualität beinhaltet mehr als Verschiedenheit, die objektiv feststellbar ist. Vom objektiven Standpunkt ist das Verhältnis von Identität und Individualität relativ leicht zu klären. Sachen sowie Personen lassen sich durch Feststellung von Eigenschaften zweifelsfrei identifizieren. Dabei handelt es sich um die so genannte »numerische Identität«, die Quine in den bekannten Satz gekleidet hat: »Keine Entität ohne Identität«. Statt ›Entität‹ kann man auch ›Individualität‹ sagen, wobei unter Individualität die Verschiedenheit von Eigenschaften gemeint ist. Selbst wenn sich zwei Dinge in allen Eigenschaften gleichen, kann man sie durch die raum-zeitliche Lokalisierung auseinander halten. Denn kein Ding kann zur selben Zeit an zwei Orten sein, wie umgekehrt an einem Ort nicht zwei Dinge gleichzeitig sein können. Für eine absolute raum-zeitliche Identifikation bedürfte es allerdings eines allwissenden Beobachters, der alle Orte zu allen Zeiten überblickt. Von außen gesehen, setzt demnach Identität Individualität im Sinne von 134 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Die Geburt des Individuums aus dem Paar

Unterscheidbarkeit voraus. Das hat Leibniz in seinem berühmten Prinzip der »Identität des Nichtunterscheidbaren« auf den Punkt gebracht. Wechselt man vom objektiven Standpunkt auf den Erlebnisstandpunkt, fallen Identität und Individualität nicht zusammen. Von pathologischen Fällen einmal abgesehen, verwechselt sich niemand mit einem anderen. Dass wir ›ich‹ von uns sagen können, setzt aber nicht notwendig voraus, dass wir Kenntnis unserer Eigenschaften und unseres Lebenslaufes haben. Unter ›Eigenschaften‹ sind nicht nur äußere Merkmale gemeint, sondern auch innere Merkmale, also das, was man ›Charaktereigenschaften‹ nennt. Hier ist der Erlebnisstandpunkt keineswegs dem Blick des Beobachters überlegen. Die Unkenntnis der eigenen Person ändert aber nichts daran, dass ich mich als mit mir identisch erfahre. Es handelt sich um Selbstgleichheit, die man als erlebendes Subjekt immer schon hat. Sie bildet den unhintergehbaren Bezugspunkt personaler Identität. Personale Identität darf jedoch nicht als ausdehnungsloser Punkt, als rein logisches Prinzip aufgefasst werden. Phänomenologisch zeigt die Selbsterfahrung einen interessanten Sachverhalt: Selbst wenn wir über uns wenig wissen und im Grenzfall sogar nichts, fühlen wir uns doch als Person in einem bestimmten Zustand. Dazu gehört räumliche Lokalisierung als das Hier, wo wir uns befinden, wie auch die zeitliche Lokalisierung als das Jetzt, in dem wir leben. Wenn man die räumliche Lageempfindung auch weitgehend reduzieren kann, nämlich durch Schließen der Augen auf das rein Taktile, so bleibt doch die zeitliche Lageempfindung unreduzierbar. Die Psychologie gibt daher dem inneren Sinn den Primat vor dem äußeren. Das innere Zeitbewusstsein enthält keine Daten, wohl aber Qualitäten, Zeit und Intensität. Zuständlichkeit, die noch nicht zu speziellen Affekten wie Freude oder Trauer ausartikuliert sein muss. Man kann von ›Lebensgefühl‹ sprechen, das wie das Raum- und Zeitgefühl an unseren Körper gebunden ist. In den verschiebbaren Grenzen unseres Körpers erfahren wir uns als von anderen verschieden, auch wenn wir keine Vergleiche angestellt haben. Es bleibt also nicht bei der numerischen Identität; in der Selbsterfahrung werden wir unserer Individualität als Einzigartigkeit unseres Selbstgefühls inne. Numerische Identität markiert eine Leerstelle, die durch qualitative Identität erfüllt werden will. Intentionales Bewusstsein – das ›Bewusstsein von etwas‹ – ist immer zugleich auch Bewusstsein von jemandem, nämlich von sich selbst. Dieses Selbst ist aber kein Gegenstand der Erkenntnis, sondern gleichsam deren Rück135 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil II: Der Mensch bei sich selbst

seite. Damit sind der Objektivismus sowie der Subjektivismus der Selbsterfahrung überwunden. Ins Ontologische übersetzt heißt das: Personale Identität ist eine Relation, die den Subjekt-Objekt-Dualismus sprengt.

Vom logischen Ich zum Willen Es ist das Verdienst Schopenhauers, für das Verständnis personaler Identität eine neue Basis geschaffen zu haben. Er hält die raumzeitliche Individuation nach dem Prinzip des Erkennens für eine Täuschung. Personale Identität resultiert nicht aus dem logischen Ich als dem höchsten Punkt der Erkenntnis, sondern verweist auf das elementare Streben nach Selbsterhaltung, das alles Leben durchdringt. Der Prototyp der Selbsterhaltung ist für Schopenhauer nicht der Hunger, sondern die Liebe in ihrer animalischen Form der Sexualität. Was dem Bewusstsein Zusammenhang und Einheit gibt, muss etwas im Menschen sein, das seinen Vorstellungen vorhergeht: »Dieses sage ich, ist der Wille: Er allein ist unwandelbar und schlechthin identisch und hat zu seinen Zwecken das Bewusstsein hervorgebracht. Daher ist auch er es, welcher ihm Einheit gibt und alle Denkformen und Gedanken desselben zusammenhält, gleichsam als durchgehender Grundbass sie begleitend. Ohne ihn hätte der Intellekt nicht mehr Einheit des Bewusstseins als ein Spiegel, in welchem sich sukzessiv bald dieses bald jenes darstellt, oder doch höchstens nur soviel wie ein Konvexspiegel, dessen Strahlen in einem imaginären Punkt hinter seiner Oberfläche zusammen laufen« (WWV II, 118). Schopenhauers Willensbegriff hat nichts mit Freiheit zu tun, die einer Einsicht entspricht, sondern bezeichnet einen reinen biologisch und psychologisch beschreibbaren Drang, der sich auf alle Kreaturen erstreckt. Im Getriebensein durch den »blinden Willen« fühlt sich der Mensch mit allen möglichen Lebewesen eins. Das ist der empirische Gehalt der Schopenhauerschen Metaphysik, die den Willen zum ›Wesen‹ der Natur oder zum ›Ding an sich‹ hypostasiert. Lässt man die metaphysische Spekulation beiseite, bleibt die bedeutsame Einsicht, dass der anonyme Willen zum Leben die Instanz ist, die für die personale Identität verantwortlich ist: »Von ihm ist im Grunde die Rede, so oft ›ich‹ in einem Urteil vorkommt. Er also ist der wahre, letzte Einheitspunkt des Bewusstseins und das Band aller Funktionen und 136 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Akte desselben: er gehört aber nicht selbst zum Intellekt, sondern ist nur dessen Wurzel, Ursprung und Beherrscher« (118). Für Schopenhauer ist der Wille zum Leben »keine Sache der Wahl; sondern dieses Lebenwollen ist etwas, was sich von selbst versteht. […] Wir selbst sind der Wille zum Leben: daher müssen wir leben, gut oder schlecht« (310). Den Intellekt bezeichnet Schopenhauer als Diener des Willens, wobei er die Dialektik des Herr-Knecht-Verhältnisses nicht verkennt. Der dranghafte Wille ist auf Erkenntnis angewiesen, da er, sich selbst überlassen, sich zerstören würde. Intellekt und Wille bilden nicht wie Sinnlichkeit und Denken bei Kant einen Dualismus, sondern der Intellekt ist nur eine Erscheinungsform des Willens, seine Sichtbarkeit. Zwar kann der Wille zum Leben nach Schopenhauer durch keine Gewalt gebrochen, er kann aber durch eine höhere Form der Erkenntnis aufgehoben werden: »Daher ist der einzige Weg des Heils dieser, dass der Wille ungehindert erscheine« (WWV I, 544). Das ungehinderte Erscheinen des Willens erfolgt in der reinen oder wie es heißt »intuitiven Erkenntnis« (514 ff.), die nicht mehr im Dienste des Willens steht. In der intuitiven Erkenntnis erkennt der Wille sich selbst. Was der Mensch zu sehen bekommt, ist das geistige Analogon der Gattung, die Idee, die Schopenhauer für ebenso real hält wie den Willen. Dann überwiegt das »erkennende Bewusstsein« das »begehrende Bewusstsein«, und damit hat auch Schopenhauer den biologischen Bann des Gattungsgeschehens gebrochen. Aus dieser erstaunlichen Wendung lassen sich für die Theorie der Subjektivität weit reichende Folgerungen ziehen: Obwohl der Mensch sich als identisches Subjekt erfährt, verweist seine Identität auf eine Tiefenschicht des Lebens, die alle Kreaturen verbindet. Schopenhauer führt personale Identität nicht auf die objektive Verschiedenheit zurück, sondern auf die Teilhabe an dem, was allen Kreaturen gemeinsam ist: der Wille zum Leben. Anders gesagt: Der Wille zum Leben erscheint in jedem Menschen ganz. Identität durch Intensität bleibt solipsistisch. Der sich als Maximum an Realität erlebende Mensch betrachtet die anderen als Phantome. Schopenhauer sieht allein in der Verneinung des Willens einen Weg, aus dem Gefängnis der Lebensenergie herauszukommen. Hält man sich an die Spezifikation des Willens zum Leben in der Sexualität, ändert sich das Bild. Da sexuelle Begierde in der Paarliebe auf einen Partner konzentriert ist, wird dieser zum Individuationsprinzip = Rea137 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil II: Der Mensch bei sich selbst

litätsprinzip. Die Präsenz des Anderen äußert sich nicht in rationaler Erkenntnis, sondern in den Freuden und Leiden, die Liebende miteinander durchleben. Nach Schopenhauer ist Mitleid der Zustand, in dem diese Verbundenheit dem Menschen zum Bewusstsein kommt. Damit aber überschreitet Schopenhauer den menschlichen Standpunkt. Der sich in der Sexualität konzentrierende Willen zum Leben richtet sich auf den anderen Menschen, speziell auf das andere Geschlecht. Schopenhauers Willensmetaphysik gewinnt daher für die Identitätsproblematik an Plausibilität, wenn man sie auf die erotische Liebe als exklusive Beziehung zwischen Mann und Frau eingeschränkt. Mit dem Schema des Eros wird die Individuation ein Stockwerk tiefer verlegt. Damit öffnet Schopenhauer den Weg für eine Ableitung der Individualität aus der Paarliebe – einen Weg, den im Anschluss an Schopenhauer auch der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, eingeschlagen hat.

Personale Identitt und psychischer Apparat: Sigmund Freud Sigmund Freud hat seine Abhängigkeit von Schopenhauers Willensmetaphysik nie verleugnet. Sein Begriff der Libido ist die Übersetzung des Schopenhauerschen »Willens zum Leben«. Nach diesem Muster rekonstruiert Freud die Subjektivität als »psychischen Apparat«, in dem verschiedene Instanzen miteinander um die Vorherrschaft kämpfen: »Es«, »Ich« und »Über-Ich«. Diese Persönlichkeitsinstanzen überträgt Freud auf das Verhältnis von Lustprinzip und Realitätsprinzip. Das Lustprinzip entspricht dem »Es«, von dem es heißt: »Eine Absicht, sich am Leben zu erhalten und sich durch die Angst vor Gefahren zu schützen, kann dem Es nicht zugeschrieben werden« (GW XVII, 70). Daher bedarf es des »Ich« als Kontrollinstanz, die dem entspricht, was Schopenhauer ›Intellekt‹ oder ›Erkenntnis‹ nennt. Mit seiner apparativen Konzeption der Psyche durchschlägt Freud den Knoten der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins. Das Ich ist neben dem Es eine Instanz der Triebhaftigkeit des Menschen, deren funktionale Beschreibung die transzendentalphilosophische Einheitsproblematik nicht kennt. Wenn man sich von Kant und Fichte, aber auch von Schopenhauer Freuds Beschreibungen der Psyche nähert, in denen problemlos von »Ich« und »Ichtrieben« die Rede ist, so wirkt das wie eine Erleichterung. Man gewinnt zunächst den Eindruck, dass die Anstrengungen der Philosophen, mit der Frage nach der Einheit des 138 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Selbstbewusstseins fertig zu werden, auf selbstgemachte logische und begriffliche Fallstricke zurückgehen. Unproblematisch erscheint der Alltagspsychologie des gesunden Menschenverstands Freuds Rede von einem sich selbst behauptenden Ich, das, verstärkt durch ein »ÜberIch« genanntes Gewissen als Vermittler zwischen dem Ich und der Außenwelt fungiert. So problemlos, wie es zunächst den Anschein hat, ist Freuds Konzeption der Psyche als Ausgleich zwischen unbewussten Wünschen und bewussten Normen allerdings nicht. Zwar macht es Freud dem Menschen zur moralischen Aufgabe, vom Unbewussten zum Bewusstsein, vom Es zum Ich vorzustoßen. Aber der von Freud behauptete Primat der Sexualtriebe lässt es nicht zu, dass das Ich jemals den Status eines autonomen Subjekts erreicht. Für Freud bleibt das Individuum im Grunde eine kleinperiodische Auswucherung der Keimbahn, so dass dem Ich die Funktion zukommt, die Keimbahn durch den psychischen Apparat hindurchzuwinken. Die Entwicklungsgeschichte des »Ich« spiegelt demnach die der Libido wieder, die phylogenetischer Natur ist. Schopenhauer, der die Individuation für eine Täuschung hält, wird schließlich von der Ahnung befallen, dass Individualität doch zum Kern des Menschen gehört. Auch für Freud reicht Ich-Individualität ins »dunkle Es«, den Kern der menschlichen Natur, in dem sich die Primärvorgänge des Triebausgleichs vollziehen. Aber auch er bleibt noch am biologischen Begriff des Individuums hängen, das er als temporäre Verkörperung der Keimbahn betrachtet. Das spannungsreiche Verhältnis von Identität und Individualität, in dem sich die Einheit des Selbstbewusstseins aufbaut, reduziert Freud auf ein Zusammenspiel von Triebregungen, von dessen Gelingen das Überleben des Individuums abhängt. Hier kommt es zu gefährlichen Ich-Spaltungen, die der inneren Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit des Schopenhauerschen Willens zum Leben entsprechen. In dieser Hinsicht ist Freud nicht über Schopenhauer hinausgekommen. Ja man kann sagen, dass er mit der Einführung des »Todestriebs« sich Schopenhauers psychologischem Nirwana auf biologischem Wege wieder gefährlich nähert.

Infantile Sexualitt und Selbstsublimierung Ein weiterer Grund für das eingeschränkte Verständnis personaler Identität liegt darin, dass Freud die infantile Sexualität zum Muster 139 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil II: Der Mensch bei sich selbst

der Ich-Entwicklung macht. Hier sei noch einmal an die Grundzüge von Freuds Sexualtheorie erinnert: Sexualität ist eine frühkindliche Erscheinung, die mehrere Phasen durchläuft. Den Anfang macht die orale Phase, wobei die Lust des Saugens an der Mutterbrust unabhängig von der Ernährung erstrebt wird »und darum sexuell genannt werden darf und soll« (GW XVII, 76). Sie endet in der Pubertät mit der letzten, »phallischen« Phase. »Phallisch« heißt diese Phase auch bei Mädchen, die Freud als kastrierte Knaben betrachtet, weil sie sich mit der Klitoris als Penisersatz begnügen müssen. Aus diesen Phasen leitet Freud pathologische Charaktere ab: Der Manisch-Depressive ist in der oralen Phase stehen geblieben, der Zwangsneurotiker in der analen Phase und der Angstneurotiker in der phallischen Phase. Der Kastrationsangst von Männern entspricht die Hysterie der Frauen. Der Fall der Hysterie, die man boshaft als von der Psychoanalyse eigens erfundene Krankheit bezeichnet hat, macht deutlich, auf welch schwankendem Boden Freuds Theorie infantiler Sexualität steht. Wie immer es sich mit den empirischen Befunden im Einzelnen auch verhalten mag, unbestreitbar ist, dass Freud für die Entwicklung des Ich nach dem Muster der infantilen Sexualität einem Determinismus der Charakterbildung sehr nahe kommt. Natürlich berücksichtigt Freud für die Ich-Entwicklung mit den Begriffen »Ich-Ideal« und »Über-Ich« auch soziale Faktoren, diese beschränken sich aber auf Modifikationen des durch die Infantile Sexualität vorgegebenen Ablaufs. Freud beschränkt die Entwicklung des Ich auf den Übergang vom Lustzum Realitätsprinzip. Die ganz dem Lustprinzip ergebene frühkindliche Sexualität erstreckt sich auf den ganzen Körper und beschäftigt alle Sinne. Unter dem Druck des Realitätsprinzips wird die integrale auf die genitale Sexualität beschränkt und sublimiert. Die Sexualität der Erwachsenen betrachtet Freud demnach als Reduktionsform, die auf gesellschaftliche Triebunterdrückung zurückgeht. An diesen Gedanken hat Herbert Marcuse in Triebstruktur und Gesellschaft angeknüpft. Gegenüber den ›neo-freudianischen Revisionisten‹ Wilhelm Reich und Erich Fromm hebt Marcuse die Radikalität Freuds hervor, die darin bestehen soll, Individualität und Persönlichkeit als »sekundäre Erscheinungen« entlarvt und damit die »grundlegende Negativität in den Fundamenten, auf denen sie ruhen« (48), festgestellt zu haben. Die negative Anthropologie der bürgerlichen Gesellschaft will Marcuse durch eine positive ersetzen, ohne die Triebtheorie Freuds aufzugeben. Er teilt die Auffassung, dass das Individuum aus einer 140 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Einschränkung der frühkindlichen Sexualität hervorgeht, ist anders als Freud aber der Meinung, dass das Lustprinzip auch ohne repressive Sublimierung in der Lage ist, ein gutes soziales Leben zu gestalten. Das führt ihn zur Idee einer Kultur jenseits des Realitätsprinzips, die zur Resexualisierung des ganzen Körpers führen und damit dauerhafte soziale Bindungen schaffen soll. Die Resexualisierung stellt sich Marcuse aber nicht wie Wilhelm Reich als primitive Freisetzung der sexuellen Begierden vor, sondern als »Selbstsublimierung der Sexualität« im Medium der Phantasie, deren anthropologische Bedeutung Marcuse im Anschluss an Friedrich Schillers Ästhetik herausstellt. Das Konzept einer durch die Phantasie geleiteten »Selbstsublimierung« läuft Gefahr, in einen solipsistischen Ästhetizismus zu geraten, der wirkliche Intersubjektivität ausschließt. Dieser Gefahr entgeht man, wenn man sich von Freuds Orientierung an der infantilen Sexualität löst und sich stattdessen an die sexuelle Partnerorientierung der Erwachsenen hält. Das hat nichts mit einem Rückfall in ein überholtes idealistisches Persönlichkeitsideal zu tun, sondern ebnet den Weg zu einer interpersonalen Theorie der Subjektivität, die ohne die Berücksichtigung der Geschlechtsidentität nicht auskommt. Sich als Individuum erfahren, setzt voraus, sich als Mann oder Frau zu fühlen. Das gilt auch für homosexuelle Paare, in denen sich jeder Partner als Mann oder Frau fühlt. Anders als das Konstrukt eines rein logischen Subjekts braucht das Selbst ein Referenzsubjekt, ohne das sich niemand als Mensch unter Menschen wahrnimmt.

Selbst und Selbstobjekt: Heinz Kohut Auf einem anderen Weg als Marcuse hat der aus Wien stammende amerikanische Psychoanalytiker Heinz Kohut das Problem der personalen Identität ins Zentrum des psychoanalytischen Interesses gerückt. Kohut wagt sich an die Frage heran, wie im Rahmen des psychoanalytischen Theoriegebäudes die Einheit des Selbst abgeleitet werden kann. Kohut plädiert für eine Ergänzung der Trieblehre Freuds durch eine »Psychologie des Selbst«. Er nimmt damit die philosophische Problematik der Einheit des Selbstbewusstseins ernst, die im »psychischen Apparat« von Freud als Problem gar nicht auftaucht. Mit seiner Psychologie des Selbst bemüht sich Kohut um nichts Geringeres als um eine Synthese der psychoanalytischen Empirie, die Freud selbst als 141 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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»Psychologie auf eigene Faust« bezeichnet, mit der transzendentalphilosophischen Subjekttheorie. Der Schritt über Freud hinaus liegt in einer Neubewertung der kindlichen Subjektivität. Das Kind sucht seine Befriedigung nicht nur in der Nahrungsbeschaffung, sondern ist von einem über es selbst hinausweisenden Ausdrucksdrang erfüllt. Dahinter steht ein energetisches Modell des Organismus, das Kohut klar benennt. Er geht von einem »virtuellen Selbst« aus, dessen Primärvorgänge »in Spannungsbegriffen beschrieben werden müssen – Spannungsanstieg, Spannungsabnahme – und nicht als verbalisierte Phantasien« (Die Heilung des Selbst, 96). Die Bestimmung des virtuellen Selbst, das Kohut auch »KernSelbst« nennt, durch den Ausdrucksdrang macht die Präsenz eines Anderen erforderlich, der auf den Ausdruck reagiert. Kohut sieht diese Konstellation in der Mutter-Kind-Beziehung verwirklicht: »Gewiss, wir müssen – im Einklang mit den Befunden der Neurophysiologie – annehmen, dass das neugeborene Kind keinerlei reflektives Bewusstsein seiner selbst haben kann, dass es nicht fähig ist, sich selbst, und sei es noch so schemenhaft, als eine im Raum kohärente und in der Zeit dauernde Einheit zu erfahren, die Ausgangspunkt von Antrieben und Empfänger von Eindrücken ist. Und doch ist es von Anfang an mittels gegenseitiger Empathie mit seiner Umgebung verschmolzen, die es so erlebt, als hätte es bereits ein Selbst – einer Umgebung, die nicht nur die spätere Selbst-Bewusstheit des Kindes vorwegnimmt, sondern auch, allein schon durch Form und Inhalt ihre Erwartungen, es in spezifische Beziehungen zu lenken beginnt. In dem Augenblick, in dem eine Mutter ihr Baby zum ersten Mal sieht und auch mit ihm in Kontakt ist, […] findet der eigentliche Beginn eines Prozesses statt, der das Selbst einer Person bildet – er setzt sich während der ganzen Kindheit und in einem geringeren Ausmaß auch im späteren Leben fort« (95). Die Mutter wird hier als Resonanzboden für das Ausdruckshandeln des Kindes begriffen, als »Selbstobjekt des Kindes«, wie Kohut sich an anderer Stelle ausdrückt. Damit wird die Bildung des Selbst, die in der transzendentalphilosophischen Reflexionstheorie in einem Zirkelschluss endet, in die Kommunikation mit der Mutter verlagert, welche die Wunschprojektion des Kindes repräsentiert. Die Pointe des kohutschen Modells liegt darin, dass das vorreflexive Selbst fiktiven Charakter annimmt. Das Kind erlebt die Repräsentation durch die Mutter so, ›als ob‹ es bereits ein selbständiges Selbst wäre. 142 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Die Geburt des Individuums aus dem Paar

Noch ein weiterer Faktor ist für die Ausbildung eines stabilen Kern-Selbst entscheidend. Das Repräsentationsverhältnis zwischen Mutter und Kind ist zunächst vorsprachlich. Auf der Seite des Kindes wird ein »Größen-Selbst« zur Schau gestellt, auf der Seite der Mutter ist es das »idealisierte Imago«, dessen Aspekte sich im Erleben des Kindes gegenseitig durchdringen und zur Herausbildung des individuellen Selbst der erwachsenen Person führen. Zur Erläuterung seines Repräsentations-Modells benutzt Kohut häufig die Spiegel-Metapher, die sich von der Reflexionstheorie aber darin unterscheidet, dass die Repräsentation kein interner Vorgang bleibt, sondern auf ein »Selbstobjekt« angewiesen ist, das im Falle der Mutter als lebendiger Spiegel fungiert.

Identitt in der Paarliebe Heinz Kohut hat die Psychoanalyse als »Psychologie des Selbst« zur philosophischen Theorie des Selbstbewusstseins zurückgeführt. Seine Theorie des »Selbstobjekts« hat gegenüber der Reflexionstheorie aber den Vorteil, dass Subjektivität aus der Intersubjektivität abgeleitet wird. Dieser Ansatz bewahrt vor idealistischen Hypostasierungen der Innerlichkeit. Wie wir gesehen haben, verengt Kohut seinen Blick aber durch seine Orientierung an der Mutter-Kind-Beziehung. Natürlich geht autogenetisch die Eltern-Kind-Beziehung, speziell die MutterKind-Beziehung dem Paar voran. Aber man sollte sich durch den zeitlichen Vorgang nicht täuschen lassen. Nur in dem Maße kann eine Mutter ihr Kind zu einem gesellschaftsfähigen Individuum machen, wie sie selbst in der Paarbeziehung aus der naturwüchsigen Form des Zusammenlebens herausgewachsen ist. Insofern kommt dem Paar logisch der Primat zu. Nur in der Paarliebe sehen sich zwei erwachsene Menschen von Angesicht zu Angesicht. Für das Kind hingegen bleiben die Eltern immer verborgen, sie gehören einer ihm fremden Welt an. Dabei ist es nicht unwichtig, in welcher Form Mann und Frau sich begegnet sind. Denn wie die Mutter dem Kind die Nahrung gibt, hängt auch davon ab, welche Erfahrungen sie mit dem Erzeuger ihres Kindes gemacht hat. Das überträgt sich auf das Verhältnis der Mutter zum Menschenkind, das anders als die Jungen der Tiere im Kontakt mit der Mutter das Menschsein von ihr übernimmt. Hier liegt eine Differenz, die das menschliche vom tierischen Leben eindeutig unterscheidet. 143 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil II: Der Mensch bei sich selbst

Zur Erhaltung seiner Identität ist der Mensch auf Abgrenzung gegenüber anderen angewiesen. Wo sich jemand ganz einem anderen, sei es einer Person, sei es einer Idee, hingibt, verliert er seine Individualität und damit auch seine Identität. Aber die Notwendigkeit der Abgrenzung hebt keineswegs die intime Beziehung zum anderen auf. Der Mensch braucht die erotische Paarbindung zur Bestätigung seiner personalen Identität. Das personale Identität konstituierende Verhältnis zu Anderen ist eine paradoxe Relation. Jeder will den Anderen in sich aufnehmen, ihn gleichsam ›auffressen‹, aber keiner will sich dabei von anderen ›auffressen‹ lassen. So entsteht ein permanenter Kampf, den Karl Jaspers »liebenden Kampf« genannt hat, eine durchaus angemessene Bezeichnung für das dialektische Verhältnis von Nähe und Distanz. Kohuts Psychologie des Selbst integriert Freuds Trieblehre in ein Selbstkonzept, das Intersubjektivität der Subjektivität vorordnet. Aber Kohut bleibt doch insofern Freudianer, als er sich für die Intersubjektivität immer noch am Mutter-Kind-Verhältnis orientiert. Das ist ontogenetisch natürlich richtig, aber es handelt sich um eine Anfangsphase, in der eine asymmetrische Relation zwischen Mutter und hilflosem Kind herrscht. Erst die Sexualität der Erwachsenen stellt an die Beteiligten die Anforderungen, die für die Herausbildung autonomer Persönlichkeiten unverzichtbar sind. Das betrifft nicht nur die Kontinuität, sondern auch die Qualität der Beziehung. Wenn das Kind erwachsen ist, hört die Mutter auf, als primäres Selbstobjekt zu fungieren. Der Partner hingegen bleibt als dauerndes Referenzsubjekt erhalten. Auch ist die Mutterliebe nicht vergleichbar mit der Liebe zwischen Mann und Frau, die immer auch ein Moment der Aggression und sogar des Hasses enthält. Diese Momente legen es nahe, die Mutterliebe durch die Paarliebe zu ersetzen und den Aufbau des Selbst nach dem Schema des Eros zu rekonstruieren. In der erotischen Paarbeziehung, so die These, bildet sich personale Identität aus der Dialektik von Verhüllung und Enthüllung, die im Feigenblatt ihren symbolischen Ausdruck gefunden hat. Das soll im folgenden Kapitel am Beispiel der biblischen Sündenfallerzählung erläutert werden.

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Kapitel 8: Narziss und Feigenblatt

Die Liebe, die zuerst mich forschen ließ, Sie lieh mir Rat, ich lieh ihr meine Augen. (Shakespeare, Romeo und Julia)

Begreift man Subjektivität als offenes System nach dem Muster intersubjektiver Repräsentation, so gewinnt die sexuelle Partnerorientierung für das »Ich« eine herausragende Bedeutung. Natürlich ist den Transzendentalphilosophen nicht entgangen, dass der Mensch in seinem Selbstverständnis immer von anderen abhängig ist, doch eben diese Abhängigkeit sollte als nur äußerlich und akzidentiell erwiesen werden. Die Identitätsphilosophie glaubt, personale Identität auf eine »Ursprungseinheit« zurückführen zu können, die sich theoretisch wie moralisch als Autonomie des hochstilisierten Ich-Subjekts zu erkennen gibt. Sicherlich trifft Rousseaus Klage, der zivilisierte Mensch lebe außer sich und sei ständig auf die Zustimmung von anderen angewiesen, durchaus ins Schwarze. Aber sie berechtigt nicht zur Flucht in ein Selbstgefühl, das den Menschen nicht nur von den Anderen, sondern auch von sich selbst isoliert. Welche ruinösen Folgen das hat, kann man an Schopenhauers Pessimismus sehen, aber auch an Nietzsches Solipsismus der ästhetischen Existenz. Der philosophischen Isolierung des Subjekts ist der amerikanische Pragmatismus entgegengetreten. Er betont die Bindung des Subjekts an die Gemeinschaft und hat damit die Sozialpsychologie auf neue Wege gebracht. Sie sind von George Herbert Mead, John Dewey und anderen beschritten worden. Diese Denker begreifen die Ich-Entwicklung als Resultat sozialer Interaktionen, die mit den Begriffen »generalisierter Anderer«, »Rollenübernahme« und »Transaktionen« rekonstruiert werden. In Deutschland gehört Georg Simmel zu den verwandten Geistern. Er sieht das Ich als »Kreuzungspunkt« sozialer Reihen nach dem Muster funktionaler Wechselwirkungen. Auch für 145 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil II: Der Mensch bei sich selbst

Wilhelm Dilthey, bei dem übrigens Mead in Berlin einige Zeit studiert hat, ist die psychische Struktur eine »innere erlebbare Beziehung«, die äußere soziale Bindungen abbildet. Der sozialphilosophische Ansatz reicht aber nicht aus, um zu einem tragfähigen Konzept personaler Identität zu gelangen. Die anderen Menschen als soziale Gruppe, in deren Netz das Individuum verflochten ist, machen es in einem Maße abhängig und heteronom, das eine in sich gefestigte und zur Eigenverantwortung bereite Persönlichkeit ausschließt. Anders verhält es sich in der erotischen Liebe, die in den Kern des Selbst hineinreicht und doch seine Identität respektiert. Das Liebespaar scheint die kleinste soziale Einheit zu sein, die von innen gesehen durch die Unersetzbarkeit der Liebenden zusammengehalten wird. Gerade weil in der Liebeslust jeder sich im Anderen am intensivsten erlebt, hält das Paar zusammen und weil es zusammenhält, erlebt jeder seine Individualität als einzigartig. Aus dieser privilegierten Beziehung folgt für die Ich-Entwicklung: Zum Individuum wird der Mensch nur in Relation zum anderen Geschlecht. Die Relation bleibt freilich eine Möglichkeit, die in Wirklichkeit nicht erfüllt zu werden braucht, die aber als regulative Idee das Selbstverständnis von Mann und Frau begleitet.

Sein und Haben Das Identitätsproblem hat die an Freud orientierte Sozialforschung des 20. Jahrhunderts intensiv beschäftigt. Bei der Bestimmung der Geschlechtsidentität hat Erich Fromm in der älteren Frankfurter Schule eine mehr expressive als interaktionistische Richtung eingeschlagen. Damit kommt er dem hier angestrebten Paradigma der Identitätsbildung besonders nahe. Allerdings ist Expressivität kein ungefährliches Konzept, da sie zum Narzissmus tendiert. Das belegt Fromms Haben oder Sein (1976), wo »Sein« als der höhere seelische Wert angesehen wird, während »Haben« für den zu überwindenden Zustand des Besitzindividualismus steht. Betrachtet man die Paarbeziehung, so zeigt sich, dass Haben und Sein zusammengehören. Sicherlich »haben« wir den Partner nicht wie eine Sache, aber was wir ›an ihm‹ haben, ist durch keine Interaktion zu ersetzen: Solidarität, Treue, Verlässlichkeit. Auch das Kind, das wir »haben«, ist nicht unser Eigentum, sondern eine Person, die zu uns gehört und für die wir sorgen müssen. 146 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Narziss und Feigenblatt

Zum Sein des Menschen gehört das Haben im Sinne von Zugehörigkeit. Das gilt in dieser Allgemeinheit auch für größere Gruppen, aber die Paarbeziehung umfasst die ganze Person. Nicht Haben oder Sein, sondern Sein und Haben lautet daher die Formel für die Ich-Entwicklung als Resultat erotischer Bindungen. »Haben« nicht im ökonomischen, sondern im erotischen Sinn ist die Form der Bindung, die dem Individuum nicht äußerlich bleibt und die sein Verhältnis zu sich selbst prägt. Ernst Blochs »Ich bin, aber ich habe mich nicht« trifft nur für den Solipsisten zu. In der Paarliebe hat sich jeder, so wie er den Partner hat: nicht als Knecht, sondern als Partner, von dem wir emotional gehalten werden. Das Paar ist der Ort, an dem Haben und Sein zusammenfallen. Denn anders als die Gesellschaft lässt das Paar auf Dauer keine unangemessene Rollenidentität der Partner zu. Die Intimität demaskiert, niemand kann sich über Gebühr aufblasen, ohne sich vor dem Anderen lächerlich oder jämmerlich zu machen. Aber die Liebe gibt auch Kredit, mehr als die Gesellschaft gewähren kann, in der jeder um einen Platz an der Sonne kämpft. Natürlich ist das Paar auch Schauplatz von Konflikten. Trennung kann aus zwei Gründen erfolgen: Zum einen, wenn die Distanz zwischen den Partnern zu groß wird. Dann kühlen sich die Verhältnisse ab, Gleichgültigkeit gegenüber dem Selbstwertgefühl des Anderen macht sich breit und Besitzindividualismus verdrängt die Solidarität. Zum anderen, wenn die Nähe zu groß wird: Dann fühlt sich jeder bedrängt und die Partner kapseln sich in ihre Ich-Identität ein. So kommt es zu der modernen ›Das ist dein Problem-‹ bzw. ›Das ist mein Problem-Attitüde‹, die zeigt, dass zwischen den Liebenden etwas nicht in Ordnung ist. Ein Ausweg kann allerdings nicht darin liegen, dass man sich für eine der beiden Seiten entscheidet. Denn Nähe und Distanz gehören im Schema des Eros untrennbar zusammen. Was das moderne Individuum braucht, ist Ausgleich bei gleichzeitiger Differenzierung. Wie der Ausgleich in der Paarbindung hergestellt werden kann, bleibt eine offene Frage. Der gängige Aufruf zum gegenseitigen Verständnis bewirkt nichts, wenn die emotionale Basis zerstört ist, die die Maßstäbe dafür liefert, wie sich das Individuum selbst versteht. Erst wenn das geklärt ist, kann die Sensibilität für eine neue Praxis der Selbstsorge entstehen, die im Schema des Eros ihr Vorbild hat.

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Teil II: Der Mensch bei sich selbst

Mann und Frau Die Bedeutung der Paarbeziehung für die Ausbildung des selbstoffenen Systems personaler Identität lässt sich an den basisanthropologischen Faktoren festmachen, die zur erotischen Liebe gehören. Das sind Nacktheit, Schamgefühl und Verhüllung – biologisch bedingte Faktoren, die durch keine künstliche Codierung der Liebe ganz ausgeschaltet werden können. Wie Bernhard Williams in Scham, Schuld und Notwendigkeit (2000) herausgearbeitet hat, reagiert das Schuldgefühl auf Handlungen, die andere verletzen. Dagegen gilt: »Die Scham verweist mich auf das, was ich bin« (109). Die Scham betrifft den ganzen Menschen als Person, die sich laut Williams nicht auf ein charakterloses, rein durch die Vernunft geleitetes Handlungssubjekt reduzieren lässt. Als anthropologisches Medial hat die Scham Vorrang vor der moralischen Kategorie der Schuld. Am Leitfaden der homerischen Helden zeigt Williams, wie das Verhalten als »Artikulation der Scham« begriffen werden kann und wie die Scham als vermittelnde Instanz zwischen Menschen das Individuum zum Schauplatz von widerstreitenden Gefühlen und Dispositionen macht. Die Struktur der Scham prägt das Innere der Menschen und mit der Scham kommt der Andere, vor dem man sich schämt, ins Spiel. Williams erkennt im Gegensatz zu den allein auf die ›gute Handlung‹ fixierten modernen Moralphilosophien die notwendigen sozialen Identitäten an, die sich aus der biologischen Konstitution des Menschen ergeben. Er treibt seine Analysen der Scham bis zu dem Punkt, an dem das eigentliche Problem liegt: Wie kann man die Präsenz des Anderen in das personale System des Individuums hereinnehmen, ohne sich von den Launen des Anderen abhängig zu machen? Williams arbeitet mit dem Begriff eines »verinnerlichten Anderen«, der mehr sein soll als eine bloße Projektion des Selbst, zugleich aber weniger als eine anonyme Instanz, die uns gleichgültig ist: »Der verinnerlichte Andere ist tatsächlich eine abstrakte, verallgemeinerte und idealisierte Größe, aber ist potentiell ein Jemand und nicht ein Niemand, und zwar ein Jemand, der anders ist als ich« (99). Die soziale Funktion, die diesem Jemand zugeschrieben wird, legt eine Identifikation nahe, die Williams nicht vornimmt: Mann und Frau, die in der erotischen Liebe ein Paar bilden. Mann und Frau als Menschen verschiedenen Geschlechts sowie als soziale Partner sind die Träger einer Kultur der Scham, die trotz aller Lockerung der Sexualmoral auch in der Moderne anzutreffen ist. 148 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Narziss und Feigenblatt

Feigenblatt und die Geburt der Differenz Wie die Scham zur erotischen Liebe gehört und welche Rolle sie bei der Geburt des Individuums aus dem Paar spielt, soll im Folgenden erneut am Sündenfall konkretisiert werden. Zunächst sei noch einmal an Kants anthropologische Interpretation der biblischen Erzählung erinnert. Er betrachtet den »Instinkt zum Geschlecht«, der für die Arterhaltung sorgt, erst an zweiter Stelle nach dem Hunger. Es ist aber offensichtlich, dass er die Abweichung vom tierischen Sexualverhalten als den eigentlichen Schritt zur Menschwerdung ansieht. Den Übergang konstruiert er vermögenspsychologisch: Die Einbildungskraft steigert den geschlechtlichen Reiz, zugleich aber wird durch Verhüllung die Lust gemäßigt und auf Dauer gestellt. Das Feigenblatt steht für die Transformation der Triebe in Sittlichkeit. Damit gibt Kant eine naturalistische Erklärung der praktischen Vernunft. Er nennt das Feigenblatt ein »Kunststück« der Vernunft, man könnte mit Hegel auch von einer »List der Vernunft« sprechen. Kants Rekonstruktion lässt sich psychologisch verfeinern und weiter ausbauen. Das Feigenblatt geht auf die sexuelle Scham zurück, die bei Tieren nicht zu beobachten ist. Nur der Mensch empfindet seine Nacktheit als Bedrohung und schützt sein Geschlecht vor den Blicken des Anderen. Damit aber wird die Aufmerksamkeit auf das gelenkt, was verborgen bleiben soll. Allgemein gesprochen: In der erotischen Liebe wollen Mann und Frau nicht als Lustobjekt konsumiert werden, sie wollen in ihrer Geschlechtsidentität aber auch nicht unbeachtet bleiben. Verhüllung ist immer indirekte Enthüllung. Auf diesem psychologischen Muster beruht bekanntlich auch die Wirkung der Mode. Das bedeutet für die Individuation, dass es sich um einen Prozess handelt, in dem Sichtbarkeit eine zentrale Rolle spielt. Die Ambivalenz der Verhüllung wirft Licht auf den Mechanismus der Scham. Es handelt sich um ein soziales Gefühl, das nicht aus der Nacktheit als solcher resultiert, sondern aus der Art, wie Mann und Frau damit umgehen. Wenn der Eros ihre Körper unabhängig von der Fortpflanzungsfunktion gegenseitig zum Gegenstand der Lust macht, wird die Nacktheit als Herausforderung empfunden. Lust erzeugt Befangenheit, die zur Verhüllung des Geschlechts führt. Dieser Vorgang macht die biologische Differenz allererst zu einer sozialen. Das Feigenblatt ist Ausdruck des Bewusstseins der Differenz, die mit dem Sündenfall in das personale System des Individuums einwandert. Sobald 149 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil II: Der Mensch bei sich selbst

das Paar sich von der Horde absondert, werden aus Männchen und Weibchen Mann und Frau, die den Bezug zum anderen Geschlecht als innere Spannung in sich tragen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Schema des Eros Gefühlsambivalenzen enthält, an denen die Reifung der Person scheitern kann. Die bekannten Pathologien des Eros, wie Sadismus, Fetischismus usw. führen zu Dissoziationen der Persönlichkeit, die bis zur Schizophrenie reichen.

Zweigeschlechtlichkeit theologisch: Sndenfall Den Theologen, die sich um eine dogmatische Auslegung der alttestamentarischen Paradiesgeschichte bemühen, ist die Bedeutung des geschlechtlichen Motivs natürlich nicht verborgen geblieben. Zwar richtet sich ihr Interesse primär auf den Ungehorsam der Menschen, aber Gottes Walten lässt sich ohne Berücksichtigung der Anthropologie schwer verständlich machen. Die patriarchalische Herrschaftsausübung, als welche die Schöpfung im Alten Testament dargestellt wird, findet ihre Ergänzung in einem geradezu vitalistischen Weltbild, in dem Zeugung und Fruchtbarkeit die Werte sind, die das Leben bestimmen. Insofern fungiert das geschlechtliche Verhältnis zwischen Adam und Eva (hebräisch: »Mensch und Leben«) wenn auch nicht als Bild, so doch als Spiegel der göttlichen Welterschaffung. Die Spiegelfunktion der adamitischen Geschlechtlichkeit für den Begriff der göttlichen Schöpferkraft reicht noch weiter. Das an sich unbegründete Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen und die Art, wie Gott auf das Übertreten des Verbotes reagiert, geben der unfrommen Vermutung Raum, er könnte in der menschlichen Geschlechtlichkeit etwas erfahren, was ihm als reinem Geist (actus purus) versagt bleibt, nämlich die Tätigkeit der Zeugung (actio pura). Daher sein Zornesausbruch, mit dem er den Menschen vom Baum des Lebens abhält: »Und Gott der Herr sprach: siehe Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch vom Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!«. Im Alten Testament ist nach dem Sündenfall vom Baum der Erkenntnis nicht mehr die Rede. Gottes bis zum Lebensneid gesteigerte Sorge gilt allein dem Baum des Lebens, von dem er die Menschen mit der Macht des lodernden Flammenschwerts fernzuhalten sucht. Aber 150 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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obwohl den Menschen der Weg zurück ins Paradies versperrt bleibt, bestätigt ihr Leben als Sterbliche die Nähe zum Lebensbaum. Adam beginnt sofort mit der Zeugung von Nachkommen, was im biblischen Text als geschlechtliche Form der Erkenntnis bezeichnet wird (»Adam erkannte Eva«). Auch im Bund, den Gott mit Noah schließt, steht die Zweigeschlechtlichkeit als Garant des Weiterlebens im Mittelpunkt. Bis zu Josef und seinen Söhnen hat der geschlechtliche Lebensvorgang in der Genesis den Primat. Durch die spiritualistischen Strömungen der Kirche wird diese Dimension von den Exegeten zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Erst im Medium der modernen Erzählung kommt die alttestamentarische Fleischeslust wieder voll zur Entfaltung: »Wir kosten vom Tode und seiner Erkenntnis, wenn wir als erzählende Abenteurer in die Vergangenheit fahren: daher unsere Lust und unser bleiches Bangen. Aber lebhafter ist die Lust, und wir verleugnen nicht, dass sie vom Fleische ist, denn ihr Gegenstand und erste und letzte unseres Redens und Fragens und all unsere Angelegenheit: das Menschenwesen, das wir in der Unterwelt und im Tode aufsuchen, gleich wie Ischtar den Tammuz dort suchte und Eset den Usiri, um es zu erkennen dort, wo das Vergangene ist« – so Thomas Mann in seinem »Vorspiel: Höllenfahrt« zu Josef und seine Brüder (1943). Das ist der vollendete Übergang der Frage Gottes zur Frage des Menschen, der Theodizee zur Anthropodizee, die beide nur Kommentare zum Urtext des Lebens sind.

Sndenfall anthropologisch: »to fall in love« Für die Philosophische Anthropologie ist aus diesem komplexen Problemkreis insbesondere die Frage nach der Motivation von Interesse, aus der das erste Menschenpaar das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, übertreten hat. Der Schöpfungsglaube des Alten Testaments begreift Gott nicht nach dem Muster eines Handwerkers als Hersteller, sondern als Herrscher, dessen Wille automatisch Wirklichkeit wird. Das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, ist demnach eine Demonstration des göttlichen Willens, dessen Absolutheit durch den Ungehorsam der Menschen nur noch unterstrichen wird. Dass das erste Menschenpaar sich gegen den Willen auflehnt und das Verbot übertritt, legt eine psychologische Erklärung nahe, nämlich die, dass nichts so sehr reizt wie das, was man nicht tun darf. So aufschlussreich dieser 151 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil II: Der Mensch bei sich selbst

Tatbestand für die Disposition der menschlichen Psyche auch sein mag, er trifft noch nicht den anthropologisch relevanten Kern. Dieser liegt in dem Bereich, in dem die mentale Seite des Sündenfalls, nämlich die Erlangung einer bestimmten Art von Erkenntnis, die Erkenntnis von Gut und Böse, seine Inkarnation findet: im Geschlecht. Es ist nicht zu übersehen, dass in der biblischen Sündenfall-Geschichte die Erweiterung des menschlichen Erkenntnishorizonts mit der Sexualität verbunden ist. In der Ausgestaltung des Zusammenhangs bleibt die biblische Erzählung merkwürdig unbestimmt. Zumal Adam und Eva von Gott dazu bestimmt sind, sich zu vermehren. Also muss es schon vor dem Sündenfall geschlechtliche Vereinigung gegeben haben. Wo liegt dann die Illegitimität der Geschlechtsbeziehung, die durch das Essen vom Baum der Erkenntnis symbolisiert wird? Zwar wird in der biblischen Erzählung die Sexualität nicht direkt angesprochen, aber die Art, wie es zum Genuss der verbotenen Frucht kommt und welche Folgen er hat, lässt keinen Zweifel an der Erotik als dem Referenzsubjekt des Sündenfalls. Denn Adam greift nicht direkt nach der verbotenen Frucht, sondern sie wird ihm von Eva gereicht, die ihrerseits durch die Einflüsterungen der Schlange zur lustvollen Betrachtung der Früchte des Baumes angeregt wird. Während die Geschlechtssymbolik der Furcht, die für die weibliche Brust steht, offenkundig ist, bleibt die Rolle der Schlange in der manifesten Situation eher rätselhaft. Man fragt sich, woher die Schlange, die als niederes Tier gekennzeichnet wird, das Wissen hat, das die Menschen noch nicht besitzen, und aus welchem Grunde die Schlange ihr Herrschaftswissen, das sie mit Gott teilt, listig gegen den Menschen verwendet. Dass die offenen Fragen die Evidenz der Erzählung nicht beeinträchtigen, ist offenbar auf die latente geschlechtliche Symbolik zurückzuführen, die den Menschen zur Zeit des Alten Testaments auch ohne Psychoanalyse unmittelbar einleuchtend war. Der geschlechtliche Sinn der verbotenen Frucht sowie der Schlange wird dann durch die Folgen bestätigt, nämlich durch das Bewusstsein der Nacktheit und die schamhafte Verdeckung der Geschlechtsteile. Die Erkenntnis an sich würde sich nicht zwingend im Bewusstsein der Nacktheit und im Gefühl der Scham äußern. Dies geschieht dann, wenn man auch hier den Vollzug eines geschlechtlichen Aktes zwischen Mann und Frau hinzudenkt, der beide in einen psychischen Zustand versetzt, den sie vorher nicht kannten. Mit der Nacktheit ist nämlich nicht nur die Scham, sondern auch die Furcht vor dem Herrn verbunden. Dahinter 152 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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verbirgt sich das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Schutzlosigkeit, das beim Vollzug des geschlechtlichen Aktes vor den Augen eines Beobachters entsteht. Der ganze Aufbau der Erzählung deutet demnach darauf hin, dass die Geschlechtlichkeit das latente, aber dominierende Motiv ist, von dem her der Ablauf des Geschehens allererst verständlich wird.

Begriffe der Scham Damit sind die systematischen und historischen Voraussetzungen geklärt, unter denen die Scham die soziale Struktur der Individualität bestimmt. Scham ist ein konkretes Apriori, durch das sich die Menschen aller Zeiten und Rassen von den Tieren unterscheiden, die vor den Augen ihrer Artgenossen kopulieren. Die anthropologische Bedeutung der Scham reicht von der biologischen bis hinauf zur moralischen Ebene. Aber sie gehört auch in die semiotische Interpretation des Sündenfalls, und zwar wegen der Bedeckung der Geschlechtsteile durch das Feigenblatt. Das Feigenblatt ist das Zeichen für die permanente Verführbarkeit des Menschen, wobei die Semiose allerdings dialektische Formen annimmt. Das Feigenblatt verdeckt, weckt zugleich aber das Interesse. Durch die Verdeckung verbindet sich die Scham mit Neugier, und so wird das Geschlechtsorgan zum Bedeutungsträger. Im Vergleich zum Apfel verschiebt sich das Repräsentamen vom Icon zum Symbol, das keine Ähnlichkeit mehr mit dem unmittelbaren Objekt der Begierde aufweist. In Form des Feigenblatts fungiert die Scham demnach als semiotischer Begriff, wobei die Semiose eine stark ästhetische Komponente erhält. Damit vollzieht sich der Übergang von der Sexualität zur Erotik als der spezifisch menschlichen Form des Umgangs mit der sexuellen Lust. In der Scham verteidigt der Mensch die Achtung seiner Person (vgl. S. Neckel, Status und Scham). Der hinter der Scham stehende Geltungsanspruch äußert sich aus der Distanzierung von anderen durch die Verhüllung der Geschlechtsteile. Allerdings ist die Distanzierung nicht die einzige Funktion der Verhüllung, die im gleichen Maße den Wunsch des Begehrtwerdens signalisiert. Diese Gegenläufigkeit prägt die erotische Beziehung, in der Mann und Frau unter der Bedingung der Gegenseitigkeit bereit sind, ihre Intimität preiszugeben. Über den Umweg der Distanzierung und dem damit verbundenen Anspruch 153 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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auf Achtung gewinnt die sexuelle Partnerorientierung eine neue Qualität. Aus einem naturwüchsigen Zusammenspiel von Begierden wird eine intersubjektive Bindung, in der sich jeder als autonomes Subjekt versteht. Das ist das Original der Intersubjektivität, von der sich alle anderen sozialen Beziehungen ableiten lassen. Die ursprüngliche erotische Beziehung wird in verschiedenen sozialen Beziehungen neutralisiert, so z. B. in der Arbeitsgemeinschaft, die sich im Hinblick auf die Realisierung eines gemeinsamen Zieles handlungstheoretisch beschreiben lässt. Aber die handlungstheoretische Beschreibung reicht offensichtlich nicht aus, um das Engagement und die Hingabe an die Sache zu erklären, von der die Mitarbeiter unter Umständen erfasst und geleitet werden. Hier ist eine Hintergrundmotivation im Spiel, die sich nur aus der emotionalen Einstellung ableiten lässt, die ein erotisches Selbstverhältnis beinhaltet.

Nacktheit und Scham Das Gefühl der Scham, das in der Mutter-Kind-Beziehung fehlt, spielt bei der Ausbildung des Selbst die zentrale Rolle. Wie die Scham die persönlichkeitskonstituierende Funktion ausübt, lässt sich am Verhältnis zur Nacktheit verdeutlichen. Nacktheit und Scham gehören in unserem Alltagsverständnis zueinander. Der Mensch hat offenbar von Anfang an die Tendenz, sein Genital als ›Blöße‹ zu empfinden und zu bedecken. Die Nacktheit erzeugt nicht die Scham, sondern umgekehrt: Scham macht Nacktheit zur Blöße. Trotz aller kultureller Verschiedenheit, mit der Nacktheit umzugehen, ist zwischen zwei Formen der Nacktheit zu unterscheiden: eine neutrale Nacktheit und eine erotische Nacktheit. Ein Beispiel für die erste Form der Nacktheit ist in unserer Zeit die FKK-Nacktheit, die in der Regel keine Scham aufkommen lässt, weil die Rahmenbedingungen so gestaltet sind, dass der erotische Faktor ausfällt. Auch bei Naturvölkern, die im normalen Umgang wenig oder nicht bekleidet sind, wird erotische Nacktheit nur rituell in Form von Fruchtbarkeitstänzen zur Schau gestellt. In der Nacktheit, für die sich der Mensch schämt, ist der erotische Faktor also immer wirksam. Die Frage ist nun, warum der Eros die Nacktheit zum Gegenstand der Scham macht. Die Antwort liefert der Blick des Anderen, der in den Kern meines Selbst dringt. Das liegt an der Sichtbarkeit der Ge154 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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schlechtsteile. Anders als das Cogito, das vor Täuschung durch einen betrügerischen Geist geschützt ist, bleibt beim Körper nur die Verhüllung seiner Geschlechtsteile. Aber warum fühlt sich der Mensch bedrängt, wenn der Blick des Anderen auf seiner Nacktheit ruht? Die Geschlechtlichkeit allein, die ein natürliches Phänomen ist, kann dafür nicht der Grund sein. Entscheidend ist vielmehr der Eros, der die Geschlechtlichkeit zu reinen Lustzwecken transformiert. In seiner Lust fühlt sich der nackte Mensch in seiner Bedürftigkeit bloßgestellt. Das Feigenblatt fungiert somit als Mittel, die Verletzlichkeit zu minimieren, ohne auf die Begierde zu verzichten. Der Eros braucht die Scham, damit der Mensch nicht von der Biologie vorgeführt wird. Nur in der Orgie verschwindet die Scham, da sich hier alle Beteiligten auf eine Ausnahmesituation einstellen. Die Scham steht aber nicht allein für die Verletzlichkeit der erotischen Nacktheit. In der Paarbeziehung führt die Nacktheit durchaus zur Stärkung des Selbstwertgefühls der Liebenden. Jeder betrachtet den Körper des Anderen mit Begierde, aber keiner fühlt sich dem Anderen schutzlos ausgeliefert. Im Unterschied zu Sartres Blick, in dem das Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins nur nach außen verlegt wird, treffen sich in der erotischen Beziehung die Blicke zweier Subjekte. Das schließt den Primat des Anderen aus, der von ›Philosophien des Du‹ behauptet wird. Ebenso wenig wie im Glauben alles von Gott kommt, geht in der erotischen Beziehung alles vom anderen aus. Das Zusammenwirken beider Partner in ihrer Körperlichkeit, die Präsentation der Nacktheit, verhindert, dass der Andere als bloß anonymer und damit verletzender Blick empfunden wird. Den Blick des Voyeurs empfinden wir als Kränkung, der Blick des Geliebten stärkt unser Selbstwertgefühl. Denn in seiner Begierde erfahren wir die Stärke unseres Eros, dessen Schema die Sexualität in Humanität verwandelt.

dipuskomplex und Schuldbewusstsein Durch die Scham tritt der Mensch in ein moralisches Verhältnis zu sich selbst. Im Sündenfall wird die Scham als Ausdruck der Schuld dargestellt. Der Ungehorsam gegenüber Gott verändert das Selbstgefühl von Adam und Eva, es erzeugt moralisches Bewusstsein. Der theologische Gehalt lässt sich anthropologisch so formulieren: Schuld ist ursprünglich die Einsicht in die Grundlosigkeit der menschlichen Exis155 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil II: Der Mensch bei sich selbst

tenz. Der Mensch steht immer in einem Schuldzusammenhang, der eine Rechtfertigung, eine gewisse Haltung oder Stellungnahme erfordert. Eine alternative Ableitung der Schuld aus der Sexualität gegenüber der biblischen Sündenfallgeschichte stellt Freuds Ödipusgeschichte dar. An die Stelle von Gottvater tritt der Vater in der Urhorde. Das Schuldgefühl führt Freud auf die unerlaubte sexuelle Verbindung des Sohnes mit der Mutter zurück (Ödipuskomplex). Schuld als ›Komplex‹, d. h. als undurchschaubare Verflechtung von Motiven, wie sie in der Erotik durchaus normal sind. Aufgrund seiner Sexualtheorie konnte Freud den Ödipus-Komplex ›konstruieren‹, der dem Begriff der Verdrängung seinen spezifisch erotischen Charakter verleiht. Verdrängung ist das Gegenteil von Konfliktbewältigung, da die verdrängten Inhalte in ihrer unbewussten Form mit gesteigerter Kraft in das menschliche Leben hineinwirken. Denn durch Verdrängung aus dem Bewusstsein ins Unbewusste schließen sich Vorstellungen zu festen Ganzheiten zusammen, zu ›Komplexen‹, die neurotische Symptome hervorrufen und die nur schwer in ihre Teile bzw. Bereiche zerlegt werden können. Dem Bewusstsein bei dieser Arbeit der Zerlegung, die immer zugleich Klärung ist, methodisch beizustehen, darin sieht Freud die Hauptaufgabe der psychoanalytischen Technik. Freud hat die ödipale Situation, die aus dem Verlangen der Söhne nach der Mutter und dem damit verbundenen Hass gegen den Vater entspringt, für eine allgemein menschliche Urszene gehalten. Eine Bestätigung dieser Überzeugung fand Freud bei den Völkerpsychologen des 19. Jahrhunderts, die entdeckten, dass Sitten und Gebräuche der Naturvölker weitgehend durch die Inzestscheu geprägt sind, die selbst dort anzutreffen ist, wo die Erotik nicht wie in Europa durch eine strenge Sexualmoral eingeengt wird. In seiner Abhandlung Totem und Tabu (1912) hat sich Freud daher auf das ihm fremde Gebiet der Völkerpsychologie gewagt und eine Theorie der Kulturentstehung entworfen. Aus der Sicht der heutigen Ethnologie erscheint Freuds Geschichte des Vatermords, den die Söhne begehen, um sein sexuelles Vorrecht zu brechen, als eine reichlich abenteuerliche Konstruktion. So ist denn auch bald von ethnologischer Seite darauf hingewiesen worden, dass die dieser Konstruktion zugrunde liegende Absolutsetzung des Ödipus-Komplexes für matriarchalische Gesellschaften nicht haltbar ist.

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Narziss und Feigenblatt

Die Narzissmustheorien Freuds und Kohuts Die ödipale Situation wirft die Frage nach der narzisstischen Natur selbst auf. Hier ist zunächst daran zu erinnern, dass im Mythos der schöne Jüngling dafür bestraft wird, dass er die Liebe der Nymphe Echo verschmäht. Die Strafe besteht in der Selbstreflexion, die niemals den Gegenstand der Liebe, das eigene Ich, erreichen kann. Dem liegt der antike Spiegelzauber zugrunde, für den ›sich spiegeln‹ Tod bedeutet. Narziss steht demnach für eine Form der Selbstentfremdung, die zugleich Selbsttäuschung ist. Die Selbstreflexion unterscheidet sich in diesem Punkt vom Schema des Eros, welches den Menschen von sich selbst befreit. Der Mythos verdeutlicht somit die Grenzen der Reflexionstheorie des Bewusstseins, die nicht nur logisch in einen Zirkel führt, sondern auch psychologisch und moralisch für das auf sich selbst fixierte Individuum ruinös ist. Dass die Selbstliebe durch Selbstreflexion nicht aufgelöst werden kann, dass die Überwindung des Narzissmus auch in der erotischen Liebe nie ganz gelingt, dafür liefert Freuds Sexualtheorie starke Belege. Freud lässt die Entwicklung des Ich mit dem autoerotischen Narzissmus des Kindes beginnen. Aber dabei bleibt es nicht. Die Libido wird nach außen verlegt, zunächst auf die Mutter, dann auf andere Personen, in denen der Sexualtrieb seine Befriedigung sucht und findet. Dementsprechend unterscheidet Freud zwischen »Ichlibido« und »Objektlibido«, und nur dort, wo beide Arten der Libido in einem ausgeglichenen Verhältnis stehen, kann sich Individualität entwickeln. In diesem Sinn sagt Freud: »Das Individuum führt wirklich eine Doppelexistenz als sein Selbstzweck und als ein Glied in einer Kette, der es gegen, jedenfalls ohne seinen Willen dienstbar ist« (GW X, 143). Nach diesem Modell ist der primäre Narzissmus des Kleinkindes eine natürliche Form des Egoismus, der bei Erwachsenen aber zu einer krankhaften Form wird, in der alle Liebe auf die eigene Person gelenkt wird. Dieser sekundäre Narzissmus ist ein Versuch, der Begegnung mit der Realität aus dem Wege zu gehen. Darin gleicht der Narzissmus dem Schlafzustand, der nach Freud an die »selige Isolierung« (GW XI, 432) im intrauterinen Leben erinnert. Von Heinz Kohut stammt der Versuch, Freuds relative Anerkennung des Narzissmus zu verteidigen, auszubauen und zur Grundlage seiner ›Psychologie des Selbst‹ zu machen. Sozialpsychologisch argumentiert Kohut dafür, die Berechtigung unserer narzisstischen Bedürf157 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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nisse anzuerkennen. Die Rolle des Narzissmus in der erotischen Beziehung ergibt sich aus der Annahme von Kohut: »Die Antithese zum Narzissmus ist nicht die Objektbeziehung, sondern die Objektliebe« (Die Zukunft der Psychoanalyse, 142). »Objektliebe«, also die erotische Beziehung, ist immer schon eine Überwindung des primären Narzissmus. Daran ist die Scham beteiligt, die zwar den Anderen auf Distanz hält, durch den Bezug auf den Anderen aber zugleich eine Distanzierung des Ich von sich selbst impliziert. Das hat Max Scheler und im Anschluss an ihn Helmut Schelsky gesehen, der in seiner Soziologie der Sexualität (1956) die Leistung der Scham in der »Distanzierung von der eigenen Leiblichkeit und der Aufschließung des grundsätzlichen geschlechtlichen Partnerbezugs« (67) erkennt. Wenn Individuen oder Gruppen eine narzisstische Kränkung erfahren, regrediert die Liebe und verlagert sich von den Objekten zurück auf das Ich. Das führe zu Gruppenaggressionen, die als Ausdruck akuter oder chronischer narzisstischer Wut interpretiert werden müssen (vgl. Kohut, Die Zukunft der Psychoanalyse, 246). Der Eros erscheint somit als der einzig sichere Weg, die narzisstische Einkapselung des Menschen zu vermeiden. Der narzisstische Mensch kennt keine Scham, da er nur sich selbst sieht. In erotischen Beziehungen dagegen verlegt der Mensch seine Libido in den Anblick des Anderen, der als lebendiger Spiegel fungiert. Die Metapher vom ›lebendigen Spiegel‹ will besagen, dass nach dem Schema des Eros keiner der beiden Liebenden bei sich selbst bleiben kann. Jeder muss seiner Libido Ausdruck verleihen. Nur wo das gelingt, kann sich ein Selbst als Individuum entwickeln. Denn allein hier kann sich die Scham als symbolische Form entwickeln, welche die tierische Reaktion auf den sexuellen Reiz verzögert und in eine menschliche Antwort verwandelt. Scham und Körperbild als Darstellung der Libido eröffnen die Bedeutungsdimension, in der sich aus Gleichheit und Verschiedenheit der Geschlechter personale Identität entfalten kann. Das Schema des Eros gewährt hier tiefere Einblicke. Es lässt erkennen, dass die erotische Liebe Mann und Frau in einer Form verbindet, die der gemeinsamen Lust entspringt, aber darüber hinaus Bedeutungen schafft. Emotionale Übereinstimmung allein genügt nicht, sie bedarf einer formalen Artikulation, die das Selbstverhältnis der Beteiligten repräsentiert. Die Artikulation erfolgt noch vor der Argumentation in bildlicher Repräsentation, im ›Selbstbild‹, dessen Struktur und Funktion im nächsten Kapitel näher beleuchtet werden soll. 158 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Kapitel 9: Paararbeit am Selbstbild

Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gib ihm eine Maske, und er wird die Wahrheit sagen. (Oscar Wilde)

Die Verführungsgeschichte Adams und Evas stellt die Genese der Geschlechtsidentität dar, die von Theoretikern kommunikativen Handelns leicht übersehen wird. Sie halten sich ausschließlich an die Intentionalität des Bewusstseins und verkennen damit, dass Subjektivität ein paradoxes Phänomen ist, in dem sich Außen- und Innenperspektive kreuzen. Die Ambivalenz des Feigenblatts, Verhüllung und Enthüllung, Rückzug und Aufforderung zugleich zu sein, die Situationsbedingtheit der Scham, die auch schamhafte Menschen zu schamlosem Verhalten befähigt, – all das entspricht dem dialektischen Schema des Eros, das dem Individuum bestimmte Bedingungen des Selbstseins vorschreibt, die sich von den Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens in einem wichtigen Punkt unterscheiden. Die Gesellschaft stellt den Menschen Rollen bereit, die sie spielen müssen. Auch in der Paarbeziehung ist der Mensch nicht mehr allein bei sich selbst. Aber anders als die Gesellschaft erlaubt die Paarbeziehung die Entwicklung persönlicher Selbstbilder, die trotz ihrer Idealität den Kontakt zur Lebenswirklichkeit bewahren. Das Selbstbild, das jeder von sich entwirft, bleibt keine sich selbst genügende Fiktion, sondern findet im Anderen eine Kontrollinstanz. Liebende betrachten sich wechselseitig nicht als Rollenträger, sondern als Person, die ihnen am Herzen liegt und von der sie das Gleiche erwarten. Der einzelne Mensch ist sich selbst ein Rätsel, und die Introspektion vermag dieses Rätsel letzten Endes nicht zu lösen. Um uns selbst zu erkennen, sind wir auf ein Medium angewiesen. Für die innere Kommunikation bietet sich das Bild an, Selbstgespräche hin159 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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gegen sind kaum dazu geeignet, Auskunft über uns selbst zu geben. Durch sie erfahren wir über uns nichts, was wir nicht schon wüssten. Anders die Bilder, die wir uns von uns machen. Selbstbilder haben einen eigentümlichen Status, das sie zum primären Medium intrasubjektiver Kommunikation macht. Das Feigenblatt gibt den entscheidenden Hinweis, wie das Selbstbild als Medium des Selbstverständnisses fungiert. Es ist Verhüllung und Enthüllung zugleich. Die Doppelfunktion bezieht das Selbstbild aus dem Eros, der auf den Anderen ausgerichtet ist, in dieser Ausrichtung unser Selbst aber intensiv erfahrbar macht. Sicherlich neigen Menschen dazu, sich über sich selbst noch mehr blauen Dunst vorzumachen als über andere, aber die notorische Täuschungsanfälligkeit lässt nicht den Schluss zu, dass alle Selbstverhältnisse in sich geschlossene, wahnhafte »Phantasie-Systeme« sind, wie der Psychotherapeut Ronald D. Laing vermutet (Das Selbst und die Anderen, 20). Damit bliebe man auf dem Standpunkt des primären Narzissmus, der das Verhältnis des Kindes zur Mutter prägt, der durch die sexuelle Partnerorientierung aber grundsätzlich überwunden ist. Die in der Sinnlichkeit erfahrbare Totalität der eigenen Person ist kein Zustand der Selbstgenügsamkeit, sondern eine aus der Paarliebe resultierende Repräsentation, die es immer wieder in Auseinandersetzung mit dem Partner neu zu gestalten gilt.

Abschied vom Cartesianismus Die erotische Liebe legt für die Intersubjektivität ein anderes Modell nahe als das der Phänomenologie der Fremderfahrung, die sich an der äußeren Wahrnehmung orientiert und damit die emotionale Dimension außer Acht lässt. Edmund Husserl ist zwar auf dem richtigen Wege, wenn er den menschlichen Körper, den Leib, zum Medium der Fremderfahrung macht, die er »Appräsentation« nennt (Hua I, 138 ff.). Indem er diese jedoch als »analogisierende Auffassung«, also als Übertragung der eigenen Leiberfahrung auf den Anderen interpretiert, gerät sein Ansatz in Schwierigkeiten. Denn auch wenn Husserl beteuert, es handele sich dabei nicht um einen Analogieschluss, so blendet er doch die erotische Lust aus, in der die Liebenden den anderen Körper im eigenen Körper unmittelbar genießen. Hier liegt die von den Phänomenologen so genannte »primordiale« Sphäre der Sinnlichkeit, in der 160 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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die Intentionalität des isolierten Subjekts durch die Gewissheit des Du gebrochen ist. Die Vorgängigkeit der Intersubjektivität vor dem Selbst ist schon in der Phänomenologie als ›Abschied vom Cartesianismus‹ gefeiert worden. Insbesondere der Husserl-Schüler Ludwig Landgrebe betrachtet das Ich als Produkt einer Selbstauffassung, »die ich mir aber nicht allein zurechtgemacht habe, die nicht ausschließlich von mir stammt, sondern ich sehe mich im Lichte der Rolle, die mir von den Anderen im Miteinandersein zugeteilt wird« (Der Weg der Phänomenologie, 97). Das ist in der Tat ein Schritt über das isolierte Subjekt hinaus, aber das Modell der Rollenzuteilung genügt nicht, um das personale System der Individualität aus der Beziehung zum anderen verständlich zu machen. Denn Rollen, die schon das Kind durch Nachahmung und Lernen internalisiert, schaffen Vorbilder, ›Ich-Ideale‹, aber auch diese machen das Ego noch nicht zum Individuum. Personale Individualität bezeichnet die unverwechselbare Art und Weise, mit Rollen umzugehen, Rollen auszufüllen, und daher kann sie ebenso wenig wie das Geschlecht als Rolle bezeichnet werden. Individualität entsteht nicht durch Beziehungen zu anderen Menschen schlechthin, sondern durch exklusive Paarbeziehung, in der sich Mann und Frau in ihrer kreatürlichen Ungeschütztheit gegenüberstehen. Eine Bestätigung der Vorrangigkeit des Paares vor dem Individuum liefert Heideggers Analyse des »Mitseins«. Gegen alle Versuche, die Intersubjektivität aus der Wahrnehmung verständlich zu machen, geht Heidegger von der durch die »Fürsorge« gestifteten Gemeinschaft der Menschen als primärer Gegebenheit aus. Dabei unterscheidet er zwischen zwei Arten der Fürsorge, die beide auf die »eigentliche« Intersubjektivität des Paares passen. Negativ die übertriebene Bemutterung, die den Anderen unselbständig und abhängig macht, positiv die Sorge um den Anderen als Person, die ihm dabei hilft, gerade in der engen bzw. durch die enge Bindung an einen geliebten Anderen frei zu werden (SuZ, 122). Wenn Heidegger ferner darauf besteht, das Selbstsein von anderen abzugrenzen – Heideggers »Sorge um diesen Abstand« erinnert an Nietzsches »Pathos der Distanz« –, so betrifft das nur den anonymen Anderen, die Masse oder das »Man«, nicht aber den »bestimmten Anderen«. Die Sorge um »Abständigkeit« führt also nicht, wie Heidegger oft unterstellt wird, zum isolierten Subjekt zurück, sondern auf exklusive Formen des Mitseins, unter denen das Paar den Prototyp abgibt. 161 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Die im Mitsein liegende Gewissheit des Anderen lässt sich über die erotische Liebe hinaus nicht beliebig zur Nächstenliebe erweitern. Das wird von den im Umkreis der Phänomenologie entwickelten ›Philosophien des Du‹ leicht übersehen. Hier sei nur an Paul Ricoeurs Das Selbst als ein Anderer erinnert, die als Alternative zur Reflexionstheorie des Selbst große Zustimmung findet. Der Grundgedanke Ricoeurs lautet, dass das Versprechen, das man einem Anderen gibt, dem Selbst erst personale Identität verleiht. Dieses Modell moralisiert die erotische Paarbeziehung. Zwar geben sich auch Paare explizite Eheversprechen, aber das in der Paarliebe implizite Versprechen ist ein Radikal, das noch vor jedem moralischen oder rechtlichen Akt liegt. In der Paarbeziehung versprechen die Liebenden keine beliebige Sache, sondern sich selbst. Das macht die identifizierende Kraft des Eros aus. In der gemeinsamen Lust liegt das Glücksversprechen, das jenseits von Gut und Böse Mann und Frau zum Paar verbindet.

Das Bild als Medium der Selbsterfahrung In seiner späten Abhandlung Das individuelle Gesetz bestimmt Georg Simmel Individualität durch das ›Daseinsbild‹, das jeder Mensch als Ideal von sich entwirft. Die Idealität des Daseinsbildes ist nicht teleologisch. Es steht nicht für einen höchsten Wert oder Endzweck des Lebens, sonder stellt die Totalität des Lebens dar, so wie sie dem Menschen im jeweiligen Moment seiner Entwicklung vorschwebt. Darin liegt keine beliebige und zufällige Zutat zur empirischen Existenz, sondern das Selbstbild gehört zum Wesen personaler Identität und Individualität. Es bildet gleichsam den Horizont, in dem der Einzelne sich als persönliches Individuum begegnet. Damit das Selbstbild nicht zu einem Traum wird, der das Subjekt isoliert, bedarf es einer Vermittlung durch die Realität. Ein solches liefert die Arbeit als gesellschaftlicher Reproduktionsprozess. Aber noch vor der Arbeit liegt die Liebe, in der das Zusammenpassen immer Distanz voraussetzt. Wie die Intersubjektivität durch Sprache vermittelt ist, so kommt die Selbstbeziehung nicht ohne den Bildbegriff aus. Selbstbilder stellen Projektionen dar, durch die der Mensch Zugang zu seiner ihm direkt unzugänglichen inneren Welt erhält. Dabei handelt es sich freilich nicht um ein einfaches Abbildverhältnis, sondern um eine Darstellungsform, die in der Paarbindung ihren stärksten Resonanzboden fin162 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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det. So ist es erneut das Schema des Eros, nach dem sich nicht nur Intersubjektivität, sondern auch Subjektivität herausbildet. Daraus folgt: Personale Identität lässt sich als gemeinsame Arbeit am Selbstbild gemäß dem Schema des Eros rekonstruieren. Aus der Paarbeziehung entsteht das Selbstbild, das man sich in der Tat nicht allein zurechtmachen kann, das uns aber auch nicht einfach von anderen zugeteilt wird. Anders als in der Mutter-Kind-Beziehung kristallisiert sich das Selbstbild aus der ›zwischenmenschlichen Interpenetration‹, die auf geistiger Ebene ein Repräsentationsverhältnis ist. Ein Selbstbild ist nur dann keine solipsistische Fiktion, wenn es dem Blick des Geliebten standhält, der durch keine andere Instanz ersetzt werden kann. Kinder verfügen noch nicht über Selbstbilder, sondern nur über Vorbilder. Sie haben, obwohl sie schon ›ich‹ von sich sagen können, noch keine personale Identität im Sinne von Inter-Individualität, die sie erst durch sexuelle Partnerorientierung erwerben.

Krperschema und Krperbild In der neueren Philosophie des Geistes hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass das Selbst sich nicht rein mental beschreiben lässt, sondern immer die Körperlichkeit voraussetzt. Schopenhauer war einer der ersten Philosophen, die der Sonderstellung der Erfahrung des eigenen Körpers die nötige Aufmerksamkeit geschenkt haben. Er nennt den Körper ein »unmittelbares Objekt«, um zum Ausdruck zu bringen, dass hier eine ungegenständliche Einheitsform vorliegt, die sich in der Gleichzeitigkeit von innerer und äußerer Erfahrung manifestiert. Die Einheit der Körpererfahrung führt Schopenhauer auf den Willensdrang zurück, der in den unwillkürlichen Körperregungen ungehindert in Erscheinung tritt. Damit ist der Weg zu einem weiteren Untersuchungsfeld geebnet, das zum Selbstbild dazugehört, nämlich das Verhältnis von Selbstbild und Körperbild. Die Verhältnisbestimmung beider kann erst gelingen, wenn zuvor geklärt wird, was wir unter ›Körperbild‹ zu verstehen haben. Der Begriff »Körperbild« geht auf Paul Schilder zurück, der 1935 ›Körperbild‹ aus der subjektiven Perspektive vom ›Körperschema‹ abgrenzt. ›Körperschema‹ ist ursprünglich ein physiologischer Begriff und bezeichnet Haltung und Bewegung, so wie sie in ihren wesentlichen Zügen auch von Tieren wahrgenommen werden. Insofern steht 163 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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das Körperschema dem angeborenen Auslöserschema nahe. Das wird durch die »dynamische Struktur« des Körperschemas unterstrichen, die Paul Schilder herausgearbeitet hat (P. Schilder, Das Körperschema, 1923). Auf höherer Ebene entspricht der physiologische Begriff des Körperschemas dem des neuronalen Netzes. An der dynamischen und intentionalen Struktur des Körperschemas vollzieht sich die Individualisierung aus der Erlebnisperspektive. Diese Interpretation findet ihre Bestätigung in der neueren kognitionswissenschaftlichen Theorie der Subjektivität. Die neuropsychologischen Befunde legen es nahe, das räumlich strukturierte Körperschema als das »repräsentationale Fundament des Selbstmodells« zu betrachten (Thomas Metzinger, Bewusstsein, 130). Das Körperschema seinerseits hat seine Grundlage in Aktivitätsmustern einer genetisch determinierten Neuromatrix. Was hier als »mentales Selbstmodell« bezeichnet wird, entspricht dem Körperschema, das unser »phänomenales Selbst« prägt. Die kognitionswissenschaftliche Naturalisierung des Mentalen, die kein »eliminativer Materialismus« sein will, sondern sich als »objektive Phänomenologie« versteht, lässt allerdings noch Fragen offen. Denn die Annahme »mentaler Selbstmodellierung«, die bei erwachsenen Menschen in einem stabilen Selbstbild endet, lässt noch nicht erkennen, nach welchen Kriterien der Modellierungsprozess abläuft und welchen ontologischen Status das mentale Selbstmodell schließlich erreicht. Jeder Mensch setzt seinen Körper als Mittel ein, um sich als autonome Persönlichkeit darzustellen. Körperspiele sind dynamische Prozesse, in denen oft genug die Machtfrage gestellt wird. Das betrifft bekanntlich die Begegnung junger Frauen mit einflussreichen Männern im Berufsleben, wo das Erotische für Entscheidungen keine Rolle spielen sollte, in Wahrheit aber immer mitschwingt. Körperschemata haben also eine elementare kommunikative Funktion, die nicht auf sachliche Verständigung abzielt, sondern personenbezogen bleibt. Die vorsprachliche Schicht kommunikativer Körperspiele ist nicht wegzudenken. Sie bildet den Hintergrund, auf dem Menschen diskursiv und argumentativ kommunizieren können. Wo diese Schicht fehlt, hängt der Diskurs in der Luft und erzeugt die Illusion einer rein sachlichen Verständigung. Natürlich hat die vorsprachliche Kommunikation nicht immer erotischen Charakter im engeren Sinne, aber es geht doch um Zuständlichkeiten, um Sympathien und Antipathien, die stets mit Körperbildern verbunden sind. 164 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Die erotische Artikulation des Körperbildes wird allgemein durch die Kleidung verstärkt, die zwar die Geschlechtsteile verdeckt, ihnen aber gerade als verdeckte Bedeutung verleiht, die über die bloße Sexualfunktion hinausgeht. Das bestätigt der erigierte Penis, der interessanterweise in Albrecht Dürers Gemälde Vermessung des Körpers als Störung der Proportionen angesehen wird. Daher sind es wahrscheinlich weniger moralische Vorurteile als vielmehr Zeichen der Abkopplung des Eros von der Fortpflanzung, wenn wir Darstellungen vom erigierten Penis, wie sie in naturwüchsigen Gesellschaften üblich sind, als abstoßend empfinden. Sie durchbrechen den ganzheitlichen Charakter des Körperbildes und führen den Mann auf die bloße Sexualfunktion zurück. Wie stark das Körperbild des Menschen im Eros fundiert ist, lässt sich auch am Erschrecken ablesen, das der Anblick einer Leiche auslöst. Das Bild des eigenen Leichnams ist nicht erfahrbar, wohl aber der lebendige und aktive Körper, in dem der Mensch dem Eros begegnet. Von Thanatos unterscheidet sich der Eros darin, dass er ein Körperbild hervorbringt, das mit unserem Selbstbild zusammenfällt. Zwischen Eros und Thanatos liegt das Bild des greisenhaften Körpers, dessen Anblick schwer erträglich ist, weil er sich kaum mit dem deckt, wie sich alternde Menschen von innen fühlen. An dieser Erfahrung tritt die Ambivalenz zutage, die das Körperbild mit den erotischen Gefühlen teilt. Die Ausführungen mögen genügen, um die Sonderstellung des Körperbildes für den Aufbau des Selbstbildes zu verdeutlichen. Das Körperbild bewegt sich durch den Eros zwischen der Realität der Sexualfunktion und der Idealität der Vorbilder und Typen, die jeder erfüllen möchte. Im Körperbild zeigt sich die Doppelfunktion des Eros als Radikal und Medial, und nur dadurch wird verständlich, wie es zum Prozess mentaler Selbstmodellierung kommen kann, an dessen Ende individuelle Subjektivität und personale Identität stehen. Das Körperbild ist zwar nicht täuschungsfrei, aber individualisierend. Niemand verwechselt sich mit einem anderen, aber jeder kann sich über sich selbst täuschen. Selbstgewissheit ist daher nicht identisch mit Selbsttransparenz. Diesen Irrtum der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins überwunden zu haben, macht das Selbstbild-Modell zum unverzichtbaren Bestandteil einer philosophischen Subjekttheorie.

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Vom Blick zum Bild des Anderen Nach Jean-Paul Sartres berühmten Analysen ist das Selbstverhältnis durch den Anderen vermittelt, der mich anblickt. Der Blick des Anderen schafft ein Zentrum neben mir, um das sich die Dinge ordnen und das mir zugleich meine Exzentrizität und Verletzlichkeit zu Bewusstsein kommen lässt. Damit hat Sartre zweifellos einen wichtigen Punkt getroffen. Aber seine Ausführungen sind einseitig und daher ergänzungsbedürftig. In der erotischen Beziehung bleibt der Blick des Anderen nicht unpersönlich wie die Linse einer Kamera. Das trifft nur für den Voyeur zu, nicht aber für den Geliebten, der sich mit Leib und Seele dem Anderen öffnet. Zur erotischen Begegnung gehört natürlich auch der bewundernde Blick, der nicht als Privation oder Negation, sondern als Bereicherung und Stärkung empfunden wird. Zum Blick kommen die Berührungen, die den Körper der Geliebten aufblühen lassen. In der erotischen Intimität fallen die Hüllen, jeder zeigt sich dem Anderen nackt. Aber damit entfällt nicht die Schamhaftigkeit, durch die jeder seine Verletzlichkeit zum Ausdruck bringt. Auch der Nackte will sich vom anderen nicht ›ausziehen‹ lassen. Jeder möchte in seiner Nacktheit vom anderen respektiert werden. Das ist nur möglich in der Intimität der Liebenden, die Vertrauen impliziert. Daher fällt es nach einem Vertrauensbruch Paaren oft schwer, sich dem Partner wieder nackt zu präsentieren, sich ihm mit der gleichen Unbefangenheit körperlich hinzugeben. Das ›Bild‹, das man sich vom Anderen und von sich selbst macht, umfasst neben körperlichen auch charakterliche Eigenschaften, die sich zu einem Gesamteindruck verdichten. Entscheidend ist die gegenseitige Anerkennung, die sich ebenso wenig wie die Liebe durch Argumentation herstellen lässt. Wir können Anerkennung durch den Anderen erwarten, wir können auch die Bedingungen dafür schaffen, sie aber nicht erzwingen. Anerkennung hat nichts mit sachlicher Wahrheit zu tun, sondern ist eine rein personenbezogene Kategorie. Sie liegt auf der Ebene vorsprachlicher Kommunikation und ist von all den Faktoren abhängig, die das Bild eines Menschen in den Augen des Anderen prägen. Natürlich versucht jeder, dem Anderen seine Interpretation aufzuzwingen. Aber nur, wenn man ihm die Freiheit lässt, die Interpretation in sein eigenes Bild zu integrieren, kann man davon ausgehen, dass es zur Bildung stabiler Selbstbilder kommt. Das Selbstbild ist immer ein fruchtbarer Kompromiss, bei dem jeder als Bildner und 166 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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›Gebildeter‹ zugleich fungiert. Selbstbilder kristallisieren sich gleichsam im Raum zwischen den realen Agenten heraus, die nie wissen, an welchem Bild sie arbeiten. Dieser Sachverhalt wird durch die erotische Liebe bestätigt. Der Eros ist bekanntlich der größte ›Welten-Macher‹. In der Liebe macht sich jeder seinen Partner zurecht. Aber wer ist es, der interpretiert? Der moderne Interpretationismus, wie er von Nelson Goodman bis Günter Abel vertreten wird, bleibt noch zu logozentriert. Denn zunächst ist es die gemeinsame Lust, der Eros als Medial, in dem der Andere und das Selbst als Objekte der Begierde wahrgenommen werden. In diesem Sinne ›macht‹ der Eros den Menschen. Blickt man von hier aus auf sprachanalytische Interpretationen des Selbstbewusstseins als »praktisches Sichzusichverhalten« (Ernst Tugendhat), so wird bestätigt, dass »Introspektion« und »inneres Auge« Mythen sind. Aber das heißt keineswegs, dass mit der Einbeziehung des Anderen Präsentation und Interpretation ganz ausfallen. In der erotischen Begegnung sind beide Momente untrennbar, sie gehen nur nicht von fertigen Subjekten aus, sondern von der sexuellen Lust, aus der Subjektivität ›emergiert‹, wie man heute sagt. Sicherlich verschiebt sich in der erotischen Beziehung die Interpretation allmählich vom Sinnlichen zum Geistigen. Aber selbst bei älteren Paaren, die ihre biologische Liebenswürdigkeit eingebüßt haben, bleibt das Körperbild in der Erinnerung doch immer als virtuelles Bild erhalten.

Die intersubjektive Dimension des Selbstbildes Heinz Kohut hat für den Aufbau des Selbstbildes das Mutter-Kind-Verhältnis ins Zentrum gerückt. Die Mutter fungiert für das Kleinkind als »Selbstobjekt«, gleichsam als Projektionswand, auf der sich die diffusen Wünsche individuell artikulieren. Nach Kohut erlebt das Kind die emphatische Reaktion so, »als hätte es bereits ein Selbst«. Umgekehrt erlebt die Mutter die Reaktionen des Kindes so, »als habe es bereits ein Selbst gebildet« (Die Heilung des Selbst, 94 f.). Die emphatischen Reaktionen der Mutter als »lebendiger Spiegel« verleiht den triebhaften Regungen des Säuglings Einheit. Die integrierende Funktion der Mutter umfasst mehr als Freuds »Über-Ich«, das eine eher zwanghafte Kontrollinstanz darstellt. Die Mutter dagegen fungiert als Appellationsinstanz, die vom Kind unabhängig ist, diesem aber in Sympathie 167 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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verbunden bleibt. Hier handelt es sich um eine emotional positiv fundierte Einheitsbildung, die dem Kind zu einem stabilen individuellen Selbstbild verhilft. Nach dieser Interpretation bewegt sich das Erleben in der Mutter-Kind-Beziehung im Bereich des Als-Ob, wobei die ›AlsOb-Struktur‹ hier nicht die Form der Täuschung, sondern der Vorwegnahme hat. Damit eröffnet Kohut eine Entwicklungsperspektive, die durch die erotische Beziehung zwischen erwachsenen Menschen bestätigt und erfüllt wird. Die Funktion der erotischen Beziehung für das Selbstbild ergibt sich daraus, dass sich die Geliebten in allen Aspekten ihres körperlichseelischen Daseins begegnen. Für den erwachsenen Menschen gibt es keinen lebendigeren Spiegel als der Geliebte des anderen Geschlechts. Selbstbilder sind somit immer erotische Bilder im tieferen anthropologischen Sinne des Wortes. Im Selbstbild ist der Blick des Partners immer schon als Korrektiv enthalten. Das Selbstbild als Fiktion ist keine freie Erfindung, sondern ein nur in der Paarbeziehung gelingender Versuch, die Differenz zwischen Sein und Schein, zwischen Identität und Individualität auszugleichen und auszuhalten. Fiktion und Differenz sind im Selbstbild ein und dasselbe. Das unterscheidet Selbstbilder von Rollen, die wir in der Gesellschaft spielen. Und nur der durchdringende und zugleich wohlwollende Blick des Partners kann uns davor bewahren, unsere personale Identität ganz in der funktionalen Rollenidentität aufgehen zu lassen. Die intersubjektive Struktur des Selbstbildes findet ihre Bestätigung in den modernen Emergenztheorien der Subjektivität, welche die Intentionalität des Bewusstseins nicht als unhintergehbaren Ursprung auffassen, sondern als In-Erscheinung-Treten einer bis dahin noch nicht existierenden Entität. Unter ›Emergenz‹ wird in nicht-reduktiven Positionen der Philosophie des Geistes demnach mehr als das Resultat des Zusammenwirkens verschiedener Kausalfaktoren verstanden. Genau das trifft für die Interferenz triebhafter Regungen zu, aus denen in der erotischen Beziehung die Selbstbilder der Liebenden hervorgehen. Für das Selbstbewusstsein ergibt sich daraus folgendes Modell: An die Stelle eines transzendentalen Subjekts tritt ein autopoetisches System, das permanent sein eigenes Bild erzeugt. Die Bilderzeugung ist keine intentionale Handlung, sondern ein Prozess der Artikulation, der durch die Konzentration von Beziehungen in Gang gesetzt wird, denen der Mensch in der erotischen Liebe ausgesetzt ist. Das macht Selbstbewusstsein zu einem sozialen System internalisier168 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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ter Beziehungen, das die Bedürfnisse und Überzeugungen des Individuums repräsentiert.

Intersubjektivitt als »Interpoesis« Jedem, der in einer festen Paarbeziehung lebt, steht in vielen und besonders in kritischen Situationen das Bild des Partners vorm geistigen Auge. Der geliebte Andere ist anders präsent als der wahrgenommene beliebige Andere, auch wenn man ihn zum ›Du‹ macht. Die primäre Paarbindung erweitert und erfüllt das Bewusstsein, auch wenn der Andere nicht anwesend ist. Er ist präsent durch sein Bild, das allerdings nicht mit seinem bloßen Abbild verwechselt werden darf. Das Bild des oder der abwesenden Geliebten, das sich in alle fremden Begegnungen einschiebt, ist absolute Präsenz: einfach er oder sie. Das ist kein Wunder, sondern entspricht der Funktion der Bildlichkeit in allen Formen subjektiver und intersubjektiver Selbstwahrnehmung: Bild als »kommunikatives Medium«, wie der Bildwissenschaftler Klaus Sachs-Hombach es darstellt. Sicherlich kann das Bild eines anderen Menschen zu einem Gespenst werden, das die Bewegungs- und Gedankenfreiheit zerstört. Aber dieser oft ins Pathologische gehende Fall widerlegt nicht die positive Wirkung der Bilder für das Selbstverständnis des Menschen. In seinem Buch Der Gestaltkreis (1973) beschreibt Viktor von Weizsäcker die menschliche Selbstbewegung mit Hilfe des Bildbegriffs: »Gang, Stand, Gleichgewicht sind also durch nicht gleiche Vorgänge gewährte Bewegungserfolge; sie sind eigentlich – motorisch betrachtet – Bildeinheiten, d. h. die Bildähnlichkeit verschiedener Einzelfälle. Der Einzelfall repräsentiert diese Bildeinheiten nur; denn sie, diese Einheit selbst, kann gar nicht verwirklicht werden. Ist doch der Organismus selbst nur eine solche Bildeinheit« (28). Die Idealität der Bildeinheit fasst von Weizsäcker in Kategorien einer negativen Ontologie: »Analysierbar und mit der Sache angemessenen Methoden feststellbar ist nach meiner Meinung niemals die Gestalt selbst, sondern immer nur die Grenze ihres Erscheinens oder Verschwindens, also die Bedingungen ihres formalen, nicht ihres inhaltlichen Prinzips. Die Frage, wo wir diese formalen Bedingungen zu suchen haben, ist damit noch offen gelassen« (37). Was von Weizsäcker noch offen lässt, kann nun nicht mehr zweifelhaft sein: Das Paar ist der Ort, an dem die Selbstbilder entstehen. 169 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil II: Der Mensch bei sich selbst

Zwar spricht die Postmoderne gern von ›Selbsterfindung‹, die in einem ästhetischen Individualismus endet. Man darf aber nicht vergessen, dass Erfindung sowohl Täuschung wie auch Schöpfung bedeuten kann. Der schöpferischen Phantasie sind durch die Lebensform Grenzen gesetzt. Niemand kann sich selbst hervorbringen und in voller Freiheit zu dem machen, was er ist. Das führt zu tragischer ›Selbstinvention‹, wie sie Ernst Bloch in seinem Exkurs über Don Quichotte beschrieben hat. Gott sei Dank sind nicht alle Menschen so beschaffen, obwohl vielleicht alle etwas von Don Quichotte an sich haben. Was sie in der Regel aber davor bewahrt, ist die Verbindung zu anderen Menschen, die sie in ihrem Selbstbild korrigieren. Hier nimmt der Geliebte eine Sonderstellung ein. Er hat den Vorteil des Beobachters, betrachtet seinen Partner aber nicht wie ein Arzt, sondern nimmt ihn als Person ernst. Der Arzt will Klarheit schaffen, der Partner will darüber hinaus mit dem Anderen leben. Das ist die beste Voraussetzung für die Entstehung realistischer Selbstbilder. Die Entwicklung eines Selbstbildes in der Paarbeziehung erfordert doppelte Arbeit: Erstens müssen wir uns ein Bild vom Anderen machen, ohne seinem Selbstbild Gewalt anzutun. Denn nur so besteht die Chance, dass unsere im Bild des Anderen verkörperten Erwartungen in Erfüllung gehen. Zweitens müssen wir die Erwartungen des Anderen in unser Selbstbild integrieren, um nicht zum bloßen Objekt seiner Bedürfnisse zu werden. In der Intersubjektivität fungiert der Andere jeweils als lebendiger Spiegel, in dem sich die Wünsche und Bedürfnisse der Beteiligten zu Einheiten verdichten, in denen jeder sich als individuelles Selbst erfährt. Aus einer bloß geschlechtlichen Interaktion wird das, was man »Interpoesis« nennen könnte: die gegenseitige Formung der Selbstbilder, die das Band zwischen den Liebenden aus ihrer jeweiligen Perspektive darstellen. Die Beteiligung des Anderen am Selbstbild wird auch durch den Geschlechterkampf nicht aufgehoben. Denn Mann und Frau kämpfen nicht wie Feinde, die sich gegenseitig vernichten wollen. Die Geschlechter bleiben biologisch immer aufeinander angewiesen, und das überträgt sich auch auf die »Interpoesis«. Sicherlich geht es in der Liebe oft nicht gut, weil man sich z. B. in der Wahl des Partners geirrt hat. Nicht jeder Partner ist in der Lage, das aus dem Anderen ›herauszuholen‹, was in ihm steckt, ihm die Anerkennung zuteil werden zu lassen, die er verdient oder zu verdienen meint. Wie bei jeder Interpretation besteht hier ein unauflösbares Dilemma zwischen der Innen- und 170 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Paararbeit am Selbstbild

der Außenperspektive. Auch der geübteste psychologische Beobachter kann nicht mit absoluter Sicherheit sagen, woran eine Liebe wirklich zerbrochen ist. Aber trotz dieser Unsicherheit können Mann und Frau voneinander nicht lassen. Sie sind zu Mitsein und Mitschöpfen verdammt.

Zwei Menschenbilder Der Eros als Medium der Selbstdarstellung – was folgt daraus für die Frage nach den Menschenbildern, von deren Beantwortung unsere Vorstellungen von Menschenwürde und Humanität überhaupt abhängen? Die Frage hat durch die Fortschritte der Molekularbiologie und insbesondere durch die Entschlüsselung des genetischen Codes eine Aktualität erlangt, die darauf hinweist, dass sich ein Paradigmenwechsel im Selbstverständnis des Menschen vollzieht. Das Gespenst der Manipulierbarkeit der körperlichen und geistigen Konstitution des Menschen schreckt die um die Menschenwürde besorgten Geister auf. Sie fürchten um die Individualität des Menschen, den man zu einem Exemplar der Gattung in serieller Produktion absinken sieht. So verständlich derartige Befürchtungen auch sein mögen, eine der Sache angemessene Diskussion kann nur im Rahmen der Philosophischen Anthropologie erfolgen. Hier weist der Eros als anthropologisches Radikal und Medial einen Weg zwischen Naturalismus und Spiritualismus. Das sind die beiden Extrempositionen, die sich im gegenwärtigen Kulturkampf als unversöhnliche Gegner gegenüberstehen. Vom anthropologischen Standpunkt aus gesehen aber erkennt man, dass es sich dabei um Absolutsetzung zweier Arten von Selbsterfahrung des Menschen handelt, die sich komplementär zueinander verhalten. Die eine ist die äußere Erfahrung, in der uns unser eigener Körper als Objekt unter Objekten erscheint. Freilich als privilegiertes Objekt, dessen Veränderungen wir in unserem Gefühlsleben unmittelbar erfahren. Die andere Erfahrungsweise ist die innere Erfahrung, unser Selbstgefühl, das zwar an äußere Bedingungen gebunden ist, in dem sich der Mensch aber als einmalig und zugleich als unzertrennlich mit der Welt verbunden erfährt. Beide Erfahrungsweisen, der objektive und der subjektive Standpunkt, durchdringen einander in der Paarbeziehung als dem Original des menschlichen Selbstverhältnisses. Aus der Geschlechtsidentität 171 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil II: Der Mensch bei sich selbst

kann der Mensch nicht fallen und daher gilt: Der Eros ist der lebendige Spiegel, in dem menschliche Individualität zur Darstellung kommt. Die Unhintergehbarkeit des Eros, in dem sich innere und äußere Erfahrung begegnen, schließt sowohl ein spiritualistisches als auch ein materialistisches Menschenbild aus. Der Spiritualismus hypostasiert die Kriterienlosigkeit der inneren Erfahrung zu einem metaphysischen Ich, an das sich die Heilsversprechungen der Religionen wenden. Die christliche Interpretation macht daraus das Dogma der Unsterblichkeit der Seele, die den Dualismus von Körper und Geist voraussetzt. Darin liegt natürlich auch eine Bedrohung der Individualität, die ohne Verkörperung undenkbar ist. Daher bedarf es in der christlichen Religion der Menschwerdung Gottes, um plausibel zu machen, dass jeder einzelne Mensch mit seinem an den Körper gebundenen individuellen Schicksal unmittelbar zu Gott als dem rein geistigen Prinzip sein kann. Der kulturgeschichtliche Hintergrund lässt erkennen, dass die heute im Rahmen der gentechnischen Diskussion gestellte Frage danach, wo das Menschliche beginnt, auf biologischer oder medizinischer Ebene keine sinnvolle Antwort finden kann. Hier gibt es immer nur pragmatische Lösungen. Auch der Rückzug auf eine spiritualistische Extremposition, die jede Manipulation am genetischen Material ausschließt, bringt keine Lösung. Die Frage muss daher umformuliert werden: Was betrachten wir schon oder noch als menschliches Wesen? Das Kriterium liefert der Eros als principium individuationis. Konkret heißt diese abstrakte Aussage: Eingriffe in das genetische Material sind erlaubt, solange sie sich an das Menschenbild halten, das dem kulturellen Selbstverständnis entspricht. In das Menschenbild fließen zahlreiche Faktoren ein, so dass es hier keine prinzipiellen Grenzen geben kann. Pränatale Konditionierung sowie Euthanasie, so moralisch belastet sie auch sein mögen, können sich im Rahmen des Menschlichen halten, solange sie an personale Verantwortung der Ausführenden gebunden bleiben. Sicherlich wachsen mit der fortschreitenden Technik genetischer Eingriffe die Möglichkeiten anonymer Manipulation, die auf die Zustimmung der Betroffenen und den Konsens der persönlich Verantwortlichen keine Rücksicht nimmt. Aber möglicher Missbrauch ist kein Argument, sondern eine moralische Keule, die den Blick von den eigentlichen Gefahren ablenkt.

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Paararbeit am Selbstbild

Die Grenzen des Menschlichen: ›Mind Children‹ Die Antwort der Philosophischen Anthropologie auf die Herausforderung der Gentechnologie ist klar: Der Eros liefert den Rahmen, in dem sich der Mensch als körperlich-geistiges Wesen selbst begegnet. Es gibt aber noch eine weitere Herausforderung, die diesen Rahmen zu sprengen droht. Die Herausforderung geht nicht von der Gentechnologie aus, sondern von der Informatik und dem daraus erwachsenden Projekt einer Künstlichen Intelligenz. Der Schritt zum künstlichen Menschen zeichnet sich ab und beunruhigt unser Selbstverständnis. Es ist H. Moravecs Vision der ›Mind Children‹, des Software-Menschen, der auf verschiedenste Substrate implementiert werden kann. Die Frage bleibt, ob das ein zweiter Sündenfall ist oder die endgültige erotische Rechtfertigung des Menschen. Die Antwort hängt von dem Informationsbegriff ab, wobei es vielleicht Sinn macht, den biologischen Informationsbegriff durch den Begriff der ›erotischen Information‹ zu ergänzen. ›Konstrukt‹ und ›Phänomen‹ bedingen sich gegenseitig, wobei die biologische Information den Genotypus, die erotische Information den Phänotypus ausmacht. Während in der Blütezeit des Materialismus die Angst vor dem Verlust des Geistes umging, steckt uns nun die Angst vor dem Verlust des Körpers in den Knochen. Ein aus Nanoröhren bestehender Mensch wäre sicherlich feuerfester und brauchte Verletzungen nicht zu fürchten, aber würde er noch in den Rahmen der erotischen Liebe fallen? Gibt es das erotische Jenseits des organischen Körpers? Was geschieht, wenn ein schönes Mädchen die Begierde nicht mehr in Fleisch und Blut verkörpert, sondern nur noch Bitmuster repräsentiert? Diese Fragen, die ins Reich der Science Fiction zu gehören scheinen, bewegen heute unterschwellig das Selbstverständnis der Menschen. Welche Antwort die Philosophische Anthropologie auf diese Fragen bereithält, hängt davon ab, inwieweit es gelingt, den Eros vom materiellen Substrat abzulösen und ins Virtuelle zu verschieben. Ansätze dafür finden sich in der modernen Anthropologie. Im virtuellen Menschen könnte sich das Erotische zu sich selbst genügenden Zeichensystemen entwickeln, die sogar die Möglichkeit einer mehr als zweigeschlechtlichen Erotik nicht ausschließen. Das Virtuelle als höchste Steigerung des Erotischen setzt der Phantasie keine Schranken. Aber das sind Visionen, die einen neuen Menschen betreffen, über den sich aus der Perspektive des alten Menschen nichts Bestimmtes sagen 173 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil II: Der Mensch bei sich selbst

lässt. Hier muss sich die Philosophische Anthropologie damit zufrieden geben, abzuwarten und zu sehen, was kommt. Die Veränderung der Welt und des Menschen kann niemand aufhalten, es kommt nur darauf an, sie richtig zu interpretieren, damit wir den Glauben an die Liebe nicht verlieren.

Rechtfertigung im Bild Nach christlichem Verständnis hat Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen. Die in der Genesis formulierte Gottebenbildlichkeit wird jedoch durch das Bilderverbot des Dekalogs konterkariert. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man beachtet, dass das Bilderverbot den Vorrang Gottes in der Beziehung zum Menschen sichert. Gott hat den Menschen zwar nach seinem Bilde erschaffen, allein der Schöpfer bleibt der Unsichtbare, der Verborgene. So wie es nach paulinischer Lehre Gott vorbehalten bleibt, den Menschen durch seine Gnade zu rechtfertigen, so bleibt es ihm auch vorbehalten, die in der Gottebenbildlichkeit zum Ausdruck kommende Ähnlichkeitsrelation von sich aus einzulösen. Nach christlichem Selbstverständnis bringt Jesus die alttestamentarische Gottebenbildlichkeit des Menschen allererst zur Vollendung, er repräsentiert den Menschen vor Gott und umgekehrt. Diese Interpretation der Gottebenbildlichkeit lässt deutlich werden, dass hier zwei Bildbegriffe ineinander spielen: zum einen ein substantialistischer Bildbegriff, der Urbild und Abbild von gleichem Wesen sein lässt, zum anderen ein relationaler Bildbegriff, der die Ähnlichkeit von der perspektivischen Realisierung durch den Bildner abhängig macht. Der zweite Bildbegriff impliziert die Freiheit des Schöpfergottes, aber auch die seiner Geschöpfe, was die Sündenfallerzählung zum Ausdruck bringt. Durch den Sündenfall wird das erste Menschenpaar Gott in der Fähigkeit gleich, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, das heißt auch und in erster Linie: sich vom anderen sowie von sich selbst ein Bild zu machen. Die Sündenfallerzählung steht somit für die Warnung vor der Macht der Bilder, die den Menschen dazu verführen, das Dargestellte mit der Darstellung zu verwechseln. Das ist ein anderer Ausdruck für die Autonomie des Menschen, vor der die theologische Anthropologie Gott durch das Bilderverbot schützen möchte. 174 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Paararbeit am Selbstbild

Wenn das Selbstbild auch durch die Präsenz des geliebten Anderen entsteht, so heißt das doch nicht, dass der Andere zum ›Urbild‹ des Selbst wird. Dieser Fehlschluss liegt allen Philosophien zugrunde, die dem Du den Primat geben. So denkt beispielsweise Emmanuel Lévinas das Andere im Anderen in Analogie zum unsichtbaren Gott. Daraus resultiert eine Asymmetrie des intersubjektiven Verhältnisses, die dem Schema des Eros nicht gerecht wird. In der erotischen Beziehung steht jeder dem Anderen sichtbar gegenüber. In der Gegenüberstellung bilden sich die Selbstbilder jeweils nach dem Bilde des Anderen, daher gibt es hier kein ›Urbild‹. Das Selbstbild ist immer etwas Unvorhergesehenes, das die Liebenden selbst überrascht. In dieser Konstellation bleibt die Autonomie des Menschen gewahrt, da weder dem Ich noch dem Du, sondern der Intersubjektivität selbst der Primat zukommt. Die Interpoesis zeigt: Der Mensch wird nicht durch sein Bild gerechtfertigt, er wird im Bild gerechtfertigt, das in der Zweierbeziehung entsteht. Als noch nicht festgestelltes Tier bedarf der Mensch der Hilfskonstruktion eines Selbstbildes, das seine verschiedenen Rollen zusammenhält. Zum Selbstbild gehört die Fähigkeit, seine wahre Lage zu erkennen. Genau das aber leistet das Schema des Eros, das dem Menschen die Distanz gibt, die er braucht, um sich selbst im Anderen in den Blick zu bekommen. Als Fiktion ist das Selbstbild kein Schleier der Maja, sondern die Rückseite des Spiegels, den der Andere uns vorhält. Die moralische Aufgabe besteht darin, den von der Einheit des Selbstbildes ausgehenden Geltungsanspruch durch das Verhalten zu rechtfertigen. Jeder muss sich bemühen, so zu leben, dass er vor seinem Bild nicht zu erschrecken braucht.

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Teil III: Der Mensch in der Welt

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Kapitel 10: Umwelten der Tiere und Welt des Menschen

Ich schilderte die Neue Welt – unglücklicherweise ein wenig zu früh, denn sie war noch nicht entdeckt worden, und niemand ließ sich überzeugen, dass es sie gab. Es war eine Eierstockwelt, die noch in den Eileitern verborgen war. (Henry Miller, Wendekreis des Steinbocks)

Der Begründer des Weltbildes der klassischen Physik, Isaac Newton, hat einmal gesagt, er komme sich bei seinen Forschungen vor wie ein Kind, das am Meeresstrand spielt und sich freut, wenn es eine schöne Muschel findet. Das Bild der Muschel ist deswegen bedeutsam, weil sie aus dem großen Meer der Wahrheit stammt, das zu erforschen nur Gott, dem Schöpfer der Welt, vorbehalten ist. Der französische Dichterphilosoph Paul Valéry schildert in seinem Dialog Eupalinos den jungen Sokrates, der am Meeresstrand einen ihm unbekannten Gegenstand findet: hart, zart und leicht, poliert und von reinem Weiß. Obwohl es nicht ausdrücklich gesagt wir, handelt es sich natürlich um eine geschlossene Muschel, die als zweideutiger Gegenstand (»objet ambigu« heißt es bei Valéry) den Jüngling abschreckt und die er daher unberührt ins Meer zurückwirft. Sokrates wirft die Muschel ins Meer zurück, da es sich um einen Gegenstand handelt, dessen Bedeutung in der platonischen Ontologie nicht vorkommt. Folgerichtig – so ließe sich der Gedankengang ergänzen – hat der alte Sokrates den Eros dann ja auch an der Knabenliebe festgemacht und allein auf die Idee der Schönheit bezogen. In der Naturforschung der Moderne wird die Muschel geöffnet. Zum Vorschein ist ein unerwartetes Bild vom bewegten Meer der scheinbar unwandelbaren Wahrheit gekommen: die wechselvolle Unbeständigkeit der Welt, die im weichen und feuchten Inneren der Mu179 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

schel ihr vollkommenes Abbild findet. Daher ist die Frage erlaubt, ob und inwiefern sich das Verhältnis des Menschen zur Natur aus dem Schema des Eros ableiten lässt. Da Naturerkenntnis in der klassischen Physik nach dem Subjekt-Objekt-Schema rekonstruiert und das Subjekt der Erkenntnis transzendentalphilosophisch als ›nichtsinnliches Subjekt‹ definiert wird, erscheint dieser Schritt allerdings insgesamt weniger evident als in den beiden vorherigen Teilen diese Buches, in denen es um Intersubjektivität und personale Identität gegangen ist. ›Harte‹ Wissenschaftstheoretiker werden sich fragen: Was hat wissenschaftliche Erkenntnis, die als unpersönliche und objektive Tätigkeit ausgeübt wird, mit dem Eros sowie speziell mit der Paarliebe zu tun? Dies ist eine berechtigte Frage, die sich nur beantworten lässt, wenn man zwischen zwei Argumentationsebenen unterscheidet. Für die Logik der Forschung mit ihren Problemlösungsmodellen – seien sie nun induktiv oder konstruktivistisch – spielt das Schema des Eros keine ersichtliche Rolle. Die für die wissenschaftlichen Erkenntnismethoden leitenden Begriffe wie Hypothese, Theorie, Gesetz usw. verweisen auf ein reines Subjekt der Erkenntnis, das keinen Geschlechtsunterschied kennt. Das gilt auch für den Fall, wo das isolierte Subjekt der Erkenntnis durch eine Forschergemeinschaft ersetzt wird. Für deren Definition ist es gleichgültig, ob sie aus Männern oder Frauen besteht. Das Bild ändert sich, wenn man von der Ebene expliziten Wissens auf die unbewussten Voraussetzungen zurückgeht, die wissenschaftliche Erkenntnis als spezifisch menschliche Leistung allererst möglich machen. Damit bewegt sich die Betrachtung auf einer anderen als der wissenschaftstheoretischen Ebene, auf der Ebene der philosophischen Anthropologie. Hier lautet die These: Der Mensch wird erst dadurch in die Lage versetzt, sich einen Begriff von der Welt zu machen, dass er sich in der Liebe als Teil der Welt erfährt. Wie soll Intersubjektivität als Original für die Objektivierung fungieren? Das scheinbare Paradox, die Vertauschung von Subjekt und Objekt, löst sich auf, wenn man den menschlichen Weltbegriff richtig auffasst. Welt ist für den Menschen mehr als ein Inbegriff von Objekten (›Alles, was der Fall ist‹). Sie ist der offene Horizont, in dem der Mensch von Objekt zu Objekt fortschreiten kann. Diese dem Tier verschlossene Offenheit der menschlichen Welt ist durch die Erfahrung fremder Subjektivität vorgezeichnet. Damit kommt nun doch das Schema des Eros ins Spiel, um ein Licht auf die Tiefengrammatik der wissenschaftlichen Erkenntnis zu werfen. 180 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Umwelten der Tiere und Welt des Menschen

Wie sich das Schema des Eros basisanthropologisch auf die theoretische Einstellung auswirkt, die den Menschen gegenüber den utilitaristischen Umweltbezügen der Tiere auszeichnet, darüber gibt eine Analyse des Weltbegriffs Auskunft. Zum menschlichen Weltbegriff gehören noch zwei weitere Leitbegriffe, die sich aus dem Schema des Eros ableiten lassen: ›Interesse‹ und ›Überzeugung‹. Ziel der folgenden Untersuchungen ist der Nachweis, dass diese drei Begriffe ein semantisches Feld bilden, auf das die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien meist unbemerkt bezogen sind. Theoretisches Wissen ist auf die wahrheitsfähige Erschließung der Wirklichkeit ausgerichtet, aber über die erfolgreiche Anwendung von Theorien hinaus gibt es keine Kriterien der Wahrheit, die zugleich Kriterien der Wirklichkeit des Wissens sind. Der Wirklichkeitsbezug bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung, die im Theoriezusammenhang selbst nicht zu finden ist, sondern auf den fraglosen anthropologischen Hintergrund verweist, aus dem alle Theorien ihren Wirklichkeitsanspruch beziehen.

Die Stellung des Menschen in der Welt Der Weltbegriff gehört zu den zentralen Themen der Philosophischen Anthropologie, an deren Gründer hier noch einmal angeknüpft werden soll. Im Titel seiner Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos bedient sich Max Scheler einer Metaphorik, die auf den kosmologischen Ursprung der Bestimmung des Menschen verweist. Die räumliche Stelle wurde im antiken Kosmos zugleich als Rangbezeichnung angesehen. Die Mittelstellung repräsentiert den hohen Rang, den der Mensch gegenüber den Tieren für sich in Anspruch nahm. Geozentrisches und anthropozentrisches Weltbild gehören zusammen. Die räumliche Metaphorik wirkt noch in der Schrift Über die Würde des Menschen (1493) des Renaissancephilosophen Pico della Mirandola nach, wo es heißt, Gott habe den Menschen zwar in die Mitte der Welt gestellt, ihm aber keinen bestimmten Wohnsitz zuerkannt. Was in der Renaissance noch als Vorzug gilt, wird zunehmend als Bedrohung empfunden. Das Gefühl der kosmologischen Heimatlosigkeit des Menschen erreicht im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt in dem Satz Nietzsches: »mit Kopernikus rollte der Mensch ins Nichts«. Und die Definition des Menschen als »exzentrisches Wesen« von Helmuth Plessner rundet diese Tradition ab. 181 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

Mit der Evolutionsbiologie erhält im 19. Jahrhundert die Rede von der Stellung des Menschen einen neuen Sinn. ›Stellung‹ bezieht sich nun auf die Entwicklung der Arten, auf die Verwandtschaft der Menschen mit den Primaten. Damit löst sich die Anthropologie aus der Verbindung mit der Kosmologie und schließt sich an die Biologie an. Das gilt auch für Max Scheler, der die »Sonderstellung« des Menschen durch den Vergleich mit dem Tier verdeutlicht: »Das Tier hat keine ›Gegenstände‹ : es lebt in seine Umwelt ekstatisch hinein, die es gleichsam wie eine Schnecke ihr Haus als Struktur überall hinträgt, wohin es geht – es vermag diese Umwelt nicht zum Gegenstand zu machen. Die eigenartige Fernstellung, diese Distanzierung der ›Umwelt‹ zur ›Welt‹ (bzw. zu einem Symbol der Welt), deren der Mensch fähig ist, vermag das Tier nicht zu vollziehen« (Die Stellung des Menschen im Kosmos, 40 f.). Scheler verdeutlicht das gegenständliche Bewusstsein des Menschen durch einen Vergleich aus der Verhaltenslehre: »Ein Hund mag jahrelang in einem Garten leben und an jeder Stelle des Gartens schon häufig gewesen sein – er wird sich niemals ein Gesamtbild des Gartens und der von seiner Körperlage unabhängigen Anordnung der Bäume, Sträucher usw. machen können, wie klein und groß der Garten auch sei. Er hat nur mit seinen Bewegungen wechselnde ›Umwelträume‹, die er nicht auf den ganzen, von seiner Körperstellung unabhängigen Gartenraum zu koordinieren vermag« (46). Die menschliche Raumanschauung hingegen beruht auf der Fähigkeit, die unmittelbar gegebenen Eindrücke zu Gegenständen zu verarbeiten, die anders als Triebziele Konstanten bilden, an denen der Mensch sich ein Gesamtbild machen kann. Die ›Weltoffenheit‹ ermöglicht einen souveränen Umgang mit der Wirklichkeit und mit sich selbst, bringt aber auch Unruhe: »Auf alle Fälle ist der Mensch – im Verhältnis zum Tiere, dessen Dasein das verkörperte Philistertum ist – der ewige ›Faust‹, die bestia cupidissima rerum novarum, nie sich beruhigend mit der ihn umringenden Wirklichkeit, immer begierig, die Schranken seines Jetzt-Hier-So-Seins zu durchbrechen, immer strebend, die Wirklichkeit, die ihn umgibt, zu transzendieren, darunter auch seine eigene jeweilige Selbstwirklichkeit« (56). Anders als die idealistische Subjektphilosophie führt Scheler das Transzendieren der Wirklichkeit, das den Menschen gegenüber dem Tier auszeichnet, nicht einfach auf die »Vernunft« oder den »Geist« zurück, sondern gibt eine biologische Erklärung. Mit dem Tier teilt der Mensch den »Lebensdrang«, der beide an die Wirklichkeit 182 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Umwelten der Tiere und Welt des Menschen

ihrer Umwelt bindet. Aber der Mensch kann in einem Akt der Negation seinen Lebensdrang außer Kraft setzen: »Mit dem Tiere verglichen, das immer ›Ja‹ zum Wirklichsein sagt – auch da noch, wo es verabscheut und flieht, – ist der Mensch der ›Neinsagenkönner‹, der ›Asket des Lebens‹, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit« (55). Allerdings führt die Verneinung des Willens zum Leben den Menschen nicht wie bei Schopenhauer aus der Welt ins Nirwana, sondern die Askese bleibt ›innerweltlich‹, um eine Formel zu gebrauchen, die Max Weber für den Geist des Protestantismus geprägt hat. Hier erhebt sich die Frage, wie eine Negation die Energien freisetzen kann, die den Menschen dazu bringen, aus sich selbst eigene Welten zu schaffen. Scheler spricht in Anlehnung an Sigmund Freud von »Sublimierung des Lebens zum Geiste« (63). Aber diese protestantische Denkform der Selbstüberwindung und Transformation des vermeintlich Niederen zum Höchsten bleibt insofern unbefriedigend, als damit der Kontakt mit der Wirklichkeit abzureißen droht. Bei aller Berücksichtigung des Organischen verflüchtigt sich der Geist bei Scheler schließlich doch ins Metaphysische. Die anthropologische Schlüsselfrage lautet dagegen: Was hat dem Menschen den Welthorizont eröffnet? Wie hier nicht anders zu erwarten, heißt die Antwort: das Schema des Eros. Um diese Antwort plausibel zu machen, hilft ein Vergleich mit der biologischen Verhaltensforschung.

Die Zeckenwelt als Modell Zu den Pionieren der vergleichenden Verhaltensforschung zählt Jakob von Uexküll, der gemeinsam mit Georg Kriszat 1934 die Schrift Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen veröffentlicht hat. Das Buch hat in der Philosophischen Anthropologie starke Beachtung gefunden. Es liefert einen wissenschaftlich fundierten Rahmen, in dem das menschliche In-der-Welt-Sein in seiner Besonderheit erfasst werden konnte. Von Uexkülls Grundthese ist einfach: Tiere sind durch ihre Konstitution in Umwelten eingepasst, die sie gleichsam als eine Glocke mit sich tragen. Unter den Handlungen rangiert an erster Stelle nicht die Herstellung von Artefakten, sondern die Bewegung (Sensomotorik). Diese wiederum dient der Verwertung der Umweltreize entsprechend den Grundbedürfnissen der Lebewesen. An der Verwertung un183 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

terscheidet von Uexküll zwei Seiten: eine passive als »Merken« und eine aktive als »Wirken«. Der Verwertungsprozess verläuft nach dem Schema: empfangene »Merkmale« werden von hervorgerufenen »Wirkmalen« ausgelöscht. Das Ineinander von Passivität und Aktivität drückt von Uexküll mit der Metapher des Kreises aus. Er unterscheidet vier »Funktionskreise«: Nahrung, Medium, Freund-Feind und Geschlecht. Die Funktionskreise überschneiden sich, bilden aber für jedes Tier gemäß seiner Konstitution ein geschlossenes Umweltsystem, aus dem es nicht herausspringen kann. Eine gewisse Berühmtheit hat von Uexkülls Schilderung der ›Welt‹ der Zecke erlangt, die sich aus der Verarbeitung von drei Reizen aufbaut. Der Aufbau der Zeckenwelt ist kein logischer, sondern ein rein physiologischer Konstitutionsvorgang nach dem Merk-Wirk-Schema, das Tier und Umwelt aufeinander abstimmt. Kurz zusammengefasst sieht die Entsprechung so aus: Nach der Begattung leitet der Lichtsinn der Haut das augenlose Tier auf einen Ast, wo es sich festsetzt. Kommt unter dem Ast ein Säugetier vorbei, dessen Haardrüsen Buttersäure ausscheiden, wirkt der Duft auf den Geruchssinn der Zecke als Signal, sich herabzustürzen. Landet sie dabei auf der Haut des Tieres, leitet der Temperatursinn sie zu einer haarfreien Stelle, an der sie sich einbohrt und mit warmem Blut voll saugt. Das ist die Welt der Zecke und sonst gar nichts. Nach diesem einfachen Schema bauen sich die Welten aller Tiere auf, die gemäß ihrer Konstitution und ihrer Ausstattung mit Sinnesorganen aus einem komplexen Milieu ihre Umwelt gleichsam ›herausschneiden‹. Was nicht in den »Funktionskreis« ihrer »Merkmale« und »Wirkmale« fällt, existiert für sie nicht. Die Konstitutionsrelativität demonstriert von Uexküll besonders eindrucksvoll an der Erfahrung von Raum und Zeit, denen er Objektivität abspricht. Was für die Tiere gilt, trifft nach von Uexkülls Meinung auch für die Menschen zu, die sich einer anthropozentrischen Illusion hingeben, wenn sie ihre Weltsicht für die einzig wahre und objektive halten.

Maschine und Maschinist Aus der Rekonstruktion der Korrelation von Organismus und Umwelt zieht von Uexküll den Schluss, dass Lebewesen nicht als Maschinen betrachtet werden können. Gegen die sich am Reflexbogenmodell ori184 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Umwelten der Tiere und Welt des Menschen

entierenden Physiologen macht er geltend, dass für den Biologen »jedes Lebewesen ein Subjekt ist, das in einer eigenen Welt lebt, deren Mittelpunkt es bildet«. Subjektsein heißt für ihn, ein »Maschinist sein«, d. h. eine Instanz, die merkt und wirkt und daher »Merkzeichen und Impulse oder ›Wirkzeichen‹ besitzt« (24). Das sieht nach dem cartesischen Mythos vom ›Geist in der Maschine‹ aus, den später Gilbert Ryle vom behavioristischen Standpunkt aus kritisiert hat. Aber von Uexküll ist vom Behaviorismus nicht so weit entfernt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Subjektsein heißt für den Biologen, ein Nervensystem besitzen, durch das Sinneseindrücke in Zeichen verwandelt werden. Das Gehirn als Konzentration »kleiner Zellmaschinisten« fügt die Zeichen zusammen, die als Eigenschaften der Umwelt gedeutet werden. Von Uexküll interpretiert die Einführung des subjektiven Standpunkts in die biologische Betrachtung philosophisch als »endgültigen Anschluss« (30) der Biologie an Kants transzendentalen Idealismus, der in dem Satz gipfelt, dass der menschliche Verstand der Natur die Gesetze vorschreibt. Sachlich richtiger wäre es allerdings, umgekehrt vom Anschluss des kantischen Apriorismus an die Biologie zu sprechen. Denn was von Uexküll durchführt, ist unverkennbar eine Naturalisierung der Erkenntnistheorie. An die Stelle des reinen Subjekts der Erkenntnis tritt die körperlich-geistige Konstitution der Lebewesen, die optimale Anpassung an den Lebensraum ermöglicht. Diese Betrachtungsweise kommt einer funktionalen Umdeutung der Kantischen Kategorienlehre gleich. Sie besitzt den Vorteil, dass die Kant umtreibende Frage nach der Realität der Naturgesetze gar nicht auftaucht, Die funktionale Betrachtung lässt keinen Hiatus zwischen Subjekt und Welt entstehen. Beide sind durch Merk- und Wirkschemata unauflöslich miteinander verbunden.

Das Weltbild der Ambe Der Realismus der Umweltlehre lässt sich an einem Gedankenexperiment verdeutlichen, das der Sprachphilosoph Fritz Mauthner in seinen Beiträgen zu einer Kritik der Sprache (1901/02) anstellt. Er geht der Frage nach, wie ein einfacher Organismus, etwa eine Amöbe, die Welt erlebt. Das »Weltbild der Amöbe« eröffnet überraschende Einsichten. Als Einzeller ohne distanzierende Motorik und ohne objektivierende 185 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

Sinnesorgane ist die Amöbe der Wirklichkeit am nächsten, ohne mit ihr identisch zu sein: »Was ist das Weltall für die Amöbe? Für den Menschen ist es die Kombination der Wahrnehmungen seiner Zufallssinne, Sinneserscheinung. Was ist das Weltall für die Amöbe, die unsere Sinne nicht hat? Wir wissen es natürlich nicht, weil wir uns von dem Innenleben der Amöbe keine Vorstellung machen können. Nun vollzieht sich aber in unserer Phantasie ein Paradoxon. Ohne kantische Philosophie zu Hilfe zu nehmen, gewinnen wir die Vorstellung, dass die Wirklichkeitswelt im Zuschauer sich selbst umso unähnlicher erscheine, als die Sinnesorgane höher entwickelt sind. Und weil wir der Amöbe gar kein Sinnesorgan zuschreiben, gerade darum beschleicht uns so etwas wie eine Ahnung, dass sie die Wirklichkeitswelt richtiger wahrnehme, dass für sie das Ding-an-sich unmittelbar, ich will nicht sagen wahrnehmbar, aber doch wirksam sei« (Bd. 1, 388 f.). Die Nähe zur Wirklichkeit resultiert aus dem Fehlen distanzierender Sinne. Die Amöbe ist als Protoplasma-Klümpchen lediglich durch eine Membran von der Umwelt getrennt. In ihrer relativen Strukturlosigkeit ist sie vom selben Stoff wie die Wirklichkeit, die sie wahrnimmt. Zwischen Subjekt und Objekt, sofern man in diesem Fall überhaupt davon sprechen kann, besteht nur eine dünne, durchlässige Scheidewand, so dass die Amöbe alle Veränderungen ihrer Umwelt am eigenen Leibe direkt zu spüren bekommt. Vor diesem Hintergrund gewinnt Karl R. Poppers scherzhaft klingende Frage nach dem Unterschied zwischen der Amöbe und Einstein ihren tieferen erkenntnistheoretischen Sinn in der Bestätigung der realistischen Weltansicht, die Popper für die einzig menschliche hält: »Die Amöbe flieht vor der Falsifikation: Ihre Erwartung ist ein Teil von ihr, und vorwissenschaftliche Träger von Erwartungen und Hypothesen werden oft durch die Widerlegung der Hypothese vernichtet. Einstein dagegen hat seine Hypothese objektiviert. Die Hypothese ist etwas außerhalb von ihm; und der Wissenschaftler kann seine Hypothese durch seine Kritik vernichten, ohne selbst mit ihr zugrunde zu gehen. In der Wissenschaft lassen wir unsere Hypothesen für uns sterben« (Alles Leben ist Problemlösen, 25 f.). Der Falsifikationismus ist die methodische Form des Realismus, der Einstein und die Amöbe miteinander verbindet, die als organische Wesen beide ein Teil der Natur sind, in der sie sich bewegen und die sie wahrnehmen. So sehr die biologische Betrachtung das menschliche Erkennen der Wirklichkeit wieder näher bringt, es bleibt doch die Frage, ob der 186 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Umwelten der Tiere und Welt des Menschen

uexküllsche Subjektbegriff genügt, um die Sonderstellung des Menschen verständlich zu machen. Während das Tier vollständig in seiner Umwelt aufgeht, nimmt der Mensch über das praktische Problemlösen hinaus eine distanzierte Stellung ein, die es ihm erlaubt, verschiedene Umwelten miteinander zu vergleichen und einen allgemeinen Weltbegriff zu bilden, der die von jeder Erkenntnis unabhängige Realität bezeichnet. Wie es zu dieser distanzierten Einstellung gekommen ist, lässt sich mit der Höherentwicklung der Sinnesorgane und des Gehirns allein nicht erklären. Hier bedarf es einer spezifisch menschlichen Grunderfahrung, die das funktionale Umweltschema der Tiere sprengt.

Biologische Bedeutungslehre Einen Weg zur spezifisch menschlichen Grunderfahrung bahnt die Einführung des Bedeutungsbegriffs. Die Einbettung des Tieres in seine Umwelt beschreibt von Uexküll als Bedeutungsbildung, wobei »Bedeutung« die Beziehung darstellt, die der Funktionskreis zwischen Tier und Milieu herstellt. Die ›herausgeschnittene‹ Umwelt ist ein Bedeutungsträger, der es dem Tier ermöglicht, sich in seiner Umgebung zu orientieren und zu behaupten. Die Orientierung bezieht sich auf einen kleinen Ausschnitt, dem der Organismus optimal angepasst ist, was darüber hinaus liegt, ist »pessimal«, d. h. die »denkbar ungünstige Welt«, die von außen in die Umwelt hereinbricht und der auch die bestangepassten Tiere hilflos ausgeliefert sind (Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, 29). Es ist der Fußtritt, der den Käfer zerquetscht, der Waldbrand, der die Zecken vertilgt, die Meereswoge, die Quallen an den Felsen schleudert. Von Uexküll hat diese Perspektive seiner »Streifzüge« später zu einer selbständigen Bedeutungslehre (1940) ausgebaut, die in vielen Punkten dem nahe kommt, was in der Logik heute ›Situationssemantik‹ heißt. Er geht von den »unbedingten Bedeutungen« aus, d. h. von den Bedeutungen, die in den für das Überleben unverzichtbaren Funktionen wie der Nahrungsaufnahme liegen. Er erweitert aber den Funktionskreis zu einem Kreis bedingter Bedeutungen, die er durch den Begriff der biologischen Form zu bestimmen versucht. Er unterscheidet zwischen »Formbildungsplan« und »Bedeutungsplan«, zwischen »Formbildungsregel« und »Bedeutungsregel« und kommt zu dem Schluss, 187 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

dass es »nur die Regel der Formbildung als Ganzes« sein kann, »die in Abhängigkeit von der Bedeutungsregel tritt« (128). Von Uexküll verfolgt die Bedeutungsbildung bis in die molekularbiologische Dimension und spricht von einer »Klaviatur von Reizkörperchen, den so genannten Genen« (151), deren Wirksamkeit für den Aufbau des Organismus er informationstheoretisch im Sinne der Struktur beschreibt, die wir heute ›genetischen Code‹ nennen. Für die Kommunikation der Tiere untereinander, die in jeweils geschlossenen Umwelten leben, zieht er folgendes Fazit: »Lassen wir die Umwelten vor unserem geistigen Auge Revue passieren, so finden wir in den Gärten, die die Körperhäuser der Subjekte umgeben, die wunderlichsten Gestalten, die als Bedeutungsträger dienen, deren Deutung oft große Schwierigkeiten bietet. Man erhält dadurch den Eindruck, dass die Bedeutungsträger Geheimzeichen oder Symbole darstellen, die nur von den Individuen der gleichen Art verstanden werden, für die Mitglieder fremder Arten aber völlig unverständlich bleiben« (157). Von Uexküll versteht seine Bedeutungslehre als Überwindung der mechanistischen Auffassung des Lebens, die durch die Selektionstheorie Darwins eine beträchtliche Stärkung erfahren hatte. Gegen die mechanistischen Metaphern führt er die Leitmetapher der musikalischen Komposition ein, um die Struktur der Bedeutungskreise zu explizieren. Die Begriffe »Form« (131) und »Kontrapunkt« (145) spielen dabei eine zentrale Rolle. Sicherlich ist diese Metaphorik nicht ungefährlich, da sie einer vitalistischen Metaphysik Vorschub leistet. So kann es denn auch nicht überraschen, dass von Uexküll das »Verhältnis vom Menschen zur Gottnatur« als Mysterium begreift, das mit den Mitteln der »völlig unzureichenden Mathematik« (146) nicht geklärt werden kann. Das sollte aber nicht blind dafür machen, dass diese Vorstellungen im postanalytischen Denken unter dem Einfluss der Informatik und der Molekularbiologie in unerwarteter Weise wieder zur Geltung kommen. Als Beispiel sei hier das bekannte Buch Gödel, Escher, Bach von D. R. Hofstadter genannt, der im Rahmen der KI-Forschung genau das formalisiert, was nach von Uexküll sich der mathematischen Darstellung grundsätzlich entzieht. Natürlich hat auch die KI das Rätsel des Geistes nicht gelöst, so dass auch hier Metaphern einspringen müssen, wo Formeln fehlen. Die Metaphern der KI aber sind bei Hofstadter die gleichen wie bei von Uexküll.

188 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Kritik an der Umweltlehre Von Uexkülls Umweltlehre hat die biologische Basis der Philosophischen Anthropologie erweitert. Dazu ist zu bemerken, dass sein Begriff sich nicht mit dem ökologischen Umweltbegriff deckt, der heute gebräuchlich ist. Während von Uexküll Umwelt noch relativ statisch als Ausschnitt oder Prägung durch die Konstitution eines bestimmten Lebewesens definiert, legt die ökologische Definition das Gewicht auf Lebensgemeinschaften in Wechselwirkung mit ihrer Umgebung. Da von Uexküll die soziale Dimension weitgehend unberücksichtigt lässt, gelingt es ihm nicht, den menschlichen Weltbegriff von der tierischen Umwelt abzugrenzen. Zwar leben auch Tiere in sozialen Verbänden, aber ihnen fehlt die Intersubjektivität, die zwei Subjekte über den Funktionskreis hinaus dauerhaft verbindet. Die Verbindung erfolgt nach dem Schema des Eros, das die jedem Subjekt anhaftende Umwelt zur Welt erweitert. Von Uexküll bedient sich in seiner Theoretischen Biologie (1928) in Anlehnung an Kants Schematismus-Lehre zwar auch des Schema-Begriffs, um die Einheit des Umweltbildes zu erklären, aber dieses bleibt doch ein in sich geschlossenes System, aus dem das Subjekt nicht herausspringen kann. ›Welt‹ unterscheidet sich von ›Umwelt‹ durch ihre Offenheit, wobei Offenheit in zweierlei Hinsicht zu verstehen ist. Dafür stehen zwei prominente Kritiker der uexküllschen Umweltlehre, der holländische Physiologe und Psychologe F. J. J. Buytendijk sowie Adolf Portmann. Buytendijk versteht unter Offenheit der Welt, dass der Mensch nicht wie das Tier in einer nur ihm zugänglichen Umwelthöhle lebt, sondern in einer allen Menschen gemeinsamen Welt. Ihr gegenüber kann jeder Mensch seinen eigenen Standpunkt wählen, ohne dadurch den Kontakt zu den Welten der Mitmenschen zu verlieren. Buytendijk weist daher von Uexkülls Vergleich zwischen der Art, wie Tiere und wie Menschen den gleichen Gegenstand erleben, mit scharfen Worten zurück: »Dieser Vergleich ist völlig verfehlt. Der Mensch hat keine Umwelt, sondern eine Welt. Dieser Welt gegenüber wählt er einen Standpunkt. Diese Wahl ist nicht vollständig frei, sondern diese Freiheit ist durch die persönliche Leiblichkeit, die jeweilige Situation und die geschichtlichen, die früheren Entscheidungen, die Interessen, die Neigungen, die Intentionen beschränkt. Die Welt ist dem Menschen nicht nur als eine tierische, artspezifische Umwelt in Relation zum Bauplan der Merk- und Wirkorgane gegeben und relativ zur jeweiligen Gestimmtheit. Der 189 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Mensch existiert nicht nur empfindend und handelnd wie das Tier, sondern auch erkennend und leistend. Die Welt ist im Unterschied zur Umwelt des Tieres eine gegenständliche, sie ist nicht nur eine arttypisch erscheinende, sondern eine seiend-erscheinende Welt. Diese Welt ist dem Menschen Gabe und Aufgabe, die er versteht und aus freier Initiative beantwortet« (Mensch und Tier, 41). Die Kritik, die Adolf Portmann an von Uexkülls Umweltbegriff übt, betont einen anderen Aspekt der menschlichen Weltoffenheit. Als Morphologe ist Portmann von der Formenvielfalt der menschlichen Erlebniswelten beeindruckt, so dass Offenheit der Welt für ihn die Möglichkeit bedeutet, von einer Erscheinungswelt in die andere überzuwechseln. Das entspricht Portmanns Auffassung vom Menschen als Selbstdarsteller, der in der Lage ist, im »Lebensspiel« verschiedene »Rollen« zu spielen. Was sich auf der »Lebensbühne« abspielt, ist für Portmann keineswegs bloßer Schein, der durch den mathematisch-naturwissenschaftlichen Blick hinter die Bühne aufgelöst wird, sondern es ist die einzige und eigentliche Wirklichkeit, in der die Menschen leben.

Zwischen Biologie und Anthropologie Im Zeichen des spezifisch menschlichen offenen Weltbegriffs hat auch Arnold Gehlen seine Lehre vom Menschen als handelndem Wesen entwickelt. Die epochale Bedeutung seiner Anthropologie beruht darauf, dass er den Übergang vom Menschen als Naturwesen zum Kulturwesen als biologisch und logisch zwingende Entwicklung darstellt, die in seinem bekannten Satz vom Menschen, der von Natur aus ein Kulturwesen ist, ihren Ausdruck findet. Schelers »Weltoffenheit« entfaltet Gehlen in einer differenzierten Handlungslehre, wobei sich »Handlung« von den spezifisch menschlichen Formen der Bewegung bis zu den symbolischen Formen sprachlicher Kommunikation in »elementaren Kreisprozessen« vollzieht, die eine Distanzierung und Objektivierung zur Folge haben. Auf der Subjektseite entsteht »ein entfremdetes Selbstgefühl der eigenen Bewegungen« (Der Mensch, 134), auf der Objektseite das, was Gehlen »Verfügbarkeit« der Dinge nennt (177). Die Offenheit der menschlichen Welt sieht Gehlen demnach in den durch »kommunikatives Handeln« sich vollziehenden Aufbauprozessen, die nie zum Abschluss kommen, die aber dem menschlichen Leben 190 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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relative Stabilität und Orientierung bieten. Voraussetzung für die symbolisch-pragmatische Konstruktion der menschlichen Welt ist eine entwicklungsbiologische Hypothese über den Unterschied zwischen tierischer und menschlicher Konstitution, die unter dem Stichwort »Mängelwesen« bekannt geworden ist. Sie besagt, dass der Mensch als instinktunsicheres und unangepasstes Tier dazu verdammt ist, seine biologische Mittellosigkeit durch Eigentätigkeit zu kompensieren. Dieser Ansatz ist bei darwinistisch denkenden Biologen auf Widerspruch gestoßen. Vom Verhaltensforscher Konrad Lorenz musste sich Gehlen sagen lassen: »Das ist nicht biologisch gedacht – ein unangepasstes Wesen gibt es nicht oder nur als zum Untergang verdammtes, Letalfaktoren-behaftetes Einzelwesen. Auch übersieht Gehlen, dass das Gehirn in seiner gewaltigen Größe eine sehr greifbare morphologische Spezialanpassung darstellt« (Vom Weltbild des Verhaltensforschers, 69). Das heißt aber nicht, dass Lorenz die Sonderstellung des Menschen leugnet. Er gibt dafür nur eine andere, biologisch überzeugendere Erklärung: »Ein Wesen mit ausgesprochen spezialisierten morphologischen Anpassungen hätte nie zum Menschen werden können. Vielleicht sehen wir die Bedeutung eines Fehlens von speziellen Anpassungen klarer, wenn wir den Standpunkt wechseln und die Vielseitigkeit des nicht speziell angepassten Lebewesens ins Auge fassen« (69). Lorenz hat dafür die Formel von der »Spezialisation auf Nichtspezialisiertsein« geprägt und hinsichtlich der menschlichen Weltoffenheit folgenden Schluss gezogen: »Alle höheren Wirbeltiere, die Kosmopoliten sind, sind typische unspezialisierte Neugierwesen – und zu ihnen gehört zweifellos auch der Mensch. Auch er baut durch eine aktive, dialogische Auseinandersetzung mit seiner außerartlichen Umgebung seine Bedeutungswelt auf und kann sich dadurch an so verschiedene Milieubedingungen anpassen, dass manche Autoren der Meinung sind, von einer eigentlichen Umwelt des Menschen, im uexküllschen Sinne, könne gar nicht mehr gesprochen werden« (73). Lorenz selbst geht nicht so weit, da er als Biologe und Verhaltensforscher, der sein Leben mit Graugänsen verbracht hat, keinen prinzipiellen, sondern lediglich einen graduellen Unterschied zwischen tierischer Umwelt und menschlicher Welt sieht. Das verbindende Glied liegt für ihn in der Neugierde, die der Mensch anders als die Tiere über die Jugend hinaus behält. Die für den Menschen konstitutive Weltoffenheit interpretiert Lorenz folglich als »persistierendes 191 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Jugendmerkmal« und setzt sich damit von Gehlen ab: »Dass Gehlen, der in seinem Buch doch die körperlichen Neotenie-Erscheinungen ausführlich abhandelt, den engen Zusammenhang zwischen Neotenie und persistierender Neugier nicht sah, beruht nur darauf, dass er das Neugierverhalten junger ›Spezialisten auf Nichtspezialisiertsein‹ nicht kannte und meinte, das Tier lerne nur unter dem Druck unmittelbaren biologischen Zwanges, wie viele Erforscher des bedingten Reflexes zu jener Zeit behaupteten. Alles rein sachliche Forschen des wissenschaftlichen Menschen ist echtes Neugierverhalten, ist Appetenzverhalten im entspannten Feld – und in diesem Sinne Spiel!« (Über tierisches und menschliches Verhalten II, 242). Mit dieser Einschätzung wird Lorenz dem biologischen Sachverhalt gerechter als Gehlen. Die Frage bleibt allerdings, ob damit der Übergang zur Weltoffenheit schon hinreichend erklärt ist. Vieles im menschlichen Weltbezug deutet darauf hin, dass die Sexualität hier die entscheidende Rolle spielt. Lorenz betont selbst, dass die Sachlichkeit des Neugierverhaltens nicht auf die Appetenz zur Nahrungsaufnahme zurückgeführt werden kann (235). Die sexuelle Neugierde bleibt auch dann erhalten, wenn im Augenblick kein dringender Bedarf an Befriedigung besteht. Auch das Persistieren des schöpferischen Experimentierens lässt sich auf die lebenslange Entperiodisierung der Sexualität beim Menschen zurückführen. Immerhin weist Lorenz, wenn auch kulturkritisch, auf die »Dissoziation von Liebe und Begattung« (245) hin, um die spezifisch menschliche Weltoffenheit zu illustrieren. Insofern bietet es sich an, die menschliche Weltoffenheit als Ausweitung der sexuellen Neugierde hinzustellen. Für das In-der-Welt-Sein des Menschen ergibt sich daraus die Folgerung, dass der Eros das Medium bildet, in dem sich der Mensch zwischen Gott und Tier artikuliert. Helmuth Plessner hat das so formuliert: »Zwischen Tier und Engel gestellt, ein Zwitterwesen, verrät der Mensch in seiner Weltoffenheit ein typisches Zurückbleiben hinter den Möglichkeiten, durch die er über jede Umweltbindung von vornherein hinausreicht: ein die Tierheit hinter sich lassendes Tier« (Conditio Humana, 68). Die mediale Existenz des Menschen ist keineswegs komfortabel. Sie ist immer bedroht und bedrohlich, sie ist zugleich aber auch immer hoffnungsvoll und tröstlich. Wo kommen Bedrohung und Hoffnung her? Plessner stellt klar, dass die Weltoffenheit des Menschen auf den aufrechten Gang, die Dominanz des Auge-Hand-Feldes sowie die Überhöhung des Auge-Hand-Feldes durch die Sprache zu192 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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rückzuführen ist. Aber auch in dieser Erklärung bleibt eine Lücke. Es ist das Schema des Eros, das dem Logos des menschlichen Weltbegriffs zum Durchbruch verhilft. In welche Richtung der Eros die biologische Betrachtung weitertreibt, dafür finden sich Hinweise bei einem anderen großen Vertreter der Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts, dessen Bekanntheit und Wirkung allerdings nicht mit der von Arnold Gehlen vergleichbar ist. Gemeint ist Erich Rothacker, der sich mit Konrad Lorenz in der Rückbindung der Anthropologie an die Biologie trifft. In seinem Buch Probleme der Kulturanthropologie (1942) sowie in seinen Vorlesungen über Philosophische Anthropologie (1964) wendet sich Rothacker gegen die Opposition von tierischer Umwelt und menschlicher Welt und vertritt die These, dass der Mensch sowohl umweltgebunden als auch weltoffen lebt. Auch Rothacker begreift den Menschen als handelndes Wesen, deutet menschliches Handeln aber nicht wie Gehlen als »kommunikative Bewegungen«, die eine Außenstabilisierung in Form von gesellschaftlichen Institutionen schaffen, sondern als Formungs- und Stilisierungsprozesse, die hinter dem Rücken der intentionalen Handlungen und Entscheidungen eine Innenstabilisierung bewirken. Rothacker, dessen Denken stark vom Pragmatismus geprägt ist, arbeitet mit dem Begriffspaar »Handlung – Haltung«, die immer in Korrelation zueinander betrachtet werden müssen. Haltungen oder Lebensstile bilden den kulturell bedingten Rahmen, in dem sich menschliches Handeln vollzieht. Aus diesem Rahmen kann laut Rothacker niemand herausspringen, und darin liegt das kulturelle Analogon zur tierischen Umweltgebundenheit.

Erkenntnis und Interesse Welches Potential im Weltbegriff für das Selbstverständnis des Menschen liegt, lässt sich exemplarisch an der Art ablesen, wie Jürgen Habermas auf die Entwicklung der Anthropologie im 20. Jahrhundert reagiert. Im Artikel Anthropologie für das von Helmuth Plessner eingeleitete Fischer-Lexikon Philosophie (1958) stellt Habermas Arnold Gehlen und Erich Rothacker als die zwei bedeutendsten Exponenten der Philosophischen Anthropologie gegenüber. Er würdigt die Leistungen beider, gibt aber Rothacker, bei dem er 1958 mit einer Arbeit über Schelling promoviert hat, den Vorzug. Denn mit dem Kulturbegriff 193 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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befreie sich Rothacker vom Naturalismus Gehlens, der in der Institutionenlehre seine »gesellschaftlich-repressive Entsprechung« finde. Schon in diesem Anthropologie-Artikel ist erkennbar, dass Habermas mit dem Begriff ›Gesellschaft‹ ein neues Element in die anthropologische Reflexion einführt. Damit geht Habermas auf Distanz zu Rothacker, indem er Kultur zur Sphäre der Gesellschaft rechnet und die These aufstellt, dass Philosophische Anthropologie in dem Maße kritisch wird, wie sie sich als Theorie der Gesellschaft und der Geschichte versteht. Sicherlich lässt sich der Begriff des Menschen durch den Begriff der Gesellschaft erläutern und damit die Gefahr einer Naturalisierung des Normativen verringern. Aber damit ist noch nicht der archimedische Punkt gefunden, den die Philosophische Anthropologie braucht, um die exzentrische Position des Menschen zu erklären. Daher kann man nicht sagen, Habermas habe den anthropologischen Standpunkt überwunden. Er hat allenfalls die Flucht aus der Anthropologie angetreten, weil er der Gefahr des Naturalismus entgehen wollte. Die Flucht aus der Anthropologie führt Habermas in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung Erkenntnis und Interesse (1965) zur Idee einer kritischen Wissenschaft, die durch Selbstreflexion vor dem Objektivismus geschützt sein soll. Als Leitfaden dient ihm der Begriff des Interesses, mit dem Rothacker die Umweltverbundenheit des Menschen bezeichnet. Rothacker geht davon aus, dass Erkenntnis der Wirklichkeit immer aus konkreten »Interessenahmen« hervorgeht. Nur perspektivische Einstellungen erschließen den Gehalt der Dinge, Theorien erschöpfen sich in der Formalisierung der aus dem konkreten Umgang mit den Dingen gewonnenen Inhalte. Rothacker nennt das die »Unentbehrlichkeit der dogmatischen Denkform«, die ihn dazu führt, Erkenntnistheorie nur noch als Kulturanthropologie zuzulassen. Der Versuch, die Verschiedenheit historischer Perspektiven mit dem Anspruch der Wissenschaft auf Wahrheit zu versöhnen, führt Rothacker zu der Unterscheidung zwischen einer nie restlos erschließbaren Wirklichkeit und dem Wechsel der Weltbilder, die lebenspraktisch bedeutsame Aspekte »herausartikulieren«. Das Verhältnis von Allgemeingültigkeit und Konkretheit hebt Rothacker aber nicht wie Hegel in der Dialektik der geschichtlichen Bewegung auf, sondern es mündet in einem perspektivischen Pluralismus, der dem Fiktionalismus Nietzsches nahe steht. Von Rothacker, der die alle Theorie fundierende »Interesse194 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Umwelten der Tiere und Welt des Menschen

nahme« triebtheoretisch interpretiert und mit perspektivischer Anschaulichkeit gleichsetzt, unterscheidet sich Habermas darin, dass er Interesse primär handlungstheoretisch auffasst. Nach Graden der Freiheit unterscheidet er zwischen zwei Arten von »erkenntnisleitenden« Interessen: naturwüchsige und emanzipatorische. Das emanzipatorische Interesse sei identisch mit Selbstreflexion und äußere sich in der Sprache. Hier wird der Versuch gemacht, das naturale Fundament der Erkenntnis ohne Naturalismus zu formulieren.

»Interesse« interessiert noch immer So sehr sich Habermas mit der Trennung von Trieb und Interesse, das immer schon ein kognitives Moment intersubjektiver Verständigung enthält, auf der Metaebene der Reflexion vor den Gefahren des naturalistischen Fehlschlusses in Sicherheit wähnt, so bleibt doch die Frage: Kommt verständigungsorientierte Kommunikation ohne eine anthropologische Reaktionsbasis aus? Lassen sich das Sinnverlangen und der Selbsterhaltungswille des Individuums ganz in kommunikative Rationalität auflösen? Anders als Hans Blumenberg, der sich mit der Genealogie der theoretischen Neugierde begnügt, hat sich Habermas mit dem Interessebegriff eine Last aufgebürdet, die ihn immer noch bedrückt. Das geht aus der Wiederaufnahme des Themas »Erkenntnis und Interesse«, das von den meisten Interpreten als erledigt angesehen wurde, in seiner Aufsatzsammlung Wahrheit und Rechtfertigung (1998) hervor. Habermas versucht dort, die offen gebliebenen Fragen des Wahrheitsbegriffs nun auf sprachlogischem Wege zu lösen. Aber damit bleibt wieder die anthropologische Dimension ausgespart, die das verständlich macht, was alle sprachanalytischen Argumentationskünste nicht lösen können: das Problem, wie Situationssemantik und absolute Geltungsansprüche zur Deckung gebracht werden können. Die Verbindung von Erkenntnis und Interesse, welche die theoretische Einstellung aus ihrer Isolierung befreien soll, gelingt nur, wenn man sich in jene Sphäre des menschlichen Lebens begibt, in der Erkenntnis und Interesse wirklich eine Einheit bilden: in der erotischen Liebe. Das Schema des Eros, das zugleich bindet und frei macht, ermöglicht die Entwicklung eines neuen Begriffs von Interesse, der zu der von Habermas gesuchten Einheit von Theorie und Praxis führt. Interesse motiviert nicht nur zur Erkenntnis, es legt auch die Bedeutungen fest, 195 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

die sich in den Koordinaten von Hoffen und Fürchten bewegen und die in der Liebe extrem zutage treten. Wie keine andere Funktion gibt das Schema des Eros den Rhythmus von Zweifel und Überzeugung vor, der auch in den Methoden wissenschaftlicher Forschung seinen Niederschlag findet. Natürlich haben sich die Kategorien der wissenschaftlichen Erkenntnis vom lebensweltlichen Untergrund abgekoppelt, aber sie werden ihn doch nie ganz los. Nicht nur die Fundierung begrifflicher Erkenntnis in der Anschauung, sondern auch und vor allem die affektive Erwartungshaltung, von der keine Wissensform frei ist, müssen in der Rekonstruktion der Wissensbeschaffung berücksichtigt werden. Das trifft nicht nur für die Sozialwissenschaften zu, von denen Habermas ausgeht, es gilt auch für die allgemeine Wissenschaftstheorie einschließlich der mathematischen-naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden. Wie sich die Verwandtschaft von Eros und Interesse wissenschaftstheoretisch auswirkt, soll im folgenden Kapitel genauer unter die Lupe genommen werden.

196 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Kapitel 11: Interesse und erotischer Weltbegriff

Diesem Philosophen unterlief die kleine Ungeschicklichkeit, sein Grundprinzip »Interesse« zu nennen, anstatt es mit dem gefälligen Wort »Lust« zu bezeichnen. (Stendhal über Helvetius)

Der Begriff der Interessenahme, den Rothacker in die Anthropologie eingeführt hat, bringt eine bedeutsame Klärung des menschlichen Weltbegriffs. Welt ist nicht nur ein ›Gegebenes‹, dem der Erkennende fremd gegenübersteht, sondern hat als offener Horizont den Charakter eines Faszinosum, dem sich das Neugierwesen Mensch nicht entziehen kann. Das hat Hans Blumenberg in seinem Buch Der Prozess der theoretischen Neugierde (1973) eindrucksvoll belegt. Einen systematischen Schritt weiter ist Habermas mit seiner Identifikation von Erkenntnis und Interesse gegangen. Das von strategischen Interessen abgehobene »emanzipatorische Erkenntnisinteresse«, das an die »wahren« oder »wirklichen Interessen« des unentfremdeten Menschen bei Marx erinnert, hängt bei Habermas allerdings insofern in der Luft, als die Sprache allein den Menschen in seiner Welt nicht halten kann. Auch in der Sprache kommen Erkenntnis und Interesse nie ganz zur Deckung. Hegels idealistischer Begriff der Selbstreflexion lässt sich auf diesem Wege schwerlich aus dem Zirkel befreien, der darin liegt, dass die Wahrheit der Reflexion immer nur durch Reflexion gerechtfertigt werden kann. Um aus dem Zirkel herauszukommen, muss das Erkenntnisinteresse auf seinen Ursprung hin befragt werden. Interesse verweist auf Bedürfnisse, freilich auf eine besondere Art von Bedürfnissen, die den Menschen nicht wie der Hunger notwendig an sich ketten. Das führt auf die Sexualität als natürliches, aber nicht notwendiges Bedürfnis, das beim Menschen in Gestalt des Eros auftritt. Erkenntnisinteresse, so die These dieses Kapitels, hat ihren Ursprung im Eros. Daraus folgt, 197 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

dass das Schema des Eros auch die Struktur des Weltbegriffs bestimmt. Selbst als theoretisches Wesen, als Erkennender, ist der Mensch ein Produkt der erotischen Liebe, auch wenn das durch die Ablösung der Denkformen von ihrem lebensweltlichen Hintergrund nicht mehr sichtbar ist. Theoretische und erotische Einstellung, Logos und Eros, lassen sich auch unter den methodischen Bedingungen der mathematischen Naturwissenschaften basisanthropologisch nicht trennen.

Zum Bedeutungsspektrum des Interessebegriffs Die Strukturaffinität von Eros und Interesse tritt hervor, wenn man das semantische Spektrum des Interessebegriffs betrachtet. Zwei Bedeutungen überschneiden sich: Zum einen bezeichnet Interesse Einstellungen und Dispositionen, die der Selbsterhaltung des Individuums oder ganzer Gruppen entspringen. Interesse ist somit eine legitime Form des Egoismus; man spricht von ›berechtigten Interessen‹ auch dann, wenn Verhaltensweisen für andere eine Belastung sind. In dieser Bedeutung steht Interesse dem Bedürfnis nahe, nur handelt es sich um eine bewusste Ausübung von Bedürfnissen, ihre zweckrationale Artikulation. Dadurch lässt sich Interesse auch mit Erkenntnis verbinden, sofern man unter Erkenntnis Problemlösung versteht. Zum anderen bezeichnet Interesse eine Qualität von Gegenständen oder Situationen, die mit dem Adjektiv ›interessant‹ gemeint ist. Interessant ist etwas, das die Aufmerksamkeit der Menschen erregt, auch wenn es nicht unbedingt ihrem Selbsterhaltungsstreben entgegenkommt. Das Interessante ist daher im 18. Jahrhundert zu einer ästhetischen Kategorie geworden, deren spezifische Bedeutung sich im allgemeinen Sprachgebrauch allerdings weitgehend verflüchtigt hat. Das Bedeutungsspektrum macht Interesse zu einem Verhaltensoder Einstellungsmodus, der sich mit dem Schema des Eros verbinden lässt. Auch der Eros ist die Funktion eines Bedürfnisses, das aus seiner Triebhaftigkeit erlöst wird, ohne diese ganz zu verleugnen. Die Sublimierung des Geschlechtstriebs durch den Eros verändert auch die Gefühlsqualität. Die sexuelle Lust bekommt durch den Aufschub der Befriedigung eine neue Qualität, eine geistige Dimension. Kant hat die Lust am ästhetischen Gegenstand »interesseloses Wohlgefallen« genannt, um damit anzudeuten, dass es sich hier um ein Gefühl handelt, das nicht von der Wirklichkeit des ästhetischen Objekts abhängt, son198 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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dern allein von seiner vorgestellten Gestalt. Diese Verschiebung vom Wirklichkeits- zum Möglichkeitssinn entspricht dem erotischen Verhältnis, so dass man anders als Kant die gefühlte Zuwendung nicht als »interesselos«, sondern durchaus als interessiert bezeichnen kann. Das entspricht der Etymologie des lateinischen Wortes inter-esse: ›Dazwischen-Sein‹. Von der Neugierde unterscheidet sich Interesse durch die Dauer. Neugierde erlischt, sobald das Geheimnis gelüftet ist. Insofern ist die Neugierde junger Tiere sowie die Neugierde von Kleinkindern nicht identisch mit Interesse. Dieses entsteht erst mit der Pubertät und der daraus folgenden erotischen Beziehung. Insofern muss auch die Weltoffenheit des Menschen spezifiziert werden. Sie beschränkt sich nicht auf momentane Ansprechbarkeit, sondern beinhaltet die Fähigkeit, bei Dingen selbst dann zu verweilen, wenn sie das Interesse augenblicklich nicht unmittelbar ansprechen. Damit steht Interesse auf der Seite der Vernunft, die laut Kant selbst nicht fühlt, aber durch Einsicht in ihre Grenzen ein Gefühl des Bedürfnisses erzeugt. Die Vernunft erzeuge das Bedürfnis aber nicht aus sich selbst, sondern »durch den Erkenntnistrieb« (Akad. Ausg. VIII, 139). Damit kann hier nicht mehr die »reine Vernunft« gemeint sein, sondern die »rastlos treibende«, von der Kant in seiner anthropologischen Interpretation des Sündenfalls spricht.

Freuds »infantile Sexualforschung« Die klassische Darstellung der Entstehung des menschlichen Erkenntnistriebs aus der Sexualität hat Sigmund Freud in der zweiten seiner Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) gegeben. Er geht von einem »Wiss- oder Forschertrieb« aus, dessen zwei Seiten in der »Bemächtigung« sowie in der »Schaulust« liegen. Der Forscherdrang entspringe zwar nicht allein aus der Sexualität, diese sei aber an seiner Ausbildung maßgeblich beteiligt. Das belege das Verhalten der Kinder, die sich intensiv von sexuellen Problemen angezogen fühlen. Nach Freud richtet sich die kindliche »Forschertätigkeit« aber weniger auf das andere Geschlecht als vielmehr auf die Frage, woher die Kinder kommen. Die Dringlichkeit dieser Frage ergibt sich aus der zu erwartenden Konkurrenz durch das neugeborene Kind. Nur in diesem praktischen Zusammenhang wird es für das Kind zum Problem, was der 199 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Geschlechtsverkehr der Eltern bedeutet, dessen unfreiwilliger Zeuge das Kind gelegentlich ist. Die »kindlichen Sexualtheorien« beinhalten oft phantastische Konstruktionen, deren nicht lange ausbleibende Falsifikation zu einer »dauernden Schädigung des Wisstriebes« (GW VI, 95) führen kann. In diesem Zusammenhang weist Freud darauf hin, dass das Kind durch eine Beschäftigung mit der Sexualität sich von den ihm vertrauten Personen seiner Umgebung entfremdet: »Die Sexualforschung dieser frühen Kinderjahre wird immer einsam betrieben« (ebd.). So aufschlussreich die freudsche Betrachtung auch sein mag, seine Theorie beschränkt sich doch auf die kindliche Neugierde und reicht damit nicht an die theoretische Einstellung heran, die mit der Rede vom »Forschertrieb« gemeint ist. Die Beschränkung des freudschen Ansatzes liegt ersichtlich in seiner Theorie der frühkindlichen Sexualität, die keine echte Gegenstandsbeziehung erlaubt, da das Kind hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt ist. Sexuelle Neugierde bleibt somit narzisstisch, ihr fehlt die angemessene Hinwendung zur Person des Anderen. Daher führt kein direkter Weg von der kindlichen Neugierde zum Interesse. Den Durchbruch bringt erst die Sexualität der Erwachsenen, die sich wechselseitig als Lustobjekt und Lustsubjekt wahrnehmen. Erst in diesem Stadium verwandelt sich die anfängliche Neugierde in dauerhaftes Interesse am anderen Geschlecht. Interesse setzt ein exzentrisches personales System voraus, das den Horizont des isolierten Bewusstseins sprengt. Die Horizonterweiterung verändert die Struktur der Subjektivität, deren Zentrum sich in die Beziehung zum Geschlechtspartner verlagert. Es ist daher folgerichtig, dass sich Theorien der Entstehung des Erkenntnisinteresses nicht mehr an Freuds infantiler Sexualtheorie orientieren, sondern bei der sexuellen Partnerorientierung ansetzen. Das soll noch einmal an einer anthropologischen Lesart des biblischen Sündenfalls demonstriert werden.

Adams Interesse an Eva »Als Adam und Eva die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse aßen, so sagt die Bibel, wurden sie in andere Wesen verwandelt, die nie mehr zu ihrer ursprünglichen Unschuld zurückkehren sollten. Vor dem ›Sündenfall‹ kam ihre Erkenntnis der Welt in ihrer Nacktheit zum Ausdruck. In ihrer Nacktheit bewegten sie sich in der Unschuld 200 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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des bloßen Kennens. Nach dem ›Sündenfall‹ wussten sie, dass sie nackt waren; sie wussten, dass sie wussten, sie erkannten, dass sie kannten« (263). In diesen Sätzen fassen die chilenischen Neurobiologen Maturana und Varela in Der Baum der Erkenntnis (1984) ihre Rekonstruktion der Erkenntnis als biologisches Phänomen zusammen. Gegen den Objektivismus der Abbildtheorie führen sie den Übergang zum menschlichen Erkennen auf Prozesse rekursiver Koppelung zurück, die auf allen Ebenen der Entwicklung von der Zelle bis zum sozialen Verhalten nach dem gleichen Muster ablaufen. In der sozialen Interaktion wird der Sprache ein herausragender Platz eingeräumt. Aber tiefer als die Sprache reicht die Liebe, von der die Autoren sagen: »Liebe ist eine biologische Dynamik mit tiefreichenden Wurzeln. Sie ist eine Emotion, die im Organismus ein dynamisches strukturelles Muster definiert, einen entscheidenden Weg zu Interaktionen, die zu den operationalen Kohärenzen des sozialen Lebens führen« (266). Das gemeinsame Muster von sozialer Strukturkoppelung und kognitiver Zirkularität, die es dem Menschen ermöglicht, zusammen mit anderen eine Welt hervorzubringen, liegt im Schema des Eros. Das Weltverhältnis des Menschen hat seinen Grund also nicht im isolierten Subjekt, dessen Funktion Kant in seinen Reflexionen so beschreibt: »Das Ich ist das Original aller Objekte«. Unter dem Ich versteht Kant im Sinne der kartesischen Tradition das »Ich denke«, ein für die Erkenntnistheorie hinreichender, für die Anthropologie aber zu enger Ausgangspunkt. Ersetzt man das denkende Ich durch das sinnliche Ich, so kommt automatisch die erotische Beziehung ins Spiel. Jetzt steht der Eros aber nicht nur für Intersubjektivität, sondern zeigt eine andere Seite: die Interobjektivität. Rekursive Kopplung schafft Muster, nach denen das Weltverhältnis des Menschen aufgebaut ist. Wenn nun der Eros Objektivität ermöglicht, ohne die Subjektivität auszuschalten, dann ergibt sich für die Erkenntnis ein Schema, das vom traditionellen Subjekt-Objekt-Dualismus abweicht: die rekursiven Beziehungen von Nähe und Distanz, in denen sich sexuelle Lust zum Interesse verdichtet. Hier sei noch einmal an die Transformation des tierischen Reiz-Reaktions-Schemas in das dreigliedrige Schema des Eros erinnert, dessen Funktion Ernst Cassirer im Anschluss an von Uexkülls Umweltlehre so beschreibt: »Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die uns bei allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als ›Symbolnetz‹ oder Symbolsystem bezeichnen können. Diese eigentümliche Leistung ver201 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

wandelt sein gesamtes Dasein, […] er lebt sozusagen in einer neuen Dimension der Wirklichkeit. Es besteht ein unverkennbarer Unterschied zwischen organischen ›reactions‹ (Reaktionen) und menschlichen ›responses‹ (Antwort-Reaktionen). Im ersten Fall wird direkt, unmittelbar eine Antwort auf einen äußeren Reiz gegeben; im zweiten Fall wird die Antwort aufgeschoben. Sie wird unterbrochen und durch einen langsamen, komplexen Denkprozess verzögert« (Versuch über den Menschen, 48). Im letzten Satz setzt Cassirer allerdings das zur Erklärung ein, was erklärt werden soll: den Denkprozess. Um den Zirkelschluss zu vermeiden, muss nach einem anderen Grund für die Verzögerung gesucht werden. Er liegt in der Natur der sexuellen Lust, die nicht auf Erfüllung angewiesen ist, sondern sich durch Verdichtung selbst erhält.

Physiologie des Interesses Physiologisch geht der Eros auf zwei entwicklungsgeschichtlich bedeutsame Faktoren zurück: Entperiodisierung der Sexualität sowie Frontalstellung als Normalform der Begattung. Die Aufhebung fester Fortpflanzungszyklen, an die die Sexualität der Tiere gebunden ist, wird in der anthropologischen Literatur schon früh als Voraussetzung der menschlichen Freiheit interpretiert. Speziell auf das Erkenntnisproblem bezogen, besteht die Freiheit in der Eröffnung zeitlicher Spielräume. Der Mensch kann warten, bis die Gelegenheit günstig ist, und er kann es immer wieder versuchen. Diese Entlastung vom Zeitdruck der periodischen Sexualität ist eine unerlässliche Voraussetzung für eine distanzierte Einstellung gegenüber den Objekten der Begierde, zu denen auch die Gegenstände der Erkenntnis gehören. Nicht weniger bedeutsam für die Entstehung einer rein theoretischen Einstellung ist die Frontalstellung bei der Begattung, die den aufrechten Gang zur Voraussetzung hat. Den Weg dahin zeigen die Anthropoiden. Konrad Lorenz hat in seinen Versuchen zur Naturgeschichte menschlichen Erkennens mit Nachdruck auf diesen Punkt hingewiesen: »Als Greifhandkletterer besitzen sie eine hohe Ausbildung der Einsicht und der Fähigkeit zur zentralen Repräsentation des Raumes sowie eine hohe Ausbildung der Willkürbewegung. Dazu kommt, dass bei ihrer besonderen Bewegungsart die greifende Hand dauernd im Gesichtsfeld des Tieres agiert. Dies ist bei den meisten Säugetieren, einschließlich vieler 202 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Affen, nicht der Fall. Ein Hund tritt mit der Vorderpfote auf eine Stelle, die er soeben, Bruchteile von Sekunden früher, gesehen hatte, sein eigener Körper kommt ihm bei seiner Lokomotion nicht ins Gesichtsfeld; auch bei den Meerkatzen, den Makaken und den Pavianen ist dies nur wenig anders. Der bedächtig kletternde Menschaffe aber sieht seine Hand fast dauernd gleichzeitig mit dem Gegenstand, den er zu ergreifen im Begriffe ist, und dies gilt ganz besonders beim nicht-lokomotorischen, sondern explorierenden Greifen« (Die Rückseite des Spiegels, 193). Infolge des aufrechten Gangs wird die Hand des Menschen noch freier, so dass aus dem Greifen ein Begreifen werden kann: »In dem Augenblick, in dem unser Ahne zum ersten Mal die eigene, greifende Hand und den von ihr ergriffenen Gegenstand gleichzeitig als Dinge der realen Außenwelt erkannte, und die Wechselwirkung zwischen beiden durchschaute, wurde sein Verständnis für den Vorgang des Greifens zum Begreifen, sein Wissen um die wesentlichen Eigenschaften der ergriffenen Dinge zum Begriff« (194). Was Lorenz hier dem Anthropoiden zuschreibt, trifft in vollem Maße wohl erst für den Menschen zu, und dafür dürfte die Frontalbegattung der physiologisch ausschlaggebende Faktor gewesen sein. Denn nun übt die Greifhand im Dialog mit dem Geschlechtspartner eine wirklich explorative und zugleich repräsentative Funktion aus, wie sie in der erotischen Praxis der Menschen vorherrscht. In der biblischen Sündenfall-Geschichte kommt dieser biologische Aspekt darin zum Ausdruck, dass Eva nach dem Apfel greift und ihn Adam reicht. Prägnanter könnte der Erkenntnisvorgang nicht formuliert werden, so dass es dann auch nicht überrascht, wenn der Beischlaf in die Formel gefasst wird: »Adam erkannte Eva«. Daran wird ersichtlich, dass die Sexualfunktion des Geschlechts eine Sonderstellung unter den Funktionskreisen einnimmt, die nach von Uexküll die Umwelt der Tiere ausmachen. Da es bei der Sexualität anders als beim Fressen nicht um Leben und Tod des Individuums geht, lässt sich der Funktionskreis des Geschlechts öffnen. Die Begattung wird unabhängig vom Fortpflanzungszweck als Lustquelle erschlossen. Das bedeutet, dass der Geschlechtspartner nicht wie bei Tieren ein nur momentanes Triebziel ist, sondern zum dauerhaften Lustobjekt aufsteigt. Aus intersubjektiver Sicht und den damit verbundenen moralischen Wertungen ist die Einstufung als ›Lustobjekt‹ natürlich negativ besetzt. Aber entwicklungsgeschichtlich handelt es sich hier um eine wichtige Station in der Ausbildung des gegenständlichen Bewusstseins. In dieser Hinsicht kann 203 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

man die Frontalbegattung nicht nur als Original der distanzierten Einstellung betrachten, sondern auch als Original des experimentellen Umgangs mit Gegenständen der Erkenntnis, insofern der Gebrauch der Geschlechtsteile verbunden ist mit der Kontrolle ihrer emotionalen Wirkung, die sich im Gesicht des Geschlechtspartners direkt ablesen lässt.

Psychologie des Interesses Eng verknüpft mit den physiologischen Aspekten ist die psychologische Wirkung der erotischen Liebe. Es ist ein alter Topos, dass Liebe die Menschen in einen Zustand wahnhafter Verblendung versetzen kann. Aber Liebe macht auch in einer nachhaltigen Weise sehend, die über die Neugierde hinausgeht. Diesen vieldiskutierten Komplex hat Konrad Lorenz im Hinblick auf von Uexkülls Umweltlehre prägnant zusammengefasst: »Alle höheren Wirbeltiere, die Kosmopoliten sind, sind typische unspezialisierte Neugierwesen – und zu ihnen gehört zweifellos auch der Mensch. Auch er baut durch eine aktive, dialogische Auseinandersetzung mit seiner außerartlichen Umgebung seine Bedeutungswelt auf und kann sich dadurch an so verschiedene Milieubedingungen anpassen, dass manche Autoren der Meinung sind, von einer eigentlichen Umwelt des Menschen im Uexküllschen Sinne könne gar nicht mehr gesprochen werden. Ich möchte nur dartun, wie nahe verwandt dieses aktive, dialogische Auf- und Ausbauen der Umwelt im Grunde doch mit dem Neugierverhalten der besprochenen Tiere ist« (Über tierisches und menschliches Verhalten II, 235). Lorenz hebt als essentielle Merkmale des Neugierverhaltens zum einen die Sachbezogenheit heraus, die sich insbesondere im Spiel entwickelt, zum anderen den explorativen Umgang mit Dingen nach dem dialogischen Prinzip von Frage und Antwort. Die Differenz zwischen dem Neugierverhalten aller Tiere und dem Menschen bestimmt Lorenz wie folgt: »Obwohl Raumrepräsentation und Einsicht schon in beinahe menschlicher Ausbildung vorhanden sind, obwohl die bei anderen Tieren bestehende obligate Kopplung zwischen räumlichem Intendieren und Handeln gelöst ist und obwohl bereits – beim jungen Tier wenigsten – eine echt dialogische, neugierig objektivierende Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfindet, fehlt dem Menschenaffen erstens jene innige Wechselwirkung zwischen Tun und Erkennen, zwischen Praxis und 204 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Gnosis, die das vom Erfolg her geregelte Handeln ermöglicht und die offenbar nur durch das menschliche Praxen- und Gnosiszentrum im Gyrus supramarginalis vermittelt werden kann, womit dem Affen auch eine grundlegende Voraussetzung zur Sprache fehlt. Zweitens aber fehlt dem vollerwachsenen, mannbaren Pongide fast völlig das Neugierverhalten, das beim Menschen bis an die Grenze des Greisenalters erhalten bleibt: Nur der Mensch bleibt bis in sein Alter ein Werdender« (II, 239). Der qualitative Sprung, der die menschliche Lebensform von der der Tiere prinzipiell unterscheidet, lässt sich nicht zureichend durch gehirnphysiologische Voraussetzungen erklären. Hinzukommen muss der Wechsel in der Zuständlichkeit und Befindlichkeit, die das Neugierverhalten in Interesse verwandelt. Auch hier gibt Konrad Lorenz überzeugende Beschreibungen und Erklärungen. In Anlehnung an Arnold Gehlen leitet er das Neugierverhalten aus Bewegungsvollzügen ab, die als Kreisprozesse den Reiz zur Fortsetzung in sich selbst erzeugen. Diese Prozesse geschehen »begierdelos«, sie beziehen sich nicht auf unmittelbare Triebbefriedigung. »Bedenkt man die Konsequenzen, die das Neugierverhalten nach sich gezogen hat, vor allem auch seine Wichtigkeit für die Entstehung des begrifflichen Denkens, so ist man erstaunt über scheinbare Geringfügigkeit der Veränderungen und Integrationen der vorher bestehende Systeme, die so umwälzende Folgen zeitigten. Um die Entstehung des explorativen Verhaltens zu ermöglichen, musste keiner der bekannten Mechanismen, die als Untersysteme beim Erwerben bedingter Reaktionen mitspielen, in seiner Funktion geändert werden, auch wurde keiner entbehrlich. Die neue ›Erfindung‹ besteht nur darin, dass Appetenzverhalten so zu generalisieren, dass nicht die Auslösesituation einer ganz bestimmten triebbefriedigenden Endhandlung sein Ziel ist, sondern die Lernsituation als solche« (II, 191). Die Generalisierung vorhandener Verhaltensdispositionen, die den qualitativen Sprung zum Menschen hervorruft, liegt in der Rekursivität, die auch ein Merkmal des Spiels ist. Daher folgert Lorenz richtig: »Im Laufe dieses Entwicklungsgeschehens bleibt der Zusammenhang von Spiel und Forschung gleich eng und ist auch beim erwachsenen menschlichen Forscher voll erhalten, während er beim Tier zum Schwinden neigt. ›Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt‹, sagt Friedrich Schiller. ›Im echten Manne ist ein Kind versteckt‹ sagt Friedrich Nietzsche und meine Frau hat hinzugefügt: ›Wieso versteckt?‹« (Die Rückseite des Spiegels, 191 f.). Der ›kleine 205 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

Schritt‹, den Lorenz nicht definiert, das atomistische clinamen, ist die Zustandsänderung, welche die tierische Appetenz im Schema des Eros erfährt. Die Begierde bleibt, sie wird aber nicht mehr periodisch als blinder Drang erfahren, sondern als dauerhafte Zuwendung, mit der der Mensch spielerisch umgehen kann. Das macht die erotische Erfahrung übertragbar auf Gegenstände nicht-sexueller Natur, auf die Dinge, welche die Fülle der Welt des Menschen ausmachen.

Logik des Interesses Die Zusammengehörigkeit von Eros und Interesse manifestiert sich schließlich auf der logischen Ebene. Dabei geht es nicht um die formallogischen Gesetze des Denkens, sondern um Gedanken oder Bedeutungen, welche die eigentlichen Gegenstände der Erkenntnis bilden. Die Weltoffenheit, die den Menschen von der Umweltgebundenheit der Tiere befreit, ohne dass er aufhört, Teil der Welt zu sein, lässt sich auch als Trennung von Theorie und Praxis beschreiben. Das Wissen reicht weiter als die Handlungsorientierung, und in diesem Sinne besitzt nur der Mensch Erkenntnis und Wissenschaft. Das durch das Schema des Eros gestiftete dialogische Verhältnis des Menschen zur Welt eröffnet den logischen Raum, der die Ausdrucksdimension übersteigt, die im erotischen Zustand zunächst in die Augen springt. In dieser Hinsicht ist die platonische Eros-Lehre trotz ihres Ideenrealismus noch immer richtungsweisend. Nach Platon nimmt jede menschliche Seele am Eros teil, aber erst der Dialektiker versteht die Sprache des Eros. Ernst Cassirer hat diesen Sachverhalt so kommentiert: »Wieder erweist sich hier die zentrale Stellung des Bedeutungsproblems in der Platonischen Philosophie. Wenn der sinnliche Mensch sich der Unmittelbarkeit des Lebens- und Liebestriebes überlässt, so muss das philosophische Denken bis zum Ursprung dieses Triebes zurückdringen« (Ernst Cassirer, Die Philosophie der Griechen, 110). Zwar habe Platon den Weg zum Ursprung der Bedeutungsbildung durch die Trennung von körperlichem und seelischem Sein verstellt, so dass ihm nur der Ausweg der Lokalisierung der Bedeutungen im Ideenhimmel übrig blieb. »Aber von einer anderen Seite her hat er nun ihr eigentümliches Sein und ihre Wahrheit erfasst: der Eros ist der Logos der Seele. Er ist in ihr auch dann wirksam, wenn sie sich ganz im Objekt zu verlieren scheint, wenn sie sich vom sinnlichen Trieb im Umkreis der 206 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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sinnlichen Dinge festhalten und von einem Gegenstand zum andern forttreiben lässt. Denn am Fortgang von Ding zu Ding erweckt ihr zuerst die Forderung und das Bewusstsein des Unbedingten« (110). Übersetzt man diese Position in die Termini der biologischen Bedeutungslehre von Uexkülls, so eröffnet der Eros den Weg zur semantischen Bedeutungsbildung. Die Umwelt der Tiere besteht aus lauter notwendigen Bedeutungen, die mit den Triebzielen als Bedeutungsträgern identisch sind. In der menschlichen Welt öffnen sich mit den Funktionskreisen die Bedeutungskreise. Bedeutungen werden zu permanenten Erfüllungsmöglichkeiten, die der Triebbefriedigung ihre Regeln vorschreiben. Diese Verlagerung vom Wirklichkeits- zum Möglichkeitssinn resultiert aus der Distanz, die der Eros als Mittler zwischen Begierde und Erfüllung schafft. In der erotischen Distanz liegt die Urform der Bedeutungsbildung, die noch an das triebhafte Substrat gebunden ist und nicht rein abstrakt als Verknüpfung von Gedanken verläuft. Im Eros wird der unveränderliche Gedanke, die platonische Idee, in den Lebenszusammenhang eingebettet, so dass die Bedeutung ihren Kontakt mit der Wirklichkeit nicht verliert. Insofern bleibt die Logik des Eros realistisch, wenn auch nicht im Sinne eines direkten Ausdrucks- oder Abbildungsverhältnisses. Nicht alles im erotischen Zustand ist subjektiver Ausdruck. Durch die rekursive Kopplung der Liebenden verdichten sich die Gefühle und schaffen so die eigentümliche Form der Objektivität, die der Gegenstand gegenüber den Akten der Erkenntnis besitzt. Die menschliche Welt ist mehr als ein Ausschnitt aus einer größeren Welt, sie ist von einem Horizont umschlossen, der sich mit dem Zuwachs an Erkenntnis verschiebt. Darin unterscheidet sich die menschliche Welt von der geschlossenen Umwelt der Tiere, und von Uexküll bestreitet diesen Unterschied auch nicht. Aber ihm fehlt eine plausible Erklärung für diese Differenz. Richtig ist, dass der Mensch aus seiner Welt nicht herausspringen kann, aber der Eros schafft doch eine Öffnung nach innen, die sich im Fortgang der Erkenntnis von Ding zu Ding äußert. Wie eine russische Holzpuppe enthält die Welt der Menschen viele Welten, und Bedeutung ist nichts anderes als der Zugang zu diesen in der einen Welt verschachtelten Welten. Das führt zu einer intensionalen Semantik als Objektivation des Eros, dessen Unersättlichkeit der Begierde in Intensität der Zuwendung umschlägt. Daraus folgt, dass der menschliche Weltbegriff eine Mögliche-WeltenSemantik erfordert, deren Formbildungsregeln aus dem Schema des 207 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

Eros ableitbar sind. Denn der Eros fungiert auf allen Ebenen als Mittler zwischen getrennten Welten, die eine Zugänglichkeitsbeziehung verbindet. Zusammenfassend lässt sich ein integraler Begriff des Erkenntnisinteresses nach dem Schema des Eros so bestimmen: Die erotische Liebe verwandelt den Menschen in ein sinnliches Ich, das sich als distanzierter Beobachter und zugleich als Teil der Natur erfährt. Zum sinnlichen Ich gehört das Interesse als permanente Zuwendung zu Möglichkeiten der Welterschließung, die der sporadischen Neugierde der Tiere verschlossen bleiben. Freilich ist dieser Gewinn erkauft um den Verlust an Wirklichkeit, die den Tieren in ihrer Umwelt sicher ist. Die Bedrohung eines Wirklichkeitsverlustes haftet dem menschlichen Erkennen bis in die höchsten Formen wissenschaftlicher Theoriebildung an. Die Frage ist, wie der Mensch in der theoretischen Einstellung damit fertig werden kann. Da die Rettung nicht von außen, vom Gegebenen, zu erwarten ist, muss sie in der Struktur des Erkennens selbst gesucht werden. Einen Hinweis auf die komplexe Struktur gibt Hegels geheimnisvoller Satz: »Erkennen heißt die Wunde, die er selber ist.«. Was Hegel vom Erkennen sagt, gilt auch für die Erkenntnisinteressen, die den Menschen leiten und zugleich verleiten.

Ein erotischer Weltbegriff Die verschiedenen Dimensionen von ›Interesse‹ zeigen, dass der menschliche Weltbegriff auf die erotische Struktur des Lebens zurückgeht. Zwar geben Erkenntnistheoretiker dem Eros inhaltlich keinen Raum, aber formal sieht das anders aus. Das wird an der Wende zur Lebenswelt deutlich. Edmund Husserl war Psychologe genug, um zu erkennen, dass das, was er »transzendentale Subjektivität« nennt, sich nicht wie bei Kant in reinen Formen und Funktionen des Denkens erschöpft. Aufschlussreich für die unterschwellige Erotik des In-derWelt-Seins ist die Kritik der Phänomenologen an Descartes. Vergleicht man diese mit der heute populären Rede vom »Irrtum Descartes«, der darin bestehe, dass er das Denken vom Körper und damit vom Fühlen abgeschnürt habe – so der Neurobiologe Antonio R. Damasio –, so zeigt sich, dass Husserls Kritik philosophisch tiefer geht. Er begnügt sich nicht mit dem Hinweis auf die von Descartes angeblich zerbrochene psycho-somatische Einheit, sondern er sieht die Schwäche Descartes 208 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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darin, dass er die menschliche Subjektivität nicht »radikal« genug dekonstruiert habe. In seiner Suche nach einer absoluten Gewissheit habe Descartes dem Cogito ein endgültiges Sein zuerkannt, eine Objektivität, die ihm gar nicht zukommt: »Aber ist das seinem Sinn nach ein Seiendes der Welt, ein absolutes Seiendes, das in der Art von Weltlichem in der Frage steht: Bild, dem nichts entspricht – Bild, dem etwas entspricht? Er sieht nicht die Verkehrtheit, dem Ego, der Seinsweise des Ego die Seinsweise einer weltlichen Endgültigkeit zuzumessen, wie sie die objektive (idealisierende) Wissenschaft der idealisierten Lebenswelt zumisst« (Hua VI, 397). Die Folge dieser Blindheit von Descartes hat Husserl als »Logifizierung der Lebenswelt« beschrieben. Demgegenüber sieht Husserl die Sonderstellung des menschlichen Weltbegriffs gerade in seiner Offenheit und Unbestimmtheit, in seiner labilen Zuständlichkeit, die der permanenten Stabilisierung durch das intentionale Bewusstsein bedarf. Um die Paradoxie der menschlichen Subjektivität aufzulösen, führt Husserl eine »absolut fungierende Subjektivität« ein, die »als selbst nicht menschliche sich in der menschlichen Subjektivität objektiviert« (Hua VI, 265). Das klingt nach transzendental-idealistischer Metaphysik, erhält aber im Rahmen der Lebenswelt-Thematik einen anderen Sinn. Die »totale und universale Subjektivität«, die Husserl im empirischen Selbstbewusstsein wirksam sieht, lässt sich als Übersetzung des Eros in die Sprache der phänomenologischen Bewusstseinstheorie lesen. Der Eros aber ist immer schon über das isolierte Subjekt hinaus, er verlegt Subjektivität in den Raum der Intersubjektivität, die allerdings nicht mehr nach dem Muster der äußeren Wahrnehmung rekonstruiert werden kann. In diesem Sinn lässt sich auch Husserls Rede von »fungierender Subjektivität« (Hua VI, 187) interpretieren. »Fungieren« bezeichnet das Ineinander von Aktivität und Passivität, das auch den erotischen Akt kennzeichnet. Nicht umsonst beschreibt Husserl daher die Methode der transzendentalen Reduktion als Abstieg in das »nie betretene Reich der ›Mütter der Erkenntnis‹« (Hua VI, 156). Die Mütter der Erkenntnis sind aber nicht allgemein die Gefühle, deren Existenz und Bedeutung nicht zu übersehen ist, sondern der erotische Zustand des Bewusstseins, der die menschliche Welterfahrung inhaltlich wie formal von der Umwelt der Tiere unterscheidet. Derselbe Eros, der die Menschen aus der engen Bindung an die Umwelt befreit, schafft durch Erweiterung der »Mittelssphäre« (Nietzsche) den Hintergrund, aus dem der Mensch seine objektive Welt ge209 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

winnt. Im erotischen Zustand entsteht ein Fluss vager Bilder, aus denen sich Subjekt und Objekt allmählich herauskristallisieren. Im Anschluss an Husserl betrachten neuerdings auch konstruktivistische Wissenschaftstheoretiker Lebenswelt als Fundament für den methodischen Aufbau der Wissenschaften. Lebensweltliche Erfahrung, so die Annahme, enthalte Grundfähigkeiten und Grundwissen, auf deren Basis sich Handlungsschemata und Zeigehandlungsschemata entwickeln, die schließlich zu ausgearbeiteten Theorien führen. Dieses in der genetischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie gängige Modell weist eine Lücke auf. Es erklärt nicht, weshalb Menschen im Gegensatz zu den Tieren ihre praktischen Probleme objektivieren und zu theoretischen Problemen und Theorien machen. Dazu bedarf es einer Spezifizierung der lebensweltlichen Erfahrung, die über den Informationsaustausch, den es auch bei Tieren gibt, hinausgeht. Hier tritt als tiefste lebensweltliche Schicht die erotische Liebe ein. Das Schema des Eros erzeugt eine Disposition, die sich psychologisch als Interesse und logisch als Überzeugung beschreiben lässt. Das sind die beiden Voraussetzungen für theoretische Einstellung, die dem Menschen seine erotische Dimension verleihen, ohne die er sich aus seiner Umweltbindung nie hätte befreien können.

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Kapitel 12: Wie sich berzeugungen rechtfertigen lassen

Ohne den Glauben daran, dass es grundsätzlich möglich ist, die Wirklichkeit durch unsere theoretischen Konstruktionen begreiflich zu machen, ohne den Glauben an die innere Harmonie unserer Welt, könnte es keine Naturwissenschaft geben. (Albert Einstein/Leopold Infeld)

Der objektive Weltbegriff wird geprägt von wissenschaftlicher Erkenntnis, deren Formen einen höchst konstruktiven und damit hypothetischen Charakter haben. Trotz der überwältigenden Erfolge der wissenschaftlichen Weltmodelle in ihrer technischen Umsetzung, bleibt selbst bei Wissenschaftlern doch immer ein Gefühl der Unwirklichkeit. Das Weltvertrauen, die Gewissheit, Teil der Welt zu sein, ruht auf einem anderen Fundament: nämlich auf dem »Willen zum Leben«, von dem Schopenhauer sagt, ihm sei die Welt gewiss. Die Phänomenologie hat nach ihrem Abschied vom cartesischen Cogito die wissenschaftliche Erkenntnis in der Lebenswelt fundiert. So verwahrt sich Husserl dagegen, das »wirklich lebensweltlich Seiende« zu vergessen und durch das Seiende im Sinne der objektiven Wissenschaft zu ersetzen. Lebensweltliche Erfahrung steht für den Vorrang der Anschauung vor dem begrifflichen Urteil. So berechtigt der Rückgang auf die Lebenswelt als ein Reich ursprünglicher Evidenzen auch ist, so unzureichend fällt die Bestimmung der Evidenz als anschauliche Gegebenheit aus. Hier tritt der Eros ein, nach dessen Schema die Verbundenheit des Menschen mit der Welt über die Verbundenheit mit dem anderen Geschlecht vermittelt ist. Eros erzeugt jenes Interesse, das sich über den Partner hinaus auf die ganze Welt ausweitet. Das Interesse, das den Menschen an die Welt bindet, gewinnt seine logische Form in Überzeugungen, deren epistemischer Status nicht leicht zu bestimmen ist. Überzeugungen sind weniger als begründetes 211 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

Wissen. Sie sind aber mehr als Meinungen, die schnell wechseln und dem Menschen äußerlich bleiben. Überzeugungen stehen Bedeutungen nahe, sofern man unter ›Bedeutung‹ über die Semantik von Ausdrücken hinaus jene Kraft versteht, die Sinneseindrücke integriert und auf das Leben der Menschen bezieht. Als solche implizieren Überzeugungen immer Handlungsbereitschaft; für seine Überzeugung ist der Mensch unter Umständen bereit, sein Leben zu opfern. Daraus folgt: Nicht in der Sprache, wie Habermas meint, sind Erkenntnis und Interesse eins, sondern in der Überzeugung als dem Ort der Einheit von Theorie und Praxis. Überzeugungen stehen für den Menschen, aber sie haben entgegen dem Anschein ihren Grund nicht in der Selbstreflexion, sie sind nicht subjektzentriert. Durch die Handlungsbereitschaft sind sie immer schon auf Andere bezogen, intersubjektiv. Die Intersubjektivität der Überzeugungen ist nicht rein pragmatisch. Überzeugung als subjektive Bedingung der Erkenntnis reicht in die Tiefen der erotischen Kommunikation. Damit erschließt der Überzeugungsbegriff eine Dimension, die zwischen den biologischen Bedeutungen auf der einen, und den logischen Bedeutungen auf der anderen Seite liegt. Es ist die Dimension, in der das Streben nach wahrer Erkenntnis seinen Ursprung hat und an die die gängigen wissenschaftstheoretischen Problemlösungsmodelle nicht heranreichen. Natürlich lassen sich Überzeugungen inhaltlich nicht auf Erotisches einengen. Aber der Modus, in dem Inhalte in Überzeugungen präsent sind, gleicht der Gewissheit der Liebe.

Nietzsches Interpretation der »berhmten Geschichte« Die Rechtfertigung einer Überzeugung gegenüber begründetem Wissen beschäftigt die neuere sprachanalytische Philosophie, die in diesem Punkt an den Amerikanischen Pragmatismus anschließt. Bevor ich die Überzeugungstheorien des Pragmatismus von Peirce bis James im Hinblick auf ihre verdeckten Voraussetzungen darstelle, bietet sich ein Exkurs über Nietzsche an. Denn wie kein anderer Denker hat er mit seiner Destruktion des Wahrheitsbegriffs die Natur der Überzeugungen zum Problem gemacht, an dem sich alle Theorien der Verwobenheit von Überzeugung und Bedeutung sowie der Verwobenheit von Wahrheit und Rechtfertigung abzuarbeiten haben. Sicherlich zählt Nietzsche nicht zu den strengen Logikern, ge212 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Wie sich berzeugungen rechtfertigen lassen

schweige denn zu den großen Wissenschaftstheoretikern. Aber sein psychologischer Scharfblick wirft die Frage auf, welcher Natur der Glaube an die Erkennbarkeit der Natur ist. Handelt es sich um eine notwendige Voraussetzung, ohne die niemand die Suche nach wahrer Erkenntnis aufnehmen würde? Wenn ja, welche Art von Notwendigkeit steckt dahinter? Geht es hier lediglich um psychologische Randbedingungen, oder spielt die Notwendigkeit der Überzeugung in die Logik der Forschung hinein? Eine Klärung dieser Fragen versucht Nietzsche durch eine Rekonstruktion der Bedingungen, unter denen die Menschen zur Wissenschaft gelangt sind. Radikaler noch als Kant hat Nietzsche die »berühmte Geschichte […], die am Anfang der Bibel steht«, dekonstruiert (KSA 6, 226). In seiner Nachlassschrift Der Antichrist (1888) führt er den Sündenfall und die darauf folgende Paradiesvertreibung auf eine Reihe von ›Fehlgriffen‹ Gottes zurück. Aus Langeweile habe Gott die Menschen geschaffen; da aber auch diese sich im Paradies gelangweilt haben, hat er das Weib hinzugefügt. Damit war die Langeweile zu Ende. Mit dem Weib kam der Erkenntnisdrang in die Welt, der den Menschen das Wissen brachte, das sie gottgleich macht. Um die Rivalen loszuwerden, habe Gott die Fleischeslust zur Sünde erklärt und die Menschen aus dem Paradies vertrieben. Auch alle daraus folgenden Leiden habe Gott erfunden, damit den Menschen keine Zeit und keine Kraft bleibe, sich der Pflege der Wissenschaften zu widmen. Als Gott sah, dass die Not die Menschen vom Denken und Erkennen nicht abhalten kann, habe er zur Sintflut als letztem Mittel gegriffen: »Und ein letzter Entschluss kommt dem alten Gott: ›Der Mensch ward wissenschaftlich, – es hilft Nichts, man muss ihn ersäufen!‹« (KSA 6, 227). Hier bricht Nietzsches ›Nacherzählung‹ ab, um im nächsten Paragraphen dazu überzugehen, die Erzählung als Ausgeburt der »Psychologie des Priesters« zu entlarven.

Kritik der berzeugung Nietzsches Ausführungen zum Thema ›Überzeugung‹ in Menschliches, Allzumenschliches (1877) bringen eine neue Dimension ins Spiel, wie aus der Überschrift des § 629 hervorgeht: »Von der Überzeugung und der Gerechtigkeit« (KSA 2, 354). Überzeugungen als Ausdruck des Machtwillens sind nach Nietzsche immer ungerecht. Sie 213 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

machen den Intellektuellen zum Täter, zum Überzeugungstäter. Aber ohne Überzeugungen kommt der Mensch auch in den Wissenschaften nicht aus. Wie lassen sich Überzeugung und Gerechtigkeit miteinander versöhnen? Nietzsches Antwort: durch Zurücknahme des Kampfes der Überzeugungen in den weniger verbissenen Kampf der Meinungen. Unter Überzeugungen versteht Nietzsche Meinungen, an die die Menschheit glaubt, und als solche sind Überzeugungen erstarrte Meinungen, »Doxa«, wie die Griechen gesagt haben. Die Hochschätzung der Treue, mit der Menschen zu ihrer Überzeugung stehen, wird von Nietzsche angezweifelt, er sieht darin »ein schlimmes Zeugnis über die intellektuelle Bedeutung aller Überzeugungen« (KSA 6, 355). Daraus ergibt sich die Aufgabe, ständig zur Änderung der Überzeugung bereit zu sein, eine Leistung, die den »Wanderer« auszeichnet, für den der Weg wichtiger ist als das Ziel, das er sowieso niemals erreichen wird: »Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was alles in der Welt eigentlich vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht allzu fest an alles Einzelne hängen; es muss in ihm selbst etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe« (KSA 2, 363). Diese Haltung entdeckt Nietzsche beim Wissenschaftler, der durch »methodisches Denken« und »vorsichtige Enthaltung« der Göttin der Gerechtigkeit dient. Die Gerechtigkeit erscheint damit als »Gegnerin der Überzeugungen, denn sie will jedem, sei es ein Belebtes oder Totes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben – und dazu muss sie es rein erkennen; sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer Gegnerin, der blinden oder kurzsichtigen ›Überzeugung‹ (wie Männer sie nennen: bei Weibern heißt sie ›Glaube‹) geben, was der Überzeugung ist – um der Wahrheit willen« (KSA 2, 361 f.). Wissenschaftliche Überzeugungen verweisen demnach auf eine Lebensform, die durch ihr selbstverständliches Weltvertrauen ihre Rechtfertigung in sich selbst hat. Es ist die Lebensform der »fröhlichen Wissenschaft«, die sich nicht den Diktaten konstruierter Weltbilder unterwirft, sondern für die Erfahrung neuer Wirklichkeiten offen ist.

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Wie sich berzeugungen rechtfertigen lassen

Don Juan der Erkenntnis Wie spannungsreich Nietzsches Begriff der Überzeugung durch die unausgesprochene Identifikation mit dem Eros ist, das zeigt sein »Eine Fabel« überschriebener Paragraph aus der Morgenröte. Hier wird die Geschichte des »Don Juan der Erkenntnis« erzählt: »er ist noch von keinem Philosophen und Dichter entdeckt worden« (KSA 3, 232). Don Juan gleicht dem ›Wanderer‹ aus Menschliches, Allzumenschliches, der im Namen der Gerechtigkeit die Überzeugungen wechselt. Ihm fehlt die »Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat Geist, Kitzel und Genuss an Jagd und Intrigen der Erkenntnis – bis an die höchsten und fernsten Sterne der Erkenntnis hinauf! – bis ihm zuletzt Nichts mehr zu erjagen bleibt, als das absolut Wehtuende der Erkenntnis, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und Scheidewasser trinkt«. So bleibt ihm nur wie Faust der Pakt mit dem Teufel, die Sehnsucht nach der Hölle als »letzte Erkenntnis, die ihn verführt«. Da auch hier keine Erlösung zu erwarten ist, geht es ihm wie jedem, der dem Eros verfallen ist, wie Mozarts Don Giovanni also, der vom ›steinernen Gast‹ heimgesucht wird: »Und dann müsste er in alle Ewigkeit stehen bleiben, an die Enttäuschung festgenagelt und selber zum steinernen Gast geworden, mit einem Verlangen nach der Abendmahlzeit der Erkenntnis, die ihm nie mehr zu teil wird! – denn die ganze Welt der Dinge hat diesem Hungrigen keinen Bissen mehr zu reichen«. Die Anklänge an die christliche Theologie der Erlösung sind unüberhörbar. Sie verleihen Nietzsches Bild vom Glauben und von der Überzeugung, die aus dem Eros entspringen, ihre Tragik. Denn auch die »Liebe zu den Dingen«, die dem Erotiker abgeht und die der Wissenschaftler besitzt, kann diesen nicht gänzlich vor der Leidenschaft und damit der Ungerechtigkeit bewahren. Der Mensch ist »gemischten Wesens«, das immer der Rettung durch den »Geist« bedarf. Aber der Geist bleibt dem Fleisch verbunden, so dass die Rettung die Sünde nie ganz aufhebt: »Vom Feuer erlöst, schreiten wir dann, durch den Geist getrieben von Meinung zu Meinung, durch den Wechsel der Parteien, als edle Verräter aller Dinge, die überhaupt verraten werden können – und dennoch ohne ein Gefühl von Schuld« (ebd.). Die Trennung von Leidenschaft und Geist, so die Lehre Nietzsches, wird nie gelingen, so dass es schließlich derselbe leidenschaftliche Geist ist, der den Menschen gerecht macht. Dionysische Rechtfertigung des Meinens – so 215 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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lässt sich der Stand der Diskussion umschreiben, den Nietzsches Erörterung zur Wissensproblematik erreicht.

Formen wissenschaftlicher berzeugungsfestlegung Zur selben Zeit als Nietzsche die dogmatische Verfestigung von Meinungen im Namen des Dionysos bekämpft, untersucht Charles Sanders Peirce die Methoden, nach denen Wissenschaftler ihre Überzeugungen festlegen. In seinem Aufsatz Die Festlegung der Überzeugung (1877) beschreibt er das Verfahren psychologisch als Übergang vom Zustand des Zweifels und der Unruhe in einen Zustand der Ruhe. Das ist ein durch Alexander Bain in der zeitgenössischen Psychologie verbreitetes Schema, das auch im Begriff der Intentionalität nachwirkt. Noch Husserl erläutert Intentionalität psychologisch als »Gefühl der Unbefriedigung«, das erst vergeht, wenn ein Objekt durch Anschauung vollständig erfasst wird. Dabei ist natürlich fraglich, ob es vollständige Erfüllung der Intentionalität geben kann. Die in der psychologischen Literatur geläufigen Umschreibungen dieses Sachverhaltes als »gehemmte Befriedigung« (Theodor Lipps) und »gespannte Neugier« (Wilhelm Stumpf) lassen erkennen, dass die psychologische Beschreibung bis in die physiologische Trieblehre reicht. Damit wird klar, dass das doubt-belief-Schema in einer voluntaristischen oder vitalistischen Anthropologie verankert ist. Peirce räumt den vitalen Triebkräften die Stelle ein, die ihnen auch im intellektuellen Geschehen zukommt, ohne damit in einen kruden Naturalismus zu verfallen. Denn das Streben nach Überzeugung, das den menschlichen Erkenntnisprozess antreibt, bringt nach Peirce durch die Unmöglichkeit einer definitiven Erfüllung ein negatives Moment in das menschliche Bewusstsein, wie es Plato in seiner Wesensbestimmung des Eros formuliert hat. Aus dieser Einschränkung folgt ein weiterer wesentlicher Zug der Überzeugungsfestlegung, der für die pragmatische Denkform kennzeichnend ist. Sicherlich bricht der Pragmatismus mit dem empiristischen Abbildrealismus, der Erkennen als rein passives Registrieren von Sinnesdaten auffasst und steht auf der Seite des neuzeitlichen Konstruktivismus. Aber der Handlungsbegriff des Pragmatismus deckt sich nicht mit dem des transzendentalen Idealismus, so dass für den Pragmatismus das Wahre und das Gemachte nicht zusammenfallen. Wenn später William James von »Wahr-Machen« spricht, so ist das nicht als 216 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Wie sich berzeugungen rechtfertigen lassen

reines Hervorbringen gemeint, sondern als ein Prozess, dessen Ablauftyp nicht allein von den Absichten des Subjekts abhängt. Der Handlungsbegriff des Pragmatismus ist situational, zu ihm gehört ein Moment der Passivität, das sich in der Berücksichtigung der nicht kalkulierbaren Folgen niederschlägt. Anders als die transzendentalphilosophische Ursprungsorientierung erfordert die Folgenorientierung Abwarten und Anpassen als die Fähigkeiten, von denen auch der Erfolg des praktischen Handelns abhängt. Diesen Gedanken überträgt der Pragmatismus auf die Erkenntnispraxis, in der sich die Machbarkeit an Unverfügbaren orientiert. Das gehört auch zum Wesen des Eros, dessen Streben ja keine rein konstruktive Aktivität ist, die das erstrebte Objekt beherrschen will, sondern seine Aktivität liegt in der Bereitschaft, sich überwältigen zu lassen. Am Ende seiner Abhandlung lässt Peirce diesen anthropologischen Hintergrund aufscheinen: »Natürlich haben die anderen Methoden ihre Vorzüge: ein rein logisches Gewissen kostet schon etwas – genau wie jede andere Tugend auch, genau wie alles, was wir lieben, uns teuer zu stehen kommt. Aber wir sollten nicht wünschen, dass es anders sei. Man sollte den Genius der logischen Methode lieben und verehren als seine Braut, die man der ganzen Welt vorgezogen hat« (Texte, 171 f.). Die »logische Methode« folgt aber nicht der formalen Logik, sondern einer Art ›Hoffnungslogik‹, deren Gewissheit in der Zukunft werdender Welten liegt.

Wille zum Glauben Die Doppelseitigkeit des pragmatischen Ansatzes, die Verbindung von subjektiver Überzeugung und objektiver Überprüfung, findet ihre Bestätigung in der Weiterentwicklung des Bedeutungsbegriffs bei William James. In seinem Vortrag The Will to believe (1896) rechtfertigt James die Annahme einer Überzeugung damit, dass der Mensch als Handelnder nicht warten kann, bis über die endgültige Wahrheit entschieden ist. Damit bekommt die Überzeugungsbildung bei James eine ethische Dimension, so dass es durchaus gerechtfertigt ist, das Substantiv belief mit ›Meinung‹ oder ›Überzeugung‹ wiederzugeben, während das entsprechende Verb to believe, das im Titel von James auftaucht, besser mit ›Glaube‹ übersetzt wird. Damit wird auch der religiösen Konnotation Rechnung getragen, wie James gleich am Anfang seines Vortrags erkennen lässt: »Um ihnen zu zeigen, dass uns in Harvard 217 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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doch nicht alles Interesse an diesen Lebensfragen abhanden gekommen ist, habe ich heute Abend so etwas wie eine Predigt über die Rechtfertigung durch Glauben mitgebracht – ich will sagen: einen Essay zur Rechfertigung des Glaubens, eine Verteidigung unseres Rechts, in religiösen Fragen uns auf den Standpunkt des Glaubens zu stellen, auch wenn unser rein logischer Intellekt sich nicht dazu gezwungen sieht. Dem gemäß lautet der Titel meines Vortrages: ›Der Wille zum Glauben‹« (Texte, 128). Die ›Rechtfertigung durch den Glauben‹ beruht wie im Kulturprotestantismus auf der Werkgerechtigkeit, die James auch auf die geistigen Werke, d. h. die wissenschaftliche Forschung ausdehnt. Demnach kann die Verwendung der paulinischen Formel nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei James um eine Säkularisierung der theologischen Denkform handelt. Das bestätigen auch seine Ausführungen über die Wahrheit. Der Glaube richtet sich nicht auf die Wahrheit der Offenbarung Gottes. Es ist die innerweltliche Wahrheit des Erfolgs, mit dem derjenige rechnen kann, der auf die Kräfte seines Willens vertraut. Das verweist auf die Macht des Eros, was nicht zuletzt durch das Beispiel bestätigt wird, dass James wählt, um die Macht des Willens zum Glauben zu erläutern: »Wie viele Mädchenherzen werden allein dadurch besiegt, dass ein Mann mit Leidenschaft darauf besteht, dass sie ihn lieben müssen! Er will sich nicht zu der Annahme verstehen, dass sie es nicht können. Der Wunsch nach einer bestimmten Art Wahrheit bringt hier die Existenz dieser besonderen Wahrheit zu Wege; und so ist es in unzähligen Fällen anderer Art. […] Sein Glaube wirkt auf die über ihm stehenden Mächte wie ein gerechter Anspruch und bringt seine eigene Verwirklichung zustande« (151). Die Wahrheit, die hier durch den Glauben zustande gebracht wird, ist die Wahrheit der nicht falsifizierten Hypothesen. Mit »Hypothese« bezeichnet James alles, »was mit dem Anspruch, geglaubt zu werden, an uns herantritt! Und ebenso, wie die Elektrotechniker von lebenden und toten Drähten reden, wollen wir von einer Hypothese entweder als einer lebendigen oder toten sprechen« (129). Die Entscheidung zwischen zwei Hypothesen nennt James »Option«. Auch bei den Optionen unterscheidet er zwischen »lebendigen« und »toten«, und lebendig ist eine Option dann, wenn sie in die Lebensführung eines Menschen eingreift. Damit erweitert James den pragmatischen Bedeutungsbegriff um das Moment der Bedeutsamkeit, das auch dann wirksam ist, wenn der Hypothese keine objektiven Tatsachen entsprechen. 218 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Eine weitere Bestätigung dafür, dass das Theologumenon »Rechtfertigung« in säkularisierter Form in der Philosophie weiterlebt, liefert der Sprachgebrauch der Analytischen Philosophie. Im Deutschen hat es sich unter dem Einfluss der amerikanischen Philosophen eingebürgert, statt von Begründung von Rechtfertigung bzw. epistemischer Rechtfertigung zu sprechen. Das ist mehr als eine reine Übersetzungsfolge. Denn im englischen justification schwingt immer der theologische Sinn mit. Das demonstriert in frappanter Weise der rhetorisch brillante Beginn von Der Wille zum Glauben. James kündigt einen »sermon on justification by faith« an, womit er an die paulinische justificatio sola fide anknüpft, um dann unauffällig vom pastoralen Diskurs zur philosophischen Argumentation überzuleiten und von »justification of faith« zu sprechen. So verschiebt sich der Sinn vom religiösen Glauben zur theoretischen Begründung, die dann nicht mehr mit dem Wort faith bezeichnet, sondern in »believing attitude« verwandelt wird. Damit ist James beim logisch-erkenntnistheoretischen Leitbegriff des Pragmatismus, beim belief (deutsch: ›Überzeugung‹) angelangt. Die protestantische Rechtfertigungslehre fungiert nicht nur als Hintergrund des Amerikanischen Pragmatismus. Auch in der neukantianischen Philosophie der Werte spielt sie eine Rolle. In der Wertbeziehung, die das Subjekt erfüllt, ist sie die tiefste Schicht der Sinnstiftung, die auf der Ebene der Vergesellschaftung seit Max Weber als ›Legitimation‹ und ›Legitimierung‹ beschrieben wird. Die Brauchbarkeit des Legitimitätsbegriffs ist in der gegenwärtigen Soziologie sowie in den darauf aufbauenden konstruktivistischen Theorien gesellschaftlicher Wirklichkeit unbestritten. Auch die Geistesgeschichte hat sich des Legitimitätsbegriffs bemächtigt, wie Hans Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit (1966) zeigt. Aber dem Legitimitätsbegriff haftet das Problem der Letztbegründung an, dessen Lösungsversuche unweigerlich in Transzendentalutopien enden, wie man an Karl-Otto Apels bekanntem »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft« ablesen kann. Rechtfertigung steht somit für die innerweltliche Form der Erlösung des Menschen; Erlösung freilich nicht mehr im Sinne von Vergebung, sondern im Sinne der Versöhnung mit den Leiden an den Paradoxien der menschlichen Vernunft. James hat in diesem Sinn den Pragmatismus als quasi-religiöse »Welterlösung« durch aktive Weltgestaltung dargestellt: »Es ist also durchaus möglich, eine Welt hinzunehmen, aus der der Ernst des Lebens nicht zu verbannen ist. Wer dies tut ist ein echter Pragmatist. Er ist entschlossen, aufgrund unge219 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Teil III: Der Mensch in der Welt

sicherter Möglichkeiten zu leben, zu denen er Vertrauen hat. Er ist bereit für die Verwirklichung der Ideale, die er sich bildet, wenn es Not tut, mit seinem eigenen Leben zu zahlen« (Der Pragmatismus, 1907, 191). Hinter dem Erkenntniswillen steht für James nie die Suche nach einer endgültigen ›Weltformel‹, sondern immer der Wille zum Leben mit seinem unerschütterlichen Vertrauen auf die Zukunft einer besseren Welt.

›Testimonialtheorie‹ der Erkenntnis Die Darstellung der pragmatischen Modelle der Überzeugungsfestlegung hat den theologischen Hintergrund der Rechtfertigungslehre aufscheinen lassen. Das Gewicht dieses Vorgangs ist erkenntnistheoretisch nicht hoch genug zu veranschlagen. Zwar ist es der abschließend erzielte praktische Handlungserfolg, von dem für den Pragmatismus die Wahrheit einer Überzeugung abhängt. Aber vor der sachorientierten Prüfung liegt das weite Feld des Fürwahrhaltens. Hier geht es lediglich um die Verlässlichkeit der Personen, mit denen eine Überzeugung geteilt wird. Die Rechtfertigung verschiebt sich damit von der objektiven auf die subjektive Seite, die Nietzsche als dionysisch herausgestellt hat. Es geht dabei um die letztlich erkenntnispsychologische Frage, inwieweit Überzeugungen, die anders als bloße Meinungen Handlungsbereitschaft implizieren und als solche mit einem normativen Geltungsanspruch auftreten, durch das Zeugnis von ›guten Informanten‹, gestützt werden. Im Unterschied zu den gängigen Positionen, die sich an der alltäglichen Kommunikation als Austausch von Informationen orientieren, wird hier dem Paar wieder eine Sonderstellung eingeräumt. Interessen und Überzeugungen, so das Ergebnis unserer Überlegungen, gehören nicht zur natürlichen biologischen Ausstattung des Menschen. Sie entstehen erst im erotischen Zustand, der Empfindungen in Bedeutungen transformiert und in einigem Abstand von den Triebregungen situiert. Die Liebenden sind sich die ersten guten Informanten, allerdings nicht so sehr im Bezug auf Faktenwissen, sondern darin, dass sie die emotionalen Voraussetzungen für eine Überzeugungsbildung liefern. Ihr gegenseitiges Vertrauen ist der Boden, auf dem der personale Geltungsanspruch erwächst, der Überzeugungen von bloßen Gewohnheiten oder Stimmungen unterscheidet. 220 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Die in der erotischen Liebe erwachsende Überzeugung pflegt subjektiv genau so wahr zu sein, wie sie objektiv falsch sein kann, was das Ende einer Beziehung beweist. Gleichwohl kann jeder Beteiligte für sich in Anspruch nehmen, im guten Glauben gehandelt zu haben. Auch wenn sich die Überzeugung als falsch herausstellen sollte, sie bleibt doch eine erotisch gerechtfertigte Überzeugung. Denn für die Liebe steht keine verlässliche praktische Überprüfungsmethode zur Verfügung. Man muss die Entwicklung der Beziehung abwarten, von der man erst am Ende sagen kann, ob es ›wahre Liebe‹ war. Die Rechtfertigung der Überzeugung kommt nicht von außen, sie liegt in den Liebenden selbst: das beste Beispiel für das, was in der akademischen Philosophie heute ›Testimonialtheorie‹ der Erkenntnis genannt wird. Rechtfertigung von Überzeugungen durch den Eros ist als idealtypisches Modell zu verstehen, das in der Wissenschaftstheorie nicht direkt zur Anwendung kommt. Der mit der Wahrheit verbundene Anspruch auf Zweckfreiheit der Erkenntnis erfordert unpersönliche Forschergemeinschaften, in denen das Geschlecht keine Rolle spielt. Aber so sehr sich die wissenschaftliche Rationalität von der anthropologischen Basis auch entfernt und verselbständigt hat, die personale Dimension bleibt dem Blick des Anthropologen nicht verborgen. Der Erfahrungshorizont, in dem sich wissenschaftliche Forschung abspielt, ist durch den Begriff des ›impliziten Wissens‹ oder des ›Weltwissens‹ noch nicht hinreichend beschrieben. Wissenschaftliches oder methodisches Erkennen klärt, berichtigt und erweitert soziales Wissen, zu dem Überzeugungen gehören, an denen die Menschen auch ohne Beweise festhalten. Für den Wissenschaftstheoretiker ist es die Überzeugung von der Erkennbarkeit der Welt, die er nicht weiter hinterfragt. Der Anthropologe dagegen verfolgt die Überzeugung bis zu ihrem Ursprung im Eros. Das bestätigt die Rolle, die in der biblischen Sündenfallerzählung der Schlange zufällt. Sie übernimmt die Rolle eines guten Informanten, obwohl ihr Wissen nur zum Teil richtig ist. Aber sie artikuliert die Erwartungen und Hoffnungen des ersten Paares, das sich von der Horde abgesondert hat. So ist es bis heute geblieben: Die Überzeugungen der Liebenden stimmen formal mit denen der wissenschaftlich Forschenden überein.

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Erkenntnis als strukturelle Kopplung Wissenschaftler begnügen sich nicht mit Vorhersagen, sie wollen die Welt nicht nur berechnen, sie wollen sie auch verstehen. Dieses klassische Programm wird von der Überzeugung getragen, dass sich hinter der veränderlichen Sinnenwelt eine objektive Welt verbirgt, deren Erscheinung die Sinnenwelt ist. Die objektive Welt ist ein statisches, ewiges Universum, dessen Erkenntnis nichts anderes als mathematische Formulierung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen erfordert. Sofern Hypothesen das zu leisten haben, werden die Erwartungen der Wissenschaftler nicht allein durch Beobachtungen festgelegt, sondern durch die feste Überzeugung, dass bestimmte Gesetze wirksam sind, die den Gang der Natur erklären. Will man die Überzeugung von der Naturgesetzlichkeit nicht mit dem transzendentalen Idealismus auf Denkformen a priori zurückführen, so ist eine Dimension des menschlichen Geistes angesprochen, die erkenntnistheoretisch noch keineswegs erschlossen ist: ein dunkles Reich, aus dem der geniale Wissenschaftler seine Hypothesen bezieht. In diesem Reich bilden sich die »Ideale der Naturordnung«, wie der Wissenschaftsphilosoph Stephen Toulmin die Überzeugungen nennt, die den Lauf der Dinge verständlich und nicht nur berechenbar machen. Wenn man die »Ideale der Naturordnung« nicht im platonischen ›Ideenhimmel‹ ansiedeln will, muss man sie im Zwischenreich der Intersubjektivität aufsuchen. »Ideale der Naturordnung« oder die Überzeugung von der Erkennbarkeit der Natur, die zum Kern wissenschaftlichen Erklärens gehören, entspringen der stillschweigenden und unbewussten Weise, Liebe als Erkenntnis und Erkenntnis als Liebe zu erfahren. Die Weltgewissheit ist kein rein theoretisches Wissen, sondern eine der Paarliebe entspringende menschliche Grundüberzeugung. Derselbe Eros, der im Paar den Anderen als Objekt und Subjekt zugleich erfahrbar macht, liegt auch dem menschlichen Weltbegriff zugrunde. So wie der Eros das Paar aus der Horde herauslöst, befreit er die Menschen aus der tierischen Umwelthülle. Er eröffnet die Welt als offenen Erfahrungshorizont und gibt dem Forschergeist die Zuversicht der prinzipiellen Erkennbarkeit der Welt. Aus der erotischen Paarliebe ergeben sich für das wissenschaftliche Weltbild weit reichende Perspektiven: Auf der einen Seite ist klar, dass dem Erkennen keine immanenten Grenzen auferlegt werden können. Das Streben nach Eroberung und Beherrschung der Natur ist un222 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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aufhaltsam. Auf der anderen Seite aber muss der Mensch, der selbst ein Teil der Natur ist, in der Wahl der Erkenntnismittel Vorsicht walten lassen. Hier bietet sich die Paarbeziehung als Vorbild an. So wie die Liebenden sich gegenseitig als Partner respektieren müssen, um gut miteinander auszukommen, so hat auch der Naturforscher die Aufgabe, an die Natur so heranzugehen, als ob es sich um einen gleichwertigen Partner handele. Damit soll keinem romantischen Panpsychismus das Wort geredet werden. Die Natur hat keine, aber sie gibt ihre Geheimnisse nur preis, wenn die Wissenschaft sie wie ein Subjekt behandelt. Das wird durch das Schema des Eros als Prototyp des In-der-Welt-Seins nahe gelegt: Vergewaltigung ist nicht seine Art. Wie der Liebende muss der Forscher warten können ›bis der Zucker schmilzt‹, um eine bekannte Formulierung Bergsons aufzunehmen. Das Schema des Eros gehört zur Struktur der Erkenntnis selbst, so dass man das Erkennen der Natur geradezu als Paarbindung oder »strukturelle Kopplung« beschreiben kann. Dialog mit der Natur heißt denn auch ein 1980 erschienenes Buch des Nobelpreisträgers für Chemie Ilya Prigogine (zusammen mit Isabelle Stengers), der neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens beschreibt. Hier scheint sich die Naturphilosophie der Romantik wieder zu Worte melden, was für die Physik kaum akzeptabel ist. Aber auch unabhängig davon macht Prigogine auf dem Gebiet der Thermodynamik deutlich, dass der Beobachter von seinem lebensweltlichen Standpunkt aus auf das in der Beobachtung zu Erwartende Rückschlüsse ziehen kann. Experimente sollen nicht mehr die Natur unter Druck setzen, um allgemeine Gesetze zu formulieren, sondern sie haben die Absicht, komplexe Systeme fern vom Gleichgewichtszustand in ihrem Verhalten zu beobachten, um danach das eigene Vorgehen einzurichten: »Damit wird erneut deutlich, dass der experimentelle Dialog etwas von einem Glücksspiel hat, bei dem es um die Relevanz der Fragestellung und um die Zulässigkeit der Vereinfachung geht« (310). Prigogines Formel vom Dialog mit der Natur verdient wissenschaftstheoretisch ernst genommen zu werden, was freilich nicht heißt, dass man den Bäumen im Walde Subjektstatus zusprechen muss. Aber solange der Mensch als körperliches Wesen selbst ein Teil der Natur ist, kann Erkenntnis nicht darin bestehen, dass ein transzendentales Subjekt der Natur die Gesetze ›vorschreibt‹. So wie es in Physik und Chemie so genannte Attraktor-Zustände gibt, lässt sich auch Erkenntnis als Wechselwirkung von Anziehung und Abstoßung, von Versuch und Irrtum interpretieren. 223 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt

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Kapitel 13: Die ewige Wiederkehr des Eros

Die Vertreibung aus dem Paradies ist in ihrem Hauptteil ewig: Es ist also zwar die Vertreibung aus dem Paradies endgültig, das Leben in der Welt unausweichlich, die Ewigkeit des Vorganges aber (oder zeitlich ausgedrückt: die ewige Wiederholung des Vorganges) macht es trotzdem möglich, dass wir nicht nur dauernd im Paradiese bleiben könnten, sondern tatsächlich dort dauernd sind, gleichgültig ob wir es hier wissen oder nicht. (Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande)

In den drei Hauptteilen des Buches ist der Eros als gleichsam transzendentales Schema beleuchtet worden, nach dem das In-der-WeltSein des Menschen Gestalt gewinnt. Die Konkretisierung des Eros in der Paarbindung hat sich als Konstante herausgestellt, die in Kulturen aller Zeiten zu finden ist. Die systematische Darstellung lässt eine Frage offen, die in einer Philosophischen Anthropologie nicht unbeantwortet bleiben darf: die Frage nach der Geschichtlichkeit der europäischen Kultur. Die klassische Antwort darauf lautet: Geschichtlichkeit resultiert aus der Fortschrittsidee der Neuzeit. So zutreffend diese Antwort auch ist, sie enthält nur die halbe Wahrheit. Die Idee des Fortschritts hat ihr Referenzsubjekt in der Vernunft. Sie tritt das Erbe des antiken Logos an, fällt aber mit diesem nicht zusammen. Die neuzeitliche Vernunft dynamisiert den Logos, indem sie seine objektive, auf die Ideen gerichtete Seite durch die subjektive Seite des inneren Zeitbewusstseins der Menschen ergänzt. Damit kommt auf unmerkliche Weise der Eros ins Spiel. Logos und Eros treten in eine neue, dem Platonismus unbekannte Konstellation, die in der Moderne ›Geschichtlichkeit‹ heißt. Die Geschichtlichkeit des Eros tritt hervor, wenn man sein Schema als ›narratives Schema‹ liest, nach dem sich Liebesgeschichten ent227 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt

wickeln. Der sprachanalytische Philosoph Arthur C. Danto hat die Form der Erzählung untersucht und herausgefunden, dass ihr Schema dreigliedrig ist, wobei Anfangs- und Endglied das explanandum, das Mittelglied das explanans darstellen. Alle drei Glieder zusammen bilden die klassische Gliederung der Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende. Die Strukturaffinität von Ereignis und Erzählung ist anthropologisch insofern von Bedeutung, als im Eros immer beides verwoben ist. Denn Liebe erzählt, was zwischen zwei Menschen geschieht, die sich begehren. Die Vereinigung ist immer das Resultat einer, wenn heute auch immer kürzer werdenden Geschichte der Annäherung. Damit verschiebt sich das Schema von einem rein reaktiven Muster auf die Produktion von Zeitgestalten, von Geschichten, mit denen Liebende ihre Beziehung interpretieren. Geschichten öffnen die Gegenwart der Lust für Vergangenheit und Zukunft, ohne die Liebe keinen Bestand hat. Das Schema bietet die Möglichkeit, Oppositionen wie jung – alt, Geburt – Tod usw. narrativ zu entfalten. Die Gegenüberstellung von Mann und Frau nimmt dabei insofern eine Sonderstellung ein, als ihre Begegnung automatisch einen Spannungszustand herstellt, der auf Lösung drängt. Mit der Entzauberung des Geschlechtlichen hat der moderne Eros allerdings viel von seiner Aura verloren, als ›Sex‹ ist er ›cool‹ und damit beliebig reproduzierbar geworden. Die geschlossene Form der Liebesgeschichte mit Anfang, Mitte und Ende weicht folglich immer mehr der offenen Form der Serie, deren Logik die Reihung und deren Grammatik die Parataxe ist. Das entspricht dem untragischen Lebensgefühl des ›flexiblen Menschen‹, der Liebe als ›Beziehung‹ erlebt und nicht mehr als Geschenk. Die Form der Serie aber hebt die Geschichtlichkeit nicht auf. Liebesgeschichten sind nach wie vor Variationen der einen Geschichte des Ausgleichs der Verschiedenheit der Geschlechter, die unendlich ist.

Geschichtlichkeit des Eros Der Hunger als Motor menschlichen Handelns lässt Geschichte als Kampf von Individuen, Völkern, Klassen und Kulturen um die Vorherrschaft erscheinen. Die Menschengeschichte gleicht aus dieser Perspektive der Naturgeschichte: ein ewiger Kreislauf der am besten angepassten Arten. Demgegenüber hat die Kulturanthropologie die 228 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Die ewige Wiederkehr des Eros

Bereiche herausgehoben, in denen sich die Menschen von der Naturgeschichte abheben. Es ist die Geschichte von Ideen und Institutionen, die einem anderen, nicht rein unter dem Diktat des Hungers stehenden Entwicklungsschema folgt. Die trostlose Wiederkehr des Gleichen weicht einer offenen Entwicklungsperspektive. Wie steht es mit der Geschichtlichkeit der Liebe, jener anderen Kraft, welche das Getriebe der Menschenwelt am Laufen hält? Kehrt die Philosophische Anthropologie damit nicht doch zur Naturwüchsigkeit der biologischen Zyklen zurück? Die Antwort lautet: Nein. Zwar ist es richtig, dass das Leben der Paare, die Kinder in die Welt setzen, nach einem biologisch festgelegten Schema verläuft. Aber auf der Ebene der individuellen Personen und Generationen, die sich nicht mit den höheren Ebenen der politischen oder sozialen Geschichte deckt, wird der zyklische Verlauf der sich bildenden und wieder auflösenden Paare keineswegs als trostlose Wiederkehr erlebt. Im Gegenteil: Heirat, Geburt der Kinder und Tod sind die Parameter, in denen sich die individuellen Erwartungen der Menschen bewegen und eben die Geschichtlichkeit ausmachen, die der Eros dem Menschen gewährt. Die durch den Eros gestiftete Geschichtlichkeit vermittelt zwischen subjektiver Lebenszeit und objektiver Weltzeit, um eine Dichotomie Hans Blumenbergs aufzunehmen. Denn in der Paarbeziehung ist die Subjektivität schon zur Welt geöffnet, ohne in der Gesellschaft aufzugehen und ohne geschichtsphilosophischen Utopien anzuhängen. Die Wirklichkeit dieser erotischen Zeiterfahrung hat im 18. Jahrhundert schon der Abbé Galiani in dem denkwürdigen Satz zum Ausdruck gebracht: »Wir und unsere Kinder, der Rest ist Träumerei«. Heute mögen zu den Kindern auch noch die Enkel kommen, aber am Grundschema hat sich nichts geändert: Als Radikal und Medial ist und bleibt der Eros Geschichte und Gegenwart zugleich. Die Überschreitung der erlebten Gegenwart der Bedürfnisse hält sich im Erfahrungshorizont der Paare und ihrer Nachkommen. Der Eros bringt somit eine Form der Geschichtlichkeit hervor, die sich von den epochalen Sinnentwürfen der Geschichtsphilosophie durch ihre Konkretheit unterscheidet. Die Konkretheit liegt in den Geschichten, in die die Liebenden immer schon verstrickt sind. Sie vermitteln zwischen dem materiellen Leben und dem ideologischen Überbau, zwischen Biologie und Geist. Insofern kann man den Eros dem Mittelbereich gesellschaftlicher Sinnbildung zurechnen, in dem der Einzelne trotz aller Konflikte im Paar eine Stütze findet. Damit gehört 229 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt

das Schema des Eros zur »Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen«, wie Marx sich ausdrückt, wobei unter »produktiven Organen« nicht mehr die Genitalien, sondern die ihren Gebrauch regulierenden Vorstellungen und Einstellungen zu verstehen sind, welche die Liebenden miteinander verbinden.

Von der Sittengeschichte zur Mentalittsgeschichte Den Eros in seiner historischen Umsetzung darzustellen, ist keine leichte Aufgabe, da die Gefahr besteht, auf das Niveau der üblichen älteren »Sittengeschichten« abzugleiten. Nicht dass eine Sittengeschichte etwas moralisch Anstößiges wäre, das Problem liegt vielmehr darin, wie das sexuelle Verhalten in Beziehung zu anderen Dimensionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit gesetzt wird. Hier hat man oft den Eindruck, die Froschperspektive werde aus durchsichtigen Gründen absolut gesetzt. Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass der Eros für mehr steht als für die Geschlechtlichkeit: nämlich für die symbolische Transformation der Lust. Die symbolische Form tritt erst hervor, wenn die Betrachtung über die Sittengeschichte hinaus zu den Codierungen oder Kunstformen der Liebe vordringt, die sich von Epoche zu Epoche wandeln. Diese Betrachtung unterscheidet sich von der reinen Geistesgeschichte, wie sie von der Philosophie in Form der Problem- oder Begriffsgeschichte betrieben wird. Sie verbindet die Perspektive des Beobachters mit der des Beteiligten, Theorie und Praxis bilden ein Ganzes. Das kommt einer Art ›Archäologie des Wissens‹ nahe, die vorgegebene Strukturen ans Licht hebt, unbewusste Hintergründe, die den offiziellen Diskurs Lügen strafen. Hier sind aber nicht nur ›Dispositive der Macht‹ am Werk, wie Michel Foucault vermutet, sondern auch Dispositive der Verschwendung, deren Reichtum aus der Quelle des Eros gespeist wird. Aus dieser Perspektive erscheint der Eros als die anthropologische Konstante, die in der unablässigen Auseinandersetzung mit der sexuellen Partnerorientierung des Menschen liegt. Ohne Muster kann der Eros seine gestaltende Kraft nicht entfalten. Die Kunstformen der Liebe sind solche Muster. Sie bilden Elemente des Beharrens, aber auch sie sind nicht unsterblich. Die Herkunftsorientierung ist dem Eros fremd, sein Drängen geht in die Zukunft. Aber sein Drängen führt nur dann 230 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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über die Gegenwart hinaus, wenn es eine ›historische Reaktionsbasis‹ gibt, um einen von Arnold Gehlen in die Anthropologie eingeführten Begriff des Biologen Hans Driesch zu verwenden. Nur in dieser geschichtlichen Form ist der Eros zur Rechtfertigung des Menschen fähig. Sicherlich sind gegenüber der Idee eines erotischen Fortschritts heute mehr denn je Bedenken angebracht. Die unerträgliche Banalität und Vulgarität, die der Umgang mit dem Sex in den westlichen Lebensformen und insbesondere in den Medien an den Tag legt, scheint mit dem geschichtlichen Rechtfertigungsgedanken nur schwer vereinbar. Aber man sollte sich von diesen unerfreulichen Phänomenen nicht täuschen lassen. Gedeiht in diesem Rahmen doch ein Paar-Individualismus, wie er in der Geschichte der Menschheit offenbar noch nie da gewesen ist. Gerade hier entfaltet sich explosionsartig die Dialektik von Leben und Form, die dem Eros des europäischen Logos seine globale Durchschlagskraft verleiht. Die Globalisierung löst alte Traditionen auf, sie erzeugt aber eine Zukunftserwartung, die zusammen mit dem Wohlstand dem Massenindividuum ein gutes Leben verspricht. Seit der Neuzeit scheint der europäische Eros dazu bestimmt, die ganze Welt zu erobern. Sein Siegeszug reicht bis in die entlegensten Winkel des globalen Dorfes, wo die Jugend die traditionellen Gebräuche und Kleider mit den Attributen der westlichen Erotisierung der Lebenswelt vertauscht. Ob das mit dem Stichwort »Kolonialisierung der Lebenswelt« angemessen bewertet wird, ist allerdings die Frage. Nicht zu vergessen ist ferner, dass im europäischen Zivilisationsprozess der Eros schon früh sein Doppelgesicht offenbart hat. Ein besonders lehrreiches Beispiel liefert das 13. Jahrhundert, in dem die mittelalterliche Spiritualität ihren Höhepunkt erreicht. Am Beispiel eines repräsentativen Dichtwerks dieser Zeit, am »Rosenroman«, hat der Literaturwissenschaftler Ernst Robert Curtius gezeigt, wie höfische Minne und vulgärer erotischer Kommunismus, Eros und Sexus zusammengehen: »Die Göttin Natura ist zur Handlangerin geiler Promiskuität geworden, ihre Regelung des Liebeslebens ins Obszöne travestiert. Die unbefangen spielende Erotik des lateinischen Humanismus, das stürmische Anrennen schweifender Jugend gegen die christliche Moral ist auf die Stufe einer sexuellen Aufklärung hinabgesunken, die aus gelehrtem Flitter und spießbürgerlicher Lüsternheit eine gepfefferte Hausmannskost braut« (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 135). Aber das hat nicht zum »Untergang des Abendlandes« geführt. Eher zu seiner Umbildung, die als Posthistoire heute die ganze 231 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Welt erfasst. Was auf den ersten Blick nach Zerstörung der Traditionen aussieht, ist in Wirklichkeit ein Ringen um neue Formen der Verbindung von Herkunft und Zukunft, um das Vakuum auszufüllen, das der Rückzug Gottes aus der Geschichte hinterlassen hat. In außereuropäischen Hochkulturen mag sich das Geschlechtliche mit dem Religiösen zur stärksten Lebensmacht verbunden haben, aber sie verbleibt entweder im Technischen oder führt ins Nirwana der Erlösungsreligion. Diesen Verbindungen fehlt die Dynamik, die den europäischen Geist auszeichnet. Die Verbindung von Logos und Eros dagegen eröffnet den Raum der europäischen Mentalitätsgeschichte, in dem eine innerweltliche Rechtfertigung des Menschen möglich wird.

Zyklentheorien der Geschichte Der europäische Logos hat die Idee des Fortschritts hervorgebracht. Das geschichtliche Bewusstsein der Menschen aber fügt sich diesem Schema nicht ohne weiteres. Daher sind Zyklentheorien nie ganz von der Bildfläche verschwunden. Oswald Spengler hat in Der Untergang des Abendlandes (1918) die Zyklentheorie organizistisch wieder in die Geschichtsphilosophie eingeführt. Nun ist offenkundig, dass es sich hier um eine Metapher von höchst zweifelhaftem Wert handelt. Aber Spenglers Zugang enthält doch einen Hinweis, den sich auch die Patterns-of-Culture-Forschung zueigen gemacht hat. In den elementaren Dingen des Lebens, wie Liebe, Geburt und Tod dominiert zwar nicht die Biologie, sondern die kulturelle Formung, aber hier kann es keinen Fortschritt im Sinne der Wissenschaften geben. Das gilt insbesondere für die kulturelle Bewältigung der Sexualität, so dass man sagen kann: Der Eros folgt grundsätzlich einem anderen Schema als der Logos. Immer wieder sind es Mann und Frau, die sich durch die sexuelle Lust zum Paar verbinden und durch Kinder aneinander gebunden werden. Ob das in Form der Kernfamilie geschieht, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit von der millionenfachen Wiederholung eines immer gleichen Verlaufs der Paarbildung getragen wird. Vom Standpunkt eines teleologischen Geschichtsverständnisses erscheint diese Auflösung des Zivilisationsprozesses als mechanistischer Reduktionismus. Aber diese Interpretation greift zu kurz. Sie übersieht, dass das, was einem unbeteiligten Beobachter als trostlose Wiederholung erscheint, von den Beteiligten als Einmaligkeit 232 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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und Neuheit erlebt wird. Natürlich gibt es auch im Liebesleben der Menschen die gewohnheitsmäßige, monotone Wiederkehr. Paarung lässt sich physiologisch als mechanischer Akt des Hin und Her beschreiben. Aber das ist nur eine Seite des Vorgangs. Die andere kann man mit Heidegger existenziell als »Wiederholung des Möglichen« auffassen. Im von außen gesehen immer gleichen Akt manifestiert sich ein immer neuer Wille zum Leben, zur Realität der Gegenwart: »Die Wiederholung überlässt sich weder dem Vergangenem, noch zielt sie auf einen Fortschritt. Beides ist der eigentlichen Existenz im Augenblick gleichgültig« (SuZ, 386). Diese im Hinblick auf das isolierte Subjekt kaum nachvollziehbaren Sätze erhalten ihren Sinn, wenn man sich auf das Paar bezieht. Die sexuelle Lust ist und bleibt zwar die Quelle des Eros, aber dieser ist doch immer ein Konzept, das sich vornehmlich im Kopf bildet. Die Kulturrelativität der Liebe besagt, dass auch die Gefühle dem Wandel unterworfen sind. Das betrifft nicht die reine Lustempfindung, aber doch die intellektuellen Gefühle wie Solidarität, Treue usw. Konstant bleibt lediglich der physiologische Vorgang, der technisch nur relativ wenig Variationen zulässt. Die Verselbständigung der sexuellen Lust macht sie zu ›Lüsten‹, die neue Ausdrucks- und Darstellungsqualitäten annehmen. Dadurch tendiert die sexuelle Lust dazu, sich von den realen Objekten der Begierde in die Vorstellung zu verlagern, zur symbolischen Form zu werden. Jedenfalls lässt sich in der Liebe die Naturform von den Kulturformen unterscheiden, und diese sind es, die für die Geschichtlichkeit Bedeutung haben. Auf allen Gebieten zeigt sich, wie stark die sozialen und kulturellen Überformungen in die Biologie eingreifen. Aber die Emanzipation von der Geschlechtlichkeit geht nie so weit, dass der Unterschied der Geschlechter ganz verschwindet. Auch in den höchst entwickelten Kulturformen bleibt die Faszination, die das andere Geschlecht biologisch auf den Menschen ausübt. Die Menschen werden nicht müde, in allen Bereichen, die nichts mehr mit der Sexualität zu tun haben, die Polarität der Geschlechter nachzuahmen. Die biologische Differenz wird dadurch neu akzentuiert, so dass man die Kulturformen des Eros nach wie vor als Mimesis der Naturform betrachten kann. Die Wiederkehr des Eros wird trotz aller Fortschritte immer den Erfahrungshorizont des geschichtlichen Menschen prägen.

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Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt

Kunstformen des Eros: Antike Die erste große Kunstform des europäischen Eros hat Platon in Gestalt des Sokrates entwickelt. Das ist eine geistesgeschichtliche Binsenwahrheit, deren tieferer historischer Sinn aber noch kaum ausgeschöpft ist. Zu sehr hat sich in den Köpfen der Interpreten die christlich eingefärbte neuplatonische Stufenleiter der Liebesformen festgesetzt, als dass man die Provokation des platonischen Eros noch wahrnehmen könnte. Die Metaphysik des »Überstiegs« lässt den Körper in der Seele aufgehen, und damit ist die Werthierarchie wiederhergestellt. Es ist der unkonventionellen Denkungsart Friedrich Nietzsches zu verdanken, dass er den griechischen Geist im spannungsvollen Ineinander zweier »Triebe« sieht, des Dionysischen und des Apollinischen. In der Gestalt des Sokrates findet diese Spannung ihre eindrucksvolle Verkörperung. Platon hat Sokrates als Stadtstreicher dargestellt, der die Jugend verführt und damit den Generationenkonflikt entstehen lässt. Sokrates steht damit für die Emanzipation des Eros von der Heterosexualität und die Verlagerung der Zeugung vom biologischen Geschlecht auf die Männerliebe. Allerdings sind Zweifel gegenüber der Absolutsetzung der Homosexualität angebracht. Das bestätigt auch das Ende der Apologie, in der Sokrates seine Richter darum bittet, gegenüber seinen Söhnen Strenge walten zu lassen: »Wenn ihr dies tut, dann ist mir volles Recht von euch geworden, mir und meinen Söhnen« (42a). Mit dem Eros kommt das zyklische Denken noch vor der kosmologischen Gestalt bei Aristoteles in den griechischen Logos: »So verkünde ich euch denn, ihr Männer, die ihr mich hingerichtet habt: es wird alsbald nach meinem Tod eine Strafe, eine weit schwerere, beim Zeus über Euch kommen, als ihr sie über mich durch das Todesurteil verhängt habt. Denn jetzt habt ihr das getan in dem Wahn, ihr würdet nicht Rechenschaft geben müssen für euer Leben; es wird aber, so behaupte ich, sich ganz das Gegenteil für euch ergeben. Die Zahl derer, die von euch Rechenschaft fordern, wird größer werden: bisher habe ich sie zurückgehalten, ohne dass ihr es gewahr wurdet. Sie werden euch umso gefährlicher werden, je jünger sie sind und ihr werdet umso größeren Ärger davon haben« (39c). Damit macht Sokrates den herrschenden Alten klar, dass die Kinder die einzige Hoffnung der Polis sind. Platos Definition des Eros als Liebe zu dem, woran der Mensch selbst Mangel leidet, lässt sich demnach auch lebensphilosophisch als 234 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Gerichtetsein auf die Kinder interpretieren. Nur in den Kindern leben die Werte, die jenseits des Individuums liegen: das Wahre, das Schöne und das Gute. Das ist der erste Versuch, den Menschen durch die ewige Wiederkehr des Eros zu rechtfertigen. Der Gedanke, dass die Jungen im Namen des Eros Rechenschaft von den Alten fordern, hat heutzutage in den postindustriellen Gerontokratien eine unerwartete Aktualität gewonnen.

Christliches Mittelalter In der christlichen Ära ist der Eros zumindest nach außen entmachtet worden. An Stelle des trostlosen Hin und Her der Kopulation tritt die Idee des Aufstiegs zu einem ›inneren Reich‹ des Glaubens, das dem Individuum außerhalb der weltlichen Ordnung Erlösung verspricht. Aber schon im Alten Testament wird die Wiederkehr aller Weltdinge ambivalent beurteilt: als Zeichen der Nichtigkeit, aber auch als Aufforderung, nicht ängstlich an den Angeboten der Welt vorüber zu gehen. Der mit der griechischen Philosophie vertraute Prediger Kohelet rät jedem, die Stunde zu nutzen, da der ferne Gott dem Menschen die Freuden der Liebe nicht missgönne. Das Hochmittelalter lässt körperliche Liebe nur als Instrument der Fortpflanzung zu. Im Kern der Gesellschaft bildet sich eine Minderheit von Gottesdienern heraus, die dem Geschäft der Reproduktion entsagt und daraus ein exklusives Selbstwertgefühl entwickelt. In dieser Hinsicht nimmt das Mönchstum die Stelle der antiken Philosophen ein. Den Anfang dieser Entwicklung macht der Kirchenvater Augustinus. Sein für die Bekehrung zum christlichen Leben exemplarischer Werdegang, den er in seinen Bekenntnissen dargestellt hat, ist der Sieg über den weltlichen Eros. Der Sieg besteht nicht so sehr in der Austilgung aller fleischlichen Begierden, in der Augustinus den Weg des Apostels Paulus geht. Denn schon bei Plato und noch stärker im durch Plotin vertretenen Neuplatonismus ist die Abwertung des Körpers gegenüber der Seele ein leitendes Motiv. Das Revolutionäre gegenüber Plato, dessen Dialoge Augustinus wohl vertraut sind, liegt vielmehr darin, dass er dem Eros die Mittlerfunktion abspricht und sie Christus zuerkennt. Christus gilt Augustinus als der »wahrhafte Mittler« zwischen Gott und den Menschen im Unterschied zum »betrüglichen Mittler« in Gestalt von körperlosen Dämonen (Bekenntnisse, 595). Das mag auf be235 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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stimmte neuplatonisch inspirierte Mysterienkulte zielen, richtet sich im Kern aber gegen den platonischen Eros. Damit ist der Konflikt beschrieben, von dem die europäische Spiritualität ihren Ausgang nimmt und ihre Dynamik erhält. Denn nicht nur der platonische Eros stellt sich im Logos dar, auch Christus beglaubigt seine Göttlichkeit durch den Logos, durch das Wort des Schöpfergottes. So gewaltig die Stimme des Kirchenvaters auch erschallte, der Eros war keineswegs endgültig besiegt. Im mittelalterlichen Marienkult kehrt er in vergeistigter Form wieder zurück. Die platonische Zwei-Welten-Lehre verschmilzt mit der christlichen Jenseitsvorstellung. In der höchsten Form der Emanzipation von der Geschlechtlichkeit schlägt die Biologie wieder durch und führt den religiösen Symbolen irdischen Erlebnisgehalt zu. In Maria wird die Frau ihrer Sexualität zwar entkleidet, aber ihre Empfängnisbereitschaft genießt Verehrung. So fungiert die Mutterschaft und die Empfängnis, die als ›unbefleckt‹ bezeichnet wird, als Mittler zwischen dem Sohn Gottes und den Menschen. Die Ikonographie legt von dieser Mittlerrolle Marias eindrucksvolle Zeugnisse ab. Der Minnedienst der Provenzalischen Troubadoure gibt dem Eros neue Impulse. Sozialgeschichtlich handelt es sich um eine aus dem Feudalismus erklärbare Idealisierung des Eros, dessen Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Kultur nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Die Liebe der Troubadoure galt immer einer Feudalherrin, die als verheiratete Frau in der Realität unerreichbar war. Das führt zur ›Liebe aus der Ferne‹, die der Form religiöser Verehrung gleicht. Der Troubadour stellt den progressiven Typus des Feudalismus dar, der Liebe und Ehe dissoziiert und damit den Boden für die romantische Auffassung der Ehe als Liebesheirat bereitet hat. Weit davon entfernt, bloß weltfremde Schwärmer zu sein, sind Troubadoure Protestsänger, welche der Allgewalt der Liebe poetischen, aber auch revolutionären Ausdruck verleihen. Der Minnedienst ist also kein rein literarisches Phänomen, sondern ein Versuch, die christliche Jenseitserwartung in sublime Formen der irdischen Liebe zu transformieren. So kann es nicht verwundern, dass diese Klasse von freien Geistern dann schnell durch die weltlichen und geistigen Hierarchien ausgetilgt worden ist.

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Die Erotika der Neuzeit Mit der Renaissance beginnt die neuzeitliche Rechtfertigung durch den Eros. Jacob Burckhardt berichtet, dass die Liebesmoral der Renaissance einen merkwürdigen Gegensatz zwischen sexuellem Genuss und Vergeistigung der Leidenschaft aufweist, der für den modernen Menschen bis heute wegweisend geworden ist. Der Entfaltung einer neuen erotischen Kultur folgen die Theoretiker der Liebe, Marsilio Ficino und Giordano Bruno. Sie berufen sich zwar auf Platon und Plotin, erreichen aber eine Individualisierung und Intensivierung des Eros, die den antiken Autoren noch fremd war. Ihre neue Leitidee ist die Zusammenverwandlung (commutatio) durch gegenseitige Einverleibung der Liebenden: »Jeder der beiden Liebenden tritt aus sich heraus und geht in den Anderen über; in sich selbst abgestorben ersteht er im anderen wieder. Einen Tod nur gibt es bei der gegenseitigen Liebe, zweifach aber ist die Auferstehung. Denn es stirbt, wer da liebt, einmal in sich, indem er von sich selber lässt. Er lebt dann sogleich in dem Geliebten wieder auf, wenn dieser ihn mit der Glut seines Denkens aufnimmt. Ein zweites Mal aber lebt er auf, indem er sich endgültig im Geliebten wieder erkennt, frei von allem Zweifel, mit ihm identisch zu sein« (Marsilio Ficino, Über die Liebe, 1474, 69 f.). Auch hier ist das Motiv des zyklischen Wiederauflebens wirksam. Bruno hat die Dialektik dieses Schemas im Aktaion-Mythos weiterentwickelt, in dem der Jäger zum Gejagten wird, den die Hunde seiner Begierde zerreißen. Das macht die Liebe zur ›heroischen Leidenschaft‹. Auch in dieser Transformation kommt das zyklische Element des Eros zum Tragen: In seinem Dialog Von den heroischen Leidenschaften (1585) hat Giordano Bruno das ›Fatum der Veränderung‹ gegen die Einmaligkeit des christlichen Heilsgeschehens ausgespielt. Der Renaissance steht im Norden die Reformation gegenüber. Luther greift auf Paulus zurück und schafft Raum für die Individualität. Der Fels auf dem das Individuum steht, ist der Glaube, der sich von der »Hure Vernunft« losgesagt hat. Aber der neuzeitliche Mensch will nicht mehr von unbekannten Mächten abhängig sein. Die Gewissheit des Cogito ist die Antwort des Logos auf die Herausforderung der christlichen Theologie. Der Logos verbündet sich mit dem Streben nach Selbsterhaltung. Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht Thomas Hobbes. Er weist die antike Annahme eines definitiven Ziels menschlichen Handelns zurück und sieht in der Grenzenlosigkeit der 237 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Tätigkeiten die spezifisch menschliche Form der Selbsterhaltung. Subjektiv äußert sich das im Empfinden von Glück, das Hobbes als tätigen Fortschritt der Begierde von einem Objekt zum anderen definiert (Leviathan, Kap. 11). Hobbes führt die Dynamik der Wünsche auf das Bedürfnis nach Sicherung zukünftiger Wunscherfüllung zurück und interpretiert den gesamten Komplex im Hinblick auf Machtstreben und Machterhaltung. Mit dem Machtbegriff wird der Eros scheinbar ausgeblendet, es kann aber kein Zweifel bestehen, dass es sich hier nur um zwei Seiten derselben Medaille handelt. Die erotische Begierde wird dynamisiert und auf den ganzen Menschen ausgebreitet.

Zyklen des modernen Eros Macht man von Hobbes einen großen Sprung ins 20. Jahrhundert (was dazwischen liegt, kann man in Luhmanns Liebe als Passion nachlesen), so tritt die innere Verwandtschaft zwischen Eros und Macht wieder klar zutage: Alfred Adler beispielsweise hat keine Schwierigkeiten, Freuds Sexualtrieb in einen »Geltungstrieb« umzuinterpretieren. Die Dynamik der Macht hat ihr Vorbild in der sexuellen Lust, die beim Menschen dazu tendiert, sich zu verselbständigen. Nur ein Wesen, dessen Sexualität luxuriert und damit zur Erotik wird, praktiziert auch ein grenzenloses Selbsterhaltungsstreben, das der kapitalistischen Wirtschafts- und bürgerlichen Lebensform entspricht. Werner Sombarts zu wenig beachtete These von der Entstehung des Kapitalismus aus dem Luxus als Funktion des Eros findet hier ihre Bestätigung (Luxus und Kapitalismus). Der Eros ›spielt‹ Mann und Frau, aber das ist mehr als ein Kinderspiel. Es ist ein ernstes Spiel und lässt sich nicht mit dem feudalen Rollenspiel vergleichen. Die Wirklichkeit des Eros wird nach Regeln gespielt, die sich denen der im Entstehen begriffenen kapitalistischen Wirtschaft angleichen. Das ist der zweite große Versuch einer innerweltlichen Rechtfertigung des Menschen, der weltgeschichtliche Dimensionen annimmt. Die mit der Romantik beginnende Moderne hat versucht, den Eros in das Leben der bürgerlichen Gesellschaft zu integrieren. Es entstehen ein neues Lebensgefühl und ein neuer Lebensstil, der zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt. Die unerhörte Breitenwirkung von Goethes Werther ist dafür ein Beleg. Hinzu kommt die Rolle der Musik als bevorzugtes Medium der romantischen Liebe. Auch in 238 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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der bürgerlichen Ehe nimmt die Sexualität immer mehr die Form des Eros an. Gegenüber der romantischen Hochschätzung der Liebe erfolgt im 19. Jahrhundert ein Rückschlag in Form der moralischen Tabuisierung der Sexualität. Ein Spiegel der verlogenen und zugleich schwülen Atmosphäre, in der Sexualität und Erotik seiner Zeit gediehen, ist Sigmund Freuds psychoanalytische Trieblehre. Die Absolutsetzung des Eros als Lebenstrieb ist Protest gegen die verlogene spätbürgerliche Sexualmoral, die Freud durch seine psychoanalytischen Bemühungen gleichsam von innen auflösen möchte. Wie aussichtslos der Kampf Freud am Ende seines Lebens erschien, zeigt seine Einführung des Todestriebs neben dem Eros. Das ist ein Spiegel der schon in Schopenhauers »Willensmetaphysik« vollzogenen unauflöslichen Verbindung von Sexualität und Tod, die aus den bedrohlichen Erfahrungen der Geschlechtskrankheiten und der Kindbettsterblichkeit genährt wurde. Freuds verzweifeltes Bemühen, den Eros aus der Dunkelheit unbewusster Konflikte an das Licht individueller Selbstbestimmung zu führen, enden aporetisch und lassen den Menschen als ein Wesen erscheinen, das in den Kreislauf der Natur eingebettet ist. Ein Spiegelbild der produktiven Wiederkehr des Eros liefern die Aufstände der Intellektuellen in den Jahrzehnten nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Literarische Beispiele von rechts und links gibt es in Hülle und Fülle: Ernst Jünger, Louis Aragon, Henri Miller, Norman Mailer, Bernward Vesper, um nur einige zu nennen. Gelegentlich klingen vitalistische Töne an, aber bei den genannten Autoren kommt es allenfalls bei Miller, der sich an Bergson anschließt, zur lebensphilosophischen Mystifizierung der Keimbahn. Vorherrschend ist vielmehr der Eindruck der generationsspezifischen Wiederkehr des Eros als Protest gegen die Macht der gesellschaftlichen Strukturen. Der Eros ist der ewige Protestant, nur merkt die ihm ergebene junge Generation nicht, dass sie damit der Kontinuität dient, die sie zu sprengen glaubt. Hier kann man sehen, wie unter der Diktatur der politischen und sozialen Ideen sich die Räder des Eros drehen und den Karren der Geschichte immer wieder aus dem Dreck ziehen.

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Epizyklen des postmodernen Eros In der Postmoderne hat der Eros noch einmal einen bedeutenden Gestaltwandel durchgemacht. Das ›zuckende Loch‹ und der ›dampfende Schwanz‹, von denen sich die Surrealisten noch faszinieren ließen, haben den Charakter des Skandalösen und Ominösen längst verloren. Durch die massenhafte Sichtbarkeit der erotischen Sphäre ist der postmoderne Eros für die junge Generation zu einem sekundären System geworden, das sich immer mehr von seinem existenziellen Ursprung entfernt, so wie der Logos sich in Form der technischen Rationalität verbreitet. Das ist eine unausweichliche Folge der Medialisierung, die im Kapitalismus den Erotismus zur Warenerotik gemacht hat. Von der Kulturindustrie zur Pornoindustrie ist es dann nur ein konsequenter Schritt, von der medialen Prostitution ganz zu schweigen. Die moralische und gesellschaftliche Kritik dieser Phänomene ist natürlich berechtigt und kann nicht scharf genug formuliert werden. Aber die Kritik wird ideologisch, wenn sie die Warenerotik pauschal als Form der Entfremdung und Degeneration denunziert. Dann übersieht sie das Potential an massenhafter Kreativität, die sich beispielsweise in der Mode und in der Popmusik dokumentiert, die zu den auffälligsten Zeichen der globalen Erotisierung der Lebenswelten gehören. Noch vor hundert Jahren hat die Kulturphilosophie die Mode als schichtenspezifisches Phänomen definiert (Georg Simmel), heute dagegen geht es nicht mehr um soziale, sondern um personale Identität. Wie wenig die Einschätzung der Sichtbarkeit des Erotischen als Oberflächenphänomen und Form falschen Bewusstseins der kulturellen Dimension gerecht wird, lässt sich auch an den Veränderungen im Verhaltenskodex der jungen Generation deutlich erkennen. Der verklemmte Moralismus vergangener Zeiten in der Beziehung der Geschlechter ist dem gewichen, was man heute ›sexuelle Verhandlungsmoral‹ nennt, ein auf Ausgleich und fruchtbare Kompromisse ausgerichtetes Spiel mit erogenen Zonen und Zeichen. Es ist unverkennbar, dass der Eros in seinen kulturübergreifenden, den Lebensstil der Massen prägenden Ausformungen das Medium bildet, in dem soziale Konflikte ausagiert werden. Die Logik des postmodernen Eros findet in den Zyklen der Geldmärkte ihren auch medial erlebbaren Ausdruck. Wie sich nach Max Weber im Kapitalismus das Ökonomische vom Häuslichen und seiner Nahmoral abgelöst hat, so hat es sich in der Postmoderne der Logik des 240 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Eros angepasst. Aus dem stählernen Gehäuse der innerweltlichen Askese befreit, bleiben Ökonomie und Eros doch miteinander verbunden. Das Steigen und Fallen der Kurse, für das es kaum hinreichende wirtschaftliche Erklärungen gibt, wird immer mehr zu einem Psychogramm des Eros. Er liefert das Schema für die erotische Selbstdarstellung der Ökonomie, die ein neues Lebensgefühl geschaffen hat. Wegen seiner institutionellen Exterritorialität kann sich das Erotische mit dem Ökonomischen vereinigen – ein unaufhaltsamer Prozess, dessen hässliche Kehrseite niemand leugnen will. Aber es wäre Utopismus zu glauben, man könne die Entwicklung zurückdrehen und das Heil im Ideal eines neuen Essentialismus der Innerlichkeit finden. Damit soll keineswegs einer postmodernen Leichtigkeit des Seins in Form einer entfesselten und kommerzialisierten Erotik das Wort geredet werden. Es soll vielmehr gezeigt werden, wie sehr auch die ökonomische Rationalität der Postmoderne von der Wiederkehr des Eros geprägt ist. Der Eros als innere Form des Logos ist und bleibt der Motor des Zivilisationsprozesses. Er gehört zu den Kräften, welche das heterogene System der Gesellschaft durch Zirkulation der Gefühle im Gleichgewichtszustand halten. Die interdependenten Zyklen der Gefühle und ihrer Darstellung, der ›Residuen‹ und der ›Derivationen‹, um mit Vilfredo Pareto zu sprechen, sind die Form, in der sich geschichtliche Veränderungen vollziehen. Das Schema des Eros erhält damit eine geschichtliche Dimension, es wird zum Verlaufsschema der gebrochenen oder reflektierten Kontinuität. Die Opposition von Geschichtsphilosophie und Anthropologie, von Prozess und Konstanten, verfehlt die mittlere Ebene, die vom Eros besetzt wird. Wenn überhaupt, dann ist von hier die Rechtfertigung zu erwarten, die mehr ist als nachträgliche Rationalisierung, aber weniger als Teilhabe an überzeitlichen Vernunftideen.

Eros gegen Christus? Zwar orientiert sich unser Projekt einer erotischen Rechtfertigung an der theologischen Denkfigur, doch für die Philosophische Anthropologie gelten andere Parameter. Nicht das Jüngste Gericht oder die Ewige Gerechtigkeit, die über das Heil der unsterblichen Seelen entscheiden, sind das Thema. Die theologische Fragestellung betrifft Dinge, die jenseits der Gebiete liegen, über die der Eros herrscht. Sein Herr241 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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schaftsbereich erstreckt sich auf die emotionalen Beziehungen zwischen Mann und Frau. Hier ermäßigt sich die Rechtfertigung auf die Frage, wie das Individuum trotz seines Egoismus vor den Maßstäben bestehen kann, die durch die Paarbindung gesetzt werden. Dennoch ist die Frage ›Eros oder Christus?‹ nicht ganz abwegig. Ihr ernster Sinn liegt darin, ob die Opposition von heidnischer Zyklentheorie und der Einmaligkeit der christlichen Heilsgeschichte unüberwindbar ist. Auf der geschichtsphilosophischen Ebene sicherlich. Aber geht man von der Großerzählung auf die Zwischenebene der Generationen, so steht der Eros für eine Form der Geschichtlichkeit, die das Immergleiche mit einer Steigerung des geschichtlichen Bewusstseins verbindet. Auf dieser Ebene entfällt die Versuchung, Eros in Konkurrenz zu Christus zu setzen. Dass diese Versuchung nahe liegt, belegen die neuheidnischen Strömungen des Panerotismus von Bachofen bis Klages. Aber dass auf diesem Weg keine Rechtfertigung zu erreichen ist, bedarf keiner Diskussion. Niemand kann im Ernst glauben, dass die ewigen Idole Phallus und Vulva dem Menschen die Erlösung bringen, die er in Christus sucht. Denn das käme der Gründung eines neuen religiösen Glaubens gleich. Die Zeit der Religionsstifter aber ist endgültig abgelaufen. Wo das nicht beachtet wird, entstehen Pseudoreligionen wie die des von Nietzsche erträumten Zarathustra. Was Zarathustra »also sprach«, klingt heute hohl und erinnert an die von der monotheistischen Religion überholten Dämonologien. Wer Eros mit Dionysos gleichsetzt, der landet unweigerlich im Fetischismus, auch wenn er philosophisch als ›postmoderner Polytheismus‹ daherkommt. Eros ist kein neuer Gott, nach dessen Kommen sich spätromantische Geister vielleicht sehnen, sondern Exponent der Gestalt der Welt, in der wir leben. Der Eros wird zur Chiffre der Geschichtlichkeit, die ohne Eschatologie auskommt. »So herrsche denn Eros, der alles begonnen!«: Der Gesang der Sirenen in der Klassischen Walpurgisnacht klingt nicht weniger ungeheuer als der sonderbare Spruch »Nemo contra deum nisi deus ipse«, auf den Goethe verweist, um die außermoralische Kraft des Dämonischen zu erläutern. Goethe hat im Dämonischen eine die göttliche Weltordnung durchkreuzende Macht gesehen, die nur durch sie selbst überwunden werden kann. Das Ungeheure des Spruches sieht er darin, dass Gott als der Allgütige und zugleich Gerechte in Christus einer Selbstbeschränkung bedarf, um seinem Anspruch als Erlöser gerecht zu werden. Der unsichtbare Gott kann auf eine Inkarnation nicht verzichten, um den Menschen zu rechtfertigen. Auch der Eros ist in 242 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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seiner Herrschaft an Erscheinungsformen gebunden, die in der Natur des Menschen als zweigeschlechtliches Wesen liegen. Aber der Eros ist nicht auf die Inkarnation des Göttlichen in einer Person angewiesen, sondern steht für das Verhältnis der Geschlechter zueinander.

Eros und Fortschritt Erotische Rechtfertigung ist nicht vergleichbar mit Erlösung im Jenseits, die einen allmächtigen Schöpfergott voraussetzt, welcher der Geschichte ein Ende setzt. Eros ist kein Gott, vor dem sich der Mensch rechtfertigen muss, sondern das Medium der Rechtfertigung des Menschen vor anderen und vor sich selbst. In der erotischen Liebe dringe ich in den Anderen ein, baue ihn durch den Eros zugleich aber als Person auf, so dass der Eros zu einem Akt ›schöpferischer Zerstörung‹ wird. Diese Dialektik hat ihre vorphilosophische Gestalt im Mythos von Amor und Psyche gefunden. Die schöne Psyche, die Fleisch gewordene Menschenseele, die sich in Amor verliebt, kann nicht ertragen, dass sie den Gott, der sie nur im Dunkel der Nacht besucht, nicht sehen darf. Sie bricht das Tabu, und die Strafe im Tempel der Aphrodite fällt hart aus. Aber die Liebe siegt schließlich und wird vom Göttervater Zeus mit der endgültigen Vereinigung der Liebenden belohnt. Der alttestamentarische Gott ist von solcher Großzügigkeit weit entfernt. Als Wächter des Absoluten muss er die Menschen auf Distanz halten: »Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt!« (Gen. 3, 22). Der Eros lässt sich von solchen Ausbrüchen göttlichen Neids nicht einschüchtern. Er will leben und leben lassen und sorgt somit dafür, dass das Leben weitergeht, auch wenn sich die Lebensbedingungen dramatisch verändern. Das ist mehr als ein Prozess der Anpassung, dem auch die Tiere unterliegen, es ist Ausdruck der Geschichtlichkeit des Eros, der über seinen eigenen Schatten springen kann. Erotische Rechtfertigung eröffnet damit Perspektiven des kulturellen Fortschritts. Diese unterscheiden sich nicht nur von Hegels Philosophie der Geschichte, sondern auch von der Marxschen Eschatologie der klassenlosen Gesellschaft. Geschichte ist mehr als Vorgeschichte einer endgültigen ›Selbstschöpfung‹ des Menschen. Die Ebene, auf der sich die Zyklen des Eros bewegen, liegt zwischen dem ›Unterbau‹ der 243 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt

materiellen Reproduktion und dem ›Überbau‹ der Ideologien. Es ist die Ebene des Zivilisationsprozesses, auf der die konkreten Lebenserfahrungen der Menschen wirksam bleiben und kreativ werden. Der ›Geist der Utopie‹ ermäßigt sich zur Überzeugung, dass die Welt weitergeht, solange Männer und Frauen sich zu Paaren verbinden. In diesem Sinne heißt erotische Rechtfertigung des Menschen Rettung der geschichtlichen Wirklichkeit, die von der Kette der Generationen zusammengehalten wird.

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Kapitel 14: Paarwesen Mensch

Es hat niemals ein Einzelgeschöpf gegeben. Es hat lediglich das liebende Paar gegeben. (Jean Giraudoux, Sodom und Gomorra)

Der Mensch ist von Natur aus ein geselliges Wesen. Diese Aussage deckt sich nicht mit der klassischen Definition des Menschen als gesellschaftliches Wesen. Die Gesellschaft steht für kollektive Organisationsformen, die Individuen in bestimmten Funktionen miteinander verbindet. Individuum und Gesellschaft bedingen sich wechselseitig, ganz gleich, ob der Einzelne gesellig ist oder nicht. Das Individuum als Element der Gesellschaft fällt aber nicht vom Himmel. Es entsteht durch das Paar, das Mann und Frau aus der ursprünglichen Form der Geselligkeit, der Horde, befreit. Erst im Durchgang durch das Paar werden die Menschen gesellschaftsfähige Subjekte. In diesem Sinn wird hier der Mensch als Paarwesen bezeichnet. Mit dieser Feststellung soll der Wert der Individualität nicht geschmälert werden; aber ihre Absolutsetzung ist aus anthropologischer Sicht nicht haltbar. Biologisch ist der Einzelne nur ein Instrument der Keimbahn, und diese kümmert sich nicht um die Belange des Individuums. Der Kultur fällt die Aufgabe zu, menschliche Individualität aus der Dienstbarkeit gegenüber dem Gattungserhalt zu befreien. An die Stelle der Gattung tritt die Gesellschaft, die durch zunehmende Differenzierung Individualität und Subjektivität freisetzt. Individuum und Gesellschaft treten sich gegenüber als zwei Perspektiven, die sich nicht mehr zur Deckung bringen lassen: die Innenperspektive des isolierten Subjekts und die Außenperspektive der sozialen Tatsachen. Psychologie und Soziologie sind die beiden Wissenschaften, die sich wie feindliche Brüder um ihren gemeinsamen Gegenstand streiten: den Menschen. Aber ›den Menschen‹ gibt es nicht. Es gibt nur Männer und Frauen, die durch ihre geschlechtliche Partnerorientierung Kinder her245 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt

vorbringen. Was es gibt, sind Paare, deren ontologischer Status allerdings schwer bestimmbar ist. Als kleinste Verbindungsglieder stehen sie nicht in der Weise für sich wie Individuum und Gesellschaft, aber sie haben doch eine eigene Wirklichkeit. Es ist die Wirklichkeit eines Mediums, das die Innen- mit der Außenperspektive verbindet. Da Mann und Frau nie wieder die Einheit erreichen können, aus der sie nach dem griechischen Mythos als ursprüngliche Zwitterwesen hervorgegangen sind, bleibt das vollkommene Paar ein unerreichbares Ideal, aber auch die regulative Idee des Zusammenlebens von Mann und Frau. Wegen ihrer Idealität, die Instabilität und Flexibilität einschließt, ist die Paarliebe das konkrete Apriori der Menschwerdung. Für das Paar genügt die empirische Wissenschaft nicht. Allein die Philosophische Anthropologie erreicht die mediale Wirklichkeit der Paarbeziehung, die jenseits der Opposition von Individuum und Gesellschaft steht, genauer: die auf halbem Wege zur Entzweiung von Individuum und Gesellschaft steht.

Das Paar in der brgerlichen Gesellschaft Zweifellos ist der Begriff des Paares durch die bürgerliche Gesellschaft geprägt, die das Liebespaar mit der Vorstellung von Zärtlichkeit und Intimität verbindet. Eine Anthropologie des Paares muss diesen engen Horizont erweitern. Hier wird daher das Paar auch nicht, wie heute oftmals noch üblich, aus der Perspektive der romantischen Liebe betrachtet, sondern als Leitidee des Zivilisationsprozesses dargestellt. Die Freisetzung der Individualität durch die Entzweiung der modernen Gesellschaft lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Schon Hegel hat alle romantischen Träume vom ›Brei des Herzens‹ als gefährliche Illusion zurückgewiesen. Auch der moderne Individualismus lässt sich nicht mehr durch nachgeahmte Substantialität der Institutionen wegbringen. Aber das will die Philosophische Anthropologie auch nicht. Ihr geht es vielmehr darum, den protosozialen Hintergrund freizulegen, vor dem sich die genannten Prozesse abspielen. Die hier vertretene Anthropologie des Paares will demnach auch keine ›Soziologie der Ehe‹ sein, zumal man allgemein davon ausgehen kann, dass die Einrichtung der Ehe nicht dem Eros entspringt, sondern ökonomisch-soziale Gründe hat und eher als Disziplinierung der Sexualität fungiert. Die Befreiung des emanzipierten Paares aus den Fes246 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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seln der Ehe im westeuropäischen Zivilisationsprozess kommt nicht von ungefähr. Sie darf allerdings nicht, wie das häufig geschieht, mit der ausschweifenden Natur des Geschlechtstriebes begründet werden. Eher das Gegenteil ist der Fall: Blickt man auf das Mensch-Tier-Übergangsfeld, so deutet vieles darauf hin, dass die Urmenschen nur in Horden überleben konnten. Innerhalb der Horde ist eine Verbundenheit einzelner Paare aber kaum denkbar. Hierarchie scheint hier die geschlechtlichen Beziehungen bestimmt zu haben, so dass man sagen kann: In den Urhorden lebten Männer und Frauen neben- und nicht miteinander. Dieser Zustand aber bleibt auf die vorgeschichtliche Zeit beschränkt. Mit der Sesshaftigkeit haben sich die Lebensbedingungen zugunsten fester Paarbildung verschoben. Daher haben die Ethnologen keine Kultur gefunden, in der die Menschen in absoluter geschlechtlicher Promiskuität lebten. Der Normalfall ist die monogame Ehe, in der die Frau primär als Besitz des Mannes angesehen wurde, über den er nach seinem Gutdünken verfügen konnte. Dabei rangierten oft ökonomische Vorteile oder Motive der Prahlerei vor sexueller Exklusivität, deren Aufhebung allerdings nur unter besonderen Umständen gestattet war. All diese Erscheinungen schließen nicht aus, dass die biologisch bedingte sexuelle Partnerorientierung die Grundsituation bildet, auf welche alle gesellschaftlichen Formen der Zweierbeziehung eine Antwort zu geben versuchen. Damit beginnt die Verwandlung der unpersönlichen Sexualität nach dem Schema des Eros, das zwei Menschen verschiedenen Geschlechts zu einem Paar verbindet. Dabei bleibt zunächst offen, welche institutionelle Form die Paarbindung annimmt. Insofern ist das Paar doch mehr als ein bürgerlicher Begriff; es ist der anthropologische Prototyp, an dem die erotische Liebe nicht nur die Funktion, sondern die Person des Anderen erreicht.

»Ehepaare« und »Partnertausch« Die europäische Kultur kennt viele berühmte Liebespaare: von Romeo und Julia bis Bonnie und Clyde. Fast allen ist der Widerstand gegen den gesellschaftlichen Zwang gemeinsam. Ihr oft tragisches Scheitern steht für die Absolutheit und Kompromisslosigkeit der exklusiven Verbindung zwischen Mann und Frau. Auch wo die Verbindung bis ins hohe Alter währt, wie bei Philemon und Baucis, hebt sich das Paar durch 247 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt

seine Gastfreundschaft von den anderen Menschen ab. Dafür wird es von den Göttern belohnt. Durch ihre Verwandlung in eine Eiche und eine Linde symbolisieren sie die beiden Seiten der Liebe: die vergehende Blüte und die bleibende unbeugsame Treue zu sich selbst und zur Erde, auf der sie leben. Die großen Liebespaare gehören einer vergangenen Zeit an. Schon mit Goethes Wahlverwandtschaften hat sich der Duktus geändert. Die nach chemischen Gesetzen sich vollziehende Paarbildung überschreitet zwar die institutionellen Grenzen der Ehe, aber es handelt sich doch um eine Art Kombinatorik, die das Paar in seiner hoch sublimierten und bedingungslosen Form einlöst. Das erkennt man an dem aus der Chemie des 18. Jahrhunderts stammenden Begriff der ›Wahlverwandtschaften‹, den Goethe nicht ohne Grund für die Beschreibung einer in der Phantasie sich abspielenden illegitimen Liebesbeziehung benutzt hat. Die Kraft der chemischen Bindungen wird allerdings durch die Figur des ›Mittlers‹ eingeschränkt, die in Goethes Roman so kleinbürgerlich wirkt wie der moderne Eheberater. Der ›Mittler‹ hält die Sprengkraft der Liebe unter der Decke, wie überhaupt der ganze Roman, der in Wirklichkeit ein Lehrstück ist, nicht mehr die Tragik besitzt, die der Eros in den Dramen der französischen Klassik aufweist. Paarbildung erlaubt neue Anschlüsse und in diesem Sinne fungiert der Eros auch als ›Mittler‹, aber er kann und will die von der elementaren Anziehungskraft Überwältigten nicht vor den Katastrophen bewahren, die mit dem Zerbrechen der traditionellen Ehe verbunden sind. Den Wandel der Paarbildung hat John Updike in seinem Zeitroman der 1960er Jahre, Ehepaare, dargestellt. Updike zeigt, wie sich verheiratete Paare nach der sexuellen Befreiung im amerikanischen Mittelstand nach den Regeln des Eros neu kombinieren: »In der Chemie, sagte Ken, haben Moleküle Bindungen. Einige Verbindungen sind stärker, andere sind schwächer gebunden. Heute können wir zwar anhand der Atom-Wertigkeiten erklären, warum das so ist, aber ursprünglich war das Ganze eine rein pragmatische Angelegenheit« (425). ›Partnertausch‹ wirkte seinerzeit sozialrevolutionär, doch schon Updike lässt erkennen, dass es sich um eher bürgerliche Spiele handelt, die keine prinzipiellen Fragen und damit auch keinen Protest aufkommen lassen. Das ist auf der einen Seite als Absage an Utopien sexueller Befreiung gedacht, auf der anderen Seite aber auch eine Bestätigung, dass sich überall wieder Paare bilden, wo Männer und Frauen die Fesseln geregelter Ehe- und Familienbande sprengen. 248 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Um mögliche Missverständnisse auszuschließen, sei betont, dass die hier vertretene Anthropologie das Menschsein nicht von der realen Paarbindung abhängig macht. Es bleibt nicht nur offen, welche soziale und rechtliche Form das Paar annimmt, es bleibt auch offen, ob ein einzelner überhaupt eine Paarbindung eingeht. Wie bei der Geschichtlichkeit geht es bei der Paarliebe allein um die Möglichkeit, die den Tieren nicht bzw. in einem rein gattungsorientierten Sinne offen steht. In diesem Punkte gilt der von Heidegger in seiner Daseinsanalytik vertretene Primat der Möglichkeit. Die »Treue der Existenz zum eigenen Selbst« setzt Heidegger gleich mit der »möglichen Ehrfurcht vor der einzigen Autorität, die ein freies Existieren haben kann, vor den wiederholbaren Möglichkeiten der Existenz« (SuZ, 391). Obwohl die Paarbindung immer die Erwartung der Einzigartigkeit und Dauer impliziert, zeigt die Erfahrung, dass es sich um eine Utopie handelt. Das ist nicht weniger, sondern mehr als die Wirklichkeit, die ohne diese Möglichkeit kaum erträglich wäre. Das wird durch das emotionale Leben der Männer und Frauen, die man heute als ›Singles‹ bezeichnet, nachdrücklich bestätigt.

Paarliebe und Ehe Die Soziologie hat die Paarbildung im Rahmen der Beziehungslehre untersucht, die Leopold von Wiese gegen vielfältige Kritik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgebaut hat. Die Beziehungslehre, die gesellschaftliche Prozesse aus sich wiederholenden intersubjektiven Wechselbeziehungen aufbaut, schließt an Gabriel Tarde an, der die Dyade zum elementaren Gegenstand der Soziologie erklärt und die Wiederholung zur Grundfunktion der Gesellschaft macht. Zu dieser sozialpsychologischen Strömung gehört auch die formale oder relationale Soziologie von Georg Simmel, der ebenfalls die Wechselwirkung zwischen Menschen als die Grundform der Vergesellschaftung betrachtet. Die Kritik an diesem Ansatz, die von Emile Durkheim, Max Weber und anderen geübt worden ist, vermisst die Erwartungs- und Sinnorientierung, die über die mechanische Wiederholung hinaus die Menschen miteinander verbindet. Dieser normative Innenaspekt der Beziehung darf in der Tat nicht unberücksichtigt bleiben, denn nur so gewinnt das zwischenmenschliche Geschehen anthropologische Relevanz. 249 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Nach Simmel bauen sich auf der Zweierbeziehung höherstufige Beziehungsformen auf, die sich von der Dyade in ihrer soziologischen Bedeutung qualitativ unterscheiden. Zwischen der Zweizahl der Teilnehmer auf der einen und der Mehrzahl auf der anderen Seite verläuft eine scharfe Grenze. Für die Zweierbeziehung gilt, dass sie ganz von den beteiligten Personen abhängt und keine darüber hinausreichende Einheit bildet. Das erzeugt bei den Beteiligten ein spezifisches Gefühl der Unersetzlichkeit jedes Partners, das Sentimentalität und Tragik zur Folge haben kann: »Dass den Verhältnissen zu zweien, der Liebe, der Ehe, der Freundschaft … der Ton der Trivialität oft zur Verzweiflung und zum Verhängnis wird, beweist den soziologischen Charakter der Zweierformungen, sich an die Unmittelbarkeit der Wechselwirkung zu binden und jedem Element die überindividuelle Einheit vorzuenthalten, die ihm gegenübersteht, indem es zugleich an ihr teil hat« (Soziologie, 104). Diese Charakteristik der Zweierbeziehung scheint auch die Liebe auf die Unmittelbarkeit der Wechselwirkung zwischen Mann und Frau festzulegen. Das widerspricht aber nur scheinbar dem Schema des Eros, dessen Dreigliedrigkeit in allen Hinsichten herausgearbeitet worden ist. Natürlich besteht das Liebespaar aus zwei Menschen, aber anders als in der rein sexuellen Vereinigung lebt die Paarbeziehung von einem idealen Dritten, dem Eros, der die Liebenden über die sexuelle Verschmelzung hinaus miteinander verbindet. Das »Miteinandersein«, das Heidegger auf die »Sorge« zurückführt, findet im Paar seine Realisierung durch den Eros. Diese Einschätzung des Eros findet auch bei Simmel ihre indirekte Bestätigung. Er betrachtet nämlich die Ehe als signifikante Ausnahme unter den Zweiergruppierungen. Die Ehe sei zwar von jedem der beiden Partner abhängig, habe jedoch einen Charakter oder eine Bedeutung, die mit der Erwartung keines der beiden Partner zusammenfällt. So entstehe doch das Gefühl, dass die Ehe etwas Überpersönliches und an sich Wertvolles sei (107). Simmel führt die Entstehung des überpersönlichen Wertes der Ehe auf die Dialektik von Nähe und Ferne zurück und weist zur Bestätigung auf die institutionellen Formen hin, in denen sich die Eheschließung vollzieht. Was Simmel der Ehe vorbehält, gilt auch und erst recht für das Paar, das heute zunehmend auf die Rechtsform der Ehe verzichtet. Wie immer diese Entwicklung in Zukunft auch verlaufen mag, für Liebespaare gilt, dass sie mehr bedeuten als lustvoller sexueller Verkehr. Gegenüber der Ehe zeichnet sich die Liebe dadurch aus, dass ihr Über250 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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persönliches auch ohne institutionelle Regulierung auskommt und damit persönlich bleibt. Für die moderne Ehe als relativ lockere Bindung gilt: »Dies ist eine durchgehende soziologische Formierung: es besteht eine viel größere Freiheit des individuellen Verhaltens und Gestaltens, wenn die soziale Fixierung das ganz Allgemeine betrifft, wenn allen einschlägigen Verhältnissen eine durchgehende Form sozial auferlegt ist – als wenn, mit scheinbarem Eingehen auf individuelle Lagen und Bedürfnisse die sozialen Festsetzungen sich selbst in allerhand Sonderformen spezialisieren« (109 f.). Das wird auch durch den neuerdings zu beobachtenden Trend nicht dementiert, Eheschließung wieder nach traditionellen Mustern zu vollziehen. Denn offenkundig handelt es sich hier um Inszenierungen, die den ursprünglichen Sinn der Rituale vergessen haben. Dahinter steht in der Regel das Paar, das sich meist schon lange vor der Eheschließung gebildet hat. Die Differenz zwischen Ehe und Paar macht sich noch in anderer Hinsicht bemerkbar. Der mit der Ehe verbundene Zwang erzeugt psychisches Elend, wenn Partner nicht zusammen passen, aber sich nicht trennen dürfen. Ibsen hat die Zerstörung der Partner in der Zwangsehe des 19. Jahrhunderts in unvergesslicher Weise auf die Bühne gebracht. Aber die Beziehungsfallen und Lebenslügen der spätbürgerlichen Gesellschaft dürfen nicht vergessen lassen, dass die Ehe im Normalfall mit der Arbeitsteilung auch eine Entlastung der Partner mit sich gebracht hat. In dieser Hinsicht war und ist die Ehe nicht so schlecht wie ihr Ruf. In der nicht institutionalisierten Paarbeziehung dagegen müssen die Partner die Bindung aus sich selbst heraus gestalten, und mit allen einzelnen Regungen und Äußerungen die Verantwortung für die ganze Beziehung tragen. Das kann zu einem unerträglichen Druck werden, dem Paare nach der ersten Phase des Verliebtseins nicht standhalten und daher auseinander gehen. Bei der Ehe war und ist auch oft noch das Gegenteil zu beobachten: Partner, die ohne besondere Zuneigung ›verheiratet werden‹, lernen sich mit der Zeit lieben und werden schließlich ein Paar, ein ›Ehepaar‹.

Ein unbeachteter Zustand: das Paargefhl Weniger erforscht, aber darum nicht weniger bedeutsam ist die Innenperspektive des Paares. Was heißt es, sich als Paar zu fühlen? Das Selbstgefühl des Individuums ist in all seinen Schattierungen phäno251 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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menologisch aufgehellt worden. Auch das ›Wir-Gefühl‹ der Gruppen, das Kollektivbewusstsein hat die Aufmerksamkeit der Soziologie und der Phänomenologie auf sich gezogen. Aber das Paargefühl ist philosophisch weitgehend Niemandsland geblieben. Kontrastiert wird meist nur die subjektive mit der objektiven Beobachterperspektive, sprachanalytisch die Perspektive der Ersten und die der Dritten Person. Eine Beschreibung des spezifischen Paargefühls fehlt, ebenso eine Analyse des Plurals »wir«, dessen sich im Paar gebundene Personen in der Regel bedienen. Für das Paargefühl kann sich die Anthropologie an die moderne Literatur halten. Hier stehen allerdings die Pathologien des Paargefühls im Vordergrund. Die Atrophie der Gefühle in Becketts Endspiel, aber auch die Erlebnisperspektive der ganz normalen Paare, die Botho Strauß in Paare, Passanten subtil analysiert hat, machen es schwer, ein positives Bild vom Paargefühl zu zeichnen. Erschwerend kommt hinzu, dass es zum kleinbürgerlichen Alltagsbewusstsein tendiert: Der Spießer lässt grüßen. Aber man sollte sich von diesen Zerrbildern den Blick für die positive Seite nicht verstellen lassen. Das moderne Paar außerhalb der bürgerlichen Ehe mit ihren moralischen Zwängen eröffnet einen neuen Erfahrungshorizont, den Leo Löwenthal schon 1936 so beschrieben hat: »In der Liebe kann sich das Bild einer Gesellschaft reflektieren, bei der sich nicht die Individualitäten als vereinzelte und gegeneinander gerichtete Interessenzentren entwickeln, ihre Existenz nicht damit beginnt und sich nicht darin erneuert, dass der jeweils Einzelne einen Wall um sich errichtet, mit dem er seinen wirtschaftlichen, geistigen und psychischen Besitz sichert, sondern wo die Gewinnung des materiellen Lebens wie die Entwicklung aller Daseinsformen überhaupt sich im Medium menschlicher Solidarität vollzieht« (ZfS, 339). Löwenthal erwartete die Befreiung der Liebe erst von einer sozialistischen Gesellschaft. Dieser Irrtum ist kein Zufall, sondern resultiert aus dem dogmatischen Glauben an den Primat des Sozialen. Dagegen hat sich gezeigt, dass die ›Transzendenz der Liebe‹ als anthropologische Konstante sich in allen Gesellschaftsformen durchsetzt. Der Eros bindet die Liebenden in einer Weise aneinander, die jedem Partner Raum für ein Selbstgefühl lässt, das durch das Paargefühl nicht aufgehoben, sondern gestärkt wird. Das Paargefühl gibt die Sicherheit, die Selbstverständlichkeit, von anderen akzeptiert und geschützt zu werden. Ohne das Prestige der Paarbindung könnten die 252 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Menschen dem Druck der gesellschaftlichen Anforderungen kaum standhalten. Dieser Exklusivität steht allerdings immer die Verlockung zum Ausbruch gegenüber. Wer würde nicht gelegentlich von einem anderen Partner träumen? Aber wer würde nicht fürchten, der andere könnte ähnlichen Verlockungen ausgesetzt sein? Das Paar wird demnach keineswegs als unproblematische Verbindung erfahren, sondern es lebt von der Spannung zwischen Lösung und Bindung. Bemerkenswert daran ist, dass auch in der Postmoderne, in der die Paare sich schneller lösen und neu bilden, jede Paarbindung doch mit der Erwartung der Dauer verbunden ist. Gerade diese Erwartung lastet auf den Partnern stärker als die Fesseln der Ehe. Das führt zu Animositäten und Hassgefühlen, die aber entgegen dem ersten Eindruck nicht gegen das Paargefühl sprechen. Im Gegenteil: Die ständigen Konflikte, die man im modischen Paarjargon als ›Beziehungskisten‹ zu bezeichnen pflegt, sprechen dafür, dass das Paar als intensives Lebensgefühl nichts an Attraktivität verloren hat.

Soziologie der Ehe: Helmut Schelsky Die Aufwertung des Paares zum Leitbegriff der Soziologie hat mit dem Einwand zu rechnen, dass damit eine spätbürgerliche Kategorie absolut gesetzt wird. Helmut Schelsky warnt in seiner Soziologie der Sexualität (1955) vor dem naiven Missverständnis, die intime Liebesbeziehung für das Urmodell der Ehe zu halten. Der sexuelle Trieb könne nicht als der ehebildende Faktor par excellence angesehen werden. Die Stabilisierung der Geschlechtsbeziehungen in Ehe und Familie, die vorwiegend eine ökonomische Einrichtung darstelle, entlaste die anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Arbeit und Politik von sexuellen Appetenzen und Stimmungen. Aber auch innerhalb der Ehe spielt nach Schelsky die Sexualität nur eine untergeordnete Rolle bzw. der gattungsmäßige Sexualtrieb wird in der Ehe auf einen Partner konzentriert und damit sozial verträglich gemacht. Schelskys soziologische Bewertung der Ehe ist natürlich zutreffend, und es wäre in der Tat ein naiver Rousseauismus, Ehe und Liebespaar gleichzusetzen. Trotzdem bleibt die soziologische Perspektive zu eng. Sie krankt daran, dass sie Sexualität als biologisches Gattungsmerkmal und Sozialregulierung unvermittelt gegenüberstellt. Die anthropologische Perspektive bricht diesen Dualismus auf und schiebt 253 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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mit dem Eros eine neue Beschreibungsebene ein. Soziologie der Ehe und Anthropologie des Paares sind zwei verschiedene Arten, die Humanisierung der Sexualität zu betrachten. Auf der »Suche nach der Wirklichkeit« kommt auch Schelsky zu der Einsicht, dass der Eros sich nicht auf die biologische Sexualfunktion reduzieren lässt. So wie »fast alle menschlichen Sinnesorgane im Dienst der Sexualität stehen und so – trotz der Verdichtung sexueller Lustempfindungen in den primär sexuellen Zonen des Leibes – die gesamte Leiblichkeit dem Menschen als Organ dieses Lustgewinnes zur Verfügung steht« (14), kann sich die Erotik als selbständiger Bereich menschlicher Kommunikation bilden, der seinerseits sozialer Formung unterliegt. Die Erotisierung und Erotisierbarkeit individueller und sozialer Verhaltensformen gehört zu den anthropologischen Grundlagen einer ›Soziologie der Sexualität‹, die damit zu einer ›Soziologie der Erotik‹ wird. Erst die Erotik macht es möglich, das Verhältnis von Subjektivität und Institutionalisierung als ein dialektisches zu begreifen. So kann die soziale Differenzierung der Geschlechterrollen in ihre Neutralisierung umschlagen und das scheinbar frei sich auslebende und auslegende Individuum Opfer einer außengeleiteten Typisierung werden. Schelsky zeichnet ein sozialkritisches Bild von der »Sexualität als Konsum«, wie sie sich schon zu seiner Zeit in den modernen Großstädten abzeichnete: »Such- und Darbietungsbild der erotischen Kommunikation geraten in eine gesellschaftlich geforderte und aufgedrungene Standardisierung, die sich sehr frühzeitig der Phantasie der jungen Menschen aufprägt und nur mit der Sanktion eines erheblichen Chancenverlustes durchbrochen werden kann« (118). Es spricht für den Weitblick des Forschers, dass diese sicherlich heute noch zutreffende Feststellung Schelsky nicht in einen konservativen Kulturpessimismus treibt, wie er bei Arnold Gehlen anzutreffen ist, der Subjektivität vor allem negativ als Gefährdung wahrnimmt. Schelsky billigt dem Erotischen ein subjektives Ausdruckspotential zu, das trotz der Angleichung des sexuellen Verhaltens an das moderne Konsumverhalten nicht verloren geht und zur Ausbildung neuer Formen erotischer Kommunikation führen kann: »Nichts hat die Menschen im Verhältnis zu ihren Trieben mehr überfordert als das Ansinnen, unmittelbar Person und Individualität sein zu sollen. So verbinden wir mit der Schilderung der heute wiederum sehr weitgehenden Konventionalisierung und gesellschaftlichen Normierung der Sexualität durchaus die Überzeugung, 254 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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dass auf diesen Tatbestand hin sich wieder die Chance einer neuen Verbindlichkeit von Geist, Kultur und Sittlichkeit gegenüber der Geschlechtlichkeit des Menschen eröffnet« (127). Mit dieser ermutigenden Prognose, die der inneren Form des Eros gerecht wird, überschreitet Schelsky den Horizont der konservativen Soziologie und nähert sich damit der liberaleren Sicht seiner amerikanischen Kollegen.

Die erotische Organisation der Familie: Talcott Parsons Zwar hat sich die amerikanische Soziologie mit der Anerkennung des Eros als universalem Medium der Vergesellschaftung schwer getan, da andere Gebiete wie Arbeit, Herrschaft und Sprache sich in den Vordergrund drängen. Aber durch die zunehmende Wirkung Freuds hat auch die amerikanische Soziologie die Bedeutung der Erotik für die Institution der Ehe erkannt. Talcott Parsons gehört zu den einflussreichsten amerikanischen Soziologen des 20. Jahrhunderts, der mit seiner »strukturell-funktionalen Theorie sozialer Systeme« die soziologische Begriffsbildung auf ein höheres Abstraktionsniveau gehoben hat. Die kategoriale Bedeutung, die Parsons dem Phänomen der Erotik für die Gesellschaftsbildung zuschreibt, erschließt sich erst vor dem Hintergrund seiner Methodologie. In Übereinstimmung mit Emile Durkheims Regeln der soziologischen Methode (1895), denen zufolge die Eigenständigkeit soziologischer Tatbestände nur durch Distanz gegenüber individualpsychologischen Kategorien gewahrt werden kann, schließt Parsons Vorstellungen und Gefühle als Subjektivismus von der soziologischen Betrachtung aus. Unter dieses Verdikt fällt auch Durkheims Begriff des »Kollektivbewusstseins«, dessen Inhalt Parsons strukturtheoretisch reformuliert. Auch gegenüber den psychoanalytischen Begriffen Sigmund Freuds wahrt Parsons anerkennende Distanz. Die psychologischen Mechanismen sind für ihn nur insoweit von Interesse, als sie sich in den begrifflichen Rahmen der Sozialstruktur einfügen lassen. Dabei unterscheidet er klar zwischen Sexualität im Sinne biologischer Paarung und Erotik als geregelter gegenseitiger Zuneigung von Mann und Frau. Wie auch Malinowski hält sich Parsons hierbei an den Begriff der »Kernfamilie«. Seine Aufzählung der wesentlichen Merkmale der Erotik bezieht sich auf die »erotische Organisation der Familie« (Soziologische Theorie, 109 ff.). Dazu gehört, dass die Genitalerotik bei Ehe255 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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gatten nicht nur erlaubt, sondern gefordert ist, da sie durch ihre Intimität und Exklusivität ein starkes Band der Solidarität bildet. Die Regelung des Sexualtriebes durch die Erotik hat demnach nicht nur prohibitiven, sondern auch normativen Charakter. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Erotik ist ihre Tendenz zur »Verallgemeinerung«, die ihre physiologische Grundlage in der »diffusen Verbreitung« (125 f.) der sexuellen Lust in andere Lebensbereiche hat. Dieses Merkmal aber sprengt die Grenzen der Familie, so dass der Rahmen zu zerbrechen droht, in dem sich die Erotik als soziale Bindung beschreiben lässt. Dieses Dilemma lässt sich dadurch lösen, dass man den Eros als proto-soziale Beziehung definiert. Im Hinblick auf die Massengesellschaften, in denen zunehmend erotische und auch sexuelle Kontakte außerhalb ehelicher Bindungen zur Regel werden, lässt sich feststellen, dass auch eine außerinstitutionelle Erotik keineswegs zu einem Faktor der Unordnung und des moralischen Verfalls wird. Insbesondere das städtische Leben, in dem sich große Mengen erotisch disponierter Erwachsener beiderlei Geschlechts auf mehr oder weniger anonymer und funktionaler Ebene begegnen (beim Einkauf, im Beruf, in Gaststätten usw.) entfaltet die Erotik einen sozialisierenden Effekt, der von den Beteiligten als solcher gar nicht wahrgenommen wird: Sex and the City. Angesichts der Aufladung der sexuellen Atmosphäre durch die allgegenwärtige Warenerotik, die in der Mode ihren stärksten Ausdruck findet, kommt es einem Wunder gleich, dass nicht mehr Menschen ihren sexuellen Antrieben erliegen und übereinander herfallen. Zwar werden im täglichen Umgang viele durch Geschlecht, Alter und Aussehen in Frage kommende Personen als mögliche Geschlechtspartner außerhalb legalisierter Beziehungen wahrgenommen, aber gerade die erotische Attraktivität impliziert den Respekt vor den Wünschen und der Bereitschaft des Anderen. Das entspricht der inneren Form des Eros, die den Anderen immer als Objekt und Subjekt zugleich erscheinen lässt. Der Respekt vor dem Anderen macht die Möglichkeit erotischer Beziehungen zu einem sozialen Bindungsfaktor, dessen Wirksamkeit in weitgehend anonymen Gesellschaften nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Insofern ist der Eros eine soziale Erscheinung, aber doch nicht ganz. Denn was der flüchtigen Begegnung fehlt, ist das über den Respekt hinausgehende Moment der Verantwortung für die sozialen Folgen der Beziehung. Das sich heute für Paare schwere Belastungen ergeben, die nicht mehr wie in traditionalistischen Gesellschaften nach 256 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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außen abgeführt werden können, ist unbestritten. Welche allgemeinen Regelungen des erotischen Lebens jenseits der Familienstrukturen ausgebildet werden, muss die Zukunft zeigen. Aber der neue Erfahrungshorizont lässt die Folgerung zu, das Paar als proto-soziale Beziehung zu klassifizieren. Wenn sich heute in emanzipierten Gesellschaften des Westens Liebe und Ehe nicht mehr ausschließen, so ist das auch für die Soziologie von Bedeutung. Die Soziologie der Zweierbeziehung hängt in der Luft, solange sie nicht zur Anthropologie zurückführt. Die Anthropologie des Paares betrachtet den Eros als Projekt, das den Konkretisierungen in der Ehe oder anderen Formen des Zusammenlebens von Mann und Frau als Antrieb dient.

Erotismus und erotischer Leistungsdruck Was zunächst in den 1960er Jahren als ›Leichtigkeit des Seins‹ empfunden wurde, erwies sich zunehmend als ›Frust mit der Lust‹. Seitdem Sex zu einem medialen Gut geworden ist, das in Zeitschriften, im Fernsehen und im Internet öffentlich vermarktet wird, ist er für die Paare zu einer schweren Belastung geworden, auf die niemand so recht vorbereitet war. In dieser Hinsicht bot die Ehe und deren moralische Sanktionierung Schutz vor Reizüberflutung. Die erotischen Träume werden von vielen Paaren zunehmend als Alpträume empfunden, und das nicht nur, weil sie moralischen Werten der vergangenen Jahrhunderte nachhängen. Was auf der Darstellungsebene nach schnellen Bindungen und Lösungen aussieht, sind auf der Wachstumsebene immer auch Befruchtungen und Zerstörungen. Solange die Menschen dem Schicksal von Geburt und Tod ausgeliefert sind, bleibt der Eros an die Sexualität in ihrer kreatürlichen Schwere gebunden. Die sexuelle Revolution hat keineswegs den Zustand der Befreiung gebracht, von dem viele geträumt haben. Vielmehr hat der Erotismus einen Leistungsdruck aufgebaut, für dessen Bewältigung es noch längst keine überzeugenden Lösungen gibt. Angesichts der Härte der sozialen Wirklichkeiten wird immer klarer: Der moderne Erotismus entwickelt sich von der ›LoveParade‹ zum ›Tanz auf dem Vulkan‹. Die Klagen über die Entfremdung der Liebe in der modernen Welt sind keineswegs unberechtigt. Der Eros wird zum fremden, zum entfremdeten Mittler, wenn er nicht die Bedingungen der Paarbindung respektiert. Hier liegt in der Tat die Gefahr der Warenerotik, die den 257 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Eros auf eine messbare Größe, auf Lustquanten reduzieren will. Was für den Kommerz mit der Lust gilt, wird dann auf die Beziehung der Menschen untereinander übertragen. Wo die Liebe als Tauschverhältnis begriffen wird, ist der Schritt zum ›Partnertausch‹ nur konsequent. Aber das Ungenügen an diesen und ähnlichen Formen ›freier‹ Liebe macht deutlich, dass hier eine Reduktionsform des Eros vorliegt. Trotz aller Ambivalenzen bietet die Erotisierung der Lebenswelt keinen Grund zur Verzweiflung. Die Hoffnungen und das Vertrauen der Menschen in die Liebe können dadurch nicht zerstört werden. Denn es handelt sich nur um die zwei Seiten des Eros, die in der Moderne immer stärker auseinander treten: einerseits die qualitativ bestimmte, individuelle Zuneigung, andererseits die abstrakte, unpersönliche Lust. Beide Seiten verhalten sich für den Beobachter komplementär zueinander, gehören für die Beteiligten aber immer zusammen. Die Aufgabe besteht nur darin, Lebens- bzw. Liebesformen zu entwickeln, die der Differenz gewachsen sind. Immerhin hat die Liebe die Tabuisierung der Sexualität im 19. Jahrhundert überstanden, die sicherlich nicht weniger seelisches Elend gebracht hat als die sexuelle Revolution des 20. Jahrhunderts. Der Eros lebt von der Spannung zum Sex, sei dieser nun tabuisiert oder freigegeben. Auch in den medialen Darstellungsformen der Sexualität bleibt diese Spannung erhalten und wird sich auch in den Lebensstilen der zukünftigen Generationen als fruchtbare Spannung erweisen. Die Medialisierung bleibt, aber nur in der Form, dass »der Mensch selbst als Mittler für den Menschen« fungiert, wie Marx in seinen Frühschriften das Ideal einer unentfremdeten gesellschaftlichen Reproduktion beschreibt (MEW, Ergänzungsband: Erster Teil, 446). Unmittelbarkeit schließt in menschlichen Verhältnissen, sei es der Liebe oder der Arbeit, Vermittlung nicht aus. Es kann sich immer nur um eine vermittelte Unmittelbarkeit handeln: »Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert: Jeder von uns hätte in seiner Produktion sich selbst und den Anderen doppelt bejaht.« Die doppelte Bejahung besteht im Selbstgenuss durch Fremdgenuss. Jeder würde für den Anderen »der Mittler zwischen dir und der Gattung« sein, so dass mir vergönnt wäre, »von dir selbst als eine Ergänzung deines eigenen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner selbst gewusst und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen« (462). Diese Sätze des jungen Marx, der im »Verhältnis des Mannes zum Weib […] das natürlichste Verhältnis des Menschen 258 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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zum Menschen« sieht (535), enthalten die Anthropologie des Paares in nuce. Anders als der Hunger beflügelt der Eros unablässig die Phantasie der Menschen. Der Anblick nackter Körper und die Beschreibung ihrer Begegnungen erzeugt soziale Atmosphären, die sich vom Stil vergangener Zeiten durch ihre Unverbindlichkeit und Direktheit heute deutlich unterscheiden. Ihre Bedeutung für das gesellschaftliche Leben der Menschen kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Denn ökonomische und politische Faktoren bleiben davon nicht unberührt. Erotismus und Ökonomie rücken immer näher zusammen, wie schon Georges Bataille herausgestellt hat. Damit soll das soziologische Konstrukt homo oeconomicus nicht durch ein anderes namens homo eroticus ersetzt werden. Als Realfaktor des menschlichen Lebens nimmt der Sex nur verhältnismäßig wenig Zeit in Anspruch, aber in Form von Moden und Lebensstilen regiert der Eros die Welt der pluralistischen Erlebnisgesellschaften.

Erotische Demokratisierung So beunruhigend die Erotisierung der Lebenswelt erlebt wird, man darf darüber nicht vergessen, dass es sich um Spannungen handelt, die im Eros selbst angelegt sind. Immer wenn eine Lebensmacht in einen neuen Aggregatzustand übergeht, sind Brüche unvermeidbar. Die Verwahrlosung des Sexus in der Pornoindustrie ist durch einen solchen Bruch entstanden. Aber Bruchstellen schaffen auch Freiräume, die in überraschender Weise zur Ausbildung neuer Stile genutzt werden. So ist unübersehbar, dass sich im Zeichen des modernen Erotismus ein Lebensgefühl herausgebildet hat, das dem einzelnen Menschen ein bisher ungeahntes Maß an Intensität und Selbständigkeit gewährt. Hier liegt sicherlich einer der Gründe dafür, dass die Globalisierung des europäischen Eros selbst in traditionellen Gesellschaften unaufhaltsam fortschreitet. Das mag für das traditionalistisch erzogene Bürgertum ein schmerzlicher Prozess sein, ist aber keine zufällige Verfallserscheinung, sondern entspricht der Medialität des Eros. Sie macht den Eros so flexibel, dass er große Massen von Menschen in mehr oder weniger dichten Netzwerken integrieren kann. Nach dem Wegfall der sexuellen Tabus hat sich der Eros zu einem Multimedium von ungeahnter Komplexität entwickelt, die es dem zunehmend auf sich selbst gestellten 259 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Individuum ermöglicht, sein geistiges und körperliches Leben selbst zu organisieren. Das ist die oft verkannte positive Seite des Erotismus, die auch als Demokratisierungsprozess gedeutet werden kann. Der damit verbundene Verzicht auf das Tragische, das »normale Chaos der Liebe«, das in den Industrienationen den Alltag vieler junger Paare bestimmt, ist dem traditionsgebundenen Denken suspekt. Mit der Auflösung der Institutionen Familie, Kirche und Staat scheint der »Untergang des Abendlands« besiegelt. Aber die Menschen entwickeln, um mit Karl Marx zu sprechen, »als Verfasser und Schausteller ihres eigenen Dramas« ungeahnte Kreativität. Sie ist eine Funktion der Medialisierung des Eros, der die Paare zu immer neuen Zeichenkombinationen treibt. Die soziale Mobilität und Versatilität, die der Technik und dem Kapital eigen sind, gehören auch zum Schema des Eros, das durch in männlich und weiblich binär kodierte Zeichenströme ins Rauschen kommt. Der unsäglichen Überdeckung des Eros durch das, was heute kurz ›Porno‹ heißt, wird man daher nicht gerecht, wenn man beide als reine Opponenten betrachtet. ›Porno‹ ist und bleibt der hässliche Bruder des Eros, und ihr Zwist lässt erkennen, welche Spannungen in der menschlichen Sexualität am Werke sind. Auch die Allianz von ›Sex and Crime‹ ist kein Zufall, sondern resultiert aus der Dynamisierung, die der Eros durch die Lebensbedingungen der Moderne erfahren hat. Der Eros besitzt ein Doppelgesicht, das im Zeitalter der Medialisierung besonders deutlich hervortritt: Einerseits will sich das emanzipierte Individuum nicht mehr über die Biologie definieren, andererseits aber soll die Bedeutsamkeit des Sexuellen gewahrt bleiben. Der Eros repräsentiert diese Doppelseitigkeit, die zweifellos durch die Muster der ›Love-Parade‹ nicht erfasst wird. Aber der ›Abstieg zu den Müttern‹ wird der Gestalt des modernen Eros auch nicht mehr gerecht. Schon Freud erkannte den in der Mutter-Sohn-Beziehung liegenden Ambivalenzkonflikt, der noch auf überzeugende Formen einer zeitgemäßen Darstellung wartet.

Von der Soziologie zur Anthropologie des Paares Die Überschau über die sozialpsychologischen Aspekte der Paarbeziehung zeigt: Das Schema des Eros bildet das konkrete Apriori, in dem die empirischen Daten ihre Einheit finden. Damit ist die philosophische Ebene erreicht, auf der sich eine Anthropologie des Paares entwickeln 260 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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lässt. Um Missverständnisse im Vorfeld auszuschließen: Eine Anthropologie des Paares ist keine Biologie der Sexualität. Dass Menschen eine sexuelle Partnerorientierung besitzen, aus der Nachkommen hervorgehen, wird niemand bestreiten. Aber die Anthropologie betrachtet die Partnerorientierung über die Sexualität hinaus nach dem Schema des Eros, das aus der Paarbindung eine symbolische Form des Zusammenlebens macht, aus der heraus Männer und Frauen ihre gesellschaftliche Welt aufbauen können. Das Paar ist immer auch eine gewisse Art, die Welt zu sehen. Anders als das romantische Liebespaar, das von der gesellschaftlichen Realität noch weitgehend abgeschnitten bleibt, wirkt das moderne Paar in einer Weise in die Gesellschaft hinein, die vor hundert Jahren ganz undenkbar war. Wie sich die erotische Liebe, die Männer und Frauen unmittelbar zu Paaren verbindet, zu ihren sozialen Konkretisierungen verhält, lässt sich an der Sozialgeschichte verdeutlichen: Der ehelichen Form der Paarbeziehung, die primär durch ökonomische und andere Zwänge gekennzeichnet war, steht das ›reine Liebespaar‹ gegenüber, das es überall gegeben hat, das aber nicht als soziale Tatsache oder als soziologischer Tatbestand in Erscheinung getreten ist. Diesen Tatbestand hat der Soziologe Alfred Vierkandt in seiner Kleinen Gesellschaftslehre schon 1944 klar herausgearbeitet: »Es soll nicht behauptet werden, dass die persönliche Liebe in der Familie überhaupt fehle. Früher war allerdings die Meinung weit verbreitet, dass die wirkliche Liebe erst eine Verfeinerung höherer Kultur sei, vorher an ihrer Stelle aber die bloße animalische Sinnlichkeit der Geschlechter gestanden habe. Wir finden aber tatsächlich romantische Liebesgeschichten bereits von Negern und australischen Eingeborenen berichtet. Die Wissenschaft steht aus diesem und anderen Gründen heute auf dem Standpunkt: Eine echte Liebesgesinnung gehört zu den ursprünglichen Anlagen des Menschen« (24 f.). Das ist eine Position, die heute weitgehend anerkannt ist. Zwar legen Berichte von frühen Kontakten mit Naturvölkern das Gegenteil nahe. Bei den meisten Völkern aller Erdteile war nichts von ›Liebesgesinnung‹ im Verhältnis zwischen Mann und Frau zu spüren. Europäische Reisende nach Afrika und Australien waren über die rüde Behandlung der Frauen durch ihre Ehemänner entsetzt, allerdings hat Westermarck auch Fälle zusammengestellt, in denen sich die Mädchen der Zwangsehe heftig widersetzten und sogar den Tod der Trennung vom Geliebten vorzogen (Geschichte der menschlichen Ehe, 1893, 359). 261 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Man braucht nicht zu den ›Wilden‹ gehen, um brutalen Umgang der Eheleute und überhaupt der sexuellen Vereinigung zu erleben. Die modernen Gesellschaften bieten dafür genügend traurige Belege. Aber die Daten rechtfertigen weder die These von der romantischen Liebe als Konstante noch die gegenteilige Behauptung, dass Liebespaare nur eine ephemere Erscheinung in überzivilisierten Kulturen seien. Sie bestätigen vielmehr den Unterschied zwischen dem soziologischen und dem anthropologischen Standpunkt. Ersterer beschäftigt sich mit der Paarbeziehung als sozialem Gebilde, und hier scheint die ›romantische Liebe‹ in der Tat eine späte Erscheinung zu sein. Letzterer beschäftigt sich dagegen mit dem Paar als Urform der Intersubjektivität, und hier ist die Liebe zwischen Mann und Frau das unhintergehbare Individuationsprinzip. Die Anthropologie des Paares kann demnach auch als ›reine Soziologie‹ betrachtet werden, insofern sie die protosoziale Form der erotischen Beziehung zum Gegenstand hat. Die moderne Entwicklung geht nun dahin, dass die Paarbeziehung auch zu einer sozialen Form wird: »die individualistische Form der Ehe und Familie«, wie Vierkandt sich ausdrückt. Zwar bleibt für ihn die traditionelle rechtliche Eheform noch der unverzichtbare institutionelle Rahmen, aber die persönlichen Beziehungen nehmen in seiner Gesellschaftslehre größeren Raum ein als die Institution der Ehe und erfahren eine deutlich positive Bewertung. Liebesgefühle gehen vor ökonomischen Erwägungen, was freilich die Emanzipation der Frau und die Gleichberechtigung der Geschlechter zur Voraussetzung hat. Was Vierkandt vorschwebt, ist eine Synthese der ›reinen Ehe‹ und der Kernfamilie. So zeitbedingt diese Einschätzungen im Einzelnen auch sein mögen, sie treffen doch den Wandel der familialen Lebensform, dessen sozialpolitische Problematik auch heute von einer befriedigenden Lösung noch weit entfernt ist.

Individuum und Paar Die Anthropologie des Paares gibt eine Antwort auf die negative Anthropologie, wie sie im ersten Kapitel dargestellt worden ist. Die bekannten Formeln vom Menschen als »krankes Tier«, als »Neinsager«, als »Mängelwesen« erfassen eine wesentliche Seite der menschlichen Existenz, werden aber in einer neuen Formel ›aufgehoben‹ : der Mensch als Paarwesen. Das Paar ist keine Dyade, sondern eine Triade: 262 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Jeder der beiden Partner hat den Mittelpunkt seines Denkens und Fühlens aus sich heraus verlegt, aber nicht in den Anderen, sondern in die Beziehung zu ihm, in den Eros, der beide verbindet. Das ist die konkrete Form der Exzentrizität des Menschen, in der Mann und Frau zu selbständigen Individuen werden. Das Paar ist biologisch eine Symbiose, geistig durch das Schema des Eros aber immer eine Vermittlung. Am Eros als Medial arbeiten Mann und Frau, die ihre sexuelle Partnerorientierung zu einem unteilbaren geistigen und moralischen Wert machen. Durch diese Transformation wird die Subjektivität des intentionalen Bewusstseins zur Intersubjektivität, die sich zwischen Individuum und Gesellschaft schiebt. Darin aber liegt ein Zuwachs an sozialer Kompetenz, da der Einzelne nicht immer nur auf seinen Egoismus zurückgeworfen wird, sondern aus einem komplexen Lebenszusammenhang heraus agieren kann. Die Paarliebe enthüllt das Wer der Person. Zweifellos hat die romantische Vorstellung vom Liebespaar die Tendenz, Unterschiede durch Gefühlseffusion aufzuheben und in Einheit und Harmonie zu verwandeln. So heißt es in Schlegels Lucinde, dass alles Neue, was der Mann an seiner Geliebten entdeckt, ihm nichts Fremdes sei. Das dürfte eine Erfahrung sein, die im Zeitalter der emanzipierten Frau von Männern nur noch selten gemacht wird und die als Ideal wohl auch nicht wünschenswert ist, da sie die positive Funktion des ›Fremden‹ am Anderen verkennt. Aber das spricht nicht gegen das Liebespaar. Es gehört zu den großen Illusionen des gegenwärtigen Zeitalters, Bindungsfreiheit als Voraussetzung für die Herausbildung starker Individuen zu halten. Nie ist das Individuum der Gesellschaft und ihren Trends so schutzlos ausgeliefert wie im Zustand der Singularität. Singles wähnen sich frei, wenn sie mit ihren Kräften und ihrer Zeit nach Belieben umgehen können, aber Beliebigkeit heißt immer Abhängigkeit von äußeren Gegebenheiten und inneren Triebanteilen. Die Freiheit des Geistes wie auch die des Körpers gewinnen Mann und Frau erst in der Paarbeziehung, deren Gestaltung die Persönlichkeit stärkt und gegenüber Zumutungen der Gesellschaft resistent macht. Die Anthropologie des Paares verfolgt also auch eine praktische Absicht. Sie will den Menschen nicht vorschreiben, was sie tun sollen, aber sie zeigt ihnen, was sie wirklich wollen. Für den Einzelnen ist das schwer zu erkennen, da der Eros durch seine Doppelnatur den Menschen immer wieder dazu verführt, sich selbst in fragmentierter Lust zu verlieren. Noch viel schwerer ist es für die Menschheit im Zeitalter 263 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt

des globalen Humanismus, ein Bewusstsein von ihren Aufgaben zu gewinnen, da überzogener Individualismus und Egalitarismus sie daran hindern, sich der biologischen Differenz zu stellen. Aber man sollte sich durch das Zerrbild, das Ideologen von der Geschlechtlichkeit entwerfen, nicht täuschen lassen. Immer noch überwiegt die Polarität der Geschlechter. Sie lässt ein Selbstbewusstsein entstehen, das es den Menschen ermöglicht, sich aller Nivellierungen zum Trotz in anonymen Massengesellschaften als Mann oder Frau zu behaupten.

264 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Kapitel 15: »Gewiss ist das Kind«

Am Ende hängen wir doch ab von Kreaturen, die wir machten. (Goethe, Faust II)

Die Anthropologie des Paares bliebe unvollständig, wenn sie nicht das Kind in ihre Betrachtungen einbeziehen würde. Die Soziologie hat den Begriff der ›Kernfamilie‹ gebildet, die sich aus Mann und Frau und ihrer Nachkommenschaft zusammensetzt. Obgleich bei den meisten Völkern größere soziale Gebilde dominieren, haben genauere Untersuchungen ergeben, dass die Kernfamilie auch unter Großverbänden eine gewisse Selbständigkeit besitzt. Diese Tatsache resultiert nicht allein aus der sexuellen Partnerorientierung, sondern hängt auch eng mit den elementaren Formen der Arbeitsteilung nach Geschlechtern zusammen. Anders als die Soziologie hat die Philosophische Anthropologie, die ›den Menschen‹ in der Regel als Abstraktum behandelt, der Familienstruktur kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Kinder und damit die Kernfamilie aber bilden die natürliche Ergänzung des Menschen als Paarwesen. Freilich haben die modernen Methoden der Geburtenregulierung und der Familienplanung den Status des Kindes verändert. Das Kind ist keine biologische Notwendigkeit mehr, es wird aber auch nicht mehr als Erfüllung einer religiösen Pflicht angesehen. Paare stehen heute vor der Wahl, mit oder ohne Kind ihre Zukunft zu gestalten. Allerdings ist die Entscheidung keineswegs so frei, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Das liegt nicht nur an den Zwängen, die von den sozialen Rahmenbedingungen des modernen Lebens ausgehen, es liegt auch und in erster Linie daran, wie die Eltern zum Kind stehen, wie sie es beurteilen und behandeln. Wirft man heute einen Blick in den Kinderwagen, so bietet sich oft ein monströses Bild. Der Kinderwagen ist zum ›Warenkorb‹ geworden, 265 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt

in dem das Kind als moderner Fetisch gehegt wird. Die exotisch gehörnten Mützen, die den Säuglingen verpasst werden, lassen keinen Zweifel am Fetischcharakter der Ware Kind. Die Eltern sind sich dieses Phänomens in der Regel nicht bewusst. Sie leben im Gegenteil in der Überzeugung, dem Kind ein Maximum an Fürsorge zukommen zu lassen. Dabei merken sie nicht, dass sie damit dem Kind kaum gerecht werden, dass sie es in seiner Eigenwertigkeit nicht anerkennen. Schon Rousseau hat klar ausgesprochen, dass das Kind das Zentrum seiner Existenz in sich selber hat, dass es ganz und gar ist, was es ist. Daher kann eine kindgerechte Erziehung nur darin bestehen, das Kind mit einer gewissen liebevollen Nachsichtigkeit sich selbst entwickeln zu lassen und es nicht in das Korsett der emotionalen Bedürfnisse der Eltern zu zwängen, mit denen ganze Industrien der Überfürsorge Geschäfte machen. Es gab Zeiten, und die sind gar nicht so lange her, in denen auch eine größere Anzahl von Kindern großgezogen wurde, ohne dass sich alles auf sie konzentrierte und ohne dass die Eltern daran zerbrachen. Daher sind die heutigen Klagen über die Doppelbelastung berufstätiger Paare auch Ausdruck einer falschen und im Endeffekt egoistischen Einstellung, die sich als Sorge um das Wohl der Kleinen ausgibt. Hält man sich diese Erscheinungen vor Augen, so wird deutlich, dass zur Anthropologie des Paares das Kind als notwendige Ergänzung gehört. Das entspricht auch der Dreigliedrigkeit des Schemas des Eros. Die Liebe erschöpft sich nicht in der Zweierbeziehung, sie entfaltet sich erst im offenen Horizont der Nachkommenschaft. In diesem Sinn repräsentiert das Kind die Freiheit des Paares, in einer Welt der Unfreiheiten Zeichen der Hoffnung auf bessere Zeiten zu setzen. Um das einzusehen, bedarf es einer prinzipiellen Rückbesinnung auf den Begriff des Kindes in anthropologischer Perspektive. Dabei geht es nicht primär um pädagogische Fragen, sondern darum, wie das Kind im Selbstverständnis der Eltern erlebt wird, welche Form der Gewissheit ein Kind dem Paar vermittelt. Kurz: Die philosophische Idee des Kindes ist Thema dieses abschließenden Kapitels.

Nach dem Jahrhundert des Kindes Wenn die Betrachtung des Kindes im Rahmen einer Anthropologie des Paares es auch nicht mit den sozialen und pädagogischen Aspekten zu tun hat, so kann sie jedoch an den gegenwärtigen Problemen einer 266 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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»Gewiss ist das Kind«

kinderlosen Gesellschaft nicht vorbeigehen. Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson, der die Kindheit und die Jugend ins Zentrum seiner psychosozialen Identitätstheorie gerückt hat, stellt am Ende seines Buches Dimensionen einer neuen Identität (1975) eine Reihe beunruhigender Fragen: »Als ich jung war, war viel vom Jahrhundert des Kindes die Rede. Ist es zu Ende? Wir hoffen, es ist ruhig in die Geschichte eingegangen. Inzwischen sind wir durch so etwas wie ein Jahrhundert der Jugend hindurchgegangen. Doch wann wird das Jahrhundert des Erwachsenen beginnen?« (137). Zum Erwachsensein gehört für Erikson die Anerkennung der Tatsache, »dass reife Sexualität mit Fruchtbarkeit zusammengeht. […] Zu wissen, dass Erwachsensein auch Fruchtbarsein bedeutet, heißt nicht unbedingt, dass man Kinder zeugen muss. Aber es heißt zu wissen, was man tut, wenn man keine Kinder zeugt« (138). Offenbar wussten das die Menschen am Ende des ›Jahrhunderts des Kindes‹ nicht. Hier liegt ein generationstypisches Dilemma vor: Die 1968er-Generation, ein Großteil der heute 50- bis 60-Jährigen, die mit ihrer eigenen Jugendlichkeit die Welt verändern wollten, können heute nicht erwachsen werden. Sie wollen nicht aussehen wie Mütter oder Familienväter, die Verantwortung tragen. Der Jugendkult und die damit verbundene Abhängigkeit vom Lifestyle sind dafür ein untrügliches Zeichen. Auch die Rhetorik der Jugendlichkeit verrät ein machtloses Aufbegehren, das längst nicht mehr in zivilen Ungehorsam, geschweige denn in politische Aktion mündet. Daher der Sprung aus dem Jahrhundert, das mit Jugendbewegung und Jugendstil begonnen und in der Studentenrevolte seinen späten Höhepunkt gefunden hat, ins ›Jahrhundert der ewig Jungen‹, die nicht alt sein wollen und wohl auch nicht können. Das Kind ist eine Herausforderung für die Anthropologie, sich dem Problem des Erwachsenseins zuzuwenden. Zum Erwachsensein gehört mehr als was sich die Ahnungslosen darunter vorstellen. Es ist in erster Linie die Erfahrung, das letzte Glied in der Kette der Verantwortlichen zu sein. Als Erwachsener kann man sich für seine (Fehl-) Entscheidungen nicht mehr hinter Vater und Mutter verstecken. Dass diese Erfahrung so bitter wird, hängt damit zusammen, dass Erwachsene nicht nur Probleme haben, die sich relativ leicht lösen lassen, sondern auch solche, mit denen man dauerhaft leben muss. Sie heißen ›Sorgen‹. Die meisten dieser Sorgen bereitet den Erwachsenen das Kind. Denn mit welchen Mängeln es auch behaftet sein mag, die Eltern haben dafür einzustehen. 267 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt

Mit dem Sein der Erwachsenen ist das Kind in doppelter Hinsicht verbunden. Zum einen kann nur derjenige wirklich erwachsen werden, der seine Kindheit nicht ganz vergisst. Zum anderen aber gehört auch das Kinderzeugen und Kindererziehen zum Erwachsensein. Aus der Bedeutung des Kindes für das Erwachsensein folgt nun aber keineswegs die Aufforderung, ins ›Jahrhundert des Kindes‹ zurückzukehren. Es soll nur daran erinnert werden, dass nur im Kind auf Dauer die Menschheit als ›Zweck an sich selbst‹ existieren kann. ›Selbstzweck‹ ist ein hehres Wort, das nur Sinn macht, wenn man mit Kant davon ausgeht, dass der Mensch auch ein ›Naturzweck‹ ist. Diese Voraussetzung aber hat in dem Maße an Gültigkeit verloren, wie es den Menschen freisteht, zu zeugen oder nicht zu zeugen. Trotzdem bleibt im Selbstzweckcharakter des Menschen etwas Richtiges ausgedrückt, wenn man es nur pragmatisch übersetzt: Als ›Zweck an sich selbst‹ zu existieren, heißt, von anderen gebraucht zu werden. Das mag nach Instrumentalisierung aussehen, aber nur für einen Beobachter von außen. Aus der subjektiven Perspektive stellt sich das anders dar. Das Kind, das die Eltern immer braucht, macht die Selbstbestimmung des erwachsenen Menschen aus. Eine kinderlose Gesellschaft begibt sich dieser Chance.

Paare und Eltern Aus Paaren können, gewollt oder ungewollt, Eltern werden. Das bringt Schwierigkeiten mit sich, die allen bekannt sind. Insbesondere verlagert sich die Liebe der Mutter häufig vom Mann zum Kind. Diese Umwandlung des Eros liegt in der Natur der Paarbeziehung. Davon zeugt schon ein alter Mythos, dessen berühmteste Variante aus Ägypten stammt, die zwei Motive vereint: das der Verbindung von Mann und Frau im Akt der Zeugung und das der Trennung des Paares durch das Kind. Der Mythos stellt den Himmel als Frau dar, die über den ermattet daniederliegenden Erdgott emporgehoben wird, um den Kindern Platz zu machen. Dieses Bild konkretisiert das dreigliedrige Schema des Eros, dessen Mittlerfunktion sich ins Kind verlagert, das das Paar wieder mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit verbindet. Damit eröffnet sich das weite Feld der Kindererziehung, der Eingliederung der Kinder in die Gesellschaft, das die empirische Forschung intensiv beschäftigt. 268 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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»Gewiss ist das Kind«

Für das Problem, generatives Verhalten weder biologistisch-reduktionistisch noch metaphysisch zu begründen, ergibt sich folgende Perspektive: Die sexuelle Partnerorientierung führt zur Zeugung von Nachkommen. Das ist die letzte Stufe des Eros, die keineswegs zur Zerstörung der Erotik führen muss, auch wenn sich die Lebensform der Paare grundlegend ändert. Dass sich Kindesbetreuung und Paarliebe nicht auszuschließen brauchen, liegt an der durch die Kinder eröffneten Zukunftsperspektive, die biologisch bedingt ist. Das Bewusstsein, in Nachkommen weiterzuleben, hebt die Liebe auf eine andere Stufe, die man durchaus als ›eudämonistisch‹ im Unterschied zu ›hedonistisch‹ bezeichnen kann. Eudämonismus braucht nämlich nicht im antiken Sinne als ›Seelenruhe‹ verstanden werden. Glück kann auch Spannungen enthalten, wie sie in den dynamischen Formen der Zweierbeziehung selbstverständlich sind. Aber auch zum modernen Eudämonismus gehört ein Gefühl der Dauerhaftigkeit des glücklichen Zustands. Zur Dauerhaftigkeit bedarf es eines Zwischenraumes und dieser liegt im Kind. Was das Kind unersetzbar macht, ist seine Zeugenschaft für den Entschluss der Eltern, die Liebesglut auf Dauer zu stellen. Damit ist der hedonistische Standpunkt überwunden, und das Schema des Eros, das die Lust auf eine symbolische Stufe hebt, kommt zur Geltung. Eine Gesellschaft, die auf Kinder verzichtet, wird narzisstisch. Die ihr im Überfluss zur Verfügung stehenden Objekte bieten keinen Widerstand; denn sie gehören zum Ich, in dem sich die Libido staut. Darin gleicht die kinderlose Überflussgesellschaft dem Schlafzustand, wie ihn Freud definiert hat. Die Ichfixierung bringt keine wache Selbstbestimmung, sondern hält die sich als ›Elemente der Welt‹ dünkenden Individuen in ihrem Dünkel gefangen. Die mobilen ›Single-Paare‹ verweigern sich in ihrer aktivistisch sublimierten Selbstsucht der heilenden Kraft des Eros, der sie durch Kinder aus ihrem Solipsismus befreien würde. Denn das Kind ist der Mittler, der Liebende auf Dauer verbindet und somit der Gesellschaft zurückgibt. Statistiker sagen für Deutschland voraus, dass im Jahre 2050 jeder Dritte älter als 60 Jahre sein wird. Diese dramatische Alterung beruht auf der ›Grundannahme‹, dass auch künftig pro Frau im Schnitt nur 1,4 Kinder geboren werden. Wie kommt es zu dieser Annahme? Offenbar hält man es für selbstverständlich, dass in der Risikogesellschaft kein Platz für Kinder ist, dass der postmoderne Individualismus die Menschen daran hindert, Kinder zu zeugen. Dabei gibt es auch heute gute daseinserotische Gründe, Kinder zu bekommen und aufzuziehen. 269 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Allerdings muss man sich vor einem naturalistischen Fehlschluss hüten. Wenn die sexuelle Partnerorientierung auch zur Elternschaft tendiert, sie hat darin nicht ihr Telos. Zwischen Paar und Eltern besteht vielmehr ein dialektisches Verhältnis. Paare können sich lösen, Eltern bleiben sie das ganze Leben. Das ist eine unaufgebbare biologische und psychologische Notwendigkeit, die positiv und negativ bewertet werden kann. Gute Eltern können nur Paare sein, aber Paare brauchen keine guten Eltern zu werden.

Kinder als Last und als Hoffnung Der Erotismus ist in Wirklichkeit ein Akt der Zerstörung des Eros. Das scheint bisher aber niemandem aufgefallen zu sein. Zwar ist man sich mittlerweile im Klaren darüber, dass eine Gesellschaft Kinder braucht, um die Renten zu finanzieren. Die postindustriellen Erlebnisgesellschaften wissen auch hier Abhilfe zu schaffen. Sie lassen Zuwanderer oder ›Proletarier‹ aus armen Ländern herein, denen sie die Aufgabe zuweisen, Kinder zu produzieren. So war es schon im alten Rom Brauch, wo »Proletarii« ursprünglich »Kindererzeuger« hieß. Diese barbarische Praxis lässt eine Einstellung erkennen, deren Paradoxie noch kaum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist. Die ›neuen Alten‹, deren Kinder längst aus dem Haus sind, wollen jung sein wie die Jungen, die noch keine Kinder haben. Dadurch bleibt mental kein Raum mehr für das Erwachsensein, zu dem die Kinder gehören, und noch viel weniger für das Altsein, zu dem die Enkelkinder gehören. Der Jugendkult verbindet Jung und Alt in einer unheiligen, zumindest aber in einer unheimlichen Allianz von Egoisten beiderlei Geschlechts. Ihre Ideologie ist ein um den Eros verkürzter Erotismus. Aus der Perspektive des richtig verstandenen Eros kann die soziale Sicherung nicht das einzige Motiv sein, das für Kinder spricht. Dass die Gesellschaft nun Kinder als Rentenbeitragszahler braucht, nachdem sie sie vorher als Störenfriede vermieden hat, kommt einer Instrumentalisierung des Kindes gleich. Die überalterte Gesellschaft muss sich klar darüber werden, warum Menschen Kinder brauchen: nämlich weil Kinder diejenigen sind, von denen man immer gebraucht wird. Und nur Menschen, die das Gefühl haben, von anderen gebraucht zu werden, behalten den Kontakt zur Welt. Wer im Alter dazu verdammt ist, ausschließlich sich selbst und seine Lust zu leben, für den gibt es keine 270 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Rechtfertigung. Der Eros, der von Differenzen lebt, führt das Individuum über sich selbst hinaus. Das Kind, das der erotischen Beziehung entspringt, ist Zeuge dieses Überschreitens der Grenzen des eigenen Ich. Das Kind symbolisiert das Erwachsensein, das Enkelkind das Altwerden. Natürlich gibt es Gründe genug, die vom hedonistischen Standpunkt gegen das Kind sprechen: »Ach, sollt ich das Kind wiegen, die Windeln waschen, Betten machen, Gestank riechen, die Nächte durchwachen, auf sein Schreien achten […], hier sorgen, da sorgen, hier tun, da tun, das leiden und dies leiden […]? Es ist besser, frei bleiben und ohne Sorge ein ruhiges Leben geführt«, so denkt nicht nur der heutige Single, so lässt schon Martin Luther die »kluge Hure, die natürliche Vernunft« sprechen (Vom ehelichen Leben, Bd. 6, 297). Aber beide irren. Die natürliche Vernunft, weil sie die Sicherheit und Gewissheit übersieht, die dem Gläubigen mit seiner Mühe um das Kind von Gott zuteil wird. Aber auch der moderne Single, der sich vom religiösen Glauben gelöst hat, erkennt nicht, dass der egozentrische Hedonismus in Verzweiflung mündet, wenn im Alter das erotische Glücksversprechen am eigenen Körper keine Zukunft mehr hat. Das wussten übrigens schon die Barockmaler, die ihre Darstellungen des lustvollen diesseitigen Lebens mit lauter Amoretten gefüllt haben. Amoretten sind natürlich Kopfgeburten, aber einmal dem Kopf entsprungen, werden sie zur Lebenswirklichkeit, ohne die das unwirkliche Leben des Erotismus sinnlos wird. So kommt die Anthropologie des Paares zu dem ebenso überraschenden wie konsequenten Schluss: Zur erotischen Rechtfertigung des Menschen gehört das Kind. Überraschend mag dieser Schluss vor allem deshalb erscheinen, weil für den Aufbau des Selbst der erotischen Beziehung der Primat gegenüber der Mutter-Kind-Beziehung gegeben wird. Das ist aber kein Widerspruch. Denn im Kind prägt sich das aus, was sich zunächst in den Eltern findet: das Menschsein. Das Kind ist nicht zuerst Kind und dann kommt sein Menschsein hinzu, sondern das Menschsein liegt bereits im Kindsein selbst. Menschsein heißt, Eltern haben. Insofern kommt dem Kind ontologisch keine Vorzugsstellung gegenüber den Eltern zu; der Vorrang ist allenfalls physiologisch, da das Kind für das Überleben der Hilfe der Eltern bedarf. Das Kind ist Darstellung, ist Zeugnis der Zeugung, die im Eros das rein Biologische übersteigt. Das dreigliedrige Schema des Eros wird generativ durch das Kind realisiert, das in und an der Mutter wächst, darum aber nicht etwa zum bloßen 271 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Abbild der Mutter wird. Das Kind des Eros ist keine ›Seinsoffenbarung‹, wie in der Theologie die Gotteskindschaft des Menschen interpretiert wird. Es ist vielmehr Repräsentant einer Relation, in der jeder von der Anerkennung des Anderen lebt. Das entspricht der Idee einer Anthropologie, der zufolge der Eros als Medium die Botschaft ist, in der Mann und Frau sich gegenseitig als Person erkennen.

Die Gewissheit des Kindes Im Laufe der Jahrhunderte hat sich der Begriff des Kindes stark gewandelt. Das wird heute am deutlichsten an der Bezeichnung ›Kid‹, das mehr ist als eine bloße Übersetzung des Wortes ›Kind‹. Denn mit ›Kid‹ wird eine neue Form des Kindseins bezeichnet, nämlich die Zugehörigkeit zu einer Konsumentengruppe. Dass sich daraus ein bisher ungewohntes Verhalten gegenüber den Erwachsenen ergibt, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Die neue Form des Kindseins stellt die Pädagogik, die Kinderpsychologie und die Familiensoziologie vor Aufgaben, deren Formulierung noch in den Anfängen steckt. Aber der Wandel des Begriffs verweist auf die Idee des Kindes, die auch außerhalb religiöser Vorstellungen mit dem Menschsein aufs engste verbunden ist. Für Paare, die keine Kinder haben wollen, und auch für Singles spielt das nicht vorhandene Kind immer eine Rolle. In seinem Roman Mein Name sei Gantenbein (1964) hat Max Frisch dieser Einsicht literarische Gestalt verliehen. Der Roman handelt von einer virtuellen Person, die sich in einer prekären erotischen Beziehung immer neu entwirft. Ganz am Ende des Buches taucht aber plötzlich der Gedanke eines möglichen Kindes auf. Natürlich sträubt sich die Protagonistin gegen die biologische Definition ihrer Rolle. Aber in Gantenbein verdichtet sich der Gedanke an das Kind zu einem unauslöschbaren Gegenstand seines Bewusstseins. Nach Überlegungen über die Ungewissheit der Vaterschaft kommt der Satz: »Gewiss ist das Kind«. Für den Vater heißt das: »Gantenbein raucht nicht ohne Stolz, dass er in der Welt ist durch dieses blühende Geschöpf«. Das ist ein Satz, der sich theologisch lesen lässt. Denn auch Gott hat einen Sohn in die Welt geschickt, dessen Leidensweg die Menschen rechtfertigen soll. Im Roman wird diese Denkfigur in die Alltäglichkeit der bürgerlichen Existenz projiziert, aber der Sinn ist geblieben. Das Kind ist die siebzehnjährige Tochter, die vom Vater Geld erwartet, ihn aber nicht 272 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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als Kameraden akzeptiert. Durch den Anspruch der Tochter, der von Frisch als »blank und lauter« beschrieben wird, wird die unüberwindbare Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart deutlich. Die Gewissheit des Kindes, das in seiner Gegenwärtigkeit die Zukunft einbezieht, macht nach Freud den »Reiz des Kindes« aus (GW XI, 155). In der Gegenwart liegt das absolute Recht des Kindes, dem freilich die Erfahrung fehlt, die es lehren könnte, dass seine Zukunft die Vergangenheit der nächsten Generation sein wird. »Gewiss ist das Kind« – dieser Satz gibt Anlass, über die Art der Gewissheit nachzudenken, die zur Idee des Kindes gehört. Das eigene Kind vermittelt eine Gewissheit, die über die des Selbstbewusstseins hinausgeht. Das Cogito beschränkt sich auf die Existenz des isolierten Subjekts, es umfasst nur die Gegenwart und reicht daher nicht über die Lebenszeit des Individuums hinaus. Mit dem Kind hingegen wird das Zentrum der Subjektivität nach außen verlegt, nämlich in die Erwartungen, die man in es setzt, und in die Versprechen, die man ihm gibt. In dieser Hinsicht ist das Kind ein ebenso privilegierter Anderer wie der Partner. Anders als die Außenwelt, an der man zweifeln kann, ist der Zweifel am eigenen Kind ausgeschlossen. Descartes muss einen Garantiegott bemühen, um sich der Realität der Außenwelt zu vergewissern. Husserl entwickelt ein kompliziertes Verfahren der Einklammerung der Realität, das er »transzendentale Reduktion« nennt, um sich der Welt zu versichern. Ein derartig umwegiges Verfahren ist beim eigenen Kind weder möglich noch nötig. Die Gewissheit des Kindes liegt in seiner transzendentalen Nichtreduzierbarkeit. Gerade darin aber bindet es die Eltern an die Welt. Der Apostel des Kindes, Rousseau, hat seine eigenen Kinder ins Waisenhaus gesteckt und gemeint, dadurch bei sich selbst zu sein. Das war ein Irrtum. Er ist in sich selbst eingesperrt geblieben. Bei-sich-selbst-Sein setzt In-der-Welt-Sein voraus, wofür das eigene Kind die Garantie bietet. Die Gewissheit des Kindes drückt keine logische Wahrheit aus, sondern ein fundamentales Vertrauen in das Leben, in die Normalität seines Ablaufs: Das Leben geht in den Kindern weiter. Die Gewissheit, von der hier die Rede ist, umfasst mehrere Dimensionen: die biologische Gewissheit der Blutsverwandtschaft, die soziale Gewissheit, einen Erben zu haben, und die emotionale Gewissheit, dass im Kind die Liebe Verkörperung gefunden hat. Es ist nicht die Gewissheit eines Wissens, sondern die einer Zeugenschaft. Sie findet ihre Verkörperung im Kind als Lebensphase, die sich durch ihr Zeiterleben selbst rechtfertigt. Im 273 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt

kindlichen Bewusstsein fallen subjektive und objektive Dauer nicht auseinander. Das Kind fühlt noch nicht die Kontingenz seiner Existenz; es lebt in der Gewissheit, dass es nie sterben wird. Mit dieser Gewissheit setzt es die Gewissheit der Liebe fort, auch wenn es durch seine Ansprüche die Paare aus ihrem Liebestraum reißt.

Sicherheit der eigenen Elternschaft Um den Vorwurf des Biologismus auszuschließen: Die »Gewissheit des Kindes« fällt nicht mit der über tierische Fortpflanzungsstrategien entscheidenden Sicherheit, dass es sich um die eigenen Gene handelt, zusammen. Bei Säugtieren hat nur das Weibchen die absolute Sicherheit, für das Männchen bleibt immer ein Unsicherheitsfaktor. Entsprechend verhalten sich die Männchen, die dazu neigen, das Weibchen nach vollzogener Besamung zu verlassen, um sich anderen Partnerinnen zuzuwenden. Wenn viele Säugetiermännchen dann doch bei der Aufzucht der Jungen helfen, so nur deshalb, weil das Muttertier allein nicht in der Lage wäre, die Jungen durchzubringen. Gemeinsame Aufzucht hat demnach nichts mit Solidarität zu tun, sondern ist eine Notwendigkeit, um das Erbgut beider zu erhalten. Evolutionsbiologisch betrachtet, verhält es sich beim Menschen nicht anders. Nur lässt sich die Unsicherheit mittlerweile durch den genetischen Vaterschaftstest beseitigen. Damit ändert sich auch die emotionale Einstellung der Väter gegenüber ihren Kindern. Der biologische Faktor spielt für das Empfinden und Verhalten beider Elternteile gegenüber den Kindern eine nicht zu leugnende Rolle. Eltern werden das eigene Kind dem Adoptivkind instinktiv immer vorziehen, auch wenn sie mit dem Verstand dagegen ankämpfen. Mit dieser Feststellung verbindet sich keine Mystifizierung der »Blutsbande«, dahinter steckt lediglich das instinktiv festgelegte Verhalten des egoistischen Gens. Erst vor diesem Hintergrund tritt die Sonderstellung der Gewissheit, ein Kind zu haben, klar zu Tage. Es geht nicht um Faktenwissen, sondern um moralische Gewissheit, die das Faktum der leiblichen Elternschaft transzendiert. Die biologische Sorge um das eigene genetische Material, die im Tierreich zu verschiedenen Fortpflanzungsstrategien geführt hat, wird beim Menschenpaar in das solidarische Wissen um das gemeinsame Kind transformiert. Der in der Biologie nie auf274 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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hörende Geschlechterkampf mag auf kultureller Ebene vom Menschen fortgeführt werden, aber die Fortsetzung der Biologie mit anderen und oft nicht weniger brutalen Mitteln hebt die qualitative Differenz gegenüber dem Paarungsverhalten der Tiere nicht auf. Das Kind steht für die erotische Liebe, die das Fortpflanzungsinteresse der einzelnen Partner ihrer gemeinsamen Vision der Elternschaft unterordnet.

Gotteskind und Menschenkinder Wie verhält sich die Gewissheit des Kindes zur Gewissheit des Glaubens, der den Menschen rechtfertigt? Eine theologische Antwort auf diese Frage gibt die jüdische Religion, die Kindermord aus sozialen Motiven, der bei manchen heidnischen Nachbarvölkern noch gang und gäbe war, strikt ablehnt. Im Christentum erhält das Kind durch die Menschwerdung Gottes einen noch höheren Status. Jesus wird als kleines, hilfloses Kind angebetet, das einem einfachen Paar aus dem Volk vom heiligen Geist ›geschenkt‹ worden ist. Sicherlich ist dieses Theologumenon zum ›heiligen Kitsch‹ verkommen, was nicht überrascht, da das Ereignis der Geburt nach dem ›Kindchen-Schema‹ immer eine sentimentale Seite hat, von der auch der katholische JesuskindKult nicht frei ist. Die Sentimentalität sollte jedoch den Blick für die moralische Bedeutung der Gotteskindschaft nicht verstellen. Sie ist darin zu sehen, dass die Inkarnation des göttlichen Geistes im hilflosen Kind das Gesetz aufhebt, nach dem die alttestamentarische Reproduktionsmaschine läuft: Wo die Ehefrauen es nicht tun, müssen sogar die Mägde herhalten. Alle Mittel scheinen den Kindern Abrahams recht zu sein, um den Sicherungswillen und Ausschließlichkeitsanspruch ihres Stammes aufrecht zu erhalten. Daher haben sie auch keinen Zugang zum einmaligen Ereignis der Menschwerdung Gottes und seiner Zukunft in Jesus: »Sie halten sich für Abrahams Kinder und deshalb für frei, indem sie verkennen, dass die Freiheit nicht Besitz, sondern nur eschatologische Gabe sein kann. Sie würden das Recht haben, sich auf ihre Abrahamskindschaft zu berufen, wenn sie deren Sinn verstünden als Verheißung, die in die Zukunft weist und für die Zukunft verpflichtet […]. Ob sie Abraham verstehen, ob die Treue zu ihrer Vergangenheit sich als die Offenheit für Gottes Zukunft erweist, muss sich zeigen an der Begegnung mit Jesus. Indem sie sich ihm verschließen und ihn 275 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt

töten wollen, zeigen sie, dass sie Abrahams Kinder nicht sind«, so fasst Rudolf Bultmann in seiner Theologie des Neuen Testaments (1970) die kämpferische Bedeutung der Geburt Christi zusammen (381). Hier wird ein neues Verständnis der Zukunft eröffnet, das über die Kontinuität der Geschlechterfolge hinausweist: »Gewiss haben die Juden ihre Hoffung und sind auf die Zukunft gerichtet. Aber sie haben ihre Hoffung zur Messiasdogmatik gemacht und sich damit der Freiheit für die Zukunft beraubt« (382). Zukunft als Freiheit von den Fesseln der Dogmatik, Aufhebung des Gesetzes und der von ihm geforderten Werkgerechtigkeit: das ist der Anfang der neuen Rechtfertigung des Menschen, dessen Ende in der Aufhebung der Sünde durch Kreuzigung und Auferstehung liegt. Betrachtet man vor diesem theologischen Hintergrund die Bedeutung des Kindes für das Elternpaar, so gewinnt die Idee der erotischen Rechtfertigung eine weitere Dimension. Weltliche Kinder bedürfen der Erziehung, von der in den Evangelien keine Rede ist. Maria und Josef brauchen sich nicht um die Bildung ihres Sohnes zu kümmern, da seine Weisheit ganz aus ihm selbst kommt. Das Verhältnis zu seinen Eltern spielt im Leben Jesu keine bedeutende Rolle. In gewissem Sinne könnte man Jesus ein Wunderkind nennen, darin Mozart vergleichbar, den der protestantische Theologe Barth nicht zufällig zu seinem weltlichen Leitbild gemacht hat. Hier haben es die normalen Eltern ungleich schwerer, was man am Wandel der Erziehungskonzepte ablesen kann. In der bürgerlichen Gesellschaft schwingt das Pendel zwischen den Extremen der autoritären und der antiautoritären Erziehung, die sich beide nicht als angemessen erwiesen haben. Die Tyrannei der Eltern ist von der Tyrannei der Kinder abgelöst worden.

Verhltnis zwischen Eltern und Kindern In den letzten Jahrzehnten hat sich im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ein spürbarer Wandel vollzogen. Heute neigen Eltern dazu, die für die Erziehung des Kindes zu einer selbständigen Persönlichkeit notwendige Distanz aufzuheben. Das hat oft zur Folge, dass die Kinder später nicht in der Lage sind, eine normale Paarbeziehung einzugehen. Stattdessen entstehen lauter narzisstische Individuen, die den Anforderungen der Gesellschaft kaum gewachsen sind. Ein Kind kann ohne Distanz zu den Eltern nicht zum Erwachsenen werden. Bei allein er276 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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ziehenden Müttern oder Vätern, die auf der Suche nach einer neuen Beziehung sind, besteht die Gefahr, dass das Kind die Rolle des Partners oder zumindest Ratgebers einnimmt: eine nicht ungefährliche Verkehrung der Hierarchie. Das Kind, das in den 68er Jahren als Störenfried empfunden und ›abgeschoben‹ wurde, wird nun von Erwachsenen, die mit ihrer Paarbindung nicht zurechtkommen, als ungleicher Partner missbraucht. Wie immer sich mit der Auflösung der Familie das Verhältnis zwischen Kind und Eltern entwickeln wird, sicher ist, dass der Eros im Kind seine Erfüllung erfährt. Für Eltern ist das Kind Gegenstand der Fürsorge und Erziehung. Vom Kind aus gesehen aber ergibt sich ein anderes Bild: Das Kind wird zum beobachtenden Dritten, der dem Paar einen Spiegel vorhält. Durch den kritischen Blick des Kindes werden sich die Erzeuger ihrer Verantwortung in einer Weise bewusst, die über die Zweierbeziehung hinausgeht. Als Dritter verkörpert das Kind die Mittelstellung des Eros mit seinen vielen Facetten als Zerstörer, Vermittler, Beglücker. In dieser Funktion bestätigt das Kind die Freiheit zum Leben, die Männer und Frauen in der erotischen Liebe gewinnen. Das Kind als Mittler macht aus dem dreigliedrigen Schema des Eros eine Realität, mit der sich das Paar auseinandersetzen muss. Die Auseinandersetzung kann nur erfolgreich sein, wenn weder der Standpunkt der Eltern noch der des Kindes absolut gesetzt wird. Die Gewissheit des Kindes liegt nicht im Kind allein, sondern im Verhältnis zu den Eltern. Das Verhältnis ist immer ein dynamisches Gleichgewicht, da Kinder keine festen Größen sind, sondern selbst zu Erwachsenen werden. Das gehört noch zur erotischen Rechtfertigung, die freilich nun größere Anforderungen an das Paar stellt. Die Rechtfertigung beschränkt sich nicht auf die physiologischen und psychologischen Aspekte der erotischen Liebe. Diese verwandeln sich vielmehr in das Bewusstsein der gemeinsamen Elternschaft, in dem die Gewissheit des Kindes die Form einer Überzeugung annimmt, die als Lebensform ihre Rechtfertigung in sich selbst hat. Es ist die Überzeugung vom Wert des Lebens, der sich zunächst in der Intensität des erotischen Erlebens ausdrückt, im Kind aber konkrete Gestalt annimmt. Das erotische Lebensgefühl ist der Intensität nach unendlich, aber es lässt sich nicht auf Dauer stellen. Die Intensität des Gefühls wird im Leben auf harte Proben gestellt, überlebt aber als Wille zum Leben und als Wille zum Glauben die Zeit der stürmischen Liebe. Das Wissen um die Zufälligkeit und Unausweichlichkeit der 277 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Prospekt: Die erotische Kultur der westlichen Welt

Lebensbedingungen hindert die Menschen nicht daran, auch ohne Anleihen bei einer jenseitigen Macht das Leben als absoluten Wert zu begreifen. Die Alterserfahrung liefert dafür die Bestätigung. Der alternde Mensch mag mit ungläubiger Verwunderung auf die Stürme zurückblicken, die ihm der Eros bereitet hat, aber er möchte diese Erfahrung wohl kaum missen und nur in den seltensten Fällen daraus den Schluss ziehen, dass ein Leben ohne Liebe besser gewesen wäre. Das bestätigen auch die Kinder und Enkel als ewiges Glücks- und Sinnversprechen, das zu halten den Menschen aufgegeben ist. Das Kind macht den Eros in seiner Vergänglichkeit zu einer zeitlichen Form der Überzeitlichkeit, die seine innere Form prägt, zu der die Idee des Kindes als konkrete Verkörperung gehört. Im Kind liegt die Kraft, mit der die Menschen über alle von ihnen verursachten oder hereinbrechenden Katastrophen triumphieren können. Denn nur Kinder in ihrem unerschütterlichen Weltvertrauen geben die Gewissheit, dass das Leben weitergeht. Die Liebe bekommt damit eine weitere Dimension: Sie beschränkt sich nicht mehr auf die reale Gegenwart des Partners, sondern erstreckt sich auf die in der Idee des Kindes beschlossene offene Zukunft. Sie bleibt selbst dann noch erhalten, wenn Kinderkriegen aus medizinischen Gründen nicht möglich ist oder ›aus Verantwortung‹ nicht gewollt wird.

Rechtfertigung und Zukunftsgewissheit Die anthropologische Rekonstruktion der Paarliebe nach dem Schema des Eros mag manchem als überzogen erscheinen. Beschreibt sie doch nur Erfahrungen, die Männer und Frauen im normalen Leben ohnehin machen, ohne darüber weiter zu reflektieren. Das ist richtig. Doch besteht die Aufgabe der philosophischen Anthropologie eben genau darin, die Selbstverständlichkeiten zu deuten und auszulegen. Das ist keine leichte Aufgabe, da das Reich des Selbstverständlichen unthematisch bleibt. Die Aufdeckung der unthematischen Horizonte, in denen wir leben, ist die einzige Form einer immanenten Rechtfertigung der Welt. Sie schreibt nicht vor, wie die Menschen zu leben haben, aber sie kann sie in ihrem normalen Lebensvollzug bestärken und sie damit vor ideologischen Abwegen bewahren. Das ist gerade in Sachen Sexualität und Liebe von besonderer Dringlichkeit, da die Menschen in diesem Bereich mehr als sonst dazu neigen, anderen und sich selbst etwas vor278 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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»Gewiss ist das Kind«

zumachen. Hier hilft nur das Realitätsprinzip als der einzige Weg, Rechtfertigung und Gewissheit in Übereinstimmung zu bringen. Das Fazit der Reflexionen zum Zusammenleben von Mann und Frau lautet: Erotische Rechtfertigung des Menschen ist nichts weniger als eine Aufforderung, sich rückhaltlos dem Erotismus zu ergeben. Es kann aber auch nicht heißen, die Welt zu verteufeln und Zuflucht in einer unzeitgemäßen Askese zu suchen. Vielmehr kommt es darauf an, zwischen den Ekzessen des entfesselten Eros und seiner positiven Gestaltung zu unterscheiden. Die Ekzesse liegen darin, dass Menschen in den westlichen Erlebnisgesellschaften ihr privates Leben rein auf Gegenwartsbefriedigung – auf ›Lust jetzt!‹ – ausrichten. Der Erotismus krankt daran, dass er den Sex von der Person abspaltet und nicht in der Lage ist, dem Eros eine Zukunft zu geben. Die Zukunftsdimension der erotischen Liebe besteht darin, die Konsequenzen der Augenblicksbefriedigung im Blick zu behalten. Ein zukunftsoffener Eros erzeugt einen Willen zum Glauben an die Welt, der sich bei Paaren gerade dann verstärkt, wenn er vom Kind auf sie zurückstrahlt. In der erotischen Rechtfertigung tritt der Eros neben den Logos und garantiert so dem Menschen einen positiven Lebensbezug. Sich so erkennen, wie Adam nach dem Sündenfall Eva ›erkannt‹ hat, ist das Privileg der Liebespaare, die aus innerem Antrieb das Abenteuer der Begegnung mit dem anderen Geschlecht und der daraus resultierenden Zukunft wagen. Das freiwillige Sicheinlassen auf ein unkalkulierbares Geschehen heißt im Hinblick auf die Transzendenz: Glaube an Gott, im Hinblick auf die Immanenz: Vertrauen in die Menschen. Nur so kann das moderne Selbst von der panischen Angst vor Abhängigkeit befreit werden, welche die für ein gelungenes Zusammenleben notwendige Vertrauensbasis zerstört. Der Eros steht somit für eine innerweltliche Gewissheit, durch die trotz aller Unsicherheiten das Vertrauen in die Welt erhalten bleibt. Auf dem Spiel steht also die Rettung eines humanen Menschenbildes, nicht die der Menschen selbst. Letzteres bleibt Gott vorbehalten, falls es ihn geben sollte.

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Nachwort 2013

I:

Individualitt und Sexualitt

Die im Buch vertretene These vom Primat des Paares gegenüber dem Individuum ist nicht nur bei der auf Selbstbestimmung programmierten Generation des »flexiblen Menschen« auf Ablehnung gestoßen. Auch seitens der Philosophie hat es Vorbehalte gegeben. Wenn sich auch gegenüber der klassischen Subjektphilosophie die Koordinaten in Richtung auf Intersubjektivität verschoben haben, wird dem Paar als sozialer Einheit zwischen Individuum und Gesellschaft keine Sonderstellung mehr eingeräumt, da damit anderen Formen des Zusammenlebens die Legitimität abgesprochen würde. »Heterosexueller Paarfundamentalismus« lautete das Etikett, mit dem mein Ansatz diskreditiert werden sollte (Leist 2006). Nichts lag und liegt mir ferner, als alternative Lebensformen moralisch zu diskreditieren. Mir geht es nicht um soziale Rollen, sondern um den Begriff des Menschen als eines Wesens, dessen Individualität von seiner Geschlechtsidentität abhängt. Meine Betrachtung ist also nicht soziologisch, sondern anthropologisch. Sicherlich gibt es weite Bereiche des Lebens, für die das geschlechtslose Abstraktum »Mensch« angebracht ist. Sobald es aber um das Selbstgefühl in seiner Unverwechselbarkeit geht, ist das Geschlecht unhintergehbar. Niemand fühlt sich als Mensch schlechthin, sondern immer als Mann oder als Frau. Wie es ist, sich als Mann oder als Frau zu fühlen, bleibt dem anderen Geschlecht grundsätzlich verschlossen, da niemand Gefühle der anderen fühlen kann. Aber es gibt über die anatomische und physiologische Differenz hinaus Unterschiede im Verhalten, die auf eine emotionale Differenz von Mann und Frau schließen lassen. Ich teile daher nicht die seit Michel Foucault weit verbreitete Überzeugung, dass erst der kulturelle Diskurs die Differenzierung von »männlich« und »weiblich«

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Nachwort 2013

geschaffen habe. Mann und Frau halte ich für anthropologische Konstanten, die sich auf Dauer nicht kulturell aufheben lassen. Natürlich haben Kulturen die Polarität der Geschlechter überformt und verschoben, so dass der Eindruck entstehen konnte, sexuelle Partnerorientierung sei beliebig wählbar. So hat der Soziologe Ulrich Beck schon im Jahre 1986 in seinem Klassiker Risikogesellschaft die Absolutsetzung des Selbst im Zuge der Individualisierungsdynamik als »Gesetz« der postmodernen Moderne proklamiert. Das Gesetz, das die Menschen sich selbst geben, lautet: »Ich bin ich, und dann: ich bin Frau. Ich bin ich, und dann: ich bin Mann. In dieser Distanz zwischen Ich und zugemuteter Frau, Ich und zugemutetem Mann klaffen Welten« (1996, 175). Offenbar handelt es sich um das Gesetz eines sekundären Systems der Pluralisierung von Lebensformen und Lebensstilen, in denen mit der Geschlechtsidentität gespielt werden kann. Aber das Spiel mit der Sexualität ist nicht ungefährlich und kann zu einer Bedrohung der personalen Identität des Menschen werden. Wer zu viel mit seiner Geschlechtsidentität spielt, weiß am Ende nicht mehr, wer er wirklich ist. Vor diesem Hintergrund habe ich mir die Frage gestellt, ob die Paarbindung Bedingung von Individualität ist und wie das Individuum seine Freiheit aus der erotischen Bindung gewinnen kann. Natürlich erfährt jeder unmittelbar nur sich selbst, niemand verwechselt sich mit einem anderen. Aber Selbsterfahrung ist abhängig davon, wie die anderen uns sehen, bzw. wie wir meinen, dass sie uns sehen. Im Selbstverständnis ist der Mensch nicht autonom, die Erfahrung des Eigenen und Unersetzbaren bildet sich immer in Relation zum Fremden und Austauschbaren. Daraus könnte man folgern, dass häufiger Partnerwechsel eine Bereicherung darstellt, da ein neuer Partner in uns Eigenschaften und Fähigkeiten wecken kann, die in der gewohnten Verbindung verkümmern. Sicherlich trifft das für soziale Kooperation zu. In der Liebe allerdings besteht die Gefahr, durch programmierten Partnerwechsel auf der Oberfläche der erotischen Rituale mit ihrer ewigen Wiederkehr des Gleichen zu bleiben. Damit aber entfällt die wichtigste Voraussetzung der Individualisierung, nämlich die Erfahrung der Unersetzbarkeit, aus der wir unser Selbstwertgefühl jenseits von Leistung und Anerkennung beziehen. Die dauerhafte Bindung an einen Menschen anderen Geschlechts wirkt wie ein Brennspiegel, der die verschiedenen Facetten des Ich zusammenhält. So wird das Individuum vor der postmodernen Utopie bewahrt, Leben bestehe aus einem belie282 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Nachwort 2013

bigen Wechsel von Rollen. Wo der feste Bezugspunkt entfällt, wird der einzelne zum Kreuzungspunkt zufälliger Begegnungen, von denen keine legitimierende Kraft ausgeht. Jean-Paul Sartre hat im Anschluss an Hegel die Abhängigkeit des Für-sich-seins vom Für-andere-sein am Beispiel des Blicks herausgearbeitet. Es waren seine suggestiven Beschreibungen, die dem Existentialismus zur Blüte verholfen haben. Aber die Suggestion wird in meinen Augen erst verständlich, wenn man den Subtext heranzieht, der hinter Sartres Beschreibungen steht. Sartre schließt sich oberflächlich an Edmund Husserls Paradigma der Wahrnehmung an, und hier sieht es so aus, als gehe es um Begegnungen zwischen beliebigen Menschen. Auch in der Leibphänomenologie von Maurice Merleau-Ponty spielt die Polarität der Geschlechter keine wesentliche Rolle für die Struktur des Verhaltens. Aber wenn dem so wäre, käme man über einen generischen Begriff des Menschen nicht hinaus. In Wirklichkeit aber lebt der Blick als Individuationsprinzip von der Polarität der Geschlechter. Zwar nehmen im sozialen Leben sexuelle Begegnungen keineswegs den größten Raum ein, doch bildet die erotische Ansprechbarkeit den verdeckten Hintergrund unseres Selbstverhältnisses. Um meinen Ansatz zu präzisieren: Das Paar hat in der Zweigeschlechtlichkeit sein natürliches Fundament. Der Geschlechtstrieb richtet sich zunächst anonym auf das andere Geschlecht, erst im Laufe der Entwicklung entsteht eine exklusive Bindung an einen privilegierten Partner. Dieser fungiert gleichsam als lebendiger Spiegel, in dem die biologische Geschlechtsidentität zu personaler Identität wird. Damit verschiebt sich die Zuordnung der Geschlechter über die Fortpflanzung hinaus in den Bereich der Bedeutungen und Werte, die das kulturelle Leben prägen. Anders als eine »Beziehung«, die sich leicht lösen lässt, wird das Paar als Kern der Familie durch ein Band zusammengehalten, das tiefe Wunden zurücklässt, wenn es zerreißt. Daher lässt sich die Sexualität nicht beliebig sozial dekonstruieren. Wenn sich der Begriff auch erst in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts eingebürgert hat, Sexualität ist keine Gender-Kategorie, sondern ein anthropologisches Radikal (Davidson 1998). Das bedeutet nicht, dass der Mensch an seine biologische Natur gebunden bleibt. Gewiss sind Mann und Frau, jeder für sich, selbständige Individuen, und jedem steht es in einer liberalen Gesellschaft frei, die Partnerschaftsform zu wählen, die seinen Vorstellungen entspricht. Aber die Freiheit der Lebensformen ist nicht grenzenlos. Es macht die Paradoxie der menschlichen Individua283 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Nachwort 2013

lität aus, in der Bindung an das andere Geschlecht zu sich selbst zu finden. Warum ist die Sexualität das Medium, in dem der Mensch sich als Individuum erfährt, das über sich selbst verfügen kann? Von metaphysischen Überlegungen abgesehen, gibt die Theorie der Bedürfnisse eine Antwort auf diese Frage. Nach antiker Klassifikation ist Sexualität kein notwendiges Bedürfnis, von dessen Befriedigung das Überleben abhängt, aber ein natürliches, dessen Nichtbefriedigung Frust erzeugt. Das ist eine psychologische Tatsache, unabhängig davon, in welche sozialen Strukturen die Sexualität eingebettet ist. Das spricht gegen Ulrich Beck, der im Lichte seiner Theorie der Individualisierung behauptet, die Paarbindung sei »kein Urbedürfnis« (1996, 175). Die Frage ist allerdings, in welcher Form der Mensch seine Sexualität auslebt. In der Wahlmöglichkeit liegt der Ursprung der Scham als Ausdruck der Tatsache, dass der Mensch in seinem sexuellen Begehren sich als sozial oder asozial, als abhängig oder autark erfährt. Wegen seines Hungers braucht sich niemand zu schämen, weder vor anderen noch vor sich selbst, dagegen gehört zur Sexualität ein Gefühl der Scham, das vor Instrumentalisierung des Begehrens schützt. Selbst Personen, die ihr Geschlecht als Ware verkaufen, wachen eifersüchtig über ihre Intimität: Prostituierte lassen sich normalerweise nicht küssen. Wenn neuerdings »polyamore« Promis ihr Intimleben im Netz offenbaren und als Beweis einer neuen Offenheit und Ehrlichkeit hinstellen, so ist das eine Form medialer Selbstentblößung, die zur Beschädigung der Persönlichkeit führt. Wie sehr Sexualität und Intimität zusammenhängen, hat der Soziologe Georg Simmel auf den Punkt gebracht. In seiner Analyse der Zweiergruppe als kleinster sozialer Einheit stellt Simmel fest, dass der Mensch sein Intim-Persönlichstes gerade an der Sexualität als das Absolut-Generelle festmacht, das er mit allen anderen Menschen und sogar mit den Tieren teilt (Simmel 1992, 110). Hier zeigt sich noch einmal die Paradoxie der menschlichen Sexualität, das Geschlecht darzustellen und zugleich zu verbergen. Das ist ein Hinweis darauf, dass Individualität kein Element der Welt ist, sondern einer Gefühlsambivalenz entspringt, die mit der Sexualität verbunden ist. Sexualität bleibt immer unberechenbar, sie lässt sich nicht restlos rational steuern. Dadurch wird der Mensch sich selbst zum Problem, seine personale Identität ist schweren pathologischen Störungen ausgesetzt. Nicht ohne Grund hat daher Friedrich Nietzsche den Menschen als »krankes 284 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Nachwort 2013

Tier« bezeichnet, das oft nicht weiß, was es eigentlich will. Die moderne philosophische Anthropologie spricht von der »exzentrischen Positionalität« des Menschen, die in der Ambivalenz der sexuellen Begierden ihren stärksten Ausdruck findet (Plessner 1975). Meine These von der Sexualität als Individuationsprinzip möchte ich durch einen Blick auf einige Denker erhärten, die ich im Buch gar nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt habe. Hier ist insbesondere Georges Bataille zu nennen, der das Heterogene in Gestalt von erotischen Exzessen dem Pragmatischen gegenüberstellt (Boelderl 2005). Bataille hat die Abgründe der menschlichen Existenz ausgelotet und damit auch weitgehend verdrängte und tabuisierte Momente des Paarlebens aufgedeckt. Allerdings wird die Intimität der Sexualität in Transgressionen ›aufgehoben‹. Batailles »allgemeine Ökonomie« der Verschwendung erinnert in ihren Grundzügen an Arthur Schopenhauer, der den Menschen als das Wesen bestimmt, dessen Handeln und Empfinden von Trieben beherrscht wird, die er »Wille zum Leben« nennt. Der Mensch kommt zu sich selbst in der Verneinung des Willens zum Leben, die eine Entmachtung des Subjekts bedeutet. Auch bei Schopenhauer gibt es eine Dialektik von Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben, die aus der Körperlichkeit resultiert. Die Erfahrung des eigenen Körpers ist ambivalent, sie konfrontiert den Menschen mit der Faktizität seiner Begierden und verweist zugleich auf die Freiheit, alle Begierden in der Phantasie durchzuspielen und damit Freiraum zu gewinnen (Fellmann 2012). Die Körpererfahrung äußert sich primär in den Empfindungen von Schmerz und Lust, die allerdings nicht gleichwertig sind. Schmerz macht den Menschen weltlos, Lust dagegen öffnet ihn der Fülle der Welt. Unter den Lustempfindungen kommt der sexuellen Lust eine Sonderstellung zu. Sie begleitet den Menschen immer latent und sie ist auf die Sexualität anderer Menschen bezogen, sei es real oder nur in der Vorstellung. Dabei tritt die Lust nicht nur bei der Befriedigung des sexuellen Bedürfnisses auf, sondern schon und oftmals viel stärker in der bloßen Erwartung. Darauf hat schon Sigmund Freud in seiner Erörterung des Problems der Sexualerregung hingewiesen (GW V, 114). Eine weitere Besonderheit der sexuellen Lust sieht Freud in ihrer Gefühlsambivalenz: »So ist der Akt des Essens eine Zerstörung des Objekts mit dem Endziel der Einverleibung, der Sexualakt eine Aggression mit der Absicht der innigsten Vereinigung. Dieses Mit- und Gegeneinanderwirken der beiden Grundtriebe ergibt die ganze Bunt285 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Nachwort 2013

heit der Lebenserscheinungen« (GW XVII, 71). Die Ausführungen Freuds machen deutlich, dass allen kulturellen Überformungen zum Trotz die Polarität der Geschlechter im Verhalten und im Empfinden bestehen bleibt. Auch in den geschlechtsneutralen Rollen, die Menschen im Alltag spielen, bleibt das Geschlecht zumindest unterschwellig erhalten. Der psychosexuelle Faktor lässt sich nie ganz ausschalten, es sei denn, Menschen werden zu geschlechtlosen Automaten, die sich rein funktional konditionieren lassen. Wie sehr mit der Sexualität Erwartungen und Vorstellungen verbunden sind, zeigt die individuelle Entwicklung. Nach der Pubertät und den ersten sexuellen Kontakten hat alles Verhalten und Empfinden eine neue Qualität. Aus dem Kind ist ein Erwachsener geworden, der sich selbst und die Welt mit anderen Augen sieht. Die Unbefangenheit des kindlichen Daseins, das unbefragt das ist, was es ist, weicht einem Ernst des Lebens, der nicht nur mit Arbeit und Lebensfristung zu tun hat, sondern auch und zunächst aus der Erfahrung der Sexualität resultiert. Richtig hat schon Schopenhauer bemerkt, dass der Sexualakt von jungen Menschen mit großem Ernst vollzogen wird; die Leichtigkeit des erotischen Spiels ist dagegen eine spätere Erscheinung. Unter diesen Voraussetzungen kann man Sexualität als Quelle der Entwicklung des Menschen zur Person bezeichnen. Dazu sagt Schopenhauer, es sei »als ein Phänomen jenes den Menschen von allen Tieren unterscheidenden eigentlichen Individualcharakters anzusehen, dass bei den Tieren der Geschlechtstrieb seine Befriedigung ohne merkliche Auswahl sucht, während diese Auswahl beim Menschen und zwar auf eine von aller Reflexion unabhängige, instinktmäßige Weise so hoch getrieben wird, dass sie bis zur gewaltigen Leidenschaft steigt« (WWV I, 198). Schopenhauer hat als Individuationsprinzip Raum und Zeit genannt, kommt damit aber nicht über Individualität als objektiv feststellbare Verschiedenheit hinaus. Zur Individualität gehört personale Identität, sowohl für die Außenstehenden als auch für das Erleben der Person. Das Verhältnis von Individualität zur Identität ist komplex und unterliegt starken kulturellen Schwankungen. Derzeit scheint sich die Überzeugung durchzusetzen, Individualität sei auch ohne Identität realisierbar. Im kulturellen Diskurs ist denn auch weniger von Individualität die Rede. An ihre Stelle ist das Selbst in zahlreichen Verbindungen wie »Selbstbestimmung«, »Selbsterfahrung«, »Selbstwertgefühl« usw. getreten. Das ist kein Zufall, sondern entspricht der Relativierung der Geschlechtsidentität im Rahmen des postmodernen 286 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Nachwort 2013

Lebensgefühls. Jeder möchte sein Leben frei von biologischen Zwängen selbst gestalten, sich immer neu entwerfen, neu erfinden, so dass Individualität sich in Augenblicksidentitäten auflöst. In der Philosophie ist daher die Rede vom »Tod des Subjekts« aufgekommen, doch bei aller Dezentrierung des Selbst bleibt die Liebe ein Residuum, das sich der Verfügbarkeit entzieht. Man kann von einem »Tiefen-Ich« oder »Kern-Ich« sprechen, an die der Mensch in seinem Drang nach Selbstdarstellung nicht heranreicht. Wir alle leben im dunklen Winkel unseres Selbst, und in der Art, wie wir mit dieser Dunkelheit umgehen, liegt das Geheimnis der Individualität. Mir ist bewusst, dass ich mit der Koppelung der Individualität an die Sexualität eine dem modernen Individualismus zuwider laufende Hypothese aufstelle, die obendrein noch an Sigmund Freuds »Pansexualismus« erinnert. Bieten die sozialen Wirklichkeiten doch ein völlig anderes Bild. Arbeit und sozialer Status bestimmen in modernen Gesellschaften das Selbstwertgefühl der Menschen, sie scheinen für das Leben des einzelnen die dominierenden Faktoren zu sein. Sexualität ist in Form von »Sex« ohne Verpflichtungen verfügbar geworden. In diesem Licht mag es wie ein Anachronismus klingen, die Polarität der Geschlechter als Schlüssel zum Verständnis von Individualität zu betrachten. Und dennoch: Dass heute die sozialen Rollen das Selbstverständnis der Menschen mit so durchschlagender Konsequenz zur Geltung bringen, schaltet die Geschlechtlichkeit nicht aus. Ihre latente Präsenz hat der Zoologe Adolf Portmann wie folgt ausgedrückt: »Die andauernde Wirkung der geschlechtlichen Komponente, der auffälligsten unter diesen hormonalen Wirkungen, führt zu einer ganz besonderen Folge in unserem Leben: zu einer stetigen, dauernden Sexualisierung aller menschlichen Antriebssysteme einerseits – aber auch zu einer bedeutungsvollen Durchdringung der sexuellen Aktivität mit den stetig wirkenden anderen Motiven menschlichen Verhaltens« (Portmann 1956, 62 f.). Hier wird deutlich, dass Sexualität kein Refugium des Privaten ist; sie durchdringt auf vielerlei Wegen Macht, Status und andere Komponenten des sozialen Lebens. Arnold Gehlen, der Portmann zustimmend zitiert (Gehlen 1966, 60), hat für den Menschen die paradoxe Formulierung geprägt, er sei von Natur aus ein Kulturwesen. Kulturen leben von Institutionen, die individuelle Bedürfnisse sachlich und berechenbar machen. Individualität und soziale Kompetenz bedingen sich wechselseitig, es bedarf allerdings einer vermittelnden Instanz. Als diese Instanz betrachte ich 287 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Nachwort 2013

das Paar, das als Lebenseinheit die Menschheit im Sinne von MenschSein repräsentiert. In der Paarbindung erlebt der Mensch am intensivsten seine personale Identität, die zeitlich über die augenblicklichen Erregungszustände hinausreicht. In prägnanter Form hat diesen Sachverhalt der Vertreter der Philosophie des Du, Martin Buber, im Schlusswort seines Essays Urdistanz und Beziehung (1950) ausgesprochen: »Das Tier braucht nicht bestätigt zu werden, denn es ist, was es ist, unfraglich. Anders der Mensch: aus dem Gattungsbereich der Natur ins Wagnis der einsamen Kategorie geschickt, von einem mitgeborenen Chaos umwittert, schaut er heimlich und scheu nach einem Ja des Seindürfens aus, das ihm nur von menschlicher Person zu menschlicher Person werden kann; einander reichen die Menschen das Himmelsbrot des Selbstseins« (Werke I, 423). Was Buber hier für die menschliche Gemeinschaft im Allgemeinen postuliert, gilt im Besonderen für die Liebe zwischen den Geschlechtern. Selbst die Freundschaft, der die Ethik einen hohen Stellenwert einräumt, reicht an die Liebe als Individuationsprinzip nicht heran. In der Liebe geht es nicht nur um gegenseitige Hilfeleistung und Verständnis, sondern sie durchdringt infolge der körperlichen und emotionalen Intimität das Selbstwertgefühl des Menschen. Was aus der Innerlichkeit erotischer Erlebnisse und Erinnerungen für die Rechtfertigung des Menschen folgt, darüber mehr im nächsten Abschnitt.

II:

Der Mensch, das rechtfertigungsbedrftige Wesen

Der von mir eingeführte Begriff »erotische Rechtfertigung« wirft eine Reihe von Fragen auf. Die erste Frage lautet: Was ist im Rahmen der philosophischen Anthropologie unter »erotisch« zu verstehen? Hier liegt das Missverständnis nahe, das Erotische beschränke sich auf Praktiken sexueller Lustbeschaffung. Sicherlich hat der Eros auch diese Funktion, aber darüber hinaus prägt er durch kreative Gestaltung der triebhaften Sexualität das Lebensgefühl. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass die Menschen immer nur auf Sex aus sind. Gemeint ist vielmehr, dass der Mensch durch den Eros sich von Triebzielen entfernen kann, dass er Verhaltensformen entwickelt, deren Freiheit weit über das Notwendige und Nützliche der Selbsterhaltung hinausgeht. Das zeigt sich in den Spielen der Menschen, die anders als die Spiele der Tiere nach selbst erdachten Regeln ablaufen und einen Rollen288 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Nachwort 2013

wechsel ermöglichen, der den Tieren versagt bleibt. Die Erotik erzeugt komplexe Gefühle, die sich von den elementaren Emotionen der Tiere entfernen und Freiräume der Selbstgestaltung eröffnen (Engelen 2007). Die erotische Dimension der menschlichen Existenz hat ihre Kehrseite. Gerade in der Fülle des Erlebens konfrontiert sie den Menschen mit der Negativität seiner Existenz. Wie das Zitat von Martin Buber erkennen lässt, liegt die Negativität darin, dass der Mensch anders als das Tier nicht unfraglich das ist, was er ist. Wenn Arnold Gehlen den Menschen ein »Mängelwesen« nennt, so ist das nicht biologisch im Sinne mangelnder Anpassungsfähigkeit gemeint, sondern bezeichnet die anthropologische Differenz zwischen Sein und Bewusstsein. Die Harmonie mit der Welt zerbricht, der Mensch fühlt sich wie ein Gefangener in seinen eigenen Emotionen. Kierkegaard hat für das moderne Existenzgefühl den Begriff der Angst ins Spiel gebracht, bei Heidegger wird die Angst eine Grundstimmung, die den »Abgrund des Nichts« offenbart (Heidegger 1949, 55). Sartres ontologische Phänomenologie hat daraus Das Sein und das Nichts gemacht. Sieht man von der ontologischen Hypostasierung der Angst ab, so bietet sich eine anthropologische Lesart an. Anders als die konkrete Furcht steht die Angst für ein Lebensgefühl der Entfremdung und Verlassenheit, das die Subjektivität gelegentlich ohne erkennbaren äußeren Grund überfällt. »The carpet is moving under you« lautet der Vers, den sich Bob Dylan darauf gemacht hat. Die Erfahrung der existenziellen Angst begleitet nicht selten das sexuelle Begehren, das beim Menschen keine Grenzen kennt. Die Grenzenlosigkeit des Begehrens zeigt die Negativität in der Positivität, die in der Gefühlsambivalenz ihren stärksten Ausdruck findet. Auch und gerade in der Vereinigung mit dem anderen Geschlecht erfährt der Mensch seine Einsamkeit. Entsprechend bezeichnet Platon im Symposion den Gott bzw. Dämon Eros als Sohn des Reichtums und der Armut. Der Reichtum steht für die Fülle der Welt, die der Mensch im Liebesrauch erfährt, die Armut für das Gefühl der Unsicherheit, der Heimatlosigkeit, das ihn überfällt, wenn er aus dem Rausch erwacht. Das macht die Liebe zu einem Taumel, der Männer und Frauen auf der Suche nach endgültiger Erfüllung zu immer neuen Abenteuern treibt. Die Paradoxie der erotischen Erfahrung stellt den Menschen vor die Frage nach dem, was er eigentlich will. In der anthropologischen Frage äußert sich die Nicht-Identität, die menschliches Bewusstsein 289 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Nachwort 2013

von tierischem Lebensgefühl unterscheidet. Die anthropologische Differenz hat der Soziologe Georg Simmel so zusammengefasst: »Alles untergeistige Wesen steht jenseits der Frage von Wert und Recht, es ist schlechthin. Höhe aber und Bedrängnis des Menschen lässt sich in die Formel zusammen, dass er sein Sein rechtfertigen muss« (Simmel 1921, 264). Rechtfertigung des Seins ist offenbar etwas anderes als Rechtfertigung einzelner Handlungen, die wir aus dem alltäglichen Umgang kennen. In Bezug auf das Sein, dass den ganzen Menschen umfasst, bekommt Rechtfertigung eine Bedeutung, die an die metaphysische Frage heranreicht, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Bei der Rechtfertigung geht es um nichts weniger als um die Frage nach dem Grund des Selbstseins, die angesichts der Gewissheit des Todes unabweisbar ist. Inwiefern kann der Eros die Funktion der Rechtfertigung übernehmen? Zunächst einige Bemerkungen zum Begriff »Rechtfertigung«. Unter Rechtfertigung wird in der theoretischen Philosophie Begründung von Meinungen und Überzeugungen verstanden (Matthiessen/ Willaschek 2010). Die Verwendung des Begriffs in der Logik und Erkenntnistheorie ist durch die Übersetzung von engl. justification verstärkt worden, so dass Begründung und Rechtfertigung synonym gebraucht werden. Das entspricht allerdings nicht dem deutschen Sprachgebrauch, in dem »Rechtfertigung« auf jemanden bezogen ist, die sein Verhalten entschuldigen will. Damit bekommt Rechtfertigung eine moralische Färbung, die der Kette der Gründe ein Ende setzt, so dass an die Stelle von Gründen konkrete Lebensformen treten (NidaRümelin 2009). So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass die Verwendung des Rechtfertigungsbegriffs in der analytischen Philosophie der Erkenntnis auf eine »Ethik des Meinens« verweist, die analog zur materialen Wertethik die subjektive Seite moralischen Handelns berücksichtigt (Bieri, 1997, 40, 42). Alle Versuche der neuzeitlichen Bewusstseinstheorie, den Menschen durch Letztbegründung Selbstgewissheit zu verschaffen, haben sich als unzureichend erwiesen. Rechtfertigung ist demnach gegenüber rationaler Begründung der weitere Begriff, der auf die Mehrdimensionalität menschlichen Wissens und menschlicher Gewissheiten verweist. Mit Ludwig Wittgenstein zu sprechen: »Was die Menschen als Rechtfertigung gelten lassen, – zeigt, wie sie denken und leben« (Wittgenstein PU 325). Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung des Rechtfertigungsbegriffs in meiner Formel »erotische Rechtfertigung« 290 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Nachwort 2013

zu verstehen. Erotische Rechtfertigung ist eine Form emotionaler Gewissheit, die Soziologen »ontologische Sicherheit« nennen (Anthony Giddens). Man kann auch von »Urvertrauen« sprechen. Dieses wird dem Kind durch die Eltern zuteil, für den Erwachsenen reicht die Elternbeziehung nicht aus. Es bedarf einer intimen Bindung an einen Erwachsenen, in der Regel an einen Erwachsenen anderen Geschlechts. Das Verlangen nach fester Bindung ist kein Bedürfnis neben anderen, sondern gleichsam ein Metabedürfnis, das der Zufälligkeit der menschlichen Existenz begegnet. Meine anthropologische Verwendung des Rechtfertigungsbegriffs verweist auf die christliche Theologie, die unter »Rechtfertigung« Erlösung des Menschen von der Erbsünde versteht. Der theologische Rechtfertigungsbegriff, der sich hauptsächlich auf die »Rechtfertigung allein durch den Glauben« im Römerbrief des Apostel Paulus bezieht, entstammt der Rechtsmetaphorik, geht aber über die irdische Gerechtigkeit hinaus. Nach christlicher Überzeugung kann der Mensch sich nicht selbst rechtfertigen, er ist auf Gottes Beistand angewiesen. Dabei ist Rechtfertigung mehr als ein Freispruch, sie ist ein Akt des gerecht Machens, eine Art Neuschöpfung des Menschen. Diese erfolgt gemäß der Mehrheitsmeinung katholischer und protestantischer Lehre nicht durch den Menschen selbst, sondern durch Gottes schenkende Gnade. Die Gnadenwahl setzt voraus, dass der Mensch bereit ist, das Wort Gottes anzunehmen. Inwieweit die Rechtfertigung durch den Glauben den Menschen in seiner Persönlichkeit verändert, einen neuen Menschen aus ihm macht, wird von den christlichen Konfessionen verschieden eingeschätzt. Die katholische Dogmatik geht davon aus, dass Rechtfertigung den Menschen vom Bewusstsein seiner Sünden befreit, die protestantische Lehre besteht dagegen auf der Koexistenz von Sünde und Rechtfertigung (Roth 2011, 224 ff.). Was theologisch kontrovers bleibt, die Paradoxie im Rechtfertigungsbegriff, lässt sich anthropologisch auflösen. Sein und Bewusstsein – beide Aspekte gehören zum Menschsein und bedingen sich wechselseitig. Sie machen die Freiheit aus, zu der wir durch die spezifisch menschliche Form der Sexualität »verdammt« sind. Hier sehe ich eine strukturelle Übereinstimmung von erotischer und religiöser Erfahrung. Die Erfahrung hat zwar allgemein menschliche Inhalte, aber sie muss von jedem selbst gemacht werden. Religiöser Glaube und erotische Liebe gleichen sich weiterhin darin, dass die Begegnung einer vermittelnden Instanz bedarf, um sie über die Unsicherheit schwan291 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Nachwort 2013

kender Gefühle zu erheben. Im christlichen Glauben versichert der Opfertod Jesu die Kinder Gottes, dass sie im Leiden und Sterben nicht allein gelassen sind, in der Liebe geben die Partner das Versprechen, dass jeder vom anderen als Person so, wie er/sie ist, angenommen wird. Die Funktion der erotischen Liebe wird unterschätzt, wenn man in der Lust das Mittel sieht, das Partner aneinander bindet. Lust ist vergänglich und trotzdem bleiben Paare auch bei Schwinden der biologischen Liebenswürdigkeit zusammen. Was sie zusammenhält, ist die Erfahrung, dass sich jeder in seiner sexuellen Begierde vorbehaltlos dem anderen hingeben kann, ohne sich seiner Bedürftigkeit schämen zu müssen. Durch die Intimität, die Partner in ihren sexuellen Handlungen vor den Blicken Fremder schützt, wird die Begegnung mit den eigenen Begierden erträglich. Mehr noch: Die Intimität macht das Paar zum Ort, an dem der Mensch sich in seiner Hinfälligkeit aufgehoben fühlt. Sicherlich sind Gefühle der Zuneigung unstabil, es kommt zu emotionalen Unverträglichkeiten, aber die Lebenseinheit der beiden Geschlechter gibt den Liebenden die Sicherheit, die durch keine andere zwischenmenschliche Beziehung erreichbar ist. Mein Versuch, die theologische Rechtfertigungslehre in die Anthropologie zu integrieren, mag als Säkularisierung religiöser Denkformen seitens der theologischen Dogmatik auf Ablehnung stoßen. Wenn auch Karl Barth den Eros verteufelt hat, der evangelische Theologe Ingolf Dalferth rehabilitiert die erotische Zweierbeziehung im Hinblick auf Gott als den Dritten im Bunde (Dalferth 2006). Papst Benedikt XVI. hat 2006 in seiner Enzyklika Deus caritas est die körperliche Liebe als zum Menschen gehörig gewürdigt. Damit spricht er die Schwächen der flüchtigen sexuellen Beziehung an, die der Dauer und Reifung nicht fähig sind. Genau das entspricht meinem anthropologischen Ansatz, der in einer langen existenzphilosophischen Tradition steht. Diese habe ich im Buch noch nicht dargestellt und auf sie möchte ich nun verweisen. Der wirkungsmächtigste Autor in dieser Tradition ist zweifellos Sören Kierkegaard, der im Anschluss an die protestantische Rechtfertigungslehre das authentische Selbstsein als Anerkennung der Abhängigkeit des Menschen von Gott als dem »absolut Anderen« interpretiert. Die Leistung Kierkegaards liegt darin, dass er die dogmatische Begrifflichkeit in anthropologische Befindlichkeit transformiert, ohne damit den Sachgehalt der Rechtfertigungslehre preiszugeben. In Die Krankheit zum Tode entwickelt Kierkegaard die moderne Identitätsproblematik am Phänomen der Verzweiflung. In der 292 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Verzweiflung werde deutlich, dass der Wille zur Selbstkonstitution gegen die Quelle gerichtet ist, aus der er entspringt. Gemeint ist die Sünde, und allein der Glaube kann das Selbstsein im Verhältnis zu Gott rechtfertigen und so der schenkenden Gnade Gottes gewiss sein. Das hat sich mit Friedrich Nietzsche geändert, der die Existenz Gottes als rechtfertigende Instanz wegstreicht. Nun sieht sich der moderne Mensch auf innerweltliche Instanzen verwiesen. Für Nietzsche ist es die Kunst, die zur ästhetischen Rechtfertigung der Welt führt. Ästhetik und Erotik sind eng verbunden, da entgegen Kants Überzeugung das Wohlgefallen am Schönen niemals ganz interesselos ist. Hier bietet sich der andersgeschlechtliche Körper als Objekt der Begierde an, die in der Paarbindung in Zuneigung transformiert wird. In der Intimität gewinnt die erotische Liebe eine Bedeutungsfülle, die das isolierte Subjekt niemals erreichen kann. Lou Andreas-Salomé hat das in ihrem Aufsatz Die Erotik, der 1910 in der von Martin Buber herausgegebenen Zeitschrift Die Gesellschaft erschienen ist, unüberbietbar schön ausgedrückt: »Gatten einander sein, dass kann gleichzeitig heißen: Liebende, Geschwister, Zufluchten, Ziele, Hehler, Richter, Engel, Freunde, Kinder – mehr noch: voreinander stehen dürfen in der ganzen Nacktheit und Notdurft der Kreatur« (Andreas-Salomé 1979, 142). Hier wird ein Begriff des Menschen entfaltet, in dem alles zusammen kommt, dessen komprimierte Fülle die Dürftigkeit individualistischer Selbstrechtfertigung überwindet. Nicht zuletzt durch den Einfluss von Sigmund Freud hat sich in der Philosophischen Anthropologie des zwanzigsten Jahrhunderts die Einsicht durchgesetzt, dass Sexualität und Individualität sich nicht trennen lassen und geschlechtliche Liebe die Instanz darstellt, in der die Liebenden sich als Individuen in ihrer personalen Unersetzbarkeit selbst erfahren. Wie kein anderer hat Jean-Paul Sartre in seinem Roman Der Ekel die Selbsterfahrung des modernen Menschen im Selbstzerwürfnis dargestellt. Kein Mensch könne unsere Existenz rechtfertigen, da der andere eine permanente Bedrohung unserer Freiheit darstellt. Auch in seinem philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts heißt es, dass der Mensch in seiner absoluten Kontingenz »nicht zu rechtfertigen« sei (unjustifié et injustifiable – Sartre EN 76). Mit einer Ausnahme. In seiner Analyse des erotischen Begehrens schreibt Sartre der Liebe die Kraft der Rechtfertigung zu. Ohne Liebe sei der Mensch eine »ungerechtfertigte und nicht zu rechtfertigende Protuberanz«. Erst im Geliebtwerden erfahren wir die Freiheit der absoluten Wahl unserer 293 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Existenz: »Das ist der Grund der Liebesfreude, wenn sie denn existiert. Uns gerechtfertigt fühlen, dass wir existieren« (EN 439). An späterer Stelle freilich rudert Sartre zurück, wo er die Rechtfertigung durch die Liebe eine Täuschung nennt, da durch die Liebeswahl die Paradoxie der Freiheit nicht wirklich gelöst werde. Die Liebe bleibe immer an egoistische Begierde gebunden, in der die Beteiligten nicht aus ihrer Isolierung herauskommen (Sartre EN 444). Sartres Rückzieher führe ich darauf zurück, dass er die Liebe nicht hinreichend in ihrer Eigenständigkeit als Bindung begreift, welche die zufällige Befindlichkeit der Liebenden übersteigt. Gerade Sartres subtile Beschreibungen der körperlichen Liebe als absolute Wahl bestärken mich in der Auffassung, dass die Erotik diejenigen rechtfertigt, die sich ihr ganz hingeben. »Hingabe« hat heute im Zeitalter der Selbstverwirklichung keinen guten Klang, man vermutet dahinter ein überholtes Rollenverständnis der Frau. Aber damit verkennt man, dass Hingabe an den anderen Ausdruck der eigenen Stärke sein kann. Erst durch die Gegenseitigkeit des Begehrens entsteht im Paar die von beiden Seiten geteilte Überzeugung, dass keiner den anderen bloß als Mittel zu eigenen Zwecken gebraucht. In der Paarbindung wird der Eros selbstreferentiell, er verfolgt keinen Zweck außerhalb der Liebe. Wer nicht an die Liebe als dauerhafte Zweierbeziehung glaubt, selbst wenn sie im konkreten Fall in die Brüche geht, zerstört die Freiheit, die laut Sartre nur in der konkreten Situation gewonnen werden kann (Kampits 2004, 67 ff.). Da im Zeitalter der Emanzipation der Frau zunehmend Bedenken gegen den Primat der Paarbindung geltend gemacht werden, möchte ich darauf hinweisen, dass auch Simone de Beauvoir die Freiheit nicht im isolierten Subjekt entstehen lässt, sondern aus der Begegnung mit dem anderen. Das Individuum kann seine Kontingenz nur überwinden, wenn es sich der Subjektivität des anderen öffnet: »Der Mensch kann eine Rechtfertigung seiner Existenz nur in der Existenz der anderen Menschen finden. Er braucht eine derartige Rechtfertigung, er kann ihr nicht entkommen« (de Beauvoir 1954, 103 f.). Selbst für Simone de Beauvoir ist die erotische Liebe der bevorzugte Ort der Rechtfertigung, die freilich in Folge der Dialektik von Freiheit und Bindung immer in der Schwebe bleibt. Das macht die »Ambiguität« der existentialistischen Moral aus, die anders als die Sollensethik darum bemüht ist, einen Ausgleich zwischen dem egoistischen Begehren der Menschen zu finden. 294 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Schließlich bleibt zu klären, wie mein Konzept der erotischen Rechtfertigung sich zur Theorie kommunikativen Handelns verhält. Es ist bezeichnend, dass Jürgen Habermas in der späten Phase seines Denkens vom logischen Zwang der Gründe abrückt. Er hält zwar am Zusammenhang von Wahrheit und diskursiver Begründung fest, erkennt aber in seiner Aufsatzsammlung Wahrheit und Rechtfertigung Formen nicht-epistemischer Rechtfertigung an (Habermas 1999, 48 ff.). Diese betreffen die lebensweltlichen Praktiken zwischenmenschlicher Begegnung, die meist emotional ausgerichtet sind. Habermas hat die Lockerung des epistemologischen Zusammenhangs von Wahrheit und Rechtfertigung nicht explizit auf die erotische Liebe bezogen. Hier ist Schüler Axel Honneth einen Schritt weiter gegangen. Im Anschluss an Hegel konzentriert er sich auf Anerkennung als Voraussetzung der Selbstverwirklichung. Das gilt für persönliche Beziehungen, für Freundschaft und Liebe (Honneth,Rössler 2008), die allerdings mehr als Anerkennung beinhalten. Anerkennung können wir einem anderen aufgrund seiner Leistungen nicht versagen, selbst wenn wir ihn als Person nicht mögen. Liebe dagegen ist Annahme des anderen unabhängig von seinen Leistungen. Daher habe ich Anerkennung und Liebe als zwei Quellen des Selbst bezeichnet (Fellmann 2009). Anders als Anerkennung ist und bleibt Liebe ein Geschehen, dessen Grund auch die Liebenden selbst nie ergründen werden. Wenn überhaupt, lässt sich Liebe nur durch Liebe »erklären«. Daher lautet die Frage der Liebenden niemals: »Warum liebt er/sie mich?« sondern: »Liebt er/sie mich oder nicht?«. Die genannten Referenzautoren bestärken mich darin, den Begriff der erotischen Rechtfertigung in die Philosophische Anthropologie einzuführen. Im Unterschied zur epistemischen Rechtfertigung, die öffentlich ist, beruht erotische Rechtfertigung auf einer privaten Bindung, in der die Liebenden ihr Innerstes preisgeben, um dem anderen um seiner selbst willen nahe zu sein. Dabei kommt es nur punktuell zur Verschmelzung, auf lange Sicht entwickelt sich eine Dialektik von Nähe und Distanz, welche die Liebenden fester und dauerhafter verbindet als einzelne Wesenszüge. Was die Liebenden zum Paar macht, ist die Bindung selbst, an der die Partner teilnehmen und die ihnen eine Sicherheit vermittelt, die jenseits rationaler Begründung liegt. Das bestätigt die bereits angesprochene Analogie der erotischen Rechtfertigung zur theologischen Rechtfertigungslehre. So wie das Verhältnis zu Gott durch Jesus Christus als den Dritten vermittelt ist, 295 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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hat die erotische Paarbindung eine dritte Dimension. Sie liegt im Kind, das aus dem Paar Eltern macht und eine Familie begründet. Zwar können Kinder auch ohne Paarbindung gezeugt werden, sie sind dann gleichsam in die Welt »geworfen«. Damit aber werden die Kinder des Urvertrauens beraubt, das sie brauchen, um sich in der Welt aufgehoben zu fühlen. Daraus resultiert das Recht eines Kindes, dass seine Eltern sich lieben und ein Paar bilden. Denn nur wenn die Eltern in Liebe verbunden sind, kann das Kind mit der Zufälligkeit seiner Zeugung fertig werden, sich als Dritter im Bunde der Geschlechter gerechtfertigt fühlen. Kein geringerer als Immanuel Kant hat diesen Gedanken in die Frage gekleidet: »Warum musste ein solches Paar existieren?«. Meine philosophische Antwort auf diese Frage lautet: Weil Liebe jedem einzelnen die Gewissheit gibt, als der angenommen zu sein, der er ist: ein unersetzbares Individuum (Fellmann 2011).

III: Die Rolle der Paarbindung in der Evolution Wenn meine These richtig ist, dass aus dem Begriff des Menschen als rechtfertigungsbedürftigem Wesen das Paar als Ort der ontologischen Sicherheit folgt, so muss die Paarbindung eine wesentliche Voraussetzung im Prozess der Menschwerdung gewesen sein. Im Buch habe ich in Anlehnung an Immanuel Kants anthropologische Lesart der biblischen Sündenfallerzählung die erotische Begegnung von Mann und Frau als Ur-Szene der Menschwerdung dargestellt. Was dort mehr die Form eines Mythos hat, lässt sich im Rahmen der Evolutionsbiologie wissenschaftlich untermauern (Engels 2007). In diesem Rahmen habe ich in mehreren Aufsätzen gezeigt, welche Rolle die Sexualität im Prozess der Menschwerdung möglicherweise gespielt hat (Fellmann 2009; 2010). Sicherlich ist die sexuelle Partnerorientierung nicht die einzige Voraussetzung der Menschwerdung. Zu ihr gehören der aufrechte Gang und das damit verbundene Freiwerden der Hand. Ferner die Orientierung im Raum über die unmittelbare Umgebung hinaus, schließlich die theoretische Neugierde, die beim Tier auf die Jugend beschränkt ist, beim Menschen hingegen das ganze Leben bis ins hohe Alter anhält (Lorenz 1970, II, 183). Die genannten Voraussetzungen der Menschwerdung stehen nicht isoliert, sondern sind durch den gemeinsamen Hintergrund der sexuellen Disposition verbunden. Psychologisch hat Freud die sexuelle 296 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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Lust als stärkste Form der Empfindung herausgestellt, die das Vorbild für das menschliche Glücksstreben bilde (GW XIV, 441). Biologisch hängt die Funktion der Lust mit der Sonderstellung der menschlichen Sexualität zusammen, die sich von der tierischen durch dauernde Empfänglichkeit und verdeckten Eisprung unterscheidet. Hinzu kommen Face-to-face als normale Stellung sowie Geschlechtsverkehr im Verborgenen (Diamond 2000). Während viele Tiere außerhalb der Brunft vom anderen Geschlecht keine Notiz nehmen, sozusagen »geschlechtslos« nebeneinander leben, sind sich Menschen permanent ihrer Geschlechtlichkeit bewusst. Dauernde sexuelle Ansprechbarkeit wäre allerdings ein zweifelhaftes Geschenk der Natur, das jede soziale Ordnung zerstören würde. Daher hat die Evolution die Paarbindung begünstigt, die der Aufzucht des Nachwuchses zugute kommt. Die Transformation der Sexualität in erotische Liebe passt auch zum aufrechten Gang, dem in der idealistischen Tradition eine starke symbolische Bedeutung zugeschrieben wird (Bayertz 2012). Soziobiologisch geht es eher um den Umbau des sexuellen Signalsystems beim Menschen. Durch den aufrechten Gang wurden die Hände nicht allein zur Verfertigung von Werkzeugen oder Tragen von Lasten freigesetzt, sie wurden auch frei zu differenziertem gestischen Ausdruck von Gefühlen. Von sexuell attraktiven Düften und Geräuschen einmal abgesehen, liegt die stärkste Veränderung wohl darin, dass Frauen anders als Affenweibchen ihre fruchtbaren Tage nicht durch Rötung des Hinterteils signalisieren. Aber auch Frauen bleiben nicht ganz unauffällig, nur verlagert sich das auslösende Signal auf die Erscheinung des gesamten Körpers. Damit rückt das Gesicht als Interface erotischer Kommunikation in den Vordergrund, so dass der Blick zum Medium vorsprachlicher Verständigung zwischen Mann und Frau geworden ist. So kann sich die Sexualität zur Erotik entwickeln, in der das Begehren um seiner selbst willen kultiviert wird. Auch die Ausweitung der Raumorientierung über die unmittelbare Umgebung hinaus lässt auf sexuelle Motivation schließen. Tiere finden den Geschlechtspartner über große räumliche Distanzen hinweg, aber nur der Mensch empfindet Sorge um den abwesenden Partner. Wo mag der/die Geliebte jetzt sein? Diese Frage lässt die Gedanken über den engen Horizont der räumlichen und zeitlichen Wahrnehmung hinaus schweifen. Durch die emotionale Bindung bleibt der Partner auch bei Abwesenheit emotional präsent. Tiere dagegen, bei denen die sexuelle Partnerorientierung periodisch abläuft, scheinen die Ab297 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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wesenheit oder den Tod des Partners nicht nachhaltig zu empfinden und wenden sich in der Regel problemlos einem neuen Sexualpartner zu. Die Präsenz des sexuellen Faktors im sozialen Umgang lässt die Folgerung zu, dass menschliches Bewusstsein sich nicht allein in der Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt hat. Neben der Ausbildung von technischen Fähigkeiten bei der Lösung von Überlebensproblemen spielen die emotionalen Anforderungen des Soziallebens eine besondere Rolle. Sie beschränken sich aber nicht auf die Kooperation, die auch bei höheren Tieren stark ausgeprägt ist, sondern erhalten durch die Polarität der Geschlechter eine qualitativ neue Dimension (Junker, Paul 2009). Erotische Bindung unterscheidet sich von Kooperation durch emotionale Ambivalenzen, die stärker aneinander binden, als man gewöhnlich annimmt. Daher greift es zu kurz, wenn man Vergnügen am Sex als einziges soziales Bindemittel betrachtet. Wichtiger ist die existentielle Nacktheit beider Partner, die Preisgabe der charakterlichen Stärken und Schwächen, die Paare auch über die Zeit der körperlichen Lust hinaus verbindet. Unter den physiologischen Merkmalen der Spezies Mensch sticht das große Gehirnvolumen hervor, das den Menschen zum Quantensprung kultureller Beherrschung seiner biologischen Natur befähigt hat. Die ältere Auffassung, dass die Zunahme des Gehirns eine Folge des aufrechten Ganges ist, hat ihre Plausibilität angesichts der Tatsache verloren, dass Australopithecinen (fossile Arten von afrikanischen Affen) mindestens zwei Millionen Jahre aufrecht gingen, ohne dass es während dieser Zeit zu einer signifikanten Zunahme der Gehirngröße gekommen ist (Junker 2006, 28). In dieser langen Zeit muss für die Abspaltung des Menschen ein anderer Faktor wirksam gewesen sein. Nicht Schutz vor Räubern oder Nahrungsbeschaffung, sondern Sensibilität im Umgang mit Mitgliedern der Gruppe haben nach Auffassung der Evolutionären Psychologie die Entwicklung des »sozialen Gehirns« vorangetrieben. Damit aber nicht genug. Neuere Analysen haben ergeben, dass innerhalb des Gruppenlebens die emotionalen Anforderungen der engeren Paarbindung die Gehirntätigkeit stimuliert haben (Dunbar 2007). Langfristige intime Paarbindung stellt hohe Anforderungen, für die ein ausgebildetes Gehirn erforderlich ist. Für beide Partner entsteht durch die Nähe ein enormer psychischer Druck, für dessen Bewältigung es keine angeborenen Instinkthandlungen gibt. »Beziehungsstress« hat es also schon im Pleistozän gegeben! Statt bei 298 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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jeder psychischen Schwankung des Partners die Flucht zu ergreifen, mussten Umwege im Fühlen gefunden werden. Dazu waren nur Wesen mit hoch entwickelten Gehirnen in der Lage, die ihre Träger befähigen, soziale Probleme intelligenter zu lösen als durch Flucht oder Aggression. Für die individuelle Paarbindung, die beim Menschen über die Mechanismen der tierischen Weibchenwahl nach Fitnesskriterien hinausgeht, habe ich den Begriff »emotionale Selektion« vorgeschlagen (Fellmann 2010). Emotionale Selektion betrachte ich als Prozess gegenseitiger Anpassung der Geschlechter jenseits des Lustprinzips. Selegiert werden Emotionen höherer Stufe, die dauerhafter, distanzierter und somit sachlicher sind als die rein triebhaften Gefühle. Emotionale Selektion ist immer reflexiv, interpretativ und evaluativ – alles Merkmale des Bewusstseins, das sich durch Weltoffenheit gegenüber der Umweltbindung des Tieres auszeichnet. Diese Hypothese bestätigt für die Menschwerdung das paläoanthropologische Paarbindungs-Modell von Owen C. Lovejoy, der aus der Rekonstruktion von Skeletten den Schluss zieht, dass die gemeinsamen Vorfahren von Affe und Mensch auf kooperatives Verhalten programmiert waren (Lovejoy 2009). Ich schließe mich dieser Interpretation an, allerdings mit der Einschränkung, dass es bei der Partnerorientierung nicht so sehr um materiellen Unterhalt (engl. commitment) geht als vielmehr um emotionale Unterstützung, um das, was wir »Liebe« nennen. Die Liebe hat die Partner in die Lage versetzt, innerhalb größerer Sozialverbände das Soziale vom Sexuellen zu trennen, worauf der überwältigende Erfolg der Spezies Mensch beruht (de Waal 2009, 176). Diese Fähigkeit ist keine Leistung des isolierten Individuums, sondern des gebundenen Individuums, das vom Druck der Suche nach immer neuen Sexualpartnern entlastet ist. Das von Verteidigern des Single-Lebens gern angeführte Argument, eine feste Liebesbeziehung brauche viel Energie und schade der Kreativität, läuft ins Leere. Denn kreatives Handeln ist Überschreitung von Grenzen, wie sie in der Liebe mit himmelstürmender Macht erlebt wird. Nur Gott war in der Lage, die Welt ganz aus sich selbst zu erschaffen. Menschliche Intelligenz und Kreativität sind an Sprache gebunden, die von jeder Generation gelernt werden muss. Sogenannte Tiersprachen dagegen sind angeborene Signalsysteme mit geringer kultureller Variationsbreite. In der Erforschung der Sprachevolution wird die Paarbindung kaum beachtet, da man für die Entstehung von Sym299 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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bolsprachen ganz auf soziale Kooperation ausgerichtet ist. Aber unabhängig von Kooperation haben Liebende durch gestischen und mimischen Ausdruck ein differenziertes System emotionaler Kommunikation entwickelt, das über das soziale Verhalten der Tiere hinausgeht. So kann man aus biologischer Sicht von »Signalen der Liebe« sprechen (Grammer 1994), aber aus anthropologischer Sicht werden aus Signalen Symbole, deren Wahrnehmung und Handhabung allein dem Menschen vorbehalten ist. Unzweifelhaft dürfte sein, dass die »Liebeswahl« dem Menschen mehr Freiheit lässt als den Tieren. Außenstehende sind oft überrascht, wer sich in wen verliebt, und die Beteiligten selbst wissen manchmal nicht, wie ihnen geschieht. Vom Eros werden wir emotional übermannt, und doch erleben wir die Bindung an einen Partner nicht als Fessel, sondern als höchsten Ausdruck unserer Freiheit. Das paradoxe Gefühl einer überwältigenden und doch freiwilligen Bindung macht das Rätsel der Liebe aus, das sich biologisch nie ganz auflösen lässt. Mit diesem Konzept unterscheide ich mich von Tendenzen der evolutionären Psychologie, die Empathie als sanfte Form sozialer Bindung jenseits der Polarität der Geschlechter in den Mittelpunkt der Menschwerdung stellen. So fundamental für die Analyse der Emotionen die Mutter-Kind-Beziehung auch ist, die Individualentwicklung darf nicht unbesehen auf die Evolution übertragen werden. Eine menschliche Mutter unterscheidet sich von der Tiermutter durch die Art, wie sie die Entwicklung des Kindes erlebt. Ein menschliches Kind ist mehr als ein Junges, es betrachtet die Mutter aus größerer Distanz als das Tierjunge, das allein auf Fütterung aus ist. Dieser Unterschied, den der Zoologe Buytendijk fein herausgearbeitet hat (Buytendijk 1958, 78), lässt sich daraus erklären, dass die Mutter zum Erzeuger ihres Kindes ein engeres emotionales Verhältnis entwickelt hat als es im Tierreich der Fall ist. Anders gesagt: Sie muss schon eine Menschenmutter geworden sein, damit sie dem Kind mehr zukommen lassen kann als bloße Fürsorge, nämlich Sorge um seine Person. Und zu einer Menschenmutter ist sie in der Evolution durch die Paarbindung geworden, die das Selbstgefühl auf die Stufe menschlicher Personalität gehoben hat. Die Überlegungen zur emotionalen Selektion als Quelle der menschlichen Individualität führen zur anthropologischen Differenz, die in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes kontrovers diskutiert wird. Naturalistisch argumentierende Biologen und idealistisch den300 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

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kende Philosophen gehen von unterschiedlichen Begriffen des Menschen aus: der Mensch als Exemplar der Gattung homo einerseits und als unersetzbare Person andererseits. Wie lassen sich die verschiedenen Zugänge verbinden? Durch den Eros, dessen Paradox darin liegt, dass der Mensch dem triebhaften Begehren folgt, zugleich aber die Freiheit gewinnt, gegenüber seinen Affekten emotional Stellung zu nehmen. Der Eros transformiert die Affekte in Gefühle höherer Ordnung wie Liebe, Hass und Hoffnung, die wir den Tieren nicht zuschreiben (Frankfurt 1993). Liebe ist mehr als Sympathie, Hass mehr als Aggression und Hoffnung mehr als Erwartung. Anders als die Empfindungen der Tiere sind menschliche Gefühle selbstreferentiell, so dass der Schluss erlaubt ist: Die erotische Liebe ist der Ort, an dem durch emotionale Selektion der Mensch zum Wesen geworden ist, dessen Sein vom Bewusstsein bestimmt wird.

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Personen

Abel, Günter 167 Adler, Alfred 238 Adorno, Theodor W. 44, 47, 60, 124 Anders, Günther 12 f. Andreas-Salomé, Lou 293 Apel, Karl-Otto 219 Aragon, Louis 239 Aristoteles 73, 97, 234 Augustinus 25 f., 48 f., 235 Bach, Johann Sebastian 188 Bachofen, Johann Jakob 242 Bain, Alexander 216 Barth, Karl 52–55, 57, 60–63, 276, 292 Bataille, Georges 259, 285 Bayertz, Kurt 297 Beauvoir, Simone de 89, 294 Beck, Ulrich 15, 111 f., 282, 284 Beckett, Samuel 252 Bergson, Henri 131, 223, 239 Bieri, Peter 290 Bilz, Rudolf 65, 113 Bloch, Ernst 147, 170 Blumenberg, Hans 195, 197, 219, 229 Boelderl, Artur R. 285 Bruno, Giordano 237 Buber, Martin 288 f., 293 Buffon, Georges-Louis Lleclerc de 125 Bultmann, Rudolf 276 Burckhardt, Jakob 237 Buytendijk, Frederik Jacobus Johannes 189, 300

Cassirer, Ernst 57–60, 201 f., 206 Christus (s. a. Jesus) 47, 52, 54, 61, 119, 235 f., 241 f., 295 Curtius, Ernst Robert 231 Dalferth, Ingolf 14, 292 Damasio, Antonio R. 208 Danto, Arthur C. 228 Davidson, Arnold J. 283 Derrida, Jacques 64 Descartes, René 16, 208 f., 273 Dewey, John 145 Diamond, Jared 87, 297 Dilthey, Wilhelm 39, 48, 146 Driesch, Hans 231 Dunbar, Robin 298 Dürer, Albrecht 165 Durkheim, Emile 249, 255 Dylan, Bob 289 Einstein, Albert 186, 211 Ellis, Havelock 86 Engelen, Eva-Maria 289 Engels, Eve-Marie 296 Erikson, Erik Homburger 267 Escher, Maurits Cornelis 188 Eucken, Rudolf 100 Ficino, Marsilio 237 Foucault, Michel 230, 281 Frankfurt, Harry 301 Freud, Sigmund 38, 43, 55, 59, 62 f., 66, 76–86, 88 f., 91–96, 98, 108, 114, 138–142, 144, 146, 156 f., 167, 183,

309 https://doi.org/10.5771/9783495860656 .

Personen 199 f., 238 f., 255, 260, 269, 273, 285– 287, 293, 296 Frisch, Max 272 f. Fromm, Erich 81–83, 140, 146 Gadamer, Hans-Georg 124 Galiani, Abbé Ferdinando 229 Gehlen, Arnold 35, 43 f., 91–94, 96, 190–194, 205, 231, 254, 287, 289 Giddens, Anthony 291 Giraudoux, Jean 245 Gödel, Kurt 188 Goethe, Johann Wolfgang 18, 44, 113, 118, 238, 242, 248, 265 Goodman, Nelson 167 Grammer, Karl 300 Habermas, Jürgen 95, 98 f., 102 f., 105–110, 114, 124, 193–197, 212, 295 Haneke, Michael 7 Harnack, Adolf 50 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 51 f., 149, 194, 197, 208, 243, 246, 283, 295 Heidegger, Martin 107, 161, 233, 249 f., 289 Heraklit 58 Hesiod 57 Hesse, Hermann 131 Hobbes, Thomas 33, 73, 237 f. Hofstadter, Douglas Richard 188 Holl, Karl 48 Honneth, Axel 295 Horkheimer, Max 60 Husserl, Edmund 160 f., 208–211, 216, 273, 283 Ibsen, Hendrik 251 Infeld, Leopold 211 James, William 77, 212, 216–220 Jaspers, Karl 99–103, 120, 144 Jesus (s. a. Christus) 174, 275 f., 295 Joas, Hans 103 Junker, Thomas 298

Kafka, Franz 227 Kampits, Peter 294 Kant, Immanuel 32–38, 40, 44, 51 f., 64, 79, 118, 137 f., 149, 185, 189, 198 f., 201, 208, 213, 268, 293, 296 Kierkegaard, Sören 120, 289, 292 Klages, Ludwig 61, 242 Kockott, Götz 65 Kohelet 235 Kohut, Heinz 141–144, 157 f., 167 f. Kopernikus 181 Kriszat, Georg 183 Kuhn, Helmut 77 Kundera, Milan 115 Laing, Ronald D. 160 Landgrebe, Ludwig 161 Leibniz, Gottfried Wilhelm 40, 54, 135 Leist, Anton 281 Lévinas, Emmanuel 131, 175 Lipps, Theodor 216 Lorenz, Konrad 84–86, 191–193, 202–206, 296 Lovejoy, Owen C. 299 Löwenthal, Leo 252 Luhmann, Niklas 35, 109–111, 124, 126, 238 Luther, Martin 49 f., 237, 271 Mailer, Norman 239 Malinowski, Bronislaw 87–89, 91, 255 Mann, Thomas 25, 151 Marcuse, Herbert 81, 95, 140 f. Marx, Karl 99, 197, 230, 258, 260 Matthiessen, Hannes Ole 290 Maturana, Humberto 109, 201 Mauthner, Fritz 185 Mead, George Herbert 96, 103–106, 145 f. Mead, Margret 89 f. Merleau-Ponty, Maurice 283 Metzinger, Thomas 164

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Personen Miller, Henry 179, 239 Mirandola, Pico della 181 Mitscherlich, Alexander 134 Moravec, Hans 173 Mozart, Wolfgang Amadeus 54 f., 120, 215, 276 Neckel, Sighard 153 Newton, Isaac 179 Nida-Rümelin, Julian 290 Nietzsche, Friedrich 18, 39, 41 f., 145, 161, 181, 194, 205, 209, 212–216, 220, 234, 242, 284, 293 Nygren, Anders 61 Papst Benedikt XVI. 292 Pareto, Vilfredo 241 Parsons, Talcott 255 Paul, Sabine 298 Paulus 47–49, 54 f., 60 f., 63, 235, 237, 291 Peirce, Charles Sanders 121–123, 125, 212, 216 f. Perelman, Chaim 124 Piaget, Jean 63 f. Platon 15, 25, 55, 57, 59 f., 77, 206, 234, 237, 289 Plessner, Helmuth 181, 192 f., 285 Plotin 235, 237 Popper, Karl R. 186 Portmann, Adolf 92, 189 f., 287 Prigogine, Ilya 223 Protagoras 25 Reich, Wilhelm 81, 140 f. Ricoeur, Paul 131, 162 Riesman, David 80 Ritschl, Albrecht 52 Rössler, Beate 295 Roth, Michael 291 Rothacker, Erich 107, 193 f., 197 Rougemont, Denis de 61 Rousseau, Jean-Jacques 33, 37, 79, 145, 266, 273 Ryle, Gilbert 185

Sachs-Hombach, Klaus 169 Sartre, Jean-Paul 155, 166, 283, 289, 293 f. Scheler, Max 42 f., 158, 181–183, 190 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 193 Schelsky, Helmut 158, 253–255 Schilder, Paul 163 f. Schiller, Friedrich 73, 141, 205 Schlegel, Friedrich 16, 263 Schopenhauer, Arthur 38–40, 43, 79, 136–139, 145, 163, 183, 211, 239, 285 f. Shakespeare, William 145 Shannon, Claude Elwood 99 Simmel, Georg 46, 56, 145, 162, 240, 249 f., 284, 290 Sloterdijk, Peter 54 Sokrates 27, 31, 58 f., 62, 179, 234 Sombart, Werner 238 Sonnemann, Ulrich 38 Spengler, Oswald 232 Stendhal (d. i. Henri Beyle) 197 Stengers, Isabelle 223 Sternberger, Dolf 100 Strauß, Botho 252 Stumpf, Carl 216 Tarde, Gabriel de 96, 249 Toulmin, Stephen 222 Tugendhat, Ernst 107 f., 167 Twain, Mark 46 Üexküll, Jakob von 63 f., 183–185, 187–190, 201, 203 f., 207 Updike, John 248 Valéry, Paul 179 Varela, Francisco 201 Vierkandt, Alfred 261 f. Voltaire (d. i. Francois Marie Arouet) 40 Waal, Frans de 299 Weaver, William 99

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Personen Weber, Max 88, 102, 183, 219, 240, 249 Weizsäcker, Viktor von 169 Westermarck, Edward 86, 261 Wiese, Leopold von 249

Wilde, Oscar 159 Willaschek, Markus 290 Williams, Bernard 148 Wittgenstein, Ludwig 12, 39, 95, 290 Wundt, Wilhelm 103

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