Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen: Michael Landmanns Anthropologie des Schöpferischen 9783495995679, 9783495995662


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Einleitung
Vorausgeschicktes über Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen
Einleitendes über Michael Landmann und die stille Präsenz des Vergessenen
Grundlegendes über den Zusammenhang von Anthropologie und Bildungstheorie
Teil I Quellung, Rahmung, Verständigung
1. Michael Landmanns geistige Quellen
1.1 Gestalten
1.2 Bewegungen
1.3 Kulturanthropologie als »Anthropologie der Zukunft«?
2. Methodischer Rahmen der Arbeit
2.1 Hermeneutik methodischer Verarbeitung
2.2 Landmanns Denkstil
2.3 Dimensionen der Untersuchung
2.3.1 Erste Dimension: Anthropologische Architektonik
2.3.2 Zweite Dimension: Historisch-kritische Rückbindung
2.3.3 Dritte Dimension: Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung
2.4 Auswahl und Ordnung der Begriffe
3. Bildung und Kultur: Vorverständnis – Vorentscheidung
3.1. Zur Begründungsproblematik von Bildung und Kultur
3.1.1 Der Gegen-Stand der Pädagogik und Kulturwissenschaften um ihren Gegenstand
3.1.2 Transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Bildung und Kultur
3.2 Typische Spannungsfelder
3.2.1 Kreativität und Defizität
3.2.2 Machbarkeit und Zumutung
3.2.3 Entfaltung und Erinnerung
3.2.4 Skepsis und Kontrolle
3.2.5 Selbstwert und Instrumentalisierung
3.3 Zeiten, Schritte, Räume, Schichten
3.3.1 Hermeneutische Prozessualität der Bildung
3.3.2 Konstellatorisch-figurative Räumlichkeit (Spatialität) der Bildung
Teil II Der Mensch als »homo creator« und »homo creatus«
Der Mensch als »homo creator«
4. Kreativität
Verdichtete Ausgänge
Anthropologische Architektonik
4.1 »Anthropine Lücke« und Weltoffenheit als anthropo-logische Ausgangssituation
4.2 Voraussetzungen des Schöpferischen
4.3 Partnerinnen des Schöpferischen
4.4 Unmögliche Vollendung
Historisch-kritische Rückbindung
4.5 Kulturgeschichte des Schöpferischen
4.6 Leben wir im »postkreativen Zeitalter«?
Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung
4.7 Nichtwissen und Nichtsein
4.8 Wissensverlangen und Seinsverlangen
Verschwiegene Eingänge: Kreativität und »Geschöpflichkeit«
5. Individualität
Verdichtete Ausgänge
Anthropologische Architektonik
5.1 Individualität als anthropologische Kategorie
5.2 Chiffren und Nuancen des Individuellen
5.3 Ethik des Individuums
5.4 Gefahren, Schwundstufen, Fratzen des Individuellen
Historisch-kritische Rückbindung
5.5 Kulturgeschichte des Individuellen
5.6 Ein »Ende des Individuums«?
Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung
5.7 Das Individuelle als Erkenntnisproblem
5.8 Hingabe und Einnahme
Verschwiegene Eingänge: Individuelles Erleben als Refugium?
6. Vernunft
Verdichtete Ausgänge
Anthropologische Architektonik
6.1 Vernunft als Anthropinon
6.2 Typologie der Vernunft
6.3 Wissenschaft als ›Lebenswelt‹ der Vernunft?
Historisch-kritische Rückbindung
6.4 Kulturgeschichte der Vernunft
Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung
6.5 »Dialektik der Entlarvung«
Verschwiegene Eingänge: Typologie des Irrationalen
Der Mensch als »homo creatus«
7. Kulturalität
Verdichtete Ausgänge
Anthropologische Architektonik
7.1 »Anthropine Lücke« und Weltgeschlossenheit als anthropo-logische Ausgangssituation
7.2 Anthropologische Aspekte der Kulturalität
7.3 Kultureller Wandel
Historisch-kritische Rückbindung
7.4 Die Entdeckung der Kulturalität
7.5 Herauslösung und Autonomisierung der Kulturgebiete
7.6 Charakteristika nachklassischer Kultur
Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung
7.7 Kulturbewusstsein zur Aufklärung des Menschen über sich selbst
7.8 Die Bedingung der Möglichkeit von Kulturkritik als ihre (heilsame) Grenze
Verschwiegene Eingänge: »Ekklesifikation«
8. Geschichte
Verdichtete Ausgänge
Anthropologische Architektonik
8.1 Geschichtlichkeit als Anthropinon
8.2 Geschichtliche Weltdeutungen und Selbstverortungen des Menschen
8.3 Das Archaische – der Blick zurück
8.4 Das Offenkünftige – der Blick nach vorn
8.5 »Das Zeitalter als Schicksal«
8.6 Elemente für eine Theorie gelingenden Lebens
8.7 Sinn und Sinnloses, vom Sinnlosen zum Sinn-Los
Historisch-kritische Rückbindung
8.8 Kulturgeschichte der Geschichtlichkeit
8.9 Eine Menschheit – eine Geschichte
8.10 Das »Ende der Geschichte«?
Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung
8.11 Der historische Sinn
8.12 Schicksalswissen und Schicksalssinn als Korrektive ungebremster Vernunft und Verzweiflung
Verschwiegene Eingänge: Würde der Gefahr? Wie weit darf sich der Geist verirren?
9. Werte
Verdichtete Ausgänge
Anthropologische Architektonik
9.1 Die Werte als ein Zwischenreich
9.2 Werteordnungen
9.3 Die Werte und der Mensch
9.4 Wert, Glück, Sinn
9.5 Wert und Sollen
Historisch-kritische Rückbindung
9.6 Die Entdeckung des Eigenwerts
9.7 Umwertung und Pluralisierung der Werte
Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung
9.8 Aporetik und Problematik
9.9 Sinnnichtwissen und Sinnstiftung
Verschwiegene Eingänge: Der Wert des kulturellen Lebens
Teil III Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen
Bildung zur Kultur
10. Der Mensch als Problem
10.1 Probleme von Menschen und der Mensch als Problem
10.2 Das Wissen des Nichtwissens
10.3 Der anthropologische Sinn des Wissensverlangens
10.4 Das plurale Selbst als Leitbild und die »polyphrene Lebensform«
10.5 Bildung zur Gestalt – Gestalthermeneutik als Phänomenologie des Vorurteils
11. Das Leben als Aufgabe
11.1 Anthropologischer Sinn und Aspekte der Aufgabe
11.2 Ganzheit, Einheit, Integrität – die Vorstellung vom Leben als »Gestalteinheit«
11.3 Integration zur Gestalteinheit – Desintegration zur Person
11.4 Bildung zur Freiheit kultureller Konkretion
11.5 Entfremdung als Entstaltung (Entkreation), Familiarisierung als Gestaltung (Rekreation)
11.6 Bildung zur Gestalt – Sorge und Gelingen als Dimensionen von Bildung als Aufgabe
Kultur einer Pluralität
12. Kulturelle Polyphonie
12.1 Pluralistisches Erleben und das pluralistische Vorurteil
12.2 Kultur als Normativität des Faktischen
12.3 Unproblematik der Welt und Illusionsfähigkeit des Menschen
12.4 »Pluralität der Absoluta«
12.5 Entfremdung als Pluralisierung (Differenzierung), Familiarisierung als Rekonstellierung (Neugliederung)
13. Aporetische Stachel
13.1 Aporetisches Erleben und das aporetische Vorurteil
13.2 Die Unlösbarkeit des Konflikts öffnet seine kulturelle Bewältigung
13.3 Das Tragische als »ethisches Zentralphänomen«
13.4 Anthropologischer Sinn und Vorzug von Versöhnung
13.5 »Menschlich entfremdende Vernunft« und das Irrationale
13.6 Grenzen des Pluralen
Pluralität des Menschen
14. Epoche und Typus
14.1 Kultur und implizite Anthropologie
14.2 »Epochologie« und die verführerische Gliederung der Geschichte
14.3 Typologie und die fragile Ordnung der Welt
15. Philosophie und Anthropologie als Wirkmächte
15.1 Vom Zweifel zum Verdacht – moderne Philosophie als Forensik?
15.2 Zwischen System und Prozess, Problem und Fülle – Philosophie und Kulturanthropologie im Ensemble
15.3 Zur Gestaltung von Pluralität – der prophetische Sinn von Epigonalität
Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen: Plädoyer für einen Humanismus der »natürlichen Künstlichkeit«
Literaturverzeichnis
1. Michael Landmann
2. Sekundärliteratur zu Michael Landmann
3. Weitere Sekundärliteratur
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Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen: Michael Landmanns Anthropologie des Schöpferischen
 9783495995679, 9783495995662

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Kulturphilosophische Studien

Friedrich Schollmeyer

Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen Michael Landmanns Anthropologie des Schöpferischen

https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

Kulturphilosophische Studien Herausgegeben von Hans-Ulrich Lessing Kevin Liggieri Volker Steenblock (†) Beirat Gerald Hartung Ernst Wolfgang Orth Frithjof Rodi Jörn Rüsen Gunter Scholtz Band 11

https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

Friedrich Schollmeyer

Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen Michael Landmanns Anthropologie des Schöpferischen

https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Diss., Jena, Univ., 2021 ISBN 978-3-495-99566-2 (Print) ISBN 978-3-495-99567-9 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

Wenn schon kein Vorwort ein Traum

Denn nicht ich beginne, und schon gar nicht beginnt mein Denken. Zwei Mal, soweit ich mich erinnere, hat es Michael Landmann in meine Träume geschafft. In einem Mitte Februar 2018 nur indirekt auf einer Leinwand, die eine Filmaufnahme zeigte, in der er durch seine Wohnung führte. Er war schon älter, wirkte aber noch fit und in seiner ruhigen Ernsthaftigkeit doch herzlich sympathisch. Sofort habe ich ihn nicht erkannt – anders im zweiten Traum Mitte August 2018, von dem hier, soweit das die unmittelbare Traumnotiz aus der Erinnerung erlaubt, einleitend die Rede sein soll. Ich bin in einem großen Museum in irgendeiner Stadt. Dort wird eine Ausstellung gezeigt, in der ein Modell steht, das einen größeren Kopf darstellt und mich an das Modell zu Julien Offray de La Mettrie aus der Philosophie-Ausstellung Sophia meines Vaters erinnert, deren Besuch ich im Übrigen jedem wärmstens an Herz, Hirn und Sinne lege. Es ist also ein Kopf, in den man mit seinem eigenen Kopf von hinten ein wenig hineinragen kann. Ich erinnere mich dunkel, dass das Modell etwas mit Transhumanismus bzw. allgemein mit dem Themenkomplex Mensch und Maschine zu tun hat. Nun sehe ich Michael Landmann, wie er dieses Hineinragen vorführt und anschließend langsamen Schrittes weggeht, durch einen großen Ausstellungsraum, so dass ich ihn noch lange sehen kann. Er wirkt sehr alt und trägt einen etwas lustig anmutenden, bunt bemusterten Anzug. Dieser ist sehr breit, sodass sein Oberkörper darin fast quadratisch aussieht. Plötzlich gibt es einen Wechsel und ich sage zu jemandem vor Ort im Museum, dass ich von diesem Film zwar wusste, ihn aber bisher nirgends bekommen habe und ihn haben müsse. Ich erinnere mich im Traum auch an den vorigen Traum, in dem Landmann durch seine Wohnung führte. Anschließend bin ich wieder draußen auf dem großen Vorplatz des Museums, entscheide aber schließlich, noch einmal in die Ausstellung zu gehen, um den Film ein weiteres Mal zu sehen.

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Wenn schon kein Vorwort – ein Traum

So weit, so vielschichtig. Ich bin trotz langjährigem Traumta­ gebuchführen und Hobbydeuten nicht nur handwerklich zu einer umfassenden fundierten Deutung nicht in der Lage, sondern dafür auch zu nah an mir dran. Daher möchte ich es bei einigen Andeutun­ gen belassen, die mehr den Zweck haben, die vorliegende Arbeit auch in jenen Dimensionen aufscheinen zu lassen, die sie mehr und anderes als eine Qualifikationsarbeit sein lassen. Im Grunde hat sie mich zu vielem mehr qualifiziert als zur wissenschaftlichen Weiterarbeit. Und zuweilen rüttelte dieses geistig-existenzielle Projekt recht heftig an jenen Selbstverständlichkeiten des Lebens, die man zwar nicht erlernt, doch aber verlernen kann – und also neu (erstmals) lernen muss. In der Tat – ich war mit und bei Landmann im Museum, habe mich von ihm durch die vielen Sonderausstellungen zur Geschichte (allzumal) der abendländischen Philosophie führen lassen, und immer wieder durch die Hauptausstellung: sein eigenes Werk und Leben. Was hat mich Landmanns Denken, was hat mich dieses Lebenszeugnis gelehrt? Nun, davon hat einiges die vorliegende Arbeit zu sagen. Ich hebe hervor: wir können so wenig hinter unsere Schädeldecken blicken wie in unsere Herzkammern gehen. Kaum in die eigenen, weniger noch in die eines Anderen. Und doch wir müssen es. Und können, da wir müssen – erweitern den Kopf und weiten das Herz, damit wir mit unserer eigenen Enge darin Platz finden. In diesem Bild ist die vergleichende Anthropologie ausgedrückt, deren weite Maschen nötig sind, um überhaupt greifen zu können und eine Ahnung zu bekommen, was man weiterhin und wo man es zu suchen habe mit feineren Netzen. Wie mir die Menschenanschauung de La Mettries mag anderen anderes fremd sein; so fremd, dass man als Einzelner womöglich verschreckt daran vorbeigehen würde, wäre es nicht zufällig ausgestellt. Zufällig? Wohl kaum, denn nicht weniges steht im Museum, das sonst kaum sichtbar wäre. Auch Bücher also können uns Räume sein, in denen das Denken und Empfinden, das Fragen und Sagen, das Harren und Hoffen verschiedener Menschen in verschiedenen Sprachen und Temperamenten ausgestellt ist. Michael Landmann war neben anderem auch vor allem ein Sammler, für vieles offen, selbst dezent. Ich stelle ihn mir vor als einen Menschen, der Platz machte, damit da Platz sei, damit Platz da sei, und der sich dabei – mitunter ungeschickt – zurücknahm. Ein bescheidener Denker, der sich manchmal auch hinter anderen versteckte wie in einem zu großen Anzug. Ein Geist, der wirklich – daran habe ich kaum einen Zweifel – in die Denk- und Erlebniswelten hineingegangen ist und

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Wenn schon kein Vorwort – ein Traum

es sich dabei nicht leicht gemacht hat. Ein Problemaufsucher und Fragensteller, der den Weg der Philosophie mit all ihren Verzweigun­ gen und Verengungen doch konsequent gegangen ist, wohl nicht zuletzt wegen der immer wieder auf’s Neue sich ihr entknospenden Öffnung, die den, der sich darauf einlässt, wie durch einen weiten Ausstellungsraum schreiten lässt. Ganz langsam und in aller Ruhe, die nicht die Ruhe des Weltentsagers sei. Viel mehr die desjenigen, der trotz aller Erleichterung, endlich wieder auf dem breiten Vorplatz in der Welt zu sein, doch noch einmal zurückgeht. Immer wieder zurückgehen, um voranzukommen, immer wie­ der reingehen, um dranzubleiben – diese Herausforderung beim Erarbeiten, Erdenken, Empfinden und Verfassen der vorliegenden Arbeit hätte ich sicherlich nicht ohne die vielseitige Unterstützung aus meinem Umfeld bewältigen können. Ich danke meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. Ralf Koerrenz für seine vielseitige und verlässliche Unterstützung, für den anfangs noch subtilen, später expliziteren Antrieb und die hilfreichen Hinweise, manchmal mit nur einem Satz, für die Verbundenheit (nicht nur) im gemeinsamen Interesse am Judentum und seiner Philosophie. Danken möchte ich meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Michael Winkler, der mich einst – ich werde es nie vergessen – mit den Worten »Landmann wär toll!« noch zusätzlich motivierte, mich in der Masterarbeit erstmals wirklich intensiv mit dessen Schriften zu befassen und mir seitdem stets unterstützend und ratgebend zur Seite steht. Der Studienstiftung des Deutschen Volkes danke ich für die finanzielle Unterstützung über drei Jahre, das darin zum Ausdruck gebrachte Vertrauen und die Freiheit des Forschens, nicht zuletzt auch in Israel, wofür sie mir zusätzlich ein Auslandsstipendium zahlte. Dem Karl Alber Verlag danke ich dafür, die überarbeitete Version meiner Doktorarbeit in den »Kulturphilosophischen Studien« aufgenommen und damit dieses Buch ermöglicht zu haben sowie für das in vielerlei Hinsicht große Entgegenkommen im Publikationsprozess und die Geduld. Dr. Jörn Bohr – ich pflege ihn meinen Landmann-Freund zu nennen – danke ich für die hilfreiche kritische Lektüre der Arbeit und den langjährigen Kontakt, an dessen Beginn sein Landmann-Seminar in Leipzig vor mehr als zehn Jahren steht, mit dem letztlich alles begann. Dr. Robert Kozljanič, Dr. Frank Tremmel, Eva Landmann, Dr. Annekatrin Puhle und Prof. Hans-Jürgen Grundner möchte ich danken für den nun schon langjährigen, sachlich wie menschlich anregenden Austausch. Für die sehr fassliche Ermutigung und die besonderen Begegnungen

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Wenn schon kein Vorwort – ein Traum

danke ich Elazar Benyoëtz, den ich in Israel kennenlernte und der mich seither begleitet – ebenso wie Prof. Menahem Luz, Dr. Anita Michaeli, Prof. Oded and Osnat Balaban, Dr. Rachel Arad, denen ich für ihre Begleitung und Unterstützung vor Ort und über die Kilometer hinweg danke. Meinen Freundinnen, Freunden – sie wissen, wer sie sind und dass sie gemeint – und Geschwistern möchte ich danken dafür, dass sie stets auf ihre je eigentümliche Weise an meiner Seite sind. Am Ende, und doch zu Beginn, den sie mir schenkten – danke ich und widme diese Arbeit Meinen Eltern die sind, daher ich komme, und bleiben mir zeigten, worauf es ankommt im Grunde mich loszukommen lehren

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Vorausgeschicktes über Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Einleitendes über Michael Landmann und die stille Präsenz des Vergessenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

Grundlegendes über den Zusammenhang von Anthropologie und Bildungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

Teil I Quellung, Rahmung, Verständigung . . . .

35

1. Michael Landmanns geistige Quellen . . . . . . . .

37

1.1 Gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

1.2 Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.3 Kulturanthropologie als »Anthropologie der Zukunft«?

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2. Methodischer Rahmen der Arbeit . . . . . . . . . .

52

2.1 Hermeneutik methodischer Verarbeitung

. . . . . . .

52

2.2 Landmanns Denkstil . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

2.3 Dimensionen der Untersuchung . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Erste Dimension: Anthropologische Architektonik 2.3.2 Zweite Dimension: Historisch-kritische Rückbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Dritte Dimension: Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.4 Auswahl und Ordnung der Begriffe

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. . . . . . . . . .

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9 https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

Inhaltsverzeichnis

3. Bildung und Kultur: Vorverständnis – Vorentscheidung . . . . . . . . .

80

3.1. Zur Begründungsproblematik von Bildung und Kultur 3.1.1 Der Gegen-Stand der Pädagogik und Kulturwissenschaften um ihren Gegenstand . . . 3.1.2 Transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Bildung und Kultur . . . . . . .

80

3.2 Typische Spannungsfelder . . . . . . . . 3.2.1 Kreativität und Defizität . . . . . . 3.2.2 Machbarkeit und Zumutung . . . . 3.2.3 Entfaltung und Erinnerung . . . . . 3.2.4 Skepsis und Kontrolle . . . . . . . 3.2.5 Selbstwert und Instrumentalisierung

. . . . . .

84 84 87 91 94 97

3.3 Zeiten, Schritte, Räume, Schichten . . . . . . . . . . . 3.3.1 Hermeneutische Prozessualität der Bildung . . . 3.3.2 Konstellatorisch-figurative Räumlichkeit (Spatialität) der Bildung . . . . . . . . . . . . .

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80 82

104

Teil II Der Mensch als »homo creator« und »homo creatus« . . . . . . . . . . . . . . . .

109

Der Mensch als »homo creator« . . . . . . . . .

111

4. Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

Verdichtete Ausgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

Anthropologische Architektonik . . . . . . . . . . . . . . .

115

4.1 »Anthropine Lücke« und Weltoffenheit als anthropologische Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . .

115

4.2 Voraussetzungen des Schöpferischen . . . . . . . . . .

118

4.3 Partnerinnen des Schöpferischen . . . . . . . . . . . .

127

4.4 Unmögliche Vollendung . . . . . . . . . . . . . . . .

137

Historisch-kritische Rückbindung . . . . . . . . . . . . . .

145

4.5 Kulturgeschichte des Schöpferischen . . . . . . . . . .

145

4.6 Leben wir im »postkreativen Zeitalter«? . . . . . . . .

147

10 https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

Inhaltsverzeichnis

Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung . . . . . . .

150

4.7 Nichtwissen und Nichtsein . . . . . . . . . . . . . . .

150

4.8 Wissensverlangen und Seinsverlangen . . . . . . . . .

151

Verschwiegene Eingänge: Kreativität und »Geschöpflichkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

152

5. Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

154

Verdichtete Ausgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

154

Anthropologische Architektonik . . . . . . . . . . . . . . .

155

5.1 Individualität als anthropologische Kategorie . . . . . .

155

5.2 Chiffren und Nuancen des Individuellen . . . . . . . .

158

5.3 Ethik des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

5.4 Gefahren, Schwundstufen, Fratzen des Individuellen . .

170

Historisch-kritische Rückbindung . . . . . . . . . . . . . .

174

5.5 Kulturgeschichte des Individuellen . . . . . . . . . . .

174

5.6 Ein »Ende des Individuums«?

. . . . . . . . . . . . .

176

Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung . . . . . . .

178

5.7 Das Individuelle als Erkenntnisproblem . . . . . . . .

178

5.8 Hingabe und Einnahme

. . . . . . . . . . . . . . . .

179

Verschwiegene Eingänge: Individuelles Erleben als Refugium? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

6. Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

Verdichtete Ausgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

Anthropologische Architektonik . . . . . . . . . . . . . . .

183

6.1 Vernunft als Anthropinon

. . . . . . . . . . . . . . .

183

6.2 Typologie der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

6.3 Wissenschaft als ›Lebenswelt‹ der Vernunft? . . . . . .

191

Historisch-kritische Rückbindung . . . . . . . . . . . . . .

198

6.4 Kulturgeschichte der Vernunft . . . . . . . . . . . . .

198

Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung . . . . . . .

201

11 https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

Inhaltsverzeichnis

6.5 »Dialektik der Entlarvung« . . . . . . . . . . . . . . .

201

Verschwiegene Eingänge: Typologie des Irrationalen . . . . .

203

Der Mensch als »homo creatus« . . . . . . . . .

205

7. Kulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

Verdichtete Ausgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

Anthropologische Architektonik . . . . . . . . . . . . . . .

209

7.1 »Anthropine Lücke« und Weltgeschlossenheit als anthropo-logische Ausgangssituation . . . . . . . . .

209

7.2 Anthropologische Aspekte der Kulturalität . . . . . . .

211

7.3 Kultureller Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

Historisch-kritische Rückbindung . . . . . . . . . . . . . .

232

7.4 Die Entdeckung der Kulturalität

232

. . . . . . . . . . . .

7.5 Herauslösung und Autonomisierung der Kulturgebiete

233

7.6 Charakteristika nachklassischer Kultur . . . . . . . . .

235

Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung . . . . . . .

250

7.7 Kulturbewusstsein zur Aufklärung des Menschen über sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

250

7.8 Die Bedingung der Möglichkeit von Kulturkritik als ihre (heilsame) Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

253

Verschwiegene Eingänge: »Ekklesifikation« . . . . . . . . .

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8. Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verdichtete Ausgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263

Anthropologische Architektonik . . . . . . . . . . . . . . .

265

8.1 Geschichtlichkeit als Anthropinon . . . . . . . . . . .

265

8.2 Geschichtliche Weltdeutungen und Selbstverortungen des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

270

8.3 Das Archaische – der Blick zurück . . . . . . . . . . .

275

8.4 Das Offenkünftige – der Blick nach vorn . . . . . . . .

279

8.5 »Das Zeitalter als Schicksal« . . . . . . . . . . . . . .

282

12 https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

Inhaltsverzeichnis

8.6 Elemente für eine Theorie gelingenden Lebens . . . . .

289

8.7 Sinn und Sinnloses, vom Sinnlosen zum Sinn-Los . . .

294

Historisch-kritische Rückbindung . . . . . . . . . . . . . .

306

8.8 Kulturgeschichte der Geschichtlichkeit . . . . . . . . .

306

8.9 Eine Menschheit – eine Geschichte . . . . . . . . . . .

307

8.10 Das »Ende der Geschichte«? . . . . . . . . . . . . . .

310

Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung . . . . . . .

311

8.11 Der historische Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311

8.12 Schicksalswissen und Schicksalssinn als Korrektive ungebremster Vernunft und Verzweiflung . . . . . . .

313

Verschwiegene Eingänge: Würde der Gefahr? Wie weit darf sich der Geist verirren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

316

9. Werte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

Verdichtete Ausgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

Anthropologische Architektonik . . . . . . . . . . . . . . .

322

9.1 Die Werte als ein Zwischenreich . . . . . . . . . . . .

322

9.2 Werteordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

330

9.3 Die Werte und der Mensch . . . . . . . . . . . . . . .

341

9.4 Wert, Glück, Sinn

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

349

9.5 Wert und Sollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

354

Historisch-kritische Rückbindung . . . . . . . . . . . . . .

364

9.6 Die Entdeckung des Eigenwerts

. . . . . . . . . . . .

364

9.7 Umwertung und Pluralisierung der Werte . . . . . . .

365

Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung . . . . . . .

367

9.8 Aporetik und Problematik . . . . . . . . . . . . . . .

367

9.9 Sinnnichtwissen und Sinnstiftung . . . . . . . . . . .

368

Verschwiegene Eingänge: Der Wert des kulturellen Lebens .

369

13 https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

Inhaltsverzeichnis

Teil III Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

371

Bildung zur Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . .

377

10. Der Mensch als Problem . . . . . . . . . . . . . . .

379

10.1 Probleme von Menschen und der Mensch als Problem

379

10.2 Das Wissen des Nichtwissens

. . . . . . . . . . . . .

385

10.3 Der anthropologische Sinn des Wissensverlangens . . .

388

10.4 Das plurale Selbst als Leitbild und die »polyphrene Lebensform« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

392

10.5 Bildung zur Gestalt – Gestalthermeneutik als Phänomenologie des Vorurteils . . . . . . . . . . . .

397

11. Das Leben als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . .

404

11.1 Anthropologischer Sinn und Aspekte der Aufgabe . . .

404

11.2 Ganzheit, Einheit, Integrität – die Vorstellung vom Leben als »Gestalteinheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . .

406

11.3 Integration zur Gestalteinheit – Desintegration zur Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

415

11.4 Bildung zur Freiheit kultureller Konkretion . . . . . . .

418

11.5 Entfremdung als Entstaltung (Entkreation), Familiarisierung als Gestaltung (Rekreation) . . . . . .

425

11.6 Bildung zur Gestalt – Sorge und Gelingen als Dimensionen von Bildung als Aufgabe . . . . . . . . .

432

Kultur einer Pluralität . . . . . . . . . . . . . . .

439

12. Kulturelle Polyphonie . . . . . . . . . . . . . . . . .

441

12.1 Pluralistisches Erleben und das pluralistische Vorurteil

441

12.2 Kultur als Normativität des Faktischen . . . . . . . . .

445

12.3 Unproblematik der Welt und Illusionsfähigkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

447

12.4 »Pluralität der Absoluta« . . . . . . . . . . . . . . . .

455

14 https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

Inhaltsverzeichnis

12.5 Entfremdung als Pluralisierung (Differenzierung), Familiarisierung als Rekonstellierung (Neugliederung)

463

13. Aporetische Stachel . . . . . . . . . . . . . . . . . .

468

13.1 Aporetisches Erleben und das aporetische Vorurteil

. .

468

13.2 Die Unlösbarkeit des Konflikts öffnet seine kulturelle Bewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

474

13.3 Das Tragische als »ethisches Zentralphänomen« . . . .

482

13.4 Anthropologischer Sinn und Vorzug von Versöhnung .

488

13.5 »Menschlich entfremdende Vernunft« und das Irrationale

491

13.6 Grenzen des Pluralen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

498

Pluralität des Menschen . . . . . . . . . . . . .

505

14. Epoche und Typus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

507

14.1 Kultur und implizite Anthropologie

. . . . . . . . . .

507

14.2 »Epochologie« und die verführerische Gliederung der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

516

14.3 Typologie und die fragile Ordnung der Welt . . . . . .

525

15. Philosophie und Anthropologie als Wirkmächte . .

534

15.1 Vom Zweifel zum Verdacht – moderne Philosophie als Forensik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

534

15.2 Zwischen System und Prozess, Problem und Fülle – Philosophie und Kulturanthropologie im Ensemble . .

539

15.3 Zur Gestaltung von Pluralität – der prophetische Sinn von Epigonalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

553

Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen: Plädoyer für einen Humanismus der »natürlichen Künstlichkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

566

15 https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

581

1.

Michael Landmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

581

2.

Sekundärliteratur zu Michael Landmann . . . . . . . .

588

3.

Weitere Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . .

590

16 https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

Einleitung

Ungewissheit war die Quelle, ist das Thema, bleibt Horizont dieser Arbeit über Michael Landmann. Ungewissheit, ob man einem Denker gerecht werden könne und wie dies zu bewerkstelligen sei. Dann Ungewissheit über die Thematik und ihre Grundbegriffe: Bildung und Kultur mögen verlässlich salonfähige Begriffe sein, das allein trägt jedoch noch nicht eine intensive Beschäftigung. Und weiter die Ungewissheit, unbehaglich in der ahnungsvollen Frage: lässt sich denn zur Bildung, lässt sich denn zur Kultur kommen – wenn schon – immer nur auf Umwegen? Allerdings – in der Umweghaftigkeit, der Unwegsamkeit treffen die Bestimmungen von Bildung und Kultur und die Weisen, wie über sie gedacht und geschrieben werden kann, zusammen. Umweg ist dabei vielleicht nur ein anderes Wort für eben die immer und alles eröffnende Ungewissheit, die sich als vollzogene sogleich auf paradoxe Weise in einen Gewissheitsschein verwandelt. Es wäre wohl nicht ganz aufrichtig, zu sagen, sie lege sich diesen Schein wie einen Schleier um. Mehr haben wir nicht – mehr können wir nicht brauchen.

Vorausgeschicktes über Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, eine Theorie der Bildung des Menschen im Anschluss an die Anthropologie des Schöpferischen von Michael Landmann (1913–1984) zu entwerfen. So weit, so gut und wenig spektakulär – schließlich stellt Landmann den Menschen als »Schöpfer und Geschöpf der Kultur« vor und damit als ein Lebewesen, das notwendig auf Erziehung, Bildung und Kultur angewiesen ist. In dieser geläufigen und damit relativ harmlos daherkommenden Formel ist die anthropologische Grundproblematik formuliert: die Bestimmung eines Lebewesens, dessen ›Wesen‹ sich nicht bestimmen lässt, weil es eben darin besteht, sich immer wieder wechselnde Bestimmungen zu geben – das aber darin ja doch bestimmt ist, womit

17 https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

Einleitung

sich sogleich die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit all der vielheitlichen Selbstbestimmungen des Menschen eröffnet. Dieses Paradoxon bildet den Kern eines Bildungsbegriffs, wie er ausgehend von Michael Landmanns Gesamtwerk entfalten werden soll. Die These lautet, dass speziell seine Überlegungen, ausgehend von der allgemeinen Problematisierung des Menschen wie auch der Anthro­ pologie, fruchtbare Ansatzpunkte enthalten für die Bestimmung des­ sen, was eingedenk des genannten Paradoxons unter der Bildung als Menschwerdung des Menschen sinnvoll verstanden werden kann. Landmann ist sie uns schuldig geblieben – die vorliegende Arbeit setzt hier an und insofern fort und ins Licht, was bei ihm verschwiegen oder versteckt geblieben ist. Anthropologie wie Landmann sie versteht, d.h. philosophische Kulturanthropologie, wird uns begegnen als dezidierte Kritik an jedwedem dualistischen Denken, das Kultur und Natur, Seele und Leib, Geist und Leben strikt voneinander trennt. Analytisch sind ihr diese Unterscheidungen allerdings durchaus fruchtbar; insofern steht sie in der Traditionslinie eines Denkens, das die Kultur des Menschen paradoxerweise als dessen zweite Natur (»natura altera«1) bestimmt. Allzumal Landmann lehrt uns den Menschen kennen als das Wesen, dessen Natur es ist, keine (und das heißt: Kultur, genauer: Kulturen) zu haben, ein Wesen, das natürlicherweise künst­ lich ist. Positiv begegnet uns seine Kulturanthropologie als gestalt­ philosophisch inspirierte Theorie des Menschen, in der dieser als emergentes Phänomen ›des‹ Lebens, als kreatives Geist- und plurales Kultur- und Geschichtslebewesen eigener Art gedacht und begründet wird. Nicht weil Anthropologie den Menschen als ein unbestimmtes Wesen bestimmt, wechseln die Menschseinsweisen im synchronen und diachronen Vergleich, sondern umgekehrt ist die faktische Plura­ lität der Menschseinsweisen Ausdruck menschlicher Unbestimmtheit und ›empirische‹ Grundlage, ›phänomenaler‹ Ausgangspunkt für die transzendental zurückfragende Problemstellung der Anthropologie. In diesem Sinne wird in der vorliegenden Arbeit die Bildung des Menschen vorgestellt und entwickelt einerseits als Vorausset­ zung von Kultur, d.h. als Tatsache des Immer-schon-Mensch-gewor­ den-Seins, andererseits als Produkt von Kultur, d.h. als Prozess der Erst-noch-Mensch-Werdung. Es soll gezeigt werden, wie bei 1 Vgl. Bohr, Jörn: Natura altera – der dynamische Kulturbegriff der Kultur- und Sozi­ alphilosophie. In: Kulturwissenschaftliche Studien 11 (2011), S. 42–48.

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Vorausgeschicktes über Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen

Landmann die klassische Bildungsidee abendländischer Provenienz und die philosophische Anthropologie einer Variation, Nuancierung, Reformulierung unterzogen werden, in der beide erst ihre vollen Potenziale ausschöpfen und sich gleichzeitig kritisch ›in Schach hal­ ten‹. Kulturanthropologie i.S. Landmanns ist genuin Philosophie menschlicher Pluralität und wird als solche zur Grundlage einer allgemeinen Theorie der Bildung genommen: Bildung wird formal bestimmt als Notwendigkeit und Freiheit der geistigen wie prakti­ schen Kreation und Gestaltung pluraler Lebensformen und kultureller Stile. Sie vollzieht sich als dialektischer Prozess der Entstaltung und Gestaltbildung, der selbst nur adäquat verstanden werden kann, wenn die geschichtlich-genetische Perspektive auf die Entwicklung des Menschen um eine gestalthaft-phänomenologische Perspektive ergänzt wird. In der letzteren liegt – so die These – die zu hebende Originalität von Landmanns Ansatz. Landmanns Philosophie reflektiert und ›erfüllt‹ sich auch als his­ torische und phänomenologische Anthropologiekritik; in dieser Rich­ tung wird die von ihr ausgehende Bildungstheorie als Bildungskritik verständlich, d.h. als Infragestellung und Neudeutung bestimmter Leitideen des ›klassischen Bildungsdenkens‹: Freiheit, Gleichheit, Individualität, Originalität. Die anthropologische Aussage über den Menschen, er sei das Wesen, das unhintergehbar nach sich fragt und sich bestimmt (sich aussagt), wird schließlich selbst auf ihre Voraussetzungen hin befragt. Dabei wird deutlich, dass ihre formale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit kultureller Pluralität selbst bereits einer Philosophie der Pluralität menschlicher Kulturen und Werte entspringt, die ihrerseits einem pluralistischen Wert- und Vorurteil, einem Engagement für den Menschen im Plural aufruht. Dieses Werturteil ist seinerseits gekoppelt an eine ›spezielle‹ Form bzw. Weise des Problematisierens und der Sorge, die Bedingung und Modus anthropologischen Fragens und Aussagens ist: die Sorge um das Gelingenkönnen menschlichen Lebens (von Humanität) einge­ denk seines Entgleitenkönnens (von Inhumanität). Im Horizont des Gelingen- und Scheiternkönnens menschlichen Lebens wird Bildung verständlich als ebenso anspruchsvoller wie prekärer Prozess der Selbstvergewisserung und -gestaltung. Bildung ist damit weder reine Entfaltung vorbestehender Anlagen noch reine Erfüllung vorschwe­ bender Ziele, sondern gelingenkönnende und -sollende Vermittlung polarer Kräfte im und um den Einzelnen, bei der dieser an der

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Einleitung

Reibungsfläche der Kultur, die ihn herausfordert, sich umso mehr als Individuum zu konturieren und so Gestalt zu geben vermag. Nicht unter dem Begriff von Bildung, aber im Sinne einer Theo­ rie derselben hat Landmann sich der Frage nach dem Menschen in seinem geistigen Schaffen über einen Zeitraum von fast fünfzig Jahren gewidmet. Hier schließt diese Arbeit – nicht nahtlos, und doch einem Muster folgend – an. Sie gliedert sich in drei Teile: Teil I, der auf diese Einleitung folgt, widmet sich den wichtigen geistigen Quellen von Landmanns Philosophie, der methodischen Rahmung der Arbeit und dem Vorverständnis von Bildung und Kultur. In Teil II wird Landmanns Kulturanthropologie über die sechs zentralen Begriffe bzw. Begriffsfelder Kreativität, Individualität, Vernunft und Kulturalität, Geschichte, Werte erläutert und – bereits in Hinblick auf die Bildungsproblematik – gedeutet. In Teil III wird wiederum in sechs Kapiteln eine Theorie der Bildung des Menschen im Anschluss an das zuvor Erläuterte entworfen, die im Schlussteil noch einmal akzentuiert und knapp zusammengefasst wird.

Einleitendes über Michael Landmann und die stille Präsenz des Vergessenen Michael Landmann gehört nicht nur zu den großen Unbekannten der Philosophie des 20. Jahrhunderts, sondern findet auch in sei­ nem Hauptarbeitsgebiet, der Philosophischen Anthropologie bzw. Kulturanthropologie, nicht selbstverständlich Erwähnung. Plessner, Scheler und Gehlen dominieren erstere, Rothacker, Cassirer und die Cultural studies letztere.2 Interessanterweise taucht sein Name 2 So lässt sich sein Name bspw. in Einführungs- oder Handwörterbüchern zur Phi­ losophischen Anthropologie resp. Kulturanthropologie oft gar nicht finden, und wenn doch, dann ist er meist nur beiläufig erwähnt. Dass er auch in Joachim Fischers Stan­ dardwerk Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts nur erwähnt wird und so »randständig bleibt«, hat neuerdings Steffen Kluck bemerkt, der Landmann erfreulicherweise selbst breiter einbezieht in seinem Aufsatz Tradition als Anthropinon? (In: Nicolai Hartmanns Neue Ontologie und die Philosophische Anthropologie. Menschliches Leben in Natur und Geist. Hg. v. M. v. Kalckreuth et al. Berlin: de Gruyter 2019; Zitat auf S. 185, Anm. 12). Eine weitere Ausnahme ist die von G. Kühne-Bertram et al. hg. Textsammlung Mensch und Kultur. Klassische Texte der Kulturphilosophie. Hannover: Siebert 2008. Landmanns Text Von der Individual­ anthropologie zur Kulturanthropologie ist hier kurz eingeleitet und abgedruckt.

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Einleitendes über Michael Landmann und die stille Präsenz des Vergessenen

in Nachbardisziplinen vergleichsweise häufig auf, mitunter werden seine Gedanken als Grundlage weiterer Überlegungen bzw. zur Anwendung in der Praxis verwendet. Um die fachlich-thematische Breite der Bezugnahmen auf Landmann anzudeuten, seien genannt Ludwig Dunckers Buch Lernen als Kulturaneignung. Schultheoretische Grundlagen des Elementarunterrichts3 und Johannes Schwartes Buch Der werdende Mensch. Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaft heute.4 Die Sekundärliteratur, die sich Landmann ausführlich widmet, ist überschaubar. Neben der Gedenkschrift und der Festschrift zäh­ len dazu Hans-Joachim Hupes Buch »Werde, der Du sein willst«. Kreativität und Teleologie in der Kulturanthropologie Michael Land­ manns5 und der von Jörn Bohr und Matthias Wunsch herausgegebene Sammelband Kulturanthropologie als Philosophie des Schöpferischen. Michael Landmann im Kontext6, dem die anlässlich des 100. Geburts­ tages Landmanns am 16.12.2013 veranstaltete Tagung an der Bergi­ schen Universität Wuppertal zugrunde liegt. Hupe bietet mit seinem Buch eine verdienstvolle Einführung in das Denken Landmanns mit Fokus auf dessen Verständnis von Kreativität und einer Deutung von Landmanns Anthropologie als Philosophie des teleologisch orientierten Kreativwesens Mensch. So schreibt Hupe selbst, seine These laute, »M. Landmann definiere den Menschen als ›teleologisch orientiertes Wesen‹« und im Zentrum seiner Schriften und auch seiner Bestimmung von Philosophie als Anthropologie stehe »der teleologisch orientierte Mensch. Nicht in Natur oder Geschichte ist also die Teleologie zu Hause«.7 Dass es sich dabei um eine sehr spezifische Deutung handelt, lässt Hupe selbst nicht unerwähnt, wenn er schreibt, seine »vorgenommene Her­ vorhebung der ›teleologischen Grundbefindlichkeit‹ des Menschen 3 Duncker, Ludwig: Lernen als Kulturaneignung. Schultheoretische Grundlagen des Elementarunterrichts Weinheim/Basel: Beltz 1994 [Im Folgenden: Lernen als Kultur­ aneignung]. 4 Schwarte, Johannes: Der werdende Mensch. Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaft heute. Wiesbaden: Westdt. Verl. 2002 [Im Folgenden: Der wer­ dende Mensch]. 5 Hupe, Hans-Joachim: »Werde, der du sein willst.« Kreativität und Teleologie in der Kulturanthropologie Michael Landmanns. Bonn/Berlin: Bouvier Verlag 1991 [im Folgenden: Kreativität und Teleologie]. 6 Bohr, J.; Wunsch, M. (Hg.): Kulturanthropologie als Philosophie des Schöpferi­ schen. Michael Landmann im Kontext. Nordhausen: Bautz 2015 [Im Folgenden: Kulturanthropologie als Philosophie des Schöpferischen]. 7 Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 122 u. 121.

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Einleitung

als eines für M. Landmanns Werk kennzeichnenden Elements ha[be] interpretierenden Charakter«.8 Auch verweist er auf jenes Problem »möglicher ontologischer Implikationen« in Landmanns Anthropolo­ gie, das zum einen den Zweifel eröffnet, »ob Teleologie für ihn wirk­ lich nur originäres Produkt menschlichen Geistes ist«9, zum anderen aber auch grundsätzlich fraglich werden lässt, ob eine Deutung von Landmanns Kulturanthropologie mit Hinblick auf sein Verständnis ›Kreativität‹ und ›Teleologie‹ hinreichend ist. Gerade aber weil der Fokus der vorliegenden Arbeit sich u.a. auf die ontologischen Impli­ kationen und auf die von Hupe aufgeworfene Frage »wieweit diese wirksam werden müss(t)en, um die zentrale Aufgabe menschlicher Selbstvollendung zu bewältigen«10 richtet, sind Hupes gedankenrei­ che Überlegungen im Kontrast umso inspirierender. Die weitere genannte Sekundärliteratur aus dem Bereich der Philosophie wird im Folgenden an einschlägigen Stellen herangezo­ gen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass auch in jüngerer Zeit mit Peter Sloterdijk und Botho Strauß nicht zufällig ein literarischer Philosoph und ein philosophierender Literat (und auch nicht zufällig zwei Querköpfe, die – im ersten Fall haltlos, im zweiten begründet – einer reaktionären Denkweise bezichtigt werden) auf Landmann Bezug nehmen.11 Strauß’ Würdigung Landmanns in einem seiner jüngsten Bücher sei hier in Auszügen zitiert: In Michael Landmann, dem Essayisten, lohnt es sich, einen Außensei­ ter zu entdecken, einen intuitiven Denker zu Zeiten der machtvoll Grenzen setzenden marxistischen Hegemonie. Philosophielehrer an der Berliner FU, von Provokateuren bedrängt, beleidigt von Linksop­ portunisten wie Jakob Taubes, an einer der Bewegung geöffneten Universität. Der Vater, Julius Landmann, Ostjude von Herkunft, Nationalökonom, Schweizer Regierungsrat, Freund Borchardts wie Georges (!), endet mit Freitod. Die Mutter Edith, Vertraute Georges, geht zu einer Frau über. Michael Landmann lehrt vor drei Studenten, veröffentlicht das wohlgeschriebene Werk, das sich nicht durchsetzt. Gedankenreichtum bietet er statt Theorie, doch zur Unzeit, er wird nicht genutzt. Sein Autorleben belegt die Ohnmacht, daß man nichts

Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 123. Ebd., Herv. F.S. 10 Ebd., S. 201. 11 Sloterdijks Bezugnahme findet sich in: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M: Suhrkamp 1988, S. 90 ff. 8

9

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Einleitendes über Michael Landmann und die stille Präsenz des Vergessenen

Kluges wirkungsvoll sagen kann, wenn man die jeweils herrschenden Diskurse meidet oder sie nicht zu überbieten weiß.12

Trotz der ansonsten recht spärlichen Bezugnahme auf Landmann, für die es neben den hier von Strauss genannten noch weitere Gründe gibt, trifft die Rede von einem vergessenen Autor m.E. nicht den Punkt; besser wäre von einem ungesehenen bzw. unbeachteten Den­ ker zu sprechen. Denn dass Landmanns Ideen, seine philosophischen Thesen und Analysen durchaus Eingang gefunden haben in verschie­ dene Fachgebiete und das ›Alltagswissen der Gesellschaft‹ – diese Intuition motiviert zu guten Teilen die vorliegende Arbeit, in der ihr vielfältiger Inhalt entwickelt werden soll. Es liegt demnach eine Situa­ tion vor, in der von dem, was Landmann dachte und schrieb, oftmals die Rede ist, ohne dass sein Name fallen würde. Dies kommt wohl nicht selten vor; im Falle Landmanns legte es schon sein Charakter nah, von dem sich durch die wenigen verfügbaren biographischen Erinnerungen und einige Selbstcharakterisierungen Landmanns ein grobes Bild zeichnen lässt. In einem Brief an Richard Wisser vom 4.1.1962 bezeichnet er sich selbst als »einen Philosophen, der abseits vom Staubaufwirbelnden der Romane und politischen Dokumentar­ berichte lebt«.13 Seinem Selbstbild entsprechen auch die meisten Attribuierungen von außen: Eigen sei ihm ein »eher schüchtern zu nennendes Auftreten, bei durchaus wacher, wenn auch auf Abstand bleibender Kontaktaufnahme«.14 Landmanns »schweizerisch solide«, ernst-disziplinierte Forscherhaltung15 äußere sich »in der zwar trocke­ nen, aber gehaltvollen Darbietung nüchterner Kenntnisse« in eher spärlich besuchten Lehrveranstaltungen.16 Sein akademischer Lehrer Herman Schmalenbach hielt ihn für »einen der fleißigsten philosophi­ schen Schriftsteller der Schweiz«; auch Otto Friedrich Bollnow, der für die Prüfung von Landmanns Habilitationsgesuch in Mainz zuständig

Strauß, Botho: Der Fortführer. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2018, S. 168 f. Grundner, K.-J.; Holz, D.; Kleiner, H.; Weiß, H. (Hrsg.): Exzerpt und Prophetie. Gedenkschrift für Michael Landmann (1913–1984). Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 30 [Im Folgenden: Exzerpt und Prophetie]. 14 Ebd., S. 17. Nach Hupes Zuschreibung eignete Landmann eine »bleibende Distanz […] gegenüber allem ›Lärmigen‹, Oberflächlichen, Spektakulären in der Welt« (Krea­ tivität und Teleologie, S. 15). 15 Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 10 u. 19. 16 Ebd., S. 17 u. 18. 12

13

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Einleitung

war, hebt dessen ruhig-bescheidenes Arbeitsethos hervor sowie sein Gefühl »für Sauberkeit, Klarheit und Schärfe der Begriffsbildung«.17 Damit sind wir bei Landmanns Denk- und Schreibstil angelangt, in dem ein weiterer Grund für seine eher geringe Beachtung zu sehen ist. Lassen wir ihn auch hier zunächst selbst zu Wort kommen: »Ich bestrebte mich, im Tempo eine Mitte zu halten zwischen Wiedergabe von Resultaten und Teilgabe an einem sich noch vollziehenden philo­ sophischen Prozeß.«18 Wo Landmann dieses Gleichgewicht zu halten nicht gelingt, zeigt er »gelegentlich fast schon die Züge eines Kompi­ lators, Züge, die es seinen Freunden schwer und seinen Feinden leicht machten, die Tiefe seiner Einsichten zu er- bzw. zu verkennen.«19 Dass ihm jeder Einfall und Gedanke kostbar, ja er »geradezu besessen [war] von der Vorstellung, jeden guten Gedanken aufnehmen und jedem wirklichen Argument Gerechtigkeit widerfahren lassen zu müssen«20, führt mitunter eine Unwendigkeit, gar Schwerfälligkeit seiner Texte mit sich.21 Sein Jugendfreund Hugo Marcus schreibt Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 19. Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung. In: Grundner, K.-J.; Krausser, P.; Weiss, H. (Hg.): Der Mensch als geschichtliches Wesen. Anthropologie und Historie. Festschrift für Michael Landmann zum 60. Geburtstag am 16. Dezember 1973. Mit einem Geleitwort von Heinz Heimsoeth. Stuttgart: Klett 1974, S. 267 [im Folgenden: Materialien zur Selbstdarstellung; Der Mensch als geschichtliches Wesen]. 19 Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 11. Ich möchte an dieser Stelle auf Jörn Bohrs wichtige Beiträge zu Landmanns Werk hinweisen. Über Landmanns Philoso­ phische Anthropologie schreibt Bohr, es handle sich dabei »nicht um ein eklektisches Werk, in dem die Positionen der ungleich bekannteren Vertreter wie Max Scheler, Helmuth Plessner oder Arnold Gehlen lediglich referiert werden, sondern um einen eigenständigen und profilierten neuen Weg: die Transformation der philosophischen Anthropologie in eine philosophische Kulturanthropologie.« (Bohr: Landmann. Kul­ turanthropologie als Philosophie des Schöpferischen. Zum 100. Geburtstag. In: G. Hartung; M. Herrgen (Hg.): Interdisziplinäre Anthropologie. Jahrbuch 1/2013: Soziale Kognition. Wiesbaden: Springer 2014 [im Folgenden: Landmann zum 100. Geburtstag], S. 188). 20 Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 11. Eine Episode aus dem Jahre 1965 während eines Monologs Ernst Blochs im Hause Weischedels, an die sich Hinske erinnert, sei hier wiedergegeben: »Landmann aber schrieb unermüdlich mit, Blatt für Blatt. Schließlich ging ihm das Papier aus, der Block war erschöpft, Bloch war es nicht. Er monologisierte vielmehr unermüdlich weiter. Landmann warf einen verzweifelten Blick in die Runde: Ein Königreich für ein Blatt Papier. Dann aber griff er kurzent­ schlossen nach den Papierservietten, die ringsum auf dem Tisch lagen, Teller für Teller. Als Bloch schließlich aufbrach, waren die Teller samt und sonders leergeschrieben« (ebd.). 21 So eine Einschätzung Bollnows (vgl. ebd., S. 20). 17

18

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Einleitendes über Michael Landmann und die stille Präsenz des Vergessenen

in seiner Rezension zu Landmanns Philosophischer Anthropologie, dieser übernähme Gedanken anderer kaum, ohne ihnen eine neue Wendung zu geben; dieses »fortspinnende Element tritt bei ihm an die Stelle der Kritik, die er aus Ehrfurcht vor fremdem Geiste nur selten sprechen läßt.«22 Auch war es, da von der 1955 erstmals publizierten Philosophischen Anthropologie abgesehen kein Buch vorlag, in dem Landmann seine Kerngedanken zusammentrug, »den Rezipienten bis 1979 nur unter großen Anstrengungen möglich, so etwas wie einen roten Faden in M. Landmanns Werk zu entdecken.«23 Auf Landmanns mit seinen vielseitigen Interessen und seinem zögernden Gestus einhergehenden Stil macht Günter Maschke in seiner Rezension von Entfremdende Vernunft und Anklage gegen die Vernunft aufmerksam. Entfremdung erscheint bei Landmann fast als Element der Evolution. Aber auch hier geht Landmann seinem Gedanken nicht nach. Denn er hat zu viele, er denkt, in seiner assoziativen Manier, in allen Richtungen, und der Leser schwankt zwischen Angeregt- und Verär­ gertheit. Ein tiefes Mißtrauen gegen konsequentes Denken, das weite Bereiche der Wirklichkeit ausblendet, mischt sich mit dem Hang, die Ideengeschichte als Collagenmaterial zu nutzen.24

Entsprechend wird der Leserin seiner Schriften nicht nur Geduld abverlangt, sondern auch ein feines Gespür für die oft eher unschein­ baren und selten eigens herausgestellten »sublimen Einsicht[en] und […] hellsichtigen Ahnungen.«25 Und doch: Landmann war nicht nur thematisch und historisch vom Prophetismus fasziniert; immer wieder tragen auch seine eigenen Texte prophetische Züge. Dass er selbst sich und sein Werk sachlich und bescheiden zu betrachten pflegte – »sollte eine künftige Philosophiegeschichte mich überhaupt nennen, so in einer Anmerkung zu Portmann, Rothacker oder Geh­ len«26 –, täuscht den aufmerksamen Leser nicht darüber hinweg, dass Landmann auch in der prophetischen und insofern gar nicht beschei­ denen Richtung nicht immer das Gleichgewicht gehalten hat. Norbert 22 Marcus, Hugo: Michael Landmann: Philosophische Anthropologie (Rezension). In: Philosophischer Literaturanzeiger; Jan 1, 1958; 11, S. 234. 23 Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 204 f. 24 Maschke, Günter: Ein Flaneur im Irrgarten der Vernunft. Zwei Bände mit Betrach­ tungen des Philosophen Michael Landmann. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 74 vom 29.3.1977 [im Folgenden: Ein Flaneur im Irrgarten der Vernunft], S. L9. 25 Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 12. 26 Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 271.

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Einleitung

Hinskes in ihrer Prägnanz und Treffsicherheit fast schon geniale (und daher völlig zurecht titelgebende) Formulierung »Zwischen Prophetie und Exzerpt«, mit der er »die geistige Existenz Landmanns mit all ihren Spannungen zu umschreiben versuch[t]«27, könnte deswegen vielleicht noch ergänzt werden: »zwischen Prophetie und Exzerpt – mit Ausläufern zu selbstvergessener Hingabe und ›produktiver Ein­ seitigkeit‹».28 In diesem Sinne wird der für Landmann zentrale Topos der Pluralität menschlicher Lebensformen bereits in seiner Forscherhal­ tung selbst deutlich. Wie Hinske sich erinnert, war er »der geborene (oder der gelernte) Pluralist. Jeder Einfall war ihm kostbar, Stoff für die eigene Gedankenarbeit. Die Einteilung in wahres und falsches Bewußtsein war seinem Wesen fremd.«29 Dies schließt für Landmann jedoch nicht das Festhalten an der Idee von Wahrheit aus; im Gegen­ teil seien Kreativität und Produktivität zumindest des philosophisch Schaffenden gebunden an seinen »Glauben an die eine Wahrheit […], die er in seiner einen Philosophie wiedergibt. Ohne dieses Apriori kann er nicht philosophieren. Die Einseitigkeit ist die Voraus­ setzung seiner Produktivität, ohne Dogmatik keine Philosophie.«30 Die Befremdlichkeit einer Rede von Dogmatik im Zusammenhang der Philosophie löst sich ein Stück weit auf, wenn man sieht, dass Landmann damit nicht nur den Glauben an eine gänzliche Läuterung der Welt im Medium des philosophischen Begriffs preisgibt, sondern auch umgekehrt die Vorstellung einer »gebrochenen Dogmatik« der Philosophie […], die die Reflexion über ihre eigene Einseitigkeit bereits in sich aufgenommen hat. Allein diese Brechung wäre Lähmung. Der Handelnde kann nicht sein eigener Betrachter sein. Er bedarf der befangenen Unbefangenheit, die die eigene, wie sehr auch begrenzte Perspektive für die wahre hält und noch nicht durch Mit- und Gegenperspektiven relativiert ist.31 Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 12. Die Formulierung »produktive Einseitigkeit« übernehme ich aus Landmanns gleichnamigen Text in: Das Ende des Individuums. Anthropologische Skizzen. Stutt­ gart: Klett 1971, S. 184 ff. [im Folgenden: EdI]. 29 Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 11. 30 Landmann: EdI, S. 186. 31 Ebd., S. 189. Die »befangene Unbefangenheit« erinnert sprachlich wie inhaltlich stark an Helmuth Plessners Terminus »vermittelte Unmittelbarkeit«, der die Formel des zweiten der von ihm aufgestellten drei anthropologischen Grundgesetze abgibt (vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in 27

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Einleitendes über Michael Landmann und die stille Präsenz des Vergessenen

Vor dem Hintergrund von Landmanns eigener Kulturanthropologie müssen diese Ausführungen als prägnante Beispiele für jene ›produk­ tive Einseitigkeit‹ angesehen werden; inwiefern Landmanns Denken gleichzeitig genau als eine solche ›gebrochene Dogmatik‹ gedeutet werden kann, ist impulsgebende Frage der vorliegenden Arbeit. Dass der kleine Aufsatz »Produktive Einseitigkeit« insgesamt normativ als Plädoyer für eine sich weder von innen durch den Relativismus ihrer Perspektiven und Inhalte noch von außen in der Eigenwertigkeit ihres Wissens beirren lassen sollende Philosophie verstanden werden kann, mag sinnbildlich dafür stehen, dass sich Landmann trotz vieler anderer Interessen und Passionen von eben dieser Philosophie als einer produktiven Kraft nie gelöst hat: Daher muß lebendige Philosophie sich gegen das Wissen des Außen­ stehenden immun halten, muß es innerhalb ihres eigenen Bezirks außer Kraft setzen. Die Verbindung der beiden kann nicht in ihrer Synthese, nicht in einer Resultante liegen, sondern nur darin, daß jede Seite die Sicht der andern kennt und respektiert.32

Dass zugleich gerade Landmann es war, der das Gespräch zwischen Philosophie, Wissenschaften und anderen gesellschaftlichen Berei­ chen gesucht hat33, widerspricht dem nicht, sondern deutet vielmehr auf zwei Gefahren hin, die ihn beschäftigt haben: die Vereinnahmung philosophischen Fragens und Denkens durch die Naturwissenschaf­ ten und ihre Methoden sowie durch anderweitige Weltanschauungen im weitesten Sinne. 34 Dass hier das Gespräch gesucht werden muss, gilt ebenso wie, dass die Gesprächspartnerinnen dieses selbständig die philosophische Anthropologie. 3., unv. Aufl. Berlin/New York: de Gruyter 1975, S. 321–341 [im Folgenden: Die Stufen des Organischen und der Mensch]). 32 Landmann: EdI, S. 189. 33 Siehe die Aufsätze Der Mensch als Evolutionsglied und Eigentypus (In: Menschliche Abstammungslehre. Fortschritte der »Anthropogenie« 1863–1964. Hg. v. G. Heberer. Stuttgart: G. Fischer 1965, S. 426–443 [im Folgenden: Der Mensch als Evolutionsglied und Eigentypus]) und Anthropologie im Schnittpunkt der Humanwissenschaften und der philosophischen Disziplinen (In: Kindlers Enzyklopädie Der Mensch. Bd.1. Hg. v. H. Wendt u. N. Loacker. Zürich: Kindler 1982, S. 70–85 [im Folgenden: Anthropologie im Schnittpunkt]). 34 In diesem Sinne ist auch Landmanns Text Das naturwissenschaftliche Vorbild in den Geisteswissenschaften und seine Überwindung (in: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. Geschichts- und Sozialanthropologie. München/Basel: E. Rein­ hardt 1961, S. 211–234 [im Folgenden: MSGK) zu deuten. Dessen Schluss ist mit »Jenseits von Naturwissenschaft und Theologie« überschrieben. Der letzte Satz lautet: »Wir müssen neben dem naturwissenschaftlichen und neben dem religiösen Denken

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Einleitung

und gleichwertig betreten können sollen. Die Selbstverständlichkeit und zugleich Vagheit des überall wahrnehmbaren Rufens nach Inter­ disziplinarität zeigt die Aktualität jenes Problems, in dem schon Landmann die Philosophie gesehen hat. Pädagogik ist von ihm inso­ fern besonders betroffen, als sie sich (allzumal seit der ›empirischen Wende‹) selbst als interdisziplinär, gar als Schnittstellendisziplin versteht, die – um es polemisch zu sagen – meint, ohne die künstliche Beatmung durch Psychologie, Soziologie und Kognitionswissenschaft gar nicht überleben zu können. Insofern versteht sich die vorliegende Arbeit als Versuch, mit Landmann die philosophischen Gehalte der pädagogischen, v.a. bildungstheoretischen Grundprobleme aufzuzei­ gen und auf das ihrer Vereinnahmung durch die empirischen Wis­ senschaften zugrundeliegende Selbstverständnis des Menschen ohne falsche Zurückhaltung hinzuweisen.

Grundlegendes über den Zusammenhang von Anthropologie und Bildungstheorie Neben dieser ersten, sozusagen eher zufälligen Verbindung zwischen dem Philosophen Michael Landmann und der Pädagogik im Allge­ meinen gibt es weitere, die im Folgenden kurz aufgeführt werden, wobei deutlich werden soll, dass die analytische Leuchtkraft Land­ manns für die Pädagogik mitunter gerade daher rührt, dass er nicht genuin vom Fache ist. Ich folge hier Michael Winkler, wenn er schreibt, »dass manche Autoren und Texte sich kaum oder gar nicht explizit als in Sachen Pädagogik relevant ausweisen« und daraus das Plädoyer folgert, sie »für die Pädagogik [zu] lesen«.35 Dass Landmann sich offensichtlich nicht motiviert sah, Texte zu explizit einen eigenen und ihnen gleichwertigen Denktypus ausbilden, der an der Kultur geformt und ihr zugewandt ist« (ebd., S. 234). 35 Winkler, Michael: Vergessen oder vernachlässigt – Die Erziehungswissenschaft und ihre Klassiker. In: Koerrenz, Ralf (Hg.): Bildung und Kultur – Zwischen Tradition und Innovation. Jena: IKS Garamond 2010, S. 47 f. [im Folgenden: Vergessen oder vernachlässigt]. In einem anderen Text macht Winkler auf das umgekehrte Verhältnis aufmerksam, dass »eine Vielzahl von als klassisch geltenden Autoren der Pädagogik im Rahmen von Philosophie und schöngeistiger Literatur auftritt« (Winkler: Ein geradezu klassischer Fall. Zur Traditionsstiftung in der Pädagogik durch Klassiker. In: Systematiken und Klassifikationen in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Dt. Studien-Verl. 1994, S. 151).

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Grundlegendes über den Zusammenhang von Anthropologie und Bildungstheorie

pädagogischen Frage- und Problemstellungen zu verfassen, wird ihn möglicherweise vor dem einen oder anderen typisch pädagogischen Fallstrick bewahrt haben, wie etwa demjenigen, durch ihre thematisch schon gegebene Praxisnähe auch als Theorie programmatisch oder politisch auftreten zu wollen.36 Um nicht missverstanden zu werden: Weder soll behauptet werden, dass Landmann grundsätzlich frei von dieser Schwierigkeit sei, noch dass die Praxisnähe der Reflexion als solche zu vermeiden oder zu verurteilen sei. Was jedoch einer empirischen wie auch einer programmatischen Perspektive schnell aus dem Blick gerät, das sind die pädagogischen Probleme; und sofern man deren Existenz nicht von vornherein leugnet, wird man zugeben müssen, dass sie am besten in denjenigen Texten Beachtung finden, die von sich aus menschlichen Grundproblemen nachspüren und sie systematisch zu fassen versuchen. Wenn es also stimmt, dass die »Lust an der Erkenntnis des Gegenstandes, an der Auseinander­ setzung um diesen, an der Kritik der vorgefundenen Bestimmungen, also der eigentlich wissenschaftliche Streit«37 in der pädagogischen Disziplin fehlt, so kann es nur gewinnbringend sein, hier einem von Problemen faszinierten Denker das Wort zu geben. Indessen: Landmann war thematisch der Pädagogik keineswegs fern, was nicht allein sein einschlägiger Aufsatz Philosophische Anthropologie als Grundlage der Erziehungswissenschaft zeigt.38 Ginge jedoch das, was er zur Pädagogik zu sagen hat, darüber nicht hinaus, so hätte sich die vorliegende Arbeit im Referat wenig spektakulärer Thesen erschöpft. Dass sich in Landmanns Schriften, vom phänomenologischen Früh­ werk über die explizit anthropologische Schaffensphase bis zum vernunftkritischen Spätwerk, systematische Gehalte finden lassen, die für das Verständnis von Pädagogik zentral, für einen originellen Bildungsbegriff unerlässlich sind – diese Annahme bildet auch den ›methodischen‹ Rahmen dieser Arbeit: es erscheint gerade nicht aus­ reichend, sich bei Landmann auf ein paar seiner zentralen Schriften zu beschränken, um ihn davon ausgehend pädagogisch zu interpretieren. Nicht nur finden sich in thematisch spezielleren Texten immer wieder Vgl. Winkler: Vergessen oder vernachlässigt, S. 33. Ebd. 38 Unter diesem Titel bereits 1957 erschienen in: Bremer Vorträge zur Bildungstheo­ rie. Hg. v. der Philosophischen Gesellschaft in Bremen. Bremen: Carl Schünemann Verlag 1957, S. 40–54 [im Folgenden: Philosophische Anthropologie als Grundlage der Erziehungswissenschaft]; unter dem Titel Philosophische Anthropologie und Erzie­ hungswissenschaft wieder abgedruckt in Landmann: MSGK, S. 90–103. 36 37

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Gedanken, die über das konkrete Thema hinaus relevant sind; auch wird Landmann erst unter Berücksichtigung seines Gesamtwerkes ›vollständig‹ – in seinen Kontinuitäten wie auch seinen Widersprü­ chen und Brüchen. Aufschließende Kraft verläuft dabei auch in der umgekehrten Richtung: typisch pädagogische Topoi können helfen, Landmann besser zu verstehen. Über das Aufspüren seines implizit bleibenden bzw. vorausgesetzten Bildungsbegriffs klärt sich seine Kulturanthropologie auch in ihren sonst scheinbar isoliert stehenden (beispielsweise den existenzphilosophischen) Aspekten und deren Bedeutung für diese insgesamt. Der bildungstheoretische Zugang zu Landmann ist schließlich auch ein Versuch, die Eigentümlichkeit seines Ansatzes gegenüber anderen, die mit ihm dem Zusammenhang der philosophischen Anthropologie sinnvoll zugeordnet werden können, herauszustellen. Dass Landmann zwar oft Erwähnung findet, der Fokus dabei jedoch vor allem auf der Würdigung seiner anthropologiegeschichtlichen Arbeiten liegt, bedeutet umgekehrt, dass seine eigene philosophi­ sche Begriffsarbeit tendenziell unbeachtet bleibt. Was Landmann selbst nicht zu seiner Profilierung beigetragen hat, soll entsprechend durch die Erarbeitung der m.E. für sein Denken zentralen Begriffe geleistet werden. Ich kann an dieser Stelle nur zuspitzend andeu­ ten, was Landmann von anderen philosophischen Anthropologen unterscheidet. Dass er sich in die Linie Plessners, Schelers, Gehlens, Cassirers und Rothackers eingestellt hat, soll dabei keineswegs unter­ schlagen werden; vielmehr ergeben diese im Grundzug ähnlichen, jedoch im Fokus unterschiedlichen Ansätze nur zusammen ein Gan­ zes, eben das, was man philosophische Anthropologie zu nennen pflegt.39 Keiner von ihnen hat jedoch die Kreativität als menschliche Grundkraft und die Pluralität als Charakteristikum menschlicher Kultur so grundlegend und vielschichtig ins Zentrum seines Den­ kens gerückt wie Michael Landmann.40 Auf dem Hintergrund des 39 Was diese Autoren verbindet, formuliert Joachim Fischer folgendermaßen: »Dass das menschliche Lebewesen primär ein imaginär, zur Phantasie, zum Schöpferischen, zum Kreativen disponiertes Lebewesen ist und dass erst darin eine Rationalität, eine vernünftige Abwägung und auch eine sprachliche Kompetenz eingebettet ist, darin waren sich Scheler, Plessner, Gehlen, Rothacker, Cassirer, Landmann einig.« (Das Imaginäre, Kreative, Schöpferische. Ein Zentraltopos der Philosophischen Anthropo­ logie. In: Bohr/Wunsch: Kulturanthropologie als Philosophie des Schöpferischen, S. 17). 40 Vgl. dazu Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 92.

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Grundlegendes über den Zusammenhang von Anthropologie und Bildungstheorie

Gemeinsamen hebt sich Landmanns Ansatz dadurch ab, dass bei ihm die gewissermaßen transzendental-anthropologischen Bestim­ mungen des Menschen zum weltoffenen (Scheler) und exzentrisch positionierten Wesen (Plessner), die ihn zur Kreativität befreien und zugleich verdammen, zusammengesehen werden mit den kulturphi­ losophischen Bestimmungen des Menschen zum Wesen der Kultur, der Geschichte, und d.h. der immer bereits vorliegenden Pluralität sei­ ner Lebensformen, in der sich die menschliche Kreativität bekundet. Dass er hier bei der anthropologischen Konzeption der 1920er Jahre, die er immer wieder positiv hervorhebt41, bereits ansetzen kann, verschafft ihm die allgemeine Grundlage sowohl für sein denkendes Beginnen als auch für Modifikationen und originelles Weiterdenken. Wenngleich er die genannten Autoren mehrfach würdigt und positiv herausstellt gegenüber Eigenschaftsanthropologien, die das den Men­ schen Auszeichnende in einem seiner Merkmale zu finden glauben, so kritisiert er auch bei ihnen eine Überakzentuierung einzelner Aspekte des Menschen.42 Und wie Richard Wisser schreibt, bleibt es hier nicht immer bei der Kritik; vielmehr tue Landmann »einiges dafür, daß der Eindruck entsteht, die von ihm mit guten Argumenten vertretene ›Kulturanthropologie‹ löse die Rätsel, die die bisherigen Aussagen über das Wesen des Menschen als Gottesgeschöpf, Vernunftwesen und Lebewesen aufgeworfen haben.«43 Auf systematischem Wege, d.h. durch Analyse der Grundbegriffe Landmanns in der Werküber­ sicht und über die Unterscheidung dreier Dimensionen, soll diesem berechtigten Verdacht, Landmann habe die von ihm geforderte Offen­ heit seiner Kulturanthropologie selbst nicht konsequent eingehalten, Rechnung getragen werden. Den Anspruch einer solchen Offenheit der anthropologischen Perspektive hat wohl keiner so verständlich zur Sprache gebracht 41 Vgl. Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 270 sowie ders.: Philoso­ phische Anthropologie. Menschliche Selbstdeutung in Geschichte und Gegenwart. 5. Aufl. Berlin/New York: de Gruyter 1982, 11955 [im Folgenden: PA], S. 37f. und ders.: Entfremdende Vernunft. Stuttgart: Klett 1975 [im Folgenden: EV], S. 75. 42 Vgl. Landmann: Fundamental-Anthropologie. 2., erw. Aufl. Bonn: Bouvier 1984, S. 123 [im Folgenden: FA]. 43 Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 25. Dies durchaus selbstbewusst, wenn er über die Philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts, in deren Reihe er sich stellt, schreibt: »Sie bleibt die Grundwissenschaft.« (Landmann: PA, S. 29). Vgl. auch Erhard Wiersing: Theorie der Bildung. Eine humanwissenschaftliche Grundlegung. Paderborn: Schöningh 2015 [im Folgenden: Theorie der Bildung], S. 51, Anm. 17.

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wie Otto Friedrich Bollnow, der sie zudem in mehreren Texten für eine pädagogische Anthropologie fruchtbar gemacht hat. Dabei ist entscheidend, dass Anthropologie – philosophische wie pädagogi­ sche – ein geschlossenes Menschenbild nie wird liefern können44, wenngleich sie das vom Wort her suggerieren mag und ihr auch mehr als einmal zum Vorwurf gemacht wurde, den Menschen auf eine Natur hin festlegen zu wollen. Mit Fischer ist nicht nur dieser Vorwurf zurückzuweisen, sondern aufzuzeigen, inwiefern gerade philosophischer Anthropologie eine »ideologische Offenheit«45 eigen ist, wodurch sie einen ganz eigenen Typus kritischer Theorie darstellt: und zwar im Sinne der Kritik von Radikalisierungen, Elargierungen von Prinzipien, Extremisierungen von Aspekten, und sie führt diese Kritik durch als ›Grenzforschung‹ zwischen verschiedenen extremen Momenten oder Prinzipien, auch im perspektivischen Sinn der Balan­ cierung, der Kompensation, des Ausgleichs gegenläufiger Prinzipien.46

In dem Maße, in dem gerade Pädagogik von ideologischen Verein­ nahmungen und Verführungen betroffen ist, gilt es, das kritische Potenzial einer philosophischen Anthropologie für pädagogische Problemstellungen nutzbar zu machen. Umgekehrt formuliert: die schwierige Stellung der philosophischen Anthropologien gegenüber anderen Schulen des 20. Jahrhunderts wie der Existenzphilosophie und der Kritischen Theorie47, die auch pädagogisch anschlussfähig waren, sollte nicht davon abhalten, gerade bei ihr Anknüpfungspunkte zu suchen, d.h. der Intuition zu folgen, dass es jenseits der klassischbürgerlichen und der progressiv-marxistischen Pädagogik noch wei­ tere, erst ansatzweise betretene Wege gibt, pädagogische Probleme und Phänomene zu denken. Lassen wir auch hier Landmann selbst zu Wort kommen, der 1983 in seinem Glückwunsch zum Jubiläum des Initiative-Magazins schreibt: 44 Vgl. Bollnow, Otto Friedrich: Die anthropologische Betrachtungsweise in der Päd­ agogik. 3., unveränd. Aufl. Essen: Neue Deutsche Schule Verlagsges. 1975, S. 51 [im Folgenden: Die anthropologische Betrachtungsweise]. 45 Plas, G. u. Raulet, G.: Einleitung. In: Dies. u. M. Gangl (Hg.): Philosophische Anthropologie und Politik. Erster Teilband. Nordhausen: T. Bautz 2013 [im Folgen­ den: Philosophische Anthropologie und Politik], S. 27. 46 Fischer: Philosophische Anthropologie als kritische Theorie? In: Philosophische Anthropologie u. Politik, S. 64. 47 Vgl. Fischer, Joachim: Philosophische Anthropologie – ein wirkungsvoller Denk­ ansatz in der deutschen Soziologie nach 1945. In: Zeitschrift für Soziologie 35 (2006), S. 327.

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Grundlegendes über den Zusammenhang von Anthropologie und Bildungstheorie

Die Kritik pflegt das Taschenbuch-Magazin »Initiative« mit neokon­ servativen Tendenzen zusammenzubringen. Das ist richtig und auch wieder nicht richtig. Denn sobald man sich dicht genug an das Detail heranarbeitet, versagen die weltanschaulichen und parteipolitischen Vorentscheidungen. Die Lösung ergibt sich aus der Sache, aus der Ver­ nunft, und der Bundesgenosse findet sich bald im rechten, bald im linken, bald in keinem Lager.48

Die Wege, die philosophisch-anthropologisches Denken eröffnet, las­ sen sich vielleicht zwar nicht als Synthesen verschiedener ›Theoriela­ ger‹ verstehen, bieten jedoch an einzelnen Stellen Möglichkeiten ihrer Vermittlung. Speziell die Texte Landmanns sind dafür in zweierlei Hinsicht fruchtbar: zum einen liefern sie eine allgemein-anthropolo­ gische Grundbestimmung des Menschen als dem Wesen, das notwen­ dig auf Erziehung, Bildung und Kultur angewiesen ist. Darüber hinaus geben sie Anhaltspunkte, um – über verschiedene Begriffe und die ihnen zugrundeliegenden Probleme – dem näher zu kommen, was sich hinter Bildung und Kultur begrifflich und phänomenal verbirgt. Es geht darum, Landmanns umfang- und spannungsreiches Werk im Lichte der bildungsphilosophischen Grundproblematik erscheinen und diesen Denker so selbst sprechen zu lassen. Ich möchte zeigen, wie grundlegend sich das Philosophieren wandelt, wenn Philosophie »sich selbst als Kulturphänomen versteht« und wie folgenschwer »das Verständnis von Philosophie sich ändert, sofern Philosophie selbst als Bildungsgeschehen verstanden wird«.49

48 Landmann: Glückwünsche eines »Initiative«-Lesers aus Israel. In: Warum noch lesen? Vom notwendigen Überfluß der Bücher. Herderbücherei Initiative 53. Hg. v. G.-K. Kaltenbrunner. Freiburg: Herder 1983, S. 189. 49 Schlitte, Annika: Bildung und Kultur bei Georg Simmel. In: M. Spieker; K. Stojanov (Hg.): Bildungsphilosophie. Disziplin – Gegenstandsbereich – Politische Bedeutung. Baden-Baden: Nomos 2017, S. 225.

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Teil I Quellung, Rahmung, Verständigung

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1. Michael Landmanns geistige Quellen

Man darf nie nur der Schüler eines Lehrers sein.50

Sich auf einen Werkausschnitt zu beschränken, bringt den Vorteil der Übersichtlichkeit mit sich und entsprechend stellt sich die Frage, wie das Ziel, das Gesamtwerk eines Denkers einzubeziehen, verfolgt werden kann, ohne in der Fülle des Textstoffes die Orientierung zu verlieren. Beim Versuch, die vermiedene Übersichtlichkeit durch eine Textauswahl sozusagen methodisch zu kompensieren, lassen wir uns von den Eindrücken und Entdeckungen aus Landmanns Texten selbst leiten. Mit der nachfolgend erläuterten hermeneutischen Herange­ hensweise der ›methodischen Verarbeitung‹ und der analytischen Unterscheidung dreier Dimensionen, in denen Landmanns Denken angesiedelt bzw. ausgestreut ist, wird zugleich versucht, jene geistigen Quellen zu berücksichtigen, die Landmanns Denken hauptsächlich anregten und denen wir uns jetzt zuwenden.

1.1 Gestalten Stefan George (1868–1933): Noch bevor Landmann in einem Alter des philosophischen Nachdenkens war, prägte ihn bereits das intel­ lektuelle Umfeld seiner Eltern, hier allen voran der Dichter Stefan George, dem sie wie auch seinem Kreis sehr nah standen. »Ich wuchs in einer Welt der Dichtung und der Kunst auf, in der es aber für jeden selbstverständlich war, sich auch mit den Großen der Vergangenheit zu beschäftigen, zu übersetzen, zu kommentieren oder geistesgeschichtlich zu arbeiten.«51 Wie stark Landmann von diesem Umfeld geprägt wurde, wird schon daraus ersichtlich, dass er sich in mehreren Büchern mit den »Figuren um Stefan George« 50 51

Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 269. Ebd., S. 266.

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1. Michael Landmanns geistige Quellen

beschäftigte.52 Neben George als Vorbild ist hier vor allem auch Friedrich Hölderlin zu nennen, um zu zeigen, inwiefern Dichtung für Landmann zeit seines Lebens ein Refugium geblieben ist: Jüngere Freunde verstehen den Grad meiner Hölderlin-Begeisterung nicht mehr. Sie lehnen einen »Privat-Mythos« ab. […] Ich trage das Geheimnis der 20er Jahre und mit ihm das Geheimnis Hölderlins bis zum Tod in mir. Am Historischwerden Hölderlins lerne ich Vergäng­ lichkeit.53

Landmanns Liebe zur Dichtung führte nicht nur eine entsprechende Aktivität mit sich, von der sich einiges in seinem unter dem Pseud­ onym Michael Moritz 1952 publizierten Gedichtband Atlantiden sowie im zweiten Band der Jüdischen Miniaturen finden lässt.54 Sie macht sich auch in seinem Verständnis von Philosophie bemerkbar. Denn auch wenn man, wie der israelische Aphoristiker und Lyriker Elazar Benyoëtz in seinen Erinnerungen an Landmann schreibt, »dem deutschen Gelehrten keine zweite, dichterische Karriere« vergönnt55, befindet sich der Philosoph Landmann zufolge »halb auch noch auf der Seite des Künstlers: auch zu seinem Werk gehört Phantasie und eine emotionelle Tönung. Das Musische ist das Metaphysische in einem andern Aggregatzustand.«56 52 So der Titel zweier Bücher, die bei Castrum Peregrini erschienen (Figuren um Ste­ fan George. Zehn Porträts. Castrum Peregrini. 31. Jg., Heft 151/152. Amsterdam: 1982; Figuren um Stefan George. Zweiter Band. Castrum Peregrini, Heft 183. Amster­ dam: 1988 [im Folgenden: FSG I u. FSG II]). Ebenso bei Castrum Peregrini veröffent­ lichte Landmann: Erinnerungen an Stefan George. Seine Freundschaft mit Julius und Edith Landmann. Castrum Peregrini. 29. Jg., Heft 141/142. Amsterdam: 1980 [im Folgenden: ESG]. Vgl. zum Verhältnis Michael Landmanns zu George und seinem Kreis Pahmaier, Markus: Michael Landmann. In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 3. Hg. von A. Aurnhammer, W. Braungart u.a. Berlin; Boston: de Gruyter 2012, S. 1518–1521. 53 Landmann: Berliner Rückblenden. In: Neue Deutsche Hefte 25 (1978), S. 680. »Was mich von Anfang an umgab, war nicht die Natur, sondern waren Verse und ihre Deutung. Ich empfing dadurch schon früh eine geistige Richtung.« (Landmann: Mate­ rialien zur Selbstdarstellung, S. 266) Vgl. außerdem Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 37 f. 54 Vgl. Atlantiden. Gedichte. Berlin: Bloch 1952; Landmann: Jüdische Miniaturen. Zweiter Band. Israelische Streitschriften und Tagebücher. Bonn: Bouvier 1982, S. 227– 247 [im Folgenden: JM II]. 55 Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 38. 56 Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 266f. Vgl. außerdem Landmann: Was ist Philosophie? 4. Aufl. Bonn: Bouvier 1985, S. 100 [im Folgenden: WiP) sowie die Rezension zu diesem – auch unter verändertem Titel erschienenen – Buch: Josef

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1.1 Gestalten

Herman Schmalenbach (1885–1950): Ganz im Sinne schon sei­ ner kindheitlichen Prägungen fiel auch die Entscheidung der Studi­ enfächer aus: Philosophie, Germanistik und Psychologie, zeitweise Gräzistik und Ethnologie. Dass ihm durch Hitlers Machtergreifung Deutschland als Studienort verschlossen war, bedauerte Landmann sehr.57 Unter seinen Lehrern an der Universität Basel hebt er mehrfach und positiv Herman Schmalenbach hervor, bei dem er v.a. gelernt habe, »anschaulich-deskriptiv unter geistesgeschichtli­ chen und geschichtsphilosophischen Perspektiven vorzugehen.«58 In Schmalenbach fand Landmann bereits ein erstes prägnantes Vorbild für die Verbindung historisch-genetischer und phänomenologischanschaulicher Perspektiven.59 Nicolai Hartmann (1882–1950): Eine weitere prägende Gestalt war der Philosoph Nicolai Hartmann, in dem Landmann neben Schmalenbach den »andern Meister meiner Lehrjahre«60 sieht. Zwar konnte Landmann Hartmann erst nach dem Zweiten Weltkrieg per­ sönlich nah treten, las jedoch dessen Schriften bereits früh und wid­ mete sich seinen Überlegungen in seiner Dissertation über den Sokra­ tismus als Wertethik.61 Weder diese noch sein problemgeschichtlicher Ansatz, der erstmals und ausführlich in der Habilitationsschrift zur Entfaltung kam, sind ohne Hartmann denkbar oder verständlich.62 Dass Hartmann ausschlaggebend war für Landmanns Interesse an Antinomien, solchen der Erkenntnis wie auch des Wertes, wird u.a.

Barwirsch: Landmann Michael: Philosophie, ihr Auftrag und ihre Gebiete (Rezen­ sion). In: Philos. Literaturanzeiger; Jan 1, 1974; 27, S. 208–210. 57 Vgl. Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 128, Anm. 24. 58 Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 269. 59 Vgl. ebd. Vgl. auch Landmann: Hermann Schmalenbach 1885–1950. In: Studia Philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft. Vol. X. Basel: Verlag für Recht und Gesellschaft 1950, S. 1–4. 60 Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 269. 61 Vgl. ebd. u. Berliner Rückblenden. In: Neue Deutsche Hefte. Jg. 25, Heft 4 (1978), S. 675–706 [im Folgenden: Berliner Rückblenden], S. 701 f. 62 Landmann: Der Sokratismus als Wertethik. Der hohen Philosophisch-Histori­ schen Fakultät der Universität Basel zur Erlangung der Doktorwürde als Dissertation vorgelegt. Dissertationsverlag Dornach (Sol.): Knobel 1943 [im Folgenden: SaW]; Problematik. Nichtwissen und Wissensverlangen im philosophischen Bewußtsein. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1949 [im Folgenden: P].

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1. Michael Landmanns geistige Quellen

in seinem Aufsatz Nicolai Hartmanns »Wertantinomien« und ihre Vorgeschichte63 deutlich. Georg Simmel (1858–1918): Ähnlich ist Landmanns Faszination für kulturelle Phänomene und Probleme stark inspiriert von der Philosophie Georg Simmels, dessen Schriften er zudem herausgab und über den er auch Biographisches sammelte.64 Mit Nachdruck weist Köhnke darauf hin, dass Landmanns kulturanthropologischer Kerngedanke, der Mensch sei in ein spannungsreiches und unüber­ windbares Wechselspiel aus Tradition und Innovation gestellt, »ohne Simmel überhaupt nicht verständlich würde.«65 Im Rahmen der stark von Simmels Gedanken zum Wechselverhältnis von objektiver und subjektiver Kultur ausgehenden Anthropologie stehen auch wei­ tere Themenfelder sowie methodische Herangehensweisen: »Simmel bestärkte mich in der Verbindung von Philosophie und Soziologie, in der Einbeziehung auch religiöser und künstlerischer Phänomene, in polarisierender ›Typologie‹, in der Thematisierung des ›Individu­ ums‹ und – wie später Ernst Cassirer – der ›Kultur‹ als ganzer.«66 Die von Köhnke gestellte, für sein Nachwort der von Landmann herausgegebenen Simmel-Aufsätze67 titelgebende Frage Simmel ohne Landmann? lässt sich also genauso gut umdrehen und wäre wie jene auch rhetorisch gestellt, also unbedingt mit Nein zu beantworten. Ernst Bloch (1885–1977): Anders als die bisherigen Gestalten trat Ernst Bloch vergleichsweise spät, nämlich erst 1964 in Landmanns Leben. Dafür war die Beziehung umso persönlicher, was schon daran

63 Landmann: Nicolai Hartmanns »Wertantinomien« und ihre Vorgeschichte. In: Nicolai Hartmann 1882–1982. Mit einer Einl. v. J. Stallmach u. einer Bibliographie der seit 1964 über Hartmann erschienenen Arbeiten. Hg. v. A. J. Buch. 2. Aufl. Bonn: Bouvier 1987, S. 170–183 [im Folgenden: Hartmanns Wertantinomien]. 64 Vgl. Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 268. Eine Übersicht zu Landmanns Schriften über Leben und Werk Simmels findet sich in Klaus Christian Köhnke: Simmel ohne Landmann? In: Simmel, Georg: Das individuelle Gesetz. Phi­ losophische Exkurse. Hg. u. eingel. v. Michael Landmann. Neuausg. 1987. Frank­ furt/M.: Suhrkamp 1987 [im Folgenden: Simmel ohne Landmann?], S. 274 f. Vgl. außerdem: Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Hg. v. Kurt Gassen und M. Land­ mann. 2. Aufl. Berlin: Duncker und Humblot 1993. 65 Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 129. 66 Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 268. 67 Simmel, Georg: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Hg. u. eingel. v. Michael Landmann. Neuausgabe 1987 mit einem Nachwort von Klaus Christian Köhnke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987 [im Folgenden: Das individuelle Gesetz].

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1.1 Gestalten

deutlich wird, dass Landmann »über Ernst Bloch bis zu seinem Tod keine Zeile schreiben [mochte], weil ich mich zu sehr als sein Kind fühlte«.68 Gleichermaßen die literarische Form – zu der erst Bloch ihn befreit habe69 – wie auch seine prophetische Philosophie haben Landmann tief beeindruckt. Selbstredendes Zeugnis dieser Faszina­ tion ist das insgesamt fast 700 Seiten umfassende Manuskript Ernst Bloch im Gespräch, das im Besitz des Ernst-Bloch-Zentrums/-Archivs der Stadt Ludwigshafen am Rhein und nie zur vollständigen Veröf­ fentlichung gekommen ist. Es handelt sich dabei um von Landmann verfasste Mitschriften jener mit Ernst Bloch geführten, thematisch vielfältigen und mit Anekdoten angereicherten Gespräche aus ihrer langjährigen Freundschaft. Ein kleiner Teil daraus wurde zu Lebzeiten Landmanns in Zeitschriften und Jubiläumsbüchern veröffentlicht. In diesen Texten kommt Landmanns Begeisterung für Bloch, seinem, wie er im ersten Band der Jüdischen Miniaturen schreibt, verehrtesten Lehrer und geliebtesten Freund70, immer wieder zum Ausdruck. Er lässt in seinen Äußerungen keinen Zweifel daran, welch tiefgreifen­ den Eindruck Bloch auf ihn machte: »Er war schon allein durch sein Gespräch das wunderbarste, bezauberndste Phänomen. Wenn man mit Ernst Bloch befreundet war, dann erscheint einem jeder spätere Mensch als farblos.«71 Ähnlich schwärmerisch und geradezu mystisch wird sein Ton bei der Wiedergabe einer Beobachtung Blochs auf einer Tagung: Neben […] anderen wirkt er wie ein Wesen von einem anderen Planeten, aus einer noch nicht entdeckten Seite des Menschseins atmend, wie verwittertes Urgestein zwischen glatten Kieseln, vor oder vielleicht auch schon wieder nach der Zivilisation. […] Es ist, als ob um ihn herum unsichtbare Kreise liefen, die man, wenn man auf ihn

Landmann: Berliner Rückblenden, S. 679. Vgl. Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 267 sowie ders.: Ernst Bloch im Gespräch. In: Ernst Bloch zu ehren. Beiträge zu seinem Werk. Hg. v. Siegfried Unseld. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1965, S. 346 [im Folgenden: Ernst Bloch im Gespräch (1965)]. 70 Landmann: Jüdische Miniaturen. Erster Band. Messianische Metaphysik. Bonn: Bouvier 1982, S. 182 [im Folgenden: JM I]. 71 Landmann, M.: Ernst Bloch als Mensch. In: »Denken heißt Überschreiten«. In memoriam Ernst Bloch 1885–1977. Hg. v. K. Bloch u. A. Reif. Köln/Frankfurt/M.: Europ. Verlagsanstalt 1978, S. 60. 68

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1. Michael Landmanns geistige Quellen

zuginge, erst durchschneiden müßte. Sein Schädel erscheint wie in Stein gehauen, nicht mehr von dieser Welt, ewig.72

1.2 Bewegungen Es sind neben einzelnen geistigen Gestalten auch ganze philosophi­ sche Bewegungen, denen sich Landmann verbunden fühlte, ohne dass er sie isoliert betrachtet hätte. Vielmehr zieht er einen weiten Bogen von der griechischen Antike über das – hier lediglich zur Zwischen­ phase erklärte – Mittelalter hinweg bis zur Neu- und schließlich seiner eigenen Zeit. Deshalb fühle ich mich philosophisch bei den Griechen mehr zu Hause, bei denen die Philosophie nicht auf ihr vorgegebene geistige Mächte reagiert, sondern mit ursprünglichem Blick auf eine noch unvorinter­ pretierte Welt schaut. In der Neuzeit schöpfe ich wieder Luft erst dort, wo der religiös-naturwissenschaftliche Bann gebrochen ist: bei Scho­ penhauer und Nietzsche, in Phänomenologie und Lebensphilosophie, in den zwanziger Jahren und unserer eigenen Gegenwart.73

Wenngleich Landmann stärker zu »Husserl, Scheler, N. Hartmann, nicht zur theologisch-therapeutisch-aktionistischen Existenzphiloso­ phie«74 neigte, blickt er sehr positiv auf seine Assistenztätigkeit von 1948–1951 bei Karl Jaspers zurück, der ihn lehrte, »die Fassaden der Menschen und Verhältnisse psychologisch zu durchschauen« und durch den er »einen Zugang zu Kierkegaard« gewann.75 An Landmanns ambivalentem Verhältnis zur Existenzphilosophie wird deutlich, wie sehr die Selbsteinordnung gegenüber den verschiede­ nen Denkströmungen der Zeit von den entsprechenden Konstellatio­ nen abhängt: 72 Landmann: Gespräche mit Ernst Bloch im Sommer 1968 auf Korčula. In: Neue Deutsche Hefte. Hg. v. Joachim Günther. 27. Jg., Heft 1 1980, S. 17 f. [im Folgenden: Gespräche mit Ernst Bloch auf Korčula]. 73 Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 270. 74 Ebd., S. 267. 75 Ebd., S. 269 f. Vgl. auch Landmanns Erinnerung an Karl Jaspers (in: Erinnerungen an Karl Jaspers. Hg. v. Kl. Piper u. H. Saner. München; Zürich: Piper & Co 1970, S. 195–205). Dort heißt es: »In der Tat hat der damalige zunächst nur äußere Zwang, mich in Kierkegaard einzuarbeiten, noch etwas in mir geöffnet. Ich verstand nun auch Jaspers selbst und die ganze Existenzphilosophie besser und bin auch später noch oft zu Kierkegaard zurückgekehrt.« (S. 197).

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1.2 Bewegungen

Von den Gegenwartsphilosophen las ich Simmel, Husserl, Scheler, N. Hartmann. Existenzphilosophie blieb mir so fremd, daß ich nicht einmal gewußt hätte, wie auch nur gegen sie polemisieren. Dann kam ein Zeitalter der Soziologisten, der Wissenschaftstheoretiker und der Technokraten. Die Existenzphilosophie war tot. Jetzt, im Rückblick, erkannte ich ihre Vorzüge. Immerhin war sie noch die Erbin von Metaphysik und Lebensphilosophie. Es ging ihr noch um menschliche Probleme. Angesichts der um sich greifenden Verflachung machte ich mir Vorwürfe, ihr Unrecht getan zu haben.76

Trotzdem lassen sich Denkrichtungen bzw. -zugänge identifizieren, die für das Verständnis von Landmanns Texten insgesamt hilfreich sind und vor deren Hintergrund auch der methodische Zugang dieser Arbeit verstanden werden soll. Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte: Landmann war, was bereits anklang, zum einen ein historisch denkender Mensch. Dies wird bereits im Aufbau seiner Texte und im Zugang zu bestimm­ ten Problemen und Phänomenen deutlich, der in der Regel ein his­ torischer ist. Sein Interesse für Geschichte im Allgemeinen speiste sich aus unterschiedlichen Quellen; neben dem bereits genannten geistesgeschichtlichen Umfeld ist hier v.a. sein jüdischer Geisteshin­ tergrund zu nennen. Wenn Landmann Geschichte denkt, so ist dies nicht losgelöst von der spezifisch hebräischen Geschichtskonzeption und der Idee des Messianismus resp. Prophetismus zu verstehen, denen er sich in mehreren Texten zuwendete.77 Immer wieder rühmte er das 18. Jahrhundert für die Entdeckung des historischen Sinns, mit dem Geschichte nicht mehr als final auf ein einziges Ziel hin verlaufende Entwicklung gedacht, sondern als jeweilig erscheinende und nur aus sich, aus der je historischen Indi­ vidualität heraus verstanden und bewundert wird. Landmann selbst jedoch hat es in den wenigsten Fällen bei einer Wie-von-innen-Schau belassen, was an seinen philosophiegeschichtlichen Untersuchungen deutlich wird. Hier bringt er verschiedene, zeitlich mehr oder weniger weit entfernte Positionen in ein gemeinsames Gespräch, um so tiefer­ liegende, erst auf der Kontrastfolie kenntlich werdende Motive und Konstellationen hervortreten zu lassen: Landmann: Berliner Rückblenden, S. 691. Hier ist neben seinen Jüdischen Miniaturen v.a. zu nennen sein Buch: Ursprungsbild und Schöpfertat. Zum platonisch-biblischen Gespräch. München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung 1966 [im Folgenden: UuS]. 76

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1. Michael Landmanns geistige Quellen

Eine Position für sich allein ist uninteressant. Ihren Reichtum wie ihre Grenzen entfaltet sie erst durch Kontrastierung mit andern. Die Methode der Kontrastierung zwingt uns, über die expliziten Thesen eines Denkers hinauszugehen zum kategorialen Netzwerk seines Geis­ tes. Unterhalb jener, die sich oft ins Zufällige und Private verlieren, werden die zwingenden, immer nachvollziehenswerten Fundamental­ konturen sichtbar.78

Auf diese Weise hat er bereits in seiner bereits erwähnten Dissertation die antike Wissens- mit der materialen Wertethik Schelers und Hartmanns verglichen und später ein griechisch-biblisches Gespräch in mehreren Zugängen zustande kommen lassen.79 In kleineren Texten rekonstruiert er Phänomenologie, Kierkegaard und Marxis­ mus als »Ausbrüche aus analogen Umklammerungen«80 und inter­ pretiert Schopenhauer und Marx in Hinblick auf die »strukturelle Verwandtschaft der beiden Weltentwürfe«.81 Solche Vorhaben waren getragen von dem Gedanken, dass der Philosoph durch die Auseinan­ dersetzung mit seinen Antagonisten wachse. »Wer die Argumente des Gegners ernst nimmt, dessen eigene Argumentation vertieft sich.«82 Schließlich hebt sich auch die Eigengestalt einer bestimmten Epoche gegenüber anderen erst durch den synchronen und diachronen Vergleich ab, ohne dass man durch dieses methodische Mittel dem Irrglauben verfallen darf, es handle sich bei Epochen realiter um hermetische Gebilde, die zu einem genau bestimmbaren Zeitpunkt beginnen und wieder verschwinden. Dass Landmann sich jedoch trotz solcher und anderer geschichtsmetaphysischer Gefahren nicht darin beirren ließ, an Begriffen wie Epoche und Zeitalter festzuhalten, ja gar in einem Text aus der Festschrift für Bollnow Institute für Epochen­ wissenschaften zu fordern83, hängt mit leibhaftigen Vorbildern wie Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 276. Vgl. Landmann: SaW und UuS. 80 Landmann: Phänomenologie, Kierkegaard, Marxismus. Ausbrüche aus analogen Umklammerungen. In: Neue Rundschau. Berlin: Fischer 1975, S. 461–472 [im Fol­ genden: Phänomenologie, Kierkegaard, Marxismus]. 81 Landmann: Schopenhauer und Marx als Semipragmatisten. In: Schopenhauer und Marx. Philosophie des Elends – Elend der Philosophie? Hg. u. eingel. v. Hans Ebeling u. Ludger Lütkehaus. Königstein/Ts.: Hain 1980, S. 177–189, hier S. 187 [im Folgen­ den: Schopenhauer und Marx]. 82 Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 278. 83 Landmann: Institute für Epochenwissenschaften. Lehrstühle für geisteswissen­ schaftliche Grundlagenforschung. In: Verstehen und Vertrauen. Otto Friedrich Boll­ now zum 65. Geburtstag. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1968, S. 69–84 [im Folgenden: 78

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1.2 Bewegungen

dem genannten Herman Schmalenbach ebenso zusammen wie mit den Schriften des Kulturhistorikers Jacob Burkhardt (1818–1897) und dem Kulturtheoretiker und Geschichtsphilosophen Arnold J. Toynbee (1889–1975), auf die Landmann oft positiv Bezug nimmt. Dass die einzelnen Kulturdomänen nicht isoliert voneinander bestehen oder verstanden werden können, also auch »die Philosophiegeschichte nur eine Wellenbahn in der größeren Entwicklung des Geistes«84 dar­ stellt, ist eine Einsicht, die zwangsläufig zu Kategorien wie Epoche und Stil führt, sofern man davon ausgeht, dass es irgendwelche allgemei­ neren Zusammenhänge gibt, die sichtbar gemacht werden können. Hermeneutik und Phänomenologie: Damit ist die geschichtlichgenetisch-diachrone bereits um eine gestalthaft-phänomenologischsynchrone Perspektive ergänzt, in der – so die These der vorliegen­ den Arbeit – die eigentliche Originalität von Landmanns Ansatz verborgen liegt. Wenn er schreibt, ihn habe keine Vorlesung mehr beeindruckt »als diejenige, die 1935 in Paris der damals dort in der Emigration lehrende Aron Gurwitsch über Gestalttheorie hielt«85, so zeigt dies, dass er wie an der geschichtlichen Rekonstruktion eines Phänomens bereits früh auch an seiner nur raum-analog erschließba­ ren, gestalthaften Konstellation interessiert war. Entgegen dem Imperialismus der Elemente das zu verteidigen, was ihnen innerhalb der Gefügestruktur höherer Einheiten zuwächst, ent­ gegen der zwar notwendigen und doch künstlichen Herauslösung der Teile durch die Wissenschaft ihnen ihren Stellenwert im Rahmen größerer Ganzheiten zu geben, das wurde seither ebenso ein Aus­ gangspunkt wie ein Ziel meiner Arbeit.86

Institute für Epochenwissenschaften]. Projekte wie z.B. das Laboratorium Aufklärung in Jena, das Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) in Halle und das Modellprojekt Romantik in Jena lassen sich m.E. genau i.S. von Landmanns Plädoyer für eine Akzentverschiebung von einzelnen Geistesdomä­ nen (Kunst, Literatur, Philosophie, Recht, Religion usw.) weg und hin zu den umspan­ nenden Epochen verstehen. 84 Heimsoeth, H.: Gruß auf den Weg. In: Grundner et al.: Der Mensch als geschicht­ liches Wesen, S. 9. Vgl. auch Landmann selbst: »Philosophiegeschichte läßt sich nicht als autonomes Gebiet aus sich selbst verstehen, sondern nur im Zusammenhang der allgemeinen Geistesgeschichte, innerhalb deren sie ein Teilglied ist. Jedes Zeitalter schafft sich je nach seinen historisch-individuellen Zwecken wieder eine eigene Phi­ losophie« (WiP, S. 103). 85 Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 274. 86 Ebd.

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1. Michael Landmanns geistige Quellen

Die Formulierung Wilhelm Diltheys, was der Mensch sei, sage ihm seine Geschichte, ist insofern unzutreffend, als sie diese gestalthaften Aspekte nicht in den Blick zu nehmen vermag. So sehr sich Landmann selbst immer wieder in die hermeneutische Linie Diltheys stellt87, ist sein Denken doch gleichermaßen phänomenologisch inspiriert und ausgerichtet. Bereits in Nietzsche, Schopenhauer, Simmel und Bergson werden ihm Denker interessant, die das Leben (bzw. bei Schopenhauer den Willen) als Einheit und in seiner Ganzheit in den Mittelpunkt rücken, die sich eben nicht allein naturwissenschaftlich durch Zusammenfügung ihrer Elemente und – was hier ergänzt werden muss – eben auch nicht allein historisch-genetisch durch Rekonstruktion ihrer Geschichte erschöpfend verstehen lässt. Wie die genannte Gestalttheorie versucht auch Nicolai Hartmanns Schich­ tenontologie, auf die Landmann häufig Bezug nimmt, an dieser Stelle produktiv anzusetzen. Ganz explizit hat sich Landmann in seinem frühen Buch Erkenntnis und Erlebnis. Phänomenologische Studien88 mit phänomenologischen Problemen auseinandergesetzt und auch später reißt diese Linie nicht ab – immer wieder betont er die allgemein philosophiegeschichtlich wie auch für ihn persönlich bedeutende Stellung der Phänomenologie. Die Naturwissenschaft hat diese ganze Sphäre des unmittelbaren, aber auch des sich in außerwissenschaftlichem kulturellem Ausdruck objektivierenden Erlebens übersprungen. Die in ihm erschlossenen Qualitäten und Gestalten, die in der naturwissenschaftlichen Quan­ tifizierung und Atomisierung untergehen, will die Phänomenologie retten. (…) So fand ich von der Phänomenologie, die für mich nie der transzendentalistische Konstitutionalismus erst des späten Husserl war, leicht den Übergang zur ›Philosophischen Anthropologie‹.89

87 Vgl. Landmann: Hermeneutik als Übersetzungsgeschehen (Selbst- und Fremd­ verstehen). In: Loccumer Kolloquien 2. Hermeneutik als Kriterium für Wissenschaft­ lichkeit? Der Standort der Hermeneutik im gegenwärtigen Wissenschaftskanon. Dokumente des Kolloquiums vom Okt. 1971. Hg. v. U. Gerber. Loccum: 1972, S. 32– 39 [im Folgenden: Hermeneutik als Übersetzungsgeschehen]. 88 Erkenntnis und Erlebnis. Phänomenologische Studien. Berlin: de Gruyter 1951 (im Folgenden: EuE). 89 Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 271. Kritisch zu Husserl bzw. zur allzu dichten Identifikation von Phänomenologie mit seinem Namen äußert sich Landmann im Text Husserl als Imago (in: Ders.: Das Ende des Individuums. Anthro­ pologische Skizzen. Stuttgart: Klett 1971, S. 59–65. [im Folgenden: EdI]).

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1.3 Kulturanthropologie als »Anthropologie der Zukunft«?

1.3 Kulturanthropologie als »Anthropologie der Zukunft«? Nur unter Berücksichtigung all dieser verschiedenen Philosophien lässt sich die andernfalls unter den vielen von Landmann aufgeführten Namen und Bezügen dem Blick schnell entgehende Eigenständig­ keit seines kulturanthropologischen Ansatzes überhaupt sehen. Sie besteht in der zwar nicht konsequent methodisch von ihm selbst durchgeführten, aber an vielen Stellen auffindbaren Kombination dieser verschiedenen Perspektiven. Landmann war sich viel zu sehr im Klaren darüber, dass philosophische Thesen und Systeme sich nicht wie die naturwissenschaftlichen nach Wahrheitskriterien ablö­ sen90, als dass er hätte einfach unter Ausblendung seines geistigen Herkommens radikal neu beginnen können oder wollen. Im Gegenteil lasse sich, wie er mehrfach betont, der Ausgangspunkt einer Kulturan­ thropologie in seinem Sinne bereits bei den Sophisten finden, denen das Verdienst zukomme, »schon im Altertum etwas wie eine ›anthro­ pologische Wende‹ heraufgeführt zu haben«.91 Dass Kultur nichts einmalig und einheitlich Unveränderliches, sondern ein gestaltetes und wandelbares Vielfältiges und in dieser Mannigfaltigkeit zu beja­ hen sei, hätten die Sophisten bereits dem sokratischen Vernunft- und Kulturmonismus entgegengehalten und seien damit auch diejenigen gewesen, »die als erste grundsätzlich die Gleichheit aller Menschen als Menschen verkündet haben.«92 Einer in dieser Linie stehenden »Kulturanthropologie« rechnet sich Landmann zu; in ihr sieht er »die Grundlagendisziplin der Geisteswissenschaften« wie überhaupt »die Anthropologie der Zukunft«.93 Insofern sie keine inhaltliche 90 Vgl. Landmann: Pluralität und Antinomie. Kulturelle Grundlagen seelischer Kon­ flikte. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag 1963 [im Folgenden: PuA], S. 218. 91 Landmann: Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdeutung in Geschichte und Gegenwart. 5. durchges. Aufl. Berlin/New York: de Gruyter 1982, S. 30 (im Folgenden: PA). Ob sich den philosophischen Anschauungen der Sophisten tatsächlich eine solche »anthropologische Wende« zuschreiben lässt oder hier nicht eher Landmanns doppeltes Interesse, diese Denkrichtung positiv hervorzuheben und seine eigene Anthropologie in einer weit zurückreichenden Denktradition zu verorten, tongebend ist, wäre genauer zu untersuchen. 92 Landmann: PA, S. 20. 93 Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 271; PA, S. 172. Ob bzw. inwie­ fern Landmanns Prognose von Kulturanthropologie als (der) ›Anthropologie der Zukunft‹ zutrifft, muss an dieser Stelle offen bleiben. Diese Frage eröffnet einen eige­ nen Frage- und Problemkomplex, in dem philosophie-, wissenschafts- und ideenge­ schichtliche mit zeit- und kulturdiagnostischen Perspektiven zu verknüpfen wären.

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1. Michael Landmanns geistige Quellen

Bestimmung des Menschen, sondern beansprucht, »gleichsam den geometrischen Ort an[zu]geben, auf dem alle Menschenbilder liegen, die aus seiner Kraft, sich selbst eine Form zu geben, immer neu hervorgehen«94, ist sie gekennzeichnet als formale und als »Funda­ mental-Anthropologie«. So der Titel jener Sammlung verschiedener Texte Landmanns, in deren Vorwort er sein Vorhaben im Zusammen­ hang seiner zentralen These skizziert: Worum ich mich bemühe, das ist eine Kultur- und Geschichtsanthro­ pologie, wie sie von Erich Rothacker inauguriert und von Arnold Gehlen weitergebildet wurde. Der Mensch ist Partner des objektiven Geistes. Sein Geheimnis besteht in der Rückgeprägtheit durch sein eigenes creatum. […] »Fundamental« will diese Anthropologie sein in Abgrenzung gegen medizinische, theologische, psychologische, päd­ agogische, politische Anthropologie.95

Hier wird der doppelte Anspruch deutlich, den Menschen von seinen kreativen Produkten her als Schöpfer derselben und zugleich diese von ihm als kreativem Ursprungsort aus in ihrer Geschichtlichkeit und Pluralität zu verstehen sowie in ihrer Kraft, ihn rückwirkend zu prägen. Außerdem wird hier nochmals deutlich, dass Landmanns Kulturanthropologie, indem sie sich von Eigenschaftsanthropologien abgrenzt, diese nicht etwa gänzlich disqualifiziert, sondern integrie­ rend zusammenzudenken versucht und sich damit eine einheitliche Problemstellung und Zugangsweise auf den Menschen nicht nehmen lässt, die dann jedoch gleichsam nur formal sein kann. Kreativität und Kulturalität (Rückgeprägtheit) des Menschen sind für Landmann glei­ chermaßen die »Fundamental-Anthropina«, d.h. die elementarsten Strukturen des Menschseins, von denen »alle anderen nur Spezifika­ Für den Bereich der Philosophie bzw. Anthropologie beantwortet Matthias Wunsch sie folgendermaßen: »Ist die Anthropologie des objektiven Geistes tatsächlich die Anthropologie der Zukunft geworden? Meine kurze Antwort lautet: Nein, aber in jüngerer Zeit verstärkt sich ihr Zukunftspotential wieder. Man sollte hinzusetzen, dass dabei allerdings nicht an den Terminus ›objektiver Geist‹ angeknüpft wird.« (Wunsch, M.: Zur philosophischen Aktualität des »objektiven Geistes«. Michael Landmann, Michael Tomasello und John Searle. In: Bohr, Jörn; Wunsch, Matthias (Hg.): Kultur­ anthropologie als Philosophie des Schöpferischen. Michael Landmann im Kontext. Nordhausen: Bautz 2015 [im Folgenden: Zur philosophischen Aktualität des »objek­ tiven Geistes«], S. 68). 94 Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 272. 95 Landmann: Fundamental-Anthropologie. 2., erw. Aufl. Bonn: Bouvier 1984, S. 11 (im Folgenden: FA).

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1.3 Kulturanthropologie als »Anthropologie der Zukunft«?

tionen oder abkünftig« sind.96 Auf sie stößt man, wenn man von den mannigfaltig gegebenen Weisen des Menschseins zu deren grundle­ gendsten Möglichkeitsbedingungen zurückfragt. »Das Schöpfertum des Menschen wird gegenbalanciert durch seine Modellierbarkeit: auf diese beiden Pfeiler ist er gleichermaßen gebaut. […] Wir sind die Produkte unseres Produkts.«97 Das Bild des auf zwei Pfeilern gebauten Menschen ist nicht nur insofern irreführend, als es einen dahinterstehenden Baumeister und seinen Plan suggerieren könnte, sondern auch, da die anvisierte Einheit des Menschen hier wieder aufgespalten ist. Indes will Landmann umgekehrt genau vermeiden, den Menschen aus einem Prinzip heraus zu verstehen, was bedeuten würde, ihn darauf zu reduzieren. Und zwar liegt, wie an dieser Stelle nur angedeutet werden kann, die Reduktion im Monismus als solchem. Aus diesem Grund ist das, was Landmann an den Anfang stellt, die Unbestimmtheit des Menschen resp. seine Unspezialisiert­ heit: »Wir nennen diese Unspezialisiertheit die anthropine Lücke. In gewisser Weise bildet sie die transzendentale Grundlage aller Anthro­ pina.«98 Dass es Landmann mit der metaphorischen Figur einer »anthropinen Lücke« nicht um ein realistisches Bild geht, sondern um eine Fassung des anthropologischen Grundgedankens, auf den das transzendentale Zurückfragen vom menschlichen Schöpfertum im Plural aus notwendig stößt, wird an folgender Stelle deutlich: Wegen des Schöpfertums ist die »anthropine Lücke« keine Lücke im eigentlichen, im negativen Sinn. Als solche imponiert sie nur, solange man den Menschen oberflächlich mit dem Tier vergleicht. Von der menschlichen Mitte her gesehen bildet sie vielmehr das notwendige Korrelat des Schöpfertums. Nicht füllt (naturalistisch) das Schöpfer­ tum eine primäre Lücke, sondern (sinnlogisch) muß die Lücke sein, weil Schöpfertum ist.99

Landmann stellt die »anthropine Lücke« an einen zwar fiktiven, aber denknotwendigen Anfang, weil anders die Perspektive auf den Men­ schen nicht offen gehalten werden, anders ein falscher Natur-KulturDualismus nicht verhindert werden kann. »Nur wenn wir dieses Als ob zugrundelegen, gelingt es, die Zwei-Stockwerk-Anthropologie noch Schelers des ›Tiers das Geist hat‹ zu überwinden zugunsten 96 97 98 99

Landmann: FA, S. 157. Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 272. Landmann: FA, S. 153. Ebd., S. 77.

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1. Michael Landmanns geistige Quellen

einer Einheitstheorie, die Geist und Kultur in Wechselbedingtheit schon in der Natur des Menschen verankert.«100 Wenn Landmann schreibt, die Kreativität des Menschen sei die Formalität der Philoso­ phischen Anthropologie101, so ist dies keine unscharfe Formulierung, sondern ein Hinweis darauf, dass er das Schöpfertum des Menschen so formal, und das heißt auch: so ernst wie nur möglich nimmt. Dahinter steht die Annahme, dass wir den Menschen dann am tiefsten und umfassendsten in den Blick bekommen, wenn wir ihn als das kreative Wesen betrachten, d.h. als das formende Wesen. Inwiefern Landmann dem gerecht wird, kann wenn überhaupt nur durch die konkrete Analyse seiner Schriften geklärt werden. Dass er mindestens beanspruchte, sich mit dem hohen Formalisierungsgrad seiner Anthropologie nicht in einen (erkenntnistheoretisch verkürz­ ten) Transzendentalismus und damit wieder einen Natur-Geist-Dua­ lismus zu verirren, wird an folgender Stelle deutlich. Unser Erkennen, aber auch unser Fühlen, Wollen und Handeln voll­ zieht sich in den Formen des objektiven Geistes. Sie sind in Wahrheit die transzendentale Grundschicht, durch die hindurch und in deren Färbung wir erleben und leben. Dieses Transzendentale aber ist kein außerzeitliches mehr. Das Absolute unterliegt der Geschichtlichkeit.102

Hier ist nicht nur von einer transzendentalen Grundschicht die Rede, sondern vom Fühlen, Wollen und Handeln, vom Leben und Erle­ ben. Insofern Landmanns Kulturanthropologie den Menschen, wenn­ gleich sie ihn denkt, so doch im Denken an seine Lebensgrundlagen rückbindet, versteht sie sich zugleich als Kritik an jenen Ansätzen, die diese möglicherweise sehen, jedoch auf bestimmte Aspekte (wie Libido oder Arbeit) reduzieren. Von diesen nicht immer als solche Landmann: PA, S. 152. Vgl. Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 272. 102 Ebd., S. 273. Wenn Landmann dagegen von der »Idee des Menschen« (Anthro­ pologie des Individuums – Originalität und Modellierbarkeit des Menschen. In: Inte­ gritas. Geistige Wandlung und menschliche Wirklichkeit. Hg. v. D. Stolte u. R. Wisser. Tübingen: Wunderlich Vlg. H. Leins 1966, S. 164 [im Folgenden: Anthropologie des Individuums]) oder vom anthropologischen Kulturbegriff als einer Idee spricht (vgl. Kulturphilosophie. In: Die Philosophie im XX. Jahrhundert. Eine enzyklopädische Darstellung ihrer Geschichte, Disziplinen und Aufgaben. 2. durchges. u. erw. Aufl. Hg. v. Fritz Heinemann. Stuttgart: Klett 1963, S. 553 [im Folgenden: Kulturphiloso­ phie]), so deutet dies auf sein transzendental-anthropologisches Ansinnen hin, was die Frage einschließt, ob damit schon ein erkenntnisanthropologischer Reduktionis­ mus am Werke ist. 100

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1.3 Kulturanthropologie als »Anthropologie der Zukunft«?

kenntlichen Reduktionismen grenzt sich Landmann ab – und wurde zugleich, wenn auch vorgeblich im Namen der Offenheit (oder gar der Humanität), genau aus ihrer Richtung kritisiert. Das über Anthropo­ logie oft ausgesprochene Verdikt, reduktionistisch zu sein, dürfte doch v.a. damit zusammenhängen, dass sie eine ganzheitliche Perspektive auf den Menschen ausdrücklich zugibt, die in anderen Ansätzen, die sich nicht Anthropologie nennen, uneingestanden wirksam ist. Sofern Landmanns Kultur-Anthropologie – seinerzeit wie heute – expliziert, was in sich bescheidener darstellenden und ihre wenig selbstverständlichen Vorstellungen vom Menschen unter symbolisch starken Deckmänteln wie der Kritik oder Komplexität versteckenden Ansätzen implizit bleibt, ist sie allerdings die Anthropologie der Zukunft resp. unserer Zeit.103 Als solche stellt sie den Versuch dar, sowohl die antike Geringschätzung des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen als auch die quasi atomistische Auflösung der Indivi­ dualitäten in kleinste Bestandteile zu überwinden und stattdessen das historisch-kulturell Besondere immer auch zum Anlass einer all­ gemein-anthropologischen Problemstellung und als deren versuchs­ weise Lösung zu nehmen – unter der kühnen Prämisse, dass nur auf diese Weise seine Eigenheit überhaupt erleb- und denkbar sei.

103 Einen indirekten Hinweis auf die lebens- und denkpragmatisch bedingte Unwahr­ scheinlichkeit der kulturanthropologischen Perspektive, die sich historisch erst spät und nur unter speziellen Voraussetzungen ›etablierte‹, finden wir bei Christian Grawe: »Bedenkt man mit H. Wein, ›wie erschütternd jung die Basis für eine K. ist […]‹, dann wird man ihre Auswirkungen in der Philosophie und Kulturwissenschaft erst in der Zukunft erwarten dürfen« (Grawe: Kulturanthropologie [Lemma]. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 4: I–K. Basel/Stuttgart: Schwabe & Co. 1976, S. 1327; Herv. F.S.).

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2. Methodischer Rahmen der Arbeit

2.1 Hermeneutik methodischer Verarbeitung Dass dem zu Denkenden durch den Akt des Denkens bereits Zen­ tralstes abgetragen bzw. Verfälschendes zugetragen wird, ist dabei nicht etwa verdeckt, sondern wird gerade in einer Kulturanthropologie als unhintergehbar an- und ernstgenommen. Dies zumindest dann, wenn wie bei Landmann das menschliche Denken selbst als äußerst wandelbare Kulturdomäne in Betracht kommt, deren Formenvielfalt sich wiederum nur einer anthropologiegeschichtlich vergleichenden Perspektive erschließt.104 Ernst Blochs Frage »Ändert sich der Gegen­ stand dadurch, daß unser Erkennen ihn auffängt und neu reproduziert, merkt die Welt etwas von der Durchreise des Philosophen«?105 ist mit Landmann durchaus mit Ja zu beantworten. Nicht nur ist und bleibt das Denken auf seinen Lebensgrund bezogen, es teilt sich diesem auch wieder mit und wird an ihm verändernd wirksam. Das Ineinanderwirken von Geist und Leben zeigt sich besonders deutlich, wenn man einen Denker (bzw. einen Autor) in der Breite und Vielschichtigkeit seiner Schriften kennenlernt. Sogleich stellt sich die Frage, wie mit ihrer Heterogenität umzugehen sei – zumindest dann, wenn die Darstellung mehr sein soll als eine summarische Aneinan­ derreihung einzelner Aussagen oder eine kritische Aufführung ihrer Widersprüche und Inkonsequenzen. Allein um solche Widersprüche und (zunächst) befremdliche Überlegungen auf ihren systematischen Gehalt hin überprüfen zu können, bedarf es der wohlwollenden Lektüre wie auch einer Methode, die für solche weitläufigen Interpre­ tationen offen ist. Um Landmann nachvollziehen und gleichzeitig Hier ist neben Landmanns Philosophischer Anthropologie das zusammen mit Mitarbeiter/innen verfasste und herausgegebene Buch De homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens zu nennen (De homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens. Unter Mitarbeit von G. Diem, P. L. Lehmann, P. Chr. Ludz, E. Tielsch u.a. Freiburg/München: Karl Alber 1962 [im Folgenden: Dh] zu nennen. 105 Landmann: Ernst Bloch im Gespräch. In: Neue Deutsche Hefte. Sonderdruck. 113/14. Jg./Heft 1 1967, S. 54 [im Folgenden: Ernst Bloch im Gespräch (1967)]. 104

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2.1 Hermeneutik methodischer Verarbeitung

weiterdenken zu können, folgt die vorliegende Arbeit einem Zugang, der das ›hermeneutische Mittel methodischer Verarbeitung‹ genannt werden könnte. Konkret bedeutet dies, dass in der Begriffsanalyse drei Dimensionen unterschieden werden, die in Landmanns Texten simul­ tan oder durcheinandergehend auftauchen, ohne dass dies kenntlich gemacht oder auch nur leicht zu erkennen wäre. Mit der Berücksichtigung möglichst vieler Schriften Landmanns aus dem Zeitraum von 1939 bis 1984 stellt sich die Arbeit der von Bollnow in seinem Text Was heißt, einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selber verstanden hat? formulierten Aufgabe, nicht nur das Vollkommene, sondern auch das Unvollkommene zu verstehen, d.h. sich nicht nur auf das zu beschränken, wo die Sicherheit des Verstehens durch die Natur des Gegenstands gewährleistet ist, sondern sich zugleich in den Umkreis des Unsicheren hinauszuwagen, und auch das zu erfassen zu versuchen, was in einem Werk gemeint und gewollt ist, auch wenn dieses nicht zu seinem vollen Ausdruck gekommen ist.106

Es ist weder möglich noch zielführend, Landmanns ganzes Werk immerzu im Blick zu haben. Auch ist das Ziel nicht eine umfassende Gesamtschau seines Verlaufes. Vielmehr führt das Lesen von Land­ manns Texten als solches für mich folgende Beobachtungen und Erfahrungen mit sich, die eine umfassende Werkberücksichtigung als systematisch fruchtbares Vorhaben in Aussicht stellen: erstens, dass sich anthropologische Thesen und zentrale Begriffe bei Landmann oft in thematisch konkreteren Texten finden lassen, wo man sie sonst wohl eher nicht vermutet hätte; zweitens Verschiebungen von Begriffsbedeutungen, wobei die spätere Begriffsverwendung auf die frühere mitunter ein klärendes Licht wirft; drittens, dass im verän­ derten Sachzusammenhang eines Textes etwas gesagt wird (bzw. gesagt werden kann), was an anderer Stelle nicht gesagt worden ist. Mit diesen Annahmen lässt sich das Wagnis einer unsicheren Deutung eingehen, die Behauptungen darüber zulässt, was der Autor »hat sagen wollen«.107 Widersprüche im Werk sind solchem Verste­ henwollen nicht hinderlich, sondern im Gegenteil Aufweis jener 106 Bollnow, Otto Friedrich: Was heißt, einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selber verstanden hat? In: Deutsche Vierteljahresschrift, 18. Jg. 1940, Heft 2, S. 128 [im Folgenden: Einen Schriftsteller besser verstehen]. 107 Ebd.; vgl. dort Anm. 14: »Sowie es Martin Heidegger, ›Kant und das Problem der Metaphysik‹, Bonn 1929, S. 193, ausdrücklich formuliert hat«.

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2. Methodischer Rahmen der Arbeit

Unbündigkeit, ohne die nach Bollnow ein Besser-Verstehen nicht möglich ist. Nur »wo vom Werk selbst her ein Spielraum offen gelassen ist« – und dort aber folgerichtig – lassen sich »kleinere Widersprüche und Nachlässigkeiten aus[schalten], die einzelnen Stellen anhaften, die aber aus dem Ganzen des Werks zu beantworten sind.«108 Wo deren Integration nicht möglich ist, bieten sie – je nach Fall – Anstöße für eine alternative Deutung oder müssen als unschließbare Interpretationslücken stehen bleiben und ausgehalten werden. Das Risiko der Komplexitätssteigerung oder gar Verwirrung ist in Kauf zu nehmen nicht nur, um eine der Sache (hier dem Werk eines Autors) in ihrer Gesamtheit angemessene Deutung geben zu können, sondern auch und vor allem unter der Annahme, dass dort, wo Risiko aufkeimt, auch die Chance erwächst. Selbst wenn diese zunächst nur darin besteht, jene vorzuziehende Art einer umfassenden und gleichzeitig tiefergehenden Würdigung des Autors zu ermöglichen. Mit der Unterscheidung dreier Dimensionen versteht sich die Arbeit auch als Vorschlag, wie man Landmanns Texte zugleich inter­ pretierend und kritisch lesen kann. Um Landmann verstehen und weiterdenken zu können – d.h. um eine sinnvolle Deutung zu gewin­ nen von dem, was er schreibt und um mit ihm Fragen zu stellen, die auch heute noch und mitunter heute aktueller denn je sind –, reichen die üblichen logischen Kriterien (Widerspruchsfreiheit, logische Kon­ sistenz, Konsequenz der Begriffsverwendungen, nachvollziehbarer Gedankengang) allein nicht aus. Unter der Annahme, dass der zu lesende Text selbst immer bereits thetisch und kritisch veranlagt ist, wird auch der Text über den Text beides enthalten müssen und im besten Fall unterscheiden können. Das bedeutet keineswegs, dass die Widersprüche in Landmanns Denken irrelevant bzw. zu vernachlässi­

108 Bollnow: Einen Schriftsteller besser verstehen, S. 128. Wie offen Landmanns Texte auch in ihrer Form sind, wird schon daran deutlich, dass die überwiegend meisten Texte Aufsätze und Essais sind, die er dann gesammelt in Buchform veröffentlichte. Es ist bemerkenswert, dass Landmann seine Philosophie des Eros, an der er zuletzt arbeitete, ohne sie zu vollenden, gegenüber Klaus Christian Köhnke als »seine[] zweite[] Buchidee überhaupt« bezeichnete (Köhnke: Simmel ohne Landmann?, S. 264). – Auffällig ist auch, dass Landmanns Texte nicht selten relativ abrupt aufzu­ hören scheinen – eine sehr befremdliche Leseerfahrung, die quer steht zu der eine Gestaltschließung erwartenden und auf sie hin konditionierten Lesehaltung, die jedoch zugleich wie ein versteckter Hinweis darauf wirkt, dass die Arbeit hier weiter­ gehen müsste und zu keinem Ende zu bringen ist.

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2.1 Hermeneutik methodischer Verarbeitung

gen wären.109 Sie werden auch in der vorliegenden Arbeit benannt und problematisiert, jedoch gleichfalls zum Anlass genommen, produktiv weiter zu fragen, auf welche bedingende Problematik sie verweisen. Nur über das versuchsweise Auseinanderhalten der Dimensionen kann überhaupt deutlich werden, inwiefern die These (als Aussage 1 über den Gegenstand x) und die Kritik (als Aussage 2 über Aussage 1 vor dem Hintergrund des Gegenstandes x, der dann schon nicht mehr x ist) sich gegenseitig den jeweiligen kategorialen Bezugsrahmen geben.110 Die These gibt bereits den Möglichkeitshorizont für zumin­ dest diejenige Kritik ab, die sich noch auf sie beziehen zu können beansprucht. Umgekehrt impliziert die Kritik bereits ein kategoriales Netz an Bedeutungen und Ordnungsmöglichkeiten.111 Wenn das Ziel wie in dieser Arbeit darin besteht, das nicht verwirklichte (d.h. nicht systematisch umgesetzte) Potenzial von Landmanns Kulturanthropo­ logie kenntlich zu machen und in Ansätzen zu entwickeln, so lassen sich die methodischen Werkzeuge dafür allein in den zugrundeliegen­ den Schriften selbst finden. Der hier durchgeführten Systematik sind dabei zum einen prag­ matische Grenzen gesetzt: es ist unmöglich, im Rahmen dieser Arbeit sämtliche Begriffsverschiebungen im Gesamtwerk eines Denkers, selbst wenn man alle entdeckte, aufzuführen. Sie beschränkt sich auf die auffälligen und thematisch zentralen Verschiebungen. Eine weitere und wichtigere Grenze ist der Methode vom Material selbst her gesetzt: nicht auf jeden Text und nicht auf jeden Begriff passt die Systematik wie ein Kleidungsstück. Oft wird sie zu weit sein und noch öfter zu eng. Mitunter werden allergische Reaktionen auftreten oder wo Stoff sein soll, liegt bereits ein nicht abziehbares Fell an. In der doppelten Hoffnung, dass der Gegenstand die Kleider flieht, wo er sie nicht verträgt und dass auch die Inkompatibilität noch Aufschlussrei­ ches verraten möge – die Kleidung, die nicht passt, ›offenbart‹ den Körper umso mehr – steht das Schneiderwerk des Begriffsarbeiters. 109 Vgl. Duschka, Johannes: Anthropologie und Normativität. Kritische Überlegun­ gen zu Michael Landmanns These vom Ende des Individuums. In: J. Bohr, M. Wunsch (Hg.): Kulturanthropologie als Philosophie des Schöpferischen. Michael Landmann im Kontext. Nordhausen: Bautz 2015 [im Folgenden: Anthropologie und Normativi­ tät], S. 168. 110 Die Erkenntnisheuristik der vorliegenden Arbeit folgt einer phänomenologisch›gestaltsichtigen‹ Simultanperspektive und behandelt die Frage nach Entwicklungen bestimmter Ideen und Bedeutungen nur am Rande. 111 Vgl. dazu Landmann: WiP, S. 16 f.

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2. Methodischer Rahmen der Arbeit

2.2 Landmanns Denkstil Wenigstens drei für Landmanns Denken bzw. Schreiben typische Zugänge sollen hier kurz als Hintergrund der darauffolgenden Skiz­ zierung der drei Dimensionen aufgeführt werden. Position und Gegenposition: An vielen Stellen arbeitet Landmann klassisch dialektisch, indem er eine Position und direkt im Anschluss die Gegenposition einnimmt, wobei er sie oft auch – hier dann ganz und gar nicht mehr dialektsich – entsprechend verdichtet und überspitzt wiedergibt, um ihre Umrisse scharf und damit auch das zugrundeliegende Phänomen kenntlich zu machen. Dass er sich dessen bewusst ist und es auch artikuliert, wird an folgender sehr sokratisch anmutenden Stelle deutlich, wenn er – nachdem er am Beispiel der Assoziation erläutert, inwiefern das Spontane von dem, was es zu überwinden sucht (im Beispiel: die Leitidee), nicht nur ermöglicht und getragen, sondern inhaltlich inspiriert und positiv bereichert ist – schreibt: Solche Überlegungen sind geeignet, an unserem eigenen bisherigen Vorgehen eine Korrektur anzubringen. Wir gingen aus von Fällen, in denen Spontaneität und Tradition Gegensätze sind, und das mag notwendig gewesen sein, weil hier das Phänomen der Spontaneität am reinsten und daher am faßlichsten hervortritt.112

Die bipolar-antithetische Struktur scheint typisch und deutet sich in vielen Buch- und Texttiteln an.113 Sie erschwert das Lesen der Texte zum einen, weil nicht immer klar ist, wo Landmann referiert und wo er seine eigene Ansicht zum Ausdruck bringt. Andererseits ermöglicht sie dem Leser, Landmann bei einem Denken zuzusehen, Landmann: Aufstand der Spontaneität. In: Standorte im Zeitstrom. Festschrift für Arnold Gehlen zum 70. Geburtstag am 29. Januar 1974. Hg. v. Ernst Forsthoff u. Reinhard Hörstel. Frankfurt/M.: Athenäum Verlag 1974, S. 191 [im Folgenden: Auf­ stand der Spontaneität]. 113 Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, Erkenntnis und Erlebnis, Plu­ ralität und Antinomie, Ursprungsbild und Schöpfertat, Geist und Leben, Originalität und Modellierbarkeit des Menschen, Aufstieg und Niedergang des Individuums, Der Mensch als Herr und Opfer der Geschichte, der Mensch als Evolutionsglied und Eigentypus, Die Kunst als Rückzugsgebiet und Angriffsspitze, Innovation und das gute Bestehende, Tradition und Innovation – Anthropologie des Bewahrens und Erneuerns. Dass Landmann weit davon entfernt ist, die Dialektik einseitig aufzulösen bzw. die Antinomie einseitig zu bewerten, deutet sich in dem kleinen Verbindungswort und an – statt entweder/oder. 112

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2.2 Landmanns Denkstil

das nicht bereits bzw. nicht allein Wiedergabe von Denkresultaten, sondern ebenso Darstellung des zugrundeliegenden Prozesses ist. Es ist typisch für Landmann, dass er zwischen Positionen vermittelt und ausgleicht – und manchmal wirkt es, als spitze er die Positionen zu, um überhaupt etwas zu haben, das auszugleichen ist. Wir werden sehen, dass dieser Denkstil in auffälligem Zusammenhang mit seiner Anthropologie steht und sich – v.a. in seiner Befremdlichkeit – jenseits von ihr nicht verstehen lässt. Nicht immer löst Landmann die Antithetik in einer Synthese auf; mitunter entwickelt er sie historisch und schließt mit einer versöhnli­ chen Betrachtung, in der These und Antithese (gleichermaßen) gelten gelassen werden. Auch dies wird bereits in der Kapitelstruktur der Texte, in einem an Hegel erinnernden Dreischritt deutlich.114 Historik und Systematik: Im quasi simultanen Geltenlassen der historisch entwickelten Ideen bzw. der von ihnen zu fassenden Phä­ nomene zeigt sich der Grundzug von Landmanns historisch und systematisch angelegten Denken. Eine historisch-dialektische wie auch eine atomistisch-antinomische Verengung der Perspektive ist ihm im Grunde fremd, wenngleich sie im Einzelnen unvermeidlich ist. Insofern veranschaulicht das folgende von Landmann für kulturellen Wandel gewählte Bild auch seinen eigenen Denkstil und bringt zudem jenes Pathos für ein historisches Weltbild zum Ausdruck, von dem er zweifelsohne ergriffen war: »Erst im kulturellen Wandel kommt – wie bei einem sich drehenden Scheinwerfer in der Nacht jede Gegend des Himmels – jede verwirklichungswürdige Möglichkeit einmal in den Blick, kommt für jede einmal die Zeit ihrer Geburt.«115 Dass sich im Konkreten (im einzelnen Phänomen) etwas All­ gemeineres (etwas über dieses Phänomen Hinausweisendes) zeigt, ist Grundprämisse in Landmanns philosophischem Zugang auf die Welt und den Menschen und zugleich ein Gedanke, der ihn, auf den Menschen übertragen, wohl wie kein anderer geprägt hat: »denn in einem meiner ersten Semester, vielleicht noch in der Schulzeit, fiel Zwei Beispiele seien genannt: Geburt der Gattungen – Sieg über die Gattungen – Nach dem Sieg (Die Unzerstörbarkeit der Form) (in: DaD, S. 145–178); Das Unsicht­ bare – Die Emanzipation des Sichtbaren – Das bleibende Recht des Unsichtbaren (vgl. Landmann: Sichtbares und Unsichtbares im Wechselspiel. In: Bilderflut und Bildver­ lust. Für eine Kultur des Schauens. Herderbücherei Initiative 46. Hrsg. v. G.-Kl. Kal­ tenbrunner. Freiburg u.a.: Herder 1982, S. 36–54 [im Folgenden: Sichtbares und Unsichtbares im Wechselspiel]). 115 Landmann: MSGK, S. 74. 114

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2. Methodischer Rahmen der Arbeit

mir, ich weiß heute noch nicht wie, folgender Satz vom Himmel: Der Mensch ist ein Durchgangspunkt für Objektives. All mein seit­ heriges Denken ist im Grunde nur Ausführung dieses Satzes.«116 Dieser Satz ist bezeichnend insofern, als darin bereits ein Doppeltes ausgedrückt ist: Die ›nach vorne hin‹ ersonnenen und kreierten Pro­ dukte menschlicher Schöpfertätigkeit sind bereits rückgehalten und inspiriert von dem Schaffenssubjekt vorbestehenden Formen, die sich aber ihrerseits ihren Weg einzig durch ihn (und seine ›Schaffensge­ genwart‹) hindurch schlagen können, damit aber an ihm noch einmal produktiv, durch ihn noch einmal produziert, d.h. neu- und umge­ schaffen werden. Vor allem dieser Doppelaspekt dürfte Landmanns nicht abreißendes Interesse am Menschen als einem Kulturwesen motiviert haben, das er entsprechend in einem doppelten, historischsystematischen Zugang verfolgte. An dieser Stelle sei wenigstens erwähnt, dass Landmann selbst auf die hebräischen Wurzeln dieser doppelten Zugangsweise hingewiesen hat, wenn er schreibt, es sei »immer althebräisches Stilprinzip, das Generelle im Einzelhaften zu zeigen.«117 Diese Äußerung entstammt jenem Buch, in dem Land­ mann den hebräischen mit dem griechischen Denkstil vergleicht, wobei er sich durchaus zu ihrer scharfen Kontrastierung verleiten lässt: »Der Philosoph, der formale Strukturen sucht, bleibt immer Grieche, der Historiker, der im irdischen Geschehen die Weisheit findet, ist immer Hebräer.«118 Dass Landmann sich selbst stets in einer doppelten Erbschaft gesehen und diese als Geschenk empfunden hat, mag der geheime Grund dafür sein, warum er Kontraste und Widersprüche so scharf stehen lassen konnte. In sich hat er sie, indem er von sich als ihrem Nachfolger wusste, immer bereits versöhnt. »Die höchste Schicksalsgunst des Nachgeborenen ist es daher, aus doppelter Wurzel zu atmen, Grieche und Hebräer in einem und ein Gespräch zwischen ihnen zu sein.«119 Erklären, Begreifen, Verstehen: Neben diesem Gespräch zweier Denktypen findet ein weiteres zwischen der Methode des Erklärens und der des Verstehens statt. Auch hier schlägt Landmann entgegen 116 Landmann: Ernst Bloch über Simmel. In: Ästhetik und Soziologie um die Jahr­ hundertwende. Georg Simmel. Hrsg. v. H. Böhringer u. K. Gründer. Frankfurt/M.: Klostermann 1976, S. 270. Ähnlich schreibt Landmann vom Menschen als dem »Ort des objektiven Geistes« (FA, S. 103). 117 Landmann: UuS, S. 284. 118 Ebd., S. 300. 119 Ebd., S. 222.

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2.2 Landmanns Denkstil

Diltheys Zuordnung des Erklärens zu den Natur- und des Verstehens zu den Geisteswissenschaften in Anschluss an Erich Rothacker vor, beide Methoden, die dieser noch um die des Begreifens ergänzt, in den Geisteswissenschaften zusammenwirken zu lassen: »Das Erklären geht auf die Ursache, das Begreifen auf eine allgemeine Typik zurück; das Verstehen geht nicht ›zurück‹, sondern will seinen Gegenstand ›aus sich selbst‹ denken, ihm in seiner unableitbaren Einmaligkeit gerecht werden.«120 Vor dem Hintergrund dieser Dreiteilung, die als methodische Stufung bzw. Verfeinerung der Perspektive zum Individuellen hin sehr plausibel ist, wird Landmanns grobe Typik des hebräischen und des griechischen Denkstils als erste (und vorläufige) Begreifung verständlich und nachvollziehbar, ohne dass man dabei stehenbleiben dürfte, wenn man ein Individuelles (und eben nicht nur ein Typisches) verstehen möchte. Es wird in der Arbeit zu zeigen sein, inwiefern dieser dritte Zugang des Begreifens bei Landmann zentral ist, wenn er sich an verschiedenen Stellen für eine typologische Betrachtungsweise ausspricht. Dass er diese selbst nicht systematisch entwickelt hat, soll uns nicht dazu verleiten, wieder auf eine dualistische Methodik zurückzufallen. Gerade dort, wo Landmann – schon der Einfachheit eines bipolaren Kontrastes wegen – nur zwei Stile unterscheidet, muss uns der Blick dafür geschärft werden, ob hier Begreifen und Verstehen nicht unberechtigterweise ineinander gehen. Etwa an folgender Stelle, wenn der zunächst typologisch-begreifende Zugang am Ende doch in der verstehenden Begegnung mit der Individualität mündet: »Diesem [kausalen bzw. genetischen, Anm. F.S.] Vorgehen steht ein anderer Erkenntnistypus gegenüber. Er faßt das Gegebene selbst schärfer und umfänglicher ins Auge, unterscheidet in ihm Element und Struktur, Umriß und Gehalt, vergleicht es mit Verwandtem und Fremdem, begegnet ihm in seiner Individualität.«121 Zu wenig selbstverständlich scheint Landmann zufolge das Verstehen als gleichberechtigter Inter­ pretationsstil der Geisteswissenschaften anerkannt zu sein, als dass er hier eine Lanze für das Verstehen und eine für das Begreifen hätte brechen wollen. Dem schweren Geschütz des Erklärens schien das Verstehen nur etwas entgegensetzen zu können, indem es allein, ohne 120 Landmann: Dialektik der Entlarvung. Demaskierung und Decodierung In: Macht der Masken. Des Menschen Lust an Theater und Verwandlung. Herderbücherei Ini­ tiative 48. Hg. v. G.-Kl. Kaltenbrunner. Freiburg u.a.: Herder 1982, S. 158 [im Fol­ genden: Dialektik der Entlarvung]. 121 Landmann: Sichtbares und Unsichtbares im Wechselspiel, S. 45.

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2. Methodischer Rahmen der Arbeit

den Blick für Übergangsbereiche zwischen vermeintlich deutlichen Fronten oder gar externe Mitspieler in die Arena tritt. Und auch Harmonie stellt sich allzu leicht und gern als Zusammenspiel zweier Partner vor: Die Taktik des Zweifels, der Kampf gegen die Masken darf keinen Universalanspruch erheben. Diese Grundtendenz wird komplementär ergänzt durch die sinnverstehende Hermeneutik, und beide Interpre­ tationsstile stehen nicht nur nebeneinander, sondern verschränken sich wechselseitig.122

Das von Landmann erwartungsfroh begrüßte Gespräch »zwischen ›Hermeneutik und Ideologiekritik‹, vertrauendem Verstehen und befreiender Geltungsdestruktion«123 dürfte nicht nur interessanter, sondern auch aufschlussreicher werden und an Tiefe gewinnen, wenn es zum Trialog erweitert wird.

2.3 Dimensionen der Untersuchung Dass Landmann selbst sich mehrerer Erkenntnis- bzw. Interpre­ tationsstile gleichzeitig bedient, wird in der vorliegenden Arbeit umgesetzt als Unterscheidung dreier Dimensionen, die sich in sei­ nen Schriften finden lassen. Von Dimensionen ist die Rede, weil es sich nicht allein um unterschiedliche methodische Zugriffe auf ein Phänomen oder ein Problem handelt, sondern damit auch je eigene Bedeutungsmöglichkeiten einhergehen. Das Phänomen oder Problem selbst ist ein anderes, je nachdem, ob es anthropologisch konstruktiv, historisch-kritisch oder erkenntnisphänomenologisch in Betracht kommt, d.h. je nachdem, welches Erkenntnisbemühen gerade wirksam ist. Auf diese Weise wird, was im Denken und Erkennenwollen andernfalls verwischt oder zu schnell ineinander übergeht, auseinanderzuhalten versucht, damit kenntlich bleibt, »wie vielgestaltig und unter sich heterogen die Erkenntnisbestrebungen in Wirklichkeit sind.«124 Und nicht nur beim Wissensverlangen, son­ dern auch beim zugrundeliegenden Nichtwissen lassen sich nach Landmann verschiedene Formen unterscheiden, die auch die jeweilige 122 123 124

Landmann: Dialektik der Entlarvung, S. 159. Ebd., S. 158. Landmann: P, S. 44.

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2.3 Dimensionen der Untersuchung

Erkenntnistätigkeit vorprägen, was sich durch die Unterscheidung der drei Erkenntnisdimensionen in dieser Arbeit aufzeigen lässt. Je nach der verschiedenen Charakterisiertheit des zugrunde liegenden Nichtwissens sind daher auch die Geistestätigkeiten, die durch es ausgelöst werden und durch die das Wissen herbeigeführt werden soll, ebenfalls verschieden charakterisiert. Es ist etwas anderes, ob man einen Zweifel behebt oder ein Problem löst, eine Frage klärt oder eine Aufgabe meistert.125

Es ergibt einen nicht zu vernachlässigenden Unterschied, ob die Erkenntnis konstruktiv-progressiv vorgeht, kritisch-dekonstruktiv zurückgeht oder erkenntnisphänomenologisch sich selbst auf den Grund geht. Eine weitere Unterscheidung ergibt sich je nach Distanz zum Erkenntnisgegenstand, die wiederum je nachdem variiert, ob ein Teil isoliert oder im Rahmen einer Ganzheit (bzw. die verschiedene Teile umschließende Ganzheit selbst) betrachtet wird.126 Dass sich Erkenntnis dabei nicht isoliert von ihrem Lebensgrund vollzieht, sondern auf diesen bezogen bleibt und, hier noch wichtiger, bereits von einer impliziten Anthropologie und Ontologie getragen ist, lässt Landmann nicht unerwähnt und kann m.E. sinnvoll gedeutet werden als Versuch, die Anthropologie als der Erkenntnistheorie vorgängig herauszustellen. Von der Oberfläche zum Eigentlichen, vom Teil zum Ganzen, vom zufällig Einzelnen zu Allgemeinheit, Wesen, Muster und Prinzip, vom Nachträglichen zum Ursprung, vom in seinem Sosein Hingenomme­ nen zur Frage nach Sinn und Ziel, von den Gegenständen zum sie präsentierenden und formenden Bewußtsein, von den Seinsproblemen zu den Wahrheitsproblemen – es sind immer andere und doch ver­ wandte Bewegungen, ist eine einzige sich nur abwandelnde Bewegung. Sie wird durch die Struktur der Welt, die in diese Zweiheiten zerfällt, und durch das Gestelltsein des um ihre tiefere Erfassung bemühten Menschen in sie, notwendig gemacht. An dieser Notwendigkeit zer­ schellen alle Überflüssigerklärungen der Philosophie, aus welchem Lager sie auch kommen mögen.127

Landmann geht vom nicht-wissenden und wissen-wollenden Men­ schen in einem, d.h. von ihren vielfältigen Verschränkungen, aus. 125 126 127

Landmann: P, S. 43. Vgl. Landmann: WiP, S. 109. Ebd., S. 118.

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Nicht nur hier, sondern auch in der Annahme eines der Erkenntnis­ bewegung vorgängigen Wissensbesitzes knüpft er an Platon an, begründet sie jedoch anders als dieser, dessen Anamnesis-Theorem im Kontext seiner Ideenlehre steht, transzendental-anthropologisch: Der Mensch könnte das Leben in einer Welt, die ihm offen steht, gar nicht bewältigen, wenn er nicht – als homo theoreticus – bereits wis­ send auf ihre Dinge zugreifen und diese so kennen und behandeln lernen könnte. Dass der Mensch die Dinge im logisch nächsten Schritt pragmatisch verkürzt, kann für die Philosophie Landmann zufolge nur bedeuten, dass sie hinter diesen praktischen Zuschnitt wieder zurückzugehen hat.128 Dies jedoch nicht, um – platonisch gesprochen – kraft einer isolierten Vernunfttätigkeit zu einem hinter bzw. jenseits von ihnen liegenden Wesen der Dinge zu gelangen, sondern um als Philosophie zum eigenen Ursprung zurückzustoßen, wo die Dinge dem Leben in Frage stehen bzw. in ihrer »Problematizität«129 erschei­ nen können. »Philosophie stellt nur her und holt zurück, was es [das Erkennen, Anm. F.S.] seinem gewachsenen Sinn nach schon immer war, rettet den Ursprung gegen den Anfang. Aus unausdrücklichem wird ausdrücklicher Ursprung.«130 Nur vor dem Hintergrund dieser lebensphilosophischen Erkenntnisanthropologie lässt sich verstehen, wie Landmann als Skeptiker die Philosophie um das Finden und Sys­ tematisieren von Problemen zentriert und gleichzeitig in geradezu erkenntnisoptimistischer Manier eine Kulturanthropologie thesen­ artig entwirft. Nicht zuletzt, wie beides immer wieder ineinander ver­ schränkt ist und sich wechselseitig erhellt, wird nur durch die analy­ tische Unterscheidung der folgenden drei Dimensionen deutlich.

2.3.1 Erste Dimension: Anthropologische Architektonik Dass es zur Kritik oder Antithese zunächst erst einmal einer These, zur Unterscheidung einer Aussage bedarf, von der etwas zu unter­ scheiden ist, dürfte insofern kein trivialer Gedanke sein, als es immer wieder (philosophische) Versuche gibt, direkt mit Kritik – etwa mit Erkenntniskritik – einzusetzen, ohne sich dabei der thetischen Impli­ kationen bewusst zu sein. Dass Landmann noch deutlich weiter geht 128 129 130

Vgl. Landmann: WiP, S. 118. Landmann: MSGK, S. 26. Landmann: WiP, S. 106.

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2.3 Dimensionen der Untersuchung

und an der Idee von Philosophie als einem – wenngleich offenen – System festhält, muss auf den ersten Blick verwundern. Daran ändert zunächst auch nichts seine ontologisch scheinende Begründung: »Die Welt ist ein System, und ihre Erkenntnis muß auf Erkenntnis ihres Systems hinauslaufen.«131 Was Landmann hier meint, erhellt sich m.E. dann, wenn wir die folgende Begründung hinzu- und beide zusammennehmen: »alle Philosophie muß ihrer Natur nach die Form des Systems tragen, weil in ihr immer ein Einzelner auf das Grundsätzliche zielt.«132 Die Aussage, dass die Welt ein System sei, dürfte doch vor allem den befremden, der ›Welt‹ schon ontologisch versteht und sich entsprechend ein real existierendes System der Welt bzw. ihrer Dinge vorstellt. Dabei ist doch ›Welt‹ bereits eine begriffliche Konstruktion, die sich genau darin auszeichnet, einzelne Weltdinge in ihren Zusammenhängen, ihrer Anordnung und ihrer Schichtung – eben systematisch, als System – zu denken. Insofern bereits der Welt-Begriff als solcher ein Zugriff des Einzelnen »auf das Grundsätzliche« ist, es Philosophie aber zunächst genau mit solchen Zugriffen zu tun hat, ist sie »ihrer Natur nach«, in diesem Zugriff als einem Vorgriff System. Wir werden sehen, inwiefern dieses Philoso­ phieverständnis selbst anthropologisch getragen ist und umgekehrt einen bestimmten Anthropologiestil nahelegt. An dieser Stelle ist zunächst wichtig, dass die Philosophin nach Landmann das System der Philosophie nicht als geistig vorbestehendes Netz einer vorliegen­ den Welt überstülpen, sondern umgekehrt die Weltsystematik, wo sie sich auffinden lässt, philosophisch, und d.h. dann eben systematisch begreifen und sich dabei immer von ihr selbst leiten lassen soll. Ihre Aufgabe ist nicht, das ›System der Welt‹ »vorwegzunehmen und vorauszusetzen, sondern sich forschend erst auf es hinausführen zu lassen.«133 Dass das System der Philosophie »für alle Zeiten […] ›offen‹ bleiben« muss und die Philosophin zugleich annimmt, »dem System der Welt [müsse] letztlich auch das System der Philosophie entsprechen«134, bedeutet bzw. impliziert bereits eine Ontologie der unabgeschlossenen und werdenden Welt. Der hier von Landmann nicht explizierte, jedoch für seine Anthropologie insgesamt zentrale Gedanke der Unabgeschlossenheit (des Menschen, der Welt und des Landmann: EuE, S. 57. Landmann: Geleitwort. In: Manfred Brelage: Studien zur Transzendentalphiloso­ phie. Hg. v. Aenne Brelage. Berlin: de Gruyter 1965, S. VII [im Folgenden: Geleitwort]. 133 Landmann: EuE, S. 57. 134 Landmann: P, S. 337. 131

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Denkens) kommt an folgender Stelle in Gestalt der Unerreichbarkeit eines philosophischen Systems, das trotzdem und paradoxerweise Ziel des Philosophierens bleibt, zur Sprache: In dieser Hinsicht, aber auch nur in dieser, behalten die Systemgegner recht: das System darf in der Tat nicht die Gestalt der Philosophie bilden. Aber es darf dies nur deshalb nicht, weil wir es noch nicht haben. Als Ziel muß es aller Philosophie vorschweben. Und der echte Philosoph ist derjenige, der diesem Ziel nachstrebt in der mutigen Gewißheit, daß er es nie erreichen wird.135

Darin, »im Wagnis eines geschlossen-abschlußhaften Entwurfs«136, ist das philosophische (wie auch das künstlerische) gegenüber ande­ ren Formen des Erkennens ausgezeichnet. Als Vorwurf dringt der philosophische Entwurf Landmann zufolge notwendig und legitimer­ weise über die beobachtbaren Gegebenheiten hinaus. Philosophie »hat zum Thema die Kategorialität, die der Beobachtung den Form­ rahmen gibt; sie darf und soll die Lücken unseres Wissens zu einer Gesamt-Weltdeutung ergänzen; sie soll Mögliches erwägen, Künfti­ ges vorbedenken.«137 Insofern das Sein in Landmanns Vorstellung unabgeschlossen und menschliches Erkennen stets auf seinen Seins-, d.h. seinen Lebensgrund bezogen ist, kann letzteres nur als »Sichhin­ auswagen des Gedankens ins Unbekannte […] überhaupt fortschrei­ ten und zu Neuem gelangen.«138 In diesem Sich-hinaus-entwerfen des philosophischen Gedan­ kens liegt zugleich seine Gefahr, sich bereits vorschnell am Ende zu sehen, d.h. normativ zu konstruieren – und genau dies ist es, was philosophischen Systemen immer wieder und völlig zurecht vorgehalten wird. Landmann führt auch dies auf die Dialektik von Nichtwissen und Wissensverlangen zurück, jedoch nicht, um die Gefahr zu verharmlosen, sondern um sie, wenngleich sie hier für das Denken in Betracht kommt, in Hinblick auf ihre lebensgemäßen Motive zu verstehen: Wir wollen nicht nur über halbes, sondern über volles und fertiges Wissen verfügen. Verschiedene Umstände wirken nun zusammen Landmann: EuE, S. 58. Landmann: Geleitwort, S. VII. 137 Landmann: WiP, S. 14. 138 Landmann: EuE, S. 68. Was sofort die Frage aufwirft, worum es sich bei diesem Neuen handelt, ob Erkenntnis neues Sein entdeckt oder nicht vielmehr durch ihren erkennen-wollenden Zugriff auf das Sein selbst neues Seinsmäßiges hervorbringt. 135

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2.3 Dimensionen der Untersuchung

dahin, daß diese Tendenz sich zu früh am Ende und schon erfüllt wähnt, während sie, objektiv betrachtet, noch weit von ihrem Ziel entfernt ist. Sie, die ihrer inneren Absicht nach aus dem teilhaften zum vollen Wissen reißt, wird so selbst zum Agens des Stehenbleibens in der Teilhaftigkeit.139

Zu der Überzeugtheit vom Erreichthaben des vollen Wissens kann der Denkende vom Gegenstand her verführt werden, wenn ihm »nichts auf ein noch weiteres zu Wissendes hinzudeuten scheint.«140 Ebenso kann ihn selbstverschuldet »die zu schnell eintretende Genüg­ samkeit mit bereits Erreichtem an der Erreichung höherer Voll­ kommenheit«141 hindern. Schließlich kann ihm, der zunächst nur »unverbunden-ungegliederte Gedankensplitter […] zu einer konsis­ tenten Gedankenabfolge, zu einer ›Architektonik‹«142 zusammenfü­ gen wollte, genau dieses sein Vorhaben zum Systemzwang werden. Landmann schildert dies eindrücklich am Beispiel von Platons Seelen­ lehre, die sich – spätestens – bei der Frage nach dem Bösen in der Seele in Widersprüche verstrickt: Und auf einmal wird es ihm zuviel. Er kann sich zwar dem System­ zwang nicht entziehen, aber er kann auch seine frühere, ihm teure Überzeugung nicht aufgeben. Und so kommt es zu dem plötzlichen Ausbruch, in dem er, zunächst ohne neues Argument, lediglich aus einer ihn überkommenden Emphase für die Schönheit und Reinheit der Seele, die ganze Dreiteilung der Seele, da in ihr die Lehre vom schlechten Seelenteil beschlossen liegt, wieder aufgibt.143

Dass beim Denken also, wie hier deutlich wird, Entscheidungen wirksam sind, ist dabei fast noch leicht zu nehmen, lassen sich diese doch wenigstens im Nachhinein und begrenzt entdecken und explizieren. Schwieriger wird es bei jenen den Denkenden geheimnis­ voll leitenden Intuitionen und ereignishaft überfallenden Einfällen, die sich oft auch retrospektiv nicht – oder wenn dann nur metapho­ risch – fassen lassen. »Man könnte sich sogar überhaupt fragen, ob nicht alle Erkenntnis letztlich dieses Gepräge des uns geschenkhaft Landmann: P, S. 56. Ebd. 141 Ebd., S. 57. 142 Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 191. Mit der Vorstellung vom Denken als architektonisch verlaufendem Prozess knüpft Landmann an Kant an – vgl. dazu Landmann: WiP, S. 109 f. 143 Landmann: UuS, S. 78. 139

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Ein- und Zu- oder Überfallenden (›Intuitiven‹ wie Husserl sagt) trage«.144 Diese als Frage gestellte Vermutung Landmanns ist weniger schwacher Trost als vielmehr Vergewisserung darüber, dass wir im Erkennenwollen und Denken nie gänzlich wissen, was und warum wir es tun. Insofern das Wagnishafte nicht auszuschalten ist, gilt es daher umso mehr, die zweifelsfrei bestehenden Möglichkeiten zur Kritik zu erkennen und zu ergreifen. Als Unterscheidung ist Kritik immer zugleich Rückbindung. Dies angenommen, ist theoretisch weniger die Frage nach dem Ob als die nach dem Wie der Kritik zentral.145 Dies wird schon daran deutlich, dass die Notwendigkeit von Kritik in der Philosophie – zurecht, aber doch auffällig selbstverständlich – nicht in Frage steht. Die Frage nach der Begründung von Kritik lässt sich übersetzen in die Fragen, wovon das Kritisierte als solches unterschieden wird bzw. um was es bzw. die Perspektive auf es erweitert wird. Suggerieren diese Fragen noch allzu sehr, das den Unterschied Aufspannende würde von außen an das In-Kritik-stehende herangetragen, so drückt sich in der Frage, worauf es rückgebunden ist, eher der Gedanke aus, dass sich der Unterschied im relevanten Begriff bzw. im zugrun­ deliegenden Phänomen selbst aufspannt. Und auch wenn man die einem solchen Verständnis zugrundeliegenden ontologischen Annah­ men nicht teilt, muss man doch mindestens zugestehen, dass ein intellektualistisches Kritikverständnis nicht weniger voraussetzungs­ reich ist. Was letzteres gewissermaßen nachträglich zu beantworten hat – wie ist Kritik als unterscheidende Tätigkeit des Geistes am

Landmann: P, S. 41. Dies soll nicht dahingehend missverstanden werden, dass Kritik immer bereits vorausgesetzt werden könne und ein Einsatz für sie nicht nötig wäre. Jedoch wäre es an dieser Stelle verfrüht, Kritik im Namen eines bestimmten Sollens zu führen. Dies bedeutet nicht, dass hier kein Sollen leitend wäre, jedoch ist das Wissen um dieses Sollen nicht bereits mit einer Indienstnahme der Kritik für dieses Sollen zu verwech­ seln. Mehr noch – wir kommen der Implizität des Sollens gar nicht auf die Spur, wenn wir es bereits jetzt, indem wir es zu explizieren versuchen, verkürzen auf jene Aspekte, die uns jetzt augenfällig werden. Die Verantwortung des Denkenden setzt zwar bereits mit dem ersten Akt des Denkens ein, sich ihrer bewusst wird er jedoch nachträglich. Das heißt es, die Verantwortung – eben für das insofern ›unschuldig‹ Gedachte – zu übernehmen. Das nachvollziehbare Bedürfnis nach Sicherheit im Denken übersetzt sich allzu schnell in eine quasi als Methode daherkommende Form von Kritik, die mit ihrem grundsätzlichen und totalen Anspruch, die Kritik zu sein, unüberwindliche Unsicherheiten und Vorläufigkeiten des Denkens gefährlich untergräbt. 144

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Sein überhaupt möglich und wie ist wissbar, dass sie auch tatsächlich Seiendes betrifft? – wird in ersterem bereits vorausgesetzt. Auch hier zeigt sich Landmanns grundlegender Anspruch, das Denken nicht allzu sehr vom Sein zu isolieren, sondern es in stetem Bezug auf das Sein, es also gewissermaßen selbst als ein Seiendes zu betrachten und umgekehrt das, was er im Denken findet, nicht diesem allein zu reservieren. Es ist gerade dieses Ineinandersehen von Geist und Leben, das eine Unterscheidung zweier Kritikformen ermöglicht, die andernfalls erschwert ist. Während Kritische Theorie sich zur Gesellschaftskritik und analytische Philosophie sich zur reinen Sprach- und Erkenntniskritik verengt, findet bei Landmann beides seinen Platz. Dass er sich dabei immer nur einer der beiden Kritikformen bedienen kann und sie mitunter auch durcheinanderge­ hen, begründet und motiviert die Unterscheidung in der vorliegen­ den Arbeit.

2.3.2 Zweite Dimension: Historisch-kritische Rückbindung Schon indem ihr bereits eine begriffliche Architektonik vorliegt, erweist sich Kritik dieser gegenüber als andersartig. So ist ihr Vorge­ hen zunächst dekonstruktiv, indem sie – idealtypisch betrachtet – den Theoriebau Stück für Stück abträgt: zunächst in seine zentralen Aussageeinheiten (Thesen), dann diese in ihre Einzelteile (Kategorien und Begriffe) und diese wiederum in deren Bestandteile (Implika­ tionen, also wiederum Thesen). Hier wird schon deutlich, dass es sich beim Kritisieren keineswegs um einen linear fortschreitenden Prozess, etwa vom Allgemeinen zum Besonderen (oder umgekehrt) handelt, bei dem am Ende alles im Grunde geklärt wäre. Vielmehr ist auch Kritik insofern konstruktiv, als sie im je Kritisierten selbst wiederum ein Gebäude an Bedeutungen und Beziehungen entstehen lässt. Was ihr gegenüber dem thetischen Erstbau eine gewisse Leich­ tigkeit verschafft, dass der Modus (mit Landmann könnte man sagen: der Aggregatzustand) ihres Gegenstandes die Sprache und so mit ihrem identisch ist, wird ihr nun zur doppelten Aufgabe, beansprucht sie doch, sowohl über den Gegenstand als auch über die Theorie etwas aussagen, ja mitunter sogar in seinem Namen sie kritisieren und für unzulänglich erklären zu können. Doch auch hier weist die Problemstellung bereits auf eine mögliche Problembewältigung hin: wenn Kritik nicht nur Sprachkritik sein, sondern über die Welt etwas

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aussagen können will, so muss das, was sie selbst konstruiert, einen sinnvollen Bezug zu dem haben, was sie dekonstruiert (zur Theorie) und zu dem, was sie – sozusagen durch dieses hindurch – kritisiert (zum Phänomen). Kritiken unterscheiden sich dann v.a. darin, ob sie diesen Bezug explizit herstellen und deutlich werden oder (bewusst oder unbewusst) hinter der Kritik an der Theorie verdeckt sein lassen. Die Bezugspunkte der Kritik sind vielfältig und insofern ist auch an der Rede von Rückbindung eine Korrektur anzubringen, suggeriert sie doch lediglich die im engeren Sinne geschichtliche, d.h. in der Zeit zurückgehende Bewegung. Damit ist auch zweifels­ ohne, zumal bei Landmann, ein wichtiger Bezugspunkt benannt. Wie keinem Philosophen seiner Zeit war ihm an einer Geschichte des anthropologischen Denkens gelegen. Und in jenem Sinne, in dem er Anthropologie als Anthropologiegeschichte versteht, ist sie als solche immer auch Kritik an menschlichen Selbstdeutungen und damit Anthropologiekritik. Dass und inwiefern Landmann Geschichte jedoch nicht allein retro-, sondern gerade auch prospektiv denkt, wird an späterer Stelle noch ausführlich behandelt. Hier muss uns der Hinweis auf dreierlei genügen: Erstens dürfte die bereits vergangene Geschichte wohl v.a. deshalb vorzüglich einer theoretischen und kritischen Betrachtung zugeführt werden, weil – und wenn! – sie dokumentiert bzw. in irgendeiner Weise materialisiert zugänglich ist. Die erwähnte Leichtigkeit des Kritikers, der Theorie vorfindet, erscheint hier als Leichtigkeit des Hermeneutikers, der Material vorliegen hat. Das Geschehene und damit vermeintlich Abgeschlossene suggeriert einen erst einmal nicht begründungsbedürftigen Zugriff auf jene Quellen, die das Gewesene – dem man, wie es scheint, nichts mehr antun kann – dokumentieren. Umgekehrt wird die Prospektive vergleichsweise schnell als Spekula­ tion abgetan, was auch damit zusammenhängen dürfte, dass es hier noch eine bestimmte Zukunft zu retten, eine andere zu verhindern bzw. durch Enthaltung Zukunft überhaupt offen zu halten gibt. Ein solches einseitiges Geschichtsverständnis ist dabei schon deswegen fraglich, weil es blind ist für jene ganz klar aufzeigbaren und wirksa­ men Bezüge auf verschiedentlich vorgestellte Zukünfte, wie sie zumal seit der Neuzeit, die dies schon im Namen trägt, charakteristisch sind. – Entsprechend wäre, wenn der Horizont der Kritik sich in die offen vorgestellte Zukunft hinein aufspannt, wenn also mit Geschichte nicht das Woher (das Nicht-mehr), sondern das Wohin (Ernst Blochs Noch-nicht) gemeint ist, besser von Vorausbindung zu sprechen.

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Zweitens ist jede historisch-kritische, also diachrone Rückbin­ dung zu ergänzen um einen synchronen Zugang, dem die Vorstellung der Welt als ›Simultanraum‹ und der einzelnen Phänomene in ihrer ›Angeordnetheit‹ zugrunde liegt. Dieser synchrone Zugang ist, wie in der Arbeit gezeigt werden soll, bei Landmann bereits an vielen Stellen angelegt und tragend, jedoch nicht systematisch entwickelt. Dass es ihm um beide Zugänge zu tun war und wie entscheidend dieser doppelte Zugang für die Kernideen seiner Anthropologie ist, kommt an folgender Stelle, wenngleich beiläufig und unspektakulär, so doch zum Ausdruck: »Alle Entwürfe stehen in ihrer notwendigen Pluralität untereinander in Konkurrenz und stellen sich gegenseitig in Frage. Wie der Historiker Systematiker, so muß daher der Systematiker Historiker sein.«146 Drittens: Wie die geschichtliche Perspektive für die Anthropo­ logie fruchtbar wird, so ergänzt und vertieft auch umgekehrt die anthropologische Frage – als Frage nach der Bedeutung, der Funktion und der Erlebnisweise eines Gedankens, Begriffs, einer Idee im bzw. für das Leben – das geschichtliche Verständnis.147 Der Kritik vorlie­ gende Gedanken und Begriffe sind nicht nur begriffsgeschichtlich auf ihr Woher, sondern immer auch auf das lebensmäßige Was ihrer Bedeutung, das Wie ihres Erlebtwerdens und ihr nicht teleologisch, sondern gestaltmäßig vorzustellendes Wozu hin zu befragen. Die begriffskritische Anthropologin interessiert, was sie im menschlichen Leben bedeutet haben können, welches ihre Funktion war und wie sie erlebt wurden, noch ehe sich eine Schicht der Reflexion über sie legte und sie zu dem Entwicklungsstadium führte, in dem sie uns nun entgegengebracht werden. Neben und vor die geschichtliche Besinnung muß so noch eine anthropologische treten.148

Dabei ist freilich vorausgesetzt, dass sich vom Lebensgrund eines Lebenszeugnisses in diesem etwas finden bzw. erkennen lasse – Landmann: Geleitwort, S. VII. Hier öffnet sich von der Anthropologie her eine kritische Perspektive auf die geschichtliche Betrachtungsweise, die umso unerlässlicher ist, je stärker sich philo­ sophische Anthropologie und pädagogische Anthropologie auf eine historische Denkund Arbeitsweise beschränken. Vgl. zur Kritik am historischen Weltbild den geistrei­ chen Aufsatz von Günther Stern: Über die sog. »Seinsverbundenheit« des Bewußtseins. In: Der Streit um die Wissenssoziologie. Zweiter Band. Rezeption und Kritik der Wissenssoziologie. Hg. v. V. Meja u. N. Stehr. Frankfurt: Suhrkamp 1982, S. 497–514. 148 Landmann: P, S. 12. 146

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nicht weniger fraglich erscheint mir jedoch die Annahme, es handle sich bei Ideen und Theorien um rein geistige Gebilde einer rein geistigen, von der materiellen isoliert bestehenden Welt. Hier würde sich u.a. die Frage aufdrängen, warum überhaupt Theorien aufgestellt werden und weiter, warum sie kritisiert und nicht einfach schlicht als überwunden erklärt werden sollen. Theoriekritik im Verständnis Landmanns begründet sich schon insofern, als Lebens-Gründe zwar für die Theorie tragend sind, aber in ihr selbst nicht bewusst sein können und entsprechend nicht (zumindest nicht vollständig bzw. erschöpfend) expliziert sind. Für ihre Bewusstwerdung und Explizie­ rung – d.h. für Landmann auch immer: für eine lebensphilosophische Rückbeziehung und -besinnung – bedarf es notwendig einer kriti­ schen Denkbewegung. Weil aber die Produkte des Denkens immer vom Leben her und auf es rückbezogen gedacht werden, wird sich zwangsläufig auch die sich auf sie richtende Kritik zwischen (für das Verstehen notwendiger) Nähe und (für das vom Verstehen ausge­ hende Kritisieren unabdingbarer) Distanz bewegen. Nur im ständigen Vollziehen ausgleichender Bewegungen kann die unhintergehbare Eigenständigkeit des Betrachteten und die produktive Selbständigkeit der Betrachtung gewährleistet werden: »Existentielle« Betroffenheit und »Engagiertheit« geben der Philoso­ phie Notwendigkeit und Tiefe und müssen dann doch, in einem für den Nicht-Philosophen schwer verstehbaren Ineinander von Ernst und Spiel, wieder gebrochen werden durch Abstand und Skepsis, durch Autonomie des Schauens und Denkens.149

Die Annahme, dass diese Bewegung möglich und sinnvoll sei, d.h. optimistisches Vertrauen in die Kraft und den Sinn philosophischer Erkenntnis und Kritik, ist dabei keineswegs selbstverständlich. Mehr noch ist die Neuzeit mit einiger Plausibilität als das »Zeitalter der Verdächtigung«150 bezeichnet worden. Was in dieser formelhaften Bezeichnung nicht zum Ausdruck kommen kann, sind die Unter­ schiede sowohl dessen, was einem Verdacht unterzogen wird als auch der Art und Weise, wie dies geschieht. Schon die Tatsache, dass hier keineswegs Einigkeit herrscht, deutet darauf hin, dass weder für das Leben noch für das Denken im Verdächtigen ein letzter Grund und Halt gefunden werden kann. Vielleicht auch aus diesem Grund 149 150

Landmann: WiP, S. 91. Landmann: Dialektik der Entlarvung, S. 146.

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konzentriert sich Landmann auf das Benennen der Grenzen einer jeden Kritik, die schon ganz trivialerweise vom ihr Vorliegenden selbst gezogen werden: »Zweifeln dagegen kann ich immer nur daran, daß oder ob. Ein schon gegebenes Seiendes (resp. eine schon aufgestellte These über es) ist hier bereits Voraussetzung.«151 Hier ist von der konstruktiv-thetischen Architektonik der Kritik selbst noch gar nicht die Rede, die – wie oben bereits erläutert – von eben diesem Seienden oder vom über dieses Gedachten getragen und gerahmt ist. Man könnte, um Landmanns Bild vorwegzunehmen, sagen, dass die Hand, die die Maske vom sich hinter dieser versteckenden Gesicht abzureißen versucht, in dieser reißenden Bewegung sich selbst an ihr abformt und so im ungünstigsten Fall nun auch über der Hand eine Maske liegt. Aus diesem Grund darf Landmann zufolge das Zweifeln keinen absoluten Anspruch erheben (zumal dies das Zweifeln als solches ad absurdum führen würde) und ist komplementär um einen sinnverstehend-hermeneutischen Deutungsstil zu ergänzen. Zugleich wendet sich Landmann gegen eine Minimierung der Skepsis und tritt so also nicht nur dem Pathos der Verdächtigung, son­ dern auch einem »aus Enttäuschung, aus einem Trauma der Verführ­ ten geborene[n] Pathos der Vorsicht«152 entgegen. Wenngleich sich gerade im vorsichtigen Denken dessen Reife bekundet und es überdies »Schutz gegen wild wuchernde Gedankenphantastik« gewährt, steht es andererseits in der Tendenz, sich in einen sich wissenschaftlich vermeinenden Irrtumsglauben zu verirren, der sich weder der eigenen Implikation (erkennbar ist nur, was verifizierbar bzw. falsifizierbar ist) noch der Begrenztheit seiner Perspektive bewusst ist. Jedes Pathos der Vorsicht in diesem Sinne ist parasitär: es setzt das Interesse an der Welt, die Zuwendung zu ihr, bereits voraus. Wo es alleinherrschend wird, führt es zur Verkümme­ rung der Philosophie. Denn es könnte sein, daß wir über geringfügigere Dinge zu sichererer Wahrheit gelangen als über die wesentlicheren Dinge. Darf also Philosophie kein Wagnis mehr sein, macht jede Aus­ sage sich lächerlich, die man nicht durch Computer schnurren lassen kann, so läuft dies darauf hinaus, an den tieferliegenden Problemen des Seins, der Geschichte, der Existenz vorüberzugehen und sich gegen sie abzuflachen.153 151 152 153

Landmann: P, S. 30. Landmann: WiP, S. 97. Ebd.

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2.3.3 Dritte Dimension: Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung Mit der These von der Neuzeit als dem »Zeitalter der Verdächtigung« bzw. mit Landmanns Kritik an ihrer Übertreibung geht die historischkritische Rückbindung bereits über in eine erkenntnisphänomenolo­ gische Vergewisserung, die als kritische Dimension von jener zu unterscheiden ist. Um Vergewisserung handelt es sich insofern, als sich hier das erkennende Subjekt selbst, d.h. in seinem Erkennen, thema­ tisch und problematisch wird. Der historisch-kritisch aufzudeckende Lebensgrund wird in seinen erkennensmäßigen Aspekten, also als Erkenntnisgrund, in Betracht genommen und kritisiert. Lebensmo­ tive sind als Wissensmotive relevant, Leben spannt sich zwischen Nichtwissen und Wissensverlangen als den zwei für Landmann zen­ tralen Aspekten menschlichen Erkennens auf. Das Erkennen befindet sich hier – auch und gerade beim Aufdecken bestimmter Motive des Wissensverlangens – bei sich selbst und nimmt den Erkenntnisgegen­ stand gewissermaßen nur zum Anlass seiner Selbstbefragung. Wenn auch nicht grundsätzlich als übereinanderliegend, so sind die drei Dimensionen, zumindest, was ihr Freilegungspotenzial betrifft, schichtenmäßig vorstellbar. Was im architektonischen Satz übersprungen werden musste, wird in den folgenden zwei Schritten zurückverfolgt. Die historisch-kritische Rückbindung setzt das the­ tisch Zusammengesetzte auseinander, legt so seine Implikationen frei und erkennt Zusammenhänge und Aspekte, die architektonisch unbe­ rücksichtigt bleiben mussten. Während Bauenwollen noch ganz naiv Erkennenwollen war, nähern wir uns hier bereits dem NichtwissensPol, um ihm über die erkenntnisphänomenologische Kritik so nah wie möglich zu kommen, denn hier wird nicht nur die These auf ihren lebensmäßigen Erkenntnisgrund, sondern auch die historische Rück­ bindung selbst (etwa das geschichtliche Weltbild) auf ihre Funktionen hin befragt. Der Lebensgrund kommt in seinen Erkenntnisaspekten, als nichtwissender und wissenwollender, in den Blick. Erkenntniskri­ tik in diesem Sinne bedeutet das Zerlegen des Erkennens in seine Momente (Nichtwissen und Wissensverlangen). Geht es der histo­ risch-kritischen Rückbindung um die Inhalte des jeweiligen mensch­ lichen Selbst- und Weltbildes, um das Wie-gedacht-worden-sein von Welt und Mensch, so geht es der erkenntnisphänomenologischen Vergewisserung um das Dass des Erkennens, das Gedacht-worden-

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sein, um Gestalt und Funktion seiner Momente, also darum, wie das konkrete Leben als ein jeweiliges Erkennen verständlich wird. Was im architektonisch-thetischen Aufbau blind blieb (das Erkennen), wird nun sehend. Was im Aufbau gesehen wurde (der Gegenstand), wird nun selbst zum Objektiv. Entsprechend wird das Leben über erkenntnisphänomenologische Kritik nicht etwa besser gesehen, sondern schlicht als Träger eines Erkennens, also in einem bestimmten Aspekt, in diesem aber so deutlich wie möglich. Denn dass wir hier methodisch agieren, d.h. bereits mit Thesen, Begriffen, Kritik arbeiten können, entlastet und schärft den Blick gerade für den Akt des Erkennens, der nur konkret vollzogen und entsprechend nur konkret nachvollzogen werden kann. Wird im thetischen Aufbau das Implizite wirksam, so wird in der Kritik das bereits Wirksame bzw. wirksam Gewordene expliziert: historisch über die Frage nach der Funktion des Erkennens für das Leben, phänomenologisch über die Frage nach der Funktion des Lebens für das Erkennen. Mit der Unterscheidung zweier Kritikdimensionen stellt sich diese Arbeit sowohl gegen die strikte Trennung als auch gegen eine Überidentifikation von Erkenntnisakt und -gegenstand. Als Anthropologie befreit sie aus transzendentaler, als Anthropologie aus historischer Standortgefangenschaft. Mit Nichtwissen und Wis­ sensverlangen sind die Erkenntnismomente als Lebensmomente in den Blick genommen. Dass es sich um Nichtwissen und Wissensver­ langen handelt, schlägt den Bogen zurück zur anthropo-logischen Architektonik, die sich als Architektonik genau dadurch auszeichnet, Nichtwissen und Wissensverlangen zu sein. Architektonik meint hier, ein Fundament zu setzen, ohne dabei der eigenen Voraussetzungen bereits einsichtig werden zu können; und doch handelt es sich nicht um eine willkürliche chaotische Aktivität, wenn auch die ›Struktur‹, d.h. die Anordnung der Elemente zu einer Gestalt, erst nachträglich rekonstruiert werden kann. Nicht zu wissen, was der Mensch sei, und zugleich wissen zu wol­ len, ja wissen wollen zu müssen, und das heißt dann: leben, also sein zu müssen, was er ist – das ist der Spannungsbogen einer Anthropologie, wie Landmann sie versteht. Für die Erkennende bedeutet dies ein unüberwindliches Zugleich bzw. ein ständiger Wechsel von distan­ zierter Skepsis und liebevoller Hingabe gegenüber dem Gegenstand. Dessen Veranschaulichung ist sowohl für die historisch-kritische Rückbindung als auch für die phänomenologische Vergewisserung insofern unerlässlich, als es beiden um das Verstehen von etwas

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Konkretem geht, das als Erkenntnis aus seinem Lebensgrund und als Leben aus seinem Erkenntnisgrund entwickelt wird. Zunächst also muss die Erkennende »in unmittelbaren Kontakt zur Sache treten, muß die maximale Anschauung von ihr zu erzielen suchen«.154 Dass gerade die »Entanschaulichung dafür neue Dimensionen aufschließt und Worte das Denken beflügeln können«155, dürfte weniger paradox als aufschlussreich für den Zusammenhang von Leben und Denken sein. Daran ändert auch nichts der Umstand, dass dasjenige, auf das sich die Erkenntnis bezieht, von ihr nur erfasst werden kann: Erkennt­ nis als Zugriff bedeutet sowohl verfehlendes Eingreifen in die Sache als auch das sie meinende Ergreifen. Wie undeutlich die Sache auch immer sei und wie sehr sie auch im erkennenden, begriffsbildenden Zugriff in einen Gegenstand transformiert wird – im Nichtwissen und Wissensverlangen, als dem doppelten Ausgang des Denkens, ist sie gewissermaßen immer gemeint. Beides, die Losgelöstheit der Sache vom Gedanken und Wort (d.h. ihre Eigenständigkeit ihm gegenüber) und die Nichtlösbarkeit des Gedankens bzw. Wortes von der Sache (d.h. seine Unselbständigkeit ihr gegenüber bzw. seine Getragenheit von ihr) kommt in der Bewegtheit des Denkens und in der Vielfalt der sprachlichen Verwendungen zum Ausdruck, die von hier aus einen anthropologischen Sinn entfalten: Wem es um Erkenntnis zu tun ist, der wird daher […] von der Sache selbst ausgehen, und wenn er von ihr sprechen muß, so wird er gern neue Termini für sie prägen, oder sie mehrfach mit immer wieder anderen Worten auszudrücken suchen […], um sie nur ja möglichst scharf zu fassen, um ihre Unabhängigkeit vom Worte hervortreten zu lassen.156

Paradoxer kann man es wohl kaum formulieren, als indem man die Schärfe des Begriffs (bzw. der Begriffe) in der Selbständigkeit der Sache ihm gegenüber sich bekunden lässt. Die Paradoxie erreicht ihre Intensität in der Gleichzeitigkeit zweier Ansprüche: die Wirklichkeit als komplexer (seiend) denken zu können als in der Theorie angenom­ men; die Wirklichkeit als einfacher (seiend) denken zu können als in der Theorie angenommen. Die Herausforderung alles Philosophie­ rens besteht nicht allein in der Widersprüchlichkeit, in der die zwei Imperative zueinander stehen (und die sich, wie oben gesagt, in einen 154 155 156

Landmann: DaD, S. 77. Ebd., Herv. F.S. Ebd.

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2.4 Auswahl und Ordnung der Begriffe

ständigen Wechsel von Skepsis und Hingabe entfaltet), sondern in der Gleichzeitigkeit, in der sie den Philosophierenden angehen. Hier liegt auch die Unmöglichkeit der Philosophie, das ist: ihre Geschichte; ihr Sichwissen und Sichkennen in dieser Gleichzeitigkeit ist die spezifische Quelle ihrer Produktivität, das heißt: ihrer Möglichkeit. Anthropologie im Sinne Landmanns gründet auf der Annahme, die zugleich ihr tiefstes Interesse und ihr weitester Gegenstand ist: dass das Erkennen als jeweils wieder anders zu charakterisierendes der Gesamtheit der menschlichen Verhaltungen eingelagert ist und dass folglich eine erschöpfende Analyse der Erkenntnisstrukturen nur im Rahmen einer Anthropologie möglich wäre, die diese Verhaltungen zum Gegenstand hätte.157

2.4 Auswahl und Ordnung der Begriffe Mit den drei Dimensionen wurden bisher die Zugänge auf das theo­ retische Material erläutert, das dabei selbst bereits vorausgesetzt worden ist. Zugleich legt das bisher Gesagte nah, sich Landmanns Anthropologie – im Aufbau der Arbeit – über zentrale Begriffe und nicht etwa bereits deren thesenhafte Anordnung zu nähern. Zwar hat die These den Vorteil, bereits Aussage und nicht nur Begriff von Etwas zu sein; andererseits ordnet sie den Begriff (und das Gemeinte) immer bereits mehr oder weniger eindeutig einer Dimension zu. Das Offenhalten des Denkens für alle drei Dimensionen, so die Annahme, wird am ehesten im begrifflichen Zugang gewährleistet. Wenngleich Thesen natürlich immer bereits impliziert sind und auch in der Untersuchung ›schneller als gewollt‹ auftreten, kann dem noch nicht thetisch ausformulierten Gemeinten am ehesten nachgespürt werden über den Begriff, über den im Zugang noch nicht, etwa historisch, vorentschieden ist. Wie groß der Unterschied am Ende auch sei – sich z.B. dem Problem des Individuums über den Begriff von Individualität oder über die These des Individuums als einer historischen Konstruktion zu nähern, ist nicht dasselbe. Gerade um das gestaltsichtige Potential von Landmanns Philosophie in dieser Arbeit entfalten zu können, bedarf es eines nicht historisch verengten Zugangs. Die geschichtliche Perspektive bildet hier nicht den Rahmen 157

Landmann: EuE, S. 140.

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für alles Weitere, sondern ist selbst ein (wenn auch ein wichtiger) Zugang, gerahmt von der simultanen Anordnung der Begriffe. Die Auswahl der zentralen Begriffe erschwerte sich nicht nur aus dem pragmatischen Grund, dass in einer Arbeit nicht das Gesamtwerk eines Autors begrifflich berücksichtigt werden kann, sondern viel­ mehr noch durch die unscharfe Begriffsverwendung und -trennung bei Landmann selbst. Zwar könnte man sie ihm auch als analytische Schwäche attestieren; m.E. ist sie aber v.a. als nicht methodisch inten­ dierte, aber wirksame Vorsichtsmaßnahme zu verstehen. Wie oben bereits ausgeführt, nähert sich Landmann den ›Gegenständen‹ über verschiedene Begriffe, was zumindest nicht den Verdacht nahelegt, mit einem Begriff genau eine Sache treffen zu wollen. Entsprechend werden auch in dieser Arbeit notwendigerweise dieselben Begriffe an verschiedenen Stellen und in verschiedenen Bedeutungen auftauchen; umgekehrt werden unterschiedliche Begriffe mitunter Ähnliches mei­ nen. Beides stiftet Chaos und auch deswegen sind die Begriffe in zwei Blöcken angeordnet, die jedoch – wenngleich sie sukzessive geschrieben und gelesen werden müssen – als ›simultane Einheiten‹ zu verstehen sind. Wenngleich der Zugang über Begriffe wie auch ihre Anordnung von Landmanns »System der Anthropina«158 inspi­ riert ist, so besteht ein wichtiger Unterschied darin, dass Landmann eine Ordnung der Anthropina, d.h. der »gleichbleibend sich durchhal­ tenden, »zeitlosen« Grundstrukturen des Menschseins«159 entwirft, während die vorliegende Arbeit Landmanns Denkbewegungen nach­ zuvollziehen und systematisch darzustellen sucht. Gerade in Verbin­ dung mit dem Anspruch einer Übersicht des Gesamtwerks wird dieser Unterschied produktiv, da so beispielsweise die von Landmann im Kontext einer Theorie und Methode der Geisteswissenschaften aufgeführten Erkenntnismittel in ihrer anthropologischen Bedeutung erschlossen werden können. Genauso wenig wie Landmanns »System der Anthropina« als hermetisch-letztgültige Theorie des Menschen soll die Systematik dieser Arbeit als erschöpfende Deutung seiner Anthropologie miss­ verstanden werden. In dieser Hinsicht gilt, was Jörn Bohr über Land­ manns Anspruch einer Fundamental-Anthropologie sagt, auch für die Arbeit an und mit derselben: Landmann: FA, S. 139–169. Vgl. dazu Jörn Bohr: Ein System der Anthropina? In: Kulturanthropologie als Philosophie des Schöpferischen, S. 95–123 [im Folgenden: Ein System der Anthropina?]. 159 Landmann: FA, S. 151. 158

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2.4 Auswahl und Ordnung der Begriffe

Die von Landmann in eine systematische Ordnung gebrachten Anthro­ pina erklären nicht das Einzelne, aber sie lassen als geordnete die Möglichkeitsgründe für die menschliche Pluralität überhaupt erst sicht­ bar werden. Wie kann es sein, dass Menschen überall anders sind und doch überall Menschen? Die Antwort soll im System der Anthro­ pina bzw. in der Fundamental-Anthropologie gegeben werden, deren methodischer, nicht absoluter Zielpunkt ein umfassender Begriff vom Menschen ist.160

Aus Möglichkeitsgründen der menschlichen Pluralität in Landmanns Deutung des Menschen werden Möglichkeitsgründe für die Plurali­ tät der Zugangsweisen in der vorliegenden Deutung seiner Anthro­ pologie. Methodisch, d.h. in der Anordnung, d.h. überhaupt als Ordnung beansprucht die Arbeit, umfassende Deutung von Land­ manns Anthropologie zu sein und auf diese Weise auch Implizites in die Explizitheit, Verschwiegenes an die Oberfläche zu heben. Die impliziten Gehalte einer Theorie verunmöglichen nicht etwa eine Systematik, sondern begründen und erfordern diese geradezu, da erst sie durch Anordnung von Begriffen bestimmte Probleme und Fragen überhaupt aufklaffen bzw. kenntlich werden lässt. Der alte strenge Anspruch des philosophischen Systems, als begriffliche Ordnung der Welt diese abzubilden, erledigt sich schon durch das sich immer mehr vertiefende Wissen, daß das Gebilde nicht nur objektivierte Seele ist, sondern daß vieles in ihm konkresziert [zusammenwächst, sich verdichtet, gerinnt, Anm. F.S.], was der Schöpfer, und oft ohne dies selbst zu wissen, nur auslöst, und daß das Gebilde deshalb auch dem Schöpfer als ein eigenwüchsiges Fremdes, nicht mehr ihm Gehöriges, gegenübersteht.161

Weder die Gestalthaftigkeit noch die Fremdheit eines Begriffs oder Gedankens darf den Deutenden abschrecken und er hat insofern darauf zu achten, ob seine vorschnelle Kritik nicht womöglich von einer Befremdlichkeit motiviert ist, die sich als Befremdlichkeit erst erhellt, wenn er das, was befremdet, in seiner thetischen Gegebenheit Bohr: Ein System der Anthropina?, S. 117, Herv. F.S. Landmann: Doppelinterpretationen. In: Vokabular der Erinnerungen. Zum Werk von Hilde Domin. Hg. v. B. v. Wangenheim. Aktualis. Neuausg. v. Ilseluise Metz. Frankfurt/M.: Fischer Taschenb. 1998 (11982), S. 116 f. [im Folgenden: Doppelinter­ pretationen]. Hier wäre auch der Frage nachzugehen, inwiefern sich das von Land­ mann für die Thora als typisch herausgestellte Motiv, das Zentrale, Offensichtliche, Selbstverständliche zu verschweigen (vgl. dazu UuS, S. 270 u. 280) auch bei ihm selbst ausmachen lässt. 160

161

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2. Methodischer Rahmen der Arbeit

zum Ausgangspunkt nimmt, um ihm so überhaupt auf die Spur zu kommen. Die Annahme des Begriffs als Gestalt, die zugleich mehr und weniger ist als das vom Theorieschaffenden Intendierte, entlastet die Interpretin von ihrem – sich im Affekt gegen sie verratenden – Anspruch an die Theorie und ermöglicht zugleich so gut es geht eine begriffsimmanente Kritik. Die simultane Anordnung und das gestalthafte Auffassen von Begriffen ist durchaus im Sinne Landmanns, auch wenn er sich in seinen Texten immer wieder dem begriffsgeschichtlichen Vorgehen verpflichtet fühlt. Was er in einer Würdigung der Dichterin Hilde Domin über deren »Doppelinterpretation« sagt, lässt sich – gerade mit Landmann, der Philosophie gewissermaßen zwischen Wissen­ schaft und Kunst verortet162 – auch auf philosophisch-anthropologi­ sches Denken übertragen. Die für moderne Dichtung so charakteris­ tische »Bipolarität von Erregtheit und objektivierender Nüchternheit« gipfelt zunehmend auch in der Philosophie im »unvereinbaren und daher das Melos ausschließenden Gegeneinander.«163 Was bisher nur »Strukturparadoxie« war, ist heute Substanz. Deshalb fordert Hilde Domin – und das ist sehr nachdenkenswert als heuris­ tischer Impuls – neben den antithetisch-komplementären Begriffen, mit denen man bisher das ästhetische Phänomen abzustecken suchte, »Simultanbegriffe«, wie sie sie versuchsweise nennt, Begriffe, die dem »Festen, das fluide ist«, dadurch gerecht würden, daß sie selbst ein gegensätzliches Kraftfeld umspannen.164

Insofern dieser heuristische Impuls Hilde Domins in Landmanns eigenem Denken bereits wirksam wurde, nehmen auch wir ihn in die­ ser Arbeit immer wieder auf, um nicht nur die dialektische Bewegtheit des Begriffs selbst und der Begriffe untereinander, sondern auch die im Begriff liegende Gestalt und Struktur sowie die spannungsreiche bis antinomische Positioniertheit der Begriffe untereinander – eben im Kraftfeld, nicht zufällig ein räumliches Bild – berücksichtigen zu können. Die so methodisch angelegte Eigenständigkeit der Begriffe dient dabei nicht nur dem Anliegen, das systematische Potential von Landmanns Anthropologie als solcher freizulegen, sondern auch dem Schutz vor einer ungemäßen Vereinnahmung Landmanns durch die pädagogische Thematik dieser Arbeit. Gerade weil Landmann keine 162 163 164

Vgl. Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 266 f. Landmann: Doppelinterpretationen, S. 117. Ebd.

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2.4 Auswahl und Ordnung der Begriffe

Pädagogik verfasst hat, lässt sich, was seine Philosophie pädagogisch bedeutet, nicht in einzelnen Kapiteln unter pädagogischen Grundbe­ griffen aufführen, sondern nur über die bei Landmann selbst zentralen Begriffe indirekt entfalten. Erst in Teil III wird deren Bedeutung für die Pädagogik in einer Bildungstheorie ausgearbeitet. Das in der vorliegenden Arbeit tragende Vorverständnis von Bildung und Kultur, das in Teil II notwendigerweise implizit, d.h. perspektivgebend für das Verständnis von Landmanns Begriffen bleiben muss, kann in Teil III explizit, d.h. selbst Gegenstand der Analyse werden, für die nun die erarbeiteten Bedeutungen der Begriffe aus dem zweiten Teil Perspektiven öffnen. Als Vorverständnis soll es, wenigstens in Grundzügen, dem Hauptteil der Arbeit nun vorangestellt werden.

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3. Bildung und Kultur: Vorverständnis – Vorentscheidung

3.1. Zur Begründungsproblematik von Bildung und Kultur Die erste Annahme ist bereits im eben Gesagten gegeben. Diese Arbeit beschränkt sich nicht darauf, die Grenzen eines Nachdenkens und Redens über ›Bildung‹ und ›Kultur‹ zu einer Floskel verkommen zu lassen und sie lediglich in einer Vorbemerkung sozusagen präven­ tiv-korrigierend aufzuführen. Dass Landmann sich in seinem Denken allem voran als Philosoph und nicht als Pädagoge oder Kulturwis­ senschaftler verstanden hat, kommt hier gerade der Bildungs- und Kulturtheorie zugute, da so deren spezielle disziplinäre Begründungs­ probleme, die sich mitunter in die Theoriebildung forttragen, außen vor bleiben können.

3.1.1 Der Gegen-Stand der Pädagogik und Kulturwissenschaften um ihren Gegenstand Mit dem radikalen In-Frage-stellen ihrer Gegenstände tun sich die ›Bildung‹ und ›Kultur‹ zugeordneten Disziplinen – die Pädagogik und die Kulturwissenschaften – wohl auch deswegen schwer, weil sie selbst in ihrer Identität als Disziplin in Frage stehen bzw. inter­ disziplinär vereinnahmt werden. Wissenschaftshistorisch wurde die Philosophie als Bezugsdisziplin der Pädagogik überwiegend abgelöst von einer sich zunehmend naturwissenschaftlich verstehenden Psy­ chologie, einer empirisch interessierten Soziologie sowie den Neuround Kognitionswissenschaften. Dagegen verstanden sich die Kultur­ wissenschaften von Grund auf als interdisziplinäres Projekt, was sachlich plausibel, aber wissenschaftspolitisch nicht zwingend von Vorteil ist. Beide – die Pädagogik und die Kulturwissenschaften – sind als selbständige Disziplinen noch vergleichsweise jung, scheinen sich schwer auf eine Selbstsicherheit gebende Tradition berufen zu

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3.1. Zur Begründungsproblematik von Bildung und Kultur

können und konzentrieren sich so, völlig zurecht, auf ihren jeweiligen Gegenstand. Zugespitzt formuliert entsteht so eine Situation, in der nur der vorausgesetzte Begriff von bspw. Erziehung im Verbund mit der ebenso vorausgesetzten Annahme, dass es Erziehung (eine Erziehungswirklichkeit) gäbe, als Gewähr dafür genommen werden kann, dass es Erziehungswissenschaft gibt und (auch künftig) geben soll. Schlimmstenfalls hält dies begriffliche Innovationen zurück, wie sie mitunter nur aus dem radikalen Infragestellen eines Begriffs bzw. der zugrundeliegenden Wirklichkeit hervorgehen: das Kritisieren eines Begriffs wird in der Pädagogik auffällig selten zum Anlass dafür genommen, ihn, und wenn auch nur hypothetisch, fallen zu lassen. Eher wird das am Begriff Kritisierte (etwa das verstaubt Bürgerliche am Bildungsbegriff) im Namen der vermeintlich eigentlichen, gewoll­ ten und gesollten Bedeutung des Begriffs (Bildung als Emanzipation), d.h. aber unter Beibehaltung des Begriffs, verworfen. Ähnlich wird in den Cultural Studies häufig nicht etwa der Kulturbegriff selbst in Frage gestellt, sondern nur die Vorstellung von Kultur als homogener Einheit aufgegeben und durch einen bspw. relationalen oder praxeo­ logischen Kulturbegriff ersetzt. Das hat zwar Sinn und Berechtigung, führt aber mitunter dazu, dass im Begriff liegende Potentiale unge­ nutzt bleiben. Mit anderen Worten: wenn man schon an den Begriffen festhält, so sollte man – und sei es in der Kritik – auch an den Begriffen festhalten – oder sie verwerfen.165 Damit soll ausdrücklich nicht einer Krise der Geisteswissenschaften das Wort geredet werden, dient diese doch allzu oft dazu, in passiv-aggressivem Ton das eigene Schicksal zu beklagen und die Schuld für desolate Zustände gerade nicht bei sich selbst zu suchen. Nicht selten versteckt sich hinter dem Gefühl, nicht gehört zu werden, das Gefühl, man hätte nichts (mehr) zu sagen.166 Dies aber nicht etwa, weil es tatsächlich nichts zu sagen gäbe, 165 Vgl. zum Problem der Popularität und tendenziellen Unterbestimmtheit des Kul­ turbegriffs die Einleitung des Arbeitskreises Kultur- und Sozialphilosophie in einem von diesem herausgegebenen Sammelband, der sich dieses Problems annimmt (Arbeits­ kreis Kultur- und Sozialphilosophie (Hg.): Der Begriff der Kultur. Kulturphilosophie als Aufgabe. Bielefeld: Transkript 2013 [im Folgenden: Arbeitskreis: Einleitung zu Der Begriff der Kultur]). 166 Vgl. Barbara Vinken in ihrem Plädoyer für Kulturwissenschaften, über die sie schreibt: »Absorbiert scheinen sie manchmal von der eigenen Institution und den dort tobenden Verteilungskämpfen; das Gefühl der permanenten Bedrohung, des Geschlucktwerdens durch die neuen Lebenswissenschaften ist vielleicht nur ein Deck­ mantel vor der viel schrecklicheren Bedrohung, nichts mehr zu sagen zu haben.« (Die Moderne im Rückspiegel. Ein Plädoyer für Kulturwissenschaften. In: Heidbrink, Lud­

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3. Bildung und Kultur: Vorverständnis – Vorentscheidung

sondern weil das, wovon zu sprechen wäre, hinter der Rechtfertigung des Sprechenden und seinen Theoriekonstruktionen verstummt ist. – Wie aber lässt sich nach Bildung und Kultur fragen, ohne dabei das, was hier begrifflich und sachlich zu finden ist, bereits im Vorhinein entweder überkritisch zu verdünnen oder unbefragt zu übernehmen?

3.1.2 Transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Bildung und Kultur Dies ist das alte Problem der Anthropologie: wie lässt sich nach dem Menschen fragen, ohne ihn bereits vorauszusetzen? Heideggers berühmte Kritik schlägt in diese Kerbe, indem sie der Anthropologie vorhält, den Menschen, nach dem sie fragt, immer bereits vorauszu­ setzen. Kein Einwand wurde öfter an die Anthropologie herangetra­ gen als dieser, aber nicht deswegen etwa ist er ernst zu nehmen, sondern weil in ihm die ganze Problematik eines Fragens nach dem Menschen deutlich wird. Ebenso ernst zu nehmen ist die Tatsache, dass sich durch diesen Einwand nicht etwa philosophisch-anthropolo­ gisches Fragen als solches erledigt hätte. Es ist vielmehr angehalten, sich selbst im Lichte dieses Einwands fragwürdig zu werden. Daraus erwächst die Rückfrage: Wie sollte es möglich sein, nicht über den Menschen nachzudenken? Und weiter: Wie sollte es möglich sein, den Menschen dabei nicht bereits vorauszusetzen? Landmann versteht Philosophiegeschichte als Anthropologiegeschichte, entsprechend würde sich mit der Anthropologie auch Philosophie als solche erledi­ gen. Genauso würde sich Bildungsphilosophie erledigen, wenn nicht davon ausgegangen werden könnte, dass Bildung stattfindet, d.h. – wenn wir Bildung hier salopp als den Prozess der Menschwerdung bestimmen – dass (wir) bereits Menschen sind. In dieser allgemeinen Bestimmung steht das Dass von Bildung ebenso wenig in Frage wie das Dass anthropologischen Fragens. Beides, Bildung als Mensch­ werdung und anthropologisches Fragen, sind unhintergehbar und gerade in dieser Unhintergehbarkeit (in ihrem Stattfinden) werden sie angegriffen – von einer sich vorschnell zur Bildungskritik veren­ genden Bildungstheorie und einer anthropologiekritisch auftretenden ger; Harald Welzer (Hg.): Das Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geis­ tes- und Kulturwissenschaften. München: Beck 2007 [im Folgenden: Heidbrink u. Welzer: Das Ende der Bescheidenheit], S. 93.).

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3.1. Zur Begründungsproblematik von Bildung und Kultur

Philosophie. Hier wiederholt sich, was oben bereits gesagt wurde: dass Bildung im Namen von (eigentlicher) Bildung, Kultur im Namen von (eigentlicher) Kultur kritisiert wird. Der Bildungsbegriff konnte so auffällig illusorisch und inhalts­ leer bleiben, weil er den Menschen als das Wesen vorstellte, das sich erst zu dem machen muss, was es sein will und meist blind blieb dafür, dass er in gewisser Weise immer bereits ist, was er sein soll. Dass die große Stunde des Bildungsdenkens im 18. und beginnenden 19. Jahr­ hundert, also im philosophischen Klima des Deutschen Idealismus schlug, ist hier deutlich spürbar. Und das Erbe Kants und Hegels reißt auch dort nicht ab, wo kritische Erziehungs- und Bildungsphiloso­ phien ihr Augenmerk gerade darauf legen, dass und wie der Einzelne durch die Gesellschaft unterdrückt und von ›wahrer Bildung‹ fernge­ halten, stattdessen kulturindustriell mit Halbbildung oder Unbildung ruhiggestellt würde. Denn hier an der Idee von Bildung festzuhalten und zugleich das, was ihr logisch zugrunde liegt, die Bildsamkeit, in ihrer historischen Erscheinungsweise im Kapitalismus absolut zu verwerfen – verrät einen doppelten Bildungsbegriff bzw. impliziert die Unterscheidung von schlechter und guter Bildung bzw. Bildsamkeit. Die Situation des Menschen, die darin besteht, dass er in einer gege­ benen Welt leben und sich in ihr selbst erschaffen, sein Leben in ihr selbst gestalten muss, wird so – in ihrer ganzen Dramatik – geradezu verschleiert. Dass kritische Erziehungswissenschaft im Anschluss an die Kritische Theorie überwiegend als Gesellschaftskritik auf den Plan tritt, verwundert vor diesem Hintergrund kaum, legt die darin implizite Zwei-Welten-Theorie eines schlechten zu überwindenden und eines guten zu erreichenden Zustandes doch nah, das Problem in der konkreten Gestalt des Industriekapitalismus zu suchen. Für Bildungsphilosophie im dieser Arbeit grundgelegten Sinne ist dies insofern von Nachteil, als Bildung dann zwar noch als ein Mögliches, als ein Soll, für das es zu kämpfen gilt, voraus gesetzt, aber nicht mehr als ein durchaus problematisches und vielschichtige Faktum vorausge­ setzt wird. Als ein solches Faktum verweist es direkt auf Kultur – bzw. bekundet sich diese in ihm in dichter Konsistenz. Mit Landmann ist Kultur genauso wenig wie Bildung als ein Nachträgliches, sondern als für den Menschen konstitutiv vorzustellen. Dass der Mensch sich immer bereits in einer bestimmten Welt als ein bestimmter vorfindet, markiert die Stelle, an der Bildung und Kultur im allgemeinsten Sinne zusammenlaufen. An dieser Stelle setzt jeder Sinn einer Kul­ turkritik an, und nicht erst etwa als Kritik an der Kulturindustrie.

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3. Bildung und Kultur: Vorverständnis – Vorentscheidung

In diesem Sinne steht Kultur in Frage – in der Frage nämlich, was es unter den jeweiligen Umständen seines Sich-vorfindens bedeutet, dass der Mensch sich bildet. – Zugleich setzt die Annahme, dass Bil­ dung und Kultur stattfinden, ihrer Kritik bereits eine erste Grenze bzw. einen Rahmen, was zwar trivial erscheinen mag, dafür aber auf­ fällig oft übersehen oder auf irreführende Weise missverstanden wird und sich so etwa in der Kritischen Theorie in die Annahme einer Alternativlosigkeit bzw. der Vereinnahmung des »Nichtidentischen« durch eine gesellschaftliche Totalität verdünnt. Wer von einem bestimmten Bildungsbegriff ausgehend glaubt, feststellen zu können, Bildung finde schlicht nicht mehr statt, der muss sich zumindest die Rückfrage gefallen lassen, was er sich unter der Wirklichkeit, in der Bildung wenn überhaupt stattfinden kann, vorstellt und ob ihm dabei die kritische Leuchtkraft seines Bildungsbegriffs nicht vielleicht zur Blende wurde, sodass sie Phänomene in ihrer Gestalt nicht mehr klar erkennbar werden lässt, sondern von ihnen vielmehr nur reflexhaft die reine Leuchtkraft des Begriffs negativ zurückstrahlt.

3.2 Typische Spannungsfelder 3.2.1 Kreativität und Defizität Die von kritischer Erziehungswissenschaft dem gesellschaftlichen Zustand attestierte und damit gesellschaftskritisch verengte Defizi­ tät ist für den Bildungsbegriff als solchen grundlegend, wird hier allerdings dem Einzelnen zugeschrieben. Durch die Verschiebung des Defizits in Richtung Gesellschaft bzw. Kultur wird verständlich, warum der Bildungsbegriff der kritischen Erziehungswissenschaft rein emanzipatorisch zu sein beanspruchen kann und glaubt, als solcher von der Defizität des Einzelnen anthropo-logisch nicht mehr ausgehen zu müssen. Entsprechend wäre dann Bildung in der voll­ kommenen Welt humaner Verhältnisse nicht nur nicht nötig, sondern gar nicht mehr möglich. Sofern die Unvollkommenheit des Menschen allein auf die der Verhältnisse zurückgeführt wird, verwirklicht sich mit deren revolutionärer Umwälzung auch der vollkommene Mensch. Anders als in diesem Aufriss wollen wir versuchen, die anthropologisch verstandene Defizität des Menschen von der geschichtlich verstehbaren Defizität sozial-kultureller Zustände zu unterscheiden.

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3.2 Typische Spannungsfelder

Dies allein schon, um die Perspektive des anthropologischen Fragens nach dem Menschen offen zu halten, wofür die Annahme seiner Unvollkommenheit konstitutiv ist. Wenn Defizität Bildung bedingt und wir davon ausgehen, dass Bildung real stattfindet, so nehmen wir damit als realen Erfahrungsgrund von Bildung das Erleben einer bzw. die von innen oder außen kommende Zuschreibung einer Unvollkom­ menheit an. In der Tradition klassischen Bildungsdenkens gehen wir weiter davon aus, dass Bildung vom Subjekt nicht nur erlebt, sondern auch reflexiv mit- bzw. nachvollzogen wird; dies allein schon, um den Begriff u.a. von ›Erziehung‹ und ›Sozialisation‹ abzugrenzen. Von seiner selbsterkenntnismäßigen Seite her besteht Bildung dann in der Feststellung des Einzelnen, in dem, was er bisher von sich und der Welt gewusst hat, noch nicht alles zu wissen, was überhaupt (nicht) wissbar oder, aus welchen Gründen auch immer, ›gut zu wissen‹ ist. Insofern der Einzelne immer bereits Mensch, d.h. vorge­ bildet ist, erlebt er auch seine Defizität als eine (wie konkret auch immer) bestimmte, gerahmte und gerichtete.167 An dieser Stelle wird Landmanns kulturanthropologische These, dass der Mensch bis ins Innerste seiner intimsten Empfindungen hinein Produkt der Kultur ist, pädagogisch fruchtbar.168 Die Variationsbreite des Menschen bzw. Menschlichen zeigt sich hier in der anthropologiegeschichtlich auf­ zeigbaren Vielfalt der Ausdeutungen menschlicher Unvollkommen­ heit wie auch – als diesen korrelierend – der positiven Bezugspunkte jener Vervollkommnungsbemühung, die dann Bildung genannt und als Bildung imaginiert wird. Ob der Sündenfall, die Mangelhaftig­ keit gegenüber dem Tier oder der noch prähistorische Zustand der Gesellschaft das zu Überwindende, ob das »Imago-Dei«, die Vervoll­ kommnung mittels Technik oder die klassenlose Gesellschaft das zu 167 Der einzelne Mensch erlebt Defizität als Wirksamkeit der Kultur an sich selbst. Dass er noch nicht ist – ist immer schon ein Was, das er noch nicht ist. Er ist bereits gebildet, er ist bereits, in ihm ist bereits Kultur. In diesem Sinne besteht der ›Mangel‹ nicht in etwas, das er noch nicht ist, sondern er ist aus etwas (heraus), das er schon ist. – »Ich bin« heißt kulturanthropologisch »Ich bin schon«; »Ich bin nicht« heißt kulturanthropologisch »Ich bin noch nicht«. Der ›Mangel‹ ist nicht ein Fehlendes, ist kein Hinzuzunehmendes, sondern ein Auf-hin dessen bzw. für das, was da ist. Als der, der ich bereits bin, bin ich mangelhaft, das heißt: noch nicht in vollem Sinne das, was ich sein kann oder soll, aber doch schon auf dieses, was ich sein kann oder soll, hin. 168 Wir werden an anderer Stelle sehen, inwiefern diese These bei Landmann nicht deterministisch gemeint ist, sondern in klarer Absage an Existenzphilosophie und Kritische Theorie einen nichtdualistischen Versuch darstellt, den Menschen als Kul­ turwesen zu denken.

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Erreichende ist – spielt an dieser systematischen Stelle noch keine Rolle. Entscheidend ist, dass es von Bildung als Angewiesenheit des Menschen, sich erst zum Menschen bilden zu müssen hin zur Vision eines ›neuen Menschen‹ wenn überhaupt, dann wahrlich nur ein kleiner Schritt ist. Die für sich genommen noch nicht zwingend zeitliche, sondern eher zuständliche Defizität des Menschen wird wie auch seine als ›zeitlich noch unausgedehnte‹ Potenz bestehende Bildsamkeit in der Idee von Bildung verzeitlicht. Der in der Bildungs­ idee vorgestellte Mensch lebt, wie Landmann zufolge der Hebräer, »aus einer stiftenden und verheißenden Vergangenheit in die Zukunft hinein; die Gegenwart bildet nur ein Dazwischen, sie ist gleichsam nur Vorstufe und Vorbereitung, nur Sehnsucht und Hoffnung.«169 Beide Ideen, die der offenen Zukunft und die des sich in sie hinein schaffenden Menschen, laufen im Topos der Kreativität zusam­ men. Dass und inwiefern Landmann in der Kreativität nicht nur die höchste Form menschlichen Handelns, sondern auch die unver­ zichtbare Bedingung menschlichen Selbstbewusstseins sieht, wird an folgender Stelle deutlich. Das Angewiesensein des Menschen auf Bildung wird konkretisiert zu seinem Angewiesensein auf Ausdruck eines Inneren, in dem selbst der Mensch sich noch nicht hat. Im Vorgang der Objektivation gliedert und klärt sich unser Erleben, in ihm gibt es erst seine letzten unbewußten Tiefen frei, die der bloßen Introspektion ewig unzugänglich bleiben. So dient der Ausdruck nicht nur der Mitteilung an andere, sondern dem Selbstverstehen. Erst an seinem Widerhalt lernen wir uns selbst wahrhaft kennen.170

Die aller Kreativität logisch vorhergehende Unbestimmtheit und Defizität ist historisch auf doppelte Weise nachträglich: sofern sie kulturell bestimmt, d.h. bereits als Teil einer kreativ entstandenen Weltdeutung vorliegt und sofern sie vom Einzelnen in einen Ausdruck übersetzt werden muss, um aus dem diffus-innerlichen Erlebtwerden in die Deutlichkeit überzutreten. Wie die »anthropine Lücke« in Landmanns Philosophie nur logisch am Anfang, faktisch aber am Ende steht, indem sie für die am Anfang stehenden Phänomene des Menschenlebens (der Mensch hat sich nur und verliert sich sogleich wieder in seinen Ausdrücken; es gibt ihn nur als und in der Pluralität seiner Seins- und Erscheinungs­ 169 170

Landmann: UuS, S. 304. Landmann: DaD, S. 111.

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weisen, er ist geschichtliches und lernendes Wesen) eine analytische Begründung gibt – so ergibt sich auch die erlebte Defizität des sich bildenden Menschen daraus, dass er sich selbst als bereits vorgebildet wirklich und seiner selbst bewusst wird. Sich bildend Ausdruck zu verschaffen, ist die für den Menschen charakteristische Lebensweise, als Umgang mit der eigenen Unvollkommenheit, die ihm wiederum nur in seinem Produkt – bzw. über dieses Produkt als Differenz – deutlich wird. Nichts anderes bekundet sich auch in der Frage, warum dies so sei.171

3.2.2 Machbarkeit und Zumutung Mit dem bisher Gesagten bewegen wir uns im Bereich der philo­ sophisch-anthropologischen Konstatierung: dem Menschen eignet, wenngleich er immer bereits vorgebildet in die Welt und ihr Gesche­ hen tritt, keine ihm angestammte Lebensform; er ist daher darauf angewiesen, sich selbst erst eine solche Form zu schaffen, in der er sich dann wiederfindet. Dass er dies aber auch könne, ist damit noch nicht gesagt. Und wenn auch hier noch nicht der Ort ist, um zu fragen, wie und ob Landmann die menschliche als eine gelingende Lebens­ form denkt, so wollen wir doch hervorheben, dass die Bildungsidee allgemein und tendenziell von einem Machbarkeitsglauben motiviert, wenn nicht gar durchsetzt ist. Der Annahme, dass der zu Bildende noch nicht Mensch sei, entspricht der Anspruch, dass es notwendig und möglich sei, ihn zum Menschen zu bilden. Selbst wenn Bildung als Grenzphänomen vorgestellt und jede Fortschrittsidee verworfen wird, selbst wenn der Bildungsbegriff nichts als Kritik zum Ziel hat, die jegliche Bildungsansprüche dekonstruiert und hinterfragt – selbst dann wird von der, wenn auch eingeschränkten, Möglichkeit und Machbarkeit von Bildung, Menschwerdung und Kritik ausgegangen. Das ist einerseits trivial, andererseits zu wichtig, um übersprungen zu werden: Nicht erst ein bestimmter Bildungsbegriff, nicht erst das Bil­ Dies gilt zumindest für die philosophische Anthropologie, bedeutet jedoch nicht deren Abschirmung gegenüber anderen Disziplinen und ihren anthropologischen Erkenntnissen. Im Gegenteil verweist gerade Landmann immer wieder auf die Erkenntnisse der biologischen Anthropologie v.a. Adolf Portmanns, ja der Mensch und Tier vergleichenden Forschung überhaupt. Vgl. Landmanns Würdigung Port­ manns: FA, S. 267–272. 171

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dungsverständnis einer bestimmten Gesellschaftsform führt mit sich, dass Bildung zur unerreichbaren und nicht bewältigbaren Zumutung wird. Entsprechend gibt es keinen Bildungsbegriff, der die Machbar­ keitsvorstellung einfach abschütteln könnte. Der bloße Gedanke einer Menschwerdung mutet diese den zu Bildenden zu; und – so paradox es klingen mag – die Zumutung, das Zumutende besteht darin, hat seinen Bezugspunkt darin, dass sie bereits Menschen, dass sie bereits gebildet sind. Dieser Zusammenhang macht jegliche Vorstellung, die sich den Menschen als formbares Wachs oder unbeschriebenes Blatt schön und leicht redet, als Fluchtbewegung kenntlich. Auch jede Rede von Totalität und Universalität der Bildung bzw. des gebildeten Men­ schen ist problematisch insofern sie suggeriert, der junge Halbmensch vervollständige sich im Bildungsprozess zum vollen Menschsein. Die ganze Tiefe bzw. Tragik der Zumutung, die Bildung ist, wird hier ver­ schleiert, besteht sie doch genau darin, dass ein Mensch Mensch wird. Mensch werden »durch Universalität der Bildung, die, was im Sein fehlt, im Wissen ergänzt«172 – so verständlich und aufschlussreich dieses Motto auch sein mag, so problematisch ist die darin enthal­ tene Vorstellung einer Kompensierbarkeit fehlender Seins- durch summierbare Wissensbestände. In dieser Linie steht auch Humboldts Bildungsbegriff, dem zufolge die Aufgabe des menschlichen Daseins darin besteht, »dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen«.173 Problematisch ist auch Humboldts Bestimmung der dazu dienenden Bildung zur »Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung«174, unterschlägt sie doch schlicht, dass diese Wechselwirkung immer bereits stattgefunden hat, was die Frage aufwirft, inwiefern hier leichtfertig von einer freien Wechselwirkung im Bildungsprozess gesprochen werden kann. Möglicherweise ist hier noch Kants transzendentaler Idealismus wirksam, dem zufolge der Mensch, d.h. das Subjekt, die Welt immer nur vermittelt durch Landmann: Teuer bezahlte Vernunft – Ist Vernunft noch das Humanum. In: Oskar Schatz (Hg.): Was wird aus dem Menschen? Analysen und Warnungen prominenter Denker. Graz u.a.: Styria 1974, S. 80 [im Folgenden: Teuer bezahlte Vernunft]. 173 Humboldt, Wilhelm v.: Theorie der Bildung des Menschen. In: Ders.: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. 3., unveränd. Aufl. Stuttgart: Cotta 1980, S. 235, Herv. F.S. 174 Ebd. 172

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seine Vorstellungen von ihr hat, d.h. sie denkend aufbaut und geistig erschafft. Dieses Die Welt, das bist Du! ist dem bereits Gesagten entsprechend um ein Du bist bereits Welt! zu ergänzen, womit es begrenzt und vertieft wird. Genauso wenig wie der menschliche Geist von der Außenwelt, ist die Idee des gestalt- und machbaren Menschen getrennt von der Erfahrung seiner Wirksamkeit in der Welt und an ihren Dingen: »Die gegebenen Stoffe und Wesen sind nur vorläufig-zufällig. Sie stehen in seiner Verfügungsgewalt und sollen durch ihre Neukon­ stituierung erst menschengerecht werden. Der Glaube an die unbe­ grenzte Machbarkeit aller Dinge beginnt.«175 In der Vorstellung, die Natur sei noch nicht, was sie sein kann oder soll, noch nicht auf der Höhe ihrer Entwicklung, habe das Optimum ihrer Entfaltung noch nicht erreicht, ist diese bereits aufgeteilt in einerseits gewusste und praktisch bereits verfügbare, andererseits unbekannte, noch zu erreichende Elemente und Dimensionen. Insofern zeigt sich auch die Bildungsidee zwangsoptimistisch in der Forderung an den sich Bildenden, neugierig und mutig das ihm an seiner eigenen Person bis­ her »Ungewisse in Kauf [zu nehmen] für die Chance der Entdeckung unbetretener Kontinente.«176 Besteht hier die Zumutung bereits in der vorausgesetzten bzw. eingeforderten Haltung des sich bilden sollenden, ja wollenden Menschen, so besteht sie, was die Zielstellung von Bildung betrifft, in der vorgestellten Totalität und Universalität des dann gebildeten Menschen. Insofern der klassische europäische Bildungsbegriff seine stärks­ ten Inspirationen durch die Philosophie erfahren hat, fällt sein Telos mit dem der Philosophie zusammen: am logischen Ende des Bildungs­ prozesses steht, aller Konflikte und Aporien zum Trotz bzw. diese versöhnend, »das Aufgelöstsein der Aporie« und »Widerspruchslo­ sigkeit.«177 Dieses Ideal ist nicht nur als Ideal, also in seiner Uner­ reichbarkeit, problematisch, sondern v.a. deswegen, weil es die reale Zumutung einer Bildung verharmlost bzw. auf die Zeit ihres Prozes­ ses beschränkt. Landmann: Ökologische und anthropologische Verantwortung – eine neue Dimension der Ethik. In: Gerechtigkeit. Themen der Sozialethik. Hg. u. eingel. v. Armin Wildermuth u. Alfred Jäger. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1981, S. 172 [im Folgenden: Ökologische und anthropologische Verantwortung]. 176 Landmann: Sichtbares und Unsichtbares im Wechselspiel, S. 54. 177 Landmann: Elenktik und Maieutik. Drei Abhandlungen zur antiken Psychologie. Bonn: Bouvier 1950, S. 43 [im Folgenden: EuM]. 175

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Im Gegensatz dazu setzt Landmann kritisch bei den Konflikten und Widersprüchen im Einzelnen an und stellt davon ausgehend die Vorstellung einer sich bildenden Totalität in Frage: »Muß bei solchem Gezerrtsein nach allen Richtungen der Mensch nicht fast zerrissen werden und sich aus einem Individuum in ein Dividuum verwan­ deln?«178 Das, was wir zum kritischen Ausgangspunkt des Nachden­ kens über Bildung nehmen – die hinzunehmende Tatsache, dass der Mensch immer schon gebildet ist – verdünnt sich im klassischen Bil­ dungsbegriff zur idealistischen An- bzw. Vorwegnahme, der Mensch werde ›am Ende schon gebildet, d.h. mit sich und der Welt versöhnt sein‹. Indem hier die Integrität des sich bildenden Subjekts bereits vorausgesetzt ist, wird die Frage nach ihrer Möglichkeit und ihren mannigfaltigen Wirklichkeiten obsolet. Dagegen führt der durch die Realitätsannahme von ›Bildung‹ angestoßene Bildungsbegriff mit seiner sich von dieser her ergebenden Kritik notwendig auch auf diese Frage, und zwar auf doppelte Weise: Erstens durch synchronen und diachronen Vergleich der unterschiedlichen Bedeutungen, die mit der Vorstellung von Integrität und Totalität verbunden (worden) sind. Die Frage nach Kontinuitäten oder gar verlässlichen Strukturen stellt sich hier mindestens als Frage nach den erkenntnistheoretischen Prämissen und den methodischen Mitteln, die einen solchen Vergleich überhaupt möglich und sinnvoll erscheinen lassen. Zweitens durch die – möglicherweise durch solchen Vergleich angeregte – Kritik an jenen Vorstellungen eines fertigen oder vollkommenen Menschseins. Diese kann ihren Ausgang nur bei der Realitätsannahme der ›Bildung als Menschwerdung des Menschen‹179 nehmen. In dem Maße, in dem sie die Einheit des Menschen wie auch die Einheit der Welt Landmann: EuM, S. 112. Diese Formulierung und das in ihr versuchsweise Ausgedrückte ist in sich span­ nungsreich, ja paradox – und bleibt damit offen und ansprechbar für Kritik, wie Horst Seidl sie in Bezug auf die folgende Aussage Landmanns anführt: »Wohl liegt die Anlage zur Menschheit kraft unseres Menschseins in uns, aber dennoch muß das Menschliche in uns erst reifen. Wir sind im Grunde noch gar keine wahren Menschen, sondern müssen es immer erst noch werden. Wir haben nicht sondern lernen Vernunft. Anthropologie muß sich durchführen als Geschichtsphilosophie« (Landmann: PA, S. 29) Dazu schreibt Seidl: »In diesen Aussagen liegt etwas Widersprüchliches, das durch den geschichtsphilosophischen Ansatz des Verf. selbst hineinkommt. Was soll der Ausdruck »kraft des Menschseins« noch für eine Kraft haben, wenn im nächsten Satz gesagt wird, daß wir noch gar keine Menschen sind, sondern erst werden?!« (Seidl, Horst: Vom Dasein zum Wesen des Menschen. Erörterungen zur philosophi­ schen Anthropologie zwischen Tradition und Gegenwart. Hildesheim; Zürich; New 178

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als Ausgangspunkt für einen Bildungsbegriff fallen lässt, macht sie überhaupt sichtbar, inwiefern Bildung als solche eine Zumutung (schon immer gewesen) ist. ›Bildung‹ wird zu einem Grenzbegriff im doppelten Sinne, der einen grenzüberschreitenden Prozess beschreibt und dabei selbst an die Grenzen auch des – in irgendeinem Sinne und Ausmaß stets ordnenden und insofern phänomenal Unvermitteltes integrierenden – Denkens reicht.

3.2.3 Entfaltung und Erinnerung In der Geschichte des Bildungsdenkens sind verschiedene Versuche angestellt worden, die Integrität des sich Bildenden zeitlich oder transzendental rückzukoppeln. Das oben erläuterte Theorem – die Aufspaltung der Welt in einen bereits erkannten und realen und einen noch unerkannten und zu verwirklichenden Bereich – wird hier für die Problematik der Integrität und Totalität der Bildung wirksam. Und zwar ist es nun das in der Natur des Menschen bereits Angelegte, das – über Erziehung und Bildung – lediglich zur Entfaltung gebracht werden soll. Mag die Voraussetzung einer Naturanlage auch notwendige Bedingung für den Bildungsbegriff sein, so ist sie umgekehrt selbst bereits von einem entsprechenden Bildungsverständnis, also der Vorstellung, der Mensch werde Mensch durch Entfaltung seiner in ihm bereits angelegten Kräfte, getragen. Es stellt sich nun die Frage, ob diese idealistische Annahme sich mit der Realitätsannahme von Bildung verträgt; wir werden später sehen, dass Landmanns Kulturanthropologie beide miteinander verbindet, ohne sie zu versöhnen. An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass die Annahme einer sich entfalten könnenden und zu entfaltenden Natur des Menschen für die Vorstellung und (vermeintliche) Absicherung der Integrität des sich bildenden Einzelnen tragend ist. Der erwähnte Einwand gegenüber jeder philosophischen Anthropologie, sie setze den Menschen, nach dem sie fragt, damit bereits voraus, ergeht hier zu recht; mit anderen Worten: die vom Bildungsbegriff gemeinte Menschwerdung bezieht sich auf den Menschen an sich. Sofern jeder einzelne Mensch, den Bildungs- und Erziehungsbemühungen betreffen, (als) Gattungswesen (bereits) Mensch ist, konzentriert sich York: Georg Olms 2001 [im Folgenden: Vom Dasein zum Wesen des Menschen], S. 212).

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die Frage nach Erziehung und Bildung auf das Wie seiner konkreten Menschwerdung. Die Realitätsannahme von Bildung ist hier idealis­ tisch gewendet: der Mensch ist bereits seiner Anlage nach Mensch, etwa indem er – bei Kant – vernünftiges Wesen ist, sofern er nicht nur am Reich der sinnlichen Erscheinungen, sondern auch am Reich der Ideen, des Intelligiblen teilhat.180 Dass der Mensch immer bereits Mensch ist im Sinne der Kultur, in die er hineingeboren wird und die ihn vorprägt, wird solchem Bildungsverständnis, wenn überhaupt, erst sekundär bedeutend. Die Idee der Entfaltung angelegter Kräfte taucht in ihrem wis­ sens- und erkennensmäßigen Aspekt und in zeitlich umgekehrter, also zurückgehender Richtung als Anamnesis bei Platon, und wie Landmann eindrücklich zeigt, später in anderer Gestalt bei Freud auf: Daß die Gefragten, wenn man sie richtig fragt, ohne daß ihnen von außen irgendwelche Kunde zuteil wird, etwas, was sie vorher nicht wußten, mit einmal wissen, führte zu der Deutung, daß der Mensch sich dieses Wissen nicht im strengen Sinn, so wie anderes Wissen, erwerben müsse, sondern daß es im Grunde schon in ihm bereit liege, daß es ihm ›eingeboren‹ oder, wie der spätere, von uns schon vorweggenommene Ausdruck lautet, daß es jeweilen schon ›vorher‹, d.h. vor dem Erfahrungswissen, daß es a priori sei.181

Beide Ideen – die der Naturentfaltung und die des angeborenen Wissens – sind für die Defizitäts- und die Machbarkeitsannahme des Bildungsbegriffs insofern entscheidend, als sie sie gewisserma­ ßen entlasten: die unbestimmt-offene Formbarkeit des Menschen wird zur Entfaltbarkeit seiner Natur idealisiert; die unbegrenzte Wissbarkeit des eigenen Selbst wird zur methodisch angeleiteten Heraufholbarkeit des eigentlich nur Vergessenen gewendet. Insofern sie nicht nur als Implikationen des Bildungsbegriffs, sondern auch als die Bildungszumutung begrenzende Bezugspunkte kenntlich werden, werfen sie die kritische Frage auf, von welchen Bedingungen und Halterungen ein Bildungsbegriff ausgeht, der im Sinne der Philoso­ phischen Anthropologie der 1920er Jahre (aber z.T. auch bereits Herders) beansprucht, auf die Vorstellung einer Natur des Menschen gerade zu verzichten. Auf diese Frage antwortet Manfred Buhr, wenn er schreibt: 180 Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hg. v. Theodor Valentiner. Stuttgart: Reclam 2008, S. 95 ff. u. 111 [im Folgenden: Grundlegung]. 181 Landmann: EuM, S. 37 f.

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3.2 Typische Spannungsfelder

Jede Erscheinungsform philosophischer Anthropologie hat […] escha­ tologischen Einschlag und steht in einem – direkten oder indirek­ ten – religiösen Begründungszusammenhang. Die Bücher des Alten Testaments, besonders das Buch Hiob, liegen aller philosophischen Anthropologie unausgesprochen zugrunde.182

Inwiefern diese apodiktisch formulierte These auf Landmann zutrifft, werden wir im Laufe der Arbeit genauer untersuchen. Hier sei zunächst nur dreierlei angemerkt: Erstens bedeutet ein religiöser Begründungszusammenhang nicht zwingend, wie Buhr hier sugge­ riert, auch einen eschatologischen Einschlag. Zweitens finden bei den Denkern der philosophischen Anthropologie Bezugnahmen auf religiöse Zusammenhänge durchaus Erwähnung, wenngleich sie sich (mit der Aufnahme vielleicht Schelers) von religiöser Anthropologie dezidiert abgrenzen und vielmehr in den Lebenswissenschaften einen theoretischen Anker suchen. Drittens lässt sich Buhrs These ebenso gut auf seine eigene marxistische Position, von der aus sie formuliert ist und die sich in ihr verrät, anwenden, was hier nicht nur der Vollständigkeit halber angebracht, sondern auch nötig wäre, sofern er seine Position ja gerade von philosophischer Anthropologie abzu­ grenzen versucht. – Zielführender als Buhrs Kritik am religiösen Ein­ schlag philosophischer Anthropologie wäre die offen gestellte Frage, welche Annahmen und Probleme es mit sich führt, den Bildungsbe­ griff ganz grundsätzlich weltanschaulich frei halten zu wollen. Es könnte sein, dass in dem Maße, in dem man ihn als kritischen Begriff offen, d.h. unbestimmt lässt, er seine Bestimmung umso mehr durch jene Wirklichkeit erhält, in der sich Bildung immer bereits vollzieht, in der also der Mensch immer bereits durch das Leben in einer Kultur konkret Mensch (geworden) ist. Impliziert nicht, den Bildungsbegriff streng offen zu halten, eine allzu strenge Trennung von Geist und Leben? Berechtigterweise von jedem Essentialismus des Menschen, sei es seiner Naturalisierung oder Idealisierung, und damit auch von den Ideen der Entfaltung einer angelegten Natur und der Rückerlangung bereits gehabten Wissens ein für alle Mal Abschied nehmen zu wollen – dieser Wille zur Überwindung begründet und bedeutet noch nicht ihre Möglichkeit. Mehr noch liegt in der Auflö­ sung und Verflüssigung aller Essenzen und Substanzen selbst der

182 Buhr, Manfred: Entfremdung – philosophische Anthropologie – Marx-Kritik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 14 (1966), S. 822 [im Folgenden: Entfremdung].

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3. Bildung und Kultur: Vorverständnis – Vorentscheidung

ideelle Grund genau jener Menschwerdungsweisen, die im Namen der alles auflösen wollenden Philosophien kritisiert werden. Ideengeschichtlich ist gerade die Idee der sukzessiven Entfaltung einer im Menschen angelegten Natur in seiner Geschichte selbst bereits eine Dynamisierung älterer starrerer Vorstellungen. Je mehr man sich im Nachdenken über Bildung gegen diesen Zusammenhang abschirmt, desto stärker wird man geneigt sein, die Kritik am Bil­ dungsbegriff direkt mit einer empirisch verstandenen Kulturkritik, d.h. einer Kritik am System, an den gesellschaftlichen Strukturen usw. zu verwechseln oder zu vermengen. Dies führt zu Formulierungen wie bspw. der, auch das organisierte Denken an den Universitäten sei zunehmend durch den Markt vereinnahmt. Diese Behauptung ist insofern nicht falsch, als sie sich durch die Identifizierung entspre­ chender Prozesse und Zusammenhänge belegen und so plausibel machen lässt. Gleichzeitig ist die Rede von Vereinnahmung zumindest insofern irreführend, als sie eine Trennung der Bereiche des Geistigen und des Realen voraussetzt. Schlimmstenfalls führt solche Kultur­ kritik in eine als Überkompensation empfundener Vereinnahmung verstehbare selbstmitleidige Abschirmung der Geisteswissenschaften und ihres klassischen Bildungsbegriffs, anstatt diesen selbst neu anzugehen, was auch bedeutet, ihn nicht nur im Zusammenhang seines Vereinnahmtwerdens durch die Kultur, sondern selbst als Kata­ lysator solcher Vereinnahmung in Betracht zu nehmen.

3.2.4 Skepsis und Kontrolle Wie einer Philosophie der Bildung diese nicht erst durch ein bestimm­ tes Gesellschaftssystem zur Zumutung wird, sondern, indem sie von der Realitätsannahme ausgehend einen kritischen Begriff der Menschwerdung entwirft, sich ihr Bildung als solche zumutet – so bietet der klassische Bildungsbegriff auch den ideellen Rahmen für jene Tendenzen absoluter Skepsis und auf Dauer gestellter subjekti­ ver Selbstkontrolle, wenngleich gerade sie im Namen der Bildung völlig zurecht kritisiert werden. Der oben erläuterte Zusammenhang zwischen dem Infragestellen, Erforschen- und Gestaltenwollen der Welt (der äußeren Natur) und der Skepsis und dem Verändernwollen des eigenen Selbst (der inneren Natur) zeigt sich ideengeschichtlich exemplarisch an der Entwicklung des Protestantismus: in Folge der

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3.2 Typische Spannungsfelder

inneren Zerreißungen des Christentums und im Zuge der Hinwen­ dung des Protestantismus zur Welt öffnet sich die religiöse Gewissheit des christlichen Menschen für die skeptisch-prüfenden Grundzüge der die Welt erforschenden Wissenschaften. Im »Neuprotestantis­ mus« verbinden sich »die protestantischen Prinzipien der selbsterrun­ genen Gewißheit und der inneren Zustimmung sehr wohl mit den wissenschaftlichen der stets erneuten Prüfung, der Wahrhaftigkeit und des kritischen Gewissens.«183 Man könnte dies als Indiz dafür nehmen, wie fragil die (in dem Fall theologische) Gewissheit in ihrer Funktion als Rückbindung jener Bildungszumutung ist; wenigstens zeigt sich hier, dass sie überhaupt als eine solche Rückbindung fun­ giert. Doch auch in dieser Funktion fällt Religion ebenso wenig mit ewiger Gewissheit zusammen wie Aufklärung (als ihr klassischer Gegenspieler) mit auf Dauer gestellter Ungewissheit. Gerade Landmanns problemgeschichtlicher Zugang lässt sich für eine Ideengeschichte des Bildungsdenkens fruchtbar machen, um auch zeitgenössische Ideale, in deren Namen Bildung gefordert wird, als fragile Stützpunkte der Bildungszumutung deuten zu können. Jene die Bildung des Menschen leitenden Ideen (etwa das Persönlich­ keitsideal oder eine gottgefällige Lebensführung) werden lediglich überwunden, indem an ihre Stelle andere Leitideen wie die »moderne Kategorie der Echtheit« treten.184 Dabei ist nicht der Echtheitsge­ danke an sich neu, sondern vielmehr verändert sich, worauf er sich richtet: Bei Platon korrespondieren den zwei Wissensformen – dem unechten Alltagswissen (doxa) und dem echten wissenschaftlichen Wissen (episteme) – auch Gegenstände – die veränderlichen Dinge der Erscheinungswelt und die ewigen Ideen. Für Pädagogik bei Pla­ ton bedeutet dies, dass der sich Bildende sein Wissensverlangen auf die höchsten Gegenstände der Erkenntnis richten soll, um über sie wahres Wissen zu erlangen. Sofern der Mensch bei Platon an den Ideen (als dem höchsten Wissbaren) als Vernunftwesen immer schon teilhat, konzentriert sich – wir sagten es bereits – die Bildung um das Wie der Erlangung einer bereits feststehenden und ewigen Wahrheit. Echt sind das Wissensverlangen und der Wissensweg nur insofern, als sie dem Gegenstand adäquat sind. Dagegen wird im modernen Bildungsverständnis, das den Gedanken einer objek­ tiven Wahrheit (als endgültiger Wahrheit unveränderlicher Dinge) 183 184

Landmann: P, S. 182. Ebd., S. 353.

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3. Bildung und Kultur: Vorverständnis – Vorentscheidung

zunehmend fallen lässt, die Echtheit auf das Subjekt verlagert. In der Pädagogik bedeutet dies die Fokusverschiebung vom Inhalt des Wissens zur Methode seines Erwerbs. Die Echtheit der Bildung (und die Legitimität ihrer Forderung) zeigt sich nun darin, »statt direkt und nur das Wissen zunächst einmal die zu ihm gehörigen Voraussetzungen zu erwerben.«185 Im ideengeschichtlichen Kontext dieser Formalisierung der Bildung ist sowohl das Plädoyer für ein Lernen des Lernens186 als auch die zunehmende Transformation der an Bildung in ihrer Problematik interessierten Fragestellungen in empirische Methodenfragen ihrer Erhebung zu sehen. Dabei wäre es kurzsichtig, letzteren zu unterstellen, sie seien unkritisch. Dem schärferen Blick zeigt sich, dass sich vielmehr der Fokus der Kritik verschoben hat, was jedoch nicht minder problematisch ist. So ent­ zieht sich einem Verständnis, das Bildung politisch zum Mittel für soziale Gerechtigkeit erklärt und gleichzeitig empirisch erheben zu können glaubt, die Tiefe der Problematik, die im Begriff von Bildung als Menschwerdung des Menschen liegt. Die Realitätsannahme von ›Bildung‹ verdünnt sich zur empirischen Erhebung der Ungleichheit sozial-kultureller Bedingungen des Lernens. Dabei ist gar nicht so sehr die Forderung ›gleicher Voraussetzungen und Chancen für alle‹ das Problem, sondern die Vorstellung, gleiche Bedingungen hätten bei allen die gleichen Folgen. Nicht nur die offensichtliche Heteroge­ nität der Individuen (ihrer Interessen, Fähigkeiten und Grenzen), sondern auch sachlich bedingte Komplikationen – etwa, »daß mit dem Erwerb der einen Voraussetzungen vielleicht der Verlust anderer, mit ihnen nicht vereinbarer Voraussetzungen, und so auch der der an diesen hängenden Wissensmöglichkeiten, einhergehen muß«187 – geraten so aus dem Blick- und Wirkfeld der Pädagogik. In einer modernen Kultur, die den Einzelnen vor eine Unzahl realer oder virtueller Handlungs- und Menschwerdungsoptionen stellt und ihm die Bewältigung dieser Situation im Modus skeptisch-überprüfender Landmann: P, S. 353. Vgl. Ralf Koerrenz, der bemerkt, es sei »wohl nicht übertrieben, das Mensch-Sein in der Moderne ganz zentral in dieser Fähigkeit und Befähigung zum Lernen selbst zu bestimmen. Der Mensch lernt nie aus – dieser Allgemeinspruch gewinnt in der Moderne eine programmatische Dominanz« (Lebewesen Mensch – Lernwesen Mensch. Perspektiven für den jüdisch-christlichen Dialog im Anschluß an Leo Baeck. In: Leo Baeck – zwischen Geheimnis und Gebot: auf dem Weg zu einem progressiven Judentum der Moderne. Osnabrück: Evang. Presseverb. f. Baden 1997 [im Folgenden: Lebewesen Mensch – Lernwesen Mensch], S. 252). 187 Landmann: P, S. 353. 185

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3.2 Typische Spannungsfelder

Selbstverwirklichung abverlangt, verliert ein solcher Bildungsbegriff im ›politischen Engagement‹ sein Deutungspotenzial für genau diese Situation – und damit auch seinen selbstkritischen Bezug.

3.2.5 Selbstwert und Instrumentalisierung Dieser selbstkritische Bezug geht dem Einzelnen v.a. dann verloren, wenn er die vorgestellte Bildung mit idealisierten Ansprüchen ver­ sieht. Der im klassischen Bildungsdenken wohl beliebteste Kandidat für solche Katharsis ist die Selbstzweck- resp. Selbstwerthaftigkeit von Bildung: Dagegen scheint das Bildungswissen ohne einsichtigen Nutzen zu sein. Es befriedigt zwar die Neugier, es schafft dem Geist Abwechslung und Genuß, aber es könnte auch fehlen. Insofern scheint es der Idee eines »reinen« Wissens, in dem sich eine isolierte Erkenntnisfunktion auf eine ihren Wert in sich selbst tragende Wahrheit richtet, am nächsten zu kommen.188

Sofern man das Wahre mit dem In-sich-ruhenden, Selbstwertigen, Autonomen gleichsetzt bzw. verwechselt, haben auch Bildung und ihr Wissen stets den Beigeschmack des Reinen, maßlos Erhöhten, ja Sakralen. Diese Identifizierung ist jedoch aus zwei Gründen unzutref­ fend. Erstens können – wenn wir die entsprechende Unterscheidung hier einmal annehmen – auch andere Wissensformen im Pathos und mit dem Anspruch der Selbstwerthaftigkeit angestrebt werden, wodurch sie dann vom Bildungswissen nicht mehr unterscheidbar wären. Auch der Versuch, dieses Problem zu lösen, indem Bildung als eine bestimmte Form bzw. Weise der Reflexivität verstanden wird, die sich prinzipiell auf jeden Gegenstand richten kann, befriedigt hier nicht, ja überfordert den Bildungsbegriff und löst ihn in reiner Forma­ lität auf. Diese Formalität – und damit gehen wir zum zweiten Punkt über – erkauft sich der Bildungsbegriff durch das Ausblenden der konkreten Lebensbezogenheit eines jeden Bildungsprozesses, d.h. der Realitätsannahme von Bildung als Menschwerdung des Menschen. Im Zusammenhang und unter Berücksichtigung dieser Lebensbezo­ genheit ergibt die Rede von der Selbstzweckhaftigkeit der Bildung nur Sinn, wenn damit der Selbstzweck des ›konkreten Menschen‹ 188

Landmann: UuS, S. 200.

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3. Bildung und Kultur: Vorverständnis – Vorentscheidung

gemeint ist. Damit aber verschiebt sich die Bedeutung dessen, was mit Bildung als Selbstzweck gemeint ist: nicht mehr die – wie auch immer rückgehaltene – Natur des Menschen ist der Selbstweck der Bildung des Einzelnen, sondern dessen konkrete Lebensbewältigung in der Spannung zwischen Menschsein und Menschwerdung. In dieser allgemeinen Bestimmung ist Bildung Selbstzweck, sofern sie zu nichts weiterem das Mittel sein kann. Als Geschehen jedoch ist sie weder Selbstzweck noch überhaupt Zweck, sondern tatsächlich Mittel – eben zur Bewältigung eines konkreten Lebens. Wir müssen, um dieses Problem bis in die Tiefe hinein verfol­ gen zu können, jenem Motiv nachgehen, das in der Geschichte des Bildungsdenkens immer wieder zum Gedanken der Selbstzweckhaf­ tigkeit von Bildung geführt hat und bis heute führt. So soll deutlich werden, dass wir die Instrumentalisierung von Bildung für bspw. ökonomische Zwecke nicht begrüßen müssen, um verstehen zu kön­ nen, dass Bildung als Faktum unentrinnbar vom sich vollziehenden Leben getragen ist.189 Mit anderen Worten: Bildung findet statt; ihr Begriff kann sein kritisches Potential nur eingedenk dieser es öffnenden Grenze entfalten. – Das Pathos der Selbstwerthaftigkeit der Bildung speist sich nicht unerheblich aus der Angst vor ihrer Instru­ mentalisierung und hat insofern auch seinen praktischen Sinn.190 Was den Bildungsbegriff angeht, führt dies jedoch jene oben genannte Sakralität des Bildungsgedankens mit sich: das, was in der Praxis einer Instrumentalisierung entzogen, d.h. unverfügbar bleiben und insofern geschützt werden soll, das ist dann auch in der Annahme der Bildungstheorie unverfügbar. Jedoch – als solches ist es doch nicht 189 Die Kritik an ›Verzweckungen‹ von Bildung ist verbunden mit der Vorstellung einer Selbstzweckhaftigkeit von Bildung. In dieser ist zwar einerseits die Paradoxie der Bildung ausgedrückt, die in der Frage besteht, wie etwas Zweck an sich selbst, wie etwas sich selbst Zweck sein könne; gleichzeitig aber ist in ihr als einer selbst­ referentiellen Leerformel verschwiegen, dass die Bildung als jeweilige kulturelle Menschwerdung ebenso wie die Kritik an dieser auf’s Engste mit bestimmten Zwecken (Humanität, Mündigkeit, Urteilsfähigkeit, Sozialität usw.) verbunden, ja von diesen ›durchwirkt‹ ist. 190 Mit Bezug auf Schule, Schulbilder und in diesen enthaltene Erwartungshaltungen und Legitimationsmuster weist Ludwig Duncker auf diese Gefahr hin, wenn er schreibt: »So sich die gesellschaftlich-funktionale Betrachtung der Schule gar als die allein gültige schultheoretische Konstruktion in den Vordergrund schob, bestand die Gefahr, Bildung auf einen Schulzweck zu reduzieren und unter instrumentelle Kate­ gorien (Verwertbarkeit, Machbarkeit, Zweckrationalität usw.) zu stellen« (Duncker: Lernen als Kulturaneignung, S. 10).

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3.2 Typische Spannungsfelder

minder instrumentalisierbar: eben diese Mystifizierung der Bildung ist ja selbst eine Form ihrer Instrumentalisierung. Die Problematik einer Instrumentalisierbarkeit von Bildung muss nicht nur als Gefahr, die man fürchtet, in die Bildungskritik, sondern als Faktum, mit dem man es zu tun hat, in die Bildungstheorie hineingenommen werden. Damit wird die Frage, ob Bildung erzeugbar sei, nicht etwa anders, also mit Ja beantwortet, wohl aber in einem ganz anderen Sinne gestellt – als Frage nach den konkreten Lebens- und Erfahrungs­ zusammenhängen, in denen Bildung immer stattfindet. Es ist mit der Realitätsannahme von Bildung unverträglich, die Phänomene und Strukturen, die man kritisiert, weil sie Bildung einem externen Zweck unterstellen, von vornherein nicht Bildung zu nennen, um Bildung formalistisch als ›Unverfügbarkeit‹ theoretisch sicherstellen, reinwaschen und so letztlich immunisieren zu können. Ein an der Wirklichkeit ansetzender und dann von ihr abspringender, d.h. kriti­ scher Bildungsbegriff ist so nicht zu gewinnen. Die ganze Bildungs­ problematik ist idealistisch auf ein eschatologisches Nirgendwann bzw. ein metaphysisches Anderswo verschoben. Bildung vermag so nichts weiter zu meinen als einen Prozess (einen Bereich) der unverfügbaren Veränderung (Existenz) des Subjekts, dessen Schick­ salsschwere verschleiert wird, weil solche Veränderung (Existenz) gegenüber einer per se negativ gesehenen Umgebung nur gut sein kann. Erschütterung ist dann als solche zu bejahen und Bildung per se Opposition. Nicht, dass einem solchen Verständnis die für den Bildungsprozess charakteristischen Erfahrungen fremd wären; jedoch verkürzt es sie auf diejenigen Dimensionen, die mit seinen kritischen Impulsen zusammenfallen. Anstatt reale Erlebnisse als Bildungswirk­ lichkeit zu deuten, d.h. die Wirklichkeit ihrem Begriff zu öffnen, wird die Vereinnahmung eines sich merkwürdig isoliert vermeinenden Bildungsbegriffs durch diese Wirklichkeit beklagt. Die gerade für den Bildungsbegriff so zentrale Kategorie der Unverfügbarkeit kann dann nichts anderes bedeuten als die gewollte und geforderte Freiheit des Einzelnen gegenüber einer ihn unterdrückenden Gesellschaft resp. Kultur. Dabei ist gerade die Kategorie der Unverfügbarkeit, bereits bevor sie als kritische Pathosformel auf den Plan tritt, für die Rea­ litätsannahme von Bildung zentral: Nicht nur soll das Individuum dem Weltzugriff unverfügbar bleiben, auch umgekehrt erlebt das Individuum die Welt in ihrer Unverfügbarkeit: als Welt, die bereits an ihm wirksam wurde, die es aus seinem Menschsein nicht herausfallen

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3. Bildung und Kultur: Vorverständnis – Vorentscheidung

oder dieses Herausfallen mindestens problematisch werden lässt; als Welt, aus der es nicht verschwinden kann, von der also letztlich alles, was es als Freiheit und Selbstbestimmung erleben kann, noch getra­ gen ist, die alles bedingt, was ihm überhaupt zum Anlass seiner Bil­ dung werden kann. Dies ist die Unverfügbarkeit der Welt, von der ihre Fremdheit, Bedrohlichkeit, Stummheit analytisch zu trennen sind, will man den Blick für die Heterogenität und die Schichten der Bil­ dungserfahrungen offen halten. Hier zerfällt die Welt (noch) nicht dualistisch in einen entfremdet-bildungsfeindlichen und einen ver­ söhnlich-bildungsfreundlichen Teil. Weder die Rede von Bildung als Selbstzweck noch die von einer Instrumentalisierung der Bildung ergibt hier Sinn, schließlich geht es um Bildung in den Weisen ihres Erlebtwerdens. Nur sofern die Zweckfrage oder das Problem der Instrumentalisierung selbst Aspekte dieses Erlebtwerdens sind, wer­ den sie hier relevant. Im Pathos der Selbstzweckhaftigkeit von Bildung ist nicht nur normativ über Bildung, sondern auch analytisch über ihren Begriff vorentschieden und damit eine seiner zentralen Aufgaben, d.i. die Beschreibung der Bildungswirklichkeit ausgehend von der Annahme ihrer Realität, ausgespart. Wenn Landmann im Anschluss an das weiter oben Zitierte schreibt, auch die Wahrheit des Bildungswissens löse »Wirklichkeitsfolgen aus und wirkt als Ferment im Gesamtkom­ plex der Lebensentfaltung«191, so ist damit der Bildung eine reale, Wirklichkeit gestaltende und verändernde Kraft zugesprochen, an die eine Kritische Theorie infolge ihres Zerreißens des Bildungsbegriffs in Kritik der Gesellschaft und Idealismus eines »Nichtidentischen« notwendigerweise nicht mehr zu glauben verstand.192

Landmann: UuS, S. 200. Vgl. zum Pessimismus wenigstens der ersten Generation der Frankfurter Schule Michael Landmann: Foreword. In: Zoltán Tar: The Frankfurt School: The critical the­ ories of Max Horkheimer and Theodor W. Adorno. New York; London; Sydney; Toronto: John Wiley & Sons 1977, S. VII–XVII (v.a. S. XIV); außerdem Land­ mann: Rückblick auf die Frankfurter Schule. In: Wiederkehr der Wölfe. Die Progres­ sion des Terrors. Herderbücherei Initiative 24. Hg. v. G.-K. Kaltenbrunner. Freiburg; Basel; Wien: Herder 1978, S. 101–116. 191

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3.3 Zeiten, Schritte, Räume, Schichten

3.3 Zeiten, Schritte, Räume, Schichten 3.3.1 Hermeneutische Prozessualität der Bildung Wenn wir mit Landmann versuchen, den Bildung kennzeichnenden Prozess analytisch zu zerlegen, kommen wir auf eine Struktur, die wir als ›hermeneutischen Dreischritt‹ bezeichnen.193 Hier erhellt sich, dass die Idee der Selbstzweckhaftigkeit der Bildung für die Beschreibung ihrer Erfahrungswirklichkeit zugleich aufschlussreich und irreführend ist. Aufschlussreich, wenn damit die ›Immanenz des Erlebtwerdens‹ von Bildung, irreführend, wenn damit darüber hinaus auch die ›Immanenz ihres Sichvollziehens‹ gefasst sein soll. Beide Dimensionen sind im Verständnis von Bildung als Vieldeutigwerden eines Eindeutigen und Wiedervereindeutigung des Vieldeutiggewor­ denen enthalten. Die Analyse des Prozesses selbst kann dabei an jeder Stelle einsetzen und geht dann, ihn begleitend und seine Teilmo­ mente fixierend, logisch und zeitlich ordnend, voran. Diese grundle­ gende Struktur findet sich in etwas anderer Form bei Landmann als methodische Schrittfolge der Analyse von Metaphern wieder: Der die Metapher zunächst in ihre Glieder zerlegende und diese in ihrer Besonderheit heraushebende isolierende Blick dringt nicht bis ins Letzte, er war zwar der zweite, aber nicht der abschließende Schritt, und nachdem er uns eine zwar wahrere, nicht mehr kindlich primitive, aber trotzdem nur vordergründig banale Weltsicht beschert hat, darf und muß jetzt, auf dem so Erreichten aufbauend, wieder die Metaphorik einsetzen, und sie erspürt erst das Sublimste. Wie immer, so ist auch hier erst der letzte Schritt der ungeheure. So knüpft auf der Basis eines aufgeklärteren Zwischen die Dichtung strukturell wieder an Urtümliches an.194

Interessanterweise ist es hier genau umgekehrt: nicht das Mehrdeu­ tigwerden eines eindeutig Vorliegenden, sondern die Mehrdeutigkeit der vorliegenden Metapher bildet den Ausgangspunkt für ihre Zer­ legung in Teile, die eindeutig identifiziert und bestimmt werden 193 Vgl. Verf.: Der Mensch zwischen kulturellem Eintrag und schöpferischem Auftrag. Michael Landmanns Kulturanthropologie als Bildungstheorie. In: Bohr, J.; Wunsch, M. (Hg.): Kulturanthropologie als Philosophie des Schöpferischen. Michael Land­ mann im Kontext. Nordhausen: Bautz 2015 [im Folgenden: Der Mensch zwischen kulturellem Eintrag und schöpferischem Auftrag]), S. 141 f. 194 Landmann: DaD, S. 138 f.

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3. Bildung und Kultur: Vorverständnis – Vorentscheidung

sollen, um dann neu in einer wiederum mehrdeutigen Metapher zusammengesetzt werden zu können. Je nachdem, was dem sich Bildenden vorliegt und in welcher Form bzw. Weise es ihm vorliegt, ist der Bildungsprozess anders zu charakterisieren. Dies schließt zwar nicht aus, von seiner Grundstruktur auszugehen, bindet diese jedoch an die vielfältigen Phänomene, an denen sie wie der Bildungs­ begriff überhaupt sich allein bewähren kann. Die Grundstruktur von Bildung so zu denken, setzt erkenntnisanthropologisch die Fähigkeit des Deutenkönnens und ontologisch das Bestehen von Noch-nichtbzw. Un-Gedeutetem195 voraus. Der Deutungsaktivität des Menschen korrespondiert das Bedeutungspotenzial seiner Welt: Keineswegs ist das Vorhandene, wie noch bei Heidegger, ein defizienter Modus des Zuhandenen, sondern das ursprüngliche Vorhandene wird dann erst zur Zuhandenheit spezialisiert, aus der es jederzeit wieder zurücktreten kann. Damit er sie selbst mit der von ihm gewollten Bedeutung aufladen kann, müssen die Dinge dem Menschen zunächst bedeutungsindifferent, aus dem unablässigen Vollzug des Lebens her­ ausgerückt, gegenübertreten.196

Damit beschreibt Landmann die logischen und ontologischen Bedin­ gungen menschlicher Erkenntnis bzw. entwirft er die Situation des Menschen, die wir annehmen müssen, um das, was wir als Menschsein faktisch vorfinden, anthropo-logisch verstehen zu kön­ nen. Faktisch hat es diese Situation nie gegeben; um aber den Men­ schen als geschichtliches Wesen denken zu können, ohne dabei in die reine Immanenz bloßer Beschreibung des je Vorfindlichen zu geraten, müssen wir von ihr ausgehen. Nur so haben wir einen allgemeinen Rahmen, durch den die unterschiedlichen Weisen des Menschseins noch zusammen gehalten und in einer anthropologi­ schen Deutung zusammen geschaut werden können, d.h. einen Begriff von Geschichte. Nun können wir sie nicht nur in ihrer Faktizität hin­ nehmen, sondern überdies in ihrer Individualität annehmen. Sofern wir das Individuum im Lichte der anthropo-logischen Situation des Menschen betrachten, kommt uns die Realität seiner Bildung in Betracht. Dass es immer bereits gebildet ist, dieses Faktum, um dessen Verstehen willen wir den Menschen denken, bildet den Einsatzpunkt der Bildung als Menschwerdung. Dabei kann die von Landmann anthropo-logisch gemeinte Situation der Unvoreingenommenheit 195 196

Vgl. Landmann: EuE, S. 253. Landmann: UuS, S. 26.

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3.3 Zeiten, Schritte, Räume, Schichten

des Menschen gegenüber der Welt auch für das Verständnis konkreter Bildungserfahrungen aufschlussreich sein. Mitunter ist das Gleich­ gültigwerden der Dinge sogar ein Strukturmoment gerade ihrer Kritik und Infragestellung, um die es einem dezidiert kritischen Bildungs­ begriff zu tun ist. Zumindest ein Wechsel aus der Zuhandenheit in die Vorhandenheit der Dinge ist logische Voraussetzung, um sie aus dem unmittelbaren Lebensvollzug herauslösen und kritisch in einen anderen Bezugsrahmen stellen zu können. Doch auch so noch bleibt Bildung eingebunden in das Leben – als einem Bereitsleben und einem Lebenmüssen – des Einzelnen und kann sich insofern nie selbst den Zweck geben. In der Vorstellung von Bildung als Selbstzweck ist eine Verwechslung wirksam: der Bildungsbegriff kann nicht, weil er Bildungsbegriff ist, keine Inhalte oder Ziele vorgeben, sondern weil er Bildungsbegriff ist und als solcher seine Inhalte und Ziele vom Leben her zugespielt bekommt. Diese Verwechslung ist insofern fatal, als selbstverständlich auch und gerade in formalen Bildungsbegriffen bestimmte Inhalte wirksam, aber in dieser Wirksamkeit nicht zugegeben, ja unkenntlich sind. Die Bildung des jeweiligen Menschen steht bereits in seinem realen Lebensvollzug, der stets von bestimmten Zielhorizonten, Wertvor­ stellungen und Zweckbestimmungen getragen und gezogen ist. Dass Zwecke und Werte dabei untereinander in Spannung stehen und sich mitunter ausschließen, dass äußerliche Zwecke den Selbstwert des Einzelnen bedrohen – dies alles kann einen Bildungsprozess real veranlassen und bestimmen; im Bildungsbegriff hat das Pathos der Selbstzweckhaftigkeit der Bildung nur insofern Platz, als es den Blick für die Vielzahl unterschiedlicher Bildungserfahrungen offen hält. Mit anderen Worten: die Möglichkeit und Wirklichkeit von Bildung steht in der Spannung, ideell vom Menschen als Selbstzweck und real vom Menschen als strömenden und sich wechselnde Zwecke setzenden Leben bedingt zu sein. Diese Spannung drückt sich in der Prozessstruktur von Bildung als Dreischritt zeitlich aus. Die Idee einer abschließbaren Bildung ist damit ebenso verworfen wie die ihrer Unmöglichkeit. Vielmehr findet das (vermeintliche) Paradoxon – dass sich Bildung immer wieder (von) selbst erledigt, indem der aufgesprengte Deutungshorizont deutend wieder geschlossen werden muss, andererseits Bildung im Leben nie zu einem Ende findet – in der Spannung von Geist und Leben einen Grund.

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3. Bildung und Kultur: Vorverständnis – Vorentscheidung

3.3.2 Konstellatorisch-figurative Räumlichkeit (Spatialität) der Bildung Die Bedeutungsoffenheit muss zwar wie gesagt im Vollzug des Lebens immer wieder geschlossen werden, dabei bleibt aber, dass der sich Bildende sich und die Welt als mehrdeutig und bedeutungsoffen erlebte, wirksam. Dieses Dass der Bedeutungsoffenheit bzw. Mehr­ deutigkeit macht eine Schicht des Gesamterlebens aus. Nämlich geht, dass der sich Bildende sich verändert und als ein Anderer erlebt, nicht vollständig im Inhalt dieses Anderen, nicht in dem, als was sich dieses Andere inhaltlich zu erkennen gibt, auf. Mit dem schlichten Wechsel von Inhalten ist weder Andersheit begriffen noch überhaupt die mögliche Tiefe bildungstheoretischer Analyse erreicht. Nicht bei jedem Wechsel eines Inhalts kann sinnvoll von Bildung die Rede sein, schließlich kann dieser auch linear gedacht werden, wogegen die Veränderung einer Bedeutung sich nicht linear vollzieht, sodass an die Stelle des Einen ein willkürlich Anderes träte, sondern als komplexer Prozess, bei dem ein Gegebenes in seiner bisherigen Bedeutung fragwürdig wird, wodurch ein in ihm liegendes oder an es herangetragenes Potenzial als solches deutlich und wirksam wird, d.h. im Zusammenwirken mit der nicht mehr fraglos anerkannten Bedeutung eine neue Deutung aus sich hervorgehen lässt. Hier wird bereits deutlich, dass Bildung als Prozess allein nicht hinreichend verstanden werden kann, weil so die Schichten, auf denen ihre zu unterscheidenden Momente liegen, als Schichten, d.h. in ihrer räumlich zu sehenden Anordnung nicht sichtbar werden. ›Aktuali­ tät‹, ›Latenz‹ und ›Potenz‹ sind nicht allein Sukzessionsbegriffe für zeitliche Phänomene, sondern Simultanbegriffe für zugleich ›auftre­ tende‹, kompliziert aufeinander bezogene Schichten, aus denen das untrennbare Leben gleichsam immer wieder zusammenwächst bzw. in denen es, sie umgreifend und so zu sich verbindend, stattfindet. Die eingangs erläuterte Totalität der Bildung erfährt so, indem wir sie nicht mehr als Endzustand einer Bildungsgeschichte des Einzelnen, sondern als formales Strukturmoment seines Bildungserlebnisses auffassen, eine Bedeutungsverschiebung. Bei Landmann finden wir indessen durchaus noch das klassische Verständnis einer sich am zeitlichen Ende einstellenden Gesamtheit: Solange das Leben noch offen strömt, steht dahin, was in ihm bloßer Versuch blieb, was Fortsetzung fand und wo seine stärksten Akzente

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3.3 Zeiten, Schritte, Räume, Schichten

liegen. Erst durch sein Ende rundet es sich zum Ganzen und wird es damit in seiner Gliederung übersichtlich, schält seine Linie sich heraus. […] Die Erkenntnis des Lebens im ganzen, dessen, was es in seinem Gehalt wesenhaft war, gelingt so erst aus der Distanz zu ihm von einem Punkt außerhalb seiner.197

Was hier, da es Landmann um die ›Erkenntnis des Lebens im ganzen‹ geht, unberücksichtigt bleiben muss, ist die auch und gerade für seine Philosophie zentrale Annahme, dass das Leben nicht erst an seinem realen Ende zum Abschluss kommt, sondern sich überhaupt immer wieder in Lebensformen konkretisieren, in ihnen zu einer vorübergehenden Ruhe finden muss. Leben ›strömt‹, aber es strömt nicht in einem fort. Dieser Gedanke ist unmittelbar bedeutsam für die Totalität der Bildung als Strukturmoment ihres Erlebtwerdens, für deren Verständnis Landmanns (wenngleich in anderem Kontext stehende) Analyse hilfreich ist: Was als Wirklichkeit entsinkt, läßt dafür ein Bild von sich zurück. Es tritt aus der gelebten Zeit, für die das Nacheinander noch unerbittliches Realgewicht hat und in der jede Sekunde einsam ist, in die angeschaute Zeit, in der das Nacheinander nur noch ein formales Moment der Verknüpfung der aufeinander verweisenden Teile zur Gestalt bildet und Vorher und Nachher im Nebeneinander des Zugleich zusammen­ klingen.198

Sofern Landmann hier zwar die Situation am ›endgültigen Ende eines Lebens‹ beschreibt, sich menschliches Leben aber als solches immer selbst begrenzen, d.h. selbst ein Ende setzen muss, trifft der hier beschriebene Wechsel von gelebter zu angeschauter Zeit, von sukzessiver zu simultaner Schau, auf den Vollzug des Lebens überhaupt zu. Übertragen auf Bildung, verstanden als Menschwerdung des Lebewesens Mensch, bedeutet dies, dass die Totalität der Bildung in nichts anderem bestehen kann als im Erleben ihres Endes als Prozess. Wie sollte sich der Einzelne mit einer neu gewonnenen 197 Landmann: UuS, S. 108 f. Kritisch zu einer solchen Anschauung des Lebens, die es retrospektiv sinnhaft zu ordnen versucht, äußert sich Nicolai Hartmann: »Der erschütternde Schicksalsschlag oder besondere Glücksfall läßt ihn [den Vorsehungs­ glauben, Anm. F.S.] immer wieder aus der Versenkung aufstehen, in die ihn das kri­ tisch gewordene Denken verbannt hat. Und noch der Gealterte, wenn er sein Leben entlang sieht, glaubt mit weisem Lächeln geheimnisvolle ›Fügungen‹, wenn nicht gar einen überlegen durchgeführten Plan, darin zu erkennen« (Hartmann: Teleologisches Denken. 2. unveränd. Aufl. Berlin: de Gruyter 1966, S. 133). 198 Landmann: UuS, S. 108f.

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3. Bildung und Kultur: Vorverständnis – Vorentscheidung

Deutung beruhigen können, wenn er diese nicht in einer Weihe der Endgültigkeit erleben könnte? Diese ›End-Gültigkeit‹ wird erlebt wie eine jegliche Sukzession völlig auflösende Simultaneität, in der das soeben noch aufeinander Folgende in einer einzigen Gestalt (man könnte sagen: einer Totalität) zusammenkommt. Insofern Bildung jedoch stets abläuft, d.h. auf ein konkretes, geschichtlich sich vollzie­ hendes Leben bezogen ist bzw. immer wieder bezogen werden muss, ist der Übergang von der wiedervereindeutigenden Gliederung des mehrdeutig Gewordenen in die dann ›letztlich‹ gewonnene Eindeu­ tigkeit gewissermaßen auch der Übergang vom räumlichen zurück in das zeitliche Erleben. Wenn es zulässig wäre, Räumliches mit zeitlichem Vokabular zu beschreiben, müsste man sagen, dass das Simultaneitätserleben sich wohl nur über den Bruchteil eines Augen­ blicks weit erstreckt. Damit ist die geschichtshermeneutische um eine phänomenolo­ gisch-gestalttheoretische Perspektive ergänzt. Dass die Phänomeno­ logie, wie Landmann darlegt, als Rehabilitierung des Platonismus verstanden werden kann199, veranlasst uns zwar, den Bildungsbegriff allgemein für ontologische Fragestellungen zu öffnen, jedoch nicht, auf Platons Zwei-Welten-Ontologie, von der letztlich auch seine Idee einer sich tatsächlich vollendenden Bildung des Menschen in der Ideenschau getragen ist, zurückzufallen. Eine Öffnung zur Ontologie legt sich nicht nur nahe, indem sie Landmanns eigenem Bestreben und Denken in dieser Richtung folgt, sondern auch, sofern die bereits aufgeführte und bisher einzige Monographie über Landmanns Anthropologie von Hans-Joachim Hupe ihren Fokus auf deren in erster Hinsicht zeitlich zu verstehende Dimensionen legt. Dass ferner Andreas Steffens in seiner Ontoanthropologie200 auf Michael Land­ mann verweist, dürfte kein Zufall sein, sondern vielmehr genau in die hier eingeschlagene Richtung weisen. Nicht zuletzt für Landmanns Kulturbegriff und dessen Verständnis sind räumliche Perspektiven wie auch ontologische Problemstellungen unerlässlich, etwa, um den geschichtlichen Blick auf kulturellen Wandel um eine räumliche Sichtweise auf kulturelle Bereiche und Sphären zu ergänzen. Hier folgen wir dem spatial turn (der topologischen Wende) der Kulturwis­ senschaften; indem wir ihm mit Landmann folgen, glauben wir, der Vgl. Landmann: UuS, S. 190. Steffens, A.: Ontoanthropologie. Vom Unverfügbaren und seinen Spuren. Wup­ pertal: NordPark 2011. 199

200

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3.3 Zeiten, Schritte, Räume, Schichten

Gefahr, dabei alle Phänomene in räumliche Bezüge und Metaphern sich auflösen zu lassen, ein ausreichendes Stück weit ausweichen zu können. Zeigen wird sich dies einzig und allein im nachfolgen­ den Hauptteil als dem Kernstück der Arbeit, in dem die zentralen Begriffe von Landmanns Philosophie einer im erläuterten Sinne dreidimensionalen Analyse unterzogen werden, unter Ausblendung des unbeachtet dessen wirksamen Vorverständnisses von Bildung und Kultur.

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Teil II Der Mensch als »homo creator« und »homo creatus«

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Der Mensch als »homo creator«

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4. Kreativität

Verdichtete Ausgänge Es scheint weder besonders originell noch wirklich verdächtig zu sein, den Menschen als das kreative Wesen par excellence zu bestimmen. Dies nicht etwa, weil diese Bestimmung die schlicht und einzig wahre wäre, sondern mehr aus dem Grund, dass wir uns an den obendrein sympathischen Gedanken, wir würden uns selbst erst zu dem machen, was wir sind, gewöhnt haben.201 Insofern übt gerade Landmanns anthropo-logisches Verständnis menschlicher Kreativität Kritik sowohl an der Vorstellung ihrer Natürlichkeit und Selbstver­ ständlichkeit als auch an ihrer Loslösung von menschlicher Geprägt­ heit (Kreationalität). Die Bestimmung des Menschen zum Kreativwesen ist auf das Engste verwoben mit der Frage nach der Möglichkeit philosophi­ scher Anthropologie bzw. selbst ihr Ausdruck. Dass der Mensch sich erst zu dem machen müsse, was er dann ist, kann insofern als anthropo-logische Formulierung jener Bestimmung von philoso­ phischer Anthropologie gesehen werden, der zufolge diese nichts anzugeben vermag als »gleichsam den geometrischen Ort […], auf dem alle Menschenbilder liegen«202, die sich der Mensch selbst zur Verwirklichung vorhält. In einem unaufhebbaren Zirkel bestätigen die Bestimmung des Menschen und die der Anthropologie sich wech­ selseitig. Insofern ist der Mensch notwendig das kreative Lebewesen. In einem anthropologiegeschichtlichen Sinne jedoch ist Kreativität etwas am Menschen, das als eigens herausgestelltes Charakteristikum seiner selbst erst entdeckt werden musste; insofern also wurde der Mensch zum kreativen Wesen. Anthropologie muss hier zwangsläu­ fig in Anthropologiekritik umschlagen, allerdings nicht in jenem Sinne, der sie für unmöglich erklärte, indem aufgezeigt würde, dass in der Bestimmung des Menschen zum Kreativwesen das Unkreative, 201 202

Vgl. Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 201. Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 272.

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4. Kreativität

der unkreative Mensch nicht mehr auftauche, nicht mehr denkbar sei. Vielmehr versteht sich Anthropologiekritik folgerichtig als his­ torisch-kritische Rückbindung menschlicher Kreativität. Durch den Verweis auf die Geschichtlichkeit des Menschlichen werden dessen Bestimmungen weniger relativiert als vielmehr verortet. Kreativität zeigt nun ihre Gebundenheit an ein sie Ermöglichendes, das ist ein bestimmter Bedingungskontext, eine bestimmte Kreationalität, die in welcher Weise auch immer menschliches Schaffen wahrscheinlich werden, aufsteigen und sich hochsteigern lässt. Auch Anthropologie findet so ihren Ort als Fundamental-Anthropologie, die, indem sie die Geschichtlichkeit des Menschen ernst und sich zum Rückhalt nimmt, nur noch formale Aussagen über ihn treffen kann, deren ›Inhaltlichkeit‹ jedoch gezeigt werden kann über erkenntnisphäno­ menologische Vergewisserung. Das besondere Nichtwissen und Wissensverlangen einer Anthro­ pologie, die auf den Menschen als sich selbst schaffendes Wesen stößt, das seine Bestimmung weder allein von unten durch seine tierische Natur noch von oben durch einen Gott erlangt, ist seine radikale Fraglichkeit und Unergründlichkeit. Die Fundamental-Anthropolo­ gin verlangt zu wissen, wie der Mensch zu denken sei, von dem wir wissen, dass er sich selbst problematisch wird. Menschliche Uner­ gründlichkeit findet ihren anthropo-logischen Ausdruck bei Land­ mann in der »anthropinen Lücke«, in jenem Als-ob, in dem stehend der Mensch vorzustellen ist, wenn man nach dem ›Grund‹ seiner Variabilität und Pluralität wenigstens angemessen fragen (können) möchte. In der paradoxen und bildhaften Formulierung der Lücke, die immer schon gefüllt ist203 kommt ebenso das bleibende Nichtwissen des Menschen als auch sein Wissenwollenmüssen zum Ausdruck. Sofern letzteres und sein Sicherschaffenmüssen zusammenfallen, handelt es sich um eine phänomenologische Vergewisserung. Da der zentrale Inhalt des anthropologischen Fragens und Sagens aber genau die Krisis menschlicher Selbstbestimmung ist, wird bzw. ist Fundamental-Anthropologie mit dem Menschen auch ihrer selbst unsicher. In Landmanns kulturkritischer These vom »postkreativen 203 »Das Schöpfertum kompensiert keine Lücke, sondern wegen des Schöpfertums ist da gar keine Lücke.« (Landmann: FA, S. 187) Die paradoxe Metapher steht für die »ganz heikle, allerdings nur auf den ersten Blick widersprüchliche Situation […]: Auf der einen Seite ist ›alles schon da‹ – auf der anderen Seite soll der Mensch sich ganz nach freiem Willen selbstschöpferisch hervorbringen« (Hupe: Kreativität und Teleo­ logie, S. 136).

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4.1 »Anthropine Lücke« und Weltoffenheit

Zeitalter« nimmt die anthropologische Problemstellung die Form einer Sorge an, in der sie auch einen ihrer Bedingungs- und Gestal­ tungsfaktoren hat. Nur die entdeckte und erkämpfte Kreativität ist wirklich umkämpft und verlierbar. Ähnlich wirft Landmanns Selbst­ verortung und -bezeichnung als Epigone ein Licht auf den eher rekon­ struktiven Anspruch einer Fundamental-Anthropologie, die ebenso wenig radikal neuschöpferisch auftritt wie der von ihr in Betracht genommene Mensch. In diesem Zusammenhang könnte Landmanns Herausstellung der Kreativität zum Fundamental-Anthropinon als aus der Sorge aufsteigende Provokation erscheinen, deren Provoka­ tives nicht in ihrem Inhalt besteht, sondern durch ihre Spannung zu einer Kultur entsteht, deren Kreativitätsempfänglichkeit mindestens fraglich ist. Wir werden sehen, wie diese Provokation wiederkehrt in der quer zur These vom »postkreativen Zeitalter« stehenden Heraus­ stellung menschlicher Unvollendung.

Anthropologische Architektonik 4.1 »Anthropine Lücke« und Weltoffenheit als anthropologische Ausgangssituation In der Herausstellung der Kreativität des Menschen als dessen fun­ damentalster Kraft und Bestimmung grenzt sich Landmann von der Bestimmung des Menschen in der Tradition der ›klassischen‹ Anthropologie ab und variiert diese zugleich, insofern in ihrer Linie stehend. Letzteres wird schon deutlich am formalen Aufbau seines wohl bekanntesten Buches Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdeutung in Geschichte und Gegenwart. Dessen vierter Teil, der wie er später schreibt, einen »knappen Gesamßabriß der Kulturan­ thropologie, so wie ich sie vertrete«204 darstellt, ist überschrieben Der Mensch als Geistwesen II. Der objektive Geist (Kulturanthropo­ logie), was Rückbezug nimmt auf den ersten Teil Der Mensch als Geistwesen I. Der subjektive Geist (Vernunftanthropologie). Landmann spielt Vernunft und Kreativität nicht gegeneinander aus, sondern bestimmt ihr Verhältnis und ihre Rangfolge beim Aufbau und Vollzug menschlichen Lebens: »Der Mensch ist nicht primär animal rationale, 204

Landmann: MSGK, S. 9.

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4. Kreativität

sondern animal creativum.«205 Dass ihm Kreativität dabei nicht mit Irrationalität im engeren Sinne zusammenfällt, sondern er mit der ersteren einen bestimmten Vernunfttypus im Blick hat, wird deutlich, wenn er schreibt, »daß nicht die erkennende, sondern die erfindende Vernunft das proprium des Menschen bildet, für die die erkennende ursprünglich nur ein Instrument bildet. Der Mensch müßte nicht homo sapiens, sondern homo creator heißen.«206 Die Unspezialisiertheit seiner sinnlichen und geistigen Fähigkei­ ten lässt den Menschen im Unterschied zu anderen Lebewesen Welt und nicht nur eine bestimmte Umwelt haben. Der Weltoffenheit des Menschen korreliert dabei eine ›Menschoffenheit der Welt‹, wenn überhaupt beides so klar unterscheidbar ist. Weltoffenheit bestimmt den Menschen als ein Lebewesen, das seinen Ort in der Welt erst fin­ den, sich diese gefügig machen muss; ›Menschoffenheit‹ als eines, das seinen Ort in der Welt und in dieser, aus dieser heraus Möglichkeiten entdecken und entwickeln kann. So schreibt Landmann, das Schöpfer­ tum des Menschen aus dem engen Bezugsrahmen der Ästhetik und des Künstlerischen lösend: »Er darf nicht nur, er muß schöpferisch sein. Schöpfertum ist keineswegs auf wenige Tätigkeiten Weniger beschränkt: es wurzelt als Notwendigkeit in der Seinsbeschaffenheit des Menschen als solchen.«207 Diese letztere setzt Landmann wie gesagt in das Bild der »anthropinen Lücke«, die in der Mitte des menschlichen Wesens, in seinem Innersten klafft; als vermeintlicher Mangel, den er beheben muss, als Unabgeschlossenheit, die er gestal­ ten kann.208 Diese letztere positive Wendung der Zumutung des SeinLeben-führens-Müssens209 verschärft Landmann im Verständnis der Lücke des Menschen als einer Gnade: »denn durch sie wird er bewegt und hervorbringerisch. Das Unvollendete ist das Schöpferische.«210 Entsprechend dürfe man Richard Wisser zufolge Landmann gewisser­ Landmann: WiP, S. 104. Landmann: Anklage gegen die Vernunft. Stuttgart: Klett 1976, S. 44 [im Folgen­ den: AgV]. 207 Landmann: PA S. 173. Vgl. außerdem: »Schöpfertum, fälschlich nur dem Genie zugeschrieben und noch dazuhin meist nur auf dem Randgebiet der Ästhetik behan­ delt, ist die grundlegende anthropologische Kategorie. Anthropologie muß Philoso­ phie des Schöpferischen oder, an den Niederschlag des Schöpferischen anknüpfend, Kulturanthropologie sein« (Landmann: FA, S. 132). 208 Vgl. Landmann: MSGK, S. 90. 209 Vgl. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 310. 210 Landmann: FA, S. 37. 205

206

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4.1 »Anthropine Lücke« und Weltoffenheit

maßen »einen Sartre mit positivem Vorzeichen nennen. Für beide ist der Mensch wesentlich Aufgabe und Fähigkeit des Sich-selbst-Schaf­ fens […]. Aber für Landmann ist der Mensch nicht etwa ›zur Freiheit verurteilt‹, sondern gewissermaßen zur Schöpfung begnadigt.«211 Hier stellt sich nun die Frage, von wem bzw. woher der Mensch verurteilt oder begnadet worden ist. Wir werden am Ende des Kapitels darauf zurückkommen und wollen an dieser Stelle nur erwähnen, dass bei Landmann durchaus von der typischen Idee einer schöpferischen Natur, die sich in der Kreativität des Menschen nur fortsetzt und zugleich erheblich steigert, die Rede ist. In Spannung und doch passend zur Idee von Gnade schreibt er außerdem, die Natur habe dem Menschen »selbst einen Teil ihrer Schöpferkraft [geliehen], so daß er sich nun selbst vollenden kann.«212 Dies eröffnet die Frage, ob und wenn ja wie – und wem bzw. wohin – der Mensch diese Leihgabe zurückerstatten kann und soll. Wichtiger scheint an dieser Stelle jedoch, dass sich die von Landmann anthropologisch begründete Unmöglichkeit, vom Sein des Menschen auf sein Sollen zu schlie­ ßen213, hier als trügerisch erweist: Wenn das einzige, was sich über das Wesen des Menschen aussagen lässt, seine Unbestimmtheit, seine Unabgeschlossenheit, seine Offenheit ist, die ihn hervorbringend macht und wenn dieses Schöpferisch-sein-Können als Gnade, als Geschenk angesehen wird – so erhält auch die Grundsituation des Wisser, Richard: Michael Landmann: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur [Buchbesprechung]. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Band XVI 1962, S. 646 [im Folgenden: Buchbesprechung MSGK]. 212 Landmann: Von der Individualanthropologie zur Kulturanthropologie. In: Zeit­ schr. f. philos. Forschung. Hg. v. G. Schischkoff. Bd. IX. Meisenheim/Glan: A. Hain 1955, S. 327 [im Folgenden: Von der Individualanthropologie zur Kulturanthropolo­ gie]. Bemerkenswerterweise wird die Natur hier vorgestellt als etwas, das (ihre eigene Kraft) verleihen kann; das impliziert, dass – um in dieser Figur zu bleiben – das, was dem Menschen geliehen worden ist, von ihm wieder zurückgegeben werden könne. Zwar gibt es bei Landmann Versuche, mittels eines Kriteriums menschliches Schöp­ fertum (das effektiv und intentional ist) von außermenschlichem (das ›lediglich‹ effek­ tiv ist) zu unterscheiden (vgl. EdI, S. 202; außerdem Hupe: Kreativität und Teleolo­ gie, S. 159). Da er dies aber nicht systematisch ausarbeitet und – wenigstens in der Sprache resp. Metaphorik – nicht konsequent durchhält, behält der folgende Einwand von Hupe Gültigkeit: Landmann sei dort nicht überzeugend, wo er versucht, »derlei Implikate [das Telos als Vorsehung oder Vorbestimmung, Anm. F.S.] aus seinem Teleologieverständnis herauszuhalten, zugleich aber das Vorhandensein und Wirk­ samwerden von außermenschlichen Kräften im menschlichen Dasein darzulegen und nachzuweisen« (Kreativität und Teleologie, S. 123). 213 Vgl. Landmann: MSGK, S. 99. 211

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4. Kreativität

Menschen einen positiven Akzent. In der Rede von einer »›Gnade des Nullpunktes‹» und einer »Seinslücke der Freiheit«214 fallen Sein und Sollen des Menschen gewissermaßen zusammen, denn Landmanns fundamental-anthropologische Bestimmung impliziert das Seinsol­ len eines Zustandes, der (mehr und mehr) menschliches Schöpfertum (wieder und wieder) ermöglicht und begrüßt. Man könnte auch sagen, dass die Offenheit des Menschen, sofern sie eben Schöpfungsoffenheit ist, schon keine radikale Offen­ heit mehr ist, da eine solche auch die Möglichkeiten einschlösse, unschöpferisch oder einmal endgültig, zur Schaffung eines einzigen Endzustandes schöpferisch zu sein. An dieser Stelle aber gewinnt die Vorstellung des Begnadetseins einen entscheidenden Sinn, da sie erstens, gleichsam warnend, auf die Möglichkeit der Ungnade, das heißt des Nicht-mehr-schaffen-könnens verweist und zweitens subtil auf das zu Schaffende als eine zu verantwortende Aufgabe deutet, wobei die spezifische Verantwortung sich zentral darin zeigt, dass die Schaffenserzeugnisse auf ihren ermöglichenden Grund rück­ bezogen bleiben. Einen anthropologischen Stolz kann und soll homo creator letztlich nur seiner »nie zuendevollendbaren Unvollendetheit« entlocken, deren »Vervollständigung [sein] ewiges Schicksal sein muß.«215 Aber nicht nur ethisch, sondern auch kulturphilosophisch ist menschliche Kreativität bei Landmann kein liberalistischer Freibrief für Spiel, Spaß und Willkür, worauf wir nun bei einer genaueren Analyse des Schöpferischen zu sprechen kommen.

4.2 Voraussetzungen des Schöpferischen Soweit Kreativität bzw. das Schöpferische bei Landmann aus dem allzu engen Bezugsrahmen sowohl der Ästhetik als auch der Sponta­ neität bzw. Irrationalität herausgelöst ist, bietet es sich an, vor allem jene Aspekte (Voraussetzungen und Partnerinnen) in Betracht zu nehmen, die weder einzig im Innerlichen (in der Psyche) noch allein im Äußerlichen (im Werk), sondern gleichsam ›zwischen‹ beiden zu verorten sind.

214 215

Landmann: MSGK, S. 75 u. 55. Ebd., S. 75.

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4.2 Voraussetzungen des Schöpferischen

Phantasie, Imagination: Um etwas zu erschaffen, in die Welt zu setzen, das bisher so noch nicht in ihr war, bedarf es einer Vor­ stellungskraft, mittels derer der Mensch dieses zu Erschaffende, die­ ses Phantasma zunächst geistig erzeugt.216 Den Menschen zeichnet Landmann zufolge, und zwar nicht sekundär oder peripher, sondern zentral aus eine »Begabung für das Unsichtbare«, das an seiner Welt »ebenso beteiligt [ist] wie das Sichtbare. Die Phantasie, die das Greifbare hinter sich läßt, ist selbst ein Faktor der Erkenntnis des Wirklichen«.217 Dabei kann der Bezugsrahmen der Phantasie im Planen der Zukunft, im Setzen künftiger Zwecke und Ersinnen passender Mittel zeitlich strukturiert sein218, er kann darüber hinaus aber auch in einer eher räumlich vorgestellten und gewissermaßen bereits existierenden Parallelwirklichkeit bestehen, wie im Falle des Symbols oder der Allegorie.219 Entscheidend ist die mit der Weltoffenheit des Menschen zugleich ermöglichte und notwendige Vorgängigkeit seiner Phantasie gegenüber einer die Welt ›objektiv‹ bzw. ›adäquat‹ erfassenden Vernunft: »Der menschliche Geist nimmt zuerst seine eigenen Phantasien und Hypothesen für real; von ihnen das Überprüfbare zu unterscheiden und sich darauf zu beschränken gelingt ihm erst spät und nie ganz.«220 Dazu scheint zunächst in Widerspruch zu stehen, dass – wie oben ausgeführt – genau seine Weltoffenheit dem Menschen »die Dinge objektiv und allseitig vor Augen rückt«.221 Genauer besehen zeigt sich hier jedoch die Dichte des Zusammenhangs zwischen der Fähigkeit der Objektivierung und der der Phantasie, das heißt die Deutung menschlicher Vernunft als vor allem kreativer, welterzeugender Kraft. Objektivität ist bei 216 Vgl. Buber, der im Begriff der Realphantasie fasst »die Fähigkeit, sich eine in die­ sem Augenblick bestehende, aber nicht sinnenmäßig erfahrbare Wirklichkeit vor die Seele zu halten« (Urdistanz und Beziehung. 4. Aufl. Heidelberg: Schneider 1978, S. 33 [im Folgenden: Urdistanz und Beziehung]). 217 Landmann: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. In: Kindlers Enzyklopädie Der Mensch. Bd. V. Soziales und geschichtliches Verhalten des Menschen. Hg. v. Herbert Wendt u. Norbert Loacker. Zürich: Kindler 1983, S. 375 [im Folgenden: Vergangen­ heit, Gegenwart, Zukunft]. 218 Vgl. Landmann: Sichtbares und Unsichtbares im Wechselspiel, S. 54. 219 Vgl. Landmann: Gespräch mit Ernst Bloch (Tübingen, 22. Dezember 1967). In: Bloch-Almanach. Hg. v. Ernst-Bloch-Archiv der Stadtbibliothek Ludwigshafen durch Karlheinz Weigand. 4. Folge 1984, S. 26 [im Folgenden: Gespräch mit Ernst Bloch (Tübingen 1967)]. 220 Landmann: Sichtbares und Unsichtbares im Wechselspiel, S. 42. 221 Landmann: Von der Individualanthropologie zur Kulturanthropologie, S. 327.

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4. Kreativität

Landmann so wenig wie bei Ernst Bloch eine rein empirische, eine fix bestehende Wirklichkeit erfassende, sondern eine diese Wirklichkeit von Grund auf mittels Phantasie überschreitende Kategorie bzw. Fähigkeit. Gerade das phantastische ›Verkennen‹ der Welt kommt ihrer Erkenntnis zugute. Die Phantasie »ist ein Hauptorgan, vermöge dessen unser Geist über das jeweils erfahrungsmäßig Gegebene hinauszuschreiten und so ihm bislang noch Verborgenes entdecken kann.«222 Und merkwürdigerweise ist gerade sie es, die den Men­ schen – bei und trotz all ihrer »fruchtbaren ›Überproduktion von Möglichkeiten‹»223 – als »›anschauliche Abstraktion‹», als »Fähigkeit zum Bild […] kulturell in der Welt hält«224, wozu die Wirklichkeit teilende und Distanz schaffende Abstraktion nicht in der Lage ist. Die menschliche Phantasie ist Landmann zufolge Faktor und Medium menschlicher Wirklichkeitsdeutung, -gestaltung und -bewältigung. Und genau die Vorgängigkeit der Phantasie führt dann auch mit sich, dass sie nicht nur Lösungen für reale und akute Probleme, sondern auch »für ebenfalls nur ihr entspringende völlig inaktuelle Probleme und vor allem Lebensschwierigkeiten« findet bzw. erfindet.225 Zukunft: Das Schöpfertum des Menschen zeichnet sich, wenn schon nicht in allen, so doch in den meisten Fällen durch den Zeitbezug auf eine Zukunft aus. Im Unterschied zu den sozusagen a-zeitlich strukturierten Imaginationen neben die Realwelt gestellter »Parawel­ ten«226 gewinnt »das Versetzungsvermögen der Phantasie«227 hier zeitlichen Sinn. So grundlegend das Zukunfthaben des Menschen, so sehr es eines der Anthropina ist, so wenig selbstverständlich muss es ein realer oder bewusster Faktor seines Lebens sein. Auch der moderne Mensch – der »grosse Experimentator mit sich« wie auch »der ewig-Zukünftige, der vor seiner eigenen drängenden Kraft keine Ruhe mehr findet, so daß ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn

Landmann: P, S. 290. Ebd., S. 303. 224 Tremmel, Frank: Kulturphilosophie. In: Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik. Hg. v. E. Bohlken u. Chr. Thies. Stuttgart: Metzler 2009, S. 166 f. [im Folgenden: Kulturphilosophie]. 225 Landmann: P, S. 304. 226 Landmann: Formgründende Erfahrung. In: Neue deutsche Hefte. Hg. v. Joachim Günther. 31. Jg. Heft 1 (1984), S. 12 [im Folgenden: Formgründende Erfahrung]. 227 Fischer: Das Imaginäre, Kreative, Schöpferische, S. 23. 222

223

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4.2 Voraussetzungen des Schöpferischen

im Fleische jeder Gegenwart wühlt«228 – hat seinen historisch-kultu­ rell relativen Ort, ebenso wie die ihn fassende Deutung, etwa Henri Bergsons Lebensphilosophie, die den menschlichen Seelengrund als »konturlos zukunftoffenes Strömen«229 begreift. Gleiches gilt für die rückblickende Deutung vergangener Geschichte: Nur wo diese »sich frei und von sich aus in eine unvorwegnehmbare, stets offene Zukunft erstreckt, nur dort wird sie als das Feld der immer wieder neuen schöpferischen Leistungen des Menschen erscheinen.«230 Dabei ist es nicht etwa nur so, dass die Vergangenheit Zukunft als ein ihr Nachfolgendes aus sich entlässt und sie als ein zu ihr Alternatives zulässt, sondern im Vorherigen ist Nachfolgendes – der Möglichkeit und dem Inhalt nach – bereits enthalten. Wie wir in der Gegenwart und für die Zukunft »auf Vergangenes zurückgreifen, so deutet es auch seinerseits schon und schattet sich voraus. Es gibt Zukunft in der Vergangenheit.«231 Dieses Es gibt verweist über die hermeneutische Dimension der Deutung des Jetzigen aus dem Früheren hinaus auf die ontologische Dimension des Ineinander der Zeitformen, das heißt ihrer Verflüssigung in Kategorien wie Dauer, Latenz und Potenz. Utopie: Solche Verflüssigung hat, so sehr sie auch eine gewisse Formalisierung mit all den damit einhergehenden Problemen ist, mindestens insofern ihr Recht, als sie der in dieser Strenge falschen Alternativstellung von das Bestehende verändern-wollender Utopie und es hinnehmender Ontologie den Wind aus den Segeln nimmt. Zwar gilt die menschliche Neigung und Gefolgschaft einerseits völlig zurecht »der Empörung gegen einen ungerechten Weltbau« und »der Utopie, die das Phantasiebild einer heilen Zukunft vor uns aufsteigen läßt. Kritik, Empörung und Utopie gehören zu Kreativität und Innovativität. Sie alle sind Anthropina«.232 Dies kann anderer­ 228 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. In: Ders.: KSA. Bd. 5. Hg. v. G. Colli u. M. Montinari. München: dtv 1999, S. 367. 229 Landmann: PA, S. 179. 230 Landmann: Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie [Rezension]. In: Philosophische Rund­ schau. Eine Vierteljahresschrift für philosophische Kritik. Hg. v. Hans-Georg Gada­ mer u. Helmut Kuhn. 1. Jahrgang. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1953/54, S. 240 [im Folgenden: Löwith Rezension]. 231 Landmann: Gespräche mit Ernst Bloch (II). In: Neue Deutsche Hefte. Hg. v. Joa­ chim Günther. 115/14. Jhg./Heft 3/1967, S. 28, Herv. F.S. [im Folgenden: Gespräche mit Ernst Bloch (II)]. 232 Landmann: Es kommt nicht immer darauf an, die Welt zu verändern. Innovation und das gute Bestehende. In: Adieu, ihr Städte. Die Sehnsucht nach einer wohnliche­

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4. Kreativität

seits aber nicht darüber hinwegtäuschen, wie tief »die Schicht des Veränderlichen auf einer Schicht des Unwandelbaren [ruht], das sich nur feststellen und erhellen läßt. Ontologie und Utopie sind insofern keine sich ausschließenden Gegensätze.«233 Bemerkenswerterweise verwendet Landmann hier das Bild der Schicht und löst das Phänomen des Utopischen damit aus dem allzu engen rein zeitlichen, linearen Bezugssystem. Im letzteren verharrend, droht »echter Utopismus« in einen in‘s Leere greifenden »Illusionismus« zu kippen, was der mangelnden Fähigkeit, »sich im Gegebenen einzuordnen« bzw. dem Wunsch »eines einfacheren und leichteren Zustandes«234 entgegen­ kommt. Nun ist aber dieser Illusionismus gleichzeitig nicht einfach nur eine Verirrung des Menschen in ein vom bestehenden Sein vollständig getrenntes reines Anderssein, sondern in einer seiner Dimensionen selbst Ausdruck jener allzu menschlichen »Leidenschaft für die unbekannten Möglichkeiten der Zukunft als solche«.235 Die­ ser »mehr funktionalen Richtungsbewegung« gegenüber müssen dann gerade die am konkret Bestehenden real-utopisch ansetzenden »Pläne und Programme – Erkenntnis und Beherrschung der Natur, Minderung der Arbeitslast, Gleichheit und vollendete Moralität der Menschen, ewiger Friede u. dgl. – […] fast als substantialistische Verengungen«236 erscheinen. Der menschliche Geist vermag zu über­ steigen zwar einzig die Wirklichkeit, aber doch übersteigt er sie. Ausdruck: Wie zur Hilfe, um in diese Merkwürdigkeit zwischen Utopie und Ontologie etwas Klarheit zu bringen, kommt die für das Schöpferische und sein Verständnis grundlegende Kategorie des Ausdrucks bzw. der Ausdrücklichkeit.237 Diese ist für Landmann, der hier Dilthey folgt, grundlegend für menschliches Leben bzw. ren Welt. Herderbücherei Initiative 19. Hg. v. Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Freiburg; Basel; Wien: Herder 1977, S. 29 [im Folgenden: Es kommt nicht immer darauf an]. 233 Landmann: EdI, S. 206. 234 Ebd., S. 94 u. S. 206. 235 Landmann: EuE, S. 156, Herv. F.S. An anderer Stelle schreibt er vom subjektiven Geist, der »durch seine Leuchtkraft die trübere Wirklichkeit aussticht, uns über sie zu heben und zu ihrer revolutionären Überwindung schon die Hand zu reichen scheint. Neben dem Wirklichkeitssinn gibt es einen ›Möglichkeitssinn‹ (Musil)« (Landmann: EV, S. 21). 236 Landmann: EuE, S. 156. 237 Prominent hat Helmuth Plessner die anthropologische Bedeutung der menschli­ chen Expressivität herausgestellt: »Hier geht es um die den Ausdrucksweisen vorge­ lagerte Notwendigkeit des Ausdrückens überhaupt, um die Einsicht in den Wesens­ zusammenhang zwischen exzentrischer Positionsform und Ausdrücklichkeit als

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4.2 Voraussetzungen des Schöpferischen

bildet mit diesem »eine unlösbare Einheit. Die Produktivität fügt sich nicht zu einem in sich geschlossenen Selbst als ein Zweites erst bei, sondern bildet ihrerseits einen Teil des Selbst.«238 Weder ist, wie es eine rein psychologische Betrachtung nahelegen würde, die Veräußerung eines – als fertig vorgestellten – Innerlichen dessen verlängerte Linie noch seine Umsetzung oder Übersetzung. Vielmehr tritt, wie Landmann in Anschluss an William James und Carl Lange schreibt, dem menschlichen Lebewesen im Ausdruck, etwa einer Bewegung oder einem Schrei, »sein eigenes Inneres, das als solches noch ungreifbar war, erst als ein Objektives und Geformtes gegen­ über, anhand von ihm wird es sich über seinen eigenen Zustand erst klar und seiner voll bewußt.«239 Nun könnte dies letztere wiederum so missverstanden werden, als gäbe es ein deutliches Innerliches, das dann des Ausdrucks lediglich bedürfe, um sich seiner selbst bewusst zu werden. Die Expressivität des Menschen wäre idealistisch verkürzt auf ihre Funktionalität für die Selbsterkenntnis des Menschen. Im Kontrast zu dieser von Landmann nicht vertretenen Anschauung wird die Radikalität seiner Position deutlich: Weder ist die Seele nur selektiv funktionaler Durchgangspunkt für äußere Reize, noch ist der Ausdruck nur kausale Wirkung eines Seelischen. Im Ausdruck »liegt über das sich in ihm ausdrückende Seelische hinaus noch ein akausal-produktives Moment.«240 Landmanns anthropologische Grundthese – dass der Mensch sich erst zu dem machen muss, was er dann ist – präzisiert sich hier expressionistisch: der Mensch ist erst und ist sich erst bewusst im Ausdruck seiner selbst. Ebenso Lebensmodus des Menschen« (Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 323). 238 Landmann: DaD, S. 111. Über den Zusammenhang von Expressivität und Sozia­ lität finden wir erhellende Überlegungen und Beobachtungen bei dem vergessenen Begründer der Völkerpsychologie und Theoretiker des objektiven Geistes Moritz Lazarus. In seinem Text Über Gespräche bezweifelt er, »ob nur der gesellige Trieb allein die Ursache wäre, daß wir sprechen; vielleicht auch umgekehrt: weil wir sprechen wollen und sprechen müssen, deshalb sind wir gesellig.« (Lazarus: Über Gespräche. Hg. u. mit einem Nachwort v. Kl. Chr. Köhnke. Berlin: Henssel 1986 [im Folgenden: Über Gespräche], S. 23). 239 Landmann: DaD, S. 111. 240 Landmann: MSGK, S. 228. Vgl. Hupe, dem zufolge man behaupten könnte, »daß es dieses ›creative Plus‹ ist, das seine [Landmanns, Anm. F.S.] Kulturanthropologie geradezu trägt: das ganze Spektrum der Menschwerdung nämlich, von der SelbstBewußtwerdung bis hin zur Kultur – und damit letztlich Selbstschöpfung des Menschen lebt ja von diesem ›creativen Plus‹« (Kreativität und Teleologie, S. 190 f.).

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4. Kreativität

findet das Theorem der Weltoffenheit des Menschen, d.h. seiner »Beeindruckbarkeit durch beliebig mannigfache Außenweltdaten, auch dann, wenn sie biologisch gleichgültig oder gar schädlich sind«241 eine expressionistische Präzisierung, denn im Ausdruck erschafft er sich die ›offene Welt‹ als eine ihm ›zugehörige‹ bzw. verwandelt er das auf ihn Einwirkende ausdrücklich in ein ›Seiniges‹.242 Der Ausdruck ist gleichsam die zwischen dem unendlichen Chaos der inneren und dem der äußeren Welt liegende Zwischensphäre für das menschliche Leben, das Medium, in dem es »an sich selbst schöpferisch« zu werden vermag. Hier allein »gewinnt das bisher Amorphe Gliederung, Bestimmtheit, eindeutig umrissene Richtung und damit Entfaltung (die mehr ist als nur Ausfaltung von keimhaft im Subjekt schon Vorhandenem), neuen Reichtum, Steigerung.«243 Das in jedweder Vernunftanthropologie an den Anfang gesetzte Subjekt, das die Welt erkennt und davon ausgehend gestaltet, ist in Landmanns Kulturanthropologie abgelöst von einem »Phantasie­ lebewesen«244, das überhaupt erst Subjekt wird durch kreativ-expres­ sive Gestaltung ›seiner selbst‹, in deren Vollzug es Welt als eine jeweilige gewinnt und als deren Ausdruck es sich überhaupt erst erkennbar wird. In unserer Gestik, Mimik und Stimme bekommen wir unsern eigenen Zorn zu sehen, zu spüren und zu hören. Er ist nicht mehr nur in unserm Innern, sondern tritt uns als ein Geformtes, Welthaftes, das ihn darstel­ lend enthält, gegenüber. Durch diese Verfremdung – wie man sagen könnte – wird uns unser eigenes Inneres in erhöhtem Maße bewußt. Der Ausdruck hat durch seine abrückende Kraft Verwandtschaft mit der Reflexion, die er deshalb auch selbst anregt, ja ist. Aus einem In-Uns wird ein Gegenüber, das wir aus einer gewissen Distanz betrachten können und beurteilen müssen.245

Nicht etwa ist hier der Ausdruck als eine Form der Reflexion, son­ dern umgekehrt die Reflexion als eine Weise der Ausdrücklichkeit,

Gehlen, Arnold: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen. Mit einem Nachwort von H. Schnädelbach. Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt 1986 [im Folgenden: Untersuchungen], S. 17. 242 Vgl. Landmann: DaD, S. 112. 243 Landmann: FA, S. 264 f. 244 Fischer: Das Imaginäre, Kreative, Schöpferische, S. 23. 245 Landmann: Entfremdende Vernunft. Stuttgart: Klett 1975, S. 34, Herv. F.S [im Folgenden: EV]. 241

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4.2 Voraussetzungen des Schöpferischen

das heißt in ihren genuin kreativen Aspekten gesehen. Und so verständlich der Wille zur Überwindung des Subjektivismus bzw. Psychologismus auch ist, so sehr geraten wir hier doch an ein Prob­ lem. Denn bei aller Prämierung und Betonung der Expressivität des Menschen scheint doch dessen Innerliches gerade ex negativo bzw. als Gegenüber eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen: Es ist dabei vorausgesetzt als »ein Chaos verpuffender Emotionen und zielloser Akte.«246 Das ist es, was der Mensch – so Landmann an der zitierten Stelle – ohne Kultur wäre, bzw. das ist es, was er wegen seiner Kulturalität nicht ist, bzw. das ist es, weswegen er Kulturwesen ist. Ob es nun ›real‹ existiert oder nicht – das »Chaos entbindet das Schöpfertum«247 so wie die »anthropine Lücke« ihre Füllungen bedingt. Man könnte entsprechend mit Landmann sagen: wegen der ordnenden Gliederung im Ausdruck, als den sich der Mensch immer schon hat, ist da gar kein Chaos, das ihm vorgängig sein könnte. Wir werden später noch sehen, welche entscheidende systematische Stelle die Figur des ›Chaosinneren‹ in Landmanns Philosophie einnimmt. Hier beschränken wir uns darauf, die Beschreibung des Innerlichen als Chaos im Sinne einer Grenze menschlichen Verstehens und Ver­ fügens über dieses Innerliche zu deuten. Sofern nämlich die Deutung immer bereits, allein durch ihre Sprachlichkeit bzw. Kategorialität, ordnend aktiv ist, steht hier das Chaotische tatsächlich für das Undeut­ liche und Undeutbare. So sehr sich Menschen (untereinander) erst am jeweiligen Ausdruck zugänglich und verständlich, ja überhaupt ihrer selbst bewusst werden248, so sehr entzieht sich ihnen darin der unmittelbare Zugang zu jenem Inneren, das zu einem Ausdruck gefunden und sich zugleich darin partiell verloren hat. Denn das Verstehen richtet sich immer auf den Ausdruck, nie aber auf das Erleben des Anderen selbst. Dort ist eine Grenze, die nicht übersprungen werden kann und die Achtung erfordert. Verstehen kann ich immer nur den Ausdruck, nicht aber das Erleben eines Anderen. Der Anspruch, jemanden in seinem Innersten erfasst zu haben, basiert danach auf Überheblichkeit und ist eine Fehleinschätzung.249 Landmann: FA, S. 53. Landmann: Pluralität und Antinomie. Kulturelle Grundlagen seelischer Konflikte. München/Basel: Ernst Reinhardt 1963, S. 170 [im Folgenden: PuA]. 248 Vgl. Landmann: Tradition und Innovation – Anthropologie des Bewahrens und Erneuerns. In: Kindlers Enzyklopädie Der Mensch. Bd. V. Soziales und geschichtliches Verhalten des Menschen. Hg. v. Herbert Wendt u. Norbert Loacker. Zürich: Kindler Verlag 1983, S. 562 [im Folgenden: Tradition und Innovation]. 246

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Eine gewisse Verstehensgrenze ist in vielen Fällen wohl auch dem Einzelnen gesetzt, wenn er bei sich selbst versucht, vom Offenkundi­ gen zum Verborgenen zurückzufinden. Entsprechend problematisch scheint es mir, wenn Landmann schreibt, im Ausdruck »realisiere es [das Leben, Anm. F.S.] erst seine verborgenen Tiefen.«250 Dies mag vielleicht für den Bereich der Kunst, über den er hier schreibt und in dem sich die ihm Angehörigen ja geradezu über ihre Ausdrücklichkeit definieren, ja mit ihr zusammenfallen, zutreffen. Es mag für den Künstler gelten, dass sich ihm im Ausdruck sein Verborgenes bestätigt und steigert, er folglich das »was er bisher dumpf war, mit mehr Bestimmtheit und Kraft«251 zu sein vermag. Ob Landmann hier aber seinem Anspruch, den Menschen und nicht nur den Künstler als kreatives Wesen zu deuten, gerecht wird, ist ebenso fraglich wie das insgesamt recht schematisch vorgestellte Verhältnis von Ausdruck und Erlebnis. Gibt der Psychologismus dem rein Innerlichen zu viel des Guten, so Landmann wie es scheint der menschlichen Ausdrück­ lichkeit.252 Dies hat jedoch seinen spezifischen, wenn man so möchte anthropologie-heuristischen Sinn insofern die Kulturanthropologin ›nichts zu verstehen hat‹ als menschlichen Ausdruck, menschliches Leben überhaupt nicht anders vorfindet als in seinen Ausdrücken, d.h. seiner Geschichte. Die Unbestimmtheit des Menschen wie auch 249 Koerrenz, Ralf: Otto Friedrich Bollnow. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim u. Basel: Beltz 2004, S. 88 [im Folgenden: Bollnow Porträt]. 250 Landmann: Die Kunst als Rückzugsgebiet und Angriffsspitze. In: Das Argument, 5. Jg., Heft 26. Hamburg: Argument-Verlag 1963, S. 20, Herv. F.S. [im Folgenden: Die Kunst als Rückzugsgebiet und Angriffsspitze]. Präziser formuliert Landmann an anderer Stelle, der Ausdruck versehe eine »zwiefache Funktion: in ihm vollendet sich das Sein des Lebens, und durch seine Interpretation wird es sich erst über sich selbst hell« (EV, S. 207; vgl. dazu auch: DaD, S. 111). Seine mitunter pathetische Fürsprache für die Expressivität des Menschen kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass er sich ihres ambivalenten Charakters bewusst ist: »Durch den Umweg über den Ausdruck wachsen wir, werden wir zugleich polyphoner und eindeutiger« (MSGK, S. 44; Herv. F.S.). 251 Landmann: DaD, S. 112. 252 Vgl. dazu Hupe, der darauf hinweist, dass bei Landmann »die Grenze zwischen der Figur des schöpferischen Menschen und dem von ihm geschaffenen und anzu­ strebenden Zielbild immer mehr verwischt, daß M. Landmanns homo creator im Grunde selbst eher als anzustrebendes Zielbild denn als konkret existierende, tätige Spezies zu würdigen wäre.« (Kreativität und Teleologie, S. 201) Ähnlich spricht Hupe von Landmanns »Menschenbild, dem Bild des kreativen, sich selbst schaffenden, immer wieder neu- und umschaffenden Wesens, das sich ständig weiterentwickelt, sich höher ›stilisiert‹« (ebd., S. 160).

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4.3 Partnerinnen des Schöpferischen

das Chaos seiner Seele liegen zwar anthropo-logisch am Beginn; anthropo-logisch dagegen seine kulturellen Ausdrücke als Formungen des Seelischen.

4.3 Partnerinnen des Schöpferischen Das Irrationale: Wie sich in Landmanns Philosophie das Schöpferi­ sche und Vernunft (das Vernünftige) zueinander verhalten, ist nicht eindeutig bzw. hat es zwei Seiten. Wenn einerseits die Kreativität des Menschen als seiner Vernunft vorgängig und grundlegend veran­ schlagt wird, so wird andererseits Vernunft selbst als (in einer ihrer Formen) kreative, schöpferische Kraft in Betracht genommen. Dies dürfte einer der Gründe dafür sein, dass es keinen ausgearbeiteten Begriff des Irrationalen bei Landmann gibt, wenngleich in seinem Nachlass das unvollendete Manuskript zu einem Buch mit dem Titel Philosophie des Eros liegt, »seiner zweiten Buchidee überhaupt, wie er mir [Klaus Christian Köhnke, Anm. F.S.] auf einer Wanderung zum Morteratsch-Gletscher erzählte«.253 Entsprechend lässt sich viel­ leicht sagen, dass Landmanns Philosophie dies betreffend in der Summe eher verstanden werden kann als Versuch, die irrationalen Dimensionen menschlichen Lebens in einen mittels Pluralisierung der Vernunft und Typologisierung ihrer Kräfte allgemein gefassten Begriff menschlicher Vernunft zu integrieren.254 Dies wohl nicht zuletzt auch, um den Menschen nicht – wie es in den von Landmann kritisierten Anthropologien geschieht – dualistisch auseinanderfallen zu lassen (was freilich bei Landmann selbst auch passiert, jedoch nicht ontologisch, sondern anthropo-logisch, nicht bezogen auf dualistische Seinsweisen, sondern auf polare Bezugsweisen des Menschen auf die Welt). Zugleich rückt das Schöpferische immer wieder in die unmit­ telbare Nähe, ja an die Stelle des Irrationalen. Dies ist wenig ver­ wunderlich im Bezugskontext der Kunst, die betreffend Landmann in Die absolute Dichtung schreibt: »immer ist das Irrationale das 253 Köhnke, Klaus-Christian: Simmel ohne Landmann? Nachwort zur Neuausgabe 1987. In: Das individuelle Gesetz, S. 264 [im Folgenden: Simmel ohne Landmann?]. 254 Ähnlich deutet Ralf Koerrenz das Verhältnis von Rationalität und Irrationalität bei Otto Friedrich Bollnow, vgl. Koerrenz: Bollnow Porträt, S. 113.

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4. Kreativität

Produktivere«.255 Hier verrät sich eine lebensphilosophische Grund­ lage von Landmanns Kulturanthropologie insgesamt. Von dieser ausgehend bringt er schließlich, den Schöpfungsmythos in Platons Timaios mit dem der Genesis vergleichend, das Schöpferische mit dem Kontingenten, ja mit Freiheit in Verbindung, der gegenüber die Ver­ nunft als Sphäre der Notwendigkeit unschöpferisch bleibe: »Sein und Sosein der Welt sind denknotwendig. Eben durch diese Rationalität aber sind sie nicht im strengen Sinne Schöpfung.«256 Der sich hier anknüpfende vernunftkritische Duktus im Sinne und im Namen des Schöpferisch-Irrationalen dürfe auch von Stefan George herkommen, dessen Ausspruch »›Dunkelheiten, das Infinite, ist schöpferisch, das völlig Klare ist tot.‹» von Edith Landmann in ihren Gesprächen mit Stefan George überliefert ist.257 Es scheint so zu sein, dass Landmann eher auf Seiten des Irrationalen steht, wenn es um die Bestimmung des Ortes der Kreativität geht, dagegen ihm selbst gegenüber skeptisch ist, wenn es sich allzu sehr verinnerlicht und damit loslöst von seinen kulturellen Ermöglichungsbedingungen. Er kritisiert das Irrationale weniger von der Vernunft als einer ihm polar gegenübergestellten ordnenden Kraft, sondern von der Kultur als einem es ermöglichenden und rahmenden Geflecht, in das auch der ›tiefste Seelengrund‹ verwo­ ben bleibt, her. Das Neue, Innovation: Entsprechend ambivalent sind seine Über­ legungen zur Idee des (ganz und gar) Neuen. Landmann lässt zwar keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Innovationsfähigkeit um die beste Kraft des Menschen handelt258, merkt aber gleichfalls an, wie gering der Anteil des Neuen als Erstmaligem gegenüber der Wiederholung und Variation des Überlieferten und Gewohnten ausfällt. Gerade die Seltenheit des Neuen ist dann wohl auch der Grund für seine Prämierung259 und schließlich für die Identifizierung der Innovativität mit dem so genannten Wesen des Menschen. Die Anthropologisierung des Neuen zu dem Menschlichen schlechthin Landmann: DaD, S. 126. Die sprachliche Form der Verbindung eines Nominativs mit einer Steigerungsform und eben nicht dem Superlativ dürfte hier kein Zufall sein; sie findet sich bei Landmann häufig und vermeidet die direkte Identifizierung. 256 Landmann: UuS, S. 162. 257 Landmann, Edith: Gespräche mit Stefan George. Düsseldorf/München: Küpper (Bondi) 1963, S. 76. 258 Vgl. Landmann: Es kommt nicht immer darauf an, S. 28. 259 Vgl. Landmann: Das Zeitalter als Schicksal. Die geistesgeschichtliche Kategorie der Epoche. Basel: Verlag für Recht und Gesellschaft 1956, S. 88 [im Folgenden: ZaS]. 255

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4.3 Partnerinnen des Schöpferischen

fällt nun aber auf das Verständnis (bzw. Unverständnis) des Neuen selbst zurück: Alles kann als neu gelten, wenn es primär darum geht, an ihm sich der Würde, Rechtmäßigkeit, Schönheit, Modernität usf. des Menschen zu vergewissern.260 Dagegen nimmt Landmann, der aus der Seltenheit des ›wirklich Neuen‹ eine kulturanthropologische Konsequenz zieht, die Idee von Innovation ernst, indem er sie als Potenz prämiert, ohne ihre faktische Seltenheit zu verschweigen: Grundsätzlich aber bildet die Innovationsfähigkeit ein Anthropinon. Sie ist als eine eigene Subkategorie der Kreativität von der Kreativität als solcher zu unterscheiden. Vielleicht könnte man sagen: Innovation ist Kreativität des zweiten Schrittes. Wo nicht eine Urschöpfung statt­ findet – und sie findet kaum je statt –, da nimmt Kreativität die Form der Innovativität an.261

Dies ist äußerst entscheidend für einen weiteren Gedanken Land­ manns. Denn je nach Verständnis des Neuen richten sich auch das Verständnis des Bestehenden und der Umgang mit ihm. Dabei stellt er zunächst generell fest, dass es einen engen Zusammenhang gibt zwischen der Innovationstendenz des Menschen und der negativen Bewertung des Bestehenden. Sie sind nicht nur logisch (man könnte sagen: im räumlich vorzustellenden Sinne) aufeinander hingeordnet; erstere hat auch ihren Anteil an der Entdeckung des Bestehenden als (einem zu überwindenden) Problem.262 Dies hat sein ›ewiges Recht‹, 260 In diesem Zusammenhang stellt Andreas Reckwitz eine forcierte reziproke Ver­ knüpfung des Neuen mit dem Ästhetischen als für die spätmodernen Gesellschaften charakteristisch heraus, durch die für beide jeweils völlig neue Bedeutungs- und Machtentfaltungsräume sich öffnen, die keine Grenzen zu haben scheinen insofern aus der Logik der Zeit heraus stets etwas Neueres, aus der Logik ästhetischer Kriterien wie Intensität oder Authentizität stets etwas Ästhetischeres (Schöneres, Reineres, Authentischeres etc.) vorstellbar und – dieser Vorstellung folgend – herstellbar ist (vgl. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 20). Die Fruchtbarkeit einer Verbin­ dung von Landmanns Denkansatz mit den Überlegungen von Reckwitz sieht auch Jörn Bohr; mit unterschiedlichem Fokus verweisen doch beide (kritisch) darauf, »wel­ che weitreichenden gesellschaftlichen Folgen es hat, das prinzipiell kreative Potential zugunsten eines engen, quasikünstlerischen Kreativitätsbegriffes einzuengen, der als sozialer Imperativ formuliert wird. Damit ist ein mehrschichtiges Problem formuliert: Man will und soll heute kreativ sein – obwohl man es immer schon ist, offenbar aber darüber in Unkenntnis lebt, da anders der soziale Imperativ nicht möglich wäre« (Bohr: Landmann zum 100. Geburtstag, S. 197). 261 Landmann: Es kommt nicht immer darauf an, S. 24. 262 Vgl. ebd., S. 25.

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4. Kreativität

denn so wie »es einen falschen Progressismus gibt, der das Neue schon allein deshalb preist, weil es das Neue ist, so gibt es auch einen falschen Konservatismus, der das Alte um seines bloßen Altseins wil­ len bewahrt.«263 Die sich von einer legitimen Kritik an überzogenem Konservatismus im Namen eines Besseren, das ein Neues ist zur Kritik am Konservieren als solchem verdünnende (und formalisierende) Berauschung am Neuen, das ein Besseres ist, wird nun, so Landmanns Diagnose seiner Gegenwart, auch in ihrer Vision des Neuen gänzlich unwählerisch: »Weil es ein Neues ist, hofft sie, es werde auch ein Gehaltvolles sein. Aufgrund des einzigen Vorzugs, modern zu sein, kommt das Geringe zu Ansehen. Was ihm an echter Substanz fehlt, das stopft ihm die Gegenwärtigkeit nach.«264 Die gegenüber Vergan­ genheit und Zukunft stets unschuldig vermeinte reine und neue Zukunft ist insofern die ontologische Schwundstufe menschlicher Weltoffenheit; analog ist die Leidenschaft für das gänzlich Neue ideologische Tiefstufe jener anthropologisch konstatierten Fähigkeit und Angewiesenheit des Menschen, das Bestehende phantastisch zu entwirklichen. Die dieser Tiefstufe entsprechende Weltanschauung macht nun auch selbst vor dem Menschen (vor seiner Anschauung also) nicht Halt: »Sie will den ›neuen Menschen‹. Deshalb ihre Ani­ mosität gegen die Philosophische Anthropologie, die perseverierendunabänderliche Strukturen des Menschen herausarbeitet (innerhalb deren freilich faktisch der Spielraum inhaltlicher Verschiedenheit groß genug bleibt).«265 Sofern die Rede vom ›neuen Menschen‹ sich auf diese Weise alternativ zu Anthropologie darstellen zu können glaubt, bezeugt dies einmal mehr die problematische Alibifunktion, die dem Neuen und der Zukunft als Bezugsgrößen zukommen kann. Dies gilt allzumal für jegliche Form von (philosophischer) Reflexion, die, gerade wenn sie dialektisch verfährt, oft in einem erfasst und verklärt. Entsprechend hält Sloterdijk fest:

Es kommt nicht immer darauf an, S. 27. Landmann: EdI, S. 134 f. Vgl. auch FA, S. 346: »Das Neue scheint sich durch seine Neuheit selbst, als das Originäre und Zeitgemäße gegenüber dem Vernutzten [im Original: Vernutzen, Anm. F.S.] und Abgestandenen, als ›dialektische höhere Stufe‹, zu empfehlen. Solche Enthusiasmen bewegen den wenig, der die geschichtsphiloso­ phische Grundüberzeugung nicht teilt. Das schließt nicht aus, daß auch er zeitweise der ›Suggestion des Neuen‹, der letzten ›Modetorheit‹ erliegt.« 265 Landmann: Es kommt nicht immer darauf an, S. 26, Herv. F.S. 263

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4.3 Partnerinnen des Schöpferischen

Hegel hat es als erster begriffen: In einer epochalen Formulierung nennt er die Wirklichkeit die »Möglichkeit des Folgenden«. Seit Zeit und Zukunft ins Denken drängen, bilden Vergangenheit und Gegen­ wart die Inkubationszeit eines Ungeheuers, das unter einem trügerisch harmlosen Namen am Horizont auftaucht: das Neue.266

Dagegen hat Nietzsche die Ungeheuerlichkeit der Moderne, wenig­ stens in jener Dimension, mit der ihre Innovationsleidenschaft dem Bestehenden zusetzt, noch zu artikulieren gewusst. »Nicht so sehr das Alte, wiewohl das Neue unter ihm leidet, sondern das Neue, da das Alte unter ihm leidet, nennt er, wenn auch mit positiver Betonung, das Böse.«267 Weniger radikal als Nietzsche, dem es bei all dem um nichts weniger als die ›Umwertung aller Werte‹268 durch das Individuum ging, unterscheidet Landmann in Hinblick auf das kulturelle Sein des Menschen drei Weisen, das Neue zu schaffen. Die »Traditionsge­ leise« der Kultur weisen selbst »Lücken auf. Sie regeln das Leben nicht bis in jede Einzelheit.«269 Neben dieser »Aus-Deutung« des Bestehenden eröffnen und erfordern seine kulturellen Formen zudem eine Um-Deutung, sofern sie nicht eindeutig sind und als solche, so wenig wir auch davon Notiz nehmen, der Interpretation bedürfen.270 Schließlich »sind sie nicht starr« und deswegen offen für auflockernde »Neu-Deutung«.271 Setzt Landmann hier beim praktischen und deu­ tenden Umgang mit der Welt und ihren Dingen an, so unterscheidet er außerdem Weisen der Erfahrung ihrer Neuheit. So wenig das Neue 266 Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das antigenealogische Pro­ jekt der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 34 [im Folgenden: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit]. Auf die Formalisierung der Zeitbezüge und ihre Transformation in dynamische Bezüge in der Moderne verweist auch Michael Winkler: »Ihre Schlüs­ selworte sind nicht mehr Gegenwart und Zukunft, sondern Reform und Innovation, wobei weder die Form bedacht wird, welche wiederherzustellen wäre, noch ein Neues zu sehen ist, das doch zu fassen wäre. Der Prozess gilt, nicht mehr eine Sache« (Wink­ ler: Kritik der Pädagogik. Der Sinn der Erziehung. Stuttgart: Kohlhammer 2006 [im Folgenden: Kritik der Pädagogik], S. 30). 267 Landmann: Geist und Leben. Varia Nietzscheana. Bonn: Bouvier 1951, S. 59 [im Folgenden: GuL]. 268 Ohne dass der Terminus »Umwertung aller Werte« benutzt wird, findet sich der Grundgedanke in Nietzsches Also sprach Zarathustra in der Rede Von den drei Verwandlungen (In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Bd. 4. Hg. v. G. Colli u. M. Montinari. München: dtv 1999 [im Folgenden: Also sprach Zarathustra], S. 29–31). 269 Landmann: PA, S. 198. 270 Vgl. ebd. 271 Ebd.

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objektiv auf seine Radikalneuheit, so wenig ist es subjektiv auf die Erfahrung des Plötzlichen und Sprunghaften reduziert. Dieser stehen andre Erfahrungen entgegen, nach denen das Neue im Men­ schen wie ein Keim allmählich wächst und sich nicht revolutionär, sondern evolutiv durchsetzt. In wieder andern Erfahrungen setzt es sich überhaupt nie völlig durch, wir können nur darum ringen. Diesen drei Erfahrungen entsprechen aber auch drei menschliche Typen.272

Auf Grundlage dieser Unterscheidungen wird nun auch die Vorstel­ lung hinfällig, es handle sich bei den Erfahrungen des Neuen durch­ weg um beglückende Erlebnisse. Während eine Anthropologie, die den Menschen so denkt, wie sie ihn gern hätte, hochselektiv vorgeht, und zwar bereits in der Auswahl menschlicher Erfahrungsweisen, so verweist Landmann umgekehrt darauf, dass nicht nur das Neue selbst mitunter »etwas Angsteinflößendes, sondern […] auch der Weg zu ihm etwas Schmerzbereitendes [ist]. Seine Entdeckung setzt eine gewisse Leidensfähigkeit und -bereitschaft voraus.«273 Umgekehrt eröffnet sich so die Möglichkeit, der Erfahrung des Neuen als eines (doch zugleich) Bekannten Positives abzugewinnen. Die »Anagnori­ sis« (das Wiedererkennen) ist Symbol für die Erfahrung, daß das Neue für uns nie ganz neu ist, daß wir im Grunde dauernd in einem riesigen déjà vu leben. Immer beziehen wir, was uns begegnet, auf frühere Erfahrung oder auf ein Bild, das wir schon von ihm in uns tragen. Dadurch verkennen wir es zwar oft, nach oben wie nach unten, aber dennoch wird es dadurch für uns reicher, gefärbt mit Geschichte. Es kommt uns aus unserer eigenen Vergangenheit entgegen und muß beweisen, daß es das Echte ist.274

Das Alte, die Vergangenheit ist hier nicht nur der reale Ermögli­ chungs- und Bezugspunkt des Neuen, sondern darüber hinaus Quelle seiner affirmativen Zueignung und Maßstab seiner Authentizität. Die von Landmann in ihren Überläufern kritisierte Leidenschaft für die Innovation läuft hier nun ihrerseits über in eine Passion für die

Landmann: PA, S. 65. Landmann: EuE, S. 232. 274 Landmann: Gespräche mit Ernst Bloch 1968 Korčula. Fortsetzung 1. In: Neue Dt. Hefte. Sonderdruck. Hg. v. J. Günther. 27. Jg. Heft 2 (1980), S. 278–293 [im Folgen­ den: Gespräche mit Ernst Bloch auf Korčula. Forts. 1], S. 286. 272

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4.3 Partnerinnen des Schöpferischen

Vergangenheit, die uns nun sogar – damit direkt an die ›Stelle‹ der Zukunft tretend – entgegenkommt.275 Spontaneität: Wogegen er dabei opponiert und wie darin Anthro­ pologie und Gegenwartsanalyse ineinander gehen, wird besonders deutlich in seinen Überlegungen zur Spontaneität als einer weiteren Partnerin menschlichen Schöpfertums. Dabei stellt er allem voran deren Unselbständigkeit, d.h. ihre Kulturalität heraus: »Der Spontane ist sehr oft nur scheinbar spontan, vielmehr verhält auch er sich gemäß einer Tradition. Man genügt der Konvention der Spontaneität.«276 Das ambivalente Verhältnis von Kreativität und Vernunft zeigt sich auch hier. Einerseits steht Spontaneität auf Seiten der Kreativität gegenüber einer zu eng, d.h. passiv und mechanistisch aufgefassten Vernunft: »Erfahrung greift nie in mechanisch spiegelnder Rezeptivi­ tät die Natur selbst, ist nicht deren subjektives Äquivalent, sondern immer schon amalgamiert mit unserer Kategorialität, mit unserer transzendentalen Spontaneität.«277 Andererseits betont Landmann – entgegen einer allzu creationistischen Auffassung – die Abhängig­ keit des Spontanen sowohl von »dem, wovon es ausgeht, wie dem, wogegen es angeht. Es ist ein Abhängiges, Hinzukommendes. […] Sekundärer, nicht erster Ursprung.«278 Damit dreht er die intuitive Zuordnung des Spontanen zum Ursprünglichen, der Kultur zum Nachträglichen gewissermaßen um und enttarnt damit die Spontaneität im engeren Sinne als auf externen Voraussetzungen aufruhendes Spätprodukt.279 Gleichzeitig ist ihm daran gelegen, die Bedeutung der Spontaneität als traditionsbildende und nicht allein als opponierende Kraft herauszustellen. »Längst ehe Spontaneität zur Tradition in einen Gegensatz tritt, ist sie nämlich am Werke innerhalb der Tradition.«280 Dies steht in engstem Zusam­ 275 An dieser Stelle sei erwähnt, dass Landmanns Ausdruck, das uns Begegnende komme uns aus der Vergangenheit entgegen, an Paul Klees Zeichnung Angelus Novus und an Walter Benjamins von dieser inspirierte Reflexionen zum »Engel der Geschichte« erinnert. Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In ders.: Gesammelte Schriften. I.2. Hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser. Frank­ furt/M.: Suhrkamp 1991, S. 691–704. 276 Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 188. 277 Landmann: EdI, S. 62. 278 Landmann: EV, S. 78. 279 Vgl. ebd., S. 77 u. 78. 280 Ebd., S. 82. Den Gedanken einer ›Kopräsenz‹ von Spontaneität und Rezeptivität finden wir in stärker psychologischem Rahmen bei Friedrich Schleiermacher, der in seinen Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1813/14 schreibt: »Jedes einzelne

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4. Kreativität

menhang mit Landmanns Kulturbegriff, der jede strenge Opposition zwischen der Freiheit des Menschen und den Forderungen der kultu­ rellen Muster überwindet: Durch Akzentverschiebungen, durch das Wann und Wie, durch Kom­ binationen durchwachsen sie sich mit unserem Eigenen. Sie sind keine starren Clichés, sondern tragen in sich Offenheiten, in die die Besonderheit des Benützers füllend einströmen kann und soll. Solche individuelle Füllung wird vom Partner – bald mehr, bald weniger – sogar erwartet.281

Indem sie entlasten, bestärken die kulturellen Formen den Einzelnen auch und gerade in seiner Spontaneität282 und steigern deren Selbst­ bewusstsein umso stärker, »je mehr sie noch die Nichtspontaneität sich gegenüber hat und sich von ihr abhebt.«283 Dies steht nicht in Widerspruch zur kritischen Funktion der Spontaneität, sondern bestimmt deren Sinn dahingehend, Kriterium dafür zu sein, dass die kulturelle Form »nicht nur als eine äußerliche gelernt, daß sie ›durch­ drungen‹, ›angeeignet‹ ist und mit ›innerer Bejahung‹ vollzogen wird. Wiewohl aus historischer Stiftung als allgemeine Verlaufsform über­ nommen, muß sie Teil der natürlichen Vitalität werden.«284 Die Pointe liegt nun darin, dass gerade und nur weil jegliche Kultur aus dem Leben kommt, sie in der Lebendigkeit – die aber nun nicht in strikter

Wesen hat als Besonderes einen Anfang und ist als solches aus dem Allgemeinen entstanden, also durch das Allgemeine bestimmt, und so wohnt ihm auch ein Ver­ mögen bei, durch das Allgemeine bestimmt zu werden. […] Dies ist der Gegensatz von Rezeptivität und Spontaneität. Das Leben ist aus beiden zusammengesetzt, auch in jedem Akt ist beides; aber wie in jedem Akt, so auch im ganzen Leben kann das Verhältnis beider sehr verschieden sein.« (Schleiermacher. Texte zur Pädagogik. Kom­ ment. Studienausgabe. Hg. v. M. Winkler u. J. Brachmann. Bd. 1. Frankfurt/M.: Suhr­ kamp 2000, S. 214) Mit stärker sozialphilosophischem Akzent finden wir bei Schlei­ ermacher auch den Gedanken Landmanns, dass je nach Perspektive auf den Einzelnen oder die Gesamtkultur ein Schwergewicht der Rezeptivität (des Tradition-Bewahrens) oder der Spontaneität (des Kultur-Schaffens) vor Augen tritt, vgl. ebd., S. 232. 281 Landmann: EV, S. 82. 282 Vgl. Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 189. 283 Ebd. Hier wären zu unterscheiden Erlebnisse, in denen für das Erleben von Spon­ taneität zentral ist, dass das Spontane als reine, losgelöste, freie Nur-Spontaneität erlebt wird, also gerade das Nicht-aufeinander-angewiesen-sein die Erlebnisqualität ausmacht ist von solchen, in denen das Spontane als ein Sich-befreiendes erlebt wird und insofern im Erlebnis der kulturell bedingende Bezugs- bzw. Abzugskontext ›präsent‹ ist. 284 Landmann: EV, S. 82.

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4.3 Partnerinnen des Schöpferischen

Opposition zur Kultur steht – ihr Kriterium hat, und nicht etwa im weltanschaulich hochgehängten leeren Traum reiner Innerlichkeit oder dergleichen Ähnlichem. Der solchem Traum gewidmete »Auf­ stand der Spontaneität« erreicht seinen Höhepunkt im Widerstand des Lebens gegen die Form als solche, der sich in das Bestreben über­ setzt, »sie in seine eigene Unmittelbarkeit aufzusaugen und sich selbst an ihre Stelle zu setzen.«285 Solchem übersteigerten Expressionismus wird »die Kunstschöpfung […] zum nackten Selbstausdruck des Lebensprozesses, dessen innere Bewegtheit sich in ihr (oder besser: als sie) lediglich nach außen fortsetzt.«286 Dies erinnert deutlich an die von Landmann kritisierte Vorstellung vom menschlichen Ausdruck als einer direkten, vom Akt und Prozess des Sichausdrückens letztlich unberührten Übersetzung eines innerlich schon Bestehenden. Nun lässt Landmann bei aller Kritik an den Aufständen der Spontaneität, die sich zudem wieder aufheben, indem sie, gegen den Stil als solchen anrennend, doch selbst zu einem solchen sich entwickeln287 keinen Zweifel daran, dass es zur »tiefsten Sehnsucht unserer Seele [gehört], sich einmal nicht nur auf den Geleisen zu bewegen, die andere für uns vorgeschient haben, einmal nicht mehr Enkel, einmal frei, einmal nur eigenes Selbst zu sein und für dieses

285 Landmann: PuA, S. 239 f. In seinen Stichworten zur Antipädagogik problematisiert M. Winkler die Vorstellung und Forderung einer autonomistischen, unvermittelten Spontaneität. Dabei verweist er zunächst auf die verheerende, der antipädagogischen Zielstellung entgegengesetzte Folge einer solchen Menschenanschauung (vgl. Stich­ worte zur Antipädagogik. Elemente einer historisch-systematischen Kritik. Stuttgart: Klett Cotta 1982, S. 108 f.). Schließlich geht er in einem Referat zu Braunmühls Begriff einer »Spontanautonomie« und mit Bezug auf Landmanns Entfremdende Vernunft auf die die Autonomie im Sinne einer Selbst-Bestimmung, eines Selbst-Verhältnisses des Subjekts letztlich verunmöglichende Konsequenz ein: »Im Begriff des Spontanen ist sogar der Gegensatz zum Willen angelegt, der ›spontane Vorgang steht im Gegensatz zum Willen, aber auch zur berechnenden und zwecksetzenden Vernunft, überhaupt zum äußeren Eingriff, Gottes oder des Menschen‹ [Zitat aus Landmann: EV, S. 40, Anm. F.S.]. In der Wortverbindung ›Spontanautonomie‹ steigert sich dies zur Vor­ stellung von einer ›Spontaneität um ihrer selbst willen‹, welche keinerlei Formung mehr erdulden kann« (ebd., S. 109 f.). Das Problem ist jedoch, wie Winkler zeigt, noch um einiges schärfer, da die ›natur-teleologischen‹ Implikationen der Antipädagogik nicht nur den Eingriff der Umwelt auf den Einzelnen, sondern auch dessen selbstbil­ dende Tätigkeit sachlich wie normativ nicht zu begründen vermögen, ja ausschließen (vgl. ebd., S. 111 f.). 286 Landmann: PuA, S. 239 f. 287 Vgl. Landmann: FA, S. 348 f. u. ders.: Aufstand der Spontaneität, S. 172.

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4. Kreativität

Selbst einen eigenen Ausdruck zu finden.«288 Entsprechend liegt in »der anthropologischen Kategorie ›Aufstand der Spontaneität‹» ein doppelter Sinn: einmal wird die ihr zugrundeliegende Sehnsucht anthropo-logisch verortet und insofern in ihrer Rechtmäßigkeit gesi­ chert; gleichzeitig werden die dieser Sehnsucht folgenden Aufstands­ bewegungen in der Geschichte als ihr gemeinsam entstammend und insofern zusammengehörig verständlich (und kritisierbar).289 Landmanns Überlegungen zur Kulturalität der Spontaneität und zu ihrem Aufstand treffen zusammen in seiner typologischen Unterscheidung ›intra-traditionaler‹ (formerneuernder) von ›contratraditionaler‹ (autonomer) Spontaneität.290 Wenig überraschend fällt dabei sein Werturteil zugunsten der ersteren aus, etwa wenn er über seine eigene Gegenwart schreibt: »Nicht verantwortliche, kon­ struktive Spontaneität, sondern Regression zur Spontaneität. Statt Schaffung zeitgemäßerer Form Verächtlichmachung und Zerstörung jeder Form als eines irrationalen Tabus.«291 Sofern der Aufstand gegen das Bestehende dessen als irrational deklarierten Formen gilt, erhält Landmanns Skepsis an der Revolte den spezifischen Sinn einer Vernunftkritik; und so dürfte auch seine Unterscheidung von kleiner und großer Spontaneität eine Anlehnung an Nietzsches Unterschei­ dung von kleiner und großer Vernunft sein.292 Hier erhält auch das intuitiv etwas schiefe Bild einer »›Spontaneität von oben‹», die »aus besserer Vernunft oder edlerem Trieb« kreativ und konstruktiv Landmann: MSGK, S. 166. Vgl. Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 176. 290 Vgl. ebd., S. 171 f. u. EV, S. 82–87. 291 Landmann: EV, S. 75. 292 Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 195. Vgl. Nietzsches berühmte Unter­ scheidung von kleiner und großer Vernunft im Kapitel Von den Verächtern des Leibes seines Zarathustra (Also sprach Zarathustra, S. 39). Nur auf den ersten Blick steht die folgende Äußerung Landmanns zum Umgang des historisch sich befassenden Men­ schen mit seiner Standorthaftigkeit quer zu Nietzsches Unterscheidung; dem zweiten Blick eröffnet sich, dass in der Standorthaftigkeit nicht nur intellektualistisch etwas wie historisches Bewusstsein, sondern darüber hinaus die existenzielle Dimension der leiblichen Verfasstheit begriffen ist: »Auszuschalten suchen muß, wer sich mit Geschichte befaßt, nur die kleine Subjektivität, die Willkür; die Standortgebundenheit als solche dagegen kann er weder, noch soll er sie ausschalten. Spielte sie bisher schon immer unbewußt mit herein, wird sie heute zu einer gewußten und gewollten« (Der Mensch als Herr und Opfer der Geschichte. In: Kritik und Metaphysik. Studien. Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag. Hg. v. Friedrich Kaulbach u. Joachim Ritter. Berlin: de Gruyter 1966, S. 251 [im Folgenden: Der Mensch als Herr und Opfer der Geschichte]). 288

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4.4 Unmögliche Vollendung

die Geschichte gestaltet einen (ironischen) Sinn im Unterschied zur »›Spontaneität von unten‹, die aus einem Abbau, einem Sich-fallen­ lassen entsteht.«293 So wichtig deren typologische Unterscheidung als menschlichen Kräften, also von der (psychologischen) Innenper­ spektive aus ist, so deutlich wird der (kulturphilosophischen) Außen­ perspektive ihr simultanes Erscheinen.294 Dass dabei zuweilen allein durch eine bestimmte Konstellation bemerkenswerte, ja widersinnige Koalitionen entstehen, nährt paradoxerweise sowohl Landmanns Skepsis als auch sein Verständnis: Und auch sie [die ›kleine Spontaneität‹, Anm. F.S.] entfaltet, und nicht ohne ein gewisses Recht, das Banner der Freiheit. Heute verstehen sich Pornographie und Kriminalität als Beiträge zur Emanzipation des Menschen. Weil sie sich in einer gemeinsamen Opposition befin­ den, deshalb besteht zwischen den beiden Formen der Spontaneität, obgleich sie unter sich gegnerisch sind, ein Zusammenspiel geschicht­ licher und psychologischer Art. Der idealistische Anarchismus kann Hemmungen niederreißen und springt so um in den verbrecheri­ schen Anarchismus.295

4.4 Unmögliche Vollendung Widmen wir uns explizit der Frage nach dem Ziel menschlichen Schaffens (und Sehnens), so zeigt sich ein weiterer Sinn menschli­ cher Kreativität in Landmanns Kulturanthropologie. Als Gestaltung des kulturellen Lebens ist sie unterschieden von der Zerstörung der kulturellen Formen. Letztere ist bestrebt, den Einzelnen, der sich im Bestehenden nicht finden und vollenden kann, aus ihm zu befreien. Erstere geht umgekehrt davon aus, dass (kultur-ontologisch betrach­ tet) die »Enge der Wirklichkeit« zur Grundcharakteristik des mensch­ lichen als einem kulturellen Leben und außerdem (anthropo-logisch betrachtet) Unvollendung konstitutiv zum Wesen des Menschen, zu seinem Ausgang und seinem Schicksal gehört. Dies macht das Revol­ tieren gegen die Form als ein Leiden an der »Enge der Wirklichkeit«, die Sehnsucht nach Vollendung als Revolte gegen Unvollendung verständlich. Sofern das Streben nach Vollendung immer auch Suche, 293 294 295

Landmann: EV, S. 85, Herv. F.S. Vgl. Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 195. Ebd., Herv. F.S.

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4. Kreativität

und zwar die Suche der Wahrheit, Identität, Humanität, Echtheit, Intensität usw. ist, verwundert es noch nicht, dass die Spontaneität sich durchaus eine Zeit lang – womöglich ›genau‹ so lange, wie sie einen Widerstand sich gegenüber hat – damit beruhigen kann, ihren Stil gefunden zu haben. Spontaneismus ist damit essentialistischer als er es sich selbst erlauben dürfte; umgekehrt offenbart sich die Deu­ tungskraft einer Kulturanthropologie im Sinne Landmanns gerade darin, mit einem Wesen des Menschen auch dessen Vollendbarkeit abzustreiten (bzw. wie wir noch sehen werden: zu verorten). Die »Enge der Wirklichkeit«: Wie zentral die Vorstellung, es handle sich bei der Wirklichkeit als solcher, vor aller intendierten Machtausübung, um etwas restriktives, für Landmanns Anthropo­ logie ist, wird deutlich, wenn er in seinen frühen Überlegungen zur Ethik schreibt, als Handeln- und Entscheiden-Müssende seien wir Menschen gezwungen, »aus der Fülle des Offenstehenden eines auszulesen und unserm Handeln einzusenken. Also gewaltsam doch wenigstens so zu tun, als ob es eine Lösung gäbe.«296 Diese scho­ nungslose Einsicht in den Schein einer Notwendigkeit im Bereich des Sollens mündet bei Landmann nun aber nicht in einen strengen Relativismus der Willkür, sondern dient der sie verortenden Begren­ zung menschlicher Freiheit. Dass »in diese Gewaltlösungen nun […] auch das Selbstwilligste des Subjektiven hineinfließen«297 kann, bedeutet noch keinen Relativismus, der weder mit der Vorstellung und mit dem Bild einer »engen Wirklichkeit« etwas gemein hat noch menschlich freies Handeln eigentlich begründen kann. Die Rede von einer »Enge der Wirklichkeit« des Menschen impliziert, kultur-onto­ logisch betrachtet, dass die je konkret-kulturell gegebene Wirklichkeit nur eine Verwirklichungsweise des Möglichen neben vielen ist. Der ›Raum des Möglichen‹ übersteigt und bedingt zugleich jede konkrete Verwirklichung, die wiederum das Mögliche verengt und zugleich Zeugnis seiner Fülle und Potenz – und damit Ausdruck menschlicher Freiheit ist. 296 Landmann: Phänomenologische Ethik. In: Jahrbuch der Schweizerischen Philo­ sophischen Gesellschaft. Vol. III. Basel: Verlag für Recht und Gesellschaft 1943, S. 101 [im Folgenden: Phänomenologische Ethik]. Vgl. dazu ähnlich Thomas Bauer: »Jedes Mal, wenn es gilt, sich zu entscheiden, liegt eine Situation der Ambiguität vor, weil man sich entweder so oder so entscheiden kann. Jede Entscheidung ist deshalb auch ein Prozess der Entambiguisierung« (Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. 8. Aufl. Stuttgart: Reclam 2018 [im Folgen­ den: Die Vereindeutigung der Welt], S. 92). 297 Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 101.

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4.4 Unmögliche Vollendung

Für den Menschen als zwischen den Möglichkeiten (resp. Wirk­ lichkeiten) Wählen- und diese Deuten-Müssenden bedeutet dies nun, dass ihm nicht eine völlig ungeordnete, alldeutige, sondern eine bereits vorgegliederte, vieldeutige Welt gegenübersteht, deren Wirk­ lichkeiten ihm vergleichbar und schon darin als Ausdruck-von, als auf ein sie Bedingendes verweisend zugänglich sind. Dieser Unterschied, so gering er auch erscheinen mag, ist äußerst entscheidend. Fällt nämlich beim Alldeutigen streng genommen das Sein mit seiner Deutung zusammen, was zeigt, dass die Rede von einem Alldeutigen sinnfrei bzw. widersprüchlich ist, so verweist das Viel- oder Mehr­ deutige auf ein Seiendes, dessen Deutungen dann von diesem unter­ scheidbar werden. Diese Abwendung von einer monistischen und die Zuwendung zu einer »pluralistischen Metaphysik« hat sowohl handlungs- als auch erkenntnistheoretische Konsequenzen: »Weil die Regeln vieldeutig sind, brauchen sie doch nicht gleich alldeutig zu sein. Weil wir kein Eindeutiges erkennen, erkennen wir doch nicht überhaupt nichts. Was wir das Aporetische nannten, erheischt also weder ethischen Expressionismus noch Agnostizismus.«298 Dass bei Landmann von dem – durch die schmerzlich empfundene »Enge der Wirklichkeit« vermittelten – Seinspotenzial (der Überfülle) der Welt über die menschliche Fähigkeit ihrer Deutung und damit ihrer geistigen Verarbeitung ein Weg führt auch zu ihrer produktiven Bewältigung als einer ›freien‹ Pluralisierung der Lebenswelt, deutet sich in seinem Kunstverständnis an: »Da in der Enge der Wirklichkeit für beides, das Einstige und das Gegenwärtige, kein Raum ist, und da die Gegenwart die Wirklichkeit usurpiert hat, bleibt dem Einst, wenn es nicht in absoluter Einstigkeit versunken bleiben will, nur die Erweckung durch die Kunst.«299 Unvollendung, Streben, Suchen: Die Figur der »Enge der Wirk­ lichkeit« und ihr anthropologisch-ontologischer Ausgangspunkt einer Überfülle der Welt sind, wenn man so will, die objektiven Voraussetzungen jenes paradoxen Changierens zwischen Suchen und Haben, Streben und Erreichen im menschlichen Erleben. Im Moment der Enttäuschung über das Erreichen eines Ersehnten offenbart sich dem Menschen die Unmöglichkeit einer Vollendung (wenigstens in jenem Sinne, wie er sie ersehnt hat). Die Wirklichkeit, zeigt sich ihm hier, ist zu eng, man könnte auch sagen: sie ist zu sehr sie 298 299

Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 101. Landmann: DaD, S. 62.

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4. Kreativität

selbst, baut sich zu sehr nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten auf, als dass ein Mögliches (ein als möglich Anvisiertes), das nach wie­ derum eigenen Gesetzmäßigkeiten sich aufbaut, unverändert Platz in ihr hätte, unverwandelt sich erfülle. »Daher gibt es für die Wün­ sche im Letzten kein Gegengleich und ist jede Liebe melancholisch. Wie eine Erfüllung schon im Nochnichterreichthaben liegt, so eine Unerfülltheit noch im Erreichthaben.«300 Hier zeigt sich erst, was es bedeutet, wenn Landmann schreibt, der Mensch »ist eine von der Natur nur halbvollendete Schöpfung, ist eine unvollendete Sym­ phonie.«301 Vergleichsweise harmlos ist ein solcher Satz, wenn sich ihm gleichsam gedanklich hinzufügt, der Mensch gebe sich selbst die zweite Hälfte, vollende sich selbst zum Ganzen. Und mag dies auch insofern stimmen, als wir den Menschen in nichts anderem (und in nichts anderem ganz) haben als in jenem kreativ-kulturellen Wesen, zu dem er sich immer wieder die vollendende Form gibt, so ändert dies nichts daran, ja so ist dies nur ein anderer Ausdruck dafür, dass der Mensch, »Vollendung suchend, Metaphysiken der Vollendung aufstellend, […] doch in allem Unvollendeten seinen wahreren Spiegel«302 hat. Es mag haarspalterisch erscheinen, aber nicht weniger erhellend sein, an den Ausführungen von Hupe aufzuzeigen, wie schnell auch im sprachlich-gedanklichen Versuch, jene Paradoxie des nichterrei­ chenden Erreichens bzw. erreichenden Nichterreichens zu fassen, wie­ derum eine teleologisch-harmonisierende Option sich einschleicht bzw. wirksam ist. Über den vom (vermeintlichen) Erreichen Ent­ täuschten schreibt Hupe, »das erreichte, bisher absolut genommene Ziel entlarve sich ihm als bloßes Scheinziel – er erkenne, daß sein Sinn nur darin gelegen habe, einen Prozeß in Gang zu setzen.«303 So weit, so nachvollziehbar. Und doch ist hier schon die lebenspragmati­ sche Bewältigung eines solchen Erlebnisses durch den Enttäuschten beschrieben, die Tiefe der Tragik seines Erlebens indes wieder verfehlt. Seine Sinndeutung, das Ziel habe nur ›einen Prozess in Gang‹ bringen sollen, in der die Welt wieder in Sein und Schein, Vorder- und Hintergrund zerfällt, reagiert immer schon auf jene ›echte‹ Tragik, jene irreduzible Dynamik, als deren Teilmoment die Vergänglichkeit resp. begrenzte Dauer aller Dinge zu sehen ist: Das Ziel und das 300 301 302 303

Landmann: EuE, S. 216 f. Landmann: Von der Individualanthropologie zur Kulturanthropologie, S. 327. Landmann: FA, S. 131. Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 195.

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4.4 Unmögliche Vollendung

Streben nach diesem Ziel waren ›ganz und gar‹ echt und dennoch stellt sich das mit der vorgestellten Erreichung des Ziels verbundene, wenigstens in der Erlebnisqualität maximal dicht an genau dieses Ziel geknüpfte Gefühl nicht ein oder nur kürzer als vorgestellt bzw. erhofft. Wenn der Enttäuschte lediglich erkennen würde, dass nicht das Ziel sein Streben motivierte, sondern der Weg dahin, so eröffnete sich ihm bereits ein Lernprozess, also eine Umgangsweise mit der erlebten und dann bereits ›überwundenen‹ Tragik. Diese Tragik besteht aber insofern weiterhin fort, als der sich aus der Enttäuschung Lösende ›sich‹ eben nicht wie anvisiert erfüllte, sondern ein ›anderer‹ wurde – bzw. dass er ›sich‹ (und seine grundlegenden Ziele) nur erfüllen konnte, indem er ein ›anderer‹ wurde resp. werden musste (sich neue Ziele setzte). Sehr schlicht könnte man sagen, die Tragik des Erreichens besteht darin, dass Erfüllung eine Dauer hat. Wiederum anders gesagt: Erfül­ lung ist Überfüllung, das heißt: sie setzt wieder ein neues Streben (resp. einen neuen Mangel) frei. Dem Ziel, das sich als Etappenziel offenbarte, dennoch eine zwingende Notwendigkeit zuzuschreiben für die Eröffnung weiterer Ziele – dies ist in einem die Zumutung an den sich Ent-täuschenden wie auch seine lebens- resp. biographie­ hermeneutische Fähigkeit: das Erreichen des Etappen- oder Teilziels erscheint ihm als notwendig wenigstens für das Sich-eröffnen neuer Zielstellungen, denn diese – so erscheint es – können sich nur dem eröffnen, der er bereits wurde durch das Erreichen des Etappenoder Teilziels. Diesen Zusammenhang stellt Hupe, dessen Überlegun­ gen hier zum Anlass für diesen Problemaufriss verwendet wurden, klar heraus: Im Moment des Erreichens aber drohe metaphysische Enttäuschung, die ›Melancholie der Erfüllung‹ – einziger und zugleich einzig ange­ messener Ausweg aus diesem Dilemma ist dann die im Moment des Erreichens mögliche, ja notwendige Neudefinition des Zieles als Ausgangspunkt für eine neuerliche Phase kreativen Strebens.304

Bei alldem zugleich mit der kreativen Selbstvollendung beauftragt zu bleiben, muss dem Menschen von hier aus betrachtet als Zumutung, ja als Zynismus erscheinen. Ganz schlicht aber räumt die Einsicht,

304

Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 195.

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4. Kreativität

wir Menschen seien »unabschließbar Werdende und Strebende«305 mit falschen Illusionen über ›Vollendung beizeiten‹ auf und lenkt den Fokus vom Auf-hin des Strebens, also vom Erstrebten weg hin auf das Streben und Suchen selbst als »das uns Gemäße […] noch diesseits seines Ertrags um seiner Anspannung, um seiner Bewegtheit willen.«306 Ebenso wenig wie die »Enge der Wirklichkeit« führt das bewegte Streben dabei in eine Willkür zufällig wechseln­ der Bezugspunkte. Vielmehr, so könnte man sagen, unterscheidet das Streben nach Selbstvollendung eingedenk ihrer Unmöglichkeit sich von jedwedem anderen Streben durch etwas wie eine kreative Bewältigung dieser Paradoxie: das allzu menschliche »Zurückkehren­ wollen aus dem Haben ins Suchen (nicht zu verwechseln mit dem launischen Immer-anderes-haben-wollen oder dem nimmersatten Immer-mehr-haben-wollen)«307 ist ja selbst, wenngleich das kon­ krete Ziel verschwinden mag, doch nicht völlig ziellos. Es ist ja dies gerade der Stachel der Paradoxie, dass mit der Einsicht in die Uner­ reichbarkeit des Zieles dieses doch nicht als solches verschwindet.308 Die anthropologische Paradoxie – dass das Wesen des Menschen darin besteht, keines zu haben bzw. sich jeweilig eines zu schaffen – wiederholt sich hier in Hinblick auf die menschliche Kreativität, deren Zielpunkt – das vollendete Selbst – bei aller Unerreichbarkeit doch die (höchsten) Kräfte des Menschen freisetzt: »Es gibt keine größere Gnade als die des unerreichten Zieles. Ein solches ersehntes und umkämpftes Ziel zu haben zieht nach vorn und nach oben. Es

Landmann: PA, S. 176; UuS, S. 36: »so bleibt auch die Seele stets eine strebende und findet für ihr Streben nie völlige Erfüllung«. 306 Landmann: Es kommt nicht immer darauf an, S. 28. 307 Landmann: EuE, S. 214. 308 Dieser Zusammenhang reflektiert sich bei Landmann in einer paradoxen Meta­ pher, wenn er schreibt, dem Menschen sei nicht vorbestimmt, »[w]ie und nach welcher Richtung er seine naturhafte Unvollendetheit vollendend abrunden soll« (FA, S. 42). Der anthropologische Gedanke wird im paradoxen Bild thetisch formuliert und gleich­ falls performativ gebrochen, wenn die naturhafte Unvollendetheit selbst als etwas vorgestellt wird, an dem dennoch gewerkelt, das abgerundet, gestaltet werden kann und soll. Sie ist eben – dieser kulturphilosophische Sinn ist hier impliziert – kein blankes Nichts oder dergleichen Existenzschwangeres, sondern besteht (bereits) als eine je konkrete und jegliche Aktivität rahmende Gestalt und Aufgabe. Sehr schön bringt dies Hupe auf den Punkt: »Die menschliche Unvollendetheit gewinnt so eine neue Qualität: sie ist sozusagen das Agens, das – gewissermaßen als Ausgleich für ihren Negativaspekt – das geschichtlich und kulturell bedingte (Selbst-) Verständnis dessen hervortreibt, zu dem er sich vollenden soll« (Kreativität und Teleologie, S. 134). 305

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4.4 Unmögliche Vollendung

weckt den Erreichenwollenden, spannt seine besten Kräfte an und läßt ihn über sich selbst hinauswachsen.«309 Landmann dreht hier die intuitiv naheliegende Vorstellung, Vollendung und Vollendbarkeit seien die gnädigen Geschenke an den Menschen, um, was seinen psychologischen Grund darin hat, dass ihm zufolge gerade im Errei­ chen eines Ziels der weitaus tragischere, zwar anthropologisch gewiss aufschlussreiche, aber dann doch eher räuberische als geschenkhafte Schmerz des Menschen liegt. Dies nimmt der lebenspragmatischen Attraktivität der Vollendungsidee nichts; im Gegenteil ist gerade mit Landmann zu betonen, dass neben den höchsten auch die tieften Kräfte des Menschen an ihr sich entzünden, berauschen, steigern. Landmanns Begriff von Kreativität ist, wenngleich es in Formulie­ rungen wie der obigen so erscheint, im Grunde eben gerade nicht ästhetisch oder harmonistisch verengt. Im Gegenteil: selbst die Daseinsgefährdung des Menschen durch den Menschen ist noch kreativ. Kreativität ist somit nichts weniger als ein positives Merkmal, d.h. Landmann will den Kreativitätsbegriff nicht deswegen über geniale Schöpfungen der Kunst hinaus erweitern, um eine Erhö­ hung der »alltäglichen« Kreativität zu erreichen, sondern er macht die basale Ebene der »unwillkürlichen« Schöpfungen überhaupt erst sichtbar, zu denen neben der Stabilisierung und Bewältigung des Alltags nicht zuletzt die (reflektierte wie unreflektierte) Selbst- und Fremdgefährdung zählt.310

In Landmanns Begriff von Kreativität finden kontingente, nichtin­ tendierte Optionen menschlicher Selbstgefährdung (bis zur Selbstde­ struktion) ebenso Platz wie »der ›überlegte Verzicht auf daseinsge­ fährdende Potentiale und Optionen‹ des Menschlichen«.311 Der tragische Moment des Erreichens: Was bei Landmann unter der »Enge der Wirklichkeit« subjektiv-psychologisch zu verstehen ist, erhellt sich in seinen Überlegungen zum bereits aufgeführten und erläuterten Moment des Erreichens. Dieser sei »der glücklichste und der kritischste in einem.«312 Es ist, so könnte man sagen, der Moment, in dem die höchste Blüte gleichsam direkt wieder zu welken ansetzt: »Die ersten welken Blätter sind die Blütenblätter«.313 Es Landmann: PuA, S. 168. Bohr: Landmann zum 100. Geburtstag, S. 191 f. 311 Bohr: Kreativität und Verdinglichung, S. 194. 312 Landmann: PuA, S. 166. Vgl. Landmann: JM II, S. 166, wo es heißt: »›Der Moment des Erreichens‹« ist immer ein kritischer Moment«. 309 310

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4. Kreativität

ist der Moment, in dem ein Prozess an sein ›Ende‹ gelangt, eine Bewegtheit sich beruhigt, in dem sich ein Wunsch erfüllt und sich darin tragischerweise erledigt. Unter diesem Gesichtspunkt ist jene oft nur subtil spürbare oder gar raffiniert getarnte »Angst vor dem Erreichen« zu verstehen: »Vor dem Ziel, das wir mit aller Inbrunst erstreben, scheuen wir gleichzeitig zurück und spielen insgeheim mit dem Gedanken des Scheiterns.«314 Inwieweit der Moment des Erreichens dem Wortsinne nach kritisch, also den Davor- von einem Danach-Zustand unterscheidend ist, verdeutlicht Landmann in fol­ gendem Bild: »Der apokalyptische Moment, in dem das Streben auf dem Gipfel ist und die Erfüllung sich schon vorschattet, in dem beide sich wie durch eine hauchdünne Wand berühren, ist der beladenste, und auch hier gilt darum: die Hälfte ist mehr als das Ganze.«315 Die Tragik des Erreichens besteht nun aber, wie bereits angedeutet, gerade nicht in der Einsicht, dass das Erstrebte nicht zu erreichen sei, sondern darin, dass die mit seinem Erreichen verbundene Erwartung und Hoffnung sich nicht erfüllt, obwohl, ja gerade weil es erreicht worden ist.316 Damit wird nicht nur die Vorstellung von Erfüllung und Vollendung einer grundsätzlichen, aus der Erfahrung kommenden Skepsis unterzogen, sondern auch dem qualitativen Eigensein und -sinn des Unerfüllten, dem Seinsrang des »Noch-nicht«317 Bedeutung Günther: Findlinge, S. 122. Landmann: PuA, S. 166f. Vgl. auch Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 183. 315 Landmann: PuA, S. 167. 316 Vgl. Landmann: EuE, S. 207. »Das eigentlich Peinigende des Nichterreichens dagegen scheint sich auf die Mittellage des Erreichlichen zu beziehen« (ebd.). Vgl. dazu Hupe: »Es ist eine Mischung von Gefühlen der widersprüchlichsten Art: der Freude und der Enttäuschung – einer metaphysischen Enttäuschung –, des Glücks und der Trauer, des Erfolgreichseins und des Sich-betrogen-Fühlens, der Fülle und der Leere.« (Kreativität und Teleologie, S. 184) Wir kommen hier an die Grenze der kategorialen Scheidung von ›Leere‹ und ›Fülle‹, die letztlich für die erlebnisphänomenologische Beschreibung jenes Grenzereignisses unzureichend ist. Logisch betrachtet ist der Mangel (die Lücke) dem Streben resp. Begehren zuzuordnen als dessen Vorausset­ zung. In seiner vitalen Intensität aber, als Bewegung, sozusagen eigendynamisch betrachtet, ist das strömende, überquellende Begehren mehr wie eine Überfüllung (genauer: Übergefülltheit) der Lücke vorzustellen. Das Leere-Erleben in der und durch die Erfüllung ›entspricht‹ dann umgekehrt und nur scheinbar paradoxerweise der Unvollständigkeit, Unabgeschlossenheit, Lückenhaftigkeit (sozusagen: einer ›Leer­ füllung‹) des Menschen, die erleb- und erleidbar wird als Kontingenz dessen, was als erstrebtes Ziel noch notwendig und quasi absolut gelten musste, im Modus seines Erreich-worden-seins. 317 Vgl. Landmann: PuA, S. 167 f. 313

314

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4.5 Kulturgeschichte des Schöpferischen

und Geltung eingeräumt. Es ist gewissermaßen nur konsequent, komplementär zur erlebten Enttäuschung jeglicher Erfüllung dem menschlichen Streben eigens Gewicht zu geben; wenn er von der »weltaufschließende[n] Kraft der Sehnsucht«318 schreibt, dann »fügt sich solche Haltung doch nahtlos in M. Landmanns Bild des schöp­ ferischen Menschen.«319

Historisch-kritische Rückbindung Nicht erst jetzt ist es Zeit, Landmanns anthropologische Architektur des kreativen Menschen auf ihre historischen Fundamente hin zu prüfen. Nicht erst jetzt, aber jetzt ganz besonders, da es zuletzt vor allem um eine Weise menschlichen Erlebens ging, die keineswegs als überall und allezeit gegeben oder von gleicher Relevanz vorausgesetzt werden kann. Wenngleich es anthropologisch nur konsequent ist, die Produkte menschlichen Schaffens aus der Not und Fülle menschlichen Lebens und Strebens heraus zu begreifen, so bedeutet eben dies zugleich, sie als Kulturelles und damit »als Bekundung zugrunde liegender, individuell variabler Lebenszentren«320 zu verstehen. Es zeigt sich hier die Problematik einer Kulturanthropologie im Sinne Landmanns, die beansprucht, historische Selbstverortung des kreati­ ven Menschen zu sein, ohne in naive Fortschritts- oder Rückschritts­ erzählungen abzugleiten.

4.5 Kulturgeschichte des Schöpferischen Was die Kulturgeschichte der Kreativität betrifft, so betont Landmann die zentrale Bedeutung der griechischen Antike, hier insbesondere der – in diesem Zusammenhang oft zu gering veranschlagten – Sophisten. Sie waren es, die das Kulturelle als solches, d.h. als gestif­ tetes, als gesetztes durchschauten, ohne jedoch daraus eine positive Konsequenz gezogen zu haben: »Man hätte jubeln können, denn dies beweist menschliche Kreativität und Macht. Die erste Wirkung 318 319 320

Landmann: EuE, S. 204. Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 185. Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 178, Herv. F.S.

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4. Kreativität

aber war eine negative, all’ unsere Einrichtungen erschienen nun als bloß beliebig und relativ.«321 Die Zurückführung des vermeintlich Objektiven auf ein stiftendes Subjekt richtet sich dabei sowohl auf die materiellen und sittlichen Institutionen des Zusammenlebens als auch auf die sog. Wahrheiten: »grundsätzlich ist nach den Sophisten alle scheinbare Wahrheit, in der wir uns bewegen, durch unsere Sub­ jektbeschaffenheit bedingt.«322 Entsprechend ist auch der Umschlag der schöpferischen Freiheit in spielerische Willkür nicht erst ein Produkt der (ästhetischen) Moderne, sondern bereits bei ihnen zu finden.323 Zum Wirtschaftsmodell verkommt dieses ›Spiel mit den Möglichkeiten‹ seither und bis heute in jener Praxis, die (nützliches) Wissen als Wahrheit verkaufen will, ohne sich dabei in außerpragma­ tischer Verantwortung zu sehen. Kulturhistorisch entscheidende Voraussetzung nicht zuletzt einer solchen Praxis ist selbst aber die Emanzipation der entsprechen­ den Kultursphäre aus den herrschenden traditionalen Zusammen­ hängen, d.h. ihre Autonomisierung zu einem Bereich, der sich selbst Gesetz und Maßstab gibt.324 Diese Autonomisierung der Kulturberei­ che (der Ästhetik, der Politik, der Philosophie) ist Landmann zufolge, wie wir noch sehen werden, das große Verdienst der antiken Kultur. Sie bedeutet jedoch noch nicht die Herausstellung des einzelnen Subjekts, die sich zwar wie gesagt bei den Sophisten bereits findet, jedoch von dort aus gegenüber der konservativen Ontologie und Ethik Platons, in der das spontan schaffende, sich selbst überlassene Individuum skeptisch gesehen wird, nicht durchgesetzt hat. Erst die Neuzeit bringt hier eine ›Umwertung der Werte‹: »Wie auch sonst (Materie, Individualität, Kreativität) adelt die Neuzeit, was in der Antike auf der Negativseite stand. Neben der destruktiven hat Spontaneität auch eine schöpferische Seite. Zwischen den beiden gibt es viele Abstufungen.«325 Das Paradoxon der menschlichen Kreativität, die der Möglichkeit nach, d.h. anthropo-logisch betrachtet, immer schon da war, der Landmann: Sinnverlust und Eudämonismus. In: Zeit der Ernte: Studien zum Stand der Schopenhauer-Forschung. Festschrift für Arthur Hübscher zum 85. Geburtstag. Hg. v. Wolfgang Schirmacher. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holz­ boog 1982, S. 155 [im Folgenden: Sinnverlust und Eudämonismus]. 322 Landmann: PA, S. 33. Vgl. UuS, S. 11. 323 Vgl. Landmann: FA, S. 135. 324 Vgl. Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 172. 325 Landmann: Berliner Rückblenden, S. 682. 321

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4.6 Leben wir im »postkreativen Zeitalter«?

Wirklichkeit nach, d.h. kulturhistorisch betrachtet, jedoch erst eigens entdeckt, geweckt, zu voller Kraft befreit werden musste, lässt sich letztlich nicht auflösen. Das erscheint mir insofern unproblematisch, als die darin formulierte Aussage weniger einen strengen Wahrheits­ anspruch verfolgt als vielmehr hermeneutisch aufschlussreich und insofern aber äußerst entscheidend ist: Die paradoxe Annahme einer anthropologischen Konstante, die historisch – in ihrem Dass und in ihrem Wie – variiert, ist geradezu die Voraussetzung dafür, vom Menschen in genere und von Menschheit sprechen zu können, und zwar sprechen zu können in einem dezidiert nichtnormativen Sinne. Dabei ist die Gefahr einer hermeneutischen Vereinnahmung des Fremden (einer anderen Zeit und ihrer Kultur) durch die eigenen Begriffe und Kategorien zwar nicht aufgelöst, aber begrifflich zum Ausdruck gebracht: eben in der Paradoxie eines Begriffes menschli­ cher Kreativität, der mit dem Allgemeinheitsanspruch und der histori­ schen Verortung gleichsam einen doppelten Boden hat. Gerade weil er beansprucht, als allgemeine Form auch etwas Singuläres einzu­ schließen, das er nicht konkret bestimmen kann, ja das er, es konkret bestimmend, nicht mehr sich unterordnen könnte – gerade deswegen ist der doppelte Boden des Begriffs nicht völlig transparent zu machen. Von einer Paradoxie (oder einem Widerspruch) zu sprechen, ist inso­ fern ein Ausdruck für jene Undeutlichkeit als der Konsequenz aus dem historisch-systematischen Doppelanliegen einer Kulturanthropolo­ gie. Wir werden nun sehen, wie sich bei Landmann der Anspruch, auch den maximalen Grenzfall eines Begriffes auf diesen bezogen sein zu lassen, umsetzt in der Gegenwartsdiagnose eines »postkreativen Zeitalters«326, in der seine anthropologische Grundthese im doppel­ ten Wortsinne aufgehoben ist.

4.6 Leben wir im »postkreativen Zeitalter«? Es scheint zunächst einmal ein Widerspruch zu sein, zu sagen, der Mensch zeichne sich dadurch aus, sich selbst zu schaffen und dann von einem postkreativen Zeitalter zu sprechen. Nehmen wir dagegen die kulturhistorische Betrachtung hinzu, so ist es nur folgerichtig, denn was einmal entstand und entdeckt wurde, kann auch wieder vergehen 326

Landmann: Es kommt nicht immer darauf an, S. 28.

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4. Kreativität

und verschwinden. Damit sind wir dort angelangt, wo der tiefe Sinn jener Diagnose kenntlich wird. Zunächst erschließen wir ihn indirekt über die Frage, wodurch jene Aversion gegen die Behauptung eines »postkreativen Zeitalters« motiviert ist. Der Grund dafür scheint die, wenn man so will, konservative Befürchtung zu sein, der Mensch werde mit seiner Kreativität seines Besten beraubt; was kulturhis­ torisch relativ spät auf die Positivseite gerückt worden ist, droht nun nicht nur auf die Negativseite zurück-, sondern gänzlich dem Untergang anheimzufallen. Anthropologisch betrachtet ist in dieser Befürchtung die Verwechslung eines Geschichtlich-kulturellen mit dem ›Eigentlichen‹ (dem Wahren, Guten, Schönen) wirksam, denn nicht etwa der Verlust einer allgemeinen Kraft des ›Menschseins­ schaffens‹ überhaupt, sondern der einer ganz bestimmten Kreativität, die jenes Menschsein schuf, das man als das seinige, das eigene kennt und versteht, wird beklagt. Warum aber sollte dieses Menschsein nicht auch, wie jedes andere, seine befristete Dauer haben?327 Der kul­ tur-anthropologische Sinn einer Rede vom »postkreativen Zeitalter« liegt zunächst darin, auf die Frist einer jedweden Menschseinsweise und mit ihr auf die hermeneutische Grenze einer jeden Anthropologie mit Nachdruck zu verweisen. Unendliche mögliche Änderungen und Ergänzungen liegen – bis zum Anbruch des posthistoire – immer auch vor uns. Die Menschheit ist immer alt und jung, bedingt und frei, dem Überkommenen verhaftet und zukunftsoffen, traditionsbeladen und revolutionsfähig zugleich.328

Dieses uns scheint mir hier nicht allein auf die menschheitliche Einheit aller, sondern durchaus auf die singuläre Einheit zu einer bestimmten Menschseinsweise gehöriger Menschen beziehbar zu sein. Dieser steht die Hervorbringung ihrer selbst als die, die sie sind, offen, solange die Welt, die sie dabei erschaffen, ihnen ermöglicht, sich in ihr als ›die selben‹ zu begreifen. Ihre Geschichte endet dort, wo die anderer beginnt. Sie endet dann, wenn sie sich nicht mehr als ›die selben‹ zu begreifen vermögen also ›als andere‹ verstehen müssen. Und mit ihr erschöpft sich ein Verständnis von Kreativität dort, wo ein anderes sich aufdrängt. Dies leitet über zu einem in gewisser Weise konservativ zu nennenden Sinn jener Vorstellung vom »postkreativen Zeitalter«, der dezidiert gegenwartskritisch zu sehen ist. Die Frist des 327 328

Vgl. MSGK, S. 123 f. Landmann: Formgründende Erfahrung, S. 10, Herv. F.S.

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4.6 Leben wir im »postkreativen Zeitalter«?

Kulturellen macht sich hier negativ bemerkbar, wenn Überkommenes doch versucht, in verwandelter Welt weiterhin schöpferisch zu sein: Die Innovations-Anthropina müssen sich nun zurückbilden. Wo sie aktiv werden, da senden sie gleichsam nur Fehlwurzeln aus, die ihre Funktion nicht erfüllen. Der Mensch, wie wir ihn kannten, bildet sich in der Tiefe um. Er verliert ein ihn bisher Auszeichnendes. Er wird ärmer, als er war. Und doch müssen wir diese Armut wollen, weil nur in ihrem Rahmen der ererbte Reichtum uns nicht wieder verlorengeht.329

In diesen Worten ist nicht nur der jenseits jeder Tragik stehenden Idee eines linearen, kumulativen Fortschritts menschlicher Schöpferkraft eine Absage erteilt, sondern auch schonungslos verdeutlicht, dass mit dem Erreichen eines Besten der Verlust eines anderen Besten in Kauf zu nehmen ist. Und dies nicht vor allem aus demütiger Schick­ salsergebenheit, sondern aus dem tieferen Grund, dass die kulturelle Überlieferung (›der ererbte Reichtum‹) Sinn und Wert nicht von allein erhält, sondern nur durch eine Weise der Aneignung, in der sie als nicht allein festhaltendes, sondern auch haltgebendes Wurzelwerk zugänglich wird. Dieser konservative Sinn des »Postkreativen« ist kri­ tisch zu nennen insofern, als er überhaupt die Frage eröffnet, inwiefern und unter welchem Selbstverständnis sowohl das Bereits- als auch das Noch-nicht-bestehende (nicht mehr) erhalten oder geschaffen werden kann. Gerade Epigonalität kann so selbst als eine Weise der kreativen Weltverarbeitung und -gestaltung verstanden werden, die für Men­ schen, seit sie sich als geschichtliche Wesen verstehen, kennzeichnend ist und im »postkreativen Zeitalter« in ihr Intensivstadium tritt.

Landmann: Es kommt nicht immer darauf an, S. 29. Was Landmann hier als ›Fehlwurzeln‹ bezeichnet, kann wie mir scheint erhellend im Zusammenhang gesehen werden zu Andreas Reckwitz‘ soziologischer Analyse dessen, was er unter dem Begriff »Kreativitätsdispositiv« als zentrale Signatur spätmoderner Gesellschaften beschreibt, wobei der kritische Fokus – wie im von Foucault entlehnten Begriff des ›Dispositivs‹ bereits deutlich wird – auf der Aktivierung und Verfügbarmachung von Ressourcen der explizit als Individuen angesprochenen Personen unter dem Deck­ mantel (und ›Lockmittel‹) einer Verwirklichung von Freiheit und Identität eben dieser Personen als Individuen liegt. Reckwitz‘ Diagnose und Unbehagen lautet entspre­ chend, »dass die Verwandlung dieser alten, ja auch emanzipatorischen Hoffnungen in einen Kreativitätsimperativ neuartige Zwänge eines Aktivismus permanenter ästhe­ tischer Innovationen mit sich gebracht hat und eine zwanghafte Zerstreuung der sub­ jektiven Aufmerksamkeit im unendlichen, niemals befriedigenden Zyklus der kreati­ ven Akte« (Die Erfindung der Kreativität, S. 18). 329

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4. Kreativität

Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung Das schöpferische Potenzial gerade der Idee des Postkreativen wird vollends deutlich, wenn wir die wechselseitigen Bezüge zwi­ schen menschlicher Kreativität und menschlicher Selbsterkenntnis in Betracht ziehen. Dabei sind Landmann zufolge für das Verständnis menschlichen Erkennens, wie bereits zu Beginn der Arbeit gesagt, die Momente des Nichtwissens und Wissensverlangens entscheidend.

4.7 Nichtwissen und Nichtsein Ganz grundsätzlich wurde bereits herausgestellt, dass Landmann das Erkennen als einen sich kreativ aufbauenden und vollziehenden Prozess versteht. Anders als die Erkenntnis eines Weltdinges hat die Selbsterkenntnis das Selbst nicht nur zur Voraussetzung, sondern auch zur Folge. Dieser erkenntnistheoretische Aspekt interessiert Landmann weniger als die erkennenspsychologische Analyse der Erkenntnismomente. Was die Kreativität betrifft, so zeigt sich hier das Nichtwissen (sei es ein ›vollständiges‹ oder nur ein partielles) als anthropo-logische und kulturhistorische Voraussetzung jedweder Erkenntnisbewegung. Kreativ ist diese jedoch erst zu nennen, wenn der Erkenntnisgegenstand noch nicht fest-steht; andernfalls wäre sie lediglich das Finden eines Gesuchten oder das Nachvollziehen eines Erfragten. Landmann schreibt über den Menschen: »Denn so wie er sich selbst einschätzt und sieht, so wird er dann auch faktisch. Er ist, was er kraft seiner Idee von sich aus sich macht, wozu sie ihn prägt. Die Idee ist also hier ein echter, bestimmender Wirklich­ keitsfaktor.«330 Und sie ist dies nicht etwa, weil das Bewusstsein das Sein bestimmt, sondern weil es selbst diesem entspringt und dergestalt auf es zurückwirkt. Der Mensch, der nicht von sich weiß, ist auch noch nicht, was er nicht von sich weiß, sondern wird es erst, und zwar auch als jemand, der dann von sich als einem solchen um sein Nichtwissen Wissenden weiß (bzw. zu wissen meint). Dass entsprechend »Wahrheit nicht Abbild ist, sondern über das Gegebene Landmann: MSGK, S. 98. Vgl. dazu Horst Seidl, dessen Kritik an Landmanns Kulturanthropologie wir zwar nicht zustimmen, der aber treffend ihre (erkennt­ nis-)philosophischen Annahmen zusammenstellt (vgl. Seidl: Vom Dasein zum Wesen des Menschen, S. 207 f.). 330

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4.8 Wissensverlangen und Seinsverlangen

hinausgeht, daß somit Finden auch Schaffen heißt«331, ermöglicht eine Deutung des »Postkreativen«, die es nicht lediglich passive Verwaltung eines Bestandes, sondern selbst eine Weise kreativer Weltverarbeitung sein lässt. Nicht im Stile des expressionistischen Künstlers, wohl aber in Hinblick auf die kreationistischen Momente bereits der basalen Aneignungs- und Nachvollzugsweisen erschafft sich auch der postkreative Mensch selbst, indem er seine Epigonalität erkennt, versteht, anerkennt. Die übertriebene Opposition gegen das Bewahren nährt sich interessanterweise gerade aus einem verengten Verständnis menschlicher Kreativität und überdeckt gewissermaßen die tieferliegende Hemmung, das, was man erkannt hat, auch zu sein. Die von Landmann geforderte Herauslösung menschlicher Krea­ tivität aus dem engen Bereich des Ästhetischen bedeutet auch, ihr den Schleier der Unverbindlichkeit und Harmlosigkeit zu entreißen. Ebenso opponiert er gegen eine rationalistische Auffassung mensch­ lichen Schöpfertums, die dessen ›Lebensernst‹ zwar nicht wie der Ästhetizismus verschleiert, aber in der Vorstellung einer mach- resp. herstellbaren Welt verklärt: »Das Neue entsteht nicht als ein Vor­ weggedachtes und -geplantes, sondern im unmittelbaren, wagenden, experimentierenden, findenden Wirklichkeitsvollzug selbst.«332

4.8 Wissensverlangen und Seinsverlangen Entscheidend ist, dass, so sehr sich das Streben des Menschen auf die Erkenntnis der Welt und seiner selbst und auf eine bestimmte Weise des Seins der Welt und seiner selbst richtet, am ›Ende‹ doch stets wieder ein Nichtwissen und ein Nichtsein, d.h. ein neues Wissbares und ein neues mögliches Sein am Horizont erscheinen. Für das Verständnis des »Postkreativen« ist dies insofern erhellend, als es sich auch bei der Idee des kreativen Menschen als dem formalen Kern von Landmanns Fundamental-Anthropologie um den Gipfel (bzw. das Delta) eines ganz bestimmten, nämlich kulturanthropologischen Wissensverlangens handelt. Dieses hat seine Quellen und Anstöße in einem geschichtlich-kulturell verortbaren Menschsein, in dem sich auch immer ein bestimmtes Menschseinsverlangen ausdrückt. Für die Anthropologie zeigt sich die oben erläuterte Tragik des Errei­ 331 332

Landmann: EdI, S. 39. Landmann: Teuer bezahlte Vernunft, S. 99.

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4. Kreativität

chens nun darin, dass ihr Wissensverlangen – als Verlangen – stets über das Erreichbare hinausschießt. Insofern trifft der Vorwurf des Essentialismus zu, verstanden als Verdacht, Anthropologie verlange, dass der Mensch, den sie erkenne, auch sei. Sofern aber ja die wirklichkeitsüberschreitende Qualität des Wissensverlangens auch und gerade jenes Seinsverlangen auf den Plan ruft, das zur Überwin­ dung des Veralteten ermutigt, also, anthropo-logisch gesprochen, die Erkenntnis der Pluralität des Menschen dessen Sein gerade jeweilig überschreitend offenhält, schießt der Vorwurf über sein Ziel. Kulturanthropologisch wissen zu wollen, was der Mensch sei, führt mit sich bzw. dahin, zu wollen, dass Menschen im Modus offen gehaltener Pluralität seien, was eine re-kreative Überwindung menschlicher Kreativität durchaus einschließt. Aus gutem Grund stellt gerade Landmanns Anthropologie den epigonalen als einen postkreativen (und nicht etwa einen unkreativen) Menschen in Aussicht. Das ist der Mensch, der konsequent auch zu sein (zu werden) verlangt, was er zu wissen (zu lernen) vermag.

Verschwiegene Eingänge: Kreativität und »Geschöpflichkeit« Dass und wie konsequent Landmann den Menschen in seiner Geschichtlichkeit, in der Bandbreite seiner Wesensbestimmung, gel­ ten lässt, wirft die Frage nach verborgenen Gründen einer solch uner­ schrocken-liebevollen Zuwendung auf. Wir müssen hier nicht lange suchen, führt uns doch bereits der prägnante Buchtitel Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur auf die Frage nach der Bedeu­ tung menschlicher Geschöpflichkeit. Dass Landmann diese nicht theologisch, sondern kulturanthropologisch verstanden wissen will, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich bestimmte Aspekte seiner Deutung der kulturellen Geschöpflichkeit des Menschen auch bei seiner Auslegung des hebräischen Gottesbildes wiederfinden. So schließt es sich für ihn nicht aus, dass der Mensch sowohl Exemplar einer Kultur (und insofern ›austauschbar‹) als auch einmaliges Indi­ viduum (und insofern ›unwiederholbar‹) ist. Dies ist weder trivial noch selbstverständlich und erhellt sich erst, wenn wir genauer sehen, warum sich für Landmann Kulturalität und Kreativität nicht nur nicht ausschließen, sondern sogar bedingen: eben nicht obwohl, sondern gerade weil, ja nur soweit der Mensch Geschöpf ist, kann er Schöpfer

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Verschwiegene Eingänge: Kreativität und »Geschöpflichkeit«

sein. Das ist gemeint, wenn Landmann, Platons Gottesverständnis und das der Genesis vergleichend, über das Individuelle schreibt: Sein Verhältnis zu Gott ist nicht das der Teilhabe, sondern das der Geschöpflichkeit, die ihm von seiner Individualität nichts raubt. Die Bibel ist mehr geschichtliches als reflektierend-abstrahierendes Buch, und in seiner einmaligen Individualität muß sich jeder beim jüngsten Gericht vor Gott verantworten.333

Es mag heuristisch erlaubt sein, hier an die Stelle Gottes die Kultur zu setzen, um Landmanns Anthropologie in ihren Bezügen zu verstehen. Dass der Mensch Kulturwesen ist, bedeutet allen Ernstes, dass gerade seine Einmaligkeit ein Kulturelles, ein Geschaffenes, ein Vergängli­ ches ist, dem er sich genauso verdankt wie er es selbst bewirkt. Ersetzen wir für den Moment das jüngste Gericht durch die kulturelle Überlieferung als dem unkündbaren Herkommen eines jeden Einzel­ nen, so wachsen uns vielleicht Sinne für den ethisch-prophetischen Appell, der sich in einer Rede vom »postkreativen Zeitalter« Ausdruck zu verschaffen sucht.

Landmann: UuS, S. 176. Mit Verweis auf das Beispiel von Berger/Luckmann als prominenten Vertretern des (Sozial-)Konstruktivismus weist Jörn Bohr darauf hin, dass man sich mit dem Vokabular des Schöpferischen das Verdikt des Religiösen ein­ handelt (vgl. Bohr: Kreativität und Verdinglichung, S. 195). 333

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5. Individualität

Verdichtete Ausgänge Wie ist von der Herausstellung der Individualität als einem Wesens­ merkmal des Menschen zur Diagnose bzw. Prognose vom »Ende des Individuums« zu gelangen? Wie blickt die, die diesen Weg geht, vom Ziel zurück auf den Beginn? Es ist der Weg der Geschichte und die wandernde Anthropologin lernt, dass auch Individualität entdeckt worden ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie nichts Anthropologisches sei, sondern erhellt umgekehrt den Sinn einer Rede vom Anthropologischen. In jenem Sinne, in dem die Frage nach dem (Wesen des) Menschen nur über seine Geschichte, das heißt die Geschichten seiner kulturellen Lebensformen und seiner Antworten auf eben diese Frage, beantwortet werden kann, ist ›der Mensch‹ seine Geschichte. Dass der Mensch seine Geschichte ist, lässt verstehen, was es bedeutet, dass und inwiefern das Individuum entdeckt werden und wieder verschwinden kann. Dass der Mensch seine Geschichte ist, also die Geschichten als solche des Menschen verstanden werden können, bedeutet, dass der Mensch als solcher Individuum ist (ob er es weiß oder nicht). Von hier aus entfaltet sich ein möglicher Sinn der Rede vom »Ende des Individuums«. Sie kann anthropologiekritisch verstanden werden und richtet ihren Stachel darauf, dass Individualität als Anthropinon eine relativ weite Kategorie bzw. eine fast leere Aussage ist, deren damit gegebene Elastizität genau zu ihrer Schwäche und schließlich zum Problem werden kann. Dass Anthropologie ihre Kategorien weit und offen halten muss, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie es nur begrenzt vermag. Dass unvermeidlich das zeitörtlich gebundene Verständnis von Indi­ vidualität in die Anthropologie hineinwirkt, lenkt den Fokus auf die kritische Frage nach Möglichkeit und Sinn philosophischer Anthropo­ logie. Es ist dann das Individuum im Wortsinne als das Ungeteilte bzw. Unteilbare zu nehmen. Anthropologie im Sinne Landmanns ist Kulturanthropologie, die den Menschen als Einheit und Ganzheit

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5.1 Individualität als anthropologische Kategorie

(von Natur und Kultur, Leben und Geist, Leib und Seele usw.) versteht und insofern als Individualität verstehen muss. Vom »Ende des Individuums« zu sprechen, wäre dann zwar widersprüchlich; der Sinn einer solchen Rede kann jedoch darin bestehen, hinzuweisen auf die nun zeit- und kulturkritische Frage nach dem Menschsein unter kulturellen Bedingungen, die eine Rede vom Individuum ebenso grundsätzlich herausfordern wie eine Kulturanthropologie als Ganz­ heitswissenschaft. Sehr versteckt liegt hier auch die Frage nach der Enge des Zusammenhangs zwischen einer bestimmten Form von Individualität und einer bestimmten Form von Anthropologie. Die Not, die uns ein »Ende des Individuums« möglicherweise bedeutet, stößt uns darauf, dass und inwiefern wir Menschsein eben als Indi­ viduumsein kennen und wollen. So kommen wir wenn überhaupt erst umweghaft auf die nahliegende Idee, mit dem Ende dieses Indi­ viduums würde der Neuanfang einer anderen Form des Menschseins einhergehen können.

Anthropologische Architektonik 5.1 Individualität als anthropologische Kategorie Die Idee von Individualität, genauer: ihr allgemeinster Inhalt, ist der anthropologischen Grundthese Landmanns, der Mensch sei im Kern dadurch bestimmt, sich immer wieder einzigartige und unver­ wechselbare Formen seines Denkens, Handelns, Empfindens usw. zu geben, inhärent. Landmann unterscheidet dabei die Kulturindivi­ dualität von der persönlichen Individualität, womit er vermeidet, die eine in der je anderen aufgehen zu lassen und zugleich, in deutlicher Abgrenzung zur Individualanthropologie als einer Anthropologie des persönlichen Individuums, das Verhältnis der beiden bestimmt: Was den Einzelnen betrifft, so ist die »Kulturindividualität […] das Funda­ ment, auf dem sich seine persönliche Individualität erst erhebt.«334 Diese Verhältnisbestimmung ermöglicht Landmann, zugleich bzw. in einem Anthropologe der das Individuum übergreifenden Kulturund Geschichtskörper und Anthropologe der aus sich heraus sein Innerstes entfaltenden Kreativität des Einzelmenschen zu sein. So wie der Prägestempel des Kulturellen nicht allein die allgemeinen Ver­ 334

Landmann: Anthropologie des Individuums, S. 164.

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5. Individualität

laufsformen des Kultur- und Soziallebens, sondern tiefer gehend die ganze Seelenarchitektur des Einzelnen betrifft, so kommt umgekehrt auch das diesem vermeintlich Eignende (Originalität, Schöpferkraft, Entfaltung eines Eigensten) den Kultur- und Geschichtskörpern zu. Mit dieser Verschränkung geht für Landmann einher, die Zuwen­ dung zur individuellen Person auch für Kulturindividualitäten geltend zu machen: Nur wer die Verschiedenartigkeit der Kulturen und der Kulturzeitalter gerade als etwas Großes bejaht, weil in ihr die Schöpferfähigkeit im Menschen nur umso unversieglicher zutage tritt und durch jede von ihnen das Werthafte in der Welt noch eine Bereicherung erfährt, nur der wird sich gedrängt fühlen, sich liebevoll in andere Kulturindividua­ litäten zu versenken, nur er wird ihnen das volle Daseinsrecht zubilli­ gen.335

Das hindert Landmann nicht, Unterschiede im Grad der Individualität geltend zu machen. »Nur diese, die persönliche, ist also Individualität im strengen Sinne, die gleichwohl ohne jene arm wäre und isoliert nicht bestehen könnte.«336 Hier wird zum einen deutlich, dass es ihm vor allem darum geht, ganz grundsätzlich Individualität als ›Eigen­ schaft‹ nicht nur Personen, sondern auch Kulturen zuzusprechen, was anthropologiegeschichtlich keineswegs so selbstverständlich ist. Zum anderen unterstreicht Landmann hier erneut die Getragenheit der persönlichen von der Kulturindividualität, was erhellend ist für die Problematik, ob und wie ein Individuelles, das sich ja gerade dadurch auszeichnet, ungeteilt und unteilbar zu sein, doch graduell (d.h. mehr oder weniger) individuell sein kann. Für die Kulturindividualität ist dies leicht zu verstehen, ist sie doch gewachsenes und gemachtes Produkt unzählbar vieler wirkender Kräfte und gilt gleichzeitig für alle ihr Zugehörigen bzw. sich ihr zugehörig Empfindenden, wodurch sie als solche – und gerade sie – Allgemeinheitscharakter hat. Kaum ist sie ja als Individualität für die in ihr Lebenden wirksam, als solche vielmehr vom Deutenden heuristisch in Betracht genommen und so für ihn aufschlussreich. Dass graduelle Individualität auch der persönlichen Individuali­ tät als dem einzigen Individuum im strengen Sinne zukommt, ergibt sich aus der Annahme, dass sie getragen ist von der Kulturindivi­ 335 336

Landmann: Löwith Rezension, S. 241. Landmann: Anthropologie des Individuums, S. 164.

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5.1 Individualität als anthropologische Kategorie

dualität, was nichts weniger bedeutet, als dass der ermöglichende Grund für das, was sie und nur sie inhaltlich ist, doch ein ihr Vorgängiges, sie Einschließendes und sie Übersteigendes, eben ein Allgemeines ist. Ja, die Kultur schließt den Einzelnen als Einzelnen gerade ein, indem sie ihn übersteigt, da sie ihm so – und nur so – individuelle Entfaltungsräume lässt. Was sich hier für Landmann zum Erkenntnisgegenstand, zur erkennbaren Einheit heraus- bzw. zusammenkristallisiert, ist gerade nicht das radikal vereinzelte ahisto­ rische Individuum der Existenzphilosophie, sondern Individualität als historisch-kulturelle Errungenschaft, mit der bzw. aus deren Schwung auch der einzelne Mensch als inkommensurabler, unwiederholbarer Singular entdeckt wird. Auch das persönliche Individuum wird für Landmann anthropo-logisch thematisch, d.h. als eine bestimmte Idee des Menschseins. Paradoxerweise scheint er nun als Kulturanthro­ pologe gerade diese Idee inhaltlich einzuschränken, indem er sie geschichtlich-kulturell verortet. Wenn auch noch das Intimste des Menschen kulturell bedingt sein soll, wie ist dann persönliche Indivi­ dualität noch denkbar, die doch gerade davon ausgeht, dem Einzelnen sei »seine grundlegende Form und sein Gesetz immanent. Sie stam­ men ihm aus keiner fremden Instanz, sondern sind Ausdruck seiner persönlichen Dynamik.«337 Ein Lösungsversuch dieser Paradoxie ist bereits im Zitat angelegt. Es dürfte keine Haarspalterei sein, das Überhaupt-ermöglicht-sein vom Inhaltlich-bestimmt-sein zu unter­ scheiden. Und wenngleich hier wohl eine analytische Unterscheidung vorliegt, so bedeutet das für unseren Zusammenhang lediglich, dass das Wechselwirkungsfeld von Mensch und Kultur (von Einzelnem und Struktur) zwischen den zwei Polen, dem Dass und dem Wie seines Individuum-Seins sich aufspannt. Von hier aus erhellt sich auch noch einmal der Sinn einer Rede vom historisch erscheinenden Anthropi­ non, die auch und gerade für das klassisch europäische Bildungsden­ ken ungemein tragend ist. Das in jedem Menschen Angelegte muss doch einmal, d.h. historisch entdeckt werden, um sich entfalten zu dürfen, ohne dass deswegen die das Individuum freisetzende Energie diesem auch bereits en détail seine inhaltliche Bestimmung vorgäbe. Hier gelangen wir aber an einen kritischen Punkt, denn: entdeckt wird ja gerade nicht und nie Individualität als solche, sondern eben entdeckt werden kann nur eine bestimmte Weise des Mensch-seins, hier als Individuum-sein, wenngleich diese sich unter dem Glitzer der 337

Landmann: PuA, S. 234.

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5. Individualität

Allgemeinheit kaum in ihrer Jeweiligkeit zu erkennen gibt. Ungeteilt­ heit und Unteilbarkeit – das sind zum einen äußerst allgemeine Worte, zum anderen aber doch auch ganz bestimmte Ideen, die überhaupt erst aufkommen können in Opposition, Korrektur oder Ergänzung zu einem Weltbild, in dem Dinge als geteilt, getrennt, teilbar angesehen werden. Und doch ist es genau dieser glitzernde Spielraum des Begrifflichen, der wenigstens in der Idee des Individuellen dieses mit so vielen Nuancen sich substituieren lässt.

5.2 Chiffren und Nuancen des Individuellen Das Konkrete, das Concretum: Jede dieser Nuancen bringt etwas davon zum Ausdruck, was sich in bzw. hinter der Idee des Individuellen verbirgt und geht zugleich über seine Bedeutung als das Ungeteilte bzw. Unteilbare hinaus. Vom Konkreten bzw. vom Concretum spricht Landmann an vielen Stellen und in unterschiedlichen Bezügen.338 Dabei scheint es zunächst so, als würde mit der Konkretheit v.a. etwas von der materiellen Dimension des Seienden begriffen, das sich vom – und hier kommt der Gegenbegriff ins Spiel – abstrakten Denken nicht erfassen lässt. Hier macht sich der merkwürdige Anspruch gel­ tend, eine Dimension der Realität zwar nicht mittels abstrahierender Ratio inhaltlich erschöpfend, aber doch als grundsätzlich existent und insofern dann doch wieder abstrakt zu begreifen. Kaum verwunderlich also, dass es semantisch schimmert, wenn von der vollen »Konkre­ tion des Seienden«, »der individuellen geschichtlichen Konkretion«, einer »Konkretheit und Individualität« des Wirklichen und schließlich dem Besonderen und Unberechenbaren des »Infra- und Suprakasuel­ len«339 die Rede ist. Untrennbar ist die Behauptung, das Konkrete lasse sich nicht in eine Formel übersetzen340 verbunden einer Hingabe und Dankbarkeit für den so genannten »›Segen der Konkretheit‹ (Rothacker)«.341 Nun könnte aber das Problem, dass das Konkrete von Formeln und Gesetze aufstellender Vernunft nicht erfasst werden kann, auch lediglich ein quantitatives Problem sein, bedingt durch die Komplexität und Vielschichtigkeit des Seienden. Dann würde 338 339 340 341

Vgl. etwa Landmann: WiP, S. 112 f.; EuE, S. 282; UuS, S. 186. Landmann: DaD, S. 70; UuS, S. 185; UuS, S. 137; Teuer bezahlte Vernunft, S. 99. Vgl. Landmann: EuE, S. 282. Landmann: UuS, S. 186.

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5.2 Chiffren und Nuancen des Individuellen

Vernunft es verfehlen nur insofern sie es reduziert, indem ihre »Kennzeichnung […] aus der unendlichen Fülle der Konkretion nur einen einzigen Aspekt heraus[greift].«342 Dieses Problem wäre aber prinzipiell bewältigbar, d.h. das Concretum wäre mittels Vernunft durchaus erfassbar und beschreibbar. Von hier aus wird deutlich, dass zwar mit der Konkretheit ein Aspekt, aber nicht der Kern des Individuellen erfasst ist: »Vielleicht ist das Individuelle aber gerade dasjenige Element am Concretum, vermöge dessen es mehr ist als bloß eine Komplexion von Prinzipien und einen Rest Geheimnis zurückbehält, der nicht unter Prinzipien steht.«343 Unteilbar zu sein, bedeutet also hier, von keinem Prinzip erfassbar, ja auf kein Prinzip auch nur bezogen, d.h. a-prinzipiell zu sein. Dies nun aber ist bei Landmann keineswegs dualistisch gemeint; das Geheimnis des Individuellen ist nicht allein seine von keinem Geist der Welt begreifbare und von allem Geist der Welt strikt getrennte Materie. Vielmehr ist es Landmann ausdrücklich um eine Kritik am Geist-Leben-Dualismus zu tun, wenn er die mensch­ liche Vernunft pluralisiert und damit neben der abstrahierenden eine individuierende Vernunftkraft kenntlich werden lässt. Für diese letztere ist nun kennzeichnend, dass sie auf’s Engste und Direkteste mit ihrem jeweiligen Gegenstand verbunden ist, ja erst und nur von ihm überhaupt aktiviert werden kann. Ihr Ort ist ein jeweiliges geschichtlich einmaliges Verstehenssubjekt so wie ihr Gegenstand selbst bereits geisthaltig ist. Dass das Individuelle als Ungeteiltes auch unteilbar ist, begründet hier die Grenze abstrahierender und öffnet zugleich den Raum individuierender, d.h. verstehender Vernunft, die als Erkenntnisstil und Haltung in Historismus und Romantik ihre große Stunde hat: Der Gedanke der Romantik dagegen ist nicht so sehr, das Ideelle bloß zu streichen, sondern es im individuell Realen selbst zu suchen. Die sich auf das Reale richtende Anschauung ist hier nicht bloß die dem nackt Materiellen zugeordnete nackte Sinnlichkeit des Empirismus und noch Kants, die dann doch nur dazu dient, das Denken von Allgemeinem zu fundieren. Die Anschauung ist sich hier selbst genug und enthält das mehr als nur Sinnliche in sich selbst bereits mit. Denn auch auf der objektiven Seite liegt nicht nur Materie vor: das Materielle läßt hier einen Sinn durchscheinen, an ihm haftet eine 342 343

Landmann: EuE, S. 122. Ebd., S. 90.

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tiefere Bedeutsamkeit, es ist mehr als nur Materielles. Aber freilich läßt sich dieses über die Materialität Hinausgehende nicht als etwas Allgemeines von ihm ablösen, das auch anderweitig verwirklicht wäre oder sich auch als unverwirklicht Allgemeines rein im Denken fassen ließe. Vielmehr ist das Sinnhafte hier unablösbar mit dem Konkreten verwoben, es ist ebenso individuell wie das Konkrete selbst und wird nur in der Verwobenheit mit dem Konkreten faßbar.344

Was man von diesem Erkenntnisstil auch halten mag – bahnbrechend war und bleibt er zweifelsohne, indem er Sein, Erscheinung und Bedeutung des Wirklichen nicht mehr dualistisch oder trialistisch auseinanderreißt, sondern als Modi des Wirklichen auffasst und so sensibel wird für die wechselseitigen Verflechtungen, Bezüge und Verweisungen, aus denen – und damit zwischen Materie und Geist bzw. jenseits dieser Teilung – sich Wirklichkeit als Wirklichkeit aufbaut. In dieser Linie stehen dann im 20. Jh. auch phänomenolo­ gisch interessierte Ansätze wie der des Pädagogen Gottfried Bräuer, der schreibt: »Konkret ist etwas nicht, wie es als Faktum schlicht und einfach da ist, sondern wie es qualitativ bedeutend und von mehreren Quellpunkten aus strukturiert und dabei eines durch das andere ist.«345 Bräuer formuliert deutlich, inwiefern der philosophisch ›ganzheitliche‹ bzw. ›integrative‹ Anspruch (hier: der Pädagogik) als solcher – und nicht erst sekundär – einen (selbst-)kritischen Sinn einschließt, der auf ein stets drohendes vorschnell quantifizierendes und insofern vom Konkretum abhebendes, dieses darin verfehlendes Erkennen(-wollen) abzielt: Das Konkrete muß in fruchtbarer Weise bleiben können, als was es in der vorgezeichneten Weise zur Erscheinung kommt: ein Con-cretum (wörtlich: ein Zusammengewachsenes), in dem die sinnlichen Bestim­ mungen schon die Keime des Formalen enthalten, das Allgemeine dem Besonderen noch innewohnt, Quantitatives sich auf Qualitatives zurückbeziehen läßt, aus dem man also die gestaltenden Momente exponieren, das Konkretsein selbst aber nicht seiner lebendigen Ver­ wurzeltheit entreißen kann, ohne es seiner Integrität zu berauben und zu einem bloßen Bestandsstück zu verdinglichen.346

Landmann: UuS, S. 186, Herv. F.S. Bräuer, Gottfried: Pädagogisches Denken als konkretes Denken. Essen: Neue Deutsche Schule 1964, S. 16 [im Folgenden: Pädagogisches Denken als konkretes Denken]. 346 Ebd., S. 15 f. 344

345

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5.2 Chiffren und Nuancen des Individuellen

Das Grundproblem, wie Nichtgeistiges doch mittels des Geistes erfassbar und erkennbar (und warum es nun gerade von dieser einen Methode vollständiger, besser, tiefer usw. begriffen) sei, auf das dualistische Philosophien auf ihre Weisen zu antworten versuchen, stellt sich nicht weniger scharf auch dem ›pantheistisch‹ gestimmten Hermeneutiker, der Materielles auch (schon) geistig, Geistiges auch (noch) materiell sein lässt. Eine Möglichkeit, dieses Problem nicht allein erkenntnistheoretisch zu stellen, sondern selbst bereits lebens­ philosophisch zu fundieren, nimmt ihren Ausgang bei der alltäglichen Beobachtung, dass der Mensch als Wahrnehmungs-, Stimmungsund Erkenntniswesen von der konkreten Wirklichkeit in ihrer Eigen­ artigkeit affiziert und fasziniert wird. Das Besondere, Eigenartige, Inkommensurable: Wir kommen jetzt auf die Frage, ob, und wenn ja, warum und wie man sich mit Indivi­ duellem beschäftigen könne. Es scheint dies die eigentlich drängende und die Lager spaltende Frage zu sein; so auch im berühmten Positi­ vismusstreit, dessen zentraler Konfliktherd nicht so sehr die Frage war, ob es etwas jenseits der Natur (der natürlichen Tatsachen) gäbe, sondern wie man sich diesem Nichtnatürlichen nähern und ob man darüber wissenschaftlich Aussagen treffen könne. Doch auch bei dieser scheinbar harmloseren Frage ragt der Spalt noch tief und scheint unüberbrückbar zu sein. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Motivation, sich mit etwas Individuellem zu beschäftigen und sich dabei von ihm ›verführen‹ zu lassen, im Kern etwas anderes ist als die Motivation, ein Gegebenes skeptisch auf eine bestimmte Gesetzmäßigkeit hin zu überprüfen. Dies ist natürlich eine starke Vergröberung tatsächlich komplizierterer Motivationslagen und -dynamiken, die hier jedoch dazu dienen soll, das irrationale Affiziert- und Fasziniertsein von einem selbst wiederum Irrationalen deutlich herauszustellen. Die im Grunde ideologische Unterstellung, die Positivistin presse die lebendige Wirklichkeit in die Zwangsjacke ihrer Vernunft, dürfte auch ein Reflex desjenigen sein, der verstehen will, ohne zu verstehen, warum er verstehen will – ja der verstehen muss. Insofern trifft ihn die volle Konkretheit der Wirklichkeit mit voller Wucht, wobei all die Nuancen der Faszination, ihr Glitzer und ihre Schatten, merkwürdig und unaussprechlich ineinandergehen. Es ist insofern sehr treffend, wenn Landmann das Individuelle als, wie bereits zitiert, »das Unberechenbare und Besondere des Infra- und

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5. Individualität

Suprakasuellen«347 bestimmt. Als den allgemeinen, berechen- und kontrollierbaren Fall befremdlich-dämonisch Untergrabendes und reizvoll-leuchtend Überragendes überwältigt es den Menschen (mit all den positiven und negativen Stimmungen, die eine Überwältigung einschließen bzw. auslösen kann). Und da es mit voller Wucht, d.h. als Ganzheit wirkt und als Ganzheit reizend wirkt, muss der Kern dessen, was es ist, eben in dieser Ganzheit, in dieser Unteilbarkeit bestehen. Unberechenbar geht es den Affizierten an; unberechenbar muss es ihm auch als Deutendem bleiben. Das Wirkliche wird nicht allein in seiner Unteilbarkeit, d.h. als Individualität angesehen, weil seine Teilung es auf bestimmte Aspekte reduzieren, sondern weil sie es seines ganzen Kerns, seiner »Inkommensurabilität«348 vollständig berauben würde. Dieser Gedanke nun steigert sich, wenigstens in der Kritischen Theorie, zu der These, dass eine positivistische Betrachtung der Dinge letztlich auch in eine Welt einzig positiver (identischer) Dinge führen müsse. Landmann bleibt dagegen eher analytisch in einer an Nietz­ sche angelehnten Unterscheidung: »Analog gibt es eine kleine Indivi­ dualität, die wert ist, daß sie zugrunde geht. Auf der anderen Seite ist alles Höchste ein Besondertes, nicht ohne weiteres Übertragbares. Sowohl in seiner Entstehung wie zu seinem Verständnis ist es an komplexe Voraussetzungen gebunden.«349 Dass Landmann hier nicht nur vom Besonderen, sondern vom Besonderten spricht, ist höchst aufschlussreich, lässt es doch das Individuelle nicht nur in einem mys­ tischen Sinne (als Mysterium), sondern in einem geschichtlich-kultu­ rellen Sinne (als Gewachsenes) in-dividuell, genauer: in-dividuiert sein. Es, dieses »Sondertümliche«350 erhält sogar seine Besonderheit nicht spontan aus sich selbst, sondern verdankt sie den Quellen, aus denen es zu einem Besonderten erwachsen (worden) ist. Wir gelangen also da hin, wo wir begannen und uns fällt das Individuelle fast mit dem Kulturellen zusammen, bzw. wird das Kulturelle hier als Indivi­ duelles, d.h. mehr als Gewachsenes denn als Gemachtes thematisch.

Landmann: Teuer bezahlte Vernunft, S. 99, Herv. F.S. Landmann: JM I, S. 70; JM II, S. 142. 349 Landmann: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum. In: Menschliche Existenz und moderne Welt. Ein internationales Symposion zum Selbstverständnis des heuti­ gen Menschen. Hg. u. mitverfaßt v. R. Schwarz. Teil II. Berlin: de Gruyter 1967, S. 548 [im Folgenden: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum]. 350 Ebd. 347

348

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5.2 Chiffren und Nuancen des Individuellen

Integrität, Person: Nun gilt es, nachdem das Individuelle als solches in seiner anziehend-abstoßenden Wirkung aufgezeigt worden ist, die Spezifika der menschlichen gegenüber anderen Individualitäten herauszustellen. Dies ist ja in gewissem Sinne genau das Anliegen von Landmanns Kulturanthropologie, wenngleich mit der paradox anmutenden Konsequenz, dass der Mensch das individuellste und zugleich das kulturellste (bzw. sozialste) Wesen ist.351 Weder gilt ihm, wie gesagt, dass der Mensch das einzig Individuelle sei, noch, dass der Mensch einzig individuell sei. Insgesamt lässt sich festhal­ ten, dass Landmann schwankt zwischen einer ästhetisch-ethischen Leidenschaft für das Individuelle und einer anthropologischen Skepsis ihm gegenüber.352 Dieses Sowohl-als-auch verrät sich etwa, wenn er zur Verhältnisbestimmung von Anthropologie und Existenzphiloso­ phie (als der Philosophie des Individuums par excellence) schreibt: »Bloß daß die Anthropologie dieses Prinzip der Selbstbestimmung eines Unbestimmten allgemein faßt und mehr die Menschheit im Auge hat, die sich in ganzen Völkern und Zeiten Selbstbestimmungen angedeihen läßt, während die Existenzphilosophie es auf das Indivi­ duum zuspitzt.«353 Das hindert Landmann nicht, im »prälogisch-fluktuierend-indi­ viduelle[n] Seelengrund« metaphorisch eine »unvertauschbare Sub­ stanz«, einen »naturhaft gleichbleibenden inneren Rhythmus« des individuellen Menschen zu beschwören.354 Er trifft sich mit den Exis­ tenzphilosophen im Gedanken, der Mensch solle sein Eigenstes zur Geltung bringen; das bedeutet ihm aber – und hier geht er dezidiert kulturphilosophisch weiter –, daß er »sein persönlichst Gefühltes in 351 Vgl. Landmann: PA, S. 187, wo er den Menschen charakterisiert als »das sozialste Wesen, und das bildet keinen Widerspruch dazu, daß er zugleich das individuellste Wesen ist. Sozial ist er als Geschöpf, individuell als Schöpfer der Kultur.« Diese dop­ pel-superlative Bestimmung des Menschen finden wir auch an anderer Stelle: »Aus demselben anthropologischen Prinzip heraus ist er in antinomischer Spannung sowohl das hervorbringerischste wie das plastisch formbarste Wesen« (FA, S. 192). 352 Gerhard Pfafferott verweist in diesem Zusammenhang auf das in Landmanns pathetischer Verteidigung des Individuums wirksame kreativitätsphilosophische Vorund Werturteil: Seine »Höhereinschätzung des Individuums vor allen anderen For­ men soziativer Gebundenheit legitimiert sich dabei aus der Tatsache, daß das Indivi­ duum allein Speerspitze und Garant der Kreativität und der sozialen Innovationen verkörpert« (Pfafferott, G.: Michael Landmann: Anklage gegen die Vernunft [Rezen­ sion]. In: Philosophischer Literaturanzeiger; May 1, 1977; 30, 3; S. 144–147, S. 144). 353 Landmann: FA, S. 49. 354 Landmann: PuA, S. 33, 218 u. 34.

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5. Individualität

äußerlich Objektiviertes übersetzen muß«. 355 Nicht nur kulturhisto­ risch, sondern auch ontogenetisch ist die persönliche Individualität sekundär, d.h. auch: sie ist nichts, dahin man als zu einer a-kulturellen rein-seelischen Eigentlichkeit zurückkehren müsse, sondern etwas, das zu gestalten man unter bestimmten kulturellen Voraussetzungen befähigt und gefordert sei. Als Lebendiges ist der Einzelne ohnehin bereits Individuum, als Person ist er es erst auf einer bestimmten Kultur- und Bewusstseinshöhe: »Alles Lebendige, so wußte schon Leibniz, zeichnet sich aus durch einmalige Singularität; je höher es steht, um so mehr, und vollends der Mensch auf seiner reifsten Stufe bekennt sich auch zu ihr, will und soll so nicht wiederkehrende Person sein.«356 Im Gegensatz zur Existenzphilosophie, die in allem Allgemei­ nen und Fragmentierenden ein Hindernis zur Selbsterkenntnis und -verwirklichung des Einzelnen sieht – und dies wohl auch, weil ihr bereits Individualität als Lebendigkeit in Gefahr zu stehen scheint –, ist für Landmann gerade die Differenzierung und Autonomisierung der Kulturgebiete (etwa der Erkenntnissphäre) Voraussetzung und Katalysator für jene persönliche Individualitätsform: »Aus der Auto­ nomie des Objektiven folgt die des Subjekts. Der Weg führt also von der Verselbständigung der Wahrheit über die Verselbständigung der Vernunft zur Verselbständigung des Individuums. Das Geheimnis Europas ist die Desintegration.«357 Nicht allein gegen die es überfor­ menden Kräfte und Ansprüche der Kultur, sondern gegen die aus ihrem eigenen Grund wachsende Spannung hat der Einzelne seine Persönlichkeit durchzusetzen, seine Integrität zu bewahren. Nicht allein elitär, sondern kulturphilosophisch betrachtet bedarf es »einer besonderen Charakterstärke, eines besonderen Evidenzgefühls für die eigene Wahrheit und der Engagiertheit für sie, um mit ihr und für sie gegen die Vielen zu kämpfen.«358 Fast scheint es, als teile sich etwas von der Kontingenz der Idee und Wirklichkeit des Individuums die­ sem mit, wenn es seine Autonomie als »Selbsttäuschung«, als »eine Art ›Lebenslüge‹»359 durchschaut. Jetzt aber wird es interessant, denn Landmann: PuA, S. 32 f. Landmann: DaD, S. 151. 357 Landmann: UuS, S. 215, Herv. F.S. 358 Landmann: AgV, S. 110. 359 Landmann: Aufstieg und Niedergang des Individuums. In: Oskar Schatz (Hg.): Auf dem Weg zur hörigen Gesellschaft? Graz; Wien; Köln: Styria 1973, S. 72 f. [im Folgenden: Aufstieg und Niedergang des Individuums]. 355

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5.3 Ethik des Individuums

die Einsicht in unsere Kulturalität tut unserem Empfinden eigenster Besonderheit nicht zwingend einen Abbruch, was deutlich einer jeden Entschleierung mittels Erkenntnis eine Grenze vom Leben her zieht: die Täuschung löst sich »vor der besseren Einsicht so wenig auf, wie wir den gebrochenen Stab im Wasser, nachdem wir wissen, daß er nicht gebrochen ist, gerade sehen, und so wenig wir aufhören, Farben und Töne wahrzunehmen, nachdem Physik uns belehrt, daß sie als solche in der Natur nicht existieren.«360 Dies ist ein weiterer Sinn jener Rede vom geschichtlichen Erschei­ nen des Menschen. Dass der Mensch als persönliches Individuum ›auch‹ der Mensch an sich ist, bedeutet, dass sich in seinem Erscheinen und Erwachsen das anthropologische Grundgesetz vom sich selbst erschaffenden Menschen realisiert. So wie der ganze Mensch (in einem quantitativen Sinne) die Summe aller Menschseinsweisen in Raum und Zeit wäre, so ist in jeder einzelnen dieser Menschseins­ weisen der ganze Mensch (in einem qualitativen Sinne). Zwar ist Wahrheit irreversibel, aber eben nur als Wahrheit; erlebte Individua­ lität wird von ihr nicht ohne Weiteres abgetragen; und umso weniger, je stärker das Individuum nicht nur als Integrität fasziniert (und dies umso mehr, je stärker sich diese gegen ›zersetzende‹ Elemente in und außer ihr durchzusetzen versteht), sondern als Wert gesetzt wird.

5.3 Ethik des Individuums Wert und Würde des Individuums: Hier zeigt sich nochmals der feine Unterschied zwischen Existenzphilosophie und philosophischer Anthropologie, die zwar ihr Werturteil zugunsten des Individuums teilen, es aber unterschiedlich begründen. Das Individuum als solches wie auch sein Wert sind (von) den Existenzphilosophen metaphysisch (zuweilen theologisch) vorausgesetzt. Landmann hingegen sieht, wie nicht nur der Mensch als Individuum entdeckt, sondern das Indivi­ duum als ein Wertvolles gesetzt worden ist – und entsprechend auch künftig als Wert gesetzt werden können müsse, d.h. in sich wandeln­ der Kulturwelt nicht mehr schlichtweg voraus-gesetzt werden könne. Die Frage nach dem Individuum ist ihm eine genuin anthropologische und er ist insofern um einiges kritischer bzw. skeptischer als die Existenzphilosophie: als Metaphysik des Individuums ist ihr dieses 360

Landmann: Aufstieg und Niedergang des Individuums, S. 72 f.

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5. Individualität

gleichsam im Kern unantastbar, wenngleich es sich, um wirklich sein bzw. existieren zu können, gegen die Widerstände der Außenwelt zu behaupten hat. Bei Landmann dagegen steht das Individuum als kulturelle Errungenschaft, d.h. als eine bestimmte Menschseinsweise, die unter bzw. in sich keinen Kern (bzw. als Kern nur eine immer wieder zu schließende Lücke) hat, auf dem Spiel: Wird man die Gesellschaft von der Unbequemlichkeit schwieriger Indi­ viduen befreien, die Aggression durch elektronische Beruhigung von Gehirnpartien überwinden, dann steht unser Konzept des Menschen selbst neu zur Diskussion. Was ist wichtiger: das reibungslose Funktio­ nieren der Gesellschaft oder die Würde des persönlichen Selbstseins, des Individuums, durch das allein doch erst das Ganze der Gesellschaft wertvoll wird?361

Nun könnte man sagen, Landmann setzt, indem er den Menschen als Schöpfer der Kultur denkt, ebenso das kreative Individuum bereits voraus. Das ist insofern richtig, als natürlich auch seine Anthropo­ logie, so fundamental ihr Anspruch auch ist, ein bestimmtes Men­ schenbild und eine bestimmte kulturelle Wirklichkeit zugrunde liegen hat. Es ist aber insofern falsch, als – wie bereits gezeigt wurde – Landmanns Anthropologie subtil mit ihrem eigenen Ende rechnet. Anders betrachtet stellt sie nicht nur genealogisch, sondern prophe­ tisch die Frage nach den kulturellen Bedingungen der Möglichkeit, uns als Menschen so verstehen zu können, wie wir uns (als Naturund Traditionswesen) verstehen müssen und (als schöpferische und Freiheitswesen) verstehen wollen. Das »individuelle Gesetz«: Man kann Georg Simmels »individu­ elles Gesetz« als Versuch deuten, den Wert des Individuellen nicht nur wie eben zitiert darin zu begründen, dass der Wert einer Gesell­ schaft sich letztlich aus dem ihrer Trägerinnen, der Individuen ergibt, sondern – radikaler – darin, dass die Sphäre des Sollens selbst die des Individuellen ist. Die Idee eines »individuellen Gesetzes« geht dabei mindestens bis auf Schleiermacher zurück, bei dem wir sie wie auch die philosophisch-ethische Problemstellung, aus der sie sich ergibt bzw. die sie zu lösen versucht, bereits in seinen frühromantischen Schriften Ende der 1790er Jahre finden: Jämmerlich ist freilich jene praktische Philosophie der Franzosen und Engländer, von denen man meint, sie wüßten so gut, was der Mensch 361

Landmann: Ökologische und anthropologische Verantwortung, S. 176 f.

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5.3 Ethik des Individuums

sei, unerachtet sie nicht darüber spekulierten, was er sein solle. Jede organische Natur hat ihre Regel, ihr Sollen; und wer darum nicht weiß, wie kann der sie kennen? Woher nehmen sie denn den Einteilungs­ grund ihrer naturhistorischen Beschreibungen, und wonach messen sie den Menschen? Ebensogut sind sie aber doch als jene, die mit dem Sollen anfangen und endigen. Diese wissen nicht, daß der sittliche Mensch aus eigner Kraft sich um seine Axe frei bewegt. Sie haben den Punkt außer der Erde gefunden, den nur ein Mathematiker suchen wollen kann, aber die Erde selbst verloren. Um zu sagen, was der Mensch soll, muß man einer sein, und es nebenbei auch wissen.362

Simmel selbst bezieht sich mehrfach auf Schleiermacher, so bspw. in seinem Essai Der Individualismus der modernen Zeit. Dort heißt es: Diese Form des Individualismus [man könnte ihn den qualitativen gegenüber dem numerischen des 18. Jahrhunderts oder den der Einzig­ keit gegenüber dem der Einzelheit nennen] – hat ihren Philosophen in Schleiermacher gefunden. Für ihn ist die sittliche Aufgabe gerade die, daß ein jeder die Menschheit auf eine besondere Weise darstelle.363

Als Kulturanthropologe des Individuums steht Landmann in merk­ würdiger Spannung zu diesem Gedanken, hat er doch die Kulturalität jeglicher Moral und Ethik ebenso im Blick wie die Notwendigkeit des Einzelnen, für sein Schicksal selbst Sorge und Verantwortung zu tragen. Vielleicht kommt auch diese Spannung zum Ausdruck, wenn Landmann vom individuellen Gesetz als »Simmels kühnste[m] und dauerndste[m] Gedanke[n]«364 spricht. Und so sehr auch in ihm »die Formel für das große Neugewonnene von der Geniezeit bis

362 Schleiermacher: Bruchstücke der unendlichen Menschheit. Fragmente, Aphoris­ men und Notate der frühromantischen Jahre. Hg. v. Kurt Nowak. Berlin: Union 1984, S. 21. 363 Simmel: Der Individualismus der modernen Zeit. In ders.: Postume Veröffent­ lichungen. Ungedrucktes. Schulpädagogik. Hg. v. T. Karlsruhen u. O. Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 255 u. 256. – Folgen wir der Analyse von Anne­ katrin Puhle in ihrer Doktorarbeit – anfangs betreut von Michael Landmann, der jedoch ihre Fertigstellung leider nicht mehr erlebte –, so lässt sich bereits im späten Hellenismus in der Ethik des Panaitios ein »Umschwung von der ›quantitativen‹ zur ›qualitativen Individualität‹ erkennen.« (Puhle: Persona. Zur Ethik des Panaitios. Frankfurt./M.; Bern u.a.: Peter Lang 1987 [im Folgenden: Persona], S. 193. 364 Landmann: Gertrud Kantorowicz. 9. Oktober 1876 – 19. April 1945 [Nachwort]. In: Gertrud Kantorowicz: Vom Wesen der griechischen Kunst. Hg. u. mit einem Nach­ wort versehen v. Michael Landmann. Heidelberg; Darmstadt: Verlag Lambert Schnei­ der 1961, S. 96 [im Folgenden: Gertrud Kantorowicz].

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5. Individualität

zum Expressionismus«365 gesehen werden muss, so bleibt es Simmel wie Landmann zufolge der Ausnahme vorbehalten.366 Dies kann man in Hinblick auf das (künstlerische, politische etc.) Genie bzw. eine entsprechende Avantgarde oder Elite lesen, trifft damit aber bei Landmann noch nicht den Kern, ist es ihm doch gerade ein Anliegen, die überindividuellen Geschichtskörper als prägende Mächte in den Blick zu bekommen.367 Und doch treffen sich Landmann und Simmel insofern, als letzterer mit seinem – wie es im Untertitel von Simmels Essai heißt – »Versuch über das Prinzip der Ethik« weniger den inhaltlichen Sollensbestimmungen der geschichtlich wechselnden Kulturen als stärker Kants abstraktem Vernunftformalismus eines allgemeinen Sollensgesetzes opponiert: »Die falsche Verwachsung zwischen Individualität und Subjektivität muß genauso gelöst wer­ den, wie die zwischen Allgemeinheit und Gesetzlichkeit. Dadurch werden die Begriffe frei, die neue Synthese zwischen Individualität und Gesetzlichkeit zu bilden.«368 Im Gegensatz zu Kant, für den Wert und Würde des Einzelnen darin bestehen, kraft seiner Vernunft, d.h. der Fähigkeit, gerade nicht eigen-artig zu sein, am Reich der Vernunftwesen teilzuhaben und so moralisches Wesen zu sein369, das 365 Landmann: Georg Simmel als Prügelknabe [Rezension von H. Delius: Kategori­ scher Imperativ und individuelles Gesetz. Bemerkungen zu G. Simmels Kritik der Kantischen Ethik und Th. W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrung]. In: Philo­ sophische Rundschau 14 (1967), S. 260, Herv. F.S. [im Folgenden: Georg Simmel als Prügelknabe]. 366 Vgl. Landmann: Georg Simmel und Stefan George. In: Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien. Hg. v. H.-J. Dahme u. O. Ramms­ tedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 170 [im Folgenden: Georg Simmel und Stefan George]. 367 Vgl. Landmann: ZaS, S. 9, wo er schreibt, die »Stellungnahme zugunsten der Selbständigkeit der Gestalten [ist] zweifellos berechtigt gegenüber dem Versuch, die Gestalten ganz im Umspannenden ertrinken zu lassen. Sie schießt aber über das Ziel hinaus, denn daß die Gestalten auf einem gemeinsamen Hintergrund stehen, das ist nicht Weltanschauung, sondern unumgängliche Einsicht. Das Stehenbleiben bei den Gestalten hat etwas Ästhetisierendes und wird dem Gesamt der Geschichte, die immer auch Geschichte der sozialstaatlichen Groß-Subjekte und der objektiv-geistigen Berei­ che ist, nicht gerecht«. 368 Simmel: Das individuelle Gesetz, S. 220. Ähnlich richtet sich Landmanns Fun­ damental-Anthropologie im Grunde nicht gegen die Menschenbilder als solche, son­ dern gegen ihren Anspruch, Wesensbestimmung des Menschen zu sein. 369 Vgl. Kant: Grundlegung, S. 72: »Die praktische Notwendigkeit nach diesem Prin­ zip zu handeln, d.i. die Pflicht, beruht gar nicht auf Gefühlen, Antrieben und Neigun­ gen, sondern bloß auf dem Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander, in welchem der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetzgebend betrachtet

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5.3 Ethik des Individuums

zu sollen vermag, ist für Simmel das Sollen ein streng jeweiliges, und zwar nicht allein von Situation zu Situation, sondern von Mensch zu Mensch. Nicht sekundär richtet sich das Sollen als ein Imperativ auf ein primäres Leben, sondern ist selbst »eine Art […], auf die die Tota­ lität des Lebens – Inhalte, Verhaltungsweisen, Absichten – ebenso erlebt wird, wie sie andererseits auf die Art oder in der Form der psychologischen Wirklichkeit erlebt wird.«370 Simmel radikalisiert das Sollen zur Sache des Individuums (zum Modus von Individualität) wie Landmann die Ethik zur Sache (Erscheinungsweise) von Kultur. Man fühlt sich erinnert an den paradoxen Gedanken, das Wesen des Menschen sei die Pluralität der Menschseinsweisen (in der Summe und als Prinzip), wenn Simmel von der »Objektivität des Individuel­ len«371 spricht. Auf das Dichteste berühren sich Landmanns Anthropologie der Kultur und Simmels Ethik des Individualismus in der tragischen Annahme, der modernen, gebrochenen Seele372 sei Erfüllung gleich Entsagung, das Erreichte ein Verfehltes: »Denn das individuelle Gesetz determiniert nicht unverbrüchlich, sondern gleicht mehr einem Ideal, das ebenso oft, wie es erreicht wird, auch unerreicht bleibt. Wir sind Fragmente eines Typus, der nur wir selbst sind, so drückt Simmel das einmal aus.«373 Dass Landmann den Menschen in seiner Anthropologie zugleich maximal determiniert und optimal frei sein lässt, ist nichts als die konsequente Philosophie einer ent­ sprechenden Lebenshaltung, die wie ihre Kultur für die Moderne charakteristisch ist. Umso bemerkenswerter, dass Landmann bei aller Skepsis am prometheischen Individuum an Simmels individuellem Gesetz als der Quelle menschlicher Freiheit festhält: »Nur wer auch dieses individuelle Gesetz gelten läßt und sich vorbehält, im Konflikt­ fall nach ihm zu handeln, ist wahrhaft frei. Nur aus der Konsequenz werden muß, weil es sie sonst nicht als Zweck an sich selbst denken könnte. Die Ver­ nunft bezieht also jede Maxime des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen Willen und auch auf jede Handlung gegen sich selbst und dies zwar nicht um irgend eines andern praktischen Bewegungsgrundes oder künftigen Vorteils willen, sondern aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt.« 370 Simmel: Das individuelle Gesetz, S. 196. Vgl. Landmann, wenn er schreibt, »die Spontaneität des gleichsam mit göttlicher Schöpfermacht ausgestatteten, aus dem Mikrokosmos zum Mikroethos gewordenen Subjekts hat den Primat« (PA, S. 121). 371 Simmel: Das individuelle Gesetz, S. 217. 372 Vgl. Landmann: EV, S. 17. 373 Landmann: PuA, S. 235.

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5. Individualität

seiner inneren Lebenslinie, aus der vollen Komplexheit der Situation, findet der Einzelne das für ihn jeweils Richtige.«374 Es besteht für mich kaum Zweifel, dass dieses Individuum in Landmanns Philosophie, wenn auch nicht immer ausdrücklich, der sich seiner tiefsten kulturellen Abhängigkeit bewusste Einzelne ist, dessen Lebenslinie insofern immer im Strombett der ihn unterwöl­ benden Geschichte verläuft und dessen Situation wie ein Stern aus unzähligen chaotisch geordneten Blitzen umgebender Makrokosmen zusammenspringt. Ein solches Individuum dürfte sich kaum daran stören, lediglich »Durchgangspunkt für Objektives«375 zu sein. Nur wer Individualität inhaltlich denkt, störte sich daran und vergäße dabei glatt, dass ja in diesem Bild der Einzelne nicht etwa geleugnet, sondern vielmehr verortet (und als Punkt charakterisiert) ist. Er kommt auch nicht auf die Idee, dass es sogar eine viel höhere Freiheit bedeuten könnte, Durchgangspunkt für Objektives, das heißt, varia­ bel, empfänglich für vielerlei, zu sein, dagegen im Vergleich dazu die inhaltliche Bestimmung des Individuums wie strenger Determinis­ mus erscheinen müsste. Wenn Landmann hier und dort salopp davon spricht, dass die kulturelle Gesprägtheit des Menschen seiner Schöp­ ferkraft keinen Abbruch tue, so provoziert er damit den allzu ängstlich sich an das ›kleine Eigensein‹ klammernden Prometheus und appel­ liert an den kreativen Schöpfermenschen, der seinen Stolz darin hat, Entdecker und Verwirklicher einer ihn überragenden Wirklichkeit zu sein. »Indem eine ideale Ordnung sich durch uns verwirklicht und uns ergreift, bleiben wir nach wie vor im Ordnungsprinzip unserer Person selbst zentriert. Wir gehören gleichzeitig einem Innerhalb und einem Außer-uns, sind Bürger zweier Sphären.«376

5.4 Gefahren, Schwundstufen, Fratzen des Individuellen Landmanns Skepsis gegenüber einem überzogenen bzw. luftverwur­ zelten Individualismus findet sich in Beschreibungen verschiedener Landmann: EV, S. 162. Landmann: Ernst Bloch über Simmel. In: Ästhetik und Soziologie um die Jahr­ hundertwende, S. 270. Vgl. ähnlich Landmann: MSGK, S. 10: »Den objektiven Geist hat der subjektive überall schon zur Voraussetzung, ja er bildet nur seinen Konden­ sations- und Durchgangspunkt«. 376 Landmann: PuA, S. 233. 374

375

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5.4 Gefahren, Schwundstufen, Fratzen des Individuellen

Gefahren, Schwundstufen und Fratzen individualistischer und indivi­ dualisierender Bemühungen. Zwei seien hier kurz aufgeführt. Nur-noch-Spiel und Willkür: Weit davon entfernt, das Spieleri­ sche als Voraussetzung und Inspirationsquelle, ja als Partnerin der Kreativität zu leugnen, sieht Landmann doch sehr deutlich, dass es seine schöpferischen Effekte nur in geheimnisvoller Verwobenheit mit einer Gesetzmäßigkeit bzw. gefühlten Notwendigkeit entfaltet. »Fehlt dieses Gesetz«, schreibt er, ganz im Sinne Schillers, »so ent­ artet das Schaffen zum Spiel. Seine Ergebnisse tragen nicht mehr den Stempel der Notwendigkeit, sondern den beliebiger Willkür.«377 Der Gefahr, dass die Freiheit »umschlägt in spielerische Laune und Willkür«378, zu entgehen, liegt dabei nur bedingt in der Macht des Einzelnen, zeigt sich in ihr doch auch die gleichsam gesetzmäßige kulturelle Dynamik, dass das Erstrebte und noch Umkämpfte auf dem Weg seiner Vollendung seine kreativen Potenziale entfaltet, dagegen im postfiniten Zustand nur noch destruktiv wirksam ist und gleichsam nur noch Fehlwurzeln aussendet379, sofern es auf die veränderte Kulturlage nicht wiederum kreativ zu antworten versteht. Eine Form von Individualität, die bereits errungen ist, kann nicht erneut errungen werden: »Sie, die einst an der Spitze lag und das Neue für alle brachte, ertrinkt jetzt in byzantinischen Nichtigkeiten und in Subjektivismen, die sich nur noch gegenseitig interessant sind. – Nach dem Aufbauenden kommt die Reihe an das Zerstöreri­ sche.«380 Was ›einst‹ Idee war und ›schließlich‹ sich in Lebensformen übersetzte, normalisiert und sedimentiert sich ›nun‹ derart, dass es auch wieder frei wird, sich willkürlich allem Möglichen, nur eben ohne jede Notwendigkeit, zu verbinden. Fast so, als gälte es, lärmend den Kontingenzschmerz zu betäuben. Dass die einzige anthropo-logische Bestimmung des Menschen in der Notwendigkeit besteht, dass er sich selbst bestimmt, zeigt und erhellt sich kulturgeschichtlich darin, dass etwas wie Notwendigkeit (in) der Geschichte an bestimmte, und zwar selbst geschichtliche Voraussetzungen gebunden ist. Gelten in der Wirklichkeit der Natur deren Gesetze gerade stets und überall mit zwingender Notwendig­ keit, so fällt das Notwendige in der Sphäre der Geschichte gerade mit 377 378 379 380

Landmann: PA, S. 181. Landmann: Aufstieg und Niedergang des Individuums, S. 68. Landmann: Es kommt nicht immer darauf an, S. 29. Landmann: Aufstieg und Niedergang des Individuums, S. 80.

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5. Individualität

dem Einmaligen, Unwiederholbaren zusammen. Insofern hat es hier paradoxerweise zeitlich wie räumlich eine mittlere Reichweite. Die Kunst einer Kultur bestünde dann darin, recht zeitig mit der Zeit zu gehen, um so die Ausbildung spielerisch willkürlicher Fehlwurzeln wenigstens zu erschweren. Wie eine Kulturanthropologie des kreati­ ven Menschen in ihrer Formalität eine inhaltliche Fülle einbüßt und sich, wenn sie nicht beizeiten abdankte, in Spielereien pervertieren würde – so nimmt jede Demokratie mit ihrer erreichten Breite (Reich­ weite) in gewisser Weise den Verlust einer ›Höhe des Individuellen‹ in Kauf. Wer diese Deutung vorschnell als elitäres Denken abtut, bedient sich dabei bereits einer demokratischen Prämisse und macht es sich leicht im Glauben, das das positive Werturteil auf seiner Seite und es nicht nötig zu haben, das in Frage stehende Phänomen, jenseits von Gut und Böse, zunächst als Ausdruck einer kulturellen Dynamik, d.h. in seinen Sachdimensionen zu betrachten. In einer ähnlichen Richtung rechnet der Kunsthistoriker und Kulturwissen­ schaftler Wolfgang Ullrich mit den »heutigen kreativitätsgierigen Individuen« ab, die in ihrem Bestreben, als irgendwie schöpferisch tätige Menschen bereits Künstler zu sein, auf einer sehr warmen und weichen Welle reiten: »Und wenn große Schöpfungen früher als Weckruf für eine nächste Generation von Genies, als Ansporn zu einem Wettstreit über die Zeiten hinweg galten, drohen sie heute zu Spielverderbern eines egalitären Verständnisses von Kreativität zu werden.«381 Kriminelle Individualität – individuelle Kriminalität: Wie konse­ quent es Landmann, bei all seiner Liebe zu den ›Großen‹ der Geistes­ geschichte, um das Individuum als einer anthropologischen Kategorie zu tun ist, zeigen seine Überlegungen zum kriminellen Individuum. Dass er dabei in seiner Analyse womöglich deskriptiv über die Stränge schlägt, soll uns nicht daran hindern, seine Überlegungen auf ihren systematischen Gehalt hin in Betracht zu nehmen. Die soeben beschriebene Dynamik, dass das funktionslos Gewordene und doch noch auf sich Beharrende regressiv und destruk­ tiv wird382, ist vielleicht nirgends so deutlich zu sehen wie in der Substitution von Individualität und Kriminalität, die übrigens nicht Ullrich, Wolfgang: Der kreative Mensch. Streit um eine Idee. Aus der Reihe »Unruhe bewahren«. Salzburg/Wien: Residenz Verlag 2016, S. 55 [im Folgenden: Der kreative Mensch]. 382 Vgl. Landmann: Aufstieg und Niedergang des Individuums, S. 81.

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5.4 Gefahren, Schwundstufen, Fratzen des Individuellen

nur wegen der Kriminellen selbst, sondern auch in Hinblick auf die in der Moderne zunehmende Faszination des Kriminellen, wie sie sich etwa im grassierenden Konsum kriminalistischer Literatur und Filme zeigt, aufschlussreich ist.383 Wird in vor- oder gar antiindividualisti­ scher Kultur der Eigenartige als solcher skeptisch beäugt und sein Eigensein als Regelübertritt und dieser als Verbrechen geahndet, so findet sich in einer Kultur, die Individualität bejaht und begünstigt bzw. in der sie bereits zur Normalität geworden ist, umgekehrt ein »Umschlag der sublimen Individualität in die aggressive und kriminelle«.384 Eine Ethik, die das Individuum als solches gut sein lässt, ist anthropologisch betrachtet naiv, setzt sie doch »in noch halb religiösem Vertrauen voraus, daß der individuelle Kern des Menschen des Ausdrucks und der Darstellung würdig sei. Die von ihr gewählte Freiheit kann mißbraucht werden vom Verbrecher.«385 Und sie kann es nicht etwa vor allem, weil der Mensch böse sei, nicht einmal, weil er auch böse sei, sondern, wie man vielleicht sagen könnte, weil kulturelle Dynamiken die bauende Energie des kreativen Menschen ab einem bestimmten Punkt umspringen lassen in die abbauende Kraft des destruktiven Menschen, der sich dann freilich auch wieder kreativ betätigt, jedoch – und das ist entschei­ dend – letztlich um der Verwirklichung seines zerstörerischen Planes willen. Hier sehen wir wieder deutlich, wie Landmann die Ethik kulturanthropologisch fundieren möchte, und zwar nicht, um die Eigenqualitäten des Guten, Bösen usw. zu leugnen, sondern um – ganz im Sinne Nietzsches – ihrem moralistischen Kurzschluss vorzubeugen: »Der Zerstörer um der Idee willen und der kriminelle Zerstörer springen ineinander um wie Wein und Essig.«386 Dies mag verständlicher machen, was kontraintuitiv verwundert, ja empört: dass Landmann selbst dem Bösen etwas abgewinnen kann, insofern dieser uns Ausdruck und Symbol individuell-kreativer Lebendigkeit ist: »Weil wir in ihm das reichere Gefüge spüren, daher lieben wir ihn noch, wo wir unter ihm leiden.«387 Dieser Zusammenhang zwischen Individualität, Kreativität, Lebendigkeit und Kriminalität, Boshaftigkeit hat bei Landmann eine 383 384 385 386 387

Vgl. Landmann: EdI, S. 102 f. Landmann: Aufstieg und Niedergang des Individuums, S. 80. Ebd., S. 68. Landmann: EdI, S. 241. Ebd., S. 106.

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5. Individualität

allgemein-anthropologische und eine gegenwartskritische Seite, die ineinander gehen: Einmal ist der Böse (wie auch das Individuum für die Gesellschaft) »eine notwendige Figur, eine gesellschaftliche Ein­ richtung, als Gegenspieler ihrer Pression unser lieber Böser«388, in dem gleichsam das, was bei uns verdrängt bzw. virtuell bleiben muss, sich realisiert und der uns so vorübergehend moralisch reinigen und unsere Dynamik beruhigen kann.389 In dem Maße nun, in dem die Erfüllungen der Wohlstandsgesellschaft das ›eben noch‹ an der Vor­ stellung seiner Eigenheit sich berauschende und ›nun‹ in ihrer Realität und Legalität verblühende Post-individuum ernüchtert zurücklassen, tritt das Böse als letzter Hort des noch verbliebenen Individuellen, ja tritt überhaupt das Individuelle am Bösen reizend zutage. »Das End­ reich nährt, sichert und vergnügt die Menschen, aber es füllt die innerlich Leeren und Brüchigen nicht mit Substanz. Die Muße und die Lizenzen, die es ihnen gibt, gibt es ihnen auch zum Ausleben ihres Hasses.«390 Wenn der Philosoph als Deuter seiner Zeit die Inhalte klassischer, optimistisch-humanistischer Vernunft und Moral in Begriffen und Kategorien der Ästhetik und Anthropologie auflöst, so folgt er damit nicht nur einer persönlichen Neigung. Er beschreibt darin nicht zuletzt reale Tendenzen einer Zeit, in der die vergifteten Spätblüten eines auffällig verdrängten Relativismus (seit) der Moderne in Gestalt krimineller Individuen und individueller Krimi­ neller unverwurzelt, und wenn schon nicht stillos, so doch ohne Blatt und Stil, einzig bereit zur ersten letzten Tat, aus dem Boden schießen.

Historisch-kritische Rückbindung 5.5 Kulturgeschichte des Individuellen Die Autonomisierung der Kulturgebiete: Was die historisch-kritische Rückbindung der anthropologischen Architektur der Individualität betrifft, so haben wir das meiste bereits in den obigen Zusammenhän­ gen vorwegnehmen müssen. Fragen wir uns daher an dieser Stelle, was es für ihren Kerninhalt, d.i. Ungeteiltheit und Unteilbarkeit, 388 389 390

Landmann: EdI, S. 104. Vgl. ebd. Landmann: Formgründende Erfahrung, S. 7.

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5.5 Kulturgeschichte des Individuellen

bedeutet, »der Anthropologie des Individuums eine Kulturgeschichte des Individuums folgen [zu] lassen.«391 Wir haben dies bereits angedeutet, als wir sagten, das Ungeteilt-Unteilbare bedarf seiner Herausstellung nur in einer kulturellen Situation, die bereits Geteiltes und Getrenntes kennt. Dass die Entdeckung der individuellen Person in der griechischen Antike einer Desintegration kultureller Bereiche folgt, bedeutet nun interessanterweise nicht, dass sie die auseinander­ gehenden Bereiche nun wieder allesamt in sich integriert (sein lässt), sondern vielmehr, dass sie sich von einem der Kulturbereiche und seiner Idee leiten lässt. »Das Individuum wird zum Individuum nur als Verwirklicher von Kulturideen, die tragend und für die kämpfend es mehr ist als nur Subjekt.«392 Man denke hier etwa an Platons Politeia und die dortige Zuordnung der Seelenteile zu den drei Ständen, den ihnen zugeordneten Tugenden und Aufgabenbereichen, die zum einen dafür steht, dass das Seelische überhaupt relevant wird, zum anderen aber dafür, wie es noch direkt auf die vorgestellte Ordnung und Aufteilung der Welt bezogen und von dieser abhängig bleibt.393 Erst wenn man wie hier das Individuelle geschichtlich, d.h. als kultu­ relle Kategorie begreift, werden seine Formen und Abstufungen als solche kenntlich und verständlich. Desintegration als »Geheimnis Europas«: Dies ist nicht zuletzt aufschlussreich, um zu verstehen, inwiefern auch zeitlich spätere Formen der Individualität noch von der Desintegration (als dem, wie Landmann sagt, »Geheimnis Europas«394) zehren, auch wenn gerade sie bzw. ihr verwandte Dynamiken wie Differenzierung, Spe­ zialisierung, Expertisierung, Globalisierung, Flexibilisierung allzu gern beschuldigt werden, die Sphäre des Individuellen zunehmend einzuengen. Liegt solchem Verdacht womöglich die Verwechslung von Individualität und Integrität zugrunde, so lässt sich genau entge­ gengesetzt mit Landmann verdeutlichen, dass erst in einer fragmen­ tierten bzw. pluralen Kulturwelt ein Individuum möglich ist, dass also nicht nur logisch, sondern real dem sich als ungeteilt-unteilbar empfindenden Einzelnen eine Teilung seiner Welt (bzw. seine Tren­ nung von dieser) vorhergeht. Es ist entsprechend für Landmann nicht Landmann: AgV, S. 127. Ebd., S. 132. 393 Vgl. Platon: Politeia 434d-435a. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2. Übersetzt v. F. Schleiermacher. 32. Aufl. Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt 2008, S. 3434 f. 394 Landmann: UuS, S. 215. 391

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5. Individualität

die Differenzierung als solche, sondern – im Gegenteil – die Unifi­ zierung, die ihn von einem »Ende des Individuums« sprechen lässt. Dieser feine Unterschied ist wichtig; und wie wir sehen, ist es sogar nicht einmal die Unifizierung als solche, sondern erst ihre enorme Reichweite und schrankenlose Wirktiefe, die einer Rede vom »Ende des Individuums« spezifischen Sinn gibt: »Heute dagegen gleichen sich zwar die Kulturen als ganze einander an, innerhalb von ihnen aber ist das Individuum in seiner Entfaltung weniger gebunden, nicht so sehr auf bestimmte Typen festgelegt.«395 Auch wegen solcher in Hinblick auf die Zukunft des Individuums zuversichtlicher Aussagen Landmanns wollen wir seine These vom »Ende des Individuums« mit einem Fragezeichen versehen. Dies aber nicht, um zu bestreiten, dass es Landmann mit ihr zutiefst ernst gewesen ist, sondern um ihr auch über das Dystopische hinaus bzw. diesem auch systematisch etwas abgewinnen zu können.

5.6 Ein »Ende des Individuums«? Zunächst ist festzuhalten, dass das Individuum sich von Beginn an, schon und vor allem in der Phase seiner Entdeckung und Erstarkung diverser Gegner ausgesetzt sieht, denen sich Landmann in seinem Buch Anklage gegen die Vernunft ausführlicher widmet.396 Dies sind Tradition und Gesellschaft ebenso wie die menschliche Vernunft, die zwar – als Kritik am Bestehenden mittels des eigenen Verstandes – einerseits zur Emanzipation des Einzelnen beiträgt, andererseits aber – als technologische Vervollkommnung einer durchrationalisierten Welt – genau diesen Einzelnen als Individuum überflüssig machen könnte.397 Landmanns Bedauern eines solchen Zustands ist wie auch seine zuweilen ungewohnte Polemik stets im Zusammenhang einer Vernunftkritik zu sehen, und diese wiederum als Ablehnung einer neomarxistischen Utopie der Gesellschaft, die – als hätte es Marx’ Pariser Manuskripte nie gegeben – dem Einzelnen nichts als Verdacht entgegenbringen zu können scheint: Landmann: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum, S. 552. Vgl. Landmann: AgV, S. 142–169. 397 Vgl. dazu Landmanns prägnanten Dialog von Mensch und Computer in: ebd., S. 50–53.

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5.6 Ein »Ende des Individuums«?

Der Aufbau einer persönlichen Sphäre, die Reflexion auf die eigene Existenz, religiöses und ästhetisches Erleben, historische Bildung, selbstgeformte Weltsichten und Wertungen, all dies, worin das Indivi­ duum sich selbst zum Ausdruck brachte, fand und weitete, wird nun diffamiert als »Flucht ins Private«.398

Dabei ist bezeichnend, wie Landmann noch in unmissverständlichs­ ten Gegenwartsdiagnosen gewisse Deutungsspielräume offen lässt, ja wie sich selbst noch im tiefsten Bedauern ein Funke Zukunftsaussicht entzünden lässt. Nehmen wir das Folgende: »Die drei Jahrtausende des Individuums sind um. Sie waren nur ein Präludium der Jahrhun­ derttausende des Nicht-mehr-Individuums (sinanthropus planatus). Wir sind die Letzten. Nicht nur der große Pan, auch der Einzelne ist tot.«399 Interessant ist hier zunächst die Verdichtung all der in anderen Zusammenhängen so fein unterschiedenen Formen von Individualismus zu einer, drei Jahrtausende währenden Geschichte des Individuums. Ihr folgt die wiederum verdichtete und äußerst vage Aussicht auf eine Epoche, die sich bisher nicht anders als in Negation zur bisherigen bestimmen lässt. Das Nicht-mehr-Indivi­ duum Landmanns scheint mir dabei gerade nicht der reine Abfall von allem Menschlichen zu sein, nicht einmal, wenn er sinngemäß vom post- oder transhumanen Menschen spricht.400 Nicht nur, dass er die Kulturgeschichte des Individuums in musikästhetischen Metaphern beschreibt, mehr noch beschreibt er dessen Großepoche als Prälu­ dium, als Vorspiel einer darauf folgenden Zeit, in der Menschen nicht etwa verstummen, sondern den Menschen schlicht anders kundtun. Solcherlei vager Ausblick steht nun gerade nicht im Widerspruch zu Landmanns Anthropologie als einer Philosophie des kreativen Individuums, sondern erfüllt vielmehr deren Grundprinzip, was auch deutlich wird, wenn er, in gewissem Kontrast zu der eben zitierten Stelle, Typen der Zivilisation – d.h. die Möglichkeit einer Pluralisie­ rung selbst dessen, was der Inbegriff des Unifizierten, Einheitlichen zu sein scheint – in Aussicht stellt: »Vielleicht wird, wenn die Mensch­ heit nicht zu früh in er einmal gefundenen Form erstarrt, die Verein­ heitlichung der Welt nur eine Übergangsphase sein, und in einer ferneren Zukunft wird eine Vielzahl gleichrangiger Zivilisationstypen nebeneinander bestehen.«401 398 399 400

Landmann: EdI, S. 120. Ebd., S. 126. Vgl. Landmann: AgV, S. 50.

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5. Individualität

Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung 5.7 Das Individuelle als Erkenntnisproblem Hier schließt sich die Frage an, was es bedeutet, nicht nur individuell zu sein oder sein zu wollen, sondern etwas als individuell zu erkennen bzw. zu betrachten. Wir sprachen bereits von der komplizierten Überwältigung der Erkennenden durch das Ungeteilt-Unteilbare, die seiner Erkenntnis, d.h. rationalen Erschließung, ein- oder vorgelagert sein dürfte. Es stellt sich überhaupt die Frage, ob sich Individuelles eigentlich erkennen bzw. wissen lässt, zeichnet sich doch Erkenntnis gerade dadurch aus, etwas als etwas zu erkennen, z.B. ein Singuläres als Fall eines Allgemeineren. Und dann ist weiter zu fragen, ob die Zuteilung des Einzelnen zu einem Anderen bereits eine Teilung des Einzelnen selbst oder deren Vorstufe ist. Anders gefragt: wie ist es möglich, dass ein Individuelles, angenommen, es gäbe ein solches, auch noch mehr und anderes sei als eben dieses Individuelle? Wie lässt es sich allgemeineren Zusammenhängen zuordnen, ohne es aufzuteilen und damit seiner Individualität zu berauben? Ja ist Individuelles überhaupt oder handelt es sich dabei eher um eine Erscheinungs- und Erlebnisweise eines Seienden, das selbst völlig jenseits einer Alternative von individuell und allgemein der Fall ist? Hier soll lediglich angedeutet werden, dass der Schichtgedanke, den Landmann von N. Hartmann übernimmt, als Möglichkeit fungieren kann, etwas individuell, d.h. ungeteilt-unteilbar, und doch zugleich teil-habend an unterschiedlichen, es zugleich übersteigenden und einschließenden Dimensionen sein zu lassen. In diesem Gedanken, diesem Zugleich berühren sich Landmanns These vom Menschen als maximal geprägtem, optimal freiem Wesen und N. Hartmanns ontologische[s] Grundgesetz des Weltzusammenhanges […]: 1) Die niederen Prinzipien sind die stärkeren, alles tragenden, sie können von der höheren Form nicht aufgehoben werden; und 2) Die höheren Prinzipien sind zwar die schwächeren, aber in ihrem Novum sind sie selbständig und haben oberhalb jener unbegrenzten Spielraum.402 Landmann: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum, S. 553. Nicolai Hartmann: Alte und neue Ontologie. In: Kleinere Schriften Bd. 3. Vom Neukantianismus zur Ontologie. Berlin: de Gruyter 1958, S. 336 [im Folgenden: Alte und neue Ontologie].

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Verschwiegene Eingänge: Individuelles Erleben als Refugium?

5.8 Hingabe und Einnahme Auch für das Problem, mittels teilender Geisttätigkeit ein UngeteiltUnteilbares erkennen zu wollen, ist so einiges gewonnen. Denn wie Hartmann auch ist es Landmann um die Überwindung einer dualisti­ schen Trennung von Geist und Leben zu tun. Es ist ja, wie wir bereits zeigten, gerade das Anliegen des Historismus und der Romantik, den historischen Sinn als Erkenntnisquelle geltend zu machen, d.h. jedwedes Leben bereits geistig und jedweden Geist noch lebendig sein zu lassen. Von hier aus kritisiert etwa Herder Kants rationalistische Vernunftauffassung, die den lebendig-konkreten Gegenstand unter ihren allgemeinen Begriffen vereinnahmt, anstatt sich seiner eigenen Kunde hinzugeben. Umgekehrt wird das berühmte Verdikt der Kri­ tikerinnen einer jeden Anthropologie, diese würde eine bestimmte Menschseinsweise zum Menschen an sich erklären, verständlich als berechtigte Skepsis gegenüber einer allzu naiven Hinwendung zu allem, was lebendig und farbenreich reizend ist. Man muss mindes­ tens entweder an Sinn und Recht des Seienden glauben oder skep­ tisch gegenüber einer erklärend-veräußerlichenden Vernunft sein, um einer Vereinnahmung durch den glitzernden Gegenstand den Vorzug zu geben vor einer Vereinnahmung des Gegenstands mittels entzaubernder Vernunft.

Verschwiegene Eingänge: Individuelles Erleben als Refugium? Wir gelangen damit direkt zu einem verschwiegenen Eingang wenig­ stens unserer eigenen Überlegungen, vielleicht aber auch der Philo­ sophie Landmanns. Denn was wir bei aller Beschäftigung mit dem Individuum und mit seiner Entstehung, Dynamik, Geschichte still­ schweigend übergangen haben, ist die Frage, was genau eigentlich individuell sei. Wir sahen zwar zu Beginn, dass Landmann sowohl von individuellen Kulturen als auch von der individuellen Person spricht, wissen deswegen aber noch nicht, was an einer Kultur oder Person seine Individualität ausmacht. Und jetzt sehen wir, dass für diese Frage die Kulturindividualität und die Individualität der Person bei Landmann in engste Nähe zueinander rücken. Wenn die Kultur nicht nur sekundärer Zusatz eines ihr vorbestehenden Kerns des Menschen ist, sondern als Eindruck bis in die tiefsten Tiefen seines

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5. Individualität

Erlebens und Empfindens hineinragt, gleichzeitig sich aber in der Kultur als dem Ausdruck menschlicher Schöpferkraft seine kreative Freiheit bekundet, so ist es – in zeitlicher Rede und also verzerrend gesprochen – jener Umschlag des Eindrucks in den Ausdruck, in dem Kultur und Person zusammenfallen. Von hier wird der ganze Sinn wie auch der ganze Unsinn deutlich, der darin liegt, im Erleben und Empfinden das letztverbliebene Refu­ gium menschlicher Individualität, also unberührbarer Einzigartigkeit zu sehen, zu wittern, zu erhoffen. Ein solches Refugium ist es trivialer­ weise auch für Landmann, insofern es Quelle von Ausdrücklichkeit, Voraussetzung des Sich-ausdrücken-Könnens und -Wollens bleibt, in dem sich dann rückwirkend auch das Erleben intensiviert, erhellt, differenziert. Jedoch ist auch das Empfinden des Einzelnen, wenn auch in einem nicht-deterministischen Sinne, kulturell inspirierte Quelle, deren ›egozentrischer‹ Schutz vor erstickender Umkultur allzu leicht in eine Ideologie reinen Ich-Erlebens umschlägt. Man könnte Landmanns These vom »Ende des Individuums« also sogar einen trotzig-ironischen Anstrich geben, denn: was soll die unifizierende technologische Vernunft einem Menschen anhaben können, ist sie doch noch als solche seiner Kreativität nachträglich? Kultur- und Vernunftkritik wird damit für Landmann ganz und gar nicht gegen­ standslos, aber die Frage nach der menschlichen Entfremdung erhält einen anderen Akzent. Da Landmann von der Tiefenwirkung des Kulturellen anthropo-logisch ausgeht und sie nicht wie die Kritische Theorie industriekapitalistisches Spätprodukt sein lässt, lautet die Frage nun: Ist es überhaupt möglich, dass der Mensch sich völlig von sich entfremdet bzw. was wäre der Sinn einer Rede von totaler menschlicher Selbstentfremdung? Noch einmal anders: was sagt es uns über den Menschen aus, dass er sich als entfremdet – wovon eigentlich? – erleben und empfinden kann? Diese Frage ist kulturkri­ tisch insofern sie das Wesen des Menschen als Fabel der Anthropo­ logie und ideologiekritisch insofern sie das autonome Individuum als »Urirrtum« der Philosophie403 zum Anlass anthropologischer Geschichtsschreibung nimmt.

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Landmann: PuA, S. 156.

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6. Vernunft

Verdichtete Ausgänge Das Problem der Individualität hängt eng mit dem der Vernunft zusammen. Dies nicht allein im Sinne ihrer kulturgeschichtlich auf­ zeigbaren spannungsreichen, zunächst bzw. eine Schicht tief koope­ rativen Verbindungen, ja Abhängigkeiten, sondern auch in anthro­ pologiekritischer Hinsicht. In jenem Sinne, in dem Landmanns Kulturanthropologie als Philosophie des Schöpferischen das Erbe von Kants Transzendentalphilosophie antritt und ebenso wie Kant vom Schöpferischen (nur eben nicht vom die Welt schöpferisch im Geist aufbauenden Vernunftwesen Mensch, sondern vom Kultur im weitesten Sinne schaffenden Lebewesen Mensch) ausgeht bzw. auf dieses hin zurückfragt, trifft Landmanns Kritik an jeglicher Ver­ nunftanthropologie auch seinen eigenen Ansatz. Im pluralistischen Aufbruch des Vernunftmonismus, im Ansatz einer Typologie der Vernunftkräfte, findet sich daher in einem das Bleiben bei der Vernunft und ihre kultur- und lebensphilosophische Vertiefung. Landmann denkt den menschlichen Geist grundsätzlich und konsequent vom Leben her; jedoch löst dieser sich insofern von seinem Ursprung, als er sich in seiner einen Richtung der Vernunft autonomisiert, spezialisiert und steigert, womit er vom vielseitigeren und farbenreicheren Leben vieles übergehen und unberücksichtigt lassen muss. Analog schüttelt die Vernunftanthropologin alles vom Menschen ab, was mit dessen Vernunft (vermeintlich) nichts zu tun hat oder ihr im Wege steht. In der Pluralisierung der Vernunft trifft Landmanns Apriori der Vielheitlichkeit und Reichhaltigkeit menschlicher Kräfte mit dem Eingeständnis zusammen, man begreife den Menschen auch unter allgemeinster, umfassendster Fokussierung seiner Schöpferkraft noch als Vernunftwesen soweit man ihn eben denkt, also mittels des menschlichen Geistes diesen menschlichen Geist (in seinen Lebensgründen wie auch seiner Eigenständigkeit) zu begreifen versucht. Als Versuch einer Metaphysik fokussierte sich Kants Kritik der reinen Vernunft auf die Bestimmung der Erkennt­

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6. Vernunft

nis- und Wissensgrenzen. Darüber hinaus werden in Landmanns Anthropologie die menschlichen Grenzen insgesamt thematisch und zum Ausgangspunkt genommen. Der Anspruch einer ganzheit­ lichen Deutung des menschlichen Lebewesens übersetzt sich in die Heterogenisierung des vermeintlich Homogenen. Von hier aus erhält auch die Rede vom »Ende des Individuums« einen kritischen Sinn: Es stellt sich die Frage, ob bei der Vielheitlich­ keit des menschlichen Wesens, das hier am Beispiel der Vernunft thematisch wird, von einem Individuum überhaupt gesprochen wer­ den kann oder ob der Mensch nicht vielmehr zerfallen müsste (so wie er bei Kant zerfällt). In diesem Sinne wäre das »Ende des Indi­ viduums«, zusammen gedacht mit der Pluralität der Vernunftkräfte im Menschen, ein Hinweis auf etwas, das »plurales Selbst« genannt werden könnte und das mir das Landmanns Kulturanthropologie zugrundeliegende ›Menschenbild‹ zu sein scheint.404 Dieses steht in Frage besonders in einer Kultur, die – wenn sie überhaupt Vernunft­ formen unterscheidet – der einen, das ist die verallgemeinernde, logisch-wissenschaftliche, den Vorzug gibt. Die von Landmann in Zweifel gezogene eine Vernunft bereits der Philosophie verengt sich dann zur wissenschaftlich-technologischen Rationalität. Sofern deren Geschäft das Teilen und Zerlegen ist, trägt sie Mitschuld an der Verdrängung des Unteilbaren und entfaltet die Sorge um dessen Bedeutungsverlust ihren Sinn als Wissenschafts- und Technikkritik. Indem aber sämtliche Vernunfttätigkeit, auch die in normativer Kritik stehende, auf das menschliche Leben selbst als einem unteilbaren Apriori zurückbezogen wird, offenbart sich das Leiden an der Kultur in einer seiner Dimensionen bzw. Schichten als mehr oder weniger bewusstes, mehr oder weniger eingestandenes »Leiden am Mensch­ sein«.405

404 405

Wir kommen darauf in Teil III der Arbeit noch ausführlicher zu sprechen. Vgl. Landmann: JM I, S. 210 u. FA, S. 183.

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6.1 Vernunft als Anthropinon

Anthropologische Architektonik 6.1 Vernunft als Anthropinon Vernunftanthropologie als Anthropodizee: Die – wie es dem ersten Blick erscheinen will – Unentschiedenheit und Inkonsequenz in Landmanns Anspruch, einerseits die nicht tief genug ansetzende Vernunftanthropologie zu überwinden, gleichzeitig an der Selbstbe­ stimmung und -erschaffung des Menschen und damit am Kerngehalt der Vernunftidee und ihres Stolzes festzuhalten, zeigt sich – einer zweiten Betrachtung – als durchaus origineller Versuch, den Men­ schen als Vernunftwesen vor allem Kreativwesen, aber ihn dabei auch als Kreativ- noch Vernunftwesen sein zu lassen. Nun aber fragen wir: Was stört Landmann an der Selbstkrönung des Menschen zum Vernunftwesen, das die Welt und sich selbst zu erkennen, zu durchschauen und nach seinen Vorstellungen einzurichten vermag und darin seinen ganzen Adel hat? In der Antwort auf diese Frage mischen sich philosophisch-anthropologische mit ethischen Überle­ gungen, die zwar keineswegs zu verwechseln, aber ebenso wenig scharf trennbar sind. Dies schon deswegen nicht, weil die Idee vom Menschen als ›animal rationale‹ anthropologiegeschichtlich unkünd­ bar mit einem positiven Werturteil akzentuiert, ja durchsetzt ist. Der Vernunftanthropologe stellt nicht allein fest, der Mensch sei vernünftig, sondern er entdeckt in dieser Vernünftigkeit das, was ihn vom Tier unterscheide und ihm überlegen sein, ja was ihn sogar am Göttlichen teilhaben lasse. Wo letzteres wegfällt (bzw. wie in Platons Ideenlehre säkularisiert auftritt), ist es das Individuum, das sich mittels Vernunft von den Bindungen der Tradition löst (um dann wiederum, neu entindividualisiert, in einen quasi-traditionalen Zusammenhang der vernunftbegabten Wesen einzutreten): »Der aus seiner Vernunft lebende Mensch ist erst der wahrhaft individuelle Mensch. Seiner Vernunft gehorchen heißt nur sich selbst gehorchen, heißt seine Direktiven nicht aus allgemeinen Überlieferungen und Regeln, sondern aus der eigenen Seele empfangen.«406 Anthropologie ist hier immer v.a. Anthropodizee, die dem Men­ schen als einem Vernunftwesen erlaubt, gut und gerne (Mensch) zu sein. Dass gerade die Erkenntnisfähigkeit des Menschen sich mit seinem Streben nach Eigensein und dem damit verbundenen 406

Landmann: PA, S. 87, Herv. F.S.

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6. Vernunft

Stolz derart amalgamieren konnte, dürfte bei aller Kontingenz bzw. geschichtlichen Bedingtheit einen seiner Gründe darin haben, dass die Sphäre des Geistigen, des Idealen, des Imaginären als solche sich besonders leicht als ein Hort menschlicher Freiheit (und wohl auch Verfügbarkeit) auszugeben vermag; bzw. umgekehrt gesagt: die Abhängigkeit des Denkens (ihre Kulturalität und in diesem Sinne Unfreiheit) scheint weniger direkt erkenn- und spürbar als die Abhän­ gigkeit des (natürlichen, physiologischen) Seins. Selbst für Kant, dem es ja gerade um die Grenzen der Erkenntnis zu tun ist, raubt dieses Unterfangen ihrer Würde nichts. Auch und gerade ihre Grenzen selbst mittels Vernunft auszumessen, erhöht bzw. vertieft ja gerade den Stolz eines Vernunftwesens. Die lebensphilosophische Wende zur Kulturanthropologie: Es ist kaum verwunderlich, dass ein wirklicher Bruch mit einem ihren Wert betreffend unkritischen Glauben an die Vernunft sich erst vergleichs­ weise spät durchsetzt: »Erst sehr spät lernt Erkenntnistheorie, unter dem Einfluß von Pragmatismus, Lebensphilosophie, Tierpsychologie, die Erkenntnis als ein Glied im größeren Gefüge einzuordnen und sie mit ihren vitalen Zwecken zusammenzuschauen.«407 In dieser all­ gemein geistesgeschichtlichen Linie einer Zerschlagung der alten Ver­ nunftanthropologie sieht Landmann, »trotz aller Opposition gegen das 19. Jahrhundert, auch noch unsere gegenwärtige Philosophie.«408 Wie keineswegs trivial, sondern folgenschwer seine kreativitätsphilo­ sophische Umkehrung ist, lässt sich an den folgenden Worten zeigen: »Die sinnlogische Reihenfolge ist vielmehr die: weil der Mensch das kreative, selbständig handelnde, kulturschaffende Wesen ist, deshalb bedarf er auch der stärkeren Erkenntniskraft.«409 Nicht nur tritt Vernunft hier in den Dienst kreativer Kulturschöpfung, sie wird mehr noch (darin) zu einem Vermögen, dessen der Mensch zuallererst einmal bedarf und dessen er sich dann, wo möglich, sekundär als seiner Kraft erfreuen und rühmen darf. Damit aber fällt die Kreativität nicht als solche auf die positive Seite, geht sie doch »der Erkenntnis nur dem Sinne nach als ihr »Wozu«, nicht zeitlich vorher. Beide sind

Landmann: FA, S. 16 f. Landmann: Schopenhauer heute. In: Arthur Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Hg. v. M. Landmann u. Elfriede Tielsch. Hamburg: Meiner 1957, S. XXVII [im Folgenden: Schopenhauer heute]. 409 Landmann: FA, S. 165. 407

408

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6.1 Vernunft als Anthropinon

in »lebendigem Zugleich« wechselseitig aufeinander hingeordnet.«410 Damit liegen sie, wenn man so will, jenseits von Gut und Böse – ja der Anspruch von Landmanns Fundamental-Anthropologie, sich mit der Bestimmung des Wesens Mensch auch eines Werturteils über den Menschen zu enthalten, bezieht von hier aus seinen Sinn. Nicht nur ist der Mensch unfähig, das Gute und das Böse zu erkennen, er hat auch als Seiendes, als lebendiges Kulturwesen stets Anteil an beidem und wohnt überdies in Sphären, in denen sie sich durchmischen, ja die ganz jenseits ihrer zu liegen scheinen. So sehr aber solche Enthalt­ samkeit der Anspruch einer formalen Anthropologie sein muss, so wenig vermag diese ihn in der Durchführung als Kulturanthropologie zu erfüllen. Sofern sie dies leugnet, fällt sie hinter sich zurück in wiederum einen Vernunftglauben, der zwar das Wesen des Menschen in dessen Geschichten erblickt, dabei aber leugnet, diese Geschichten ausdrücklich gern (oder ungern) zu lesen und insofern, in welcher Gefühlsnuance auch immer, betroffen zu sein. Grenzen als Gründe anderer Art: In unterschiedlicher Weise wird die Wertigkeit auch noch der im Anspruch von Wertneutralität auftre­ ten-müssenden Anthropologie bei Landmann deutlich. Sehr implizit zieht sich in der erkenntnistheoretischen auch die wertphilosophische Spur der ›philanthropischen‹ Vernunftgläubigkeit bis in (gar nicht so) formale Bestimmungen des Menschenwesens fort: Und zwar »ist die Vernunftanthropologie nie ganz aus dem Felde geschlagen worden. Wenn heute der Mensch als ›weltoffen‹ im Gegensatz zum umweltgebundenen Tier bestimmt wird, so lebt sie auch hier noch nach.«411 Je leichter man sich als Leser eines solches Satzes vom so harmlos anmutenden Wörtchen weltoffen zur Öffnung vieler Türen und dahinter sich aufspannender, in strahlendem Licht und in schönsten Farben erscheinender Räume hinreißen lässt – desto stärker fordert eine Philosophie des Schöpferischen auch und gerade als Kulturanthropologie, als Lehre der kulturellen, d.h. mittleren Reichweite des Menschen, ihr Recht. Das aber bedeutet eine weitere Umkehrung: nun wird die Vernunft selbst, die einstige Königin der Kritik, einer solchen unterzogen, und zwar nicht (allein) durch sich selbst, sondern über ihre Verortung in einem vor-, aber deswegen nicht streng anti- oder a-rationalen Kulturgrund.

410 411

Landmann: FA, S. 165. Landmann: PA, S. 91, Herv. F.S.

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6. Vernunft

Rationalität bringt einen Fortschritt; noch höherer Fortschritt ist die Romantik, die dann wieder die Grenzen erkennt, die der Rationalität entzogen sind. Gerade weil es rational nicht motiviert ist, scheint das Irrationale aus tieferen Schichten zu kommen oder kommt es auch wirklich aus tieferen Schichten. Das Absurde, das Paradoxe – Kierkegaard hat etwas davon gewußt – ist das Rettende, das unserer Leidenschaft Gemäße. Was die Vernunft verwirft, das hat religiös, hat seelisch den größten Ernst. Dem selbst nicht Rechtfertigbaren wohnt seinerseits eine rechtfertigende Kraft ein. Im Unverstandenen haust Dämonie.412

Hierbei ist interessant, dass der Vorzug des Irrationalen vor der Vernunft zu Teilen noch damit begründet wird, dass es dieser (d.h. aber auch immer: der Verfügbarkeit des Menschen über sich selbst) eine Grenze zieht, also etwas tut, das die Vernunft selbst für sich in Anspruch nimmt. Die Grenze, etwa in Gestalt des Nichtrechtfertigba­ ren, wird hier zum berauschenden Grund anderer Art umgedeutet. Überhaupt wird das Nichtwissen aus dem Zustand der Objektivität bzw. aus der Objektivität eines Zustands, den ein Vernunftwesen haben kann, gelöst und verstehbar als Erlebnis, in dem sich ein Lebe­ wesen, eben das Lebewesen Mensch, befinden kann. »Man könnte sich sogar fragen, ob nicht alles echte, wenn auch dann mehr nur noch rationale Erleben einer Grenze des Wissens lediglich Säkularisation und Abschwächung solchen ursprünglichen numinosen Nichtwissen­ serlebens sei.«413 Das ehemals der Vernunft zufließende positive Werturteil löst sich dabei nicht etwa auf, sondern fließt bis in die Tiefen des Lebens­ grundes ein; bzw. müsste man richtiger sagen: es steigt in dem ganzen Strom der lebensphilosophischen Menschenbetrachtung aus diesem mit auf und gibt sich immer wieder deutlich zu erkennen. »Vernunft macht alle Menschen gleich, nur das Irrationale rettet das Partikulare. Was die Prüfung des Verstandes nicht besteht, kann für die Seele die umso substantiellere Nahrung sein.«414 Als formale Kulturanthropologie des Kreativwesens Mensch steht Landmanns Ansatz inhaltlich auf Seiten der Vernunft, jedoch im Anspruch, deren überzogenes Werturteil abzulegen; als formale Kulturanthropologie des Lebewesens Mensch steht er inhaltlich auf Seiten der Kultur 412 413 414

Landmann: JM II, S. 203. Landmann: P, S. 22. Landmann: JM I, S. 237.

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6.2 Typologie der Vernunft

im Eingeständnis, als Kultur- auch Wertephilosophie und als solche schließlich selbst wertende Philosophie zu sein.

6.2 Typologie der Vernunft Die Spannung, in der eine jede lebensphilosophisch inspirierte Anthropologie steht, die nicht in blinden Irrationalismus abgleiten möchte, wird von Landmann in der Typologie verschiedener Ver­ nunftkräfte ansatzweise einer Lösung bzw. Bewältigung zugeführt. Werkgeschichtlich betrachtet lässt sich zwar der typologische Ansatz bei Landmann bereits sehr früh finden: bezüglich ethischer Fragen und als Typologie der Werte in den ethisch-phänomenologischen Texten, in Hinblick auf Kulturen, geistesgeschichtliche Epochen und Denkstile in den anthropologisch-geistesgeschichtlichen Schriften. Dezidiert auf Vernunft wendet Landmann seinen typologischen Ansatz dagegen erst in den 1970er Jahren an415, was auch damit zu tun haben dürfte, dass der neomarxistisch progressive Vernunft­ monismus bzw. -dualismus, gegen den Landmann hier anschreibt, in den Ereignissen um das Jahr 1968 eben auch und vor allem die Schat­ tenseiten jenes so gern bemühten Praktischwerdens von Philosophie gezeitigt hat. So bemerkenswert es auch ist, dass Landmann in dieser Situation überhaupt thematisch bei der Vernunft bleibt, so wenig verwundert es doch, dass seine Ansätze einer Typologie derselben leider unter dem Schwergewicht seiner Kritik – von der aus bzw. als deren Erscheinungsweise er dann zur Diagnose eines »Endes des Individuums« kommt – fast zu ersticken drohen. Und doch: zeigt sich nicht gerade die Schärfe der Krise von Vernunft bzw. die Tiefe ihrer Wurzeln im geschichtlichen Leben, wenn selbst ihre Kritiker in ihrer Kritik weit mehr aus den geistesgeschichtlichen Umständen heraus schreiben denn architektonisch eine vernünftige Welt erträumen? Viele Kräfte einer Vernunft: In direktem Gegensatz zu der Vorstel­ lung, Vernunft sei »etwas Einheitliches, was von einer einzigen Strö­ mung gepachtet werden kann«, spricht Landmann von einer »Plura­ 415 Unter der Problemstellung des Verhältnisses von Rationalismus und Irrationa­ lismus steht bereits Landmanns Habilitationsschrift (die 1949 erschienene Problema­ tik), worauf Landmann auch selbst hinweist (vgl. Materialien zur Selbstdarstellung, S. 269).

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6. Vernunft

lität von facultates der Vernunft«.416 Damit verfolgt er nicht zuletzt auch das Anliegen, einer allzu grobkörnigen Zuordnung bestimmter menschlicher Fähigkeiten bzw. Typen zu bestimmten Epochen der Geistesgeschichte Einhalt zu gebieten. »Sobald man erkennt, daß es eine Pluralität von facultates der Vernunft gibt, zeigt sich, daß der Kampf gegen die Aufklärung in Wahrheit im Namen einer ande­ ren Vernunft geführt wurde, daß er – auch – ein Kampf innerhalb des Vernunftlagers selbst war.«417 Landmann argumentiert dezidiert nicht dualistisch für ein isoliert Irrationales, sondern pluralistisch dafür, Teile der Vernunft zu unterscheiden und »als Funktionen eines ineinandergreifenden Gefüges«, d.h. »die scheinbaren Irrationes als Glieder der ›einen und ganzen Vernunft‹»418 aufzufassen. Und nun findet er bezeichnenderweise eine Metapher, die in einem den psycho­ logischen Grund für jedweden falschen Vernunftmonismus und eine Verbildlichung seiner pluralistischen Auffassung enthält. Wie mit der Hand, so steht es mit der Vernunft. Der Irrtum der Philosophen und ihr schweres Sich-Verständigen ist, daß sie von der Vernunft sprechen statt von vornherein von ihren Formen und Funktionen. Die Funktionen sind sich so heterogen, als wären sie in verschiedenen Retorten hergestellt. Wir bemerken das im allgemeinen nicht, weil ihre Kollusion so vollkommen ist.419

Landmann: Teuer bezahlte Vernunft, S. 105. Landmann: AgV, S. 70. 418 Landmann: EV, S. 24. 419 Ebd. Vgl. zu dem ebenso anspruchsvollen wie paradox anmutenden Vorhaben einer Pluralisierung der Vernunft bei Landmann Ernst Wolfgang Orth, der unter der Überschrift »Zur Kritik der beleidigten Vernunft« auf Landmann Bezug nimmt und dabei auch die Pluralität der Kritiken der Vernunft als Indiz für die ›immanente‹ Viel­ heit ihrer Kräfte herausstellt: »Man mag das alles unter dem Sammeltitel ›Schwierig­ keiten mit der Vernunft‹ zusammenfassen. Michael Landmann ist mit seinen Büchern ›Entfremdende Vernunft‹ (1975) und ›Anklage gegen die Vernunft‹ (1976) auf diese Schwierigkeiten eingegangen und hat noch einmal vorsichtig zu einer vernünftigen Ordnung gerufen, die er offensichtlich in der Bestimmung des Menschen selbst begründet sieht. Dabei sind die Schwierigkeiten durchaus doppeldeutig: Einerseits zeigt die Pluralität der Vernunftkritiken den Reichtum ihrer Funktionen: die Vernunft ist logisch und praktisch, hermeneutisch und politisch, ästhetisch und pädagogisch. Andererseits bekundet sich in dieser Vielfalt von Vernunftfunktionen die Unmöglich­ keit, eine stimmige Einheit zu finden. Statt dessen werden Widersprüche in der Ver­ nunft selbst schmerzlich spürbar und eine Art Unverfügbarkeit dessen, was wir ›ver­ nünftig‹ nennen, führt zu Enttäuschung, Verzweiflung und Trotz – oder auch zur Bescheidenheit.« (Orth: Was ist und was heißt »Kultur«? Dimensionen der Kultur und 416

417

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6.2 Typologie der Vernunft

Gerade das an der Vernunft Bewunderte – ihre Kreativität, ihre Genialität und das heißt: ihre Irrationalität – setzt ihrem adäquaten Erkanntwerden eine Grenze, macht es unwahrscheinlich. Landmanns Genialität wiederum besteht darin, das beargwöhnte Irrationale (chaotisch Wuchernde) als ein Plurales zu verstehen. Als solches ist es, wenn schon nicht rein rationell geordnet, so doch wenigstens nicht völlig struktur- und gesetzlos wachsend und gewachsen. Pluralität ist jene Idee, in der für Landmann der Rationalismus der Vernunftund der Irrationalismus der Lebensphilosophie in ihr so reiz- wie anspruchsvolles Gespräch kommen. Das erscheint zunächst befremdlich, weil wir gewohnt sind, dem vielheitlich Wachsenden die eine Ratio gegenüberzustellen, die in allen Menschen die gleiche ist und deren Ergebnissen sie sich nicht entziehen können. Aber sie könnte in sich Raum bieten für eine Variationsbreite von rationes, das Ultimum für Ultima.420

Wahrheit und Wahrhaftigkeit: Ebenso wie gegen eine Reduktion der Vernunft auf eine ihrer Kräfte grenzt sich Landmann mit seinem pluralistischen Ansatz gegen allzu strikte Vernunftkritiker ab, wenn­ gleich er dennoch ihre philosophischen Verdienste würdigt. Diese bestehen v.a. darin, aufzuzeigen, inwiefern sowohl nichtrationale Kräfte eine Form von Erkenntnis mit sich führen können als auch die scheinbar rein objektive Erkenntnis der Welt ihr (tiefstes) Fundament in einem lebendigen Subjekt hat.421 In seinem Text Kierkegaard – der Entdecker der innerlichen Wahrheit würdigt Landmann nicht nur Kierkegaards Herausstellung der subjektiven Wahrheitsmomente gegenüber einem allzu strengen Vernunftobjektivismus, sondern zeigt sogleich auch deren philosophiegeschichtliches Motiv: »Die Unbedingtheit auf der subjektiven Seite wird nur deshalb so sehr

Medialität der menschlichen Orientierung. Würzburg: K & N 2000 [im Folgenden: Was ist und was heißt »Kultur«?, S. 121). 420 Landmann: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum, S. 553. Eine bedenkens­ werte Kritik von Landmanns Vorhaben einer Vernunfttypologie finden wir bei Günter Maschke, dem zufolge ihre harmonisieren-wollende Breite und Unschärfe eine gewisse Beliebigkeit mit sich führt: »da ist keine Ausprägung des menschlichen Ver­ haltens, der Landmann nicht ihr Recht zubilligt. Da alle diese Ausprägungen Funk­ tionen des Lebens sind, sind sie nicht per se unvernünftig. Zum Schluß wird bei Land­ mann alles zur »Vernunft«, nur die Maßlosigkeit nicht« (Ein Flaneur im Irrgarten der Vernunft, S. L9). 421 Vgl. Landmann: EuM, S. 63.

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6. Vernunft

betont, weil man die Unbedingtheit der Gehalte verloren hat.«422 Nicht v.a. gegen die Inhalte des Wissens der Vernunft selbst, sondern gegen seine Gleichgültigkeit gegenüber dem erlebenden Subjekt rebellieren Kierkegaard und die spätere Existenzphilosophie: »was offenkundig und beweisbar ist, das schließt die innere Beteiligung in gewisser Weise geradezu aus, es bedarf ihrer zumindest in weit geringerem Maße als das Irrationale.«423 Darin verrät sich das mehr psychologische als philosophische Motiv, das sich dann fast notwen­ dig in einen strengen Irrationalismus des existierenden Menschen übersetzt: »Wie die klassischen Philosophen sich nach Kierkegaard immer nur an die eine Hälfte der Wahrheit halten, so die Existentia­ listen an die andere.«424 Nun teilt Landmann zwar deren Opposition gegen die Herrschaft der Vernunft »über nichtrationale Kräfte innerhalb des Bewußtseins resp., bei spezifischer enger Fassung des Vernunftbegriffs, über die­ sem widerstreitende rationale Konkurrenten«.425 Jedoch betont er zweierlei: Erstens war es nicht allein und erst der Anspruch des existierenden Subjekts, sondern die Konsequenz der Vernunft selbst, die kulturhistorisch betrachtet den existierenden Menschen erst aus sich hervorgehen ließ und die schmerzhafte Einsicht brachte, »daß das Universum in sich indeterminiert, doppelbödig-multivalent und eben damit nicht ›vernunftgemäß‹ ist. Auf nichtrationale Weise erfassen wir mehr Wirklichkeit als auf rationale Weise.«426 Zweitens ist, so subjektiv bedingt sie auch sei, eine »Sachwahrheit nicht, wie versucht worden ist, durch subjektive Wahrhaftigkeit [zu] ersetzen«.427 Wo Kierkegaard im Rausch seiner Revolte »überhaupt keine Beziehung zur rein geschichtlichen, bildschauenden Rückversenkung hat«428, Landmann: Kierkegaard, S. 1777. Ebd., S. 1178. Wir sprachen bereits davon, dass ab einem bestimmten Punkt der kultur- und geistesgeschichtlichen Dynamik der Einzelne gerade für die Vernunft, die ihn auf den Plan rief, überflüssig wird. 424 Ebd., S. 1777. 425 Landmann: EV, S. 140. »Dreierlei ist es, was durch die siegreich sich entfaltende Ratio unterdrückt oder zerstört wird: 1. die nichtrationalen Vermögen unserer eigenen Seele; 2. die vorrationale Auffassung der Dinge; 3. die aus solcher Auffassung ent­ springenden kulturellen Schöpfungen« (Landmann: DaD, S. 190). 426 Landmann: EV, S. 16. 427 Landmann: Otto Friedrich Bollnow. Maß und Vermessenheit des Menschen [Rezension]. In: Universitas, 17. Jg. Heft 10 (1962), S. 1129 f. [im Folgenden: Bollnow Rezension]. 428 Landmann: Kierkegaard, S. 1174. 422

423

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6.3 Wissenschaft als ›Lebenswelt‹ der Vernunft?

findet Landmann gerade in ihr den Schlüssel zum Menschen als einem vernünftigen Lebewesen.

6.3 Wissenschaft als ›Lebenswelt‹ der Vernunft? Skeptisch engagiert für die Wissenschaft: Bisher haben wir aus schlicht pragmatischen Gründen von der Vernunft im anthropo-logischen Sinne als einer menschlichen Kraft gesprochen und wollen sie nun, mehr vertiefend denn ergänzend, als Kulturfaktor in Betracht neh­ men. Bereits ihre ›Entdeckung‹ vollzieht sich in der Kultursphäre der ›Wissenschaft‹; es ist, etwa bei Platon, die wissenschaftliche Erkennt­ nis Privileg und Adel des Menschen. Zwar unterscheidet er doxa und episteme, jedoch dezidiert hierarchisierend zugunsten der letzteren und keinesfalls typologisch-pluralistisch. Man muss nun nicht dem berühmten Worte Albert North Whiteheads, dass alle Philosophie nur Fußnote zu Platon sei429, Glauben schenken, um doch deutlich zu sehen, dass sich der Anspruch der Wissenschaft, Sphäre wenn schon nicht der ganzen Wahrheit, so doch eines herausgehobenen und höherstehenden Wissens zu sein, bis in die Gegenwart gehalten und verstärkt hat. Gerade indem sie sich tendenziell von fixen Wis­ sensinhalten löste und ihr Selbstbewusstsein aus der Entwicklung sich stetig verbessernder Methoden der Erkenntnis- resp. Wissensgene­ rierung schöpft, erhält sie zunehmend Einzug in Lebensbereiche, die ihr unter den geschichtlichen Voraussetzungen eines geschlossenen wissenschaftlichen Weltbildes eher versperrt waren. »In unserem Zeitalter schiebt sich generell Wissenschaft noch weiter vor. Bereiche, die bisher der Tradition überantwortet waren, verwissenschaftlichen sich. Es ist nichts als das zu Erwartende, daß diese Tendenz auch vor der Politik nicht halt macht.«430 429 »Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Euro­ pas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht. Damit meine ich nicht das systematische Denkschema, das seine Schüler in fragwürdiger Weise aus seinen Schriften destilliert haben. Vielmehr spiele ich auf den Reichtum an allgemei­ nen Ideen an, die sich überall in diesen Schriften finden« (Whitehead, A. N.: Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie. Übers. u. mit einem Nachwort vers. v. H. G. Holl. Frankfurt/M. 1987, S. 91 f.). 430 Landmann: AgV, S. 93. Für die Pädagogik lässt sich M. Winkler zufolge neben anderen ›Vereinnahmungen‹ auch eine szientifische diagnostizieren. Auch für sie »schlägt wohl die ›Stunde der Wahrheit‹ (Weingart 2001), in der die alten Unter­

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6. Vernunft

Dies zu sehen, ist unerlässlich, um Landmanns Vernunftkritik adäquat verorten, d.h. als Kulturkritik in den Blick bekommen zu können. Diese richtet sich auf den integrierenden Effekt einer Ver­ nunft, die nicht mehr mittels der Desintegration unterschiedener Kultursphären für das Individuum neue Räume und Weisen seiner kreativen Selbstentfaltung eröffnet, sondern im Gegenteil durch deren Vereinnahmung unter ihrem Diktum das Selbstsein der Indivi­ duen beschneidet bzw. sich unterwirft. Insofern tritt in der Moderne, ob proklamierend oder subtil, »die Wissenschaft mit dem Ehrgeiz auf, die Wahrheit schlechthin zu sein. Der gewachsenen Perspektive des Lebens substituiert sie sich. Zumal wir Spätlinge stehen immer in der Gefahr, alles nur noch durch die wissenschaftliche Brille zu sehen.«431 Es ist nicht Wissenschaft als solche, sondern genau diese Gefahr, d.h. die Expansion und Wirktiefe wissenschaftlichen Weltund Selbstbegreifens, gegen die sich Landmanns Skepsis richtet. Dieser »fertigen Wissenschaft« sind anders als einer »werdenden Wissenschaft« Phantasie, Hypothesen und Probleme ebenso fremd432 wie höhere Zwecke und Ideale, in deren Dienst sie stünde. »Was sie ihrem Adepten zu bieten hat, ist Spezialarbeit, von der er niemals weiss, ob und welchen Nutzen sie über sich selbst hinaus noch hat. Welches aber ist dann noch die Leistung der Wissenschaft für die Menschheit?«433 Mit dieser letzten Frage ist Landmann skeptisch engagiert für eine zwar autonome, aber nicht übergreifende Wissen­ schaft. Michael Landmann glaubt an »Eigenrecht und Eigenlogik« der Wis­ senschaft […]. Wie Georges Forderung eines übergeordneten schöpfe­ rischen Gestaltens lehnt er auch Breysigs schöpferische Wissenschaft ab und damit kehrt der Positivismus des 19. Jahrhunderts zurück: nicht im Sinne der exakt-mechanistischen Naturwissenschaft aber einer positivistisch-objektiven Geisteswissenschaft – doch wohl zu

scheidungen nicht mehr gelten, wissenschaftlich generiertes Expertenwissen, mediale Konstruktionen, politische Instrumentalisierungen und eine irritierte Öffentlichkeit eine neuartige Mischung eingehen.« (Winkler: Kritik der Pädagogik. Der Sinn der Erziehung. Stuttgart: Kohlhammer 2006 [im Folgenden: Kritik der Pädagogik], S. 28). 431 Landmann: Phänomenologie, Kierkegaard, Marxismus, S. 464. 432 Vgl. Landmann: P, S. 291. 433 Landmann: Um die Wissenschaft. In: Sonderdruck aus Castrum Peregrini. Amsterdam: Castrum Peregrini Presse 1960, S. 82 f. [im Folgenden: Um die Wissen­ schaft].

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6.3 Wissenschaft als ›Lebenswelt‹ der Vernunft?

optimistisch, da er an unbedingte Forderungen beider Richtungen nicht mehr glaubt.434

Werkgeschichtlich lässt sich bei Landmann von einer dreistufigen Dramaturgie seiner Wissenschaftskritik sprechen. Wenn er früh, die Phänomenologie betreffend, vom »eindringende[n] Erklären« der Wissenschaft als einem dem naiven gegenüber »unendlich inhalts­ reicher[en]«435 Schauen spricht, so betont er später in Hinblick auf die Methodologie der Geisteswissenschaft die Bedeutung »ursprüng­ liche[r] und noch nicht wissenschaftlich verengte[r] menschliche[r] Erkenntniskategorien«, die ihr »von der objektiven Seite her: von der Philosophie ihres Gegenstandsfeldes, der Kulturphilosophie«436 her zuströmen. Schließlich formuliert Landmann eine Kritik, die an Jürgen Habermas‘ These von der »Kolonialisierung der Lebenswelt« erinnert. »Objektivierende Erkenntnis, in unserer Zeit unter der Führung nicht mehr der Naturwissenschaft sondern der Soziologie, verfeinert ihre Methoden immer mehr. Zuletzt droht sie doch, auch noch das Subjekt in seiner Subjekthaftigkeit einzuholen.«437 Dies ist auch insofern bezeichnend, als Landmann von hier ausgehend u.a. gerade gegen Habermas und seinen »Diskurs als Alibi der Gangs­ ter«438 polemisiert. Argumentation und Diskurs: Die Geister scheiden sich an der Frage, inwiefern das argumentativ-kommunikative Spiel der Rede und Widerrede im Diskurs eine geeignete oder auch nur hinreichende Grundlage für ein rationales (oder gar moralisches) Einsehen und Handeln liefern kann. Landmann kritisiert hier bereits den Haber­ mas’schen Begriff eines ›kommunikativen Handelns‹; dies sei »eine schlechte Redeweise. Denn entweder wir kommunizieren, oder wir handeln, dagegen tun wir nicht beides zugleich.«439 Im rationalen Diskurs als dem Raum bzw. Medium argumentativer Kommunikation werde versucht, etwas dem Vokabular und Gestus der Vernunft zuzuführen, das »sich bis zu dem von ihm angestrebten Grade seiner 434 Hildebrandt: Kurt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis. Bonn: Bou­ vier 1965, S. 329. 435 Landmann: EuE, S. 68. 436 Landmann: MSGK, S. 233. 437 Landmann: AgV, S. 160. 438 Ebd., S. 80. 439 Ebd., S. 81. Darüber hinaus macht Landmann auf die Grenzen der geistigen Durchdringung der Gründe des eigenen Handelns sich selbst und die ihrer Verbali­ sierbarkeit anderen gegenüber aufmerksam (vgl. EV, S. 162).

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6. Vernunft

Natur nach nicht rationalisieren läßt.«440 Nun wäre Landmanns Bedenken gegenüber dem Diskurs sicher harmloser ausgefallen, hätte er nicht den unstillbaren Verdacht gehegt, dass es sich bei diesem nicht nur »objektiv [um] eine Fiktion«, sondern überdies um eine Verschleierungsstrategie tiefer liegender Motive und damit um ein Setting unaufrichtiger Harmonisierung handle. Während wir uns in Wirklichkeit als unterschiedlich Interessierte und als Wertende gegenüberstehen, tun wir so, als seien wir gemeinsam Mitglieder eines wahrheitsuchenden Teams. Wir vertuschen, so wie früher oft sexuelle, ökonomische oder machtbezügliche Interessen ver­ tuscht wurden, unseren tieferen vitalen Grund, unser echteres Sein.441

Irrationale, wenigstens aber nicht bis zum Kern rationalisierbare Gründe sind hier bereits auf eine Weise im Diskurswasser guter Gründe verdünnt, die – insofern fataler als jede dualistische Ver­ nunftanthropologie – eine jede ›vom Leben her‹ engagierte Kritik verunmöglicht bzw. als reinen Irrationalismus erscheinen lassen, ja womöglich bekämpfen würde. Man muss Landmanns dystopische Auslassungen über die Despotie einer diskursiven Vernunft gar nicht teilen, um doch deren eigentlich brenzligen Unterschied gegenüber einer Despotie etwa politischer Interessen zu sehen: »denn diese kann durch die Vernunft noch gebrochen werden, unsere dagegen nicht, weil sie sich in der Einbildung befindet, sie sei schon vernünftig.«442 Fruchtbarer als Landmanns aus dem Zeitgeist der 1960er und 70er Jahre atmende politische Sorge443 scheint mir sein kulturund geschichtsphilosophischer Einwand zu sein: Ohne die unverzicht­ bare Funktion der Vernunft, identifikatorisch-progressives Idealbild der Menschen zu sein, zu leugnen, betont er ihre Abhängigkeit resp. Getragenheit von Vergangenheiten und Interessen, für die sie in dem Maße blind wird, in dem sie beansprucht, die eine und ganze und ganz gute Vernunft zu sein.444 Diese der Vernunft bzw. Erkenntnis als solcher inhärierende Tendenz lässt sich ebenso geistesgeschichtlich zurückverfolgen wie sie sich in der Gegenwart gefährlich zuspitzt: »In der Hochscholastik stellt sich ein historisch komplex gewachsenes und irrationales religiöses Dogma als Philosophie vor. Wer heute 440 441 442 443 444

Landmann: AgV, S. 95, Herv. F.S. Ebd. Ebd., S. 99. Vgl. ebd., S. 97. Vgl. ebd.

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6.3 Wissenschaft als ›Lebenswelt‹ der Vernunft?

an einer vom Neomarxismus eroberten Universität lebt, kennt das Phänomen von der makabersten Seite.«445 Wider die Vorstellung einer diskursiv erreichbaren praktischen Vernunft macht Landmann den Geschenkcharakter der Erkenntnis als solcher, die »Nachträg­ lichkeit der besseren Erkenntnis« und nicht zuletzt die Eigenquali­ tät der »immer reicher[en] und überraschend[eren] Wirklichkeit« selbst geltend.446 Darin erklingt kein Loblied auf einen irrationa­ listischen Dezisionismus oder dergleichen Ähnliches: Landmanns Skepsis gegenüber dem programmatischen Anspruch einer sich darin selbst missverstehenden Vernunft steht in der Einsicht in eine stets aus vielerlei Quellen zusammenströmende und insofern als solche prekäre »Geschichtsmächtigkeit des Menschen […], die nicht immer von der humanen Vernunft des »Diskurses« dirigiert sein wird.«447 Vernunft und Fortschritt: In diesem Lichte (und in Opposition sowohl zu einem neomarxistisch inspirierten Vernunftoptimismus bei Habermas als auch zu einem Kulturpessimismus der älteren Kri­ tischen Theorie) ist Landmanns Fortschrittskritik zu sehen. Unmiss­ verständlich und verdichtet schreibt er: »Die Deutung des Erkennens als eines Stiftens gliedert sich ebenso wie die Methodologie des wissenschaftlichen Fortschritts der Lehre vom Schöpferischen ein.«448 Nun zeigt sich ein spezifischer Sinn des Schöpferischen als einem Individuellen, einem Pluralen. Wo Vernunft als moralisches Gütekri­ terium des Menschen naiv an einen Fortschritt des Guten glauben lässt und alles von ihm Abweichende, ihm Vorgängige als Vorstufe des Menschen verdammt, öffnet Landmanns Verankerung der Vernunft in der menschlichen Kreativität den Blick für die – vermeintlich – triviale Anschauung, dass mit der einen Wirklichkeit unzählige andere Wirklichkeiten (zeitlich wie simultan) verunmöglicht sind.

Landmann: AgV, S. 96. Vgl. ebd., S. 100 u. 106. Eine ähnliche Überlegung finden wir bei Jürgen Oelkers, wenn er schreibt: »›Kritik‹ ist eine Bewegung der Reflexion und des Diskurses, ›Praxis‹ dagegen konstituiert sich aus Entscheidungen und deren Folgen. Zwischen Kritik und Praxis gibt es keinen kausalen, also starren, sondern nur einen lockeren Zusammen­ hang. Aus Kritik erwächst keine folgerichtige Praxis, die genau und nur das täte, was die Kritik als sinnvoll erachtet.« (Oelkers: Das Ender der sozialistischen Erziehung? Bemerkungen zum Verhältnis von Utopie und Wirklichkeit in der Pädagogik. In: Zeit­ schrift für Pädagogik, Nr. 3 (1991), S. 439 [im Folgenden: Das Ende der sozialistischen Erziehung?]). 447 Landmann: FA, S. 301. 448 Landmann: UuS, S. 9. 445

446

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6. Vernunft

Dafür muss eine Pluralität der Wirklichkeiten und Wirklichkeitsbe­ züge vorausgesetzt werden – und das ist alles andere als trivial. Allein es ist ein Gesetz allen Fortschritts, daß er zwar auf der einen Seite ein Besseres bringt, daß er jedoch zugleich eben dadurch Qualitäten überspringt resp. zerstört, für die er selbst keinen Ersatz bietet. Das Frühere und das Spätere liegen nicht wie auf einer Skala übereinander, so daß das Spätere mehr und höher ist als das Frühere; sie greifen in verschiedene Dimensionen, an denen das gemeinsame Maß nur ein Teilglied bildet.449

Nun hieße aber, dies relativistisch zu lesen, selbst einem Formalismus zu verfallen, der dem eines Vernunftglaubens verdächtig nah käme. Auch eine dezidierte Fortschrittsgegnerschaft ließe sich dem moder­ nen Menschen nur um den hohen Preis seiner historisch-kulturellen Selbstkenntnis entlocken: Zumal historisch aber läßt sich das Auszeichnende des Geistes der Neuzeit überhaupt nicht verstehen ohne die für sie zentrale Fort­ schrittsthematik. Recht und Grenzen des Fortschrittsgedankens, die spezifisch abendländische Größe und freilich auch Tragik, die sich in ihm kristallisiert, liegen uns heute offener zutage.450

Es kommt nun alles darauf an, wie (als was, in welchem Sinne) die Grenzen des Fortschritts und seiner Idee gedeutet werden. Und hier wird es interessant: wird der durch technologische Vernunft sich selbst entfremdete Mensch in der Kritischen Theorie eschatologisch einer emanzipatorischen Vernunft zugeführt, so treten bei Landmann Mensch und Vernunft wieder kritisch auseinander: Wir ziehen Bilanz und fragen: wohin hat die Vernunft uns geführt? Mußte für ihre immanente Vervollkommnung als Vernunft vielleicht der Mensch, der aus ihr lebt, an dem sie aber nur eine Teilkraft ist, andere Kräfte opfern? Vor dem höchsten Gerichtshof erscheinen Vernunft und Mensch als zwei gegnerische Parteien.451

Für Landmann, der sich hier einmal mehr als konsequenter Kulturan­ thropologe erweist, ist die »Dialektik der Aufklärung« nicht etwa eine Pathologie des Industriekapitalismus, sondern Aufweis des mensch­ lichen A-humanen und Inhumanen, das sich mitten im Humanum 449 450 451

Landmann: Phänomenologie, Kierkegaard, Marxismus, S. 466. Landmann: EuE, S. 154. Landmann: AgV, S. 38 f., Herv. F.S.

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6.3 Wissenschaft als ›Lebenswelt‹ der Vernunft?

entfaltet. »Wir haben also durch den Fortschritt der Wissenschaft zwar Wahrheit gewonnen, aber ›die Wahrheit ist der Tod‹: wir sind in unserm Menschsein unendlich geschwächt und beeinträchtigt wor­ den.«452 Als verdrängte Angst vor der eigenen Konsequenz lauert diese nüchterne Einsicht auch und gerade im Sekurismus jener ›letzt­ verbliebenen‹ Vernunftspielart der Methode: »Um sicher zu gehen, beschränkt sie sich auf das eng Verifizierbare, wagt keine Deutungen und Würfe mehr. Die formal höhere Vernunft ist inhaltlich in der schwächeren Position.«453 Es ist von hier aus nicht verwunderlich, dass in Kompensa­ tion dieser Entwicklung und gleichsam als Nährstoff für die nicht methodisch ansprechbaren Bedürfnisse und Kräfte im Menschen gerade im wissenschaftlichen Zeitalter »Weltanschauung und Utopie wuchern«.454 Von einer »Orgie dogmatischer Reideologisierung« ist bei Landmann ebenso die Rede wie von einer »gespenstischen Auf­ erstehung der Parawissenschaft«.455 Beides ist aufschlussreich und erhellt den Sinn einer Vernunfttypologie wie einer Kulturanthropolo­ gie überhaupt. Das Fortschreiten der Wissenschaften ist nicht etwa selbst ein Rückschritt im moralischen Sinne, sondern seine Errungen­ schaften bedeuten für den Menschen, der eben mehr und anderes ist als nur Vernunftwesen, zugleich Rückschritte in archaische Muster, die umso entschiedener gegangen werden, je deutlicher sie sich gegen den Allmachtsanspruch einer zur formalen Methode verdünnten Vernunft zu behaupten haben: »Das Vakuum, das der Relativismus der Vernunft zurückläßt, wird gefüllt durch eine sekundäre Barbarei. Der Dezisionismus, der eine neue Eindeutigkeit gewaltsam-autoritär erzwingen will, ist der Preis für die geschichtliche Sehweise.«456 Wenn aber der Historismus als solcher jenen fatalen Relativismus auf den Plan ruft, so bleibt dem Menschen nichts als jener feine Unterschied zwischen Relativismus und Pluralismus, auf den wir noch ausführlich zu sprechen kommen. Dass Landmann die Vernunft nicht aufgibt, sondern auffächert, lässt ihn mehr Pluralist als Relativist sein.457 Der Landmann: PuA, S. 121 f. Landmann: EV, S. 121. 454 Ebd. 455 Ebd. Die derzeitige Popularität von Weltverschwörungstheorien und -theoremen ist eines der prägnantesten Beispiele für die Aktualität von Landmanns kultur- und vernunftkritischen Diagnosen. 456 Ebd., S. 122. 457 Vgl. Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 11. 452

453

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6. Vernunft

Pluralist aber glaubt an den Fortschritt, gerade weil er nicht weiß, ob es ihn gibt. Im Menschen selbst noch Inhumanes als Ausweis seiner selbst nüchtern gelten zu lassen, um so überhaupt erst die vertieft kritische Frage nach ihm stellen zu können, zeugt von einer eigenartig ›unerschrockenen‹ Weise ›skeptischer Philanthropie‹, die nicht zuletzt auch pädagogisch bedeutsam ist: Da man im Menschen vor allem ein Vernunftwesen sah, glaubte man ihn durch Erziehung seiner Vernunft überhaupt zu erziehen. Eben dies aber könnte ein Vorurteil sein, und auch daß die Erziehung ihren Weg durch die Humaniora zu nehmen habe, erschiene dann von hier aus wohl als ein Fortschritt innerhalb des Vorurteils, nicht aber als seine Überwindung.458

Historisch-kritische Rückbindung Wie aber ist eine solche Situation, in der die dem Menschen eigenste und beste Kraft der Vernunft, aus sich selbst und ihrem eigenen Stre­ ben nach Allgemeinheit, nach Immer-und-überall-gültigkeit heraus alle Bereiche des kulturellen und seelischen Lebens ihrem Prinzip unterwirft und so im Gegenzug ähnlich extreme Irrationalismen provoziert, so dass der Mensch zwischen tiefstem Dunkel und grells­ tem Licht überspannt scheint – wie ist eine derart aussichtslos erscheinende Lage zu bewältigen? Und wie zumal, wenn gerade die historische Sehweise der Neuzeit, die den Menschen in seiner Abhän­ gigkeit und Kreativität entdeckte und proklamierte, jene Krise des Relativismus entscheidend mitbewirkt hat?459 Es bleibt hier paradox: noch Inhalt und Kraft zur Überwindung der Krise schöpft der moderne Mensch aus den Bedingungen ihrer Entstehung.

6.4 Kulturgeschichte der Vernunft Die Griechen als »Vollender des Menschseins«: Einer kulturhistori­ schen Betrachtung der Vernunft zeigt sich, dass deren Aufkommen an bestimmte geschichtlich-kulturelle Bedingungen geknüpft und sie 458 459

Landmann: GuL, S. 99. Vgl. Landmann: The Children of Darkness, S. 55.

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6.4 Kulturgeschichte der Vernunft

in ihrer konkreten Gestalt von den jeweiligen Kulturfaktoren und geschichtlichen Dynamiken betroffen ist. Das bedeutet auch, dass Vernunft nur insofern das Charakteristikum des Menschen ist, als sie selbst erst eine Rede vom Menschen (als solchen) ermöglicht. Wenn Landmann von den Griechen als »Vollendern des Menschseins«460 spricht, so hat dies neben dem bildungsbürgerlich-neuhumanisti­ schen auch den Sinn einer anthropologiegeschichtlichen Selbstverge­ wisserung und -verortung. Bemerkenswert ist dabei, dass bereits in der Antike nicht allein die emanzipatorische Kraft der Vernunft, sondern auch ihre auflösende, relativierende Tendenz zum Vorschein kam. Aus demselben Quellenbett sprudeln der Gedanke der Würde des menschlichen Individuums und der Gedanke der Gattungszuge­ hörigkeit des ›vernünftigen Tieres‹. In dieser Hinsicht haben wir in der Antike eine ähnliche Situation wie in der Moderne, die Landmann auch aus diesem Grunde als »Zeitalter der Erfüllungen« charakterisiert – und in einem durchaus kritischen Sinne, d.h. eingedenk der bereits ausgeführten Ambivalenz, die anthropologisch-lebensdynamisch mit Erfüllungen und Vollendungen einhergeht. Reichtum »gebrochener Seele«: Der moderne Mensch kann in der Erfüllung auch insofern keine Genugtuung empfinden, als sein Streben sich nicht mehr allein wie in der Antike auf die Erkenntnis des ewig Gleichen (des Vollständig-Vollendeten), sondern auch auf das Erleben des einmalig Einzigartigen (des Exemplarischen und insofern Unvollständig-Sterblicheren) richtet. Was bei Platon als »Antagonis­ mus zwischen einer aufklärerischen und einer romantischen Seite« auftaucht, wird »zum Stigma der modernen Seele«.461 Das ist die gebrochene Gefühlslage, die die Romantik, von Rousseau ausgehend, aber ihn resignativ abwandelnd, dem modernen Lebensge­ flecht eingewoben hat, und in dieser Gefühlslage befinden wir uns bis heute. Unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart liegen in uns im Konflikt. Der einen gehört unser Herz, der andern unsere Wirklichkeit. Ihre unharmonisierbare Spannung ist das Schicksal unserer Weltstunde.462 Landmann: UuS, S. 15 ff. Landmann: AgV, S. 26. 462 Landmann: PuA, S. 99 f. Vgl. Außerdem Landmann: The Children of Darkness, S. 53: »The alienation through a »second Gnosticism« is a trauma that lies at the beginning of modern times. The desire to overcome alienation becomes the deepest tendency of our age. This could not be achieved by a reason which is solely a cognizant reason, but by a reason which shapes creatively, invents and organizes its world«. 460 461

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6. Vernunft

Eine kulturgeschichtliche Betrachtung menschlicher Vernunft ist für Landmann nicht etwa heilsam, weil sie romantizistisch den Traum eines prärationalen Goldenen Zeitalters aufleuchten, sondern indem sie den Menschen in doppelter Erbschaft stehen und damit reich beschenkt sein lässt.463 Der Formalismus der geschichtlichen Betrach­ tung tut für Landmann dem Pluralismus der ästhetischen Schau keinen Abbruch; wie eine doppelt gefüllte Lücke gibt es bei ihm einen über jeden Kampf der Kräfte erhabenen Reichtum des Gebrochenen: Aber gerade weil wir in der Urzeit nicht mehr leben, sondern sie nur noch reflektieren und im Medium der Sprache einen Funken von ihr neu aufglimmen lassen, tritt neben die Gnadenfülle der Urzeit noch eine zweite Gnade. Das Gebrochene ist ein Doppeltes und damit ein Reicheres, es enthält das besiegte und das siegende Prinzip in einem, gleichsam wie zwei zu Harmonie gebrachte Melodien, und wie bei diesen eine immer erst durch die andere ihre letzte Innigkeit hergibt, so auch die Urzeit erst in Tod und Wiedergeburt ihr letztes Geheimnis. Statt einer einzigen Taste werden in schmerzlich gereifter Polyphonie viele Tasten unserer Seele angeschlagen.464

»Ist Vernunft noch das Humanum?«: Von hier aus erhellt sich der vielfältige Sinn, der in Landmanns Frage, ob Vernunft noch das Humanum sei, liegt. Werkgeschichtlich betrachtet, findet sich die bereits im Frühwerk als Problemaufriss seiner Kulturanthropologie zugrunde gelegte Frage »Ist Vernunft das Humanum?«465 in seinen späten Schriften in nun kulturkritischer Wendung wieder: Ist das, was wir unter Vernunft als dem Würde verleihenden Charakteristi­ kum des menschlichen Lebewesens verstehen, unter den kulturellen Voraussetzungen des gegenwärtigen Zeitalters noch der Fall? Ist die technologische Vernunft des Methodenformalismus noch jene Kraft, von der das Erstarken des kreativ sich selbst bestimmenden Individuums seinen Aufschwung nahm? Können und wollen wir – wenn wir schon anthropologisch stets vom Menschen sprechen – diese seine Kultur einer Vernunft der Expertise Quelle auch seines Vgl. Landmann: EV, S. 17. Landmann: DaD, S. 59. Auffällig ist auch hier – wie bereits im Kapitel zum Indi­ viduum – die musikästhetische Metaphorik und das Bild der menschlichen Seele (des »pluralen Selbst«) als polyphones Musikinstrument. 465 Vgl. Landmann: EV, S. 155: »Eros und Sozialität gewinnen beim Menschen schon anthropologisch andere Funktion als beim Tier, bilden selbst eigene Aufgaben. Das­ selbe gilt von aller – nicht nur der ästhetischen – Kreativität. Nicht allein in der Ver­ nunft liegt das Humanum«. 463

464

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6.5 »Dialektik der Entlarvung«

ganzen menschlichen Stolzes sein lassen? Man könnte diese Fragen mit Landmann ganz unterschiedlich beantworten. Für eine Mäßigung der Vernunft und ihres Anspruchs spricht er sich in jedem Fall aus: »Der Rationalisierungsprozeß ist eine Sache des Maßes und des Moments. Bis zu einem bestimmten Punkt führt er barbarische Insti­ tutionen zum Humanum, bindet ihre Eigensucht zurück ins Ganze. Von da ab jedoch raubt er ihnen ein notwendiges Element, aus dem sie ihre Kraft ziehen.«466 Diese Selbstmäßigung des Menschen nicht nur eine Einschränkung seiner selbst, sondern im Gegenteil eine durchaus originelle Wiederbelebung unterdrückter oder zurückgetre­ tener Kräfte bedeuten zu lassen, ist Sinn und Anliegen sowohl der Verankerung allzu stolzer Vernunft in der Kreativität als auch der Relationierung allzu stolzer Kreativität zur Kultur als einem vor- und partiell außervernünftigen Lebensgrund, mit dessen Preisgabe der Mensch letztlich seine spannungsreiche Totalität verlöre.467

Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung 6.5 »Dialektik der Entlarvung« Von der Verdächtigung der Tradition zur Tradition der Verdächtigung: Solche Kulturkritik ist bei Landmann zugleich Erkenntniskritik inso­ fern als die zersetzende Kraft der Vernunft nicht erst in den späten Formen technologisch-wissenschaftlicher Rationalität zum Vorschein kommt, sondern ihr als solcher eignet. Im historischen Nachvollzug der verschiedenen Formen des Verdächtigens mittels Erkenntnis las­ sen sich diese grobe Linie ebenso wie auf ihr die feinen Unterschiede aufzeigen. Erstarkte Vernunft ›ursprünglich‹ selbst als jene eine, die Macht der kulturellen Tradition verdächtigende und überwinden wol­ lende Größe, so wird sie nun aus der Denktradition des historischen Sinns heraus selbst in ihren variierenden Formen sichtbar gemacht. Erst der historische Vergleich ermöglicht eine Form der Kritik der Vernunft, die von dieser selbst, im engeren Sinne verstanden, nie würde geleistet werden können. So wird etwa für die griechische Antike bereits unterscheidbar eine »Demaskierung nach unten« bei 466 467

Landmann: AgV, S. 90. Landmann: EV, S. 17.

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6. Vernunft

den Vorsokratikern, die das Seiende aus Natürlichem entstehen lassen von einer »›Demaskierung nach oben‹» bei Platon, der es von der ihm zufolge edleren Idee abfallen lässt.468 Anders als progressive Vernunft, die den Einzelnen aus der engen Verklammerung seiner Kultur herauslöst und ihn so der Selbsterkenntnis zuführt, gewinnt historische Vernunft ihre Erkenntnis gerade, indem sie das (ver­ meintlich) singuläre Phänomen in seinen kulturellen Zusammenhang ›zurückbettet‹ und in bzw. aus diesem heraus sinnvoll erstehen lässt. Aus der so gewonnenen Tiefsicht in die Variabilität dessen, was sich in naivem Vernunftmonismus gern als die eine ungeteilte Kraft der Kritik inszeniert, entsteht dem historischen Sinn eine ihm ganz eigene Weise der Skepsis – und mit der Vernunft in ihren Formen ein ausgezeichneter Gegenstand. Deren »Taktik des Zweifels« und ihr »Kampf gegen die Masken« sind solcher »sinnverstehende[n] Hermeneutik«469 nicht allein interessant, sondern – zumal wenn sie universalistisch auftreten – selbst verdächtig. Skepsis vom Leben her: An dieser Stelle aber kommt alles darauf an, dass die – der »Dialektik der Entlarvung« keinesfalls enthobene – historische Kritik der Erkenntnis- und Verdächtigungs­ weisen nicht ihrerseits sich zur reinen Kritik, zum letzterhabenen Verdächtigungsmodus formalisiert. Als ›Skepsis vom Leben her‹ hat jede Hermeneutik zwar im – der Vernunft und ihrer Kritik als solchen inkommensurablen – Leben den Gegenstand und das Movens nicht nur ihrer Deutung, sondern auch ihrer Skepsis. Gerade aber weil sie eingedenk dieser Grenze bzw. Bedingung ihrer Erkenntnis dem Geschehen sekundiert, wird sie allzu leicht und gern bezichtigt, dieses auch unkritisch hinzunehmen, ja ideologisch zu konservieren.470 Von den Zuschreibungen der Gegnerin darf sie sich nun aber weder zur Offensive einer impulsiven Gegenverdächtigung noch zur Defensive einer tatsächlichen Blindverteidigung des Status Quo verführen las­ sen. Enthaltsamkeit gegenüber der Demaskierung wird zur Tugend eigener Art: Wir leben in einer Maskerade: die sich als Aufklärer gerieren, sind die Nostalgiker, und die der Restauration Verdächtigen liegen an der Spitze in Richtung auf eine neue Vernunft. Daß aber die neue Aufklärung sich

468 469 470

Landmann: Dialektik der Entlarvung, S. 144 u. 145. Ebd., S. 159. Vgl. Bräuer: Pädagogisches Denken als konkretes Denken, S. 34.

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Verschwiegene Eingänge: Typologie des Irrationalen

in der Tiefe selbst als geschichts- und realitätsfern weiß, verrät sich an ihren religiösen, anarchistischen und surrealistischen Explosionen.471

Verschwiegene Eingänge: Typologie des Irrationalen Wir sprachen von Landmanns Vernunftkritik als einem Versuch, dem Absolutheitsanspruch wissenschaftlich-technologischer Vernunft wie auch dem neomarxistisch-eschatologischen Vernunftdualismus eine Typologie rationaler Kräfte entgegenzusetzen. Und auch wenn er beansprucht, dies gerade eingedenk der inhumanen Früchte mensch­ licher Vernunfttätigkeit zu tun, so liegt doch in seinem Festhalten an der Vernunft als solcher ein Restglaube an ihre positive Kraft und Güte, an der nun die bis dato als irrational deklarierten Kräfte über das Aufzeigen ihrer eigensinnigen Rationalität Anteil gewinnen sollen. Wie die Vernunft ihrerseits in den Dienst der Kreativität gestellt worden ist, so nun das Irrationale in das Licht der Vernunft. Zumal wir heute in einer geschichtlich-kulturell veränderten Situation sind, drängt sich die Frage auf, ob sich eine Kulturkritik nicht auch von der ›anderen Seite‹, d.h. über eine Typologie des Unvernünf­ tigen, Irrationalen formulieren ließe. Nicht nur, dass Landmann die Frage nach dem Humanum offen stellt, sondern auch seine intensive Beschäftigung mit Ästhetik und das in Aussicht gestellte »Ende des Individuums« (und damit der einst großen Errungenschaft menschli­ cher Vernunft) bieten hier Ansatzpunkte, um das menschliche Leben selbst über die Typisierung seiner Kräfte jenes irrationalistischen dämonischen Dunstes zu entkleiden, der es seinen Verfechtern ebenso leicht macht, es blind zu beschwören wie seinen Kritikern, es gar nicht erst zu beachten. Die bereits erwähnte Philosophie des Eros, an der Landmann bis zuletzt schrieb, ist als Typologie des Seelischen viel­ leicht das unvollendet gebliebene Komplement seiner pluralistischen Philosophie der (objektiven) Kultur.

471

Landmann: EV, S. 28.

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Der Mensch als »homo creatus«

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7. Kulturalität

Verdichtete Ausgänge Das Insistieren Landmanns auf der Kultur als einer Zentralkategorie der Anthropologie dient seinem Interesse und seiner Grundintuition, den Menschen dort anzusiedeln, wo er lebt: weder im dunklen Natur­ reich sich entfaltender Kräfte noch im erleuchteten Gottesreich heili­ ger Begnadigung, sondern in einer heraufdämmernden künstlichen Umwelt, eben einer Kulturwelt, deren ›natürlicher Ursprung‹ ebenso partiell verborgen bleibt wie ihr Sinn einzig stiftend entdeckt bzw. gegeben werden kann. In der Verortung jeglichen Sinns in der Welt ist zugleich ihr Unsinn radikal mitgesehen und -verortet. Zumindest für eine Anthropologie sind die Wege nach unten und oben versperrt, es sei denn, sie führen, als Kritik am Gegebenen, dieses aufbrechend, wieder zurück in jene kulturelle Mittelwelt, die für Landmann das Apriori des Menschseins als seine Geschichte aufspannt. Im zeitlichen wie räumlichen Sinne findet sich der Mensch in einer Welt vor, findet er eine Welt sich bevor. In der Paradoxie einer Rede von der immer schon doppelt gefüllten »anthropinen Lücke« drückt sich im Rahmen einer Anthropologie der Kultur verdichtet aus, was der Mensch spannungsreich als Vorfindlichkeit einer sich verändernden Welt erlebt. Von hier aus wird der Einwand gegen Anthropologie, sie lege den Menschen essentiell auf seine Natur oder Geschichte fest, ver­ ständlich als Revolte gegen überhaupt jede Form der Festlegung oder Verfestigung, von der Anthropologie aber genau ihren kritisch-kon­ statierenden Ausgang nimmt. Entsprechend wird das komplexe Inein­ ander zwischen dem Vorfindlich-sein der Kulturwelt und dem Sichin-ihr-vorfinden des Menschen, diese Tiefenschicht der Geschichte in der Kritischen Theorie gesellschaftstheoretisch verdünnt zur Kritik an Industriekapitalismus und Kulturindustrie. Diese sieht zwar einer­ seits die Tiefenwirkung des Kulturellen sehr genau, glaubt dann aber andererseits, sie derart in Zweifel ziehen zu können, dass Kultur und Mensch doch wieder auseinandertreten, was ihr die Perspektive auf

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7. Kulturalität

etwas wie das ›eigentliche Menschsein‹ zu eröffnen scheint, worin sich spätestens die heimliche Anthropologie der Kritischen Theorie als Metaphysik eigentlichen Menschseins offenbart. Dagegen nimmt es Landmanns Kulturanthropologie mit der Kulturalität als dem Grund­ modus des Menschseins auf und die Konsequenzen für Bedingungen und Grenzen einer Kulturkritik in Kauf. Dass er eher von Anthropo­ logie als von Philosophie spricht, zeigt hier seinen speziellen Sinn, steht doch neben den Wissenschaften besonders auch die Philosophie in der Gefahr, die Welt des Menschen (wieder) auseinanderzureißen. Der Schmerz jener unüberwindlichen Gestaltgebung des Lebens in der Kultur wird in der Kritischen Theorie Adornos umgemünzt in eine Sakralisierung des Nichtidentischen, bei dem der Name bereits (das ganze) Programm ist. Die Zumutung jener Fülle der Kultur (als deren Fratze sich die industriell erzeugte und distribuierte Konsumwelt der Waren verstehen lässt) schlägt hier in die Leere des Unverfügbaren, Anderen, Nichtidentischen um. Dabei kann die berechtigte Scheu vor allzu schneller oder enger Bestimmung des Unbestimmbaren nicht über das Faktum der Bestimmtheit der Welt als einer Kulturwelt und der Vorfindlichkeit des Menschen in ihr hinwegtäuschen. Anthro­ pologien, denen es genau um die Unergründlichkeit des Menschen eingedenk aller Grundlegung, die wir seine Geschichte nennen, zu tun ist, der Ideologie verdächtigt zu haben, offenbart, wie einigen Kritischen Theoretikern ihre Vorsicht selbst zur Waffe geworden ist. Was sie an Bestimmung des Menschen einzusparen glaubten, gaben sie mit Nachdruck dort aus, wo es galt, den philosophischen Gegner (fest) zu stellen. Was wir bereits sahen – dass philosophische Anthropologie und Kritische Theorie erst im weiteren Umgang mit der konstatierten Kulturalität des Menschseins getrennte Wege gehen – zeigt sich erneut, wenn ihre Kulturkritik inhaltlich zwar Überschneidungen, ja auffällige Kongruenzen aufweist, diese jedoch unterschiedlich gerahmt, gedeutet und spekulativ weitergedacht werden. Bei aller Einigkeit, was den Skandal der menschlichen Entfremdung, zumal in der Moderne betrifft, klafft doch eine erhebliche Lücke beispielweise zwischen Marcuses »Aufstand der Spontaneität« und Landmanns »Plädoyer für die Entfremdung«. Für beide offenbarte gerade das 20. Jahrhundert das Inhumane per se und sie unterscheiden sich wohl eher im deutenden Umgang mit jener Zumutung, dass in und aus einer Kultur der Aufklärung und des Humanismus solch unmenschliches Gräuel hat wachsen, mächtig werden und sich durch­

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7.1 »Anthropine Lücke« und Weltgeschlossenheit

setzen können. Für Landmann – auch hier und hier ganz besonders Anthropologe und nicht Philosoph – zeigt sich das Ausmaß des Inhu­ manen im und am Humanum selbst, ohne dass dies etwa mit einer grundsätzlichen und totalen Verirrung der Menschheit erklärt und so wieder vereinfacht (ja verdächtig beruhigt?) werden könnte. Möglicherweise schwingt in seinem »Plädoyer für die Entfrem­ dung« neben den anthropologischen und kulturphilosophischen Motiven auch die Vermutung mit, es sei bei allem Verständnis für die Sehnsucht nach Harmonie (und Humanität) doch wieder eben diese Sehnsucht, die fatalste Folgen zeitigen könne. Um allerdings die Nüchternheit der radikalen Anerkenntnis von Pluralität und Differenz ertragen zu können, bleibt nun weniger die Flucht in die Utopie zu sich gefundenen Menschseins, sondern mehr der Blick zurück in die Geschichte seines Werdens wie auch der Mut des Überlebenden zur Gegenwart, den man ›mit etwas Phantasie‹ ebenso aus jenem Plädoyer sprechen hören mag wie die Resignation des Epigonen.

Anthropologische Architektonik 7.1 »Anthropine Lücke« und Weltgeschlossenheit als anthropo-logische Ausgangssituation Wir sprachen bereits davon, dass in der Weltoffenheit des Menschen, so zentral sie für die philosophische Anthropologie als solche und ihre Bestimmung seiner Kreativität ist, zugleich noch etwas von der stolzen Libertinage alter Vernunftanthropologien steckt. Entspre­ chend, und nicht zuletzt, weil es ihm genau um deren Überwindung geht, betont Landmann mit der Kulturalität des Menschen immer wieder dessen Weltgeschlossenheit. Die Abhebung des Welt habenden Menschen vom umweltgebundenen Tier erhält eine Relativierung, die ihn quasi nicht nur als Natur-, sondern gerade als Kulturwesen dem Tier ähnlich sein lässt. Trotz der grundsätzl[ichen] Weltoffenheit des M[ensch]en schaffen sich einzelne Gruppen, wie Rothacker hervorhebt, sekundär in den verschiedenen Kulturen jeweils wieder engere, auf sie relative Umwel­ ten. Kulturen sind geschlossene, Haltung prägende Lebensstile, in denen die Deutungssymbole des Lebens und seine reale Formung sich

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7. Kulturalität

gegenseitig hochstilisieren. Jede solche kulturelle Umwelt können wir aber verstehend und uns wandelnd wieder überschreiten.472

Landmanns ethnologisches Interesse an den Kulturen der Menschen kann m.E. in der Bedeutung für seine Kulturanthropologie nicht hoch genug veranschlagt werden, wofür auch seine immer wieder aufge­ führten Beispiele aus der Ethnologie stehen.473 Nicht nur mit dem Reichtum ihrer Forschungen ist sie für die Anthropologie bedeutend, sondern auch, indem sie »im geschlossenen Kulturkreis stets nahe­ liegende Vorurteile wie die zerstört, Institutionen wie Monogamie, Psychisches wie Erwerbstrieb, Ödipuskomplex, Neid, Eifersucht seien ›natürlich‹.«474 Wenn auch selbst kein ›geschlossener Kulturkreis‹, so steht und entsteht auch eine jede Philosophie, und so auch die des Menschen, im Horizont eines solchen Kulturkreises und empfängt so von der Ethnologie kritischen Wind. Als Fundamental-Anthropologie ist sie die begriffliche Ausarbeitung und Formalisierung jenes Plura­ lismus der Kulturen als dem ›allgemeinen Ergebnishorizont‹ ethnolo­ gischer Forschungen. Und weil der tiefste Punkt ihres Interesses die Faktizität von Kultur und die Angewiesenheit des Menschen auf Kultur ist, auf den hin ihr letztlich jeweilige Kulturen inhaltlich interessant werden, scheint Kulturalität der zentralere bzw. treffendere Begriff zu sein, zumal er gerade in seiner Sperrigkeit auf die (beanspruchte) Formalität des anthropologischen Zugangs verweist. Er findet sich auch bei Landmann selbst, wenn er schreibt, auch »Kulturalität bildet ein Fundamental-Anthropinon.«475 Landmann: Anthropologie. A. Philosophische Anthropologie. In: Lexikon der Pädagogik. Neue Ausgabe. Erster Band ABC bis Frankl. Freiburg; Basel; Wien: Herder 1970, S. 54. Vgl. auch Landmann: PA, S. 189: »Rothacker nennt die Kulturen geschlos­ sene ›Lebensstile‹: sie bestimmen […] die gesamte ›Haltung‹ und über sie Interesse, Weltanschauung und Ethos«. 473 Vgl. z.B. Landmann: MSGK, S. 48 u. 94; PA, S. 17. Die enorme Fruchtbarkeit gerade von Landmanns philosophischer Anthropologie für die ›kulturhistorische Eth­ nologie‹ resp. ›vergleichende Völkerkunde‹ hebt Alois Closs hervor in seiner Rezen­ sion von Landmann, M.: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur [Rezen­ sion]. In: Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 89, H. 2. Berlin: D. Reimer 1964, S. 282–284. 474 Landmann: Anthropologie im Schnittpunkt, S. 83. 475 Landmann: FA, S. 88; vgl. außerdem EV, S. 53. Vgl. zur Thematik und Problematik von Kultur den äußerst luziden Text von Niklas Luhmann Kultur als historischer Begriff (In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der moder­ nen Gesellschaft. Bd. 4. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 31–54). Luhmann geht hier seiner Vermutung nach, »daß der Begriff der Kultur seine moderne Prägung erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhalten hat« und damit in einer Zeit, »in der 472

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7.2 Anthropologische Aspekte der Kulturalität

7.2 Anthropologische Aspekte der Kulturalität Der »Monismus des Kulturgefühls«: Die Weltgeschlossenheit des Menschen ist für Landmann keineswegs nur etwas, das die Anthro­ pologin dem Menschen als solchen attestiert, sondern wird von ihr vielmehr erlebnisphänomenologisch als »Monismus des Kultur­ gefühls«476 begrifflich gefasst. Zunächst werden dessen »Teilerschei­ nungen« – ein »Monismus der Ethik«477 wie auch der Vernunft – für Landmann in seinen ethischen und erkenntnistheoretischen Studien zum Problem, bis er sie schließlich kulturanthropologisch erweitert bzw. vertieft. Es zeigt sich einmal mehr, wie er von klassisch-philoso­ phischen Fragestellungen zur anthropologischen Grundbestimmung gelangt. Indem er das Gefühl des Menschen, es handle sich bei seiner Welt um eine und um eine geschlossene Welt, an den Anfang stellt, verweist er zugleich darauf, wie zeitlich spät und allgemein voraussetzungsreich demgegenüber etwas wie ein Bewusstsein von Geschichtlichkeit und kultureller Vielfalt ist, wie er es hier bezüglich der Weltbilder beschreibt: [S]o scheint seinsmäßig das geschlossene Weltbild die Schließung eines ursprünglich offenen zu sein, erlebnismäßig aber ist die Geschlossenheit und die Gedeutetheit […] das immer schon Vorhan­ dene und Umgebende, und erst allmählich verfällt der Mensch auf die kritische Tat und gestattet er sich den Luxus, die Gedeutetheiten als solche zu begreifen, sie abzutragen und hinter und unter ihnen das

viele gesellschaftliche Bereiche auf eine Beobachtung zweiter Ordnung umgestellt wurden und die dafür erforderlichen Begriffe, was immer ihre Vorgeschichte, erstran­ gige Prominenz erhalten.« (ebd., S. 34) In meinem Verständnis von Luhmanns Deu­ tung lässt sich sagen, dass in einigen Fällen bereits im 18. Jh. im Rahmen eines »inten­ siven und extensiven Vergleichsinteresses« unter ›Kultur‹ etwas wie das Kulturhabenüberhaupt (›Kulturalität‹) begrifflich zu fassen gesucht wurde. Dafür war nun (vermeintlich) paradoxerweise gerade die anthropologische, abstrakte Fragestellung nach ›dem‹ Menschen öffnend, was auch Luhmann andeutet: »Der Begriff des ›Men­ schen‹ ist aber seinerseits so stark abstrahiert, daß es möglich ist, von Leben und Tod ganz abzusehen und die Verschiedenheit kultureller Formen ins Auge zu fassen. Die Umformung der Formen ließ sich dann als kultureller Wandel nachverstehen. […] Und erst von diesem Standort aus erscheint Kultur als etwas, was immer schon gewe­ sen ist, und löst damit die alten ontologisch-kategorialen Weltinvarianten, die für Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen galten, auf – und ab« (ebd., S. 41). 476 Landmann: EuM, S. 110. 477 Ebd.

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durch sie verdeckte Ungedeutete und die unbeantwortete Frage aufzu­ spüren.478

Selbst aber wenn es zu solcher Einsicht in die Kontingenz der eigenen Menschseinsweise kommt, muss dies noch nicht bedeuten, dass die Pluralität der Menschseinsweisen als solche mit einem positiven Wertakzent versehen wird. Ein geistesgeschichtlich zunächst viel wirksamerer Umgang war (und ist) eine dualistische Auffassung, die dem auf die Negativseite geschobenen Vielfältigen und Wandelbaren positiv die eine Vernunft und das ewig gleiche Sein entgegensetzt. Es braucht hier abermals ein Umdenken, um geltend zu machen, dass Menschen als wandelbare Kulturwesen, die Traditionen ersinnen, pflegen und gestalten, »ebenfalls positives Prinzip befolgen, das für das Menschsein nicht weniger wesenhaft ist als das Prinzip der Ver­ nunft.«479 Indem so die Pluralität nicht mehr länger (wenigstens nicht nur) als Mangel und Lücke, sondern als Reichtum und Fülle deutlich wird, ist nun auch die wohlgemerkt wertmäßige Voraussetzung dafür gegeben, dass »das an sich immer schon vorhandene Bewußtsein unserer Kulturalität […] seine anthropologische Relevanz« entfalten und »das In-der-Kultur-sein […] für das Menschenbild fruchtbar«480 werden kann. Das In-der-Kultur-sein des Menschen, und nicht etwa sein In-der-Welt-sein nach existenzphilosophischer Terminologie, wird für Landmann ausschlaggebend für eine Anthropologie der

Landmann: EuE, S. 247 f. Dieser Aspekt von Landmanns Kulturanthropologie sollte m.E. betont werden, um einer allzu naiven, sozusagen ›anthropo-creationisti­ schen‹ Anschauung des Menschen Einhalt zu gebieten. Entsprechend zu ergänzen ist Hupes zutreffende Feststellung, der entscheidende Unterschied zwischen Landmann und Gehlen bestehe darin, dass bei ersterem »der Mensch nicht nur seine Anlagen aus[lebt], […] [sondern] er kann sein und tun und schaffen, was bisher wohl vielleicht als Kraft, nicht aber als inhaltliche Möglichkeit in ihm ruhte, kann sozusagen auch über sich hinauswachsen« (Kreativität und Teleologie, S. 107). Neben diesem besteht ein weiterer Unterschied im wenn man so will genau Umgekehrten: Menschen können ihr Leben auch ohne große kreative Umbrüche führen (und taten und tun es über weite Strecken auch, was eine der zentralen Aussagen von Landmanns Anthropologie, eine Kernbedeutung seines Kulturbegriffs ist). Landmanns paradox bleibende Pointe gegenüber Gehlen besteht nun darin, auch solche traditionalen Weltbezüge und Lebensformen als Ausdruck menschlicher Kreativität aufzufassen, was – vielleicht nur – unter Rückgriff auf seinen Begriff menschlicher Pluralität (der Absoluta), d.h. nur typologisch (mittels einer Typologie menschlicher Lebensformen, verstanden als For­ men kreativer Lebensführung) möglich ist. 479 Landmann: Der Mensch als Evolutionsglied und Eigentypus, S. 439. 480 Ebd. 478

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Kultur, deren formal-banale Grundthese ist, dass die kulturellen Schließungen menschlicher Weltoffenheit »wechseln, während die Unabgeschlossenheit und der Schließungsprozeß selbst identisch perseverieren.«481 Ein solcher kulturanthropologischer Aufriss ist nun selbst alles andere als selbstverständlich; nicht nur ruht er selbst auf historischen Entstehungsbedingungen, sondern hat sich auch stets gegen bestimmte Grundneigungen des Menschen wie eben jenem Monismus, in dem Landmann ein archaisches Schema sieht482, zu behaupten. Prägung als Gängelung, Prägung als Gnade: Neben den archai­ schen Scheuklappen, die den Menschen die Kulturalität seines Seins nicht erkennen lassen, wirkt auch seine Kultur selbst dahin, von ihm nicht tiefgründig gesehen und nicht gewollt zu werden. Schließlich ist es genau diese kulturelle Prägung, die ihm als Individuum und seiner autonomen Lebensentfaltung immer wieder in die Quere kommt. Es mag auf den ersten Blick nichts als Provokation, auf den zweiten aber womöglich ein Ausweis kluger Wortwahl sein, wenn Landmann schreibt, was den Menschen »zum vollen Menschen macht«, sei die »Gängelung und Formung durch die kulturellen Traditionen, die er an sich erfahren darf.«483 In dem für die Kritische Theorie skandalösen Gedanken kultureller Gängelung als einem Geschenk, für das man dankbar sein sollte, lässt sich bei Landmann dreierlei finden: zum einen ist er – wie die Kritische Theorie gegenüber der Kultur – skep­ tisch gegenüber ihren Verächtern und als Kind einer Zeit, die die kul­ turelle Überlieferung tendenziell verwirft, umso mehr für diese enga­ giert. »Wir dürfen uns in einem vorbereiteten Kanalsystem bewegen, das schon lange vor uns von anderen ausgehoben worden ist.«484 Über die hier im Kanalsystem verbildlichte Orientierungsfunktion von Kultur für den Einzelnen hinaus gibt sie diesem als »äußere[s] Kulturgerüst«485 Halt. Was Landmann außerdem, scheinbar leicht­ sinnig, von einer Art Gnade der Gängelung sprechen lässt, ist ein in seinen Texten hin und wieder durchklingendes, bemerkenswertes Landmann: PA, S. 195. Vgl. Landmann: Plädoyer für die Entfremdung. In: Praxis. Philos. Zeitschr. Marx u. Revolution 1/2. Zagreb: Druck. d. Jugoslaw. Akad. d. Wissensch. u. Künste 1969, S. 145 [im Folgenden: Plädoyer für die Entfremdung]. 483 Landmann: AgV, S. 125, Herv. F.S. Vgl. außerdem PA, S. 186. 484 Landmann: PA, S. 185. 485 Landmann: Philosophische Anthropologie als Grundlage der Erziehungswissen­ schaft, S. 48. 481

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Vertrauen in die Kulturerkenntnis- und Selbstbestimmungskraft des Einzelnen (die ihm in seiner Zeit nicht so sehr von Seiten der Kultur, sondern viel mehr aus Richtung der Ideologien des Individuums bedroht erscheint). Dieses Vertrauen finden wir im thematischen Zusammenhang der Liebe als Hinweis auf die partielle Erhabenheit des Seelischen gegenüber sozial-kulturellen Forderungen. Obgleich wir in einem artifiziellen Gehäuse leben, das sich uns wie selbstverständlich auferlegt, bleibt unsere individuelle Impetuosität stark genug, daß wir in der Tiefe genau um seinen Scheincharakter wissen. Darüber belehrt uns jeder Traum. Unser Seelengrund befindet sich mit der Sozialwirklichkeit in einer permanenten Disharmonie.486

Wir finden dieses Vertrauen außerdem bezogen auf die Sphäre menschlicher Erkenntnis als partielle Robustheit ihrer Gegenstände gegenüber geistiger Vereinnahmung und Verkürzung: Und doch ist der mögliche Gehäusewert einer Auffassung von ihrem Wahrheitswert fast unabhängig. Die beängstigende Fremdheit des Wirklichen besteht trotz aller Gehäusebauten nach wie vor fort. Immer wieder bedarf es daher der Fähigkeit, hinter der scheinbaren Harmonie das noch uneingeordnete Chaotische hervorzuspüren und es mit ihm aufzunehmen. Nur so lassen sich die unzulänglichen durch andere, vielleicht wahrheitsgemäßere Geordnetheiten ersetzen.487

Dass die Unverfügbarkeit des Wirklichen allein eine kritische Erkenntnis nicht garantiert, bedeutet positiv, dass sich letztere selbst als kontingentes Kulturphänomen verständlich werden muss. Wie wir bereits sahen, genügt es nicht, dass sie kulturkritisch den »The­ sis-Charakter alles Kulturellen«488 erkennt; sie muss darüber hinaus erkenntnisphänomenologisch den Kultur-Charakter aller Erkenntnis, also auch der Selbsterkenntnis des Einzelnen, durchschauen. Noch einmal die »Enge der Wirklichkeit«: Nicht erst bzw. nicht allein als feindlich-restriktive provoziert die Kultur den Einzelnen, sondern bereits, indem sie überhaupt eine und damit eine notwendig enge Gestaltung und Deutung der Wirklichkeit zu sein beansprucht. Landmann: Die Liebe im anthropologischen Rahmen. In: Was ist Liebe? Zehnte Rechenschaft. Das Bild vom Menschen, wie ist es heute, wie soll es werden. Hg. v. Balthasar Staehelin, Silvio Jenny u. Stephanos Geroulanos. Zürich: Editio Academica TVZ 1980, S. 164 [im Folgenden: Die Liebe im anthropologischen Rahmen]. 487 Landmann: EuE, S. 231. 488 Landmann: EV, S. 57. 486

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Landmann spricht von einer »in allem Kulturellen tätigen Spezifika­ tionstendenz«.489 Diese Tendenz ist nun in einem sowohl Ausweis menschlicher Kreativität und Freiheit als auch Ausweis ›selbst‹ auf­ erlegter Unfreiheit, die in der eigendynamischen Verselbständigung der kulturellen Form bis hin zu ihrer Objektivierung besteht. »In der Erfüllung springt ein Subjektives um ins Objektive, das sich nunmehr als solches verselbständigt. […] In all diesen Objektivationen wird Subjektivität begraben.«490 Von ›Erfüllung‹ spricht Landmann hier als Realist, dessen Kritik sich ebenso wie auf den Erfüllungsanspruch der Kultur auf die eschatologische Vorstellung richtet, es gebe jenseits der Kultur eine reine Erfüllung des Menschlichen. So wie er um die enorme Bedeutung, Kraft und Schönheit dieser Sehnsucht weiß, geht er von ihrer Unüberwindbarkeit im doppelten Sinne aus: sie ist nicht grundsätzlich zu vermeiden und sie ist nicht grundsätzlich zu stillen. »Offenbar reicht das überhaupt Habbare stets nur bis zu einer Grenze, jenseits deren das Unhabbare beginnt. In allem Haben spüren wir daher noch einen Rest von Nichthaben.«491 Tradition als willkommene Gegnerin: Dass die kulturellen Formen und Traditionen zu beliebten Gegnerinnen jeglicher Erweiterungs-, Vertiefungs- und Veränderungswünsche des Einzelnen avancieren, ist Landmann zufolge ebenso legitim wie problematisch. Es kommt ihm hier alles darauf an, was genau und aus welchen Gründen es einer Kritik und Anklage durch den Einzelnen unterzogen wird. Überhaupt von Traditionen (eher als etwa von Institutionen) zu sprechen, ist dabei kulturphänomenologisch grundlegend, um die Wirkkraft des Kulturellen als Traditionellem und davon ausgehend die Kritik des Individuums zu begreifen. Wie ›Tradition‹ der ›Institution‹, so ist ›Traditionalität‹ der ›Geschicht­ lichkeit‹ vorzuziehen. Diltheys ›Ich bin Geschichte‹ bleibt dahin mißverständlich, daß ich um Geschichte weiß, während das Entschei­ dende nicht dies ist, sondern daß ich von der Vergangenheit geprägt bin. Sie prägt mich aber dadurch, daß sie als Tradition noch lebt und für mich verbindlich wird. Über die nur zu wissende geschichtliche Tiefe dieser Tradition gibt der Mensch sich meist keine Rechenschaft.492 Landmann: EuE, S. 235. Landmann: AgV, S. 221, Herv. F.S. 491 Landmann: EuE, S. 216. 492 Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 168. Vgl. zu dazu auch Fischer: Die exzentrische Nation, S. 400, wobei auch die ideologiekritische und (damit) selbst 489

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Das Leiden des Menschen an der Tradition dürfte seine Intensität auch aus jenem paradoxen Doppelverhältnis beziehen, das zwischen Mensch und Tradition besteht: Einerseits prägt ihn diese vorwissent­ lich (ja wurde sogar pränatal für ihn vorgestaltet und -entschieden), andererseits ist er als Einzelner für sie nahezu völlig gleichgültig. Mit ihrer »Ablösbarkeit und Übertragbarkeit von einem Träger auf den andern« steht sie ihm »ebenso gegenüber wie die vorgefundene Welt der Natur.«493 Die Frage, warum eine Tradition für den Einzelnen – über ihre faktische Prägekraft hinaus – bedeutsam ist und künftig sein soll, haben ihre Befürworter stets hermeneutisch und praktisch zu beantworten.494 Dabei wäre z.B. kritisch zu prüfen, ob für eine in Frage stehende konkrete Tradition gilt, was Landmann über den Vorzug des Objektivierten schreibt: dass es »immer durchgearbeiteter ist als das rein innere Erleben« und insofern die von ihm »ausgehende Lenkung zugleich Verfeinerung und Verumfänglichung, qualitative Stilisierung des Erlebens [bedeutet].«495 Selbst wenn dies gälte, so ginge damit noch nicht zwangsläufig ein Arrangement zwischen Individuum und Tradition einher; im Gegenteil: gerade die kulturelle Bereicherung kann den Schmerz sogar vertiefen, die Anklage steigern, da sie den Wunsch nach Autonomie bzw. die Autonomie selbst noch härter treffen kann als eine (empfundene oder reale) Restriktion und Verarmung. Sie macht, um es drastisch und etwas schief zu sagen, den Einzelnen noch überflüssiger, indem sie ihn auf seine Fähigkeit und Bereitschaft des Empfangens reduziert und ihm dabei noch den letzten Hort der Individualität – die Revolte – raubt. Dieser Zusammenhang ist nicht zuletzt wichtig für das Ver­ ständnis dessen, was ›Entfremdung‹ genannt wird. Liegt dabei der Fokus gewöhnlich auf Diskrepanzen zwischen Individuum und Kultur bzw. Gesellschaft, so können, wie mir scheint, ebenso gerade auch ihre Kongruenzen – nämlich unerwünschte oder unverstandene – zu Entfremdungsphänomenen führen bzw. als Entfremdung empfunden werden. In beiden Fällen ist der Grad an Entfremdung, anthropolo­ gisch betrachtet, Ausweis für den Grad an Individualität (in) einer Kultur. Dies ist der tiefere Sinn jener zunächst merkwürdig anmuten­ wiederum normative Dimension einer ›historischen‹ Welt- und Menschenanschau­ ung im Sinne Diltheys deutlich wird. 493 Landmann: PA, S. 182. 494 Vgl. Landmann: MSGK, S. 184 f. 495 Landmann: EdI, S. 227.

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den Aussage Landmanns, Entfremdung könne – wenn überhaupt – nur überwunden werden »durch Preisgabe dessen, was die Griechen uns brachten: des Prinzips der Individualität. Denn die Traditionalität können wir nie preisgeben.«496 Insofern auch und gerade etwas wie Individualität kulturell geworden und tradiert ist, ist das Eintreten für das Individuum ohne die Pflege seiner Traditionen nicht zu haben. Dass diese Traditionen den Einzelnen angehen, ist bei Landmann anthropo-logisch vorausgesetzt, muss aber historisch immer wieder unter Beweis gestellt werden. Kulturgebiet und Gesamtkultur: Für ein differenziertes Verständ­ nis einer jeden Kulturkritik wie auch der Kulturgeschichte des Indivi­ duums unerlässlich ist die Unterscheidung von Gesamtkultur und Kulturgebiet. Sie steht als Unterscheidung in einer gewissen Span­ nung zur Allgemeinheit und Umfänglichkeit dessen, was ich mit Landmann ›Kulturalität‹ nenne, ist andererseits aber gerade hier ein hilfreiches Korrektiv, um zu zeigen, dass es keineswegs nur den Kampf zwischen Kultur und Individuum, sondern auch und in aller Regel Spannungen und Pluralitäten innerhalb ›einer Kultur‹ sowie ambivalente Beziehungen des Einzelnen zu ihren Domänen497 gibt. Beginnen wir mit der Gesamtkultur und stellen dem zunächst voran Landmanns ›Definition‹ von ›Kultur‹: Unter Kultur verstehen wir den Inbegriff alles dessen, was die Mensch­ heit nicht schon von Natur als Anlage mitbekommen, sondern durch eigene Schöpferkraft hervorgebracht hat, und zwar nicht nur die objek­ tivierten Werke der artes et inventa – wie schon Bacon zusammenfaßt –, sondern auch alle sozialen Einrichtungen und Sitten, die gesamten Verhaltens- und Verlaufsformen des Lebens von den technischen Prak­ tiken bis zur in Sprache und Religion eingelagerten weltanschaulichen Vorbahnung des Denkens.498

In diesem Sinne ließe sich – wie im Zitat von ›Menschheit‹ – auch summarisch von einer ›Weltkultur‹ sprechen, was v.a. für den klassisch-europäischen Bildungsbegriff und an verschiedenen Stellen auch in Landmanns Anthropologie zentral ist, an dieser Stelle jedoch Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 170. Von »Kulturdomänen« spricht Landmann im Anschluss an Dilthey (und Cassirer) u.a. in UuS, S. 183. Ebenso ist von »Kulturgebieten«, etwa denen »der Philosophie und Wissenschaft« (ebd., S. 19) sowie von »Seins- und Kulturbereichen (PuA, S. 220) die Rede. 498 Landmann: MSGK, S. 188 f. 496 497

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noch nicht interessieren soll. Die Vorstellung von Gesamtkultur als einem bestimmten irgendwie in sich geschlossenen und irgendwie geographisch, politisch oder ethnisch definierten Gefüge ist bei Land­ mann eher selten zu finden. Im Gegenteil hat er, wie wir später noch sehen werden, eher Stile und Typen unterschieden als Kultu­ ren, und auch bei diesen Unterscheidungen immer wieder gerade auf tiefgreifende kulturelle Transfergeschichten verwiesen, die eine klare Unterscheidung verschiedener Kulturen, zumal in der Moderne, unterlaufen und durchkreuzen. Und auch dort, wo er von Kulturen spricht, ist dies nicht zu trennen von seiner Idee einer »Pluralität der Absoluta«; ja es steht genau in ihrem Dienst, wie an der folgenden Stelle deutlich wird: [S]ondern so wie die Gestaltungen der einzelnen Kulturdomänen von Zeitalter zu Zeitalter, von Kultur zu Kultur, und wie die großen Kulturen selbst untereinander essentiell heterogen sind, so sind es in ihnen und von ihnen bis ins Mark geprägt auch die Menschen. Alle Versuche, das Sein des Menschen eindeutig festzulegen, verfehlen gerade das Menschsein. Das letzte Festlegbare an der Menschheit ist ihre Plastizität, vermöge deren sie immer wieder ein Neues aus sich selbst herausmodeln kann.499

Überhaupt scheint ›Kultur‹ und ebenso ›Gesamtkultur‹ für Landmann keineswegs eine ausgrenzende, sondern gerade eine integrierende Idee und als solche eine kulturgeschichtliche Errungenschaft zu sein: »Noch um die Jahrhundertwende spaltet der ›Streit um Lamprecht‹ die Geschichtsschreiber des Politischen und der Kultur in zwei Lager. Heute duldet es keinen Zweifel, daß der Staat nur als eine Sphäre innerhalb der Gesamtkultur sinnvoll zu erforschen ist.«500 Dass uns diese allgemeine Sichtweise trivial erscheinen mag, muss insofern verwundern, als es uns dann doch tendenziell schwerfällt, genauer zu bestimmen, was denn ›Gesamtkultur‹ bedeutet (oder was ›unsere Gesamtkultur‹ ausmacht). Dieses Problem ist auch dann noch nicht

499 Landmann: UuS, S. 183. Eine ähnlich differenzierende Funktion gewinnt der Kul­ turbegriff bei Landmann gelegentlich als Kritik an Großbegriffen wie ›Gesellschaft‹, die im Zusammenhang seiner Tieferlegung der Philosophie des Menschen von der Sozial- in die Kulturanthropologie steht (vgl. Landmann: PA, S. 187). Landmanns Kulturbegriff umfasst mehrere Dimensionen (hier: simultane ›Gesamtkulturen‹ und Kultursphären wie etwa ›das Soziale‹), womit er kulturphänomenologisch und kul­ turanalytisch der Geschichtetheit des Kulturellen gerecht zu werden versucht. 500 Landmann: Kulturphilosophie, S. 550.

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gelöst, wenn man wie Mollenhauer den Begriff formal zu bestimmen versucht als »die gesellschaftliche[] Formation dieser Kultur, mit ihren noch legitimierbaren überlieferten Beständen und deren Zukunftsfä­ higkeit«.501 Bei Landmann fungiert ›Gesamtkultur‹ nicht zuletzt als ein ›Grenzbegriff‹, der eine heuristische Hilfe bietet, um Kulturge­ biete unterscheiden zu können, ohne ihre Verbindungen, und d.h. die Realität kulturgebietsübergreifender Zusammenhänge und Struktu­ ren unkenntlich werden zu lassen. Dabei rahmt die Unterscheidung von Gesamtkultur und Kulturgebiet kulturgeschichtliche Analysen der Autonomisierung einzelner Bereiche (wie Philosophie, Wissen­ schaft, Kunst, Wirtschaft, Recht) ebenso wie die kulturanthropologi­ sche Begründung und Analyse ihrer Selbstüberhöhungstendenzen. Von der Autonomie der Kulturgebiete zu ihrer Selbstüberhöhung: Die Analyse der Autonomisierung der Kulturgebiete ist nicht nur entscheidend, um von diesen als tatsächlichen Realitäten (und nicht nur als Funktionen einer dominanten Tradition) überhaupt sprechen, sondern auch, um davon ausgehend das Aufkommen der Indivi­ dualität der Person angemessen verstehen zu können. Damit der einzelne Mensch als Wert für sich und aus sich heraus in Betracht kommen konnte, mussten erst »die Wertideen der einzelnen Kultur­ gebiete sich von der Tradition emanzipieren und für sich sichtbar und damit bestimmend werden. Erst die objektive Autonomie des Kulturellen zieht die subjektive des Menschen nach sich.«502 Wenn die Vernunft nicht nur als anthropologisches Charakteristikum ›den‹ Menschen, sondern als humanes Privileg auch den Einzelmenschen auszeichnet, so geschieht dies bereits im Bereich und im Medium einer Philosophie, die sich eben darin als Kulturgebiet vom herrschen­ den Traditionszusammenhang zu lösen beginnt. Bis Kant und noch über ihn hinaus bleibt es die Tragik der Vernunft, dass sie zwar als emanzipatorische Bewegung den Einzelnen meint, aber auch darin dem Kernimpuls der Philosophie, die nach dem Allgemeinen fragt, verhaftet bleibt und so den Einzelnen als Vernunftwesen anspricht und damit immer auch verkürzt. 501 Mollenhauer, Klaus: Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung. 7. Aufl. Weinheim: Beltz Juventa 2008 [im Folgenden: Vergessene Zusammenhänge], S. 19. 502 Landmann: PuA, S. 36; vgl. Aufstieg und Niedergang des Individuums, S. 63: »Am Anfang steht also die Autonomie der Kulturgebiete, aus ihr folgt erst die Auto­ nomie des Menschen«.

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Und es ist sogar noch schärfer, denn indem sie nach dem Allgemeinen, ja den Gesetzen (in) der Welt sucht, übernimmt sie den Deutungsanspruch auch für alle anderen Kultursphären, denen sie zur Selbstfindung verhilft: »Alle Kultursphären werden seit der Renaissance dadurch, daß Vernunft die ihnen als solchen einwoh­ nenden Strukturen findet und ausformt, ›autonom‹.«503 Landmanns Pluralisierung der Vernunft, die wir bereits behandelt haben, kann insofern nicht nur als Unterscheidung vielfältiger Funktionen und Kräfte der Vernunft, sondern ebenso als Rehabilitierung der unter ihrem Alldeutungsanspruch verkümmerten Kultursphären und ihrer jeweiligen Eigenlogik und -dynamik gesehen werden.504 Vor diesem Hintergrund wäre auch noch die »Tendenz der Neuzeit, die überall auf Selbstgesetzlichkeit der einzelnen Kulturdomänen zielt«505 zu kritisieren, insofern die Idee von Selbstgesetzlichkeit und die Amalga­ mierung von Autonomie und Selbstgesetzgebung intellektualistisch reduktionistisch ist. Solcherlei Selbstüberhöhung ist Landmann zufolge aber nicht allein der Vernunft eigen. Vielmehr kann der entsprechende Effekt, den wir oben bereits als Monismus des Kulturgefühls erläutert haben, sich in allen Kulturbereichen einstellen, die so immer wieder versuchen, dem »allgemeinen Schicksal der gegenseitigen Begren­ zung«506 zu trotzen. »Zu solchem Sich-absolut- und Sich-über-dieandern-Setzen neigen aber alle Kulturdomänen. Jede, der Staat, das Recht, die Moral, die Kunst, will die höchste und eigentliche sein und uns ganz für sich in Beschlag nehmen.«507 Von hier aus wird der Allmachtanspruch der Vernunft nicht nur wie bisher aus immanenten Gründen, sondern auch kulturpsycholo­ Landmann: EV, S. 188, Herv. F.S. Vgl. Landmann: Um die Wissenschaft, S. 88: »Andere Kräfte der menschlichen Seele stehen nicht niedriger als die Vernunft; und daher stehen auch die geistigen Gebilde, in denen sie sich niederschlagen, stehen Religion und Kunst nicht niedriger als Wissenschaft und haben noch heute und in alle Zukunft das gleiche Recht wie sie. […] [S]ogar auf dem Felde der Erkenntnis selbst können Gefühl und intuitive Ahnung an letzte Dinge rühren, vor denen die Vernunft versagt. Auch aus diesem Grunde ist die Wissenschaft nicht Die, sondern nur Eine geistige Leistung der Menschheit. Sie hat im Konzert der übrigen ihre bestimmte Stelle. Sobald sie sich dagegen verabso­ lutieren will, muss man sie in ihre Schranken zurückweisen. Wie überall, so liegt auch hier die Wahrheit nicht auf Seiten des Monismus, sondern des Pluralismus«. 505 Landmann: P, S. 355. 506 Landmann: PuA, S. 70. 507 Ebd. 503

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gisch verständlich: in der Kulturgeschichte wenigstens der ›westlichen Welt‹ scheint sich etwas von der Totalität der Religion (als dem in Frage stehenden traditionalen Zusammenhang) auf die Vernunft übertragen und in nun wiederum ihren totalen Deutungs- und Macht­ anspruch übersetzt zu haben.508 Mit genau diesem Anspruch, der die sich so verschieden wähnenden doch wieder eint, ziehen Vernunft und Religion gleichermaßen die kulturanthropologische Kritik Land­ manns auf sich. Dies auch dann, wenn solcher Anspruch nicht absolut und hegemonial, sondern relativ und in dualistischer Ausprägung auftritt (was nicht zwingend weniger problematisch ist). Für letzteres gibt Anton Hilckmanns Rezension von Landmanns Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur ein bemerkenswertes Beispiel, in der dieser das Buch zwar insgesamt in höchsten Tönen lobt, an einer Stelle jedoch einen wichtigen Einwand formuliert: Die Religion ist kein ›Kulturgebiet‹, sondern sie ist ein anderes Reich, das von dem der Kultur grundsätzlich zu scheiden ist. Die Kultur gehört ganz der säkularen Ordnung an; die Religion hingegen hat es gerade mit dem zu tun, was das säkulare Sein der Menschen transzendiert. Im Vergleich zur Kultur gehört die Religion einer höheren Ebene an; ja, sie selber ist diese höhere Ebene. […] Man überlege einen Augenblick: wenn die Religion nur ein Kulturgebiet neben anderen wäre, so wäre es ja gar nicht denkbar, daß die Religion (oder jedenfalls eine Religion) Kulturen transzendierte.509

Was Hilckmann hier als Fähigkeit der Religion zur Transzendierung verschiedener Kulturen positiv hervorhebt (und als Argument geltend zu machen versucht), wäre mit Landmann genau umgekehrt, d.h. kritisch zu sehen als Ausweis eines eigenschaftsanthropologischen Vorurteils. Es ist gleichsam nicht nur ein Beispiel für die Selbstüberhö­ hung einer Kultursphäre, sondern mehr noch eins für deren Unverfro­ renheit, ihre Machtausübung als Integrationsleistung zu verbuchen. Es muss unterschieden werden zwischen Religion als der Religion (die so nirgends angetroffen werden kann) und Religion als symbolischer Form, als Religiosität. In diesem Zusammenhang wird auch noch einmal deutlich, dass die bei Hilckmann implizierte Vorstellung von

Vgl. Landmann: MSGK, S. 67 u. UuS, S. 148. Hilckman, Anton: Der Mensch und die Kultur. Zum gegenwärtigen Stand des Gespräches um die »sciences humaines«. In: Kant-Studien 55 (1964), S. 362 f. [im Folgenden: Der Mensch und die Kultur]. 508

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Kulturen als verschiedenen »›Gesamt-Lebensformen‹«510 nicht als solche problematisch ist, sondern in Hinblick auf die Idee eines Überspannenden, genauer: erst und nur dieser Idee selbst problema­ tisch wird. Vor allem aus diesem Grund dürfte Landmann skeptisch gegenüber jedweder allzu sehr von einer bestimmten Kultur sich lösenden und forttranszendierenden Religion gewesen sein und sich stattdessen genau umgekehrt den sozial-kulturellen Grundlagen sich außerhalb vermeinender Weltanschauungen zugewendet haben. Rahmung und Bild: Genauer müsste man sagen, dass Landmann so etwas wie Integrität lediglich kultur- und geschichtsimmanent, d.h. als jeweiliges Ganzes gelten lässt. Als solches aber ist es ihm hochinteressant, womit er sich wiederum einer Atomisierung von Kultur in unvermittelte Elemente, der Geschichte in unverbundene Geschichten entgegensetzt. Damit steht er in einer geschichtsphiloso­ phischen Linie, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt und vom 18. Jahrhundert an ihre Blütephase entwickelte: Hinter der Einzelgeschichte entdeckte man den Consensus (Comte) aller Gebiete einer Kultur in einer Epoche, den Zeitgeist, der seiner­ seits den romantischen Volksgeist modifiziert, die Einheit des Stils (Nietzsche). Jede Kultursphäre, jede Einzelleistung bewegt sich bereits in der Rahmung (E. Rothacker) der großen Vorentscheidungen einer Epoche und Kultur und wird, indem sie sie auf neue Gegebenheiten anwendet und damit auch abwandelt, von den Vorentscheidungen ebenso begrenzt wie entlastend gehoben.511

Von hier aus wird verständlich, inwiefern die Unterscheidung von Kultursphäre und Gesamtkultur für Landmann nicht nur als die Geschichte betrachtenden Historiker interessant ist, sondern darüber hinaus den Rahmen gibt für eine kulturanthropologische Vernunft­ kritik. Denn wodurch vermag es Vernunft, ihre Prinzipien auf ihr heterogene Bereiche zu übertragen bzw. dies zu beanspruchen? Sie vermag dies mittels einer analytischen Methode der Zerlegung des als Ganzheit bzw. Gestalt Gegebenen in Einzelteile. Die Universali­ sierung mittels Quantifizierung immunisiert sie zugleich (scheinbar) gegenüber Kritik, da diese ja wiederum unterscheiden und sich damit selbst der Mittel der Vernunft bedienen müsste. Hinsichtlich dieser Hilckmann: Der Mensch und die Kultur, S. 363. Landmann: Geschichtsphilosophie [Lemma]. In: Gerhard Krause; Gerhard Müller et al. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie. Bd. 12. Berlin/New York: de Gruyter 1984, S. 684 [im Folgenden: Geschichtsphilosophie]. 510 511

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7.2 Anthropologische Aspekte der Kulturalität

Situation ist Landmanns Kulturanthropologie als Vernunftkritik zu verstehen, die den Bereich der Philosophie im engeren Sinne insoweit verlassen muss, als diese sich selbst als strenge Wissenschaft und also missversteht. Anders gesagt: Sofern sie das Implizite einer Kultur oder Kultursphäre eingedenk der Grenzen seiner Explizierbarkeit erforscht, muss sich Philosophie sogar ästhetisierender Begriffe wie Stil und Typus bedienen. Etwas wie eine kulturanthropologische Intuition zur Gestalt hält Kulturanthropologie skeptisch gegenüber allzu allgemeinen und allzu präzisen Analysen nicht zuletzt deshalb, weil in ihnen die kulturelle Wirklichkeit und ihr geistiger Nachvollzug allzu strikt getrennt sind. Dagegen ist es ihr gerade um deren enge und tiefe Verflochtenheit zu tun: um die Theoriehaltigkeit der Welt und um die Welthaftigkeit der Theorie, die beide aufzuzeigen und zu verantworten sind. [S]ämtliche Kulturdomänen eines Volkes und einer Epoche enthal­ ten ein unausgesprochenes und vielfältig gebrochenes menschliches Selbstverständnis, eine, wie man sagen könnte, »implizite Anthropolo­ gie« und haben in ihr eine der Determinanten ihrer jeweiligen Gestal­ tung.512

Kulturelle Schichtung: Die Annahme und Untersuchung von Gestalten (und nicht etwa nur von funktionalen Zusammenhängen) impliziert bereits etwas wie kulturelle Schichtung, eine Dreidimensionalität, der wir uns jetzt noch einmal wenigstens kurz zuwenden. Ihre Bedeutung für Landmanns Kulturanthropologie kann m.E. gar nicht hoch genug veranschlagt werden, wenngleich er keine geschlossene Theorie kul­ tureller Schichtung liefert. Der entsprechende Gedanke durchzieht jedoch sein gesamtes Werk. So ist beispielsweise bereits in seiner Promotionsschrift Der Sokratismus als Wertethik davon die Rede, es müsse, der Autonomie des Selbst vor- bzw. eingelagert, »eine primitive Schicht unserer Seele geben, die nichts anderes will als das Wiederfinden des Identischen.«513 Gerade für das Verständnis von Landmanns Grundannahme einer polaren und paradoxen Verfloch­ tenheit jener anthropologischen Grundkräfte kreativer Gestaltung und kultureller Prägung ist der Schichtgedanke äußerst aufschluss­ reich. Diese Kräfte sind nun nicht mehr als simpel antagonistisch auf einer Ebene liegend, sondern mehr als (streng genommen nur analy­ 512 513

Landmann: FA, S. 194. Landmann: SaW, S. 100.

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7. Kulturalität

tisch unterscheidbare) Schichten kultureller Phänomene anzusehen. Diese aber sind nicht scharf zu trennen von den Menschen als ihren Trägerinnen, wofür nun wiederum der Schichtgedanke bedeutsam ist: »Ebensosehr wie Bedürfnis sind wir Institution, ja diese bildet die höhere, überformende Schicht.«514 Weder ist der Mensch als phy­ sisch-seelisches Zentrum von einer vermeintlich äußerlichen Welt der Institutionen strikt zu trennen, noch sind diese simpel als sein kontingenter Außenhalt zu betrachten: der einzelne Mensch ist seine (ihn überragende) Lebensform; er hört nicht dort auf, wo sie beginnt (und bleibt selbst in seiner Abscheu ihr gegenüber auf sie bezogen). Das heißt aber auch: er allein ist ihr Träger, an ihm, wenn auch nicht an ihm allein, hängen ihre Gestalt, Funktion, Veränderung. Landmanns bei aller Skepsis doch immer wieder auftauchendes Vertrauen in die ›Arrangierbarkeit‹ von Mensch und Kultur hat im Schichtgedanken einen seiner stärksten Anker. Dies etwa, wenn er sich durchaus positiv über den ›Animismus‹ äußert: Rational wird dieser »Animismus« abgebaut, eine tiefere Schicht der Seele aber, die im Erregungszustand wieder vorbricht, bleibt ihm immer verhaftet. Dem frühen Sicheinfühlen in die Dinge, von dem wir sprachen, liegt er zugrunde. Durch ihre »Anmutungsqualitäten« ziehen sie uns in ihre »Stimmung«. Wir leben mit ihnen, weil auch sie ein Leben haben.515

Dabei mag sich auch etwas von der liebevollen Hinwendung zum Seienden in der Philosophie Nicolai Hartmanns auf Landmann über­ tragen haben, dessen Philosophie ohne Hartmanns Schichtenonto­ logie nicht vollständig zu begreifen ist.516 Landmann wäre nach eigener Aussage gern Hartmanns Schüler gewesen. Wenn er etwa vom Geschaffenen als geronnenem Schöpfertum, als zweitem Aggre­ gatzustand des Schöpferischen spricht517, so findet sich in dieser Metaphorik Hartmanns dialektische Idee der durchgehenden Getra­ genheit, aber nur teilweisen Bestimmtheit der höheren durch die

Landmann: EV, S. 156, Herv. F.S. Landmann: EdI, S. 217. 516 Vgl. Hartung, Gerald: Sinngebung und Sinnerfüllung. Michael Landmann liest Nicolai Hartmann. In: Jörn Bohr, Matthias Wunsch (Hg.): Kulturanthropologie als Philosophie des Schöpferischen. Michael Landmann im Kontext. Nordhausen: Bautz 2015 [im Folgenden: Sinngebung und Sinnerfüllung], S. 77–93. 517 Vgl. Landmann: Kulturbewusstsein, S. 110 und PA, S. 239. 514

515

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7.2 Anthropologische Aspekte der Kulturalität

niederen Seinsschichten.518 In gewisser Weise findet sich Landmanns anthropo-logischer paradoxer Grundgedanke der doppelt gefüllten »anthropinen Lücke« in Hartmanns onto-logischer Gesetzlichkeit des Schichtenaufbaus, d.i. »die Überhöhung der Schichten, sowie ein Widerspiel von Abhängigkeit und Selbständigkeit«.519 Kulturanthro­ pologie im Sinne Landmanns kann auch insofern als Fortsetzung der Neuen Ontologie Hartmanns verstanden werden, als sie die trügerische Alternative von Idealismus und Realismus bzw. Materia­ lismus in einer Kulturphilosophie des Lebe- und Geistwesens Mensch überwindet. So lesen wir bei Hartmann: Seelische und geschichtlich-geistige Vorgänge sind nicht weniger real als Dinge und Lebewesen, Prozesse überhaupt nicht weniger als Gebilde. Der neue Realitätsbegriff hängt nicht an Materialität und Räumlichkeit, sondern lediglich an der Zeitlichkeit, Prozessualität und Individualität.520

Kulturelle Hybridität: Auch die Vorstellung kultureller Hybridität, die wir bereits bei der Unterscheidung von Kulturbereich und Gesamtkul­ tur streiften, hängt bei Landmann auf’s Engste mit dem Schichtgedan­ ken zusammen und erhält von diesem aus ihre Spezifik. Wir denken bei kultureller Hybridität vermutlich intuitiv an Vermischung, wie wir sie von Farben kennen (so dass es keine ›reinen Farben‹, keine ›diskreten Kulturen‹ gibt) oder als Austausch bzw. Kumulation einzel­ ner kultureller Elemente (so dass es sich bei kulturellen Phänomenen stets um sehr komplexe und differenzierte Gebilde handelt). Der Schichtgedanke bringt zusätzlich eine Vorstellung von kultureller Hybridität ins Spiel, der zufolge ein Kulturelles heterogen insofern ist als seine Struktur unterschiedliche Schichten aufweist, deren jede nicht nur »eine ganze Ordnung des Seienden« darstellt und »ihre eigenen Gesetze und Prinzipien«521 hat, sondern zudem nur mehr oder weniger wirksam und nur mehr oder weniger bewusst zu sein braucht. Aus dieser Perspektive lassen sich sowohl verkürzte 518 Hartmann: Alte und neue Ontologie, S. 334: »Der Aufbau der realen Welt hat die Form der Schichtung. Jede Schicht ist eine ganze Ordnung des Seienden. Der Haupt­ schichtung sind vier: das Physisch-Materielle, das organisch Lebendige, das Seelische, das geschichtlich Geistige. Jede dieser Schichten hat ihre eigenen Gesetze und Prin­ zipien. Die höhere Seinsschicht ist durchgehend von der niederen getragen, aber nur teilweise durch sie bestimmt«. 519 Ebd. 520 Ebd. 521 Ebd.

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7. Kulturalität

Vorstellungen von (kultureller) Identität als narrativem Erzählzusam­ menhang oder handelnd bewirkter Selbstvergewisserung als auch allzu simple Vorstellungen von Interkulturalität als einer reziproken Austauschbeziehung kritisieren. Das Hybride lässt sich auch in seiner älteren griechischen Wort­ bedeutung von ›übermütig‹ oder ›anmaßend‹ mit dem Schichtge­ danken verbinden, und zwar auf doppelte Weise. Zunächst einmal verbietet der Schichtgedanke jegliche übermütige oder anmaßende Selbst- bzw. Fremdbewertung eines Kulturellen. Er liegt unserem ganz alltäglich gewordenen historischen Weltbild zugrunde insofern, als in diesem die faktische Kultur und ihre Bewertung historisch relationiert werden, und zwar in die Vergangenheit wie in die Zukunft: [W]elcher Anspruch hybrid, welcher der differenziertere und zukunft­ weisende ist, das läßt sich oft schwer entscheiden. Der Vorwurf der Hybridität setzt ein natürliches Maß voraus, das es bei dem Geschichts­ wesen Mensch nicht gibt. Für eine Jäger- und Sammler-Kultur ist das Furchen des Ackers Frevel gegen die Gottheit.522

So weit, so richtig. Jedoch lassen sich der Schichtgedanke und die Vorstellung kultureller Anmaßung durchaus auch positiv aufeinander beziehen. Denn so wenig es ein natürliches Maß gibt, von dem ausgehend etwas als hybrid bestimmt werden könnte, so sehr ist doch auch diese Ansicht auf eine bestimmte sozial-kulturelle Grundlage relationiert und von dieser getragen. Der Schichtgedanke macht ver­ ständlich, wie die kulturanthropologische Einsicht in die Geschicht­ lichkeit des Menschen einerseits autonom ist und andererseits von einem nicht so leicht identifizierbaren Menschen- und Weltbild getra­ gen bleibt – und welch ungeheure geistige Leistung eigentlich darin besteht, in der historischen Betrachtungsweise derart heterogene, eigentlich unvermittelte Phänomene und Bewertungen doch in einen Zusammenhang zu bringen. Der Schichtgedanke schiebt außerdem jedem Relativismus einen Riegel vor, der naiv davon ausgeht, Sein und Bewusstsein würden zirkulär-schicksalhaft aneinander hängen und linear, im Gleichtakt miteinander fortschreiten. Gerade der Gedanke von Hybridität in der Bedeutung von ›Anmaßung‹ wird als geistig-moralische kritische Leistung verständlich, die ermöglicht, 522 Landmann: Das Parasitäre. In: Schmarotzer breiten sich aus. Parasitismus als Lebensform. Herderbücherei Initiative 43. Hg. v. G.-Kl. Kaltenbrunner. Freiburg u.a.: Herder 1981 S. 44 [im Folgenden: Das Parasitäre].

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7.3 Kultureller Wandel

das kulturelle Wollen nicht im kulturellen Wissen, das überhaupt Mögliche nicht im faktisch Gegebenen aufgehen (bzw. untergehen) zu lassen. Dieser Relationismus von Geist und Kultur, in dem das Anmaßende nicht per se ausgeschlossen ist, hebelt damit eine Kritik beider nicht aus, sondern wird im Gegenteil zu ihrem Anlass – als präzise und tiefer bohrende Frage nach den Gründen (im doppelten Wortsinne) für Erhalt oder Vorbeugung eines Kulturellen: »Als hybrid empfinden wir heute die Steuerung der Gene, die aber vielleicht kom­ menden Generationen ebenfalls gerechtfertigt erscheinen wird.«523

7.3 Kultureller Wandel Schwellen und Scheitelpunkte: Mit dem Problem der Einordnung und Bewertung eines Kulturellen (sei es ›neu‹ oder als Bestand in Frage stehend) befinden wir uns immer auch in einer zeitlichen Perspektive auf Kultur und ihren Wandel, die jedoch eng mit der Vorstellung kultureller Schichtung zusammenhängt. Landmanns den kulturellen Wandel betreffende Betrachtungen stehen in der Tradition ›dramaturgischer‹ Modelle wie dem von Herder, der den Kulturen in Analogie zur Pflanze Stadien des Wachsens, Reifens und Welkens zuschreibt.524 So diskutabel solche Analogien und Modelle sind, so gleichfalls bieten sie doch einen Rahmen für die Analyse und Deutung kultureller Dynamiken – ja begründen überhaupt deren Annahme. Unter der Voraussetzung, dass sie offen bleiben dafür, stets von der ›Wirklichkeit‹ durchkreuzt zu werden, lassen sie jegliches Kulturelle als begrenzt-begrenzende Qualität, als schöpferisches Potenzial erschei­ nen. Und zwar auf doppelte Weise: Erstens gibt es kulturimmanent, d.h. hinsichtlich der Binnenlogik des jeweiligen Kulturellen »einen Landmann: Teuer bezahlte Vernunft, S. 87. Vgl. Hans Dietrich Irmscher, der im Nachwort zu Herders Sprachabhandlung schreibt: »Von besonderer Aussagekraft ist auch das Gleichnis des Baumes, das Herder auf das Schema der Lebensalter folgen läßt. Der Vorgang der organischen Entwicklung aus einem Keim ist ein altes Denkschema, um Kontinuität in der Zeit zur Anschauung zu bringen. Die ›Verzweigung‹ des Baumes, der doch immer Baum bleibt, gibt Herder die Möglichkeit, die zunehmende Differenzierung der modernen Welt in der Konti­ nuität zu zeigen. […] Der Vergleich der Geschichte mit Epos, Drama und Schauspiel etwa erweckt die Vorstellung eines Ganzen, das den einzelnen Szenen ihre unver­ wechselbare Stellung und Funktion zuweist« (in: Herder, J.G.: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Hg. v. H. D. Irmscher. Stuttgart: Reclam 2001, S. 152). 523

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7. Kulturalität

Scheitelpunkt, bis zu dem die Möglichkeiten zunehmen, von dem ab sie aber zu versiegen beginnen.«525 Zweitens setzt es sich in seiner bzw. als Konkretheit selegierende Grenzen nach außen hin: »Wie es physiologisch eine ›Schwelle des Bewußtseins‹ gibt, die nur von bestimmten Reizen überschritten werden kann, so auch eine ›Kultur­ schwelle‹: nur was innerhalb meines ›Lebensstils‹ ›Bedeutsamkeit‹ hat, findet Eingang über sie.«526 Das mittlere Challenge als optimale Voraussetzung kulturellen Wandels: In diesem Sinne folgt Landmann der These Arnold Toyn­ bees, der ein mittleres Maß an Herausforderung als einer schöpferi­ schen Antwort gemäß, d.h. als diese am ehesten ermöglichend heraus­ stellt. Nur in der »dialogischen Wechselwirkung zwischen ›tyche‹ und ›techne‹, der Macht des Schicksals und dem eigenen planvollen Wir­ ken, wachsen das Ergreifen der Chancen und eigentätiges Projekt zum schöpferischen Handeln zusammen.«527 Diesen Gedanken finden wir auch in Landmanns Überlegungen zur menschlichen Erkenntniskraft, die zwar prinzipiell auch Fernstes sich anzunähern und allzu Nahes von sich abzurücken vermag, am mühelosesten aber das erfasst, »was in einer mittleren Distanz zwischen dem Eigenen und dem ganz und gar Fremden steht.«528 Am Theorem der mittleren als der produktivsten Herausforderung lässt sich zweierlei verdeutlichen: Erstens tritt die polare Gespanntheit des Menschen zwischen Schöp­ fertum und Traditionalität als Doppelaspekt des Menschen offen zutage: nur fundamental-anthropologisch lässt sich trennen, was kultur-philosophisch stets verwoben ist und – was entscheidend ist – darin seine Funktion hat, darin seinen Sinn jeweils kulturwandelnd entfaltet. Weder die allzu unproblematische Nähe noch die allzu libe­ ralistische Distanznahme zu ›kulturell Eigenem‹ wirkt schöpferisch im Sinne kulturellen Wandels, der damit definiert ist als Wandel des Gegebenen, das als solches – und dies ist gewissermaßen die Pointe der Kulturalität als (potentieller) Pluralität – unabgeschlossen und lückenhaft ist. Die Unabgeschlossenheit des Menschen, die Figur der »anthropinen Lücke« entfaltet hier ihren kulturphilosophischen Sinn als Anthropologicum menschlicher Pluralität, in der sie sich bezeugt. Als ein solches Anthropologicum ist die menschliche Unab­ 525 526 527 528

Landmann: MSGK, S. 120. Landmann: PA, S. 170. Landmann: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, S. 389. Landmann: EV, S. 183.

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7.3 Kultureller Wandel

geschlossenheit das »sinngeforderte Korrelat des Schöpfertums, als Problem und Aufgabe, die er an sich vorfinden muß, damit sein Schöp­ fertum eine Herausforderung und eine Angriffsfläche gewinnt.«529 Doppelt gefüllte Lücke zu sein, bedeutet hier, dass sie als Lücke eine schöpferische Möglichkeit darstellt, aber ebenso definiert ist, ja überhaupt erst und nur Lücke sein kann durch ihren Rand, d.i. die Kultur. Sofern der Mensch geneigt ist, ideologisch wie praktisch in Richtung einer der beiden Pole zu tendieren, fällt er aus seinem Gleichgewicht, das aber, anthropologisch betrachtet, keineswegs ein Ruhegleichgewicht, sondern eben eine Gespanntheit ist. Von beiden Polen, d.h. von beiden Momenten des Menschseins erhält das schöp­ ferische Handeln seine Energien und Motive; ›zwischen‹ ihnen, d.h. im Raum ihres Ineinanderwirkens, wird kultureller Wandel möglich als einer jeglichem Radikalismus erhabenen, anspruchsvollen Weise des Menschseins, deren Paradoxie und Schwierigkeit darin besteht, zugleich das Normalste und Unnormalste der Welt zu sein. Wandel und Fortschritt: Diese Überlegungen sind für die Frage nach kulturellem Fortschritt insofern von größter Bedeutung, als sie auch hier eine differenziertere Position begründen, die sich sowohl abgrenzt von überzogen regressivem Kulturkonservatismus als auch von einem Progressivismus, der das Neue bzw. Künftige als solches mit dem Besseren identifiziert. Dagegen spricht Landmann auch hier von einer »Schwelle, bis zu der hin Vernunft und Technik nur Erleichterungen des Lebens sind, von der ab jedoch, trotz oder wegen der immer noch weitergehenden Erleichterung, die mit ihr verbun­ dene Einbuße an Freiheit überwiegt.«530 Neben dieser zeitlichen, d.h. kulturdynamischen Differenzierung steht eine weitere, die die simultanen Aspekte bzw. Inhalte des Konkret-kulturellen und ihr Teilhaben an unterschiedlichen Kulturbereichen in den Blick nimmt. »Kulturfortschritt als solcher ist, wie wir bereits sahen, vielleicht überhaupt ein zu weiter Begriff. Es gibt nur Fortschritt auf einzel­ nen Gebieten, und die Kultur ist nichts so Einheitliches, daß jeder gebietsmäßige Fortschritt immer auch für die anderen Gebiete günstig sein müßte.«531 Hier wird nicht nur nochmals die Bedeutung der Unterscheidung heterogener Kulturbereiche offenkundig, sondern Landmann: Anthropologie des Individuums, S. 162. Landmann: Teuer bezahlte Vernunft, S. 87. 531 Landmann: EuE, S. 169; vgl. MSGK, S. 144: »[D]er Fortschritt auf einem Gebiet ist noch nicht notwendig auch solcher auf dem andern, ja kann auf ihm Rückschritt sein. Der Begriff des Fortschritts wird so in sich selber fragwürdig«. 529

530

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7. Kulturalität

auch, inwiefern sowohl regressiver Kulturkonservatismus als auch zukunftsjagender Progressivismus die Vorstellung einer einheitlichen Kultur – in je unterschiedlicher inhaltlicher Ausprägung – implizie­ ren. Diese Vorstellung hat ihren kulturerlebnisphänomenologischen Grund im monistischen Kulturgefühl, das bereits erläutert wurde. Ebenso findet sie einen Bezugspunkt in der Tendenz der Kulturberei­ che (etwa der Kunst in ästhetizistischen Utopien), sich selbst höher zu stellen, was ihre Bedeutung und ihren Wert für die Deutung und Entwicklung des ›Ganzen der Kultur‹ betrifft. In Abgrenzung dazu versteht Landmann Philosophie; und hier, am Problem des Fortschritts, wird deutlich, was es heißt, dass er Philosophie als Kulturphilosophie in doppeltem Sinne, d.h. als Philosophie der Kultur (ihrer ›Ganzheit‹ und ihrer Bereiche) und als Kultursphäre ganz eigener Art, versteht. Offenbar also ist der Fortschrittsglaube mit Bezug auf die Kultur als ganze sowie auf manche Gebiete zwar unberechtigt, auf andern Gebieten aber gleichwohl berechtigt. Je nach dem, an welchem Gebiet er selbst am meisten beteiligt ist, wird daher auch der Einzelne eher fortschrittsgläubig sein oder nicht. So wird es etwa der Religiöse kaum je sein, der Wissenschaftler und der Techniker dagegen stets. Eine schwer abzuklärende Zwischenstellung nimmt dabei die Philosophie ein. Zweifellos gibt es in ihr Fortschritt; insofern gleicht sie der Wissen­ schaft. Ebenso zweifellos aber behält auch der früheste Philosoph etwas Unüberholbares; insofern gleicht sie der Religion und der Kunst.532

Die Kategorie des Wandels ist folglich nicht etwa Symptom einer Neutralität erheischenden Enthaltung des kontemplativen Elfenbein­ turmbewohners, der das Werturteil und mit ihm die Verantwortlich­ keit scheut, sondern eine wichtige hermeneutische Konsequenz aus der Einsicht in die Pluralität der Kultur und die Divergenz ihrer Gebiete. Es ergibt einen feinen Unterschied, ob man allen Wandel als Fortschritt deutet und begrüßt oder eine Veränderung zunächst als Wandel deutet und dann diesen Wandel je nach seinem Inhalt bewertet. Sich einer Bewertung gänzlich zu entziehen, ist letztlich auch der Philosophin nicht gestattet, ohne dass sie deswegen automatisch zur Fortschrittsgläubigen würde. Auch wenn die Kulturen einander seinsmäßig nicht voraus- und fort­ setzen, so können sie einander aber doch wertmäßig unter- oder 532

Landmann: EuE, S. 167.

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7.3 Kultureller Wandel

überlegen sein. So wird man immer zumindest zwischen primitiven und Hochkulturen unterscheiden. Aber es braucht nicht notwendig die spätere Kultur zu sein, die den höheren Wertrang einnimmt.533

Ohne die Anstößigkeit dieses Zitats relativieren zu wollen, sei doch darauf hingewiesen, dass diese – wie mir scheint – ihr Recht v.a. bezieht als Kritik an genau jenen Vorstellungen, die nicht nur kul­ turelle Leistungen hierarchisieren, sondern sie in eine gemeinsame Geschichte, in eine Linie des Fortschritts stellen, in der die für geringer erachtete als mangelhaft gegenüber der für höherwertig befundenen und als dieser letzteren missionarisch zuführbar angesehen wird. Genau gegen diese Form historischer Betrachtung wendet sich Land­ mann in dem Zitat und bietet eine Lesart der kulturellen Pluralität, die auf das Fortschrittstheorem verzichtet, ohne damit Wertunterschei­ dungen zu leugnen, die basal schon im Monismus des Kulturgefühls und in den unterschiedlichen Wissens- und Gefühlsdistanzen zum ›Eigenen‹ und ›Fremden‹ begründet sind. Dass Landmann in dem Zitat äußerst befremdlich von ›wertmäßig unter- oder überlegenen‹ Kulturen spricht, erhellt seinen fruchtbaren Sinn erst unter Berück­ sichtigung der Tatsache, dass er Wertpluralist ist und im Rahmen dessen, ausgehend von einer durch und durch typologischen Betrach­ tungsweise Wertunterschiede gelten lässt. Wir kommen später darauf zurück und begnügen uns an dieser Stelle mit der aufschlussrei­ chen Beobachtung, dass sich selbst noch in der Aversion gegen eine Unterscheidung wie die von ›einfach‹ und ›entwickelt‹ nicht nur das Bewusstsein und Empfinden einer Kolonialschuld der sich eben in die­ sem Bewusstsein und Empfinden dann doch wieder ›fortschrittlich‹ vermeinenden Weltsicht artikuliert, sondern darin auch die ebenso kulturanthropologisch wie sozialpsychologisch bedingten Grenzen der Fähigkeit, ›tatsächlich‹ typologisch zu denken und zu empfinden, sich zeigen.

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7. Kulturalität

Historisch-kritische Rückbindung 7.4 Die Entdeckung der Kulturalität Eine typologische Betrachtungsweise ist, kulturhistorisch gesehen, ebenso wenig selbstverständlich wie überhaupt das Bewusstsein, kulturell geprägt und damit immer auch andersseinsfähig zu sein. Dass ein Kulturbewusstsein (in) uns seit der Moderne selbstverständ­ lich erscheinen mag, ist weder Ausweis der Verlässlichkeit dieses Bewusstseins noch der Fortschrittlichkeit jener Epoche, sondern ein bemerkenswertes Indiz dafür, wie tief eine kulturell-geistige Errun­ genschaft in den dann allzu selbstverständlich erscheinenden Traditi­ onsbestand hinabzusinken und d.h. eben dem Bewusstsein (partiell und tendenziell) zu entgleiten vermag. Dass sie gerade durch dieses Hinabsinken wieder verloren gehen kann und immer wieder verloren ging, zeigt Landmanns Blick in die Geschichte. Die Entdeckung der Kulturalität, d.h. des »Thesis-Charakter[s] alles Kulturellen«534 datiert er, wie bereits gesagt, auf die Zeit der griechischen Sophisten. »Die Sophistik erkennt: Einrichtungen und Sitten bestehen nicht ›von Natur‹, sondern durch menschliche thesis.«535 Mag die Bedeutung dieser Entdeckung durch den immensen Einfluss der Philosophie Platons auch schnell vergessen bzw. zu gering veranschlagt werden, so sieht Landmann umso deutlicher in den »durch den herrschend gewordenen Platonismus leider verdrängten Sophisten bereits die Vorläufer der Neuzeit.«536 Als Kulturphilosophen seien die Sophisten auch die ersten Anthropologen gewesen537, denen die Welt nicht in Sein und Erscheinung zerfällt, wie es dann für Platons Philosophie und in den »mittelalterlichen Jahrhunderten einer vorwiegenden Transzendenzgerichtetheit«538 kennzeichnend ist. Nun würde Land­ mann nicht so weit gehen, diesen Zeiten ihre jeweilige Anthropologie abzusprechen; vielmehr ist es ja im Gegenteil sein Anliegen, gerade Landmann: EV, S. 57. Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 177. 536 Landmann: PA, S. 34. Dies zeigt sich auch im Aufbau des Kapitels Ausgewählte Daten zur Geschichte der Anthropologie im einleitenden Teil seiner Philosophischen Anthropologie, wo auf das 5. Jahrhundert v. Chr. direkt die Neuzeit folgt; Platon dage­ gen bekommt seinen Platz im II. Teil Der Mensch als Geistwesen I: Der subjektive Geist (Vernunftanthropologie) zugewiesen. 537 Ebd., S. 30. 538 Ebd., S. 34. 534

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7.5 Herauslösung und Autonomisierung der Kulturgebiete

auch die impliziten Anthropologien der nicht forciert anthropologisch auftretenden Epochen aufzudecken. Gleichzeitig muss nochmals mit Nachdruck und kritisch daran erinnert werden, dass Landmann zumeist vom Mittelalter als von einer Zwischenepoche spricht, was indirekt verdeutlicht, wie bedeutsam ihm die Antike und die Neuzeit sind, da in ihnen der Mensch sich wie sonst nicht thematisch und problematisch (geworden) ist.539

7.5 Herauslösung und Autonomisierung der Kulturgebiete So wichtig dabei die Sophisten für die Entdeckung der Nichtnatür­ lichkeit, der Gesetztheit des Kulturellen sind, so wichtig sind ›die Griechen‹ insgesamt, wobei Landmann v.a. Platon im Blick hat, für die Unterscheidung und Autonomisierung der großen Kulturge­ biete. Und dies vermochten sie vielleicht, gerade weil sie nicht auf das jeweils Besondere und Vergängliche (etwa das einzelne Werk), sondern auf das Allgemeinere und – vermeintlich – Ewige (etwa die Gattungen) ihren Blick richteten. Wenn die unterschiedenen kulturellen Formen den Sophisten dann doch wieder ›formal gleich‹ werden, weil auf sie alle gleichermaßen zutrifft, dass sie gestiftet und kontingent sind, so ermöglicht umgekehrt Platons gewissermaßen wieder distanzierterer, mehr ontologischer als anthropologischer und deswegen allgemeinerer Blick auf die Menschen- und Weltdinge deren Differenzierung nach immanenten Kriterien. Bei dieser »umfas­ senden griechischen Leistung der Sonderung und Autonomsetzung der Sphären«540 ist die Entdeckung einer begrifflichen, nicht mehr als Mythos, sondern als Logos geltenden Wahrheit ebenso hervorzu­ heben wie die – damit eng verbundene – Befreiung der Welt »von ihrer Vermenschlichung, von ihrer Einspannung in ein menschliches Praktizitäts- und Wertungssystem.«541 Zu einer solchen Vermensch­ lichung der Welt, ähnlich der Anthropologisierung qua Pluralisierung des Gottes im Polytheismus, spitzt sich der sophistische Schöpfungs­ gedanke im »Gedanken der bloßen Schöpfungswillkür« zu. Und so ist Eine Ausnahme stellt Landmanns Problematik dar, wo er sich dem Mittelalter vergleichsweise ausführlich widmet (S. 135–225), dagegen ihm in De homine nur knapp 40 Seiten (133–170) gewidmet sind. 540 Landmann: UuS, S. 214. 541 Ebd., S. 216. 539

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7. Kulturalität

es dann Platons Philosophie, die solcher Willkür ein Ende zu bereiten sucht, indem sie »ewige, vorgegebene Normen lehrte, die der Mensch in seinem Denken und Tun anzuerkennen und bloß zu realisieren hat.«542 Auf den Bruch der Sophisten mit einer Kultur, die sich als gottgegebene unwandelbare Naturnotwendigkeit ausgibt, folgt Platons Bruch mit einer sich selbst übertreibenden und richtungslosen Kulturschöpfungswillkür der Sophisten, die ihr prominentes Beispiel in einer ›liberal-strategischen‹ Rhetorik (als Theorie und Didaktik der Rede- und Argumentationskunst) hat. Damit wird – und dies ist wichtig – eine bestimmte Dimension der natürlichen wie auch der kulturellen Wirklichkeit, d.i. ihre jeweilige Eigengesetzlichkeit, überhaupt erst entdeckt bzw. eigens herausgestellt. War im religiösen Weltzugang die Natur bereits wie nach einem dämonischen Gesetz erlebbar und wurde den Sophisten das Kulturelle in seiner – vermeint­ lichen – Naturgesetzlichkeit gerade problematisch, so werden die Weltdinge nun erstmals tatsächlich abständig und damit auf ihre Eigenheit hin befragbar: [D]er Gegenstand gewinnt Eigenstand. Allein dieses anthropologisch Mitgebrachte liegt im primitiven Welterleben vorerst nur wie ein schmaler Streifen, es wird von Emotion, Interesse, täglichem Gebrauch sogleich wieder wie von einem Urwald überwuchert. Erst bei den Griechen erfährt es seine Kultivierung und Hochstilisierung. Erst bei ihnen gelangt die Menschwerdung zum Abschluß.543

Der letzte Satz ist gerade unter der Voraussetzung von Landmanns Kulturanthropologie nicht nur als tendenziös, sondern als unhaltbar zu bezeichnen. Und doch lässt sich ihm ein doppelter Sinn abringen. Erstens ist er als Deskription griechischer Kultur allerdings zutreffend, ist es dieser doch in allem, was sie tut und anstrebt, dezidiert um Vervollkommnung, um Formvollendung zu tun. Indem sie das Sein gegenüber dem Werden priorisiert, tritt auch das Menschsein – als

Landmann: PA, S. 32. Landmann: UuS, S. 216. An dieser Textstelle lässt sich gut zeigen, dass und inwie­ fern die geistes- resp. ideengeschichtliche Deutung von der jeweiligen Konstellierung der relevanten Idee abhängt. Hier wird nämlich das religiöse Erleben resp. der religiöse Weltzugang, hinsichtlich des pragmatischen Aspekts, gleichsam als eine Vorstufe des sophistischen Weltzugangs eingeordnet. Im Kontrast zur Objektivierungsleistung der Philosophie Platons wachsen religiöses und sophistisches Welterleben gleichsam zu einer Position zusammen, werden in dieser Konstellierung zu einer gemeinsamen Position, zu einem Pol zusammengerückt. 542

543

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7.6 Charakteristika nachklassischer Kultur

eine Vollkommenheit, die bereits ist (so wie die Welt bereits ist) und einzig entdeckt werden kann – an die Stelle der Menschwerdung, die es für Platon streng genommen gar nicht geben kann. Zweitens ist der Platonismus für Landmann in der Tat »der notwendige Ausdruck einer tragenden Grundschicht allen Denkens« und bleibt insofern, wie auch immer man sich zu ihm verhält, »ein unersetzbares philosophisches Element.«544 Dahinter steht die Idee, dass eine Kultur nicht etwa trotz, sondern gerade aufgrund ihrer Beschränktheit Grundsätzliches zu entdecken vermag – das heißt, dass die Summe des Menschen, die Summe seiner Grundsätzlichkeiten sich nur sukzessive und simultan entfalten kann. Dass es der griechischen Philosophie in ihrer (ästhetischen) Begabung zur »Formsichtigkeit«545 und ihrer (ethisch-erkenntnis­ mäßigen) Hinwendung zu »Wertideen«546 um die menschliche Erkenntnis und um deren Gegenstände stets hinsichtlich ihrer Erkennbarkeit, d.h. hinsichtlich ihrer allgemeinen Strukturen, ging, macht sie für uns unverzichtbar, solange wir überhaupt nach Erkennt­ nis streben. Jedoch unverzichtbar als ein Element neben anderen, oder, was vielleicht treffender ist, als eine Erkenntnisschicht unter anderen. Der Preis zur Freilegung dieser Schicht war hoch und der Raum der Ausgestaltung der ihr entsprechenden Kultur begrenzt: »Am Schöpfertum der Griechen rächte sich, daß es getragen war von einer Metaphysik des Unschöpferischen.«547 Insofern sich die Welt eben doch als eine werdende zu erkennen gibt, mit all den positiven und negativen Effekten, mag die griechische Kultur mindestens als eine geeignete Kontrastfolie dienen, um die eigene Zeit und Kultur in ihrer Typik wie in ihren Anleihen zu verstehen.

7.6 Charakteristika nachklassischer Kultur Dies ist besonders ratsam und fruchtbar bei der Gegenwartsanalyse von Michael Landmann selbst, der nicht erst philosophisch, sondern Landmann: UuS, S. 191. Ebd., S. 261. 546 Landmann: FA, S. 135. 547 Landmann: EdI, S. 201, vgl. außerdem PA, S. 32 und kritisch Gert Müller in seiner Rezension von Landmanns Ursprungsbild und Schöpfertat (in: Philos. Literaturanzei­ ger; Jan 1, 1967, S. 282). 544

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lebensgeschichtlich bereits seit früher Kindheit, v.a. über seine Mutter Edith Landmann und Stefan George sowie seinen Kreis, mit dem Griechentum als dem ›Inbegriff des Klassischen‹ in Berührung kam. Dies wie auch die traumatische Erfahrung des Nationalsozialismus, mit dem ein Deutschland, dem er sich geistig-kulturell zutiefst ver­ bunden fühlte, unrettbar abglitt in tiefstmögliche Abgründe, ließ in ihm das Gefühl aufkommen, Spätgeborener, Epigone zu sein, von dem seine Kulturkritik nicht zu trennen ist. Die Selbstdeutung als Nachfahre und Künder einer verlorenen Zeit wird noch gestei­ gert durch die Deutung der eigenen Gegenwart als von dieser Zeit getrennt. »Der heutige Mensch […] ist von der Vorwelt aufgrund von Wissenschaft, Technik, Sozialismus durch einen Graben getrennt. Er setzt sie nicht fort, sondern blickt zu ihr hinüber.«548 Von einer einheitlichen Gegenwartsdeutung lässt sich ausgehend von dieser Spannungslage allerdings nicht sprechen und es muss zum besseren Verständnis festgehalten werden, dass Landmanns geistesgeschicht­ liche Arbeiten insgesamt beanspruchen, über Jahrhunderte, gar Jahr­ tausende hinweg Kontinuitäten und Renaissancen aufzuzeigen und damit Versuche darstellen, den Mensch als geschichtliches Wesen zu begreifen, und zwar im doppelten Sinne: als kulturelle Individualität und als Variation eines Allgemeineren. Aufgeklärt-romantisches Doppelerbe: Nur so lässt sich auch ver­ stehen, dass und wie in Landmanns Deutung der nachklassische Mensch bei aller unüberbrückbaren Trennung von vergangenen Jahr­ hunderten doch deren Erbe bleibt. Es ist präzise ins Bild gesetzt, wenn er von einer gebrochenen Seele des modernen Menschen spricht: »Wir sind heute alle zu gleichen Teilen Enkel sowohl der Aufklärung wie der Romantik. Auf dieser doppelten Erbschaft beruht die charakteristische Gebrochenheit der modernen Seele.«549 Hier wiederholt sich nicht nur die anthropo-logische Polarität von Krea­ tivität und Traditionalität, Schaffen und Bewahren selbst, sondern auch die – letztlich normative – Vorstellung eines Gleichgewichts dieser Kräfte als Appell, das doppelte Erbe und die Gebrochenheit als die (spät-)moderne Form seiner Erfahrung anzunehmen. »Wer den 548 Landmann: Nachgeschichtliches Epigonentum als Schicksal. Leben wir in einem neuen Hellenismus? In: Unser Epigonen-Schicksal. Nichts Neues unter der Sonne. Herderbücherei Initiative 35. Hg. v. G.-Kl. Kaltenbrunner. Freiburg u.a.: Herder 1980, S. 22 [im Folgenden: Nachgeschichtliches Epigonentum]. 549 Landmann: EV, S. 17.

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einen Teil des Erbes ausschlägt, der bewahrt sich daher zwar vor Unausgeglichenheit und Spannung. Er tut dies aber unter Preisgabe der von ihm erwarteten Totalität.«550 Von hier aus entfaltet die anthropologiegeschichtliche Methode Landmanns ihr Sinnpotential als geschichtlich-hermeneutische Orientierung und Kompensation sonst verloren gegangener Seinsgewissheit. Psychologisch zeigt sich die seelische Gebrochenheit u.a. in der Spannung zwischen dem faktisch Erreichten und dem Bedauern des dadurch Verlorenen, die Landmann bereits in Platons Philosophie wirksam sieht: Diese Distanz zu dem wie sehr auch für das Höchste in uns Erachteten, die Zerrissenheit zwischen dem nicht mehr zu ändernden eigenen Fortgeschrittensein und der Sehnsucht nach dem Archaischen in und außer uns, macht die tragische Größe der modernen Seele, und wir überdeuten wohl kaum, wenn wir in Platon den ersten sehen, der eine solche Zerrissenheit in sich verspürte.551

Gerade vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Kontinuität lassen sich nun auch die Unterschiede umso schärfer erkennen und umfas­ sender deuten. Für die Gegenwart charakteristische Probleme wie die »bedrohlichen Möglichkeiten der Technik, der Umweltzerstörung, der administrativen Entpersönlichung, der Verapparatung« waren Platon zwar ebenso fremd wie jene »›negativen Utopien‹ (A. Huxley, G. Orwell)«552, in denen sie sich Ausdruck verschaffen. Diese sind Platons Mythen und Gleichnissen dann aber doch insofern ähnlich, als auch sie Großerzählungen und Gesamtdeutungen sind, zwar negative, aber gerade als solche eine Gefühlslage bekundend, aus der heraus gebrochen-moderne Seelen immer noch lieber roman­ tisch den ›ganz großen Unsinn‹ erzählen als die Welt relativistisch in unendliche unzusammenhängende, sogar unsinnlose Seins- und Ereignispartikel zerfallen zu lassen. Auch in und mit seiner Kritik ist der nachklassische Mensch aufklärerisch-romantischer Doppelerbe – seine Erzählungen sind ebenso Ausdruck einer Kritik von Vernunft und Technik, die der Idee einer Vervollkommnung des Menschen hinterherjagen wie auch Ausdruck einer »Wehmut der Postfiniten, eine[r] Nostalgie gegenüber den Noch-nicht-Angelangten, jene[s] Landmann: EV. S, 17. An dieser Stelle drängt sich – als kritische Anfrage an Landmanns Kulturanthropologie – die Frage auf, ob und wer hier eine ›Totalität‹ erwartet und mit welcher Begründung und Legitimation. 551 Landmann: EuM, S. 86 f. 552 Landmann: Geschichtsphilosophie, S. 690.

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Nietzschesche[n] ›Neid[es] auf die Sehnsucht‹.«553 Je stärker dabei der technologische Fortschritt suggeriert, letztlich und irgendwann einmal auf den Menschen verzichten zu können, desto schmerzlicher klafft die Sinnfrage des Menschen und desto entschiedener wird die Perspektive auf ein Rettendes, das ihn wieder (wichtig und bedeut­ sam) sein lässt, auf ein nostalgisches Zurück verengt. »Diese Lücke und diese Melancholie wird das Zentralproblem künftiger Generatio­ nen sein. Sie werden ihren Blick zurückwerfen. Es wird unvermeidbar eine neue, motiviertere Romantik kommen.«554 »Melancholie der Erfüllung«: In der Melancholie haben wir das zentrale Stichwort, in der »Melancholie der Erfüllung« die auf Ernst Bloch zurückgehende555 Formel von Landmanns Kulturkritik. In ihr kehrt die doppelte Erbschaft und die Gebrochenheit der modernen Seele wieder: ›Erfüllung‹ eines Wunsches und Strebens ist ebenso Vision der Aufklärung wie ›Melancholie‹, d.h. hier, am Erreichten nicht froh werden zu können, das getrübte Pathos der Romantik. »In diesem Sinn ist ›Melancholie der Erfüllung‹ das geheime Schlüssel­ wort unserer Zeit. Denn wir leben im ›Zeitalter der Erfüllungen‹.«556 Mit dieser Diagnose gehen bei Landmann mindestens drei verschie­ dene Deutungen einher, die auf einem Kontinuum zwischen kulturan­ thropologischer Betrachtung und pessimistischer Endzeitstimmung Landmann: Es kommt nicht immer darauf an, S. 28. Ebd. 555 Vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen. Kap. 1–32. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 348 f., wo dieser schreibt: »Also gibt das Dunkel der Nähe auch den letzten Grund für die Melancholie der Erfüllung: kein irdisches Paradies bleibt beim Eintritt ohne den Schatten, den der Eintritt noch wirft. […] Ein Rest im Realisieren selbst wird auch dort noch gefühlt und liegt vor, wo angemessene Ziele realisiert wor­ den sind, oder wo monumentale Traumbilder mit Haut und Haaren, mit Leib und Seele in Wirklichkeit getreten zu sein scheinen. […] Gerade in der Melancholie der Erfüllung meldet sich genauso dies zutiefst noch nicht Erfüllte im Subjekt, wie sich das Unzu­ reichende im Fixierten des Ideals darin kritisiert«. 556 Landmann: AgV, S. 217. Vgl. dazu Adornos Schilderung seiner Erfahrung des sozusagen ›real existierenden Konsumismus‹: »Es steckt darin etwas vom Schlaraf­ fenland. Sie müssen nur einmal durch einen sogenannten amerikanischen ›super­ market‹, so einen dieser Riesenmärkte gehen, wie sie vor allem in den neuen großen Städten und Zentren des amerikanischen Westens sich finden, und Sie werden irgend­ wie – das Gefühl mag noch so trügerisch und oberflächlich sein –, Sie werden irgend­ wie das Gefühl haben, es gibt keinen Mangel mehr, es ist die schrankenlose, die voll­ kommene Erfüllung der materiellen Bedürfnisse überhaupt.« (Kultur und Culture. In: Ders.: Nachgel. Schriften. Abteilung V. Vorträge und Gespräche. Band 1. Vorträge 1949–1968. Hg. v. M. Schwarz. Berlin: Suhrkamp 2019, S. 162). 553

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liegen: Erstens finden wir die These, dass mit der Moderne das tatsächliche »Ende der Geschichte« und damit ihre absolute Erfüllung erreicht ist: Die Entstehung von Religionen und Metaphysiken ist nicht mehr an der Zeit; wir zehren nur noch von dem überkommenen Erbe. Die Kunst hat in hundert Stilen ihre Möglichkeiten durchgespielt. Techniken und Sozialeinrichtungen sind auf einem Höhepunkt. Die Wissenschaft wird über kurz oder lang das Erforschbare erforscht haben.557

Erfüllung bedeutet hier nicht nur das Erreichen eines konkret Ersehn­ ten, mit dem aber wiederum neu Ersehnbares in die Welt bzw. vor das Bewusstsein und Wollen tritt, sondern einen Zustand, der alle Ziele hinter sich gelassen hat und keinen Horizont für Variationen mehr aufspannt. Das »postkreative Zeitalter«558 ist zwar noch Produkt der kreativen Moderne, aber selbst ohne Inhalt und daher »ein trostloses Zeitalter, denn von ihm an gibt es keine Hoffnungen mehr.«559 Es ist zwar wichtig, aber nicht weiter fruchtbringend, den offenen Wider­ spruch einer solchen Diagnose zu Landmanns Kulturanthropologie des werdenden Menschen zu benennen. Interessanter erscheint mir, die Diagnose zu deuten als Versuch Landmanns, auf einen realen tiefgehenden Umbruch aufmerksam zu machen, mit dem das bishe­ rige Verständnis menschlicher Kreativität an seine Grenzen, an ein Ende gerät – und mit ihm die ihr entsprechende Menschseinsweise selbst. Wenn sich aber ein derartiger Kulturwandel tatsächlich voll­ zieht, so ist es konsequent, ihn nicht unter den bisher gewohnten geistigen Kategorien (Kreativität, Individualität, Geschichte, kulturel­ ler Wandel) zu begreifen, sondern indirekt anzudeuten, was einzig anzudeuten ist. Dass die Bande zur alten Welt jedoch auch und gerade für Land­ mann nicht völlig zerrissen sind, zeigt sich an seiner Kritik, mit der wir bei der zweiten Ausdeutung seiner Diagnose einer »Melancholie der Erfüllung« sind und die keineswegs bloße Andeutung bleibt: Halb triumphieren heute […] die 20er Jahre wieder und fordern das Gespensterrecht des Nicht-zuende-gelebten –, halb finden wir, im Rück- wie im Vorblick angstverwirrt, noch nicht wieder den Mut zu einem eigenen Weg und Stil. Der Geist aller früheren Epochen – 557 558 559

Landmann: Es kommt nicht immer darauf an, S. 28. Ebd. Landmann: PuA, S. 169.

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der Aufklärung und der Goethezeit, des 19. Jahrhunderts und der zwanziger Jahre – mischt sich in einem charakterlosen Epochenbrei.560

Landmanns Kritik richtet sich hier ebenso auf eine überhitzte, letztlich retrograde Kreativität wie auf eine übermäßig ängstliche und letztlich affirmative Zurückhaltung bezüglich der Ersinnung und Gestaltung eines Neubeginns. Seine Diagnose des postkreativen Zeitalters zeigt sich hier in der Gestalt einer Kritik sowohl an der seelisch-introver­ tierenden als auch an der kriminell-eskalierenden Schwundstufe des Individuums und seiner Kreativität: Das Zeitalter der Erfüllungen dagegen ist das Zeitalter der Neurosen, das Ultimum eine große psychotherapeutische Klinik. Für das Schick­ sal, das in seiner Barbarei noch ernst und wesentlich machte, kommt der verpütscherte Konfliktstoff von innen. Not stumpft gegen die wahren Probleme ab, Luxus brütet Quisquilien aus. Neben Morbidität und Wahnsinn eklatieren Bösartigkeit, Kriminalität, Selbstmord.561

Solcherlei Pathologien, bei denen dann wohl bereits von einer Zer­ brochenheit der modernen Seele gesprochen werden müsste, lassen sich durchaus deuten als misslingende Versuche, die doppelte Erb­ schaft produktiv um- und fortzusetzen. Dies gelingt dem Einzelnen offenkundig nicht ohne irgendeine Form der Selbstüberhöhung (und sei es die seiner Selbsterniedrigung), womit er aber gerade jene bei Landmann auch noch in seinen Endvisionen deutlich wirksame Größe eines Individuums verliert, das sich nur in produktiver Spannung zur Kultur verwirklicht. Damit sind wir drittens bei einer prophetischen Deutung, die die Potenziale selbst einer Melancholie der Erfüllung in den Blick zu nehmen wagt. Gerade weil insgesamt in Landmanns Spätschriften die Endzeitstimmung atmosphärisch dominiert, fällt es doppelt auf, wenn er an einer Stelle von der Melancholie der Erfüllung als der »Signatur unseres Zeitalters« spricht.562 Damit lässt sich nicht nur ein psychischer Zustand jenseits und nach der Melancholie, sondern auch ein kultureller Raum jenseits und nach der Erfüllung denken. Am

Landmann: Schopenhauer heute, S. XVI f. Landmann: EdI, S. 214. Auffällig ist hier, dass Landmann wie selbstverständlich essentialistische Kategorien (›wesentlich‹, ›eigentlich‹) verwendet. Es scheint, dass das, was er in seiner Formal-Anthropologie (dem Anspruch nach) an Essentialismus ausspart, hier, in seiner Kulturkritik, umso unverblümter zum Ausdruck kommt. 562 Landmann: JM II, S. 164. 560 561

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Beispiel der sich wandelnden Sexual- und Ehemoral deutet Landmann dies an, wenn er schreibt: Scheidung gilt weder religiös noch bürgerlich mehr als entehrend. Die Sexualität wird aus einem Problem zu einem Gefühl (Alex Comfort). Auch in dieser Hinsicht wie in mancher anderen leben wir heute im »Zeitalter der Erfüllungen«. […] Wir leben in einer Apokalypse, in der die Bindungen einer früheren Welt sich lösen und eingekerkerte Kräfte frei werden.563

Hier finden wir tatsächlich eine offenere, öffnende Deutung der Erfül­ lung, die jetzt nicht mehr darin besteht, dass ein ohnehin sich vollzie­ hender Prozess seine Möglichkeiten entfaltet und sich so vollendet, sondern im Gegenteil darin, dass ein Prozess überhaupt in Gang getreten wird durch die Überwindung konventioneller Hemmnisse und Zwänge. Erfüllung ist hier nicht die tragische Chiffre für ein nur noch melancholisch empfindbares Ende, sondern Metapher für die stets übersprudeln-könnende Kraft menschlicher Formgebung und -entfaltung. Als solche zeigt sie nicht wie eben noch, nüchtern bis resigniert, die Grenze der Anthropologie des werdenden Menschen an, sondern zeitigt umgekehrt prophetisch ihren Sinn: Der Mensch erfüllt seinen Auftrag, wenn wieder Schöpfungsmorgen ist bzw. wird. Sein Menschsein erfüllt sich anthropo-logisch betrachtet und faktisch in der Geschichte, sofern der Mensch stets neu ›an sein Ende kommt‹. Die Offenheit des Menschen, die bei Landmann zunächst der Last einer pessimistischen Kulturkritik zu erliegen droht, taucht als leise Hoffnung, als anthropologische Zuversicht wieder auf: Das Zeitalter der Erfüllungen ist auch ein Zeitalter der großen Abschiede. Die Geburt einer reineren Welt ist auch Apokalypse. Damit wiederholt es aber nur das allgemeine Gesetz, daß Schöpfen und Zerstören zusammengehören. Zerstören bereitet dem Schaffenden Boden, ist seine Bedingung, sein Weckruf. Auch das Schaffen selbst aber muß eo ipso zugleich zerstören, weil es den Platz des Bisherigen braucht oder es zumindest entwertet. Kreativität hat immer auch etwas Sakrilegisches.564

Im »Zeitalter des erzwungenen Glücks«: Diese anthropologische Rück­ bindung seiner Kulturkritik findet sich auch in Landmanns These, Landmann: Die Liebe im anthropologischen Rahmen, S. 165. Landmann: Neugestaltung der hebräischen Schrift. Mit einem Vorwort v. James W. Marchand. Bonn: Bouvier 1977, S. 211 [im Folgenden: NhS].

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die Gegenwart sei ein »Zeitalter des erzwungenen Glücks«. Die Ambivalenz eines Glückes, das gleichwohl erzwungen ist, erinnert einerseits an die der Erfüllung, die melancholisch stimmt, legt den Fokus aber doch stärker auf die heteronome Glücksforderung, die aus der Kultur an den Einzelnen herangetragen wird und die Land­ mann in einen Zusammenhang bringt mit dem Anspruch moderner Gesellschaften auf soziale Gerechtigkeit. Diese, »so scheint es, fordert Gleichheit. Für sie, so lautet die Folgerung, muß die Freiheit geopfert werden.«565 Dieser Hinweis auf die Antinomie von Freiheit und Gleichheit führt auf eine Kritik moderner Gesellschaften, die durch die kausale Verknüpfung von Gleichheit und Glück den (empfundenen) Mangel an Freiheit und das damit einhergehende Unglücksgefühl für irrelevant erklären, d.h. in krasser Formulierung: zum Glück zwingen. »Jeder darf und kann jetzt; dafür darf und kann er aber nicht nur, sondern er muß. Er darf vielleicht noch zwischen a und b wählen, darf aber weder beide ausschlagen noch c erfinden. Was braucht er noch frei zu sein, da er doch glücklich ist?«566 Dieser Zwang zu einem gewissermaßen auf Dauer gestellten Glück ist mit Landmanns Grundthese vom Menschen als einem unhintergehbar in Spannung befindlichen Wesen unvereinbar. Die Freiheit des Men­ schen ist seinem Glück dabei gar nicht v.a. als der an und für sich höhere Wert, sondern als ein Wert, der die Pluralität und Konflikthaf­ tigkeit verschiedener Werte, Mentalitäten und Lebensstile gelten lässt und letztlich bejaht, vorzuziehen. Wo dem Menschen nichts weiter abverlangt und zugetraut wird, als glücklich zu sein, vermag er auch nicht mehr, die faktischen Spannungen, die ja auch durch Wohlstand, Sicherheit und derartige Güter nicht aus der Welt sind, kreativ zu bewältigen. Seine Melancholie der Erfüllung kippt in eine Depression des Zum-Glück-Gezwungenen. Wo keine Wertordnung mehr regiert, trägt nichts mehr über das Opfer hinweg. Keine strenge Forderung ist mehr zumutbar; der moderne Name für die Versagungen, mit denen, die Forderung zu erfüllen, verbunden wäre, heißt Frustration, und Frustration darf keinem zuge­ mutet werden. Von dem, was einst gerechtfertigter Verzicht war, bleibt nur das empörende, unerträgliche Unlustgefühl zurück. Die, die einst in Entbehrungen glücklich waren, werden jetzt, unter gewandeltem

565 566

Landmann: AgV, S. 63. Ebd.

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Vorzeichen, im verwöhnenden Luxus wehleidig und krank. Das Ulti­ mum steht voll von Sanatorien.567

Obwohl ein erzwungenes Glück also nicht nur anthropologisch, sondern auch faktisch nicht zu bewerkstelligen ist, ja geradeaus ins Gegenteil führt, hält Landmann bezeichnenderweise daran fest, dass der hohe Preis zunehmender Angleichung des Unterschiedlichen zu zahlen sei. Daß mit der sozialen und ökonomischen Ungleichheit auch die der Seele und des Geistes weggehobelt wird, mögen manche zwar bedau­ ern, es ist jedoch um der Gerechtigkeit willen unerläßlich und muß in Kauf genommen werden. Dies wird das unbefragt zugrundeliegende Dogma des neuen Zeitalters sein.568

Dies mag zwar allzu resignativ anmuten, ist aber insofern konse­ quent und aufschlussreich, als Gerechtigkeit und Gleichheit ja selbst hochrangige Werte sind, auf deren Verwirklichung Menschen ein anthropologisches und moralisches Recht besitzen und deren ganze Entfaltung ohne eine gewisse Dogmatik, die andere Werte geringer schätzt oder ganz ausschließt, nicht zu haben ist. Insofern, aber auch nur insofern, ist der reale und empfundene Zwang zum Glück notwendiger Effekt kulturellen Wertewandels, der Einsatz für etwas wie ein ›Recht auf Unglück‹ jedoch deswegen nicht weniger legitim. Die »komputeristische Demütigung« und »homo vulgaris«: Etwas anders ist die Situation einzuschätzen, wenn nicht mehr Wert gegen Wert steht und Menschen sich zu entscheiden haben, welchen der Werte (welche der Welten) sie vorziehen möchten, sondern eine nicht-menschliche Instanz anstelle der Menschen für diese das Wert­ ereich ausmisst und nach eigenen Kriterien aus ihm wählt. Dieses Szenario finden wir in Utopien und Dystopien künstlicher Intelligenz, bei denen nicht nur die möglichen Gefahren einer Einfluss- und Machtübernahme durch Technik eine Rolle spielen, sondern auch die (Selbst-)Kränkung des Menschen, womöglich nicht das einzige Wesen zu sein, das zu Gedanken, Ideen, Empfindungen, Wahrneh­ mungen, Erfindungen von menschlicher Qualität fähig ist. Zu den bekannten Demütigungen – die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Universums, der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, der Mensch ist nicht ›Herr im eigenen Haus‹, die Geschichte ist nicht auf 567 568

Landmann: Sinnverlust und Eudämonismus, S. 162. Landmann: AgV, S. 63.

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ein gutes Ziel hin gerichtet – »trat nun in unserer Zeit noch als fünfte die komputeristische: unser Denken bildet kein humanes Privileg, unser Psychisches insgesamt ist nichts Subjektives, nichts Naturent­ hobenes; es läßt sich maschinell einholen und übertreffen.«569 Dass die verschiedenen Kränkungen dabei, was die Demütigung bzw. das Demütigende selbst betrifft, tatsächlich verblüffende Ähn­ lichkeiten aufweisen, lässt sich an einer kurzen Sequenz aus einem fiktiven Gespräch zeigen, in dem Landmann einen Computer mit einem Menschen über dessen berufliche und private Zukunft sprechen lässt und in dem der Computer sagt: »Was weißt du von deinem Glück!? In meinen Röhren ist Erfahrungsmaterial aus Jahrhunderten gesammelt. Aus ihm geht hervor, daß du, wenn wir dir deinen Willen ließen, dich selbst und andere nur unglücklich machen würdest.«570 Wie bei den vorherigen Kränkungen wird der Einzelne auf das Über­ gewicht und die höhere Weisheit eines ihn Übersteigenden verwiesen. Sei es die Unendlichkeit des Universums, die Linie der Evolution des organischen Lebens, das tiefe und dunkle Unbewusste der Triebe, die ›ewige Wiederkunft des Gleichen‹ in der Geschichte oder eben das gesammelte und per Knopfruck abrufbare Wissen der Menschheit. In dem Maße, in dem der Mensch sich selbst (als solcher oder in einem seiner Charakteristika) überhöht, setzen ihn gerade solche Kränkungen an Ort und Stelle zurück. Aufschlussreich ist dabei, die Reflexion der ›anthropologischen Kränkungen‹ in den Kontext der je relevanten Bezugswissenschaft für die anthropologische Forschung zu stellen. Mit der Biologie (und insbesondere der vergleichenden Tierforschung) trat im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eine Wissenschaft in den Fokus, die den Menschen vorwiegend mit dem Tier (mit anderen Tieren) sich vergleichen ließ, wobei eine der Fragen war, ›ab wann‹, also bei welchen Primaten evolutionsbiologisch vom Menschen, von ›homo sapiens (sapiens)‹ zu sprechen und wie dies zu begründen ist. Dage­ gen verschiebt sich die Problemstellung mit der Geschichte als pri­ märer Bezugswissenschaft und der Fokus richtet sich stärker auf den Menschen in der synchronen und diachronen Vielheit seiner Landmann: Cultura formans als Faktor der Menschwerdung – ein Kapitel der philosophischen Anthropologie. In: Der Mensch zwischen Geist und Materie? Achte Rechenschaft. Das Bild vom Menschen, wie ist es heute, wie soll es werden. Hg. v. Balthasar Staehelin, Silvio Jenny u. Stephanos Geroulanos. Zürich: Editio Academica 1978, S. 174 [im Folgenden: Cultura formans als Faktor der Menschwerdung]. 570 Landmann: AgV, S. 51, Herv. F.S. 569

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Erscheinungen – und damit auch auf die Frage, wie mit (so benannten) Inhumanitäten deutend und praktisch umzugehen sei, das heißt, ›wie lange noch‹ resp. ›wie weit noch‹ guten Gewissens vom Menschen gesprochen, was alles in den Rahmen von ›Humanität‹ integriert werden kann. Beides kommt in der Spätmoderne zusammen, sofern die Kognitions- und Informationswissenschaften – neben anderen – wichtige Bezugsdisziplinen der Anthropologie geworden sind, was der anthropologischen Kränkung und Problemstellung in etwa die folgende Form gibt: ›Wie lange‹ (im Kontinuum Mensch-Maschine, das heißt menschlicher Künstlichkeit und technologischer Künstlichkeit) und in welchem Sinne können, wollen, sollen, müssen wir noch vom Menschen sprechen? Dies jedoch hat im Falle künstlicher Intelligenz eine erhöhte Dramatik insofern als die Zurechtweisung des Menschen hier durch sein eigenes Produkt erfolgt, das er vollständig und ganz allein zu verantworten hat. Seine Neuverortung in der Welt wird nun nicht mehr nur durch etwas außerhalb oder in ihm Liegendes, das er lediglich (immer besser) erkennt und entdeckt, stimuliert, sondern durch etwas von ihm eigens Hergestelltes, das ihn dann doch übersteigt und provoziert. Die immense Herausforderung des Kulturellen als solchen, dass der Mensch sich in ihm wiederfinden soll, ohne sich dabei selbst zu verlieren, spitzt sich zu im Szenario, dass einst die Mensch gewordene Maschine den Menschen, der sie erschuf, nicht mehr erkennt und ach­ tet. Selbst noch in einer solchen Dystopie erhält sich der Selbstbezug des Menschen, der offen-sichtlich lieber alles Negative, das er von sich selbst kennt, auf die Maschine überträgt als sich diese ganz anders vorzustellen – was wohl, wo es nicht gelingt, sich auch selbst als ganz anders zu visionieren, eine noch tiefere Selbstdemütigung bedeuten würde. Umgekehrt wirken reale Effekte der Maschine positiv wie negativ auf den Menschen zurück. Das hochvervollkommnete Hilfsmittel bietet die Chance, daß dort, wo bisher noch Subjektivismen regierten, in höherem Maß wirkliche Vernunft regiert. Das bessere Instrument wirkt auf seine Benutzer zurück. Es bietet freilich auch die Möglichkeit, daß Willkür sich als Vernunft tarnt und so mit doppelter Frechheit auftritt.571

Dieses ambivalente Doppelpotenzial eignet der menschlichen Ver­ nunft als solcher und nicht erst ihrem hochspezialisierten Produkt 571

Landmann: AgV, S. 50.

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künstlicher Intelligenz. Insofern sind die auf letztere projizierten Ängste bereits deutlich älteren Datums und richten sich auf etwas, das Ortega y Gasset den »homo vulgaris« nannte: »Der homo vulgaris, das ist nach ihm der Mensch, der von allem nur die Resultate abschöpft, aber kein Interesse und kein Verständnis dafür hat, auf welchen Fundamenten sie beruhen und auf welchem Wege sie zustande gekommen sind.«572 Das heißt aber, dass sich in Computern nicht nur Potenziale für den materiell-zivilisatorischen, sondern auch für den geistig-anthropologischen Fortschritt sammeln, indem der Mensch sich an ihnen als einem Gegenüber, das er ist und nicht ist, seiner selbst positiv wie negativ, konstatierend wie visionär vergewissern kann. Glaubte er bisher vielleicht, wie von selbst das nicht nur Resul­ tate abschöpfende Wesen zu sein, so spiegelt ihm sein eigenes Produkt indirekt wie in einem Zerrbild seiner selbst, dass er als Mensch genau darin, nicht nur ›homo vulgaris‹ zu sein, eine ebenso zentrale wie zu schützende Bestimmung hat. Nur weil und so lange er seine Geschichte verlieren könnte, hat er sie auch. Das »Planetarwerden der europäisch-amerikanischen Kultur«: Dass die Technologien (in) der nachklassischen Zeit zwar ihr imma­ nentes Potenzial für den zivilisatorischen Fortschritt, damit aber nicht automatisch auch ihr sozial-kulturelles Potenzial für den ›humanen‹ Fortschritt entfalten, hat einen seiner tiefen Gründe darin, dass sie als solche auf maximale Reichweitenvergrößerung und Quantifizierung von Qualitäten tendieren, wogegen Kulturelles sich als Gewachse­ nes gerade durch Besonderheit auszeichnet und durch Besonderung erhält. Mit dem »Planetarwerden der europäisch-amerikanischen Kultur« ist entsprechend notwendig die Gefahr einer Uniformierung der Kulturen verbunden, durch die sie »ihr Spezifisches, ihre Son­ dertradition, ihre eigene Mentalität«573 verlieren. Nun ist zwar die Würde des kulturell Besonderen ein zentraler Wert auch und gerade der ›westlichen Kultur‹, nicht aber ihrer quantifizierenden Vernunft Landmann: MSGK, S. 181. Landmann: JM II, S. 144. Ob und wieweit sich von einer ›europäisch-amerikani­ schen Kultur‹ (und dann von deren ›Planetarwerden‹) sinnvoll sprechen lässt, sei hier dahingestellt – heute steht hierfür ›Globalisierung‹. Anders als Landmann schätzt beispielsweise Adorno die Situation Mitte der 1950er Jahre (also ca. 30 Jahre vor Erscheinen von Landmanns Jüdischen Miniaturen) so ein, »daß die geschichtliche Gesamttendenz auf eine Amerikanisierung von Europa herausläuft, zu der man kri­ tisch stehen mag, so sehr man nur will, die man aber zunächst jedenfalls als eine für Europa entscheidende Tatsache anzuerkennen hat« (Kultur und Culture, S. 173). 572

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als der wirkmächtigsten Kraft jener Planetarisierung, durch die »das Gewachsene, das Emotionale, die von der des Westens unterschiedene Rangordnung der Werte«574 rationalisiert und damit als Qualitäten zerstört werden. Ein Grund für die erschreckend ausbleibende Selbst­ zähmung jener zerstörerischen Kraft der Vernunft ist mit Landmann in der Schwäche resp. Krise jener ihr opponierenden Instanzen zu sehen. Der Prozess der Expansion der technischen Güter geschieht im Augenblick, in dem der Westen den Glauben an seine eigenen Werte verliert […]. Aus praktischen Gründen siegreich, stößt er bei denen, die bei ihm in die Schule gehen, auf wachsende Skepsis, und diese Skepsis teilt er selbst. Er dringt vor als Zivilisation, aber löst Unbehagen und Abwehr aus als Kultur.575

Anstatt sich von der Tatsache, dass ein materieller Kulturwandel allein weder seine eigene Deutung noch neue Werte gewährleisten oder gar erzeugen kann, ermutigen zu lassen zur aktiven Gestaltung einer Zukunft, wie einzig der Mensch sie vermag, zieht er sich in Skepsis zurück und überantwortet sich einem vermeintlich unentrinnbaren Weltschicksal, das er zwar retrospektiv, aber nicht mehr prospektiv zu verantworten wagt. Die florierenden, detailbverliebt ausdifferen­ zierten Theorien einer wie auch immer gearteten Verschwörung sind insofern vielleicht nur Extremformen eines Fatalismus, dem der Einzelne »zum berechneten Element einer großen Manipulierung wird«.576 Als letztverbliebene, verzweifelte Deutung bildet Fataslis­ mus eine »Gefahr der technischen Zivilisation überhaupt«, der nur im planetaren Ruf, im Anspruch, für den Einzelnen »einen Raum der selbständigen Entscheidung und der unberührbaren Würde aus­ zusparen«577 etwas entgegengesetzt werden kann. Insofern es in der Geschichte begrüßenswerterweise nicht zurückgeht, bleibt die Spannung zwischen kultureller Besonderheit und universalisierender Vernunft auch noch in der Kritik an den giftigsten Früchten der letzteren erhalten. Ausblick – Geistesgeschichtliche Lehrsiedlungen und Neugründung von Kulturen: Die Chancen der unifizierten Welt auf ›sekundäre‹ Differenzierung und Pluralisierung stehen bei Landmann nicht in 574 575 576 577

Landmann: JM II, S. 145. Ebd., Herv. F.S. Landmann: PA, S. 52. Ebd.

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einem strengen Widerspruch zur Vernunft als solcher, sondern for­ dern dieser – wie wir bereits im vorigen Kapitel sahen – vielmehr ab, sich selbst ihrer vielfältigen Formen bzw. Kräfte zu besinnen, die in einer durch Wissenschaft dominierten Zeit unhintergehbare Grundlage jeglichen kulturellen Wandels bleiben, soll dieser nicht in irrationalistische Willkür abdriften. Mit der Unterscheidung verschie­ dener Vernunftkräfte wird auch die technologische Einheitskultur als vorübergehendes Produkt eines Prozesses denkbar, in dem die quantifizierend-vereinheitlichende Vernunftkraft ihre Potenziale in alle Richtungen entfaltet, ohne damit notwendig die Wirkmächtigkeit der anderen Vernunftkräfte endgültig und vollständig zu unterbin­ den.578 Eine solche Pluralisierung kann, wie es Landmann zufolge für kulturellen Wandel als solchen gilt, einzig gelingen; d.h. günstige Kulturbedingungen müssen mit einem diesen gemäßen Engagement des Menschen zusammentreffen. Zu ersteren gehört die Beweglich­ keit der kulturellen Formen, d.h. ihre Zugänglichkeit und Offenheit für Re-kreation; zu letzterem gehört die Regsamkeit jener Vernunft­ kräfte, aus deren Aktivierung die Aus- bzw. Umgestaltung der Einheit in eine Vielheit hervorgehen kann. Wir erinnern uns an Landmanns Verbildlichung der Vernunftkräfte an der menschlichen Hand und haben so sehr plastisch vor Augen, dass für eine zunehmende Reg­ samkeit all ihrer kreativen Glieder die Beweglichkeit ihrer uniformie­ renden Glieder eingeschränkt werden muss. Am Schmerz, der diese Selbsteinschränkung einer globalisiert-unifizierten Kultur in ihren ›Trägerinnen‹ auslöst, werden diese überhaupt spüren und lernen, wie tief sie geprägt (worden) sind von einer sich als das Ganze des Men­ schen ausgebenden Teilkraft seiner Vernunft. Sie werden sich, und hier erhält Landmanns Vision einen globalisierungs- bzw. gegenüber der politisch-kulturellen Expansion ›des Westens‹ kritischen Duktus, ganz praktisch zurückziehen müssen, um Platz zu machen, der ihnen nie gehörte und nie gehören darf: In künftigen Jahrtausenden wird man vielleicht sogar dazu übergehen, so wie man früher Städte und Staaten gründete, Kulturen zu gründen, damit des Menschen allerhöchste Kraft, die kultur-schöpferische, nicht mehr nur dort zum Zuge komme, wo zufällig noch ein Punkt des Arbeitseinsatzes für sie freigeblieben ist, sondern damit sie planmäßig immer mehr ausgenützt werde. Statt sich planetarisch auszubreiten und zu vereinzigen, müßten die bestehenden Kulturen sich im Gegen­ 578

Vgl. Landmann: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum, S. 553.

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7.6 Charakteristika nachklassischer Kultur

teil einschränken, um auch noch anderen einen Entfaltungsraum zu gönnen. Immer neue Kulturen müßten in einem noch entwicklungs­ trächtigen Frühstadium angesetzt und dann gegen die Umwelt abge­ schirmt und sich selbst überlassen werden.579

So schillernd hier die Rede ist von ›man‹ und den ›bestehenden Kultu­ ren‹, so unverkennbar ist doch gleichzeitig das Plädoyer nicht nur für den Schutz bestehender, sondern – und dies ist entscheidend – auch für die Gründung neuer Besonderheiten. Dass sich die Schützensund Achtenswürdigkeit der Kulturen mit ihrer mittleren Reichweite in zeitlicher und räumlicher Hinsicht nicht wiederspricht, wird im folgenden, streng betrachtet paradoxen Bild deutlich: »Kulturen sind Lösungen des menschlichen Rätsels. Aber sie sind keine definitiven Lösungen, die das Rätsel ein für allemal zum Verschwinden brächten. Wir sahen ja, daß immer neue Lösungen kommen müssen.«580 Und doch sehen wir es allzu oft nicht und erliegen der naheliegenden Vor­ stellung, zu einem Rätsel könne es auch nur eine Lösung geben. Die­ sem anthropologisch begründbaren Trugschluss erliegt umso mehr eine Kultur, die sich durch ihre technisch-wissenschaftlichen Erfolge immer wieder ihrer Wahrheit, Rechtmäßigkeit, universellen Macht, Allgültig- und Allgütigkeit vergewissern zu können, zu dürfen, zu müssen glaubt. Sie nimmt sich zeitlos und bedarf insofern umso mehr verschiedener Strategien zur Schärfung ihres Kulturbewusstseins, zur Vergewisserung eigener Kontingenz, die mit der Gewordenheit und Verlierbarkeit des Selbstverständlichen auch die Notwendigkeit einschließt, es auf seine Tragfähigkeit und Rechtmäßigkeit immer wieder zu überprüfen. Was eine entsprechende Praxis betrifft, schlägt Landmann vor, jede einzelne Einrichtung – vom Bildungswesen bis zum zoologischen Garten, von der Demokratie bis zu den Badesitten, von den Formen der Geselligkeit bis zur Post – [müsste] auf ihre geschichtliche Tiefe hin

579 Landmann: MSGK, S. 74 f. Angesichts des Klimawandels resp. der Klimakata­ strophe und der damit einhergehenden geographischen, sozialen, politischen, gesamt­ kulturellen Verschiebungen, Knappheiten von Ressourcen und überhaupt Herausfor­ derungen erscheint diese für sich genommen etwas abenteuerliche Aussicht Landmanns gar nicht mehr so unrealistisch, wenngleich sie bei ihm natürlich ganz anders begründet, gerahmt und also auch dezidiert positiv konnotiert ist – eben als proaktive Kulturinitiative und nicht als Reaktion auf menschlich verursachte Natur­ veränderungen im Modus von Schadensbegrenzung. 580 Ebd., S. 75.

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7. Kulturalität

angeleuchtet und gezeigt werden, wie das Leben früher verlief und wie es dann zu diesen Einrichtungen kam.581

Landmann geht noch weiter; und was man auch vom folgenden Vorschlag konkret halten mag, zweifelsohne spricht aus ihm das volle Pathos eines Philosophen, dessen liebevolle Hinwendung zur diaund synchronen Pluralität menschlicher Lebensformen auch nicht davor zurückschreckt, kurzweilig von der stets sich wahr und wichtig vorkommenden Gegenwart abzutreten in eine Vergangenheit, die – in einer räumlichen Schau – lediglich neben dieser erscheinen kann und als solche gewissermaßen wahr geblieben ist. Umso mehr einer restund rastlos ungenügsamen Gegenwart, deren Vernunft sich nicht an ihren Erfolgen zu freuen weiß, kühlt sie heilsam die erhitzte Stirn: Man müßte mit einem geschulten Stab von Mediävisten Filme aus dem mittelalterlichen Alltag drehen, ja die Mediävisten müßten sich selbst in geistesgeschichtlichen Lehrsiedlungen vorübergehend mittelalterli­ chen Lebensbedingungen unterwerfen. Erst auf der Kontrastfolie des Fremden schätzt man wieder, was man selbst ist und besitzt.582

Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung 7.7 Kulturbewusstsein zur Aufklärung des Menschen über sich selbst Von hier aus wird verständlich, dass Kritik bei Landmann weder als solche bereits auf der Seite des menschlichen Fortschritts steht oder diesen garantiert noch Aufklärung, in deren Namen sie auftritt, sich darin erschöpft, die Gegenwart zugunsten einer besseren Zukunft Landmann: MSGK, S. 178. Ebd., S. 177 f. Neben dieser Option, am Fremden sich des Eigenen in seiner Nicht­ selbstverständlichkeit und damit positiven Wertigkeit bewusst zu werden, verweist Thomas Bauer auf eine weitere, bei der das Eigene ebenso ›entselbstverständlichkeit‹, aber damit eben in seiner positiven Wertigkeit (mindestens) problematisch wird. So ließe sich, was kulturelle Ambiguität betrifft, »von vormodernen Gesellschaften ler­ nen, in denen über lange Zeit eine sehr ambiguitätstolerante Mentalität herrschte. Dort wurde Ambiguität nicht nur geschätzt und gepflegt, sondern regelrecht eingeübt, fand sozusagen ein ständiges ›Ambiguitätstraining‹ statt. Vorrangige Trainingsfelder sind jene Bereiche, die sich traditionell durch große Ambiguität auszeichnen, also Kunst, Musik, Literatur und Verwandtes« (Bauer: Die Vereindeutigung der Welt, S. 95 f.). 581

582

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7.7 Kulturbewusstsein zur Aufklärung des Menschen über sich selbst

überwinden zu wollen. Beide für die ›westlichen Kulturen‹ zentralen Begriffe gewinnen breiteren Sinn, wenn man wie Landmann von der Illusion als menschlicher Grundsituation ausgeht. Kultur als »illusorische Heimat«, Kulturbewusstsein als Errungen­ schaft: Die Täuschung des Menschen über sich selbst hat eine ihrer Wurzeln und eine ihrer Funktionen in einem Anthropomorphismus, der kulturgeschichtlich in seinen inhaltlichen Ausgestaltungen vari­ iert, dabei aber durchweg die Funktion erfüllt, den Menschen in der Welt zu beheimaten. Er wirkt dabei nicht erst nachträglich, um die »unbestehbare Fremdnis zu entschärfen und sie in unsere Weltund Lebensordnung zu transponieren«, sondern »in unserem Erleben apriori, de prime abord, und stellt uns so von vornherein, ohne daß es zur Fremdbegegnung überhaupt käme, in eine – wenn auch illusionäre – Heimat.«583 Landmann spricht an anderer Stelle von einem »lebensbedingte[n] Illusionismus […], [d]enn begänne man gleich schon ohne Illusionen, dann wäre das Leben unlebbar.«584 Was erst und nur der Geist als Täuschung zu betrachten vermag, ist dem Leben, ist im Erleben zunächst einmal ›nichts als Evidenz‹. Dies führt auf die Frage, wie und warum überhaupt der Mensch diese unproblematische Evidenz hinterfragt bzw. auf die anthropologische Einsicht, dass die faktische Pluralität des Menschen auf seine Plastizität zurückzuführen und d.h. seine Welteingepasstheit eine Illusion ist. In der Kritik wie der Praxis – als zwei Formen kreativen Schöpfertums – folgen die Momente der Beheimatung und der Entfremdung (Entheimatung) bemerkenswert dicht aufeinander: Die Schaffende ist heimatlos; aus der Heimat vertrieben, wird sie schaffend; sie muss, um sich schöpferisch zur Erkenntnis oder Praxis veranlasst zu fühlen, »zunächst immer eine Lücke und eine Fremdheit fühlen.«585 Und doch muss ihr, um nicht nur veranlasst sein, sondern tatsächlich kreativ tätig werden zu können, wenigstens die Möglich­ keit aufscheinen, sie könne sich im anvisierten Werk, im geahnten Gedanken neu beheimaten, wenigstens ihrer selbst, und sei es auch ihrer Heimatlosigkeit, tiefer oder wahrhaftiger vergewissern. Der Wahrheits- und Notwendigkeitsschein einer kulturellen Form oder einer Weltanschauung, gegen den sich die Kritik gerade richtet, geht vermittelt auf diese selbst über; et vice versa: wenigstens das Wissens­ 583 584 585

Landmann: Plädoyer für die Entfremdung, S. 142. Landmann: Berliner Rückblenden, S. 690. Landmann: EuE, S. 253.

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verlangen, das als Agens einer jeden Erkenntnissuche und Kritik diese in Bewegung versetzt, beansprucht eine gewisse Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit, andernfalls verblasst es oder zieht sich zurück. Und damit nicht genug der schwindelerregenden Dynamik von Zweifel und Gewissheit: In jenem Prozess, in dem sich die Denk- resp. Schaffensbewegung im Gedanken bzw. Werk ordnet und verfestigt, überträgt sich auch ihre ›Selbstgewissheit‹ auf den entstehenden Gedanken bzw. die vollendete Kulturform und verliert damit ihre Energie als subjektive Gewissheit bzw. Ungewissheit an ein Objekt, das irgendwann unbefragt, d.h. unbewegt als Wissen resp. Sein Geltung erlangt. Damit vermag es zwar, als Wissen bzw. Sein, also seinem definitorischen Inhalt bzw. seinem kulturellen Sinn nach, zu funktionieren, aber weder über den historischen Ort und Sinn seines Herkommen noch über seine künftige Legitimität oder Sinnmäßigkeit Auskunft zu geben. Die ursprüngliche Heimatillusion hat sich über die Such- und Fragebewegung des sich problematisch werdenden Menschen hinweg in eine zweite Heimatillusion im Aggregatzustand des Instituierten gerettet. Es ist, als ob Einsicht in die Notwendigkeit einer Institution nur das Agens sei, das sie herbeiführen soll, und als ob diese Einsicht auf der subjektiven Seite verschwinden müßte, sobald sie sich ins Objektive niedergeschlagen hat. Sie ist nur eine Begleiterscheinung des Entstehens der Institutionen. Was schon zur bleibenden Form geronnen ist, das kann lange nicht mehr so gut über sich selbst Bescheid geben wie das, was erst zur Form werden will.586

Kulturwissenschaft als geistige Arbeit am Menschsein: Aus dieser kul­ turell-geistigen ›Tragödie‹ gibt es kein grundsätzliches Entkommen. Jedoch ist es paradoxerweise genau mittels des Geistes, der sie – zumal seit der Moderne – mitzuverantworten hat, möglich, das eigene Kulturbewusstsein zu schulen. Dies ist umso dringlicher, als wir Men­ schen tendenziell dem Vorurteil einer natürlichen Kultur verfallen, »und weil wir an diese ›natürliche Kultur‹ glauben wollen, sträuben wir uns innerlich gegen das Wissen um die geschichtliche Entstanden­ heit aller Kultur.«587 Diese Kontingenzverweigerung des sog. westli­ chen Menschen passt verdächtig gut zur Heimatvorgeblichkeit und 586 Landmann: Kulturbewusstsein. In: Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rot­ hacker. Hg. v. G. Funke. Bonn: Bouvier 1958, S. 110 [im Folgenden: Kulturbewusst­ sein]. 587 Ebd., S. 103.

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7.8 Die Bedingung der Möglichkeit von Kulturkritik als ihre (heilsame) Grenze

(vermeintlichen) Allgemeingültigkeit seiner Kultur.588 Entsprechend, so fordert Landmann, müsse »unser kulturgeschichtliches Wissen für unser kulturelles Leben fruchtbar« (gemacht) und die Kulturhistorie »eine prägende Macht unseres Zeitbewußtseins werden.«589 Dies nicht zuletzt, um auch einer vorschnellen Kritik, d.h. einer Kritik, die ein Konkret-Kulturelles bereits deshalb verwirft, weil seine Funktion oder sein Sinn nicht offen zutage liegen, ggf. Gründe für den Erhalt oder wenigstens die Variation des Kulturellen anbieten zu können. Um diese Gründe wie auch die Bedingungen der Entstehung des Kulturellen (als eines einst kreativ Ersonnenen) aufzudecken, müss­ ten Kulturhistoriker bzw. generell die daran Interessierten die oben beschriebene Dynamik der Sinnverflüchtigung zurückverfolgen: [S]ie müssen vom Endzustand der Tradition im Geiste nochmals zum vortraditionellen Anfangszustand zurückkehren und von dort her das blaß gewordene Bewußtsein und Ethos, das sich damals mit dem Tra­ dierten verband, auffrischen und in die Gegenwart herüberholen. Der sich normalerweise durchsetzenden Tendenz zur Entbewußtwerdung müssen sie gewaltsam entgegenwirken und ihre Arbeit gleichsam wie­ der aufdröseln. Wie es die Philosophie oft für sich in Anspruch nahm, daß sie einen erhöhten Bewußtseinszustand herstelle, so müssen auch sie hinsichtlich der Kulturwerke klares Bewußtsein darüber anstreben, warum das Weiterbestehenlassen derselben sich lohnt.590

7.8 Die Bedingung der Möglichkeit von Kulturkritik als ihre (heilsame) Grenze Damit ist die Bedingung der Möglichkeit von Kulturkritik bereits angedeutet und mit bzw. in ihr zugleich ihre Grenze. Setzt die Erkenntnis von etwas, d.h. die Identifizierung von x als y, ein Subjekt des Erkennens wie auch einen Gegenstand, der erkennbar ist, voraus, so tritt in der Kritik das Moment der Unterscheidung hinzu, d.h. der Erkenntnis von x als y und z oder von x als nur dann y, wenn auch z 588 Vgl. Landmann: MSGK, S. 173: »Unser Kulturgedächtnis ist von erschreckender Kürze. Wir sind wie verwöhnte Kinder, die gar nicht wissen, wie verwöhnt sie sind, und glauben, der Luxus, in dem sie groß werden, sei allgemein«. 589 Ebd., S. 177. 590 Landmann: Kulturbewusstsein, S. 111. Ähnlich brachial wie hier von einer ›gewaltsamen Entgegenwirkung‹ spricht Landmann an anderer Stelle vom ›Durch­ hauen des unlöslichen gordischen Knotens‹ (vgl. SaW, S. 68 f.).

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oder von x als nicht-y, aber z usw. Die Phantasie der Erkenntnis wird dabei ebenso von der stets nur perspektivischen Selbstoffenbarung der Weltdinge befeuert wie aus der geheimnisvoll freien, spekulativen Mutmaßung über verborgene Wirklichkeiten. »Ehrfurcht vor der Maske«591: In der Geschichte der Anthropo­ logie gibt es von Beginn an eine bemerkenswerte Verquickung von Erkenntnis und Schöpfertum, die sich, bei aller historischen Feinjus­ tierung, bis in unsere Tage gehalten hat. Sie beginnt spätestens bei den Sophisten, die erkennen, dass das vermeintlich Naturgegebene Produkt menschlicher Schöpfung ist.592 Von hier aus ist Landmann zufolge die nachfolgende Bestimmung des Menschen zum ›animal rationale‹ (Aristoteles) als ein kulturanthropologischer Rückschritt anzusehen. Der Fehler liegt nicht darin, die menschliche Welterkennt­ nis zu betonen, sondern ihre Bedingung zu übersehen: d.i. die ihr zugrundeliegende Fähigkeit und Notwendig des geistig-schöpferi­ schen Aufbaus der Welt. Anders als ein ›animal rationale‹, das mittels einer isolierten Vernunft die Welt erkennt so wie sie ist, erschafft das ›animal creationale‹ eine Welt, die es außerdem insofern zu erkennen vermag, als sie seiner Vernunft, die weltschöpferisch mit tätig war, nicht gänzlich fremd werden kann. Und nun gehört es zu den Paradoxien des Menschen, dass er zwar über ihre Verfremdung die Dinge der Welt erkennt, sie ihm darin aber als Lebensdinge fremd werden. Je tiefer sie sich aber dem Lebewesen Mensch entfremden, desto stärker entzündet sich an ihnen sein Wissensverlangen. Weil der neuzeitliche Mensch zwar immer mehr wissen will, dabei aber einzig seine verkürzt aufgefasste Vernunft noch als Wissensquelle gelten lässt, ist die Neuzeit das »›Zeitalter der Verdächtigung‹»593 par excellence. Selbst in einem dezidiert kritisch engagierten Projekt wie Kants Kritik der reinen Vernunft trägt sich, wie bereits weiter oben gesagt, der Vernunftstolz fort, ist es doch – und scheinbar unproblematisch – die Vernunft, und nichts als die Vernunft, die sich Grenzen setzen zu können glaubt und erlaubt. 591 Vorwort des Herausgebers. In: Macht der Masken. Des Menschen Lust an Theater und Verwandlung. Herderbücherei Initiative 48. Hg. v. G.-Kl. Kaltenbrunner. Freiburg u.a.: Herder 1982, S. 9: »Doch all dies [Entlarvung, Demaskierung u.Ä., Anm. F.S.] bedarf eines Gegengewichts, um nicht in Zerstörung zu entarten. Dieses Gegenge­ wicht hat viele Namen: Religion, Kultur, Überlieferung, Scheu vor dem und Freude am figürlichen Schein des Kosmos. Ein weiterer Name heißt: Ehrfurcht vor der Maske«. 592 Vgl. Landmann: Dialektik der Entlarvung, S. 144. 593 Ebd., S. 146.

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Um nicht missverstanden zu werden: Nicht etwa gehen in der am Ideal der Naturwissenschaft orientierten Neuzeit die Weltdinge als solche der Erkenntnis verloren; sie werden aber – und dies ist vielleicht noch problematischer – von ihr reduziert »auf ›nichts anderes als‹, auf ›nur‹ das Gröbste, Materiellste.«594 Diese Tendenz greift seit dem 19. Jahrhundert über auch auf die vom Erfolg der Naturwissenschaften beeindruckte Geistes- und Kulturwissenschaft, die nun beweisen möchte, »daß auch sie es mit einer Art der Natur zu tun hat«595 und nach dem Vorbild der Naturwissenschaft »im Dienste der Demaskierung«596 antritt, um selbst wieder zu alter Größe zu gelangen. Was aber der Erkenntnis nun von den Weltdingen aus nicht mehr zuströmt (bzw. von ihr nicht als erkenntnisfördernd angenommen wird), überträgt sie nun aus ihrem eigenen Repertoire auf die Weltdinge und macht sie sich so gefügig. Um wiederum nicht missverstanden zu werden: Im Verdachts­ moment neuzeitlicher Wissenschaft erfüllt sich einerseits gerade Landmanns Anspruch, den Menschen und die Weltdinge sich nicht in dem erschöpfen zu lassen, als das sie sich ausgeben. Andererseits aber scheint sich allzu viel Selbstgewissheit von den Dingen auf ihre Kritik mittels Erkenntnis zu übertragen. Der Verdacht scheint sich selbst völlig unproblematisch und gar nicht selbst verdächtigungs­ würdig zu sein, was sich – analog zur Vernunft bei Kant – einmal mehr darin bestätigt, dass er sich wenn überhaupt nur von sich selbst verdächtigen lässt. Doch nicht nur spricht die Vernunft den Weltdingen ihr kündendes Potenzial ab, sie unterstellt ihnen sogar – indem sie sie dann doch vergeistigt dort, wo es ihr nützt – eine Verbergungsintention und kann sich so selbst scheinbar doppelt ins Recht setzen. Einer solchen Selbstgerechtigkeit weltloser und letztlich weltfeindlicher Vernunft ist mit Landmann ebenso zu widersprechen wie jeder unkritisch-›ontophilen‹ Kontemplation. Die Demaskierung bringt ans Licht, was gerne verborgen bliebe, was man übertünchen möchte, was als Grundlage und Kern anzuerkennen 594 Landmann: Dialektik der Entlarvung, S. 147. Es ist bemerkenswert, dass Land­ mann hier ironisch im Superlativ vom ›Materiellsten‹ spricht – vielleicht, um anzu­ deuten, dass sich letztlich immer noch ein Materielleres finden ließe, obwohl der Begriff der Materie durchaus selbst schon beansprucht, die kleinsten Bestandteile des Universums zu bezeichnen. 595 Ebd., S. 155. 596 Ebd., S. 147.

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zunächst peinlich ist. Aber nicht immer liegt eine Verbergungsinten­ tion vor, und nicht immer ist das Verborgene ein Naturales oder gar Brutales. Wo man beides trotzdem voraussetzt, wird die Demaskierung zur Weltanschauung und zum zwanghaften Tic. Der Ideologieverdacht wird selbst zur Ideologie.597

Ob die Kultur- und Geisteswissenschaften einen eigenen Weg jenseits ihrer Anbiederung an die Naturwissenschaften finden, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob sie in der Lage und willens sind, die Welthaftigkeit des Kulturellen und Geistigen, d.h. die spezifische ›Materialität‹ geistig-kultureller Phänomene, nicht-reduktionistisch wieder zu entdecken und im doppelten Sinne anzunehmen. Der Grat ist schmal, wie sich an der diesbezüglich unverkennbar revolutionären Phänomenologie zeigen lässt, die bei Husserl noch am Ideal der Naturwissenschaft und Logik orientiert bleibt und erst bei Nicolai Hartmann den konsequenten Schritt zur Ontologie wagt. »Weisheit des Seins«: Landmann folgt hier zugleich N. Hart­ mann und einer mystisch-antignostischen Spur, wenn er von einer »Weisheit des Seins«598 und mit Guardini von einer »Weisheit des Materials«599 spricht. Dies ist bei ihm doppelt, kulturphilosophisch und mystisch-spiritualistisch, motiviert. Ersteres steht ganz im Sinne von Landmanns Überwindung einer Vernunftanthropologie, mit der er nicht nur all das am Menschen selbst geltend macht, das der Vernunft vorgelagert (Kreativität) oder ihr gegenüber eigenmächtig (Empfindungen, Wollungen, Leiblichkeit, Stimmungen) ist, sondern ›etwas wie Geisthaltigkeit‹ auch den Weltdingen zugesteht und damit letztlich das Monopol des Menschen auf Vernunft zerschlägt. Land­ manns kreativitätsanthropologische Wendung einer reduktionisti­ schen Vernunftanthropologie steht im Sinne der Weltoffenheit des Menschen und der Geistoffenheit der Welt; und indem die menschli­ che Kreativität nicht nur Bedingung von Vernunft ist, sondern auch deren Anspruch auf Explizitheit und Eindeutigkeit durchkreuzt, ist sie zugleich das Medium, um die Sinnmomente ihres Produktes, des Objektiven und etwas von der »Weisheit des Seins«600 zu vernehmen. »Diese Weisheit […] ist unaufdringlich in das Sein hineinverwoben. Landmann: Dialektik der Entlarvung, S. 155, Herv. F.S. Landmann: Der rechte Umgang mit dem Schicksal. In: Universitas 17 (1962), S. 1273 [im Folgenden: Der rechte Umgang mit dem Schicksal]. 599 Landmann: PuA, S. 184. 600 Landmann: Der rechte Umgang mit dem Schicksal, S. 1273. 597

598

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Aber dennoch erschöpft sich das Sein nicht in geistfreier Faktizität. Es trägt in sich ein noetisches Plus und legt von ihm Zeugnis ab.«601 Wenn sich selbst überhöhende Vernunft nur sich selbst als schöpferische Instanz gelten lässt, so ergeht an eine im Sein veran­ kerte kreative Vernunft unkündbar die Forderung, ihre Abhängigkeit von den Weltdingen nicht nur in der Linie Platons negativ zu bekla­ gen, sondern dankbar einzusehen und anzunehmen, dass noch an ihrem vermeintlich eigensten »schöpferischen Vorgang […] neben dem Entwurf auch die orphisch-gnostisch so sehr verketzerte und veruneigentlichte ›Welt‹ ihren Anteil hat.«602 Dies ist der ontolo­ gisch-kritische Sinn davon, die Kulturalität des Menschen so hoch zu veranschlagen, nur dass Ontologie hier nicht mit Platon das eine, unveränderlich-ewige, sondern mit Bloch das vielgestaltige, werdenspotente kulturelle Sein, die ›werktätige Materie‹ im Blick hat. Die Weltdinge werden nicht nur als einer Vernunft- und Kulturarbeit des Menschen gefügig, als gestaltbar, sondern als in ihrem eigenen Daund So-Sein selbst je schon gestalterisch tätig und die so gesehen arme Menschenvernunft bereichernd veranschlagt. Die Materie arbeitet mit. Neue Materialien und Techniken wecken neue Sagbarkeiten. Das Gestaltungsmedium ist auch Gestaltungspo­ tenz, es fügt selbst der Idee etwas hinzu und modifiziert sie, ist schon an ihrer Konstitution beteiligt. Es bildet nicht bloß im Innern schon Vorhandenes passiv ab, sondern übersetzt es, setzt es in sich produktiv um. Es läßt das Innere sich in Dimensionen ergießen, die zuvor nicht in ihm waren. Aus Materie wird Geist.603

Damit beschreibt Landmann zunächst einmal eine triviale Lebenser­ fahrung, die, gerade indem sie an Aufbau, Gestalt und Funktionieren unseres alltäglichen Lebens zentral beteiligt ist, unserem Bewusstsein umso leichter und unbemerkter entwischen kann. »Die Dinge sind für uns mehr als fremd gegenüberstehende und zu mathematisie­ rende extensio. Wir stehen zu ihnen in Lebensbezügen, sie tragen für uns Lebensbedeutung.«604 Sie sind es selbst noch dann, wenn wir, gefangen in einer sich selbst missverstehenden Vernunft, nichts mehr für sie übrig haben als den Gedanken und den Willen ihrer völligen Überwindung. Wie die menschliche Seele, bei Platon isoliert, 601 602 603 604

Landmann: PuA, S. 181, Herv. F.S. Landmann: EdI, S. 223. Ebd., S. 226. Ebd., S. 216.

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in Wahrheit von der Materie beschenkt ist und an den kulturellen Gebilden, die sie fälschlich nur sich selbst zuschreibt, gerade noch in deren Widerständigkeit zu wachsen vermag605 – und sie vermag dies, eben weil sie Anteil an ihnen hat, die auch ihrer Initiative entspringen –, so auch die in dieser Hinsicht der Seele verwandte menschliche Erkenntnis: »auch in ihr sind wir die von den Dingen Beschenkten. Über der transzendentalen Konstitution vergaß man, daß das Bewußtsein nicht konstituieren könnte, wenn es nicht auch etwas empfinge.«606 Gerade weil der Mensch seine Weltbindung durchaus zu vergessen und verwerfen zu wollen geneigt ist, weist Landmann umso nachdrücklicher darauf hin, dass das »Sichzuwen­ den überhaupt zu einem Außerhalb […] eine psychische Leistung [ist], die nicht fehlen darf.«607 Partiell könne sich der Mensch dabei auf »eine tiefere Schicht [sein]er Seele« verlassen, deren animisti­ scher ›Reflex‹ zumindest »im Erregungszustand wieder vorbricht«.608 Sein »Sicheinfühlen in die Dinge« verbindet sich mit deren eigenen »›Anmutungsqualitäten‹» zu einer gemeinsamen »›Stimmung‹», an der nun beide Partner teilhaben.609 Dieses Begegnungspotenzial von Welt und Mensch ermöglicht jene Beheimatung, die nicht etwa nur ein Akt des sich der Welt zuwen­ denden Menschen, sondern ebenso Aufweis einer Empfänglichkeit und Bereitetheit der Welt für den Menschen ist. Deswegen ist es stets zu leicht, zu sagen, der Mensch sei »das Wesen der Fremde«610 und wohl eher ein etwas verzweifelter Versuch, sich wenigstens in der ›Abkehr von allem‹ einen Rest Selbstbestimmung zu sichern. Und dies, natürlich, mittels Vernunft, um deren Pluralisierung es Landmann auch zu tun ist, wenn er mit dem hebräischen emet und emuna eine quer zum griechischen Wahrheitsbegriff stehende Wahr­ heitsvorstellung ins Spiel bringt. Die Worte sind mit »›feststehen, beständig sein, tragen, stützen‹»611 zu übersetzen und verstehen unter Wahrheit nicht etwas, das »man erkennt, sondern das Verläßliche, auf das man sich stützt (emuna).«612 Die griechische »Unerbittlichkeit 605 606 607 608 609 610 611 612

Vgl. Landmann: EdI, S. 227. Ebd., S. 221. Ebd. Ebd., S. 217. Ebd. Landmann: Plädoyer für die Entfremdung, S. 138. Landmann: UuS, S. 219. Landmann: JM II, S. 172.

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7.8 Die Bedingung der Möglichkeit von Kulturkritik als ihre (heilsame) Grenze

des Wahrheitspathos« geht dabei nicht verloren, verschiebt aber ihren Schwerpunkt vom erkennenden Subjekt auf das kündende ›Objekt‹ bzw. vom die Welt sich gegenüber stellenden Erkenntnissubjekt auf ein sich ihr zuwendendes Erlebnissubjekt: Emet kommt also einer Sache zu nicht nur als eine Eigenschaft, die sie in sich hat, sondern man könnte sagen als eine dialogische Eigenschaft: als eine dem sie erlebenden Menschen zugewendete, der mit einer bestimmten Erwartung an die Sache herantritt, der sich in einem bestimmten Anspruch auf sie stützen möchte, und emet liegt dort vor, wo die Sache diese Erwartung rechtfertigt und diesem Anspruch genügt.613

Wenn man so will, dann haben wir hier in zwei verschiedenen Wahrheitsvorstellungen die zwei bereits beschriebenen Momente der Beheimatung und Entfremdung (Entheimatung) des Menschen in der Welt, die immer wieder und fast untrennbar aufeinander folgen (bzw. ineinander überlaufen). Es ist Kennzeichen des Kulturwesens Mensch, Welt zu haben, sich die Dinge also so gegenüber zu stellen, dass sie »als das, was sie in sich selbst sind«, erkennbar werden. Es ist Kennzeichen des Lebewesens Mensch, vorübergehend Heimat zu gewinnen; in dieser Heimat bzw. als diese Heimat sind die Dinge ›wieder‹ »Bedeutungsträger in einer von menschlichen Zwecken her geordneten und interpretierten Welt, in der sie bestimmte Funktionen versehen«, Sinn tragen und Kunde geben.614 Lebe- und Kulturwesen, »natürlich künstlich« (H. Plessner) zu sein, ist der Grund, aus dem heraus der Mensch sich gerade als Problem zur Aufgabe, sein Sinnver­ lust in der Welt zum Sinngewinn an der Welt werden kann. Es gehört zur Ironie des Menschen, dass er, indem er sich erkennend der Welt hingibt, in der Unterscheidung ihrer Sphären einen umfassenden Sinn verliert, nach dem er dann aber doppelt zu verlangen, für den er sich umso engagierter einzusetzen vermag, als es kein besessener mehr, sondern ein erst zu gewinnender, ja zu erringender geworden ist. Es hängt insofern für Landmann, zumindest wenn er eine Lanze für die ›Weisheit des Seins‹ bricht, alles daran, Kierkegaard und Gabriel Marcel zu folgen und eine sich sinnerhaben wähnende Wahrheit wieder »in die menschbezogene Welt« einzusetzen und so »selbst zu

613 614

Landmann: UuS, S. 219. Ebd., S. 216.

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7. Kulturalität

etwas Menschlichem«615 zu machen, ohne sie aber damit wiederum einseitig vernunftgemäß zu vermenschlichen. Wir sehen es heute schmerzlicher denn je: Die Dinge nehmen den Menschen umso mehr in Anspruch, je mehr er an ihrer Zerstörung teilhat; gemeint ist der untreue Mensch, der mit sich selbst fremd geht und von dem doppelt »die Antwort der ›Treue‹ erwartet wird, so daß im gegenseitigen Engagiertsein ein Dialog entsteht.«616

Verschwiegene Eingänge: »Ekklesifikation« Was aber bedeutet Treue für ein maximal schaffen-könnendes und maximal bewahren-könnendes Wesen, wie der Mensch es ist? Wie ist auf den quasi doppelten Ruf der Welt, auf die Wendung ad hominem: Mach, dass ich bleiben kann, aber sieh nur, in mir ist noch Anderes! adäquat zu antworten? Den Ansatz einer Bewältigung dieser Aufgabe, vielleicht könnte man sagen: einen Modus der Bewältigung schlägt Landmann unter dem Stichwort »Ekklesifikation« vor. Aus­ gangspunkt ist die kulturphilosophische Beobachtung, »daß auch der höchste geistige Fund keine Kraft hat und wie im Leeren verpufft, wenn es nicht gelingt, ihm eine überdauernde soziale Institution zuzuordnen.«617 Gleichfalls aber verhärtet sich, wie wir sahen, das geistig-lebendig Bewegte zunehmend, sobald es in den Modus des Instituierten hinüberwechselt; dessen Ablehnung richtet sich genau auf einen Zustand, in dem »Institutionen und Ideen einander gar nicht mehr entsprechen, […] [in dem] man längst anders denkt und fühlt, als die Konvention einen immer noch zwingt sich zu verhal­ ten.«618 Davon unberührt bleibt aber, dass Institutionen als solche, d.h. ursprünglich und ihrem Sinn nach ewig, aus dem Leben kommen und in ihm »selbst das Material ihrer Existenz«619 haben und behalten. Dass sie ab einem bestimmten Punkt dem Leben entgegentreten (können), hat in ihrer Objektivierung und Verfestigung ebenso einen Grund wie in der permanenten Autovitalisierung und Steigerung des Lebens und Geistes. Letzterer hat sogar eine Besonderheit darin, dass 615 616 617 618 619

Landmann: UuS, S. 216. Ebd., S. 337, Anm. 18. Landmann: MSGK, S. 131. Ebd., S. 132. Ebd., S. 130.

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Verschwiegene Eingänge: »Ekklesifikation«

er seine Energie gerade daraus bezieht, sich von den Ordnungen des Lebens zu lösen: Es ist eine Funktion des abgelösten Geistes, künftige Lebensordnungen vorzubereiten, in die er sich erst später einbindet. Die Lebensordnun­ gen schicken gleichsam zu ihrer eigenen Erneuerung den abgelösten Geist voraus. Insofern ist seine Abgelöstheit, ist auch seine Spannung zu den bestehenden Lebensordnungen durchaus legitim.620

Es entfernen sich also nicht nur die Institutionen vom Leben, sondern im Geist entwirft sich dieses selbst neu und nimmt damit zum Bestehenden Distanz ein, gerät zu ihm in Spannung. Und, so könnte man sagen, je weiter sich der Geist voraus entwirft, desto weiter wirft er damit das Leben über seine bestehende Ordnung hinaus. Im Extremfall zerreißt das zu weit gespannte Band zwischen Leben und Form und es bleibt nichts als der totale Bruch zwischen beiden. Um solchen Bruch vermeiden zu können, steht Landmann zufolge nicht nur die Institution, sondern, gerade weil sie ja gar nicht kreativ zu sein vermag, umso mehr das Leben selbst in der Pflicht: »Die Qual [ihr]er Spannung würde […] verringert, wenn unsere Schaf­ fensenergie von vornherein mehr darauf gerichtet wäre, die äußern Formen des Daseinsverlaufs mit unserm Glauben und Wollen Schritt halten zu lassen.«621 Landmanns Überlegung setzt nicht erst dort an, wo sich das Leben seinen Formen bereits entfremdet hat und kein Sog mehr wirkt, der es »nach dem Institutionellen hin anzöge«622, sondern schon dort, wo es sich selbst noch zu instituieren und damit dem kulturell Bestehenden ein Mitbestehendes zuzustellen bestrebt und fähig ist. Im Mitbestehenden vermag das Leben die kulturelle Tradition möglicherweise nicht nur wirksamer zu treffen, sondern sich selbst auch reicher zu entfalten und, wenn auch eine begrenzte, so doch immerhin überhaupt Dauer zu verschaffen. In diesem Sinne schwebt Landmann, die Ideen und Weltanschau­ ungen des menschlichen Geistes betreffend, eine »Ekklesifikation« vor. Am freilich mehr als zwielichtigen Vorbild der religiösen Insti­ tutionen sich orientierend, »könnten und müßten auch […] Weltan­ schauungen sich zu Kirchen organisieren. Nur die Ekklesifikation bietet einem Gewähr dafür, daß ein Gedanke sich am Leben hält und 620 621 622

Landmann: MSGK, S. 132. Ebd. Ebd.

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7. Kulturalität

in die Welt ausstrahlt.«623 Dieser Gedanke mag uns zwar einerseits befremdlich vorkommen, ist aber gleichzeitig in Hinblick auf die gegenwärtige Krise der Demokratie – ihrer Institutionen wie ihrer Ideen, ihres ›Geistes‹ – bemerkenswert aktuell. Wenn Landmann Gebete wie »›Herr, wir danken dir, daß du uns gelehrt hast, die Seuchen zu bekämpfen, daß du uns in einem Zeitalter persönlicher Freiheit leben lässest‹»624 ins Spiel bringt, so wohl weniger, um reli­ giösen Forderungen zu genügen, als vielmehr, um aufzuzeigen, dass auch und gerade die ›säkularen‹ Errungenschaften und Werte jederzeit verlorengehen können, wenn man sich ihres Sinns und ihrer Recht­ mäßigkeit nicht immerzu selbst kritisch vergewissert. Dies schließt nicht nur eine Haltung der Dankbarkeit, ein Ethos der Fürsorge ein, in denen sich ein Bewusstsein der Nichtselbstverständlichkeit bekundet und artikuliert. Es bedeutet untrennbar davon auch eine lebensgestaltende Praxis, die im mutigen Vertrauen auf die Potenziale des scheinbar Fix-und-Fertigen die letztlich zu einfache Alternative von Schaffen und Bewahren praktisch überwindet. Die große, noch nicht ergriffene Aufgabe ist vielmehr heute die: aus dem angesammelten und überreichen Schatz unserer Bildungswelt Lebensformen herauszuprägen, ihn in den anderen kulturellen Modus der Tradition und Sitte zu übersetzen. […] Dadurch würde, was bisher nur Bildung ist, den Menschen erst wahrhaft zu eigen und gewänne es zugleich einen Schutz gegen die Erosion durch die Zivilisationsbarba­ rei.625

623 624 625

Landmann: MSGK, S. 131. Ebd., S. 176. Ebd., S. 132 f.

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8. Geschichte

Verdichtete Ausgänge Eine religiös anmutende Sprache Landmanns finden wir auch in seinen Überlegungen zur Geschichte, prägnant in seiner Formel vom Menschen als »Herr und Opfer der Geschichte«626, die an jene vom Menschen als »Schöpfer und Geschöpf der Kultur« erinnert. Damit deutet sich nicht allein die Nähe von Kultur und Geschichte an, sondern es ergibt sich auch die Frage, worin denn überhaupt ihr Unterschied liegt. Es läge nah, unter ›Kultur‹ Zuständliches, eher das Sein, unter ›Geschichte‹ dagegen das Sichverändern, das Werden dieses Seienden zu fassen. Diese Zuordnung ist bei Land­ mann aus zwei Gründen schwierig: erstens versteht er Kultur in eben jenem charakteristischen doppelten Sinne: als Kulturalität und Kreativität, als Vorgeprägtheit (Zuständlichkeit) und Gestaltungsfä­ higkeit (Veränderlichkeit); zweitens unterscheidet er im Verständnis von Geschichte wiederum verschiedene Auffassungen, die allesamt zwar vom Werden und vom Werdenden wissen, es aber unterschied­ lich verstehen und bewerten. Es liegt deswegen nah, Landmanns Geschichtsverständnis als eine Dynamisierung, das heißt Verzeitli­ chung seines eher ›räumlich bleibenden‹ Kulturbegriffs zu verstehen. In diesem Kulturbegriff sind zwar auch die Zeitbezüge des Menschen (das kulturelle Herkommen aus einer Vergangenheit und das kreative Sichentwerfen in eine Zukunft) enthalten, aber primär in Hinblick auf ihr anthropo-logisches Ineinanderwirken gefasst. War Geschichte als Pluralität (das heißt: als Simultaneität verschiedener Menschseins­ weisen) bereits die empirische Ausgangssituation, von der Landmann transzendental-anthropologisch zurückfragte, so wird sie erst im Geschichtsbegriff, und zwar im linearen, der einen echten Anfang 626 Landmann: Der Mensch als Herr und Opfer der Geschichte. In: Kritik und Meta­ physik. Studien. Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag. Hg. v. Friedrich Kaul­ bach u. Joachim Ritter. Berlin: de Gruyter 1966, S. 244–259 [im Folgenden: Der Mensch als Herr und Opfer der Geschichte].

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8. Geschichte

und ein echtes Ende kennt, wirklich dynamisiert. Die im Kulturbegriff gleichsam noch hypothetisch verstandene Kreativität des mensch­ lichen Lebewesens (diese Bedingung der Möglichkeit des Mensch­ seins) wird im hebräisch-neuzeitlichen Geschichtsbegriff thetisch, als menschliche Wirklichkeit, das heißt als jeweilige konkrete und erst damit auch unhintergehbar vergängliche Manifestation menschlichen Schöpfertums gedacht. Es mag dies wie Haarspalterei erscheinen und abermals drängt sich die Frage auf, worin der Sinn einer Unter­ scheidung von ›Kultur‹ und ›Geschichte‹ besteht. Antwort finden wir ausgehend vom Szenario einer Identität der beiden Begriffe, der mit Landmann zu widersprechen ist. Denn weder vermag der Geschichts­ begriff die simultan zu sehenden Aspekte menschlichen Kulturlebens und -erlebens, noch vermag der Kulturbegriff die Sukzession des Individuellen und des Pluralen erschöpfend einzubegreifen. Der his­ torische und systematische Doppelanspruch Landmanns ließe sich nicht in einem Begriff bewältigen, da dies bedeuten würde, das eine für das andere zu nehmen und damit das Menschsein griechisch oder hebräisch zu verkürzen. Mit dieser Unterscheidung ist der Geschichtsbegriff als kritischer Begriff gewonnen, wenngleich auch bei Landmann nur indirekt über die These vom »Ende der Geschichte«. Dass er vom Ende der Kultur nicht spricht, erhält von hier aus einen Sinn, ist doch die Kulturalität das von ihm im grundsätzlichsten Sinne vorausgesetzte Apriori des Menschseins, das durch die Mannigfaltigkeit seiner Verwirklichun­ gen gerade nicht relativiert, sondern umgekehrt in ihnen jeweilig bezeugt wird.627 Gegenüber einem nicht auszudenkenden bzw. die Nichtexistenz von Menschen bedeutenden Ende der Kultur gibt es ein denkbares und mögliches »posthistoire«; dieses wäre nicht mehr, aber auch nicht weniger als das Ende von Geschichte, wie wir sie kennen und damit der Anfang einer Weise des Menschseins, wie wir sie (noch) nicht kennen (können). Von jener tragisch-würdevol­ len Vergänglichkeit, die dem Individuum wie auch der Geschichte eigen ist, erfährt der Kulturbegriff erst im Durchlaufen der Welt. Hier erst entzündet und entfaltet sich die neuzeitliche Sinnfrage, die einer Raumschau (einer Synthese) des Pluralen ebenso fremd bleiben muss wie einem zyklischen Geschichtsbegriff. Erstere kennt 627 Vgl. Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 170, wo er – wie bereits weiter oben zitiert – schreibt, wolle man die Entfremdung »überwinden, dann kann dies nur geschehen durch Preisgabe dessen, was die Griechen uns brachten: des Prinzips der Individualität. Denn die Traditionalität können wir nie preisgeben«.

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8.1 Geschichtlichkeit als Anthropinon

das Werden und Vergehen an und für sich nicht, letzterem erscheint es im Kreislauf bloßer Wiederholungen und damit aufgehoben oder gar versöhnt. Beide verbindet die ästhetische Anschauung einer in Harmonie begriffenen Welt, die allein ein echte Zukunft öffnender Geschichtsbegriff kritisch in Schwung zu bringen vermag. In diesem Sinne ist Landmanns Diagnose eines »Endes der Geschichte« nicht allein Ausdruck seines epigonalen Lebensgefühls, sondern für uns Anlass, ›unsere‹ Kultur auf ihre Geschichte hin zu befragen – zurück und nach vorn, so lange und so fern es möglich ist.

Anthropologische Architektonik 8.1 Geschichtlichkeit als Anthropinon Die Bedeutung der Geschichtlichkeit des Menschen in Landmanns Anthropologie besteht zunächst grundlegend darin, dass in ihr ein fundamentales Anthropinon vorliegt, »das auf alle Fälle und ganz unabhängig davon besteht, ob der Mensch auch noch ein auf es gerichtetes Geschichtsbewußtsein entwickelt.«628 In der Rede von ›Geschichtlichkeit‹ ist dabei unmissverständlich und in Abgrenzung von geschichtsphilosophischen Bestimmungen des Menschen die anthropologische Perspektive eingenommen: Nur weil dem allgemeinen Menschen Geschichtlichkeit zukommt, kann dem konkreten Menschen Geschichte zukommen. Die Anthropo­ logie bewegt sich auf einer höheren Abstraktionsebene. Was Soziologie und Marxismus betonen, ist ihr nicht fremd. Sie enthält es jedoch nur als allgemeine begriffliche Form, die dann phänotypisch jeweils mit anderem Inhalt gefüllt wird.629

Damit gewinnt das anthropologische Geschichtsverständnis einen offenen Freiheitsbegriff, der jedweder Geschichtsphilosophie zumin­ dest dann entgeht, wenn sie ein teleologisches oder gar eschato­ logisches Element aufnimmt. Steht die Freiheit hier als in der Geschichte zu verwirklichendes Ziel dem Menschen bevor, so ist sie bei Landmann umgekehrt der Ausgangspunkt, d.h. die Bedingung des Menschen: »Die Geschichte ist der Inbegriff all dessen, was 628 629

Landmann: MSGK, S. 78 f. Landmann: FA, S. 29.

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aus menschlicher Freiheit hervorgeht. Weil er frei ist, deshalb ist er geschichtlich so wechselvoll.«630 Es kommt hier alles darauf an, nicht den Menschen erst in weiter Ferne zu erblicken und alles Bisherige als seine (wenngleich ›geschichtlich notwendige‹) Vorstufe oder Verirrung zu disqualifizieren, sondern die vielen verschiedenen Kulturen als Geschichten eines Wesens namens Mensch kenntlich werden zu lassen, dessen tiefster Kern paradoxerweise erst in diesen Kulturgeschichten ausgestaltet und offenbar wird. Diese Paradoxie ist nicht etwa eine anthropologische Verspieltheit, sondern – im Medium der Philosophie – der einzige Ausdruck für die robuste Kontinuität der Wandlungsfähigkeit des Menschen: »Bis in die geheimste Zelle hinein […] ist er in den geschichtlichen Wandel einbezogen und wandelt sich mit ihm mit.«631 Hier wird schon deutlich, dass Landmanns Geschichtsverständ­ nis zeitlich zurück und nach vorn weist; insofern kommen in der Geschichtlichkeit die zwei Fundamental-Anthropina der Kreativität und Kulturalität in einem synthetischen Begriff zusammen: »Man könnte das Schöpfertum die Geschichtlichkeit ersten Grades, die Tra­ ditionsgeformtheit die zweiten Grades (und die Geschichtsbewußt­ heit die dritten Grades) nennen.«632 Die damit verbundene positive Bewertung eines kulturellen Her­ kommens lässt sich kritisch nicht nur gegen jedwede eschatologischutopistische Geschichtsphilosophie, sondern, indem das Herkommen als Bedingung, ja als Aufweis einer offenen Zukunft verständlich wird, auch gegen die existenzphilosophische Geschichtsablehnung richten. Solche Kritik identifiziert in der Geschichtlichkeit die Vor­ aussetzung, ja die Essenz gerade der von der Existenzphilosophie positiv und progressiv eingeforderten individuellen Existenz: Deren »Wesen ist Geschichtlichkeit: wo immer sie auftaucht, tut sie es als etwas Einmaliges, Unersetzbares, als Exemplar einer Gattung noch nicht genügend Gekennzeichnetes.«633 Wie die Existenzphilosophie resp. -theologie mit der Geschichtlichkeit unwissentlich auch die Individualität preisgibt und damit die Existenz nur noch als ein Quasi-Ewiges bzw. Rein-Ereignishaftes zu verstehen vermag, unter­ scheidet sie »auch beim objektiv Kulturellen zwischen geschichtlicher 630 631 632 633

Landmann: MSGK, S. 81. Ebd., S. 80. Ebd., S. 85. Landmann: P, S. 391.

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8.1 Geschichtlichkeit als Anthropinon

Schale und übergeschichtlichem Gehalt«.634 So sehr die Existenzphi­ losophie mit der Kulturanthropologie gegen die Bestimmung des Menschen als ›animal rationale‹ opponiert, so sehr fußt sie selbst noch auf einer dualistischen Aufspaltung des Menschen in einen eigentlichen und einen uneigentlichen Teil. Im Vergleich dazu ist die Geschichtsanthropologie Landmanns allerdings radikal: »Gerade diese und nicht andere geschichtliche Einflüsse zu erfahren, fügt sich nicht dem schon fertigen allgemeinen Menschsein dann noch hinzu, sondern jeder wird nur durch sie Mensch, wird es nur dadurch, daß sie ihn gerade zu diesem einmaligen Einzelnen machen.«635 Dem immer tiefergehenden Wissen »um die Geschichtsbedingtheit jeder Form des Menschseins« nicht fluchtartig davonlaufend, sondern mutig folgend, ist »eine in die Tiefe greifende Analyse des Menschen nur noch möglich […] als Geschichts- und Kulturanthropologie.«636 Geschichte – Schichten der Zeit: Das in der Existenzphilosophie dominierende Phänomen und Problem der Zeitlichkeit ist in Land­ manns Anthropologie ergänzt um die Vorstellung eines geschich­ teten Aufbaus nicht nur des Seins sondern auch des Erkennens. Die Anthropina der Traditionalität und des (theoretischen wie prak­ tischen) Schöpfertums treten hier als unterschiedliche Schichten in Erscheinung: »Unser Weltauffassen vollzieht sich in verschiedenen, untereinander heterogenen Schichten. Mit einer Urschicht unseres Geistes nehmen wir das Gegebene hin und fragen noch nicht nach Ursprung und Vergängnis.«637 Und nicht nur im Auffassen der Zeit, sondern in der Zeit selbst, ja in jedem einzelnen »Zeitpunkt lagern sich mehrere Tendenzen wie Schollen übereinander.«638 Die enge Verschränkung von Freiheit und Geschichte ist bei Landmann also nicht nur anthropologisch, sondern auch ontologisch begründet: nicht nur muss der Mensch anthropo-logisch betrachtet frei sein, Landmann: ZaS, S. 15, Anm. 17. Landmann: MSGK, S. 48. 636 Landmann: Kulturbewusstsein, S. 104. 637 Landmann: UuS, S. 111. Die Vorstellung einer Geschichtetheit der Anthropina steht in einer gewissen Spannung zu der (eher zweidimensional arrangierten) Vor­ stellung der Anthropina als Kräften. Gerade dies scheint eine fruchtbare Spannung zu sein, denn beides lässt sich in einem Bild verbinden, sodass die Spannungen und Kräf­ teströme im letztlich einheitlichen Konkreten, zwischen seinen Schichten, mitunter durch sie hindurch gehen und – um im Bild zu bleiben – die eine versucht, nach oben vorzudringen und (allein-)bestimmend zu werden. 638 Landmann: ZaS, S. 48. 634 635

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da (wir sehen, dass) er Geschichten hat, sondern ihm öffnen sich Geschichten seiner selbst in bzw. aus seinem kulturellen Sein als dem realen Grund seiner Freiheit. Das simultane Sichvollziehen des menschlichen Lebens auf bzw. in heterogenen Schichten, aus denen es gleichsam zusammenwächst, finden wir auch in zeitlicher Hinsicht wieder im Ineinanderragen und wechselseitigen Verweisen der tem­ poralen Welt- und Selbstbezüge des Menschen: »Die beiden Linien unseres Geistes, die sich ins Gewesene und ins Künftige erstrecken, scheinen völlig entgegengesetzt. In Wahrheit stehen sie in Beziehung, denn das Bild der Vergangenheit dient der Ausrichtung auf das Kommende, das sich in ihm bereits vorschattet.«639 Diese Vielschich­ tigkeit ist charakteristisch für die Erkenntnis der Geschichte wie auch für das geschichtliche Sein selbst. Dass Menschen ihre Geschichten immer wieder neu schreiben, hängt nicht nur subjektiv mit den sich wandelnden Voraussetzungen und Möglichkeiten ihres kulturellen Lebens und Deutens, sondern auch objektiv mit der fortdauernden Ausschreibbarkeit der geschichtlichen Wirklichkeit zusammen und offenbart insofern deren reales Fortwirken. Sich wandelnde Gegenwart wandelt auch die Vergangenheit, die mit ihr eine organische Ganzheit bildet. Es gibt zwar auch in der Geschichte eine Grundschicht feststehender Fakten. Aber ihr Stellenwert wechselt. […] Technische Erfindungen imponierten lange Zeit nur als Fortschritt, heute gelten sie auch als ökologische Gefahren. So enthüllen sich je nach dem Standort entgegengesetzte Aspekte.640

An dieser Stelle zeigt sich, wie subjektivistisch beschränkt eine Geschichtsdeutung bleiben muss, wenn sie sich – noch im Hinweis auf die Verschränkungen der Zeitformen – mit einer temporalen Perspektive begnügt und die schichten-ontologischen Tiefendimen­ sionen der geschichtlichen Wirklichkeit unberücksichtigt lässt. Gleich- und Ungleichzeitigkeit: Eine solche Öffnung bringt nicht nur tiefergehende Deutungen, sondern auch differenziertere Bewer­ tungen geschichtlicher Entwicklungen wie auch verschiedener auf sie gerichteter Dispositionen des Menschen mit sich. In einem Geschichtsverständnis, das nicht von einem einheitlichen Ziel oder Sinn der Geschichte, sondern von einer Vielzahl an Möglichkeiten Landmann: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, S. 385. Landmann: Geisteswissenschaften [Lemma]. In: G. Krause; G. Müller et al. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie. Bd. 12. Berlin/New York: de Gruyter 1984 [im Fol­ genden: Geisteswissenschaften], S. 270, Herv. F.S. 639

640

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8.1 Geschichtlichkeit als Anthropinon

und realen Tendenzen ausgeht, kommt dem Überliefern- und Bewah­ renwollen eines kulturellen Bestandes – so problematisch es in Gestalt eines strengen Konservatismus sein mag – ein spezifischer Sinn zu. In den Geschichten der Menschen, die mit Landmann als Lern- und wenn überhaupt dann sekundär als Fortschrittsgeschichten verstanden werden müssen, dient das Bewahren der Besinnung nicht nur auf ihr Herkommen selbst, sondern auf dessen Potenziale, die sich nicht wie im teleologischen Geschichtsverständnis notwendig entfal­ ten, sondern nur, indem der Mensch sie als reale Chancen erkennt und ergreift. Und auch der nun lostretende geschichtliche Prozess bedarf der Haltepunkte, in denen das jeweils erreichte Ziel sich im Leben auswirkt und erprobt wird. In ihnen ruht der Prozeß sich aus und besinnt sich, was umso notwendiger ist, als er ja nicht nur einem prä­ fixierten Ziel zueilt, sondern die Erfahrungen der jeweils gewonnenen Stufe für die nächstzuerklimmende fruchtbar machen muß.641

Als zeitliche Struktur so typischer menschlicher Notwendigkeiten und Fähigkeiten wie Übung, Erprobung, Besinnung zeigt sich hier die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bzw. die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die jeder Bezugnahme der Gegenwart auf eine Ver­ gangenheit oder Zukunft zugrunde liegt bzw. sich in ihr kundtut. Sie findet sich auch in der menschlichen Kultur, deren Ausdifferenzierung in heterogene Bereiche immer auch eine zeitliche Signatur aufweist, d.h. sich nach inhaltlich und normativ unterschiedlichen Zeitbezügen vollzieht. Und weil es auch in den Kulturbereichen eine Vielheit an Tendenzen gibt und zwischen ihnen eine Dynamik der Wechselwir­ kung herrscht, bleiben ihre jeweiligen zeitlichen Signaturen und ihre Funktionen für das Kulturganze wandelbar: Vielleicht ist es bald dieser, bald jener Sektor, bald die Sozialstruktur, bald die künstlerische Form, was vorangeht und die andern Sektoren nachzieht. Und sehr oft wird auch eine ›Wechselwirkung‹ mehre­ rer Sektoren aufeinander, eine funktionale ›Interdependenz‹ (Weber, Sombart, Huizinga) herrschen.642

641 Landmann: EV, S. 160, wo es weiter heißt: »Deshalb hat auch das Bewahrenwol­ len, nicht absolut genommen, aber befristet, sein Recht gegenüber dem unaufhörli­ chen Neuernwollen. Auch aus ihm spricht Vernunft, die nicht allein auf seiten des Sprengenden und Werdenden liegt«. 642 Landmann: ZaS, S. 68.

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In der Spätmoderne als einer Zeit der zunehmenden, v.a. durch digi­ tale Technologien vorangetriebenen realen und virtuellen Synchroni­ sierung bestimmter Ablauf- und Erlebnismuster auf dem Globus ver­ stärken sich mit den Chancen auch die Gefahren eines damit gegebenen ›Universalgefühls‹, wenn sich in der Vereinheitlichung der Raum- und Zeitbezüge auch historische Tendenzen, d.h. kulturelle Inhalte vereinheitlichen. Die Synchronität bzw. Globalität erschiene dann schlimmstenfalls selbst als einzig verbliebener, im Gestus des Alternativlosen sich behauptender Kulturinhalt. Einer solchen Zeit, die objektiv keine Tendenzen mehr erkennt bzw. haben zu können glaubt, gingen – abgesehen von sich optimierender Performanz in virtuellen Räumen – auch die Anlässe zum Üben, Erproben, Experi­ mentieren, Sich-besinnen und Lernen verloren, und mit ihnen suk­ zessive der übende, lernende Mensch.

8.2 Geschichtliche Weltdeutungen und Selbstverortungen des Menschen Griechen (Kreis, Zyklus) und Hebräer (Pfeil, Entwicklung): Im Begriff der Geschichtlichkeit ist auch die Kulturalität und Wandlungsfähig­ keit der Zeitauffassungen selbst ausgedrückt. Wenn Landmann das klassisch-griechische mit dem prophetisch-hebräischen Geschichts­ verständnis vergleicht, so nicht nur, um ihre Unterschiede aufzuzei­ gen, sondern sie darüber hinaus als die zwei zentralen und inso­ fern gleichwertigen Quellen des modernen Geschichtsverständnisses herauszustellen. Im Bild des Kreises und des Pfeils metaphorisiert er das griechische und das hebräische Geschichtsverständnis und ordnet ihnen »Vielstrahligkeit und Einlinigkeit«, »Arché und Eschaton«, »Wiederkehr und Einmaligkeit« zu.643 Wenn Landmann beide als Ordnungssysteme der Zeit in Betracht nimmt, bemerkt er zugleich, dass das griechische Zeitbild selbst noch stark einer Raummetaphorik verhaftet ist: Wie in einem in sich zurücklaufenden Kreis werden dieselben Punkte immer wieder berührt; deshalb nennen wir das antike Geschichtsbild das zyklische. Es ist, als ob der Zeitcharakter der Geschichte noch nicht voll aktualisiert worden wäre. Während in der Zeit der einmal durch­ 643

Vgl. Landmann: UuS, S. 230 ff.

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8.2 Geschichtliche Weltdeutungen und Selbstverortungen des Menschen

laufene Augenblick unwiederbringlich ist, wird hier die Geschichte gleichsam noch nach Analogie des Raumes aufgefaßt, in dem man zu derselben Stelle beliebig oft zurückkehren kann.644

Die Zirkularität der Zeit bei ›den Griechen‹ – was hier so viel heißt wie: im Platonismus – hängt zusammen mit ihrer Priorisie­ rung ewiger Ideen und ihrer Abwertung des dem Wandel unter­ worfenen Geschaffenen: »Weil der Platonismus dem Schöpfertum nicht Raum gibt, deshalb auch nicht der Geschichte: nur wer jenes bejaht, kann auch diese bejahen und so erst eigentlich entdecken.«645 Diese Entdeckung leisteten die Hebräer, bei denen wir erstmals Geschichte im eigentlichen Sinne, d.h. als einmalige Entwicklung, die von einem echten Anfang ausgeht und auf ein echtes Ende zugeht, finden. Wiederholung kann es hier so wenig geben »wie eine Gerade zweimal denselben Punkt schneidet im Unterschied zum in sich zurückflutenden, uroborisch in sich kreisenden Kreis«.646 Der stärker ontologische Zug griechischen Denkens orientiert den Bereich des Menschlichen an der Natursphäre und überträgt die dem Naturgeschehen abgelauschte Gesetzmäßigkeit der Wiederholung auf jedwedes menschliche Geschehen.647 Der griechische Mensch ist eingebettet in die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos und nur als Ver­ nunftwesen Individuum, dessen Bestimmung darin besteht, die Ideen zu schauen, d.h. die universelle und ewige Wahrheit zu erkennen.648 Dagegen fallen die Hebräer aus dem Naturgeschehen heraus – hinein in die Geschichte als »einem isolierten Sonderbereich, der aus der Natur herausgenommen ist, ja zu ihr im Gegensatz steht.«649 Sie beruht nicht auf einer ewigen Gesetzmäßigkeit, die mittels Vernunft Landmann: UuS, S. 238. Ebd., S. 124. 646 Ebd., S. 239. 647 Vgl. ebd. 648 Vgl. dazu Annekatrin Puhle, die in ihrer Doktorarbeit über die Ethik des Panaitios darauf hinweist, insgesamt bleibe »die Individualität des griechischen Menschen lediglich angedeutet, das Gleichsein ist sogar geradezu noch eine Auszeichnung für ihn. […] Individualisierendes Denken hat es folglich in der Antike latent immer schon gegeben, vorherrschend aber war das Typen-Denken« (Puhle: Persona, S. 40). Im Grunde ist es die Idee resp. die Dimension der Kreativität, die der platonischen Men­ schenanschauung ›fehlt‹, da für diese der Mensch sich ja nicht einmal wirklich durch autonomes Erkennen (als einer konstruktiven Tätigkeit), sondern ›lediglich‹ »durch das Nacherkennen der präexistierenden Ideen auszeichnet« (ebd., S. 210, Anm. 1; Herv. F.S.). 649 Landmann: UuS, S. 239. 644

645

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zu erkennen wäre, sondern auf einmaliger Schöpfung, »auf geistigem Akt, auf tätiger Entscheidung«650, deren Sinn sich offenbart. Dabei ist das Verhältnis von Individualität und Pluralität in bei­ den Geschichtsbildern durchaus paradox: Während im griechischen Denken dem Menschen seine Individualität nur vermöge seiner Vernünftigkeit und damit einer Gattungseigenschaft zukommt, dafür in der Zirkularität sich das Bild verschiedener Geschichten nach der Vorstellung »viele[r] sich berührende[r], in sich ruhende[r] Kreise« öffnet, kennt das hebräische Denken das echt einmalige Individuum und sein einzigartiges Schicksal, tendiert jedoch in der Zielgerichtet­ heit »ein[es] einzige[n] gerichtete[n] Pfeil[s]«651 wieder auf Verein­ heitlichung: In doppeltem Sinne wird damit die Geschichte wesenhaft als Universal­ geschichte begriffen: sie ist eine einzige, in sich zusammenhängende Geschichte 1. in zeitlicher Hinsicht als Bewegung von einem Erstpunkt her in Richtung auf ein Ziel hin, als Strom, der Anfang und Ende verbindet. Jedes Ereignis ist wie eine Welle in diesem Strom. Und sie schließt sich zu einer einheitlichen Ganzheit 2. in räumlicher Hinsicht dadurch zusammen, daß alle Völker in den Plan Gottes einbe­ zogen sind. Gemeinsam demselben umspannenden Prozeß dienend, gehören sie auch untereinander innerlich zusammen. Die Menschheit durchläuft als ganze ein einheitliches Schicksal, auf das jede Sonderge­ schichte bezogen ist.652

Die Geschichtsverständnisse der (älteren) Neuzeit und der »Goethezeit«: Diese paradoxe Dynamik im Verhältnis von Universalismus und Par­ tikularismus ist äußerst bedeutsam für ein differenziertes Verständnis der Weltbilder der älteren Neuzeit und der sog. Goethezeit (womit Landmann das 18. Jahrhundert bzw. die Zeit um 1800 meint), in denen sich die Vorstellungen der Griechen und die der Hebräer jeweils eigentümlich mischen. Zunächst finden wir im Vergleich von älterer Neuzeit und der Zeit um 1800 eine ähnliche Konstellation wie wir sie eben bereits skizzierten. Zwar schöpfen sie beide geistig aus einem pantheistischen Weltbild, das weder mit dem griechischen noch mit dem hebräischen zusammenfällt, da diese, wenngleich auf verschie­

650 651 652

Landmann: UuS, S. 240. Ebd., S. 32, Herv. F.S. Ebd., S. 232.

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8.2 Geschichtliche Weltdeutungen und Selbstverortungen des Menschen

dene Weise, so doch beide Zweiweltentheorien sind.653 Während aber »die ältere Neuzeit ihr religiöses Grundgefühl des Pantheismus mehr dem Raum zuwandte und so die modernen Naturwissenschaften schuf, wandte die Goethezeit dieses selbe Grundgefühl mehr der Zeit zu und schuf so Geschichtswissenschaften.«654 Nun ist das – hier jetzt einmal vergröbernd zusammengese­ hene – Geschichtsbild der Neuzeit und des 18. Jahrhunderts für Landmann nicht deswegen so bedeutsam, weil sich in ihm zwei ältere, in Spannung stehende Vorstellungen mischen, sondern weil die eigenen Voraussetzungen dieses Geschichtsbildes, allen voran der völlig neue Entwicklungsgedanke, »dessen befruchtende Wirkung auf die Wissenschaften gar nicht zu überschätzen ist«655, eine geistig originelle Modifizierung der älteren Vorstellungen ermöglichen. Ist in der Bibel der echte Anfang der Geschichte bzw. diese selbst gebunden an das Heilsziel, unter dessen Diktum auch die menschliche Freiheit steht, so steigert er sich in der Neuzeit zum echten Anfang eines weder göttlich geschaffenen noch auf ein Ziel hin steuernden, d.h. eines zwar verursacht, aber blind in die Welt tretenden, evolvierenden Neuen.656 Entsprechend, und in Opposition zum griechischen Menschen, der als Vernunftwesen am Ideenreich teilhat wie auch zum hebräischen Men­ schen, der als Geschöpf am Göttlichen teilhat, kennt die Neuzeit »auf der Ebene des Bewußtseins den Menschen nicht nur als durch fertige Werte und Zwecke bestimmt, sondern als dies alles frei aus sich selbst entwerfend und projizierend (productio).«657 Das radikal Individuelle, bei den Griechen zum Abklatsch ewiger Ideen deklassiert und so in seiner Eigenwüchsigkeit verkannt, bei den Hebräern als Teil eines Heilsgeschehens dessen Ziel und Sinn unterstellt, wird erst im 18. und frühen 19. Jahrhundert entdeckt und bildet insofern zu ihnen jene »Gegenmöglichkeit […], die geschichtlichen Besonderheiten in ihrer Fülle zu bejahen und in jeder von ihnen eine Kostbarkeit zu erblicken, an der sich etwas erschließt, was nur mit ihr ins Sein drang«.658 Landmann: UuS, S. 171: »Den Schnitt also, der bei Platon ewig zwischen höheren und niedrigeren Teilen des Kosmos liegt, legt die Bibel zeitlich zwischen die paradie­ sische und nachparadiesische Schöpfung. Deshalb bleibt aber hier die Hoffnung wach, daß der frühere Zustand wiederkehren, mehr: daß die Welt als ganze sich noch einmal verwandeln wird«. 654 Landmann: Löwith Rezension, S. 239. 655 Landmann: MSGK, S. 224. 656 Vgl. Landmann: UuS, S. 122. 657 Ebd. 653

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8. Geschichte

Die Kultur- und Geistesgeschichte der Geschichtlichkeit selbst ist also einerseits eine Transfergeschichte bestimmter Vorstellungen aus dem Altertum: »Mit dem Rang also, in den wir die Geschichte stel­ len, fußen wir auf der Bibel, in ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung dagegen auf den Griechen.«659 Sie ist andererseits eine Geschichte der sukzessiven Emanzipation von den griechischen, den hebräischen und den christlichen Klammern, die das radikal Individuelle gefan­ gen hielten.660 Ist in Platons Ideenlehre unter dem Typischen »die Unwiederbringlichkeit eines jeden Individuums« verdeckt und damit auch »die streng individualisierende Geschichtsforschung der Neu­ zeit«661 unmöglich, so kennt die hebräische Geschichtstheologie als Individuum im strengen Sinne nur Gott selbst, der Anfang, Verlauf und Ende der Geschichte signiert und so »als das Feld seiner Tat«662 gelten lässt. Die Geschichts- und Weltbilder vergangener Zeiten einerseits an Ort und Stelle zu lassen, d.h. in ihnen einmalige und eigentümliche, mehr oder weniger ›zeitgemäße‹ Ausdrücke eines jeweils entspre­ chenden Welt- und Selbstauffassens des Menschen zu sehen und andererseits ihre mehr oder weniger offensichtlichen Fernwirkungen bis in die Gegenwart hinein aufzuspüren und anzuerkennen – dies ist der doppelte Anspruch von Landmanns Kulturanthropologie, die sich als »platonisch-biblisches Gespräch« ausformuliert. Für Landmann sind wir Menschen Erben der Geschichte, die als einmalige Vergan­ genheit nicht die unsere ist, uns aber doch – insofern das Individuelle eben doch nie nur Individuelles ist – angeht und im Kern betrifft: Wie überhaupt kann etwas überdauern oder wiederkehren? Und wie tritt doch immer wieder ein Neues in die Welt? Die Bedingungen der 658 Landmann: UuS, S. 185. Das heißt, was dem neuzeitlichen Historiker als ontolo­ gische Notwendigkeit (etwa eines Gesetzes in der Geschichte) abhanden geht, taucht ihm gleichsam wieder, wenngleich verwandelt, auf als relationale Notwendigkeit der Erkenntnis: diese ›kann gar nicht anders‹ als einen bestimmten Erkenntnisgehalt an diesem historischen Gegenstand zu erblicken. Und dies in doppeltem Sinne: sie kann nicht anders, als diesen Erkenntnisgehalt an diesem Gegenstand zu erblicken (Geschichte drängt zur irreversiblen, höchstens verdrängbaren, aber eben auch darin immer zu bewältigenden Erkenntnis); und sie kann nicht anders, als ihren Gehalt an und durch diesen Gegenstand zu erlangen – an keinem andern wird diese Erkenntnis sich ›entzünden‹. 659 Ebd., S. 230. 660 Vgl. ebd. 661 Ebd., S. 96. 662 Ebd., S. 166.

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8.3 Das Archaische – der Blick zurück

Möglichkeit einer Rede vom Menschen als Schöpfer und Geschöpf der Kultur liegen bei Platon und in der Genesis.

8.3 Das Archaische – der Blick zurück Das im griechischen Denken bereits stärker räumlich orientierte Welt- und Zeitbild gewinnt in der Vorstellung von Zeitschichten eine weitere Dimension, was zentral ist für das Verständnis von Landmanns Vergangenheits- und Zukunftskonzeption. Archetypen, Animismus: Im Schichtgedanken greifen, wie bereits gesagt, die Zeitbezüge ineinander. Während es in der Vorstellung rein linear aufeinander folgender Zeitpunkte allerdings nur entweder früher oder jetzt oder später sein kann, sind in der Vorstellung unordentlich geschichteter ›Zeitschollen‹ Phänomene wie Gleich­ zeitigkeit, Latenz, Potenz, Verzögerung, Wiederholung, Verharren, Überdauern reflexiv-metaphorisch eingeholt. Diese Tiefendimension finden wir an zahlreichen Stellen in Landmanns Bildsprache, etwa, wenn er schreibt, Embleme und Symbole »senken sich magisch in archaisch-primitiv gebliebene Seelenbereiche.«663 Ein gleichfalls dreidimensionales, aber gewissermaßen umgekehrt ausgerichtetes Bild zeichnet Landmann in Anschluss an C. G. Jung: Diesem zufolge »füllt sich unser Erleben in die Schablonen von ›Archetypen‹. Das gilt auch fürs Individuum: bei jedem bilden sich persönliche Apperzepti­ onsgewohnheiten heraus und verhärten sich.«664 Bezeichnend ist, dass Landmann diese dem Menschen genuin eignenden Archetypen gleichzeitig in Analogie zu den Rezeptions­ schemata anderer Tiere, d.h. nicht nur als primitive überholte Früh­ formen des Weltauffassens, sondern in ihrer Funktionalität für das menschliche Leben und Weltauffassen als solches begreift.665 Dabei Landmann: Sichtbares und Unsichtbares im Wechselspiel, S. 52. Landmann: PA, S. 165, Anm. 1. Dass Landmann Archetypen als historisch-kul­ turelle und nicht etwa als metaphysische, a priori bestehende Formen auffasst, deutet sich an der folgenden Stelle an: »Entweder also die Archetypen sind ein echtes, nicht ein historisch gewordenes Apriori der Seele, oder sie sind gar kein Apriori, sondern sie werden, wie unsere ganze Kultur, vom Kinde auf dem Wege des Sozialkontakts aufgenommen. Dafür spräche auch, daß verschiedene Völker verschiedene Archetypen haben« (Landmann: Biologie und Geist. In: Dt. Universitätszeitung. Hg. v. Dozenten und Studenten. 14. Jg., Nr. 5, Göttingen: Mai 1959, S. 272). 665 Vgl. Landmann: PA, S. 165, Anm. 1. 663

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lassen sich zwei ineinander wirkende Funktionen der Archetypen unterscheiden: Erstens dienen sie als Anhaltspunkte für die kreative Deutung und Bewältigung menschlichen Lebens in einer bedeutungs­ offenen Welt. Die der Kreativität zugrundeliegende Kraft der Phan­ tasie richtet sich nicht nur auf die Ersinnung eines künftig Neuen, sondern ermöglicht ebenso eine geistig-produktive Rückbesinnung auf Vergangenes. Zu ihren Kategorien zählt neben den zeitlich umfas­ senden wie Symbol, Chiffre und Allegorie eben auch der die Gegen­ wart und Zukunft dezidiert auf ein Früheres zurückverweisende bzw. sie in ihm ankern-lassende Archetypus.666 In den Archetypen finden zweitens bestimmte Erkenntnisse und Empfindungen der menschlichen Seele, sowohl für ihren jeweiligen Inhalt, als auch für ihre Qualität, wie von alters her zu erscheinen, eine Form der Abbildung, Klärung und Verdichtung: »es gibt Wahrheiten, die nicht als ein neues treffen, sondern deren Erkenntnis von dem Gefühl begleitet wird, als kehre nur archetypischer Besitz aus früherer Existenzform uns in ihnen zurück.«667 Soweit im Archetypus das vermeintlich Vergangene als fortwährend lebendig vorgestellt und erlebt wird, hat er Ähnlichkeit mit dem Animismus, nur dass im Archetypischen nicht allein der umgebende Raum, sondern auch die umgebende Zeit beseelt und belebt erscheint. In beiden, Archetyp und Animismus, sieht Landmann »eine ewige Möglichkeit und ein Bedürfnis unserer Seele«668. Dass sich dabei ihr Inhalt und ihre Relevanz historisch wandeln, also etwa »im Leben des Einzelnen an die Stelle der Archetypen nach und nach die Erfahrungen treten« und auch objektiv-kulturell in der Kunst die Imagination zunehmend dem Realismus weicht669, ändert nichts an der konstitutiven Angewiesen­ heit des Menschen auf kreativen Einbezug der Vergangenheit in sein Selbst- und Weltbild. Und gerade weil seine Zeitbezüge ineinander ragen, ist – mit Ernst Bloch gedacht – nicht nur die Entstehung neuer Archetypen670, sondern auch eine Transmutation des Archaischen in Utopisches möglich: »Das Archaische des Nicht-mehr und das

666 667 668 669 670

Vgl. Landmann: Gespräch mit Ernst Bloch (Tübingen 1967), S. 26. Landmann: Formgründende Erfahrung, S. 16, Herv. F.S. Landmann: DaD, S. 122. Vgl. Landmann: EdI, S. 54. Vgl. Landmann: Ernst Bloch im Gespräch (1965), S. 369.

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8.3 Das Archaische – der Blick zurück

Utopische des Noch-nicht berühren sich, aus dem Archetypus läßt sich die utopische Funktion entbinden.«671 Die mythische Seelenschicht: Von hier aus wird auch verständlich, dass Landmann, wenn er vom ›ursprünglichen‹ bzw. ›natürlichen Menschen‹672 spricht, nicht zeitlich zurückverweist, sondern mitten in der vermeintlich immer jüngsten Gegenwart673 eine Pluralität gleichzeitiger Zeitalter aufzeigen möchte. In striktem Gegensatz etwa zu August Comtes Drei-Stadien-Gesetz, das die Zeitalter gleichsam linear aufeinander folgen und sich ablösen lässt, geht Landmann von einem kumulativen Modell aus, dem zufolge die Formen der Weltauffassung sich langsam modifizieren und wie Schichten über­ einander lagern. Es gibt ein ursprüngliches Mythisches aus archetypischen Bildern, es gibt aber auch ein sekundäres Mythisieren des ferngerückten und nicht mehr verstandenen Historischen. In Aufklärungszeiten werden Mythen wie metaphysiziert, so historisiert; in schwächeren Zeiten werden Metaphysik und Geschichte wieder mythisiert.674

Dabei ist es für die mythische Zeitschicht kennzeichnend, ja ihr zentrales Charakteristikum, dass sich in ihr ein zwar durch eine mythische Erzählung konkret ausgedrückter, aber sie weit überstei­ gender Sinn, die Schranken historischer Geltung sprengend, ewig erhält. »Das mythische Einst ist kein zeitlich meßbares Früher. In ihm trägt sich zu, was auch noch das Heute fundiert und hält.«675 Mit ihrem Bemühen, für das Recht und die partielle bzw. potentielle 671 Landmann: Ernst Bloch im Gespräch (1965), S. 369. Peter Sloterdijk verweist auf die Wirkmächtigkeit jener Bloch’schen Idee eines Noch-Nicht, das »im Schon-Jetzt ›latent‹ am Werk sein kann, und zwar im Modus einer aktiven Latenz, der die Fähigkeit zukommt, ihren ›Schatten‹, besser ihr Vor-Licht vorauszuwerfen. Philosophie ist seit­ her Vor-Sicht im Vor-Licht« (Was geschah im 20. Jahrhundert?, S. 159). Die sich darin öffnende Vorstellung einer »Wiederkehr des Unerledigten oder des Unfertigen im weitesten Sinne des Wortes« ist, so Sloterdijk weiter, »keine ganz ungefährliche These, weil Spuk und Gespensterwesen des rückwärtsgebundenen Typs auch die Wiederkehr der Illusion im schlechten Sinn des Wortes bedeuten können« (ebd., S. 167). 672 Landmann: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, S. 375; UuS, S. 39. 673 Vgl. Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 274. 674 Landmann: EdI, S. 23. 675 Landmann: UuS, S. 164. Er exemplifiziert dies am Beispiel der biblischen Welt­ schöpfung: »Indem die Bibel die Welt durch Gott geschaffen sein läßt, will sie zugleich das dauernde Grundverhältnis zwischen den beiden festlegen. Gott hat die Welt geschaffen, das heißt auch: sie steht überhaupt in Abhängigkeit von ihm; und nicht nur wegen des damaligen Schöpfungsaktes: er trägt und schirmt sie noch jetzt. […]

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Geltung vermeintlich veralteter Wahrheiten einzutreten, steht Land­ manns Kulturanthropologie folglich in einer mythischen Linie; in ihrem Aufweis menschlicher Pluralität verzichtet sie jedoch geradezu antimythisch auf die eine Erzählung wie überhaupt auf eine Sinndeu­ tung. Andererseits ist es, ideenhistorisch betrachtet, allen voran das mythische Weltbild und mit ihm die mythische Seelenschicht, die das Vielfältige zur Entfaltung bringen bzw. kommen lassen. Und auch wenn die arbeitsteilig monistisch, monotheistisch und rationalistisch konturierte »Entzauberung der Welt« Mythos und Magie herausfor­ dert und bekämpft, bleiben sie Landmann zufolge ein unkündbarer »Urbesitz der Seele«676, zu dem der Mensch über sein »Bedürfnis nach dem Einfacheren und dem Ursprünglicheren«677 wie auch sein »genuin mythische[s] Erleben«678 der Welt und seiner selbst, zweifel­ los immer wieder finden wird. Wie die Archetypen beim Menschen an die Stelle der Rezeptionsschemata anderer Tiere treten, so sind auch Magie und Mythos von anthropologisch stärkerer Aufdringlichkeit und Dramatik: Der Eingott ist eine spekulative Idee, auf die die Menschheit nicht notwendig verfallen mußte; zu Magie und Mythus dagegen zieht uns ein Trieb, eine anthropologische Evidenz. Unser Glauben an sie ist zwar lädiert, aber nicht völlig zerstört; wir haften an ihnen, wie das Auge daran haftet, daß der Stab im Wasser gebrochen ist, während die Hand uns belehrt, daß er gerade bleibt. Die bessere Einsicht entfremdet uns von einem tiefsitzend-eingeborenen Anspruch unser selbst. Der homo sapiens und seine Institutionen unterdrücken den homo divinans.679

Die Lebensform des mythischen Menschen: Um zu verstehen, welche anthropologische Bedeutung Landmann dem mythischen Weltbezug beimisst und in welchem Zusammenhang dies mit der Kritik an ver­ schiedenen Philosophien seiner Zeit steht, wollen wir uns ansehen, wie er den Typus, die Lebensform des mythischen Menschen charak­ terisiert. Dieser Mensch ist im Denken und Tun ein Abbild seiner Ahnen – deren Namen er auch meist trägt –, so sehr, daß er zwischen ihnen und sich Ständig lenkt er das Naturgeschehen und die Geschicke der Wesen, die ihre Grund­ bestimmung darin haben, seine Kreatur zu sein« (ebd). 676 Landmann: EdI, S. 44. 677 Landmann: DaD, S. 124. 678 Ebd., S. 50. 679 Landmann: JM I, S. 231.

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8.4 Das Offenkünftige – der Blick nach vorn

kaum mehr zu unterscheiden vermag, daß er die Erlebnisse jener als seine eigenen erzählt. Sein Ich ist mehr als nur ein Ich, es weitet sich aus und befaßt andere Iche mit in sein Ichgefühl ein. Und da die Gegenwart sich inhaltlich mit der Vergangenheit identifiziert, so ist die Zeit, die zwischen den Generationen liegt, für sein Bewußtsein nicht existent. Ist es nicht ein Ahn, so ist es ein Heros oder ein Gott, dem sein Leben nachlebt, der das Vorbild abgibt, zu dem er nur das Nachbild sein will. Nie geht er den Weg, den er geht, als erster.680

Wie wir hier sehen, ist die positive Bezugnahme auf nachlebende Geschichte und fernwirkende Epochen immer auch Kritik an einer Philosophie, die das Ich sich selbst setzen und nichts als es selbst sein können lässt. Gewiss ist in der mythischen Lebensform die Verbindung zwischen Ich und Außer-Ich bis hin zur Identifizierung, ja Identität übertrieben. Dennoch bleibt die Vorstellung, das Ich gehe seinen Weg nie zuerst, die sich in Landmanns Kulturanthropologie quasi formalisiert wiederfindet, als eine Art ›Freiheit in die Vergan­ genheit‹ produktiv. Dies zumal in der Kunst, die Landmann auch deshalb v.a. sich dem Vergangenen zuwenden lässt, weil dieses dem wissenschaftlich-progressiven Geist allzu leicht als überwunden und vernachlässigbar erscheinen will.

8.4 Das Offenkünftige – der Blick nach vorn Challenge und Chance – das Seinkönnen des Menschen und die wer­ dende Materie: Wir sagten bereits, dass Geschichte bei Landmann stets zurück und nach vorn verweist; dies ist insofern nicht trivial, als er die menschlichen Grundkräfte des Bewahrens und Neuschaffens einerseits in unauflösbarer, bzw. präziser gesagt: nur kreativ lösba­ rer Spannung, andererseits direkt voneinander abhängig sein lässt. Dabei sind gerade Landmanns Überlegungen zur Geschichtlichkeit des Menschen als ›Haben‹ einer möglichkeitsoffenen Zukunft unver­ kennbar stark von Ernst Blochs Philosophie des Utopischen geprägt, die er jedoch weniger isoliert, sondern als utopische Steigerung einer Denkweise auffasst, die – wie wir bereits sahen – der zukunftsgerich­ teten Moderne als solcher eignet. Landmann: SaW, S. 101. Dies ist der gegensätzliche Typus zu dem, der die Geschichte von sich wie durch einen unüberbrückbaren Graben getrennt sieht und empfindet (vgl. Landmann: Nachgeschichtliches Epigonentum als Schicksal, S. 22). 680

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8. Geschichte

Jetzt wird die Idee nach vorn geworfen: sie ist nicht mehr nur das prius und damit das antiquius, das Ältere, sondern das ungeborene Novum. Die gesellschaftlich-kulturelle Welt – bei Ernst Bloch in gewagter neuer Metaphysik sogar die Materie – erscheint nicht mehr auf dem Hintergrund des Ewigen, das von ihr als »bewegtem Abbild« (Platon) bloß wiederholt wird, sondern von der Zukunft her als eine utopie-offene und ultimum-gerichtete.681

Indem Landmann – anders als die letztlich metaphysisch gehalte­ nen Philosophien der Existenz und der Kritischen Theorie – die ›Entdeckung der Zukunft‹ ideen- und kulturhistorisch nachvollzieht, gewinnt er darin den Blick für die Kulturalität nicht nur der allge­ meinen Idee von Zukunft, sondern auch ihrer je historischen Varia­ tion. Sofern diese Kulturalität ein geschichtliches Herkommen bedeu­ tet, von dem der werdende Mensch seinen produktiven Ausgang nimmt, fungieren die Archetypen als positiv wie negativ (progressiv wie restriktiv) Orientierung gebende Bezugsgrößen. Sie machen selbst eine Entwicklung durch, sind nicht mehr länger die ewigen Muster des Menschseins, sondern typische Symbole mittlerer Reich­ weite, die elastisch genug sind, um immer wieder mit neuen Inhalten angereichert und so modifiziert zu werden. Hat die Wiederkunft des Gleichen ihren Bezugspunkt im Ewigen, so ist die offene Zukunft gebunden an die Vorstellung eines – notwendigen oder kontingenten – Anfangs. Wie am Archaischen eröffnet sich dem Einzelnen auch im Utopischen die Möglichkeit, das zweifelsohne radikal Neue, als das er in die Welt tritt, mit der Tatsache, dass weder alles mit ihm beginnt noch mit ihm alles enden wird, zu vermitteln. Anders als die Existenzialistin, deren eigentliches Sein sich nur in Auflehnung gegen das Werden der Welt (in dessen Sog gezogen sie sich empfindet) vollzieht, hat und ergreift der geschichtliche Mensch die Chance, seine Geschichte und sein Sein-wollen auf die Geschichte ›der Welt‹ und ihr Werden-können zu beziehen. Das Werden am Anderen: Die uns verdächtig geläufige Auffas­ sung, dass der Mensch erst zum Menschen wird, bedeutet bei Land­ mann nicht, dass er das einzig freie Wesen in einem determinierten Universum sei, sondern, dass er sich in einer werdenden Welt immer wieder neu beheimaten muss und insofern kreativ deren Freiheitspo­ tenziale mit-verwirklichen kann.

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Landmann: WiP, S. 116.

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8.4 Das Offenkünftige – der Blick nach vorn

Wir sind nicht nur was wir sind, sondern werden, und wir werden nicht nur aus organisch vorgezeichnetem Wachstumsgesetz, sondern in der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber. In der Bearbeitung der Materie mit ihren wechselnden Eigenheiten, im Umgang mit mannigfaltigen Menschen, von denen jeder anders behandelt sein will und andere Forderungen an uns stellt, wachsen auch uns bisher schlummernde oder nicht einmal schlummernde Fähigkeiten zu.682

Damit aber verliert die offene Zukunft ihren Schwebecharakter, ihr Utopistisches, das immer dann aufkommt, wenn der Mensch allzu anthropomorphisierend die künftige Welt nach seinem Bilde zeichnet, ohne sich die Option offen zu halten, selbst von der dann nicht allein deterministisch begriffenen, ja sogar ohne sein Zutun – und ohne es freier – werden-könnenden Welt zu lernen. Genau auf diese Option einer werdenden Welt zielt Blochs Kategorie des Real-Utopischen; damit meint er, metaphorisch gesprochen, »das Gärende, das sich Gebärdende, das noch im Schwange ist«.683 Utopisch, sofern es noch nicht realisiert, d.h. in den Modus des Wirklichen überführt ist; real, sofern es als realisierbare (und nicht bloß denkbare) Möglichkeit bereits besteht. Dass Landmann den Menschen als unabgeschlossenes (kreativ zukunftsoffenes) und zugleich als jeweilig bestimmtes (kulturell besondertes) Wesen denkt, erhält hier einen speziellen Sinn: Die Bestimmung des Menschen als kreatives Kulturwesen wird verständ­ lich als Konsequenz einer Verknüpfung von Anthropologie und Ontologie. Dabei ergeben sich wechselseitig dialektische Übertragun­ gen: Kultur als Seinsform des Menschen, als Seiendes (genauer: als Sein-müssendes) gibt sich als unhinterfragte Notwendigkeit aus, ähnlich suggestiv wie die der Natur.684 Kultur als Werdensform des Menschen, als Werdendes (genauer: als Werden-könnendes) gibt sich als Freiheit hin, d.h. als vom Menschen zu ergreifende und nur von ihm verwirklichbare, also auch verfehlbare Möglichkeit der Welt (der Natur) und seiner selbst in ihr. Das heißt, an der Offenheit der Welt findet der Mensch seine geistige und praktische Aufgabe wie auch Verantwortung. An ihrem Potenzial gewinnt er kritisch ein

Landmann: EV, S. 175. Landmann: Gespräch mit Ernst Bloch (Tübingen 1967), S. 20. 684 Daher auch der, was das Erleben und die Funktionalität von Kultur betrifft, völlig treffende und präzise Begriff von Kultur als »zweiter Natur« des Menschen. 682

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Kriterium für sein eigenes; das ist der normative Sinn einer Rede vom Menschen als dem »Produkt seines eigenen Produkts«685: Nach Ernst Bloch dürfen wir uns durch kein Gegebenes verführen lassen, es als ein schon Abgeschlossenes schlechterdings hinzuneh­ men. Alle Dinge gären noch von ungehobenen Möglichkeiten, tragen Utopien im Blut, leben im Exil und sehnen sich nach der Heimat, in der sie noch nie waren. In aller Wirklichkeit wirkt etwas, was sich noch nicht verwirklicht hat.686

8.5 »Das Zeitalter als Schicksal« Der Doppelsinn von Landmanns Geschichtsverständnis, in dem der Mensch als »Herr und Opfer der Geschichte« seine Bestimmung findet, kehrt wieder in seinem Schicksalsbegriff.687 Als Deutungska­ tegorie meint dieser, dass ein Ereignis oder eine Entwicklung sich mit einer gewissen Notwendigkeit vollzieht, nur dass ›Notwendigkeit‹ bei Landmann weniger Fatalität oder Finalität, sondern viel mehr und zugleich schlichter kulturelle Bedingtheit meint.688 Geschichte zu haben bedeutet dem Menschen nicht ein zielloses Strömen nach vorn, sondern ist getragen von einem ihm – wie vage auch immer – vorschwebenden Bild. Auch, ja gerade der sich erfindende Mensch findet sich dabei als Mensch, das heißt, er wird sich als ein bestimm­ tes, kulturell besondertes und damit für eine werdende, konkrete (das heißt auch: begrenzte bzw. gerahmte) Geschichte offenes und diese gestalten könnendes Wesen verständlich, was je nachdem eine schmerzhafte, aber auch eine beglückende Erfahrung sein kann. Der Schicksalsbegriff ermöglicht so eine doppelte Kritik. Erstens entlarvt er jegliche Vision radikalen Neubeginns als bloßen Schein, der v.a. deswegen schwer durchschaubar ist, weil er sich (zunächst) nicht zu Landmann: FA, S. 54. Landmann: AgV, S. 226 f. 687 In der Gegenwartsphilosophie spielt der Schicksalsbegriff als philosophische Kategorie kaum eine Rolle, obwohl er dialektisch gefasst eine enorme Bedeutungs­ breite und innere Spannung enthält; vgl. dazu Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 108. 688 Darauf scheint Landmann auch anzuspielen, wenn er – mit Fokus auf das jeweilige Selbstbild des Menschen – schreibt, so wie der Mensch sich vorstelle, werde er schließlich auch (vgl. MSGK, S. 98). Auch hier geht es v.a. um die kulturelle Bedingt­ heit, hier bezogen auf die Kulturalität der jeweiligen geistigen Selbstimagination. 685

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8.5 »Das Zeitalter als Schicksal«

bewahrheiten braucht, um für wahr, gut und richtig gelten zu können. Mehr noch kann sich das künftig radikal Neue gar nicht bewahrheiten, da ihm dazu schlicht der Vergleichsrahmen fehlt; dagegen lässt es sich leicht zur Variation von bereits Bekanntem erklären. Auch hier allerdings zieht der Schicksalsbegriff zweitens, indem er die Anthro­ pologie des Schicksalhabens rückbindet an die radikale Jeweiligkeit konkreter Schicksalsgeschichten, eine Grenze. Er balanciert so die zwei verführerischen Deutungen eines totaldeterministischen Kultu­ ralismus auf der einen und eines totalfreiheitlichen Futurismus auf der anderen Seite. Die Weltverhaftung des vermeintlich Isolierten und Autonomen: Die Gründe der Philosophie, dem Schicksalsbegriff skeptisch gegen­ überzutreten, verraten mehr über sie als über das Schicksal selbst. Als das sich der philosophischen Erkenntnis überhaupt »Entziehende und ihr Entgegenarbeitende läßt [es] sich nicht auf die Formel einer Gesetzlichkeit oder allgemeinen Notwendigkeit bringen. Indem es in die Wirklichkeit eingreift, wird sie nicht transparenter.«689 Doch nicht nur hermeneutisch, sondern auch ethisch ist die Zufälligkeit des Schicksals der an das (eine) Wahre, Gute und Schöne gebundenen klassischen Philosophie ein Dorn im Auge. »Warum ist es launisch, dem einen spröde und dem andern verschwenderisch? […] All dies bleibt philosophisch ein Skandalon.«690 Dieser letztlich immer auch antimaterialistischen Antipathie stellt sich Landmann als Kulturphi­ losoph entschieden entgegen: »Alle Erfüllung und Verwirklichung des Selbst führt nur über die Welt. Innen und außen bleiben eben doch miteinander verwoben.«691 Schicksal ist für ihn dabei nicht nur eine Deutungs- und Sinn­ stiftungskategorie des menschlichen Bewusstseins oder Erlebens, sondern eine Realität. »Zum Schicksal gehört nicht nur, daß man es als solches erlebt, sondern auch, daß es wirklich eines ist.«692 Es ist vielleicht nicht übertrieben, zu sagen, dass bei Landmann Landmann: PuA, S. 157. Ebd. 691 Ebd., S. 155. 692 Ebd., S. 177. An dieser Stelle sei mit Hupe verwiesen auf den biographischen Zusammenhang, in dem Landmanns philosophische Überlegungen zum menschli­ chen Schicksal stehen und zu sehen sind: »Er hatte die Bedeutung des eigenen ›Zeit­ alters als Schicksal‹ aufs Schmerzlichste erfahren müssen. So bleibt alle Freiheit des Menschen zur Selbstschaffung, Selbstvollendung für ihn untrennbar mit dieser Schicksalempfindlichkeit verbunden« (Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 24). 689

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8. Geschichte

›Schicksal‹ einen zentralen Modus beschreibt, den das Sein für den Menschen anthropologisch betrachtet notwendig annehmen muss. Der Doppelsinn des Schicksals, einengend prägend und zugleich orientierend öffnend zu sein, vermittelt sich sprachlich-metaphorisch, wenn er einerseits von der »Weltverhaftung«693, andererseits vom »Schicksalsraum«694 des Menschen spricht. Und auch die Raummeta­ pher selbst schließt eine Spannung ein: Als dem Einzelnen sozusagen pränatal-kulturelle Vorgegebenheit markiert das Schicksal, »in wel­ chen sozialen und geschichtlich-kulturellen Raum [er] hineingeboren w[ird].«695 Als Umkreis seiner Entwicklung und, wenn man so will, Menschwerdung ist es vitalistisch und geistig Ausgangspunkt und selbst bereits Modus menschlichen Lebens, das sein Schicksal nur es gestaltend, mit ihm arbeitend zu überschreiten vermag. Nimmt man dem Menschen diesen »Schicksalsraum […], so nimmt man ihm die Luft zum Atmen, und es ist schlimmer, als wenn man ihm ein Glied seiner selbst wegnähme.«696 Die berechtigte Empörung gegen das Schicksal betrifft seine Unausweichlichkeit, ist zuweilen aber auch Übertönung darunter liegender (realer oder gefürchteter) Ohnmacht. Der stolze Glaube, dem Schicksal erhaben zu sein, entpuppt sich hier und da als mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit, sich ihm zu stellen. Es mit dem Schicksal aufzunehmen, das bedeutet mit Landmann, sich als Mensch aus den Verengungen seiner Prägung zu befreien und untrennbar davon die im Sein selbst ›gefangenen‹ Möglichkeiten zu entbinden. Weil der Geburtsschmerz bleibt und gleichsam nur die Dimension wechselt, ist die Rede vom zu gestaltenden Schicksal nicht harmlos, sondern formuliert einen Anspruch an Menschwerdung. Grenzen der Vergeistigung, Verinnerlichung und Annahme des Schicksals: Landmanns »Lanze für das Schicksal«697 ist auch vom Zweifel motiviert, ob sich das wohlwollend oder missgünstig von außen dem Einzelnen entgegentretende Schicksal vollständig ver­ geistigen oder verinnerlichen und wie weit sich »das fehlende äußere Schicksal durch inneres, differenzierteres, gleichsam kompen­ Landmann: PuA, S. 155. Ebd., S. 174. 695 Landmann: Der rechte Umgang mit dem Schicksal, S. 1266. 696 Landmann: PuA, S. 174; außerdem S. 173: »Erst mit seinem Schicksal zusammen ist er der ganze Mensch, und daß er das nicht weiß und sich gegen es isoliert, liegt nur daran, daß es ihn so oft preßt und er es bekämpfen muß. […] Obgleich der Mensch mit dem Schicksal kämpft, bildet er mit ihm eine aufeinander abgestimmte Einheit«. 697 Vgl. Landmann: EdI, S. 208–214. 693

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8.5 »Das Zeitalter als Schicksal«

sieren«698 lässt. Mag es dafür subjektiv nachvollziehbare Motive und objektiv gute Gründe geben, so bleibt Landmann doch sehr skeptisch, wenn er rhetorisch fragt, ob solche Psychologisierung des Schicksals nicht in Widerspruch gerät mit »dem Begriff des Schicksals als des uns wesensmäßig aus der Welt Entgegentretenden, sich uns Schenkenden oder uns Verwundenden, und darum niemals aus uns zu Erzeugenden?«699 Hier wird deutlich, dass er mit dem Eintreten für das Schicksal nicht zuletzt dem menschlichen Bestreben, sein Leben und seine Welt einzig aus sich heraus zu begreifen und zu gestalten, Einhalt gebieten möchte. Gegen des Menschen für sich genommen durchaus fruchtbare Ansprüche auf Individualität und Bedeutungsträchtigkeit bildet das Schicksal in seiner »Elementarität, Handfestigkeit, Sichtbarkeit, Schlichtheit«700 ein wie daraufhin kom­ poniertes Korrektiv. Jede zu tief sublimierende Verinnerlichung und Vergeistigung des Schicksals wäre ein grober Anthropomorphismus, mit dem der Mensch für Schicksalhaftes als solches unempfindlich würde und schließlich »die Gewohnheit, überhaupt mit Schicksal umzugehen«701 verlernte. Wenn Landmann hier die Schicksalsempfänglichkeit bezeich­ nenderweise als Gewohnheit ins Spiel bringt, so nicht, um den Menschen blind dem Walten der Dinge zu überlassen, sondern um die Annahme des Schicksals, fernab roher Fatalismen, als Element ler­ nender Menschwerdung und Selbsterkenntnis kenntlich zu machen: »Wer sein Schicksal als das echt seine annimmt, der lernt darin sich selbst kennen, und sich kennend nimmt er es an, aber beides ist schmerzhaft.«702 Wenn der Verinnerlichungskünstler immer schon weiß, wer er ist und sich daher ›da draußen‹ nicht mehr zu finden vermag, so sind wir bei Landmann gerade »nicht, was wir sein möchten, wir sind mehr, als wir von uns wissen. Das Schwergewicht unserer Existenz liegt im Unbewußten, im Charakter, in unserm gesamten Sein.«703 Und dieses gesamte Sein, das wir als Menschen sind, lässt uns immer schon mit dem, was wir dann – aus psycho­ logisch nachvollziehbaren Gründen – als Schicksal benennen und fortwünschen, eine Einheit bilden, womit sich auch die Bestimmungs­ 698 699 700 701 702 703

Landmann: PuA, S. 178. Ebd. Ebd. Ebd., Herv. F.S. Ebd., S. 191. Ebd.

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richtung umkehrt: Wenn die dem Schicksal Enthobene ihre Freiheit erst und nur in Auflehnung gegen die Welt gewinnen zu können glaubt, entdeckt und entlarvt die ›Partnerin des Schicksals‹ ihre Freiheit als geheimnisvoll bereits wirksame Regie, die sie selbst führt: Der Mensch ist ›sein eigener Schutzengel‹, der insgeheim wissender ist als der ihm Anbefohlene und der sich, ehe der bewußte Wille in Aktion tritt, immer schon mit der Welt in einer Art Ausleseverfahren verständigt, sie auf sich abgestimmt hat. Ohne daß wir es wissen und wollen, sind wir für unser Schicksal selbst verantwortlich und beschwören es herab. Äußerlich sind wir von ihm, aber untergründig ist es von uns als den Lenkenden abhängig.704

Solche Worte sind eine Zumutung für alle, die unter widrigsten Umständen versuchen, sich Wege zu einem besseren Leben freizu­ schlagen. Landmann deutet dies an, wenn er schreibt: »Wer in einem unbejahten Schicksal steht, der wird sich nur widerwillig mit dem Gedanken befreunden, daß es trotzdem das ihm angemessene und zukommende Schicksal sei.«705 Die Grenze, wo die erkenntnisbrin­ gende und lebensgestaltende Kraft des Schicksals negativ umschlägt in eine menschenunwürdige Affirmation seiner Gewalt, wird von Landmann bedauerlicher- und fatalerweise nicht näher in Betracht gezogen. Zwar haben wir hierfür einen allgemeinen Anhaltspunkt, wenn Landmann – wie bereits aufgeführt – vom »mittleren Chal­ lenge« als dem produktiven Maß an Herausforderung spricht. Es schließt sich dann aber die Frage an, unter welchen subjektiv-psycho­ logischen wie sozial-kulturellen Bedingungen eine Lebensaufgabe überhaupt als eine produktiv zu gestaltende (und nicht lediglich zu überwindende oder gar zu verdrängende) Herausforderung angesehen werden und eine solche Ansicht handlungsleitend, d.h. wie die nötige Kreativität konkret aufgebracht werden kann. Das Schicksal der Unvollendung als anthropologisches Geschick: Und hier zeigt sich, dass die anthropo-logische Betrachtungsweise allerdings dazu geneigt machen kann, entgegen ihrem Anspruch doch einzelfallblind zu werden. Des Weiteren nährt sich Landmanns Schicksalsliebe, wie schon bemerkt, aus der Opposition zur Selbster­ mächtigung des Menschen gegenüber einer Welt, die er letztgültig vollkommen einzurichten bestrebt ist. Die Pointe seiner Kritik an 704 705

Landmann: PuA, S. 191. Ebd.

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8.5 »Das Zeitalter als Schicksal«

menschlichen Selbst- und Weltvervollkommnungsbestrebungen liegt nun nicht darin, zu sagen, diese seien verfehlt, weil Vervollkommnung nicht möglich sei, sondern zu zeigen, dass das mit der Vervollkomm­ nung tief Ersehnte – das Wahre, Gute, Schöne, Sinnhafte zu finden und zu sichern – bei aller konkreten Wunscherfüllung unerreichbar bleibt. Sofern aber der Mensch, obwohl er immer wieder diese tra­ gische, da zugleich erfüllende und enttäuschende Erfahrung macht, kaum oder nur in einer äußerst nüchternen und ihrerseits teuer zu erkaufenden Lebenshaltung706 sein Wünschen und Wollen zu läutern vermag, greift ihm das Schicksal hier, gerade indem es sein Bestreben vereitelt und ihm stets wieder ein Nicht-erreichtes, ein neues Erreichbares eröffnet, unter die Arme. [W]ährend wir uns den Weg vorwärts, zur Erfüllung, selbst bahnen können, kann den zurück, zum Unerfüllten, nur das Schicksal öffnen, dem allein wir so die andere Hälfte des Lebens verdanken. Indem es in der Katastrophe das von uns Gebaute wieder zerstört, gönnt es uns das große Geschenk des Neubeginns.707

Auch wenn es zweifellos problematisch ist, in dieser anthropologischluxuriösen Sichtweise auf einen Menschen, der sozusagen immer im »Zeitalter der Erfüllungen« lebt, die faktisch schweren Schicksale von Menschen außer Betracht zu lassen, eröffnet sich so zugleich ein posi­ tives Verständnis jener grundlegenden Funktion, die das Schicksal für ›den Menschen‹ hat und damit überhaupt erst der allgemeine Rahmen für eine Unterscheidung verschiedener Schicksalsformen. Gerade weil der Mensch, noch im Kampf gegen sein Schicksal, »mit ihm eine aufeinander abgestimmte Einheit«708 bildet, wird verständlich, dass ihm nur ein Schicksal ›mittlerer Schärfe‹, nur ein mittleres Challenge Angriffs- und Gestaltungsfläche zu sein vermag. Dagegen ist das »überwundene Schicksal […] auch der überwundene Mensch«709 – das heißt: wer meint, in der Bewältigung einer konkreten Lebensauf­ gabe auch sein Schicksal als Mensch überwunden zu haben, der ›hört Landmann: PuA, S. 159: »Es bedeutet demgegenüber noch einen weiteren Abbau, wenn man die Nüchternheit aufbringt, es [das Schicksal, Anm. F.S.], wie von keinem Willen herrührend, so auch als keiner Vernunft, auch nicht einer höheren, gehorchend, als ein gar nicht unter den Kategorien des Sinns und des Wozu Stehendes, zu erfahren und hinzunehmen«. 707 Ebd., S. 169. 708 Ebd., S. 173. 709 Ebd. 706

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in diesem Moment auf‹, Mensch i.S. eines ewig unvollkommenen und daher auf ewig strebenden Wesens zu sein. »Da seine beste Kraft nicht mehr bedurft wird, keine Angriffsfläche mehr findet, entfaltet sie sich nicht mehr und degeneriert. Er lebt nicht mehr aus seiner ursprünglichen Anlage.«710 Dieser ›Aristokratismus des Menschseins‹ ist durchaus befremdlich, aber zugleich plausibel, wenn man ihn versteht als kulturkritisches Plädoyer für ein reichhaltig veranlagtes Individuum, das sich mit dem Status Quo nicht einfach zufrieden gibt und für das einzustehen nottut – allzumal in einem ›Zeitalter der Erfülltheiten‹, das seiner offensichtlich nicht mehr zu bedürfen scheint. Typen des Schicksals: Das nicht befriedigend Aufzulösende an Landmanns Schicksalsbegriff ist, dass dem Menschen aus derselben Welt, die ihn zunächst sich selbst befremdet (genauer: die ihn sich seiner selbst entfremdet vorfinden lässt), zugleich der Anstoß seiner Selbstverwirklichung zuwachsen soll. Das aber heißt, dass weder unter den Umständen »absoluter Bedingtheit, allseitiger Unterwor­ fenheit unter ein Notwendiges« noch unter denen »absoluter Frei­ heit«711 von Schicksal gesprochen werden kann. Wie immer in Land­ manns Philosophie liegt auch hier »die Wahrheit in der Mitte. In dramatischer Spannung muß sie Zielstrebigkeit und Schicksal verbin­ den. Zwischen Freiheit und Fug sind wir ›ein Gespräch‹.«712 Anders als in einem solchen offenen Gespräch neigt der Mensch durchaus dazu, positive Entwicklungen seines Lebens sich selbst und seiner Freiheit entspringen zu lassen, das negativ ihm Widerfahrene und Widerfahrende dagegen dem Schicksalslauf der Welt zuzuschieben. Gegen diese normative Aufspaltung des Schicksalsbegriffs ist mit Landmann grundlegend festzuhalten, dass das Schicksal als solches, das uns wohlgesonnene wie das uns feindliche, kontingent, unver­ fügbar, unüberspringbar, unbezwingbar und letztlich unbegreifbar bleibt.713 Jede vorschnelle Bewertung ist als Versuch anzusehen, das von außen Kommende, in sich Sinngleichgültige spiritualistisch Landmann: PuA, S. 173. Ebd., S. 159. 712 Ebd. Ganz ähnlich Buber: »Schicksal und Freiheit sind einander angelobt. Dem Schicksal begegnet nur, wer die Freiheit verwirklicht. Daß ich die Tat, die mich meint, entdeckte, darin, in der Bewegung meiner Freiheit offenbart sich mir das Geheimnis; aber auch, daß ich sie nicht so, wie ich sie meinte, vollbringen kann, auch in dem Widerstand offenbart sich mir das Geheimnis« (Buber: Ich und Du, S. 51). 713 Landmann: Der rechte Umgang mit dem Schicksal, S. 1267 f.

710 711

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8.6 Elemente für eine Theorie gelingenden Lebens

oder animistisch verfügbar zu machen. Von hier aus lässt sich für den Menschen dann allerdings »das harte und feindliche Schicksal, das seine Lebenslinie knicken will« und gegen das er sich je nach Kraft auch durchzusetzen vermag714 unterscheiden vom »leichte[n], güns­ tige[n] und gnädige[n] Schicksal.«715 Was nun aber vor allem, indem »die Position des Lebens zwischen Eigenwillen und Schicksalsfü­ gung«716 unkündbar bestimmt ist, denkbar wird, das ist »das (oft noch in der Härte) segensreiche Schicksal.«717 Der Schicksalssegen muss nicht allein objektiv darin bestehen, dass das den Einzelnen sinnwid­ rig Anmutende schließlich doch an und in seiner Lebenslinie einen sinnvollen Inhalt gewinnt, er kann sich auch subjektiv darin zeigen, dass der Einzelne erst im Donnern des ihn hart Betreffenden über­ haupt auch den Oberton seines Gestaltungsauftrags vernimmt – wie umgedreht ein leicht-günstiges Schicksal bei einer entsprechenden Stimmungslage und Mentalität als ein den Stolz des autonomen Indi­ viduums beschämendes Geschenk empfunden werden kann.

8.6 Elemente für eine Theorie gelingenden Lebens Mit Landmann lassen sich dem Schicksalsbegriff Elemente für eine Theorie gelingenden Lebens abgewinnen, wobei die Bestimmung dessen, was als gelungen gelten kann, unmittelbar zusammenhängt mit dem anthropo-logischen Sinn einer Rede vom Gelingen. Challenge und Aufgabe, virtus und fatum: Dialektisch betrachtet hängt das Gelingenkönnen menschlichen Lebens an seinem Misslin­ genkönnen. Damit ist aber die anthropologische Frage noch nicht beantwortet, warum sich der Mensch überhaupt in einer Situation vorfindet, in der bzw. aus der heraus ihm etwas gelingen oder misslin­ gen kann. Für Landmann liegt die Antwort in der Angewiesenheit des Menschen auf das Hervorbringen und Gestalten kultureller Lebens­ formen, das sich – was entscheidend ist – sowohl darin bekundet, dass er in eine bestimmte Menschseinsweise hineingeboren wird als auch darin, dass er diese mit seiner Eigentümlichkeit vermit­ telt. Menschliches Leben ist weder reine Entfaltung vorbestehender 714 715 716 717

Vgl. Landmann: PuA, S. 188. Vgl. Landmann: Der rechte Umgang mit dem Schicksal, S. 1266. Ebd., S. 1267. Landmann: Plädoyer für die Entfremdung, S. 146 f.

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Anlage noch reine Erfüllung vorschwebender Ziele, sondern gelingen könnende Vermittlung polarer Kräfte, bei der der Einzelne noch an der Überformung durch ihn Übersteigendes dennoch als Individuum zu wachsen vermag.718 Ebenso wenig wie Kultur sind Geschichte und Schicksal den Einzelnen sekundär oder äußerlich betreffende Akzi­ dentien, sondern mit seinem Zur-Welt-kommen gleichursprüngliche Aufbaufaktoren. Ja, sie sind gar nicht zu trennen, was Landmann folgendermaßen verbildlicht: »Das fatum bildet gleichsam die verti­ kale, virtus, die menschliche Eigenkraft, die horizontale Linie unseres Lebens. Die beiden sind der Zettel und der Einschlag, aus denen sein Gewebe gewoben ist.«719 Damit können wir den Sinn einer Rede vom Gelingen bestim­ men: gelingen kann menschliches Leben als das Produkt zweier Kräfte, die zwar in Spannung stehen, aber doch zugleich dieses Leben überhaupt konstituieren, d.h. es nicht nur in dialektischer Prozessua­ lität, sondern aus lebendiger Gleichursprünglichkeit sich vollziehen lassen. »Techne und tyche, virtus und fatum wirken immer zugleich. Das Gelebte ist ein Ineinander von beiden.«720 Genau darin, in der Nichttrennbarkeit und nur bedingten Unterscheidbarkeit zweier Ansprüche besteht deren – nicht einfach nur dialektisch zu nennende – Spannung. Man könnte sagen, dass sich im In-die-Welt-treten des Wesens Mensch zwei Linien voneinander trennen auf genau solche Weise, dass als ihre Spannung, in ihrem Spannungsraum dieses Wesen Mensch sein Leben vollzieht. Entsprechend misslingt menschliches Leben in einem anthropologischen Sinne, sobald die Spannung, die es im Grunde ist, zuungunsten einer der beiden Kraftpole aufgelöst wird. Menschliches Leben ist nicht nur evolutionsbiologisch, sondern auch anthropologisch betrachtet alles andere als selbstverständlich, da es gelingen muss, um zu sein. Damit aber, mit dem Hinweis auf die Nichtselbstverständlichkeit des Mensche,n mischt sich ein normatives Moment in die vermeint­ lich bloß kulturphilosophische Deutung. Weil Menschsein ›misslin­ gen kann‹, ist für den Modus seines Gelingens einzutreten, d.h. mit Landmann: für die menschliche Kreativität einzutreten; dies aber nicht etwa, weil der Mensch in ihr als Schöpfer seiner selbst und der Welt sein göttliches Erbe antritt, sondern weil nur sie als den kreativen 718 719 720

Vgl. Landmann: Berliner Rückblenden, S. 683. Landmann: PuA, S. 187. Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 277, Herv. F.S.

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8.6 Elemente für eine Theorie gelingenden Lebens

Vorausgriff und das Aufgreifen eines Bestehenden vermittelnder Handlungsmodus produktiv wirksam zu werden vermag. Das Gelin­ gen schöpferischen Handelns, zu dem die »Macht des Schicksals« und das »eigene[] planvolle[] Wirken« zusammenwachsen, »bildet die Probe für den richtigen Umgang mit der Zukunft.«721 Von hier aus wird noch einmal deutlich, welchen speziellen Sinn es hat, wenn Landmann den Schicksalsbegriff gerade als philosophi­ sche Kategorie fruchtbar ins Spiel bringt. Folgten die klassischen Ver­ nunftanthropologien selbstgenügsam dem autonomistisch-reduktio­ nistischen Vorurteil und Kurzschluss des Vernunft-Menschen, so liefert Landmann umgekehrt mit einem anthropologisch tieffra­ genden Schicksalsbegriff ein differenziertes Verständnis auch der menschlichen Autonomie, die nun in ihrer kulturellen Verankerung zutage tritt. Die Philosophie erwartet, so wie sie selbst aus ihr hervorging, vom Menschen Autonomie. Was dieser entgegensteht, achtet sie so wenig wie der mittlere Platon das, was später Materie heißt. Auch hier monis­ tisch, überläßt Philosophie den Begriff des Schicksals der Religion und der Dichtung. In Wirklichkeit ist das »Entgegenstehende« sowohl das, was der Autonomie als Ausgangslage dient und ihr eine Richtung gibt, wie, als challenge, das Stimulans ihrer Phantasie und ihrer Kraft.722

Hier wird augenfällig, dass bei Landmann Schicksal und Schicksals­ sinn nicht grundsätzlich in Widerspruch zur menschlichen Selbst­ bestimmung stehen, auch wenn sie real in derartige Spannungen geraten, dass es scheint, als sei deren geistige Verarbeitung nur noch auf radikal dualistische Weise zu bewerkstelligen. Dagegen wagt Landmann ein erweitertes Verständnis menschlicher Selbstbe­ stimmung, wobei weder das Selbst noch Movens und Ziel seiner Bestimmung an den Grenzen des Subjekts ihr Ende finden. »Gnade des Unvorhersehbaren« und Geschenk der Gefahr: Wir kommen hier auf einen äußerst wichtigen Zusammenhang, der ver­ deutlicht, dass Landmann, wenn er sich gegen die Vernunftanthro­ pologie des autonomen Subjekts wendet, damit auch gegen deren verkürztes Verständnis menschlicher Individualität opponiert. In der Anthropologie des ›animal rationale‹ zeichnet die Vernunft den Menschen als Gattungswesen aus. Sie wirkt darüber hinaus entindi­ vidualisierend indem mit der Vernunftfähigkeit die Erkenntnis der 721 722

Landmann: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, S. 389. Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 277.

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allgemeinen, ewigen, das Sein des Kosmos betreffenden Wahrheiten gemeint ist. Man mag zwar in der griechischen Vorstellung einer individuellen, unsterblichen Seele den Versuch erblicken, auch dem Einzelnen ein ihn Besonderndes zuzusprechen, aber nicht nur gibt es für Platon neben dem Menschen andere beseelte Lebewesen, sondern wichtiger noch bildet in der Anthropologie und der entspre­ chenden Erziehungsvorstellung das den Menschen Bezeichnende seine Vernunft; lediglich ›als Gattungswesen‹ ist er individuell. Unter dieser Voraussetzung tritt das vernunftkritische und gerade für das Individuum und seine einmalige Geschichte engagierte Motiv in Landmanns Schicksalsbegriff hervor. Wenngleich der Einzelne nur mittels Vernunft sein Schicksal zu erkennen vermag, so ist es doch – wenigstens in diesem Aufriss – nicht die Vernunft, die ihn einmalig macht, sondern sein Lebensweg, dessen Einmaligkeit sie erkennt. Nun wäre zu fragen, warum auch noch der moderne, für seine Einzigartigkeit hochsensible Mensch seinen Einzigartigkeits­ stolz ausgerechnet aus der Erkenntnis, die er mit allen teilt, ziehen zu können glaubt. Die Antwort liegt nah: Etwas von der antiken Selbstbefreiungsbewegung der Vernunft und v.a. etwas von ihrem positiven Wertakzent vermittelt sich über die Jahrtausende hinweg relativ robust als Identifizierung von Autonomie und Erkenntnis; umgekehrt hält sich die grobschlächtige Ineinssetzung von Tradition und Zwang. Dabei, und hier treten wir auf einen allerdings aufschluss­ reichen Grund, tritt gerade unter dem Streben nach individueller Selbstbestimmung bzw. als seine Tiefenschicht das Streben nach Selbstkontrolle, Selbstsicherheit und Selbstbeständigkeit hervor. Das Erfolgsrezept der Anthropologie des ›animal rationale‹ besteht darin, den Menschen mittels Vernunft an der Beständigkeit und Sicherheit des Kosmos und über die Prämierung der Vernunft auch an dessen Wahrheit, Schönheit und Güte teilhaben zu lassen. Auch in diesem vielleicht zu groben Bild wird deutlich, dass in der Aversion gegen das zufällige und herausfordernde Schicksal immer auch eine Aversion gegen die darin liegende Verunsicherung und den Veränderungsap­ pell liegt bzw. zum Ausdruck kommt.723 Umgekehrt ist gerade im Schicksalsbegriff die Idee des in seiner nur bedingt kontrollierbaren – und gerade darin seine Einzigartigkeit bekundenden – Geschichte erst werdenden und sich zeigenden Individuums radikal ernst genommen. 723

Vgl. Landmann: UuS, S. 94.

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8.6 Elemente für eine Theorie gelingenden Lebens

Die Vernunftskepsis führt bei Landmann jedoch nicht in einen strengen Irrationalismus, sondern – wie wir bereits sahen – zum einen in die Pluralisierung der Vernunft, zum anderen in so etwas wie eine ›Vergeistigung‹ des Seins, d.h. gewissermaßen in eine Erweiterung der Vernunftsphäre über den Menschen hinaus. Zwar lässt sich Landmann zufolge, wie wir oben sahen, das unverfügbare Schicksal nur sehr begrenzt über Vergeistigung oder Verinnerlichung verstehen oder kontrollieren, wohl aber lässt sich umgekehrt gerade seiner Kontingenz ein allgemeiner geistiger Sinn zusprechen. Diese »eigene Weisheit der Kontingenz«724 wird bei Landmann sogar noch sprachlich sakralisiert zur »Gnade des Unvorhersehbaren«.725 Dieses Pathos ist nur verständlich als Ausdruck der tiefen Überzeugung, dass der Mensch (als Gattungs- wie als Einzelwesen) in der Individualität und Freiheit seines Schicksals sein zentral Bestimmendes und sein Wertvollstes besitzt. Menschlicher Neubeginn verliert zwar hier, in der anthropologischen Betrachtung, nichts von seiner hell aufspren­ genden Kraft als Neubeginnenkönnen, macht aber neben dieser auch seine Bedeutung als Neubeginnenmüssen und die damit verbundene Härte geltend: »Erst wem der bisher begangene Weg versperrt, wer aus ihm herausgeschleudert wird, der bahnt sich neuen Weg.«726 Die fruchtbare Provokation von Landmanns Philosophie des Menschen besteht darin, dass sie ihm zutraut, noch im Widerständigsten einen Anhaltspunkt seiner selbst finden, das heißt neu beginnen zu können. Sogar die Bedrohung spricht »als schicksalhafte Begegnung mit dem unberechenbaren Außerhalb […] das Innerste an und ruft es empor. Indem sie die Möglichkeit des Verhängnisses einschließt, gewährt sie die Möglichkeit der Umgeburt.«727 »Frömmigkeit des Lebens«: Etwas anders gestaltet sich das Ver­ hältnis zwischen dem Einzelnen und seinem Schicksal, wenn nicht letzteres sich ersterem unmissverständlich auferlegt und ihm eine kreative Antwort abverlangt, sondern umgekehrt der Mensch ver­ sucht, proaktiv sein Schicksal ›in die Hand zu nehmen‹. Hier warnt Landmann vor allzu raffinierter Konstruktion: »Man muß versuchen, mit dem Fatum zu harmonieren, mit ihm ›in Übereinstimmung zu leben‹ und es nicht zu sehr durch eigenes Wünschen und kluges Pla­ 724 725 726 727

Landmann: Der rechte Umgang mit dem Schicksal, S. 1271. Landmann: AgV, S. 92. Landmann: EdI, S. 212. Ebd., S. 247.

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nen zu irritieren.«728 Wenn Landmann hier schon das Schicksal derart vermenschlicht bzw. animistisch verklärt, dass es Irritation empfinden kann, so geht er im Folgenden sogar noch weiter und beschreibt das Verhältnis zwischen Mensch und Schicksal ungewohnt harmonis­ tisch: Vor allem muß man den rechten Moment spüren, in dem man für das zu Erlebende erst reif ist. Ist man selbst reif, so wird es auch äußerlich reif und man zieht es herbei. Diesseits aller bestimmten Religion und unabhängig von ihr gehört es zur Frömmigkeit des Lebens, diesem Moment geduldig entgegenzuharren. […] Wartenkönnen ist die Belas­ tungsprobe auf die Stärke der Seele.729

Der Versuch, sich hier mit der der Natur entnommenen Metapher der Reifung diesseits von Religion zu stellen, täuscht nicht darüber hinweg, dass die hier geforderte Frömmigkeit, die im Übrigen auch an die stoische ›Kosmosfrömmigkeit‹ erinnert, merkwürdig schwebend bleibt. Und, so könnte man weiterfragen, was eigentlich kann im Einzelnen heranreifen, wenn dieser doch seine Lebensform und damit sich selbst überhaupt erst kreativ ersinnen und erschaffen muss? Letztlich bleibt hier eine Ungereimtheit zurück, die allerdings einen weiteren Anstoß bilden könnte für die Unterscheidung von Schick­ salsformen. Wie es scheint ist dieses mystisch anmutende Zitat und die darin ausgedrückte Idee einer Synchronisierung verschiedener Reifungsprozesse ein Hinweis darauf, dass Mensch und kulturelles Schicksal nicht etwa naturteleologisch, sondern nur in dialogisch zu führender Beziehung im Wechsel von Aktivität (Initiative) und Passivität (Ausharren) zueinander finden können. Wie im Gelingen­ müssen menschlichen Lebens das Misslingenkönnen seine Chancen wittert, so liegt in der Reifung die Möglichkeit der Zufrüh- oder Zuspätreife, im Warten das Zukurz oder Zulang.

8.7 Sinn und Sinnloses, vom Sinnlosen zum Sinn-Los Eine weitere Bedeutung des im Zitat Gesagten wird deutlich, wenn wir uns Landmanns Ausführungen zur für sein Geschichtsverständnis zentralen Frage nach dem Sinn und Unsinn der Geschichte resp. 728 729

Landmann: Der rechte Umgang mit dem Schicksal, S. 1275. Ebd.

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8.7 Sinn und Sinnloses, vom Sinnlosen zum Sinn-Los

Geschichten zuwenden. Wir legen damit im menschlichen Sinnbe­ dürfnis ein psychologisches Motiv frei, das zentraler Stimulus ist sowohl für das Überwindenwollen von Geschichte und Schicksal wie auch für den Wunsch, sie plan- und kontrollmäßig zu gestalten. Das ursprüngliche Im-Sinn-Stehen: In Landmanns Überlegungen zur ›Sinnfrage‹ begegnet uns etwas wieder, das bereits als Monismus des Kulturgefühls erläutert wurde und das auch in engem Zusammen­ hang mit der mythischen Seelenschicht steht. Die Normalität seiner kulturellen (aber noch nicht in ihrer bzw. als Kulturalität erfahrenen) Umgebung vermittelt sich dem Menschen ›ursprünglich‹ in einer Schicht seines Welterlebens als Sinnhaftigkeit. Solches Erleben kennt keinen erst noch zu erkennenden oder zu verwirklichenden Sinn, ihm entbindet sich weder Kritik noch Geschichte. In unbelehrbaren harmonistischen Tiefen der psychischen Urwirklich­ keit stehen wir in einer sinndurchwalteten Welt, in der Sein und Sollen noch nicht auseinandertreten. Sowohl das Daß wie das Wie sind hier notwendig und gut, Glieder einer großen Ordnung, deren Walten wir auch dort voraussetzen, wo wir sie im einzelnen im Moment nicht durchschauen. Das Ja ist älter als das Nein.730

Diese Überlegung ist wichtig, um zu sehen, dass die anthropo-logisch betrachtet notwendige Geschichtlichkeit im menschlichen Erleben sekundär und keineswegs selbstverständlich ist. Es wird außerdem deutlich, dass das Geschichte-haben des Menschen mit der Sinnfrage ursprünglich verbunden ist, sei es dadurch, dass der Sinn fragwürdig (und damit überhaupt thematisch) wird durch immanente Wider­ sprüche, das Auftauchen eines ›konkurrierenden‹ Sinns oder die Erfahrung des Sinnlosen. Die Sinnhaftigkeit der Weltdinge macht sich grundlegend und sozusagen prähistorisch geltend als ihre Geordnet­ heit und Notwendigkeit. Es kennzeichnet solches Sinnerleben, in dem die Zeit noch nicht aufgefächert ist, das Sein noch nicht in Wirklichkeit und Möglichkeit zerfällt, dass die Sinnfrage nach dem Woher und Landmann: EdI, S. 195 f. Für dieses ursprüngliche Im-Sinn-stehen ist Landmann gerade hinsichtlich seiner Funktionalität für das kulturelle Leben des Menschen sen­ sibel und ihm gegenüber zwar zugleich kritisch, ohne es jedoch als primitives Bewusst­ sein oder dergleichen abzutun. Grundsätzlich geht er – so Hupe, der ihn hier mit N. Hartmann vergleicht – »mit dem ›naiven Bewußtsein‹ des Menschen nachsichtiger, verständnisvoller um. Grund dafür ist sicher nicht, daß er der größere Menschen­ freund ist. Eher mögen Unterschiede in der ganzen Weltsicht beider eine Rolle spielen« (Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 103). 730

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8. Geschichte

Wohin dieser Welt noch nicht virulent geworden ist. Landmann spricht von einer Erlebnisschicht ›vollkommen präsenten Vertrauens‹ (»fides perfectionis praesentis«731), die verständlich macht, dass, wie seiner Weltoffenheit eine Weltgeschlossenheit, so seiner Sinnoffen­ heit ein Sinnerleben, d.h. das Erleben eines geschlossenen Sinns zugrunde liegt bzw. korrespondiert. Was das Sinnerleben betrifft, sind die Verhältnisse also genau umgekehrt als es intuitiv erscheinen mag: nicht der Mensch legt in die prinzipiell sinnlose Welt einen Sinn hinein, sondern das ursprüngliche Sinnerleben öffnet seinen Horizont für das Erleben und das Erwägen des Widersinnigen oder gar Sinnlosen. Es ist hier wie bei der doppelt gefüllten »anthropinen Lücke«: Nicht ein Mangel zieht die Fülle nach sich, sondern die Fülle, genauer müsste man sagen: die Überfülle ermöglicht überhaupt erst das Mangelempfinden; der Sinn kompensiert keinen Mangel, sondern wegen des Sinns ist da ursprünglich gar kein Mangel. »Neben diesem stratum kommt die Erfahrung des Sinnlosen ursprünglich gar nicht auf. Kritik setzt biographisch wie geschichtlich erst in einer zweiten Phase ein, sie bedarf, um Habitus zu werden, der Ermunterung und Schulung.«732 Der Stachel des Sinnlosen: Vom ursprünglichen Im-Sinn-Stehen des Menschen zu unterscheiden ist sein sozusagen ›sekundäres‹ Sinn­ bedürfnis; diese Unterscheidung ist wichtig, um deutlich zu sehen, dass sich Landmanns »Plädoyer[] für das Sinnlose« lediglich gegen die »Exzesse[] der Sinnverleihung« richtet und nicht etwa erwächst »aus Gegnerschaft gegen den Sinn, sondern aus Nüchternheit. Es gilt den Sinn zu erkennen, wo er ist, nicht ihn zu imaginieren, wo er nicht ist.«733 Es bedarf eines expliziten Ausspruchs für die Sinnlosigkeit, weil im der Sinnverleihung zugrundeliegenden Sinnbedürfnis ver­ schiedenartige Motive des erkennenden Verstehens wie des ethischen Empfindens untrennbar zusammenströmen: »Das Uneinsehbare demütigt den Geist, Unrecht verletzt unser ethisches Empfinden.«734 Und entsprechend sind auch in der nachträglichen Sinndeutung selbst erkenntnismäßige und ethisch-moralische Motive und Aspekte syn­ thetisch verbunden. Hier setzt Landmanns wiederum als Vernunft­ kritik zu verstehende Skepsis gegenüber jedweder Einheits- und 731 732 733 734

Landmann: EdI, S. 196. Ebd. Ebd., S. 199. Ebd., S. 198.

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8.7 Sinn und Sinnloses, vom Sinnlosen zum Sinn-Los

Vollkommenheitsmetaphysik an. Im Versuch, das ursprüngliche und nun durch die Erfahrung des Sinnlosen erschütterte Im-Sinn-Stehen geistig sublimiert in einem philosophischen System sekundär wieder­ zugewinnen, ist sie unausweichlich »eine Metaphysik des schlechten Trostes. Metaphysik, zur Entdeckung wahrerer Wirklichkeit geboren, stellt sich in den Dienst der Flucht vor der Wirklichkeit.«735 So heftig auch die Erfahrung des Sinnlosen den Menschen in seinem ursprüng­ lichen Sinnerleben beleidigt und aus seiner Heimat herausfallen lässt, so unabdingbar ist sie für ihn, um den Sinnschein jener monistischabsolutistischen sekundären Heimaten durchschauen zu können. Da der Harmonismus des Sinnglaubens einem allzu menschli­ chen Bedürfnis entgegenkommt, gewinnt die Erfahrung des Sinnlo­ sen bei all ihrer Dramatik auch eine kritische Funktion: Sobald sie »erstarkt, findet sie das Feld durch den Sinnglauben schon besetzt. Sie muß daher beginnen als seine Falsifikation. Sie wächst nur in dem Maß, als sie ihn abbaut und rückgängig macht. Wie oft, so ist auch hier der erste Schritt der Wahrheit die Destruktion des Scheins.«736 Je nachdem, wie tief der Glaube an einen allwahren, allmächtigen und allgütigen Sinn wirksam ist, stellt sich das als sinnlos Erfahrene im Anschluss an den sinnkritischen Abbau der Monometaphysik womöglich sogar als selbst sinnhaft bzw. das bisher als sinnvoll Vermeinte als völlig sinnlos heraus. Damit ist die Möglichkeit sowohl einer – der Idee nach, jedoch nicht wörtlich in dieser Formel von Nietzsche postulierten – ›Umwertung der Werte‹ als auch einer Pluralisierung der Wert- und Sinnsphäre eröffnet. Es ist bezeichnend, dass sich gerade bei den Griechen als den ›Entdeckern‹ der Einheitsund Vollkommenheitsmetaphysik zugleich eine Pluralisierung der Werte in Form eines Polytheismus finden lässt, der in den Konflikten und Antinomien auch einen Bereich für das Sinnlose ausspart. Die­ ser reif-ernsthafte Realitätssinn der Griechen steht aber weniger in Widerspruch zu ihrer metaphysischen Seinsfrömmigkeit737, sondern ist vielmehr wie diese auch bereits Produkt einer Autonomisierung der Kulturgebiete, die überhaupt ermöglicht, dass jedes in seiner Richtung ›bis zum Äußersten‹ geht. Die absurde Welt ist die sinnoffene Welt: Nun sind allerdings die sinnwidrigen Konflikte bei den Griechen wieder insofern entschärft, 735 736 737

Landmann: EdI, S. 158. Ebd., S. 198. Vgl. Landmann: JM I, S. 223.

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als es eben Konflikte der Göttinnen und Götter sind, womit sie unmittelbar wieder eine gewisse Sinnhaftigkeit suggerieren. Dagegen verlangt Nietzsches aus radikaler Kritik am religiösen Moralismus als solchem entspringende ›Umwertung der Werte‹ vom Einzelnen, »den entsetzten Blick auf eine nur noch sinnlose, häßliche, böse und leidende Welt zu richten.«738 Solchem »Grundgefühl von der tiefen Irrationalität und Wertfremdheit des Seins«739 muss jegliche, auch die pluralistische »Projektion eines moralischen Sinnglaubens auf die Lebens- und Geschichtsrealität als wunschdenkend illusionistisch«740 erscheinen. Landmann kann sowohl der ›nihilistischen‹ Sinnleug­ nung Nietzsches als auch dem ›ästhetischen‹ Sinnpluralismus der Griechen etwas abgewinnen. Aber sind deshalb Harmonie und Sinn nur Vordergrund oder gar Schein? Leben wir in einer »absurden« Welt? Das hieße zu früh resignieren. Wovon wir abkommen und abkommen müssen, das ist bloß der Glaube an Ursprünglichkeit und Vorherrschaft des Sinnvollen, innerhalb dessen das Absurde nur eine eigentlich nicht sein sollende Enklave wäre. Es vollzieht sich eine jener großen Umkehrungen, an denen Leben wie Geschichte so reich und durch die sie dramatisch und überraschend sind. Primär und dominant ist das Absurde. Innerhalb seiner gibt es jedoch Inseln. Das Absurde und der Sinn sind wie polare Kräfte, die sich gegenseitig ihr Recht gönnen müssen. Indem sie jedoch miteinander ringen, steigern sie sich gegenseitig.741

Diese Textstelle ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Zunächst sehen wir, dass bei aller Ursprünglichkeit des Sinnerlebens im Men­ schen das Sinnvollsein der Dinge, wenn überhaupt, sekundär ist. Aufschlussreich ist die Trennung von Sinnerlebnis und Sinnfülle des­ halb, weil so deutlich wird, dass sich die Weise, auf die der Mensch in seinem ursprünglichen Im-Sinn-Stehen die Welt als sinnhaft erlebt, fundamental unterscheidet von der Weise, wie er das Sinnvollsein der Dinge erlebt, denen er Sinn verliehen hat. Der Unterschied kommt daher, dass der Mensch sich im ersten Fall gar nicht als von der Welt getrennt erlebt – und genau diese Einheitlichkeit ist die bestimmende Qualität seines Sinnerlebens. Dagegen erhalten die Dinge im zweiten Fall einen Sinn für den Menschen, der sich 738 739 740 741

Landmann: GuL, S. 25. Ebd., Herv. F.S. Landmann: JM I, S. 223. Landmann: Formgründende Erfahrung, S. 4.

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bereits als von ihnen getrennt erlebt und sie sich so wieder verbunden sein lässt. Die Erfahrung des Sinnwidrigen oder Sinnlosen lässt ihn aus dem Sinngefüge, nicht aber aus dem Seinsgefüge der Welt fallen; genau dieses Sowohl-als-auch, diese Sinnkluft, die zwar zwischen Mensch und Welt entsteht, ohne dass sich aber beide real voneinander entfernen würden, d.h. die Sinnindifferenz des evident Seienden macht die Erfahrung erst zu einer absurden. Nicht als reale Substanz ist das Absurde primär und dominant – es ist überhaupt nicht real im strengen Sinne –, sondern als quasi zwischen Subjekt und Objekt liegende Erlebnisweise. Die Erfahrung des Absurden liegt insofern am Ursprung der Bezüge des Menschen zur Welt, als er aus der Einheit mit der Welt prinzipiell herausfällt, was die aktive, jene Subjekt-Objekt-Spaltung gestaltend überbrückende Bezugnahme zur Welt erst aufkommen lässt. Das Sinnganze der Metaphysik ist dem Menschen nun ein für allemal verwehrt, womit er aber gerade sein Höchstes gewinnt, d.i. die Fähigkeit zur konkreten Sinnstiftung, von Landmann in das Bild der Sinninseln gesetzt. Dieses Bild ist auch insofern trefflich, als es die Bedeutung des erst konkret topisch zu entdeckenden und zu stiftenden (und eben nicht begrifflich der ganzen Welt überzustülpenden) Sinnes enthält, wodurch Sinn zu einer geschichtlichen Kategorie wird: Die Beleihung der Welt mit einem in ihr nicht vorhandenen Sinn ist aber mehr als Irrtum. Indem sie im Kontinuum des Sinnes nirgends eine Lücke läßt, verhindert sie die Entstehung neuen Sinnes. Erst die Erfahrung des Sinnlosen befreit zur Geschichte, die es beheben will. Wo die Kraft zum Eingeständnis des Sinnlosen steigt, steigt die Kurve der Geschichte mit. Die sinngesättigte Welt dagegen bleibt ruhend starr.742

Von hier aus wird deutlich, dass das Im-Sinn-stehen des Menschen zwar eine anthropo-logisch notwendige Voraussetzung seines Lebens als Kulturwesen, paradoxerweise aber ein Hemmnis für sein Leben als schöpferisches, zur Geschichte hin offenes und zur Werterealisa­ tion fähiges Wesen darstellt. Das Balancierenmüssen von Traditio­ nalität und Schöpfertum kehrt hier wieder als Balancierenmüssen von Absurdität (einer sinnlos gewordenen, dennoch wirkmächtigen Tradition) und Sinngewinn (an neu zu schaffender Form). Bliebe der Mensch im Schein einer sinndurchwalteten Welt gefangen, ›verlöre‹ 742

Landmann: EdI, S. 200.

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die Welt nicht nur jenen Sinn, den sie ohnehin nicht hat, also ihren Unsinn, sondern entbehrte auch jedes Sinns, den sie im Menschen und durch sein Wirken erst und nur gewinnen kann. »Der Mensch wäre überflüssig in ihr, hätte nichts mehr zu vollbringen. Nur die Sinnarmut der Welt rechtfertigt den Menschen, sie gibt ihm den Raum und den Auftrag für seine eigene Sinnstiftung.«743 Indem er aber die Welt gestaltet, gewinnt sie an dem in dieser Gestaltung vom Menschen gestifteten Sinn allerdings selbst Anteil. Indem der Mensch so aus dem Teufelskreis von überzogenem Sinnanspruch und überzogener Sinnleugnung ausbricht, wird ihm die Rechtferti­ gung seiner selbst und der Welt zur zwar endgültig unhintergehbaren Notwendigkeit, aber gerade deswegen, gerade darin kreativ immer wieder neu zu bewältigenden Aufgabe. Der Sinn der Geschichte und der historische Sinn: Was mit Land­ mann unter ›Sinn‹ zu verstehen ist, hat sich in den bisherigen Über­ legungen vom Sekurität und Zugehörigkeit gewährenden Erlebnis (bzw. vom metaphysischen Gedanken) zu einem Individualität und Freiheit schenkenden Element kreativ-geschichtlichen Lebens gewan­ delt. Von hier aus erhellt sich auch der wichtige Unterschied zwi­ schen hebräischem und ›goethezeitlichem‹ Geschichtsverständnis. Ersteres kennt zwar bereits die neu beginnenden und einzigartigen Einzelgeschichten der Menschen, lässt diese aber ihrem Verlauf und Sinn nach in einem Übergeordneten, d.i. die Heilsgeschichte des ›auserwählten Volkes‹ bzw. der Menschheit als ganzer, eingebunden sein. Als Schöpfung Gottes bezieht die Welt hier, auch wenn sie sich mit der Vertreibung der Menschheit aus dem Paradies, in dem sie gleichsam ›im Sinn stand‹, für sie und ihr historisches Schicksal öffnet, ihren Sinn letztlich immer von Gott. Sofern Gott aber der Eine ist, muss auch der Sinn einer für alle sein; in dieser Hinsicht ist auch das hebräische Geschichtsverständnis monistisch, seine Sinnperspektive ein schlechter Trost. Zur wirklich konsequenten Pluralisierung des Sinns kommt es Landmann zufolge in der (von ihm unter diesem heute ungebräuchli­ chen Terminus zusammengefassten) Goethezeit. Erst hier »wird das In-sich-sinnvoll-sein des Einzelgeschichtlichen entdeckt, das durch den Sinn der ganzen Geschichte gerade verhüllt worden war.«744 Hier bricht sich der gewissermaßen kühne Gedanke Bahn, dass 743 744

Landmann: EdI, S. 202. Landmann: Geschichtsphilosophie, S. 692.

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weder ein ewig bestehender Sinn sich nur historisch entfaltet, noch die Geschichten der Menschen auf eine künftige Sinnerfüllung hin sich ereignen, sondern, dass am Einmaligen selbst ein einmaliger Sinn unablösbar haftet. 745 Diese radikale Verdiesseitigung des Sinns erhöht einerseits das Einzelgeschichtliche, das nun maximal indivi­ dualisiert und damit gleichsam wie verewigt ist. Andererseits mischt sich darein ein melancholischer Ton, denn gerade indem der Sinn unablösbar am Einzelgeschichtlichen haftet, vermag die Nachfahrin nur noch in historischem Nachvollzug, in liebevoller Versenkung, aber nicht mehr real an ihm teilzuhaben. »Jedes Wirkliche steht für sich, bildet einen neuen Anfang, ohne einen generellen Maßstab über sich zu dulden, ist durch und durch inkommensurabel einma­ lig und gerade dadurch selbst ein Höchstes.«746 Hier, im Kontrast, wird spürbar deutlich, wie tief das Bedürfnis nach einem übergeord­ neten Sinn, auf das Metaphysik, Theologie und Fortschrittsglaube antworten, reicht und wie intuitiv attraktiv es wirkt. Der historisch Gestimmte steht entsprechend vor der Herausforderung, sich bei aller Liebe zum Einzelsinnvollen, das ihm Quelle der Erkenntnis wie auch Movens seiner Wertschätzung ist747 und bei allem damit verbundenen Zweifel an übergeordneten Sinnkonstruktionen, nicht konservativ zu verhärten. »Der echte Historiker muß eine gewisse Distanz zum Fortschrittsglauben bewahren, die andererseits vom Konservatismus der Fortschrittsgegner zu unterscheiden ist.«748 Sinn, Glück und das Relativismusproblem: Es gibt sehr gute Gründe, wenn schon nicht gegenüber der Fortschrittsidee als solcher, so doch gegenüber der Vorstellung einer teleologisch sich entwickeln­ den Geschichte der Menschheit skeptisch zu sein. Diese Skepsis betrifft nicht zuletzt die stets geläufige, obwohl begrifflich nicht gege­ Vgl. Landmann: UuS, S. 12. Ebd., S. 225. 747 Vgl. ebd., S. 103. 748 Landmann: Geschichtsphilosophie, S. 692. Vgl. dazu hellsichtig Norbert Hinske: »Die Idee des Fortschritts zerstört jeden produktiven Umgang mit der Geschichte. Ihre langen Schatten zeigen sich selbst noch bei Menschen, die das Groteske jener Idee längst durchschaut zu haben meinen. Sie erzeugt ein trügerisches Gefühl der Über­ legenheit gegenüber den Leistungen der vorangegangenen Generationen. Die Infe­ riorität des Individuums wird sozusagen durch die Superiorität seines historischen Standpunkts wettgemacht. Das schlimmste an der Idee des Fortschritts aber ist es, daß sie den Menschen gegen die Beunruhigung durch andersartige Lebensformen von vornherein abschirmt« (Hinske: Ohne Fußnoten. Prämissen und Folgerungen. Würz­ burg: Königshausen & Neumann 2000 [im Folgenden: Ohne Fußnoten], S. 62). 745

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bene Identifizierung des Ziels mit dem Guten, mit einem positiven Wert. Der Platonismus des einen Guten, Wahren und Schönen findet sich hier in geschichtsphilosophischer Variante wieder. Beide, die griechische wie die neuzeitliche Identifizierung, ergeben sich aus der Vorstellung, im Tiefsten frage und strebe der Mensch im Erkennen, Handeln und Urteilen stets nach dem guten, glücklichen Leben. In der griechischen Vorstellung erreicht er es durch eine ausgeglichene, an der höchstmöglichen Vernunfterkenntnis orientierte Lebensführung; im Geschichtsmodell der Neuzeit als Teil einer durch materiellen Fortschritt sich verbessernden und vervollkommnenden Gesellschaft. An der Unverzichtbarkeit des Glücksstrebens hält auch Landmann fest, überwindet aber, indem er die Werte ins Spiel bringt, eine Identifizierung des Glücks als Ziel. Dies ist ja das Unverlierbare des Eudämonismus, daß das Glück zwar nicht qua Glück, wohl aber als Folge der Erreichung eines Wertes – dessen Höhe die seine ist – erstrebt werden kann und daß dieses Erstreben des Glückes dem Erstreben des es zur Folge habenden Wertes zum Motiv dienen kann, vielleicht sogar dienen muß.749

Mit Landmann kommt es hier darauf an, Sinn oder Ziel einer Auf­ gabe oder Entwicklung nicht onto-logisch als vorbestehend, sondern anthropo-logisch als der menschlichen Kreativität inhärent und von ihr (sich) vorausgesetzt zu begreifen. »Ohne ein sinnvolles Wozu auch kein Lebenssinn. Das Innere hängt am Äußeren.«750 Damit ist der einzelne Mensch von jedweder übergroßen Sinn- und Glückserwar­ tung, die sein konkretes Leben und dessen geschichtlich-kulturelle Bezüge übersteigt, entlastet. Das Verborgen- oder Ausbleiben eines großganzen Sinns der Welt und ihrer Geschichte strahlt nicht mehr negativ auf seinen Lebensverlauf zurück, sondern dessen immanente Sinnhaftigkeit trotzt dem sozusagen totalitären Sinnanspruch: »Auch bei Sinnlosigkeit der Geschichte im Großen kann immanent-spora­ discher Sinn in Lebensläufen, Taten und Gebilden liegen.«751 Die völlige Aufgabe des Großganzen, an dessen Erfüllung sich Sinn und Bedeutung des Konkreteinzelnen ermessen ließe, hätte jedoch einen hohen Preis: Wenn der Sinn eines Ereignisses oder Zustands sich nur immanent bestimmen ließe und keines bzw. keiner mehr 749 750 751

Landmann: SaW, S. 131. Landmann: MSGK, S. 87. Landmann: Geschichtsphilosophie, S. 692.

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nach einem übergeordneten Sinnkriterium einem andern vorzuziehen wäre, dann wäre der so gewonnene Pluralismus ein sinnarmer Rela­ tivismus. Dagegen können wir das hier angeschlagene Problem mit Landmann auf die anthropo-logische Frage nach dem Sinn führen, in der sich auch die Antwort bereits ankündigt: »[W]o ist der Sinn dieses Immer-wieder-sich-Vollendens, dieses rastlosen Dranges, da doch die neue Vollendung vor der schon früher gewonnenen keinen Vorrang hat?«752 Hier lässt sich die Bedeutung von Landmanns Doppelbestimmung des Menschen zum Kreativ- und Kulturwesen geltend machen. Dass der Mensch immer schon Kulturwesen ist und damit, wie wir sahen, in einem bestimmten Sinn steht, ist nicht nur der Ausgangspunkt für seine kreativen Sinnneuschöpfungen in einer bedeutungsoffenen Welt, sondern ist auch der Rückbezugspunkt für seine Fähigkeit, diese als sinnvoll zu erleben, zu beurteilen und anzu­ erkennen. In Anbetracht seines jeweiligen kulturellen Herkommens, das ihn bereits in bestimmten Sinninhalten und Werteordnungen stehen, ja aus diesen atmen lässt, ist der strenge Relativismus für den Menschen keine lebbare Option. Und auch der in erhöhtem Maße relativistisch gefährdeten Historikerin kann nur schwer entgehen, dass ihr pluralistischer Nachvollzug der Geschichte des Menschseins auf einem Werturteil (einem ›pluralistischen Vorurteil‹) beruht, das – wie die Geschichte der Anthropologie zeigt – weder kulturell noch intellektuell selbstverständlich ist. Wir können also auf die obige Frage antworten: Der Sinn, besser vielleicht: die Bedeutung jener Rastlosigkeit menschlichen Strebens und Schaffens besteht darin, die innere Vielheit, den immensen Reichtum seiner Möglichkeiten zu verwirklichen, deren Bejahung einen Wert bekundet und mit-ver­ wirklicht, der den strikten Relativismus weder als Erkenntnismittel noch als ethischen Bezugspunkt zulässt. Das Anti-Telos: Dass die Identifizierung von Telos und Sinn nicht nur philosophisch problematisch ist, weil nicht jedes Ziel bereits einen eigenen Sinn einschließt und nicht jeder Sinn beabsichtigt worden ist, sondern auch durchaus gegen historische Fakten spricht, zeigt Landmann in einer denkwürdigen autobiographisch-philoso­ phischen Überlegung: In der Hitlerzeit wollte es mir scheinen: die Teleologen haben recht. Aber das Ziel der Geschichte besteht in unserer Zeit nicht in der 752

Landmann: MSGK, S. 71.

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Zunahme von Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit. Das Ziel besteht in der Vernichtung des europäischen Judentums. Weil und solange Hitler dieses Ziel anstrebte, flogen Bundesgenossen ihm zu, der Zufall verbündete sich mit ihm, er brach jeden Widerstand. Sobald dagegen das europäische Judentum vernichtet war, verblaßte sein Stern. Er hatte seinen weltgeschichtlichen Auftrag erfüllt. Die Entropie war bis zu dem Punkt gebracht, von dem ab sie von selbst weiterläuft.753

Die gefährliche Suggestions- und Zerstörungskraft jedweder Idee eines Ziels oder Sinns der Geschichte entfaltete in den politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts ihr inhumanes Potenzial auf bestia­ lische Weise. Und gerade weil die Form, in der Teleologisches und Sinnvolles, ja Heilversprechendes in eins zusammengegossen wer­ den, so allgemein ist (und sie muss es sein, andernfalls löste sie sich wieder in Einzelheiten, Einzelgeschichten, singuläre Schicksale auf), können ihre Inhalte so stark variieren, was Landmann am Beispiel der Idee einer Einheit der Menschheit andeutet: Stoiker und Propheten identifizierten noch: wenn erst die Einheit der Menschheit hergestellt sein wird, dann wird es eine Einheit auf höchster Stufe sein. Aber es hätte nicht viel gefehlt, und die ganze Welt wäre nationalsozialistisch geworden. Negative Geschichtsteleologie: der Erdball wird übersichtlich und verfügbar, damit das Abscheulichste überall seine Herrschaft errichten kann.754

Anthropologisch betrachtet ist das teleologische Sichvorausentwerfen des Menschen notwendiges Element seiner kreativen Selbstschöp­ fung, die wiederum, wenn schon nicht den Sinn, so doch den eviden­ ten Effekt einer zunehmenden Differenzierung, d.h. Pluralisierung der Menschseinsweisen mit sich führt. Diese Funktionalität des Teleo­ logischen für das Individuum und seine offene Geschichtsgestaltung ist in politischen Einheitsideologien gerade nicht mehr gegeben, ist unter dem Deckmantel der ›Erschaffung einer neuen Welt‹ (häufig noch vorgeblich ›für alle‹) entstellt und begraben. »Säkularer Illusionismus« und »partielle Nihilisation«: Diese kri­ tischen Überlegungen Landmanns zur Ideologie des Einen Ziels oder Sinns hindern ihn nicht daran, gleichzeitig in thematisch etwas anderem Zusammenhang die allgemeinen Sinnentleerungen durch den Siegeszug der empirisch-analytischen Naturwissenschaft skep­ 753 754

Landmann: JM II, S. 222. Landmann: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum, S. 548.

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tisch zu beäugen. Methodenorientiert und Exaktheit beanspruchend, »scheidet sie all die Fragen, die sich nicht zwingend empirisch-ana­ lytisch bearbeiten lassen, und damit gerade so gewichtige Fragen wie die nach dem Ganzen, nach Sinn und Ziel, aus ihrem Bereich aus.«755 Dabei ist der Naturwissenschaft weniger die mit ihr partiell notwendig einhergehende »ungeheure Verödung und Sinnentleerung der Natur«756 anzulasten als ihr Fortschrittsoptimismus, mit dem sie hinter ihren eigenen Anspruch zurückfällt, wenn sie nun plötzlich doch glaubt, auch etwas über Sinn und Güte ihrer Erkenntnisse und entsprechender Anwendungen aussagen zu können. Solcher Fortschrittsoptimismus ist ein »Beispiel für säkularen Illusionismus«, mit dem die Neuzeit gewissermaßen das Erbe der messianischen Heilserwartung antrat.757 Wenn im Gegensatz dazu die nachaufklä­ rerische Menschheit zwar erkennt, »daß der »Fortschritt« sie in das blutigste aller Jahrhunderte führte und weiterhin zu Zusammen­ brüchen noch unvorstellbaren Ausmaßes führen wird«758, so kann dies für Landmann jedoch nicht bedeuten, aus dem gescheiterten Sinnanspruch die Konsequenz absoluter Sinnleugnung zu ziehen. Wo die Fortschrittsoptimistin von der Zukunft geblendet ist, verdunkelt sich der Nihilist das eigene Herkommen: »Nur weil er seine eigenen Voraussetzungen, als ihm im Rücken liegende, nicht sieht, glaubt er, Nihilist sein zu können. Es gibt keinen kompletten Nihilismus, sondern nur partielle Nihilisation.«759

Landmann: EV, S. 120. Ebd., S. 123. 757 Landmann: JM I, S. 224. 758 Ebd. 759 Landmann: Das Parasitäre, S. 47. Vgl. dazu aphoristisch pointiert Joachim Gün­ ther: »Nihilismus ist auch nur eine Variante von Positivismus: die Annahme einer depravierenden Gefühlswirklichkeit, jenseits deren erst das Denken mit seiner Arbeit zu beginnen hätte« (Findlinge, S. 65). Landmann exemplifiziert dieses – nur scheinbar paradoxe – Verhältnis eindrücklich am Beispiel Schopenhauers (vgl. Landmann: Sinn­ verlust und Eudämonismus. In: Zeit der Ernte: Studien zum Stand der SchopenhauerForschung. Festschr. f. A. Hübscher zum 85. Geb. Hg. v. W. Schirmacher. StuttgartBad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1982 [im Folgenden: Sinnverlust und Eudämonismus], S. 165). Vgl. zu Landmanns Schopenhauer-Deutungen: Gabriele Neuhäuser: Philosophische Anthropologie. In: Schopenhauer Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. D. Schübbe u. M. Koßler. 2. aktualis. u. erweit. Aufl. Stuttgart: Metzler 2018, S. 362–368. 755

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Historisch-kritische Rückbindung 8.8 Kulturgeschichte der Geschichtlichkeit Am Beispiel moderner Fortschrittsgläubigkeit lässt sich gut zeigen, welchen historischen Prägungen und Wandlungen die Geschichtlich­ keit ihrerseits unterliegt und weshalb die Unterscheidung zwischen Geschichtlichkeit als formalem Prinzip und der konkret-faktischen Geschichte760 wichtig ist. Die Fortschrittsfähigkeit des Menschen wird so verständlich als »nur ein Teil seiner zunächst wertneutra­ len Wandlungsfähigkeit, die die Grundlage seiner Geschichtlich­ keit überhaupt bildet. Fortschritt ist die Wandlung zum Positiven hin.«761 Sie steht, als Zukunftsorientierung überhaupt und in ihrem Werturteil für die Zukunft, durchaus in spannungsreichen Bezie­ hungen zur an der Vergangenheit und der Aneignung der Überlie­ ferung ausgerichteten Geschichtsabhängigkeit. Diese bildet neben der Geschichtsmächtigkeit des Menschen eine Geschichtlichkeit eige­ ner Art; zu beiden anthropologischen Kräften tritt nun noch »die Geschichtsbewußtheit […] sekundär hinzu.«762 Und auch sie findet je nach historisch-kultureller Lage unterschiedliche Bezugspunkte, steigert und intensiviert sich erst in der Moderne zum »schlechthin absolute[n] und unausweichliche[n] Schicksal des Menschen« in genere wie als Existenz.763 Von hier aus wird deutlich, dass Funda­ mental-Anthropologie kein abgeschieden systembildendes Geschäft einzelner Forscherinnen, sondern selbst philosophisch-reflexive Ver­ arbeitung einschneidender Veränderungen der sozial-kulturellen Tat­ sachen und ihrer Deutungen ist. Wenn in ihr die Geschichtlichkeit des Menschen zum Fundamental-Anthropinon aufrückt, so hat sie dies gelernt von einer kulturellen Lage, in der der Mensch sich nicht mehr als ein Wesen begreift, das neben anderem auch Geschichte hat, sondern als ein Wesen, das durch und durch (seine) Geschichte ist, »die ihn so durchwächst, daß nichts an ihm diesseits ihrer steht.«764 Damit ist, wie wir bereits bezüglich des Fortschrittsgedankens sahen, noch nicht zwingend ein Werturteil für die Geschichtlichkeit gegeben. 760 761 762 763 764

Vgl. Landmann: Anthropologie im Schnittpunkt, S. 82 f. Landmann: EuE, S. 150. Landmann: Geschichtsphilosophie, S. 684. Landmann:: Löwith Rezension, S. 237. Landmann: FA, S. 354.

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8.9 Eine Menschheit – eine Geschichte

Im Gegenteil trifft diese sogar auf Argwohn insofern sie mit der nur schwer zu akzeptierenden Vergänglichkeit verschwistert, ja mehr noch deren Ausdruck ist – je tiefer bewusst, desto schmerzlicher wir­ kend. »Das Herz ist es, das sich mit der Allvergänglichkeit nicht abfin­ den, das darum nicht bei ihr stehenbleiben will. Die beklagte Ver­ gänglichkeit zur bejubelten Geschichtlichkeit aufzuhöhen, stößt auf einen tiefverwurzelten Widerstand.«765 Gegen diesen richtet sich mit einem gleichsam ewigen Recht die Idee der offenen und besseren Zukunft, in der – analog zu den Formen des Schicksals – »die verhaßte reißende, allverschlingende Zeit« weniger geleugnet als »komple­ mentär ergänzt wird durch die gebärende, die aufbauend schöpferi­ sche Zeit.«766

8.9 Eine Menschheit – eine Geschichte Die Zumutung der Vergänglichkeit (bzw. eine ihrer Erscheinungs­ weisen) besteht u.a. auch in der Singularisierung, der Vereinzelung dessen, was der Mensch gern als in einem großen Ganzen stehend wissen, erleben und empfinden (können) möchte. Einheit und Ganzheit: Es ist entsprechend nicht verwunderlich, dass bereits im alten Israel, als die Geschichten der Kulturen fak­ tisch bzw. im Bewusstsein noch unverbunden waren, die Einheit der Geschichte und die der Menschheit, gedanklich dem Einen Gott und der einen, für alles den Ursprung und Bezugspunkt bildenden Schöp­ fungsgeschichte korrelierend, als Inhalt und Sinn gebende Idee auf­ kam. »Die Geschichte bildet von vornherein eine einzige, große, ziel­ gerichtete Linie. Die Sondergeschichten der einzelnen Völker sind nur Gliedstücke in der Universalgeschichte der Menschheit. So kommt uns der Begriff der Weltgeschichte aus dem alten Israel.«767 Gemeint ist dabei nicht nur die Einheit i.S. der Zugehörigkeit aller Einzelge­ schichten zu einem übergeordneten Zusammenhang, sondern auch die Ganzheit i.S. der Vollständigkeit und Sinngerichtetheit dieses Zusammenhangs. Dies zu sehen ist wichtig, um zu verstehen, inwie­ fern das moderne Geschichtsverständnis zum einen auf den Hebräern, zum anderen auf den Griechen fußt. Letztere kennen nämlich durch­ 765 766 767

Landmann: UuS, S. 104. Ebd., S. 104 f. Ebd., S. 303.

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aus, wenn schon nicht den Gedanken einer Einheit der Geschichte auf der sukzessiven Ebene, so doch den einer Einheit der Menschheit im simultanen Sinne.768 Diese Einheit kann wie bei Platon an der Vernunft festgemacht, wie bei Varro und Cicero zum Ziel erklärt oder wie bei den Sophisten als »ein unterhalb der Differenzen schon immer Gegebenes«769 vorgestellt werden. In der Moderne mischen sich nun, wie bereits erläutert, Momente der hebräischen und der griechischen Auslegung, und zwar so, dass die neuen kulturellen Voraussetzungen und Dynamiken in Richtung einer faktischen (und nicht mehr nur wie bei den Griechen teleologischen oder metaphysischen) Einheit der Menschheit auch eine faktische (und nicht mehr nur wie bei den Hebräern genealogisch-eschatologische) Einheit der Geschichte aus sich und sich beginnen lässt: Generell wird man sagen dürfen, daß wir heute […] die bisherige Geschichte der Menschheit nur noch als unum per accidens, nicht dage­ gen als unum substantiale ansehen. Die Menschheit hatte weder real eine gemeinsame Geschichte, noch strebte sie auch nur ein gemeinsa­ mes Ziel an. Deshalb treiben wir wohl auch noch Universalgeschichte, teilen aber nicht mehr die biblische Voraussetzung. Sie hat sich für uns formalisiert, instrumentalisiert, dient nur noch zusammenfügend dem wissenschaftlichen Anspruch auf Vollständigkeit. Insofern gleicht unsere Auffassung – seit Herder – mehr der griechischen. Die Plu­ ralität und Mannigfaltigkeit ist für uns das größere Erlebnis als die Einheit. Wohl dagegen scheint in unserm eigenen Jahrhundert die Menschheit auch substantiell zur Einheit zu werden und eine gemein­ same Geschichte zu gewinnen. Weltgeschichte gab es zwar noch nicht, aber sie beginnt.770

Die Menschheit in der Einen Welt als verbliebenes und ausgebliebe­ nes Projekt der Moderne: Eine der großen Herausforderungen seit der Moderne besteht nun darin, am Einheitsmoment globaler Kul­ tur auch ein Sinnmoment, d.h. Einheit als Ganzheit zu gewinnen. Vgl. Landmann: JM I, S. 19. Ebd., S. 15. 770 Landmann: UuS, S. 233 f. Dass Landmann hier vom ›größeren Erlebnis‹ spricht, zeigt einmal mehr, dass er, gerade Fragen und Probleme des (in dem Fall historischen) Erkennens betreffend, primär an den dieses stimulierenden und mit ihm einherge­ henden Erlebnisweisen interessiert ist, was in deutlicher Abgrenzung steht zur erkenntnistheoretischen Vorstellung eines Subjekts, das in seiner bzw. mittels Erkenntnis der Weltdinge diese geistig aufbaut und so inhaltlich abbildet, ohne sie dabei auch noch zu erleben bzw. erleben zu müssen. 768

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8.9 Eine Menschheit – eine Geschichte

Dies geschieht nicht von selbst, was Landmann andeutet, wenn er schreibt, uns modernen Menschen müsse »der jüdisch-christliche Gedanke von der gottgelenkten Geschichte der Gesamtmenschheit kostbar sein, weil in dieser religiösen Hülle der Keim des Wissens um die Zusammengehörigkeit der Menschheit erstarkt ist.«771 Die kulturanthropologisch brisante Frage lautet nun, wie sich die mit der ein- und ganzheitlichen Menschheitsgeschichte unumgänglich aufkommende Vereinheitlichung der Lebenswelten und die anthropologische Bestimmung des Menschen als Wesen, das sich in immer wieder neu wechselnden kulturell-individuellen Lebensformen kreativ hervorbringt, zueinander verhalten und ob sie eine produktive Syn­ these eingehen können. Zumindest der Ansatz einer Antwort deutet sich an, wenn Landmann schreibt: »In der Realität beginnt sich erst heute, seit dem Zeitalter der Weltkriege […] ein gemeinsames Leben und Schicksal aller Menschen, die die Erde bewohnen und damit erst Weltgeschichte im echten, substantialen Sinn abzuzeichnen.«772 Darauf nämlich kommt es an – dass die Einheit der Menschen nicht nur faktisch, sondern auch dem Sinn nach Form annimmt, d.h. sich zu einem ›gemeinsamen Leben und Schicksal aller Menschen‹ emporschwingt. Menschheit und Weltgeschichte sind nicht das Ziel oder der Zweck menschlichen Lebens, sondern das einer bestimmten kulturellen Weltlage entsprechende Mittel seiner Verwirklichung; sie sind nicht der Beginn oder metaphysische Grund menschlichen Lebens, aber seit der Moderne das Medium, ein fruchtbarer Boden seiner individuellen Gestaltung. In genau diesem Sinne ist das fol­ gende, sonst leicht irreführende Zitat zu verstehen, in dem auch nochmals der Unterschied zwischen Geschichte und Geschichtlichkeit deutlich wird: Was die Menschheit zusammenhält, das ist nicht eine gemeinsame Weltgeschichte […], sondern der gemeinsame Adel, daß sie an jeder Stelle in den großen Kulturen stets wieder ein anderes Absolutes her­ vorbringen kann. Die Einheit der Geschichte liegt nicht im inhaltlichen, sondern in ihrem anthropologischen Fundament: in der ›Geschicht­ lichkeit‹ des Menschen selbst.773 Landmann: PA, S. 23, Herv. F.S. Landmann: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum, S. 542. 773 Landmann: Löwith Rezension, S. 240 f., Herv. F.S. Es ist bezeichnend, dass Land­ mann hier vom ›gemeinsamen Adel‹ spricht und so eine in sich widersprüchliche Metapher verwendet. Hier zeigt sich eindrücklich, dass er den Menschen zwar von 771

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8.10 Das »Ende der Geschichte«? Vor diesem Hintergrund lässt sich dem (von u.a. Fukuyama und Land­ mann sog.) »Ende der Geschichte« ein dreifacher Sinn abgewinnen. Erstens meint es die dem Anfang der Welt logisch korrespondierende Apokalypse, mit deren göttlich bewirktem Eintritt jegliches irdische Sein und Geschehen abgeschlossen, ja nicht nur alles aus der Welt, sondern die Welt selbst vorüber ist.774 Von nun an, im Reich Gottes, erfüllt sich der letzte und letztlich der einzige Sinn der Geschichte, der selbst über alle Geschichte erhaben ist. So wie der Hebräer sich, sein Dasein und dessen Sinn genealogisch »nicht von der Natur her auslegt«, so richtet er sich während seiner Daseinsfrist »in Gott auf ein Transmundanes« und schließlich prospektiv »in der Eschatologie auf ein Transhistorisches.«775 Nicht so explizit wie in der hebräischen Geschichtstheologie, sondern eher subtil, aber ähnlich wirksam ist das »Ende der Geschichte« zweitens Inhalt jedweder Geschichtsphilosophie, wie sie Landmann der ›Neuen Linken‹ attestiert, »die unter dem Vorwand, sie kämpfe für eine bessere Zeit, den ›Ballast der Jahrtausende‹ – in Wirklichkeit die Geschichte überhaupt – abschütteln und das ›Ende der Geschichte‹ herstellen wollte.«776 Aus dieser Kritik und ihrer genaueren Analyse keimt nun drit­ tens jene Bedeutung, die mit dem »Ende der Geschichte« ›lediglich‹ Geschichte im herkömmlichen Sinne vergangen sein und eine höhere Stufe neu einsetzen lässt. Dass das »post-histoire« zwar dystopischnormativ als dunkle Zukunft, »als Erschöpfungs-, Erstarrungs- oder Gewaltzustand gefürchtet« wird, nicht aber geschichts-anthropolo­ gisch als Ziel der Geschichte gedacht, nicht als helle Zukunft des sich darin befreienden Menschen affirmativ ersehnt werden kann, zeigt hier seine ganze indirekt sinnerschließende Kraft. Kulturund geistespsychologisch verbindet sich darin das hebräische ›Ja zur Geschichte‹ mit dem sophistischen ›Ja zur Pluralität‹ zu einer post-historischen Konzeption von Geschichte, in der von der Idee des seiner ›kulturellen Höhe des Individuum-Seins‹ her denkt, dieses gleichsam aristo­ kratische Moment jedoch nicht als in prinzipiellem Widerspruch zu einer demokrati­ sierenden und unifizierenden ›Welt-Kultur‹ stehend ansieht. 774 Landmann: UuS, S. 166. 775 Ebd., S. 305. 776 Landmann: Das Parasitäre, S. 46.

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8.11 Der historische Sinn

Endreichs »nur das utopische, nicht das antihistorische Moment, nicht das Ultimum, sondern das Summum« enthalten ist. Dieses Summum ist aber nicht mehr ein Bestand an Emanationen aus dem Einen Weltgrund oder Abbildern ewiger Ideen, sondern in ihm ist gerade durch den Wegfall des Eschaton die unaufhaltsam weitergehende Geschichte des Menschen freigesetzt und aufgehoben. »Sobald sich […] das Summum mit geschichtlicher Bewegtheit füllt, entstehen Summa. Historisierung ist Pluralisierung.«777 Dieses »pluralistische Endreich« heißt gerade nicht »Zeitalter der Erfüllungen«, denn die ›Erfüllung‹ des Menschseins besteht hier in seinem permanenten Neubeginn; es heißt auch nicht Nachgeschichte, denn es ist und bleibt ein »Entfaltungsraum von Potentialitäten; es heißt vielmehr Fortsetzung der Geschichte auf höherer Stufe.«778

Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung 8.11 Der historische Sinn Hier deutet sich bereits an, dass sich gerade auch aus dem historischen Sinn, der uns oben als alternativ zur Fortschrittsidee stehend erschei­ nen wollte, ein progressives Geschichtsverständnis entwickeln lässt. Er darf nur nicht leichtsinnig mit dem in der historischen Wirklichkeit selbst liegenden Inhalt verwechselt bzw. auf diesen reduziert werden. Vielmehr ist es ja gerade die erkenntnisphänomenologische Voraus­ setzung historischer Erkenntnis, dass Sinn und Bedeutung im Histo­ risch-wirklichen selbst, als dessen lebendiger Inhalt, liegen und liegen bleiben. Wie aber, d.h. aus welchem Grund, ist dieser Inhalt dann überhaupt einer historischen Erkenntnis zugänglich? Was berechtigt Landmann: EdI, S. 145. Landmann: JM I, S. 210. Die Konzeption und das Projekt einer ›Fortsetzung der Geschichte auf höherer Stufe‹ kann m.E. als produktive Bewältigung jener Grund­ spannung zwischen Einzigkeit und Wiederholung angesehen werden; in diesem Sinne verstehe ich auch Sloterdijks folgende Überlegung: »Während die historische Rede in jedem Detail das immer wieder andere hervorhebt, als wolle sie die Möglichkeit der identischen Wiederholung als solche bestreiten, betont der Mythos das Immergleiche. Er hat die Mission, die Differenzen so lange zu schwächen, bis es unter der Sonne tatsächlich nichts Neues gibt. Der effektive Mythos macht die Einzelheiten vernach­ lässigbar, gute Geschichtsschreibung dagegen läßt den Widerstreit zwischen dem Einmaligen und dem Typischen hervortreten« (Sloterdijk: Neue Zeilen und Tage, S. 72). 777

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8. Geschichte

uns zur Annahme, wir könnten von jenem an Ort und Stelle befind­ lichen Historisch-individuellen irgendetwas Tatsächliches erkennen? Wir antworten indirekt, indem wir fragen, was historische Erkenntnis als solche qualifiziert: Das Vergangenwirkliche ist ein geschichtlich Zusammengewachsenes, multifaktoriell Kreiertes; als solches ist es einer historischen Erkenntnis überhaupt nur zugänglich, wenn sie es in einer selbst schöpferischen, re-kreativen Erkenntnisbewegung nachvollzieht. Wie aber lässt sich begründen, dass sie dies überhaupt vermag? Wir geben die Frage zurück: Wenn Menschen nicht in der Lage wären, sich dem Vergangenen erkennend zuzuwenden, wie wäre es dann zu erklären, dass das Vergangene, zumal das fern liegende, überhaupt für den Menschen irgendeine Bedeutung hat? Ein Dualist mag hierauf antworten, es handle sich dabei um eine rein ästhetische oder rein emotionelle Bedeutung, losgelöst von jedweder Erkenntnis. Dagegen ist der kompensatorische ›Effekt‹ des historischen Rück- und Nachvollzugs mit Landmann als emotionelle, ästhetische und geistige Aspekte umgreifend zu verstehen: »was wir nicht mehr leben können, rufen wir uns wenigstens im Wissen zurück. Wir umgeben uns mit antiken Gegenständen, um die Lücke wenigstens ästhetisch zu schließen.«779 Wo die historisch Erkennende das leben­ dig nach vorn Fließende nie in seiner Unmittelbarkeit wird durchoder miterleben können – an dieser kritischen Grenze gewinnt sie die Möglichkeit, über den Erlebnisspalt der Jahrhunderte hinwegzu­ blicken und die sich im Historisch-individuellen beruhigende Bewe­ gung als Gestalt zu betrachten und diese auf ihr schöpferisches Zustandekommen hin zurückzuverfolgen. Bereits in einem derart motivierten Interesse der Erkenntnis am Historischen bekundet sich die ›Verwandtschaft‹ der beiden, die letztlich auch beiden ermöglicht, nie füreinander abgeschlossen zu sein oder gar still zu stehen: Der historische Sinn ist nur das Komplement der Erkenntnis von der schöpferischen Kraft des Lebens. Gerade deshalb wird die Haltung, aus der er kommt, nie an dem haften, »was ist«, sondern wird von jeder neuen Zeitkonstellation – und somit auch von der gegenwärtigen – den ihr gemäßen neuen Ausdruck erwarten.780

Landmann: EV, S. 108, Herv. F.S. Landmann: Einleitung. In: Georg Simmel. Das individuelle Gesetz, S. 14, Anm. 6 [im Folgenden: Einleitung Simmel]. Eindrücklich demonstriert sich hier der Geist und Leben radikal in eins sehende Zug von Landmanns Denken und dessen 779

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8.12 Schicksalswissen und Schicksalssinn

Nicht zufällig stehen die Worte ›was ist‹ in Anführungszeichen. Denn die Doppelbeziehung von Geist und Leben, verwandt, aber nicht iden­ tisch, d.h. Momente eines sich aus ihnen aufbauenden Dritten, des Schöpferischen selbst zu sein, steigert ihr Potenzial über die Natur­ notwendigkeit der Vergänglichkeit hinaus. Kein singulärer Abschnitt des Zeitlaufs muss für sich allein bleiben; aus dessen ›zunächst‹ harter Aufspaltung in die Zeitformen erwächst deren kreative Rück- und Vorbezüglichkeit – die Spaltung ist zugleich eine Streckung. Dem Leben und Erleben unwiederholbar und unwiederbringlich, lebt das Vergangene in der Erkenntnis fort; als Leben und Erleben noch fern, erlebt das Künftige in der geistigen Prospektive bereits eine erste Geburt. Von hier aus wird verständlich, was Landmann meint, wenn er im Folgenden ansatzweise eine durchaus originelle Fortschrittsidee entwirft, in der die sich mit dem ›was ist‹ nicht beruhigen wollende Erkenntnis selbst praktisch wird: Und ist nicht die Neuzeit eine Zeit nicht nur des faktischen, sondern des programmatisch organisierten Fortschritts? Nehmen wir aber das Werden doch in eigene Hand, dann ist es nur noch ein weiterer Schritt, auch die Voraussetzungen, von denen es ausgehen soll, in den Kreis des selbsttätig Bewirkten mit einzubeziehen und ihm seinen Einsatzpunkt anzuweisen nicht beim zufällig erreichten Jetzt, sondern an künstlich wiederherzustellender früherer und noch fruchtbarerer Stelle. […] Gab der historische Sinn uns bisher nur die Möglichkeit, uns im Geiste an jede Stelle der Vergangenheit zurückzuversetzen, so muß er uns jetzt die noch höhere Möglichkeit geben, uns im Sein an sie zurückzuverpflanzen.781

8.12 Schicksalswissen und Schicksalssinn als Korrektive ungebremster Vernunft und Verzweiflung Wir haben damit Landmanns Verständnis der historischen Erkennt­ nisweise erläutert als einen dritten Weg, der die Alternative von einer lediglich Allgemeines erkennen-könnenden Vernunfterkennt­ nis aufklärerischer Progression und einer im Vereinzelten sehnsüch­ tig versinkenden, romantisch-regressiven Vergangenheitsschau zu darin grundoptimistischer Zug, die produktiv-schöpferischen Kräfte der Zukunft betreffend. 781 Landmann: MSGK, S. 128 f.

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8. Geschichte

überwinden versucht, indem er ihre fruchtbaren Momente produktiv verbindet, ohne ihre pathologischen Auswüchse in sich aufzunehmen. Dies erscheint umso nötiger, als sich diese Auswüchse gegenseitig verstärken, indem der um sich greifende Siegeszug einer rationalis­ tisch verkürzten Vernunft im Zeitalter ihrer wissenschaftlichen und technologischen Erfolge jeglichem Opponierenden nur noch den schmalen Streifen782 des Irrationalen überlässt, auf dem es sich dann, um überhaupt lebendig zu bleiben, umso gewaltsamer austobt. Da die wissenschaftliche Vernunft mehr und mehr, tiefer denn je seine Kultur durchdringt, den Menschen selbst aber nicht mehr im Ganzen an- und auszusprechen vermag, bildet sie als »entfremdende Vernunft« das »Menschheitsschicksal seit der Aufklärung.«783 Das Fremd-Werden der Welt und das Sich-fremd-Werden des Menschen, die anthropolo­ gisch seine Freiheit zur Welt- und Selbstgestaltung bedingen, haben historisch eine Form angenommen, haben sich gewissermaßen in einer Vernunftkultur zur Ruhe gesetzt, in der Welt und Mensch zu rest- und lückenlos bekannten Größen verkommen, Notwendigkeit und Sinn kreativer Individuen nicht mehr zu bestehen scheinen. Diesen letzteren bleibt zur virtuellen Bewältigung die Trauer um das Vergangene: »etwas von romantischer Stimmung, die dem Verlore­ nen nachtrauert, breitet sich über die Erde aus. Religion, Gepflogen­ heiten, Anschauungen, alles wird durch die Verneuzeitlichung in den Schmelztigel geworfen.«784 So sehr sich Landmann unermüdlich in den Trauerzug der seufzenden Epigonen einreiht, so ist dies doch nicht sein letztes Wort. Ein vielmehr Öffnendes erschließt sich uns, wenn wir uns die folgende Überlegung Leo Löwenthals ansehen, die Landmann in der Einleitung seiner Entfremdenden Vernunft zitiert: Das Besondere in der Gegenwart ist, daß wir es mit einer utopischen Welle zu tun haben, die nicht aus Hoffnung, sondern aus Verzweiflung geboren ist: das ist der letzte Grund für das Fehlen der Zeitperspektive, für die Irrationalität und Gewaltsamkeit, die ihre Kennzeichen sind.785

Wenn schon nicht im Fehlen, so in der Einseitigkeit der Zeitperspek­ tive irren Rationalismus und Irrationalismus gleichermaßen. Glaubt eine rationalistische Vernunft, des Historischen überhaupt nicht zu bedürfen, wenn sie Individuelles quasi platonisch zum Fall eines 782 783 784 785

Vgl. zur Metapher des Streifens Landmann: UuS, S. 216, ZaS, S. 47 u. EuE, S. 229. Landmann: AgV, S. 217. Landmann: JM II, S. 146. Leo Löwenthal, zit in: Landmann: EV, S. 12, Herv. F.S.

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8.12 Schicksalswissen und Schicksalssinn

Allgemeinen, das selbst kein Historisches sei, degradiert, so verkürzt sich die romantische Trauerschau ihren Gegenstand selbst, wenn sie ihn von der eigenen Zeit geradezu unhistorisch abschneidet, um sich nur umso sicherer einer fatalisierten Zukunft zu überlassen. Dagegen könnten beide ihre fruchtbaren Kompetenzen in einer erweiterten Zeitperspektive zusammenbringen und es so mit »›Ent­ fremdung‹ als Schicksal der Neuzeit«786 aufnehmen. Das Wissen der Vernunft, von wissenschaftlicher Erkenntnis prospektiv auf Anwendung, von romantischer Trauer retrospektiv auf Entfremdung verkürzt, enthält selbst, wenn beide kooperieren, das Potenzial, Schicksalswissen zu sein, an dem sich der Schicksalssinn787 auch im Vernunftzeitalter produktiv entzünden kann. Landmanns »Plädoyer für die Entfremdung« spricht sich nicht allein für eine nüchterne Akzeptanz unüberwindbarer Entfremdungserscheinungen, sondern auch dafür aus, gerade im Schicksalswissen und Schicksalssinn Kor­ rektive einer ungebremsten Vernunft zu suchen, die deren Umgestal­ tung qua Pluralisierung ermöglichen. Der Grat bleibt schmal für ein Menschenwesen, das um die unvermeidliche Tiefenwirkung seiner Kultur weiß und sie insofern als ein Schicksal annimmt, dieses aber gerade von dieser Annahme ausgehend zu gestalten vermag, anstatt es in leerlaufendem Widerstand zu verewigen.788 Dass der Mensch an seinem Höchsten und Besten verzweifelt, ja zugrunde gehen kann, lässt ihn ein Wesen sein, das sein Schicksal – zu gestalten – hat. Wie wir eingangs sahen, ist der Sinnverlust kein von Gott, der Materie, der Vernunft usw. über den Menschen verhängtes Schicksal, sondern die bittersüße Frucht eines Prozesses, in dem er überhaupt erst die Freiheit des Sinnerkennens, -stiftens und -hervorbringens gewinnt.789

Landmann: AgV, S. 217. Vgl. Landmann: PuA, S. 159: »Wer sich im Schicksal stehend weiß ist größer als wer nur auf seine Vernunft und Tatkraft pocht«. 788 Vgl. ebd., S. 153. 789 Vgl. Landmann: EV, S. 82: »Am ungeheuren Sinnverlust unserer Zeit trägt einen Teil der Schuld der Aufstand der Elemente, wenn er auch zum andern Teil bereits durch diesen Sinnverlust bedingt wird. Denn Glied eines Ganzen sein heißt in einem Sinn stehen«. 786

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8. Geschichte

Verschwiegene Eingänge: Würde der Gefahr? Wie weit darf sich der Geist verirren? Dass mit den Errungenschaften der menschlichen Vernunft und Krea­ tivität nicht nur neben neuen Sinnstiftungen auch Sinnentleerungen einhergehen, sondern auch katastrophale Bedrohungen unerhörten Ausmaßes überhaupt erst real werden, ist geistes-, wissens- und realgeschichtlich die Lehre der Kernspaltung. In ihr hat der Mensch neben anderem auch die fatale Möglichkeit schneller und effizienter Selbstauslöschung entdeckt und geschaffen. Dies sprengt die Katego­ rien von Sinn oder Sinnlosigkeit insofern hier die Existenz überhaupt eines Wesens, für das etwas sinnvoll oder sinnlos sein und das Dingen Sinn verleihen bzw. zusprechen oder entziehen bzw. absprechen kann, auf dem Spiel steht. In der Verwüstung und Zerstörung der Erde wird nicht so sehr ihr Sinn, sondern unrechtmäßig vor allem ihr Wert mit Füßen getreten. Es stellt sich die drängende Frage, welchen Sinn und Wert das Lebewesen Mensch für die Erde haben kann, wenn es diese derart zu zerstören fähig ist. Die materielle Grundlage auch seines Geistes, der ihn einsam und (vermeintlich) unschuldig in seinen Sinnfragen spazieren ließ, wird nun, da sie von ihm im Kern bedroht ist, wieder fühlbar. Was hat uns Landmanns Anthropologie des nur am Challenge wachsenden und reif werdenden Menschen zur atomaren Gefahr (als der Zentralbedrohung seiner Zeit) zu sagen? Inwiefern spielt sie in seine Philosophie des sich im Grunde problematisch gewor­ denen Menschen hinein; inwiefern wird sie in seiner Philosophie des geschichtsmächtigen Individuums geradezu ausgeblendet? Wir suchen Antworten, finden eine Zumutung, die eine Öffnung hat. Es ist bemerkenswert, dass Landmann, wenn er die Gefahren seiner Zeit beschreibt, nicht so sehr die atomare Bedrohung selbst, sondern menschliche Welthaltungen und Selbstbilder im Blick hat, denen eine menschen- und weltgefährdende Nutzung atomarer Energiegewin­ nung entspringen könnte. Dies ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass er Anthropologe und Philosoph ist, der sich für menschliche Selbstbilder im historischen Wandel interessiert, sondern hat einen weiteren Sinn als uneingeschränktes Bekenntnis zum Menschen. Dessen Würde bestand zwar nicht seit jeher in der Freiheit, sich selbst auszulöschen; aber diese neue Möglichkeit ist an seiner Würde wirksam, verleiht ihr indirekt eine zusätzliche Bedeutung, gibt ihr

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Verschwiegene Eingänge: Würde der Gefahr? Wie weit darf sich der Geist verirren?

eine Schwere, vielleicht eine Tiefe. In einer autobiographischen Aus­ führung schreibt Landmann: Der Essentialismus im Sinn einer vorbestehenden Form, die den Lebensprozeß als bloße »Entwicklung« auf sich hin lenkt, im Sinn einer Präfiguration oder Prädestination, hat Unrecht. Er kann nur einen idealen Maßstab abgeben, kann mich utopisch trösten. Erst meine Geschichte treibt meine Form aus mir heraus. Die Geschichts­ schreibung müßte auch dies von mir erzählen. Das Böse, das mir widerfuhr, konstituiert mich mit. Mein Menschsein ist auch Produkt des Inhumanum.790

Von hier aus wird jede vorschnelle Selbstdemütigung in Anbetracht der inhumanen Möglichkeiten des Humanen als misanthropischer Essentialismus, als negative Prädestination des Menschen in genere, wenigstens aber des Menschen im Atomzeitalter verstehbar.791 Dabei wird allzu leicht vergessen, dass der Mensch die zerstörerische Kraft der Kernspaltung nicht etwa autonom aus sich selbst herauszauberte oder sie ihm von Gott zur Strafe vom Himmel fiel, sondern er in ihr etwas entdeckt hat, das in der Welt, in der Natur selbst liegt, wenn auch seine katastrophalen Effekte erst durch die forschende und das erlangte Wissen technisch umsetzende Tätigkeit des Menschen freigesetzt werden. In diesem Sinne irrt jede Naturromantik, die die Erde am liebsten sich selbst überlassen und den Menschen allmählich aussterben lassen würde. Für Landmann dagegen besteht die Konsequenz darin, gerade auf die schrecklichen Möglichkeiten schöpferischer Weltgestaltung auch wiederum schöpferisch zu antworten. Wie aber lässt sich dem ja gerade so monströs und destruktiv sich gebärdenden Schöpfertum (wieder) ein positiver Sinn, eine produktive Kraft entlocken? Die Antwort liegt für Landmann in einer ethisch-moralischen Vertiefung des bisherigen Selbst- und Weltbildes: »Um unsere Fähigkeit des Lenkens ihrerseits zu lenken, dazu bedürfte es einer neuen Ethik, nicht mehr nur der Ethik des Einzelnen oder Sozialethik, sondern Geschichtsethik.«792 Wenngleich es hinsichtlich atomarer Gefahren wie überhaupt ökologischer Krisen auch für Landmann unverzichtbar Landmann: Berliner Rückblenden, S. 683 f. Vgl. Landmann: Ökologische und anthropologische Verantwortung, S. 174: »Der Mensch, der sich als Selbstgestalter feierte, verwünscht sich heute als Selbstgefähr­ der«. 792 Landmann: EV, S. 194. 790 791

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8. Geschichte

ist, dass die Menschheit »ihre eigenen Möglichkeiten begrenzen und ihren Erfindergeist zügeln müsse«793, so eröffnet Geschichtsethik über solche Restriktionen hinaus auch die Chance, (neue) Sinnund Wertmomente hervortreten zu lassen. »Auch die menschlichen Werte werden doppelt sichtbar ex negativo: dadurch, daß wir sie mißachten und zerstören können.«794 Es mag ein feiner, aber doch entscheidender Unterschied sein, ob eine Generation sich ›nur‹ aus schlechtem Gewissen (und insofern misanthropisch) für das Lebenkönnen und Gut-leben-sollen künftiger Generationen einsetzt, oder ob sie menschliches Leben an und für sich, und so auch seine künftige Möglichkeit, als Wert schätzt. »Wir müssen das Interesse der Zukunft, die wegen ihres Noch-nicht-seins in der Gegenwart nicht für sich kämpfen kann, zu dem unseren machen.«795 Dass der Mensch ›es selbst in der Hand hat‹, wurde ihm in der Möglichkeit der Selbstaus­ löschung zur schmerzlichen Erkenntnis, die als solche unhintergehbar ist, aber Ausgangspunkt einer Umkehr sein kann. Diese nun führt ihn nicht etwa aus der Welt heraus, sondern lässt ihn sich ihr neu zuwenden. Mag die deutlicher denn je spürbare Endlichkeit seine Sehnsucht nach Außerweltlichkeit auch steigern, so besteht seine anthropologische Verantwortung gerade in der Diesseitssorge.796 Die Bedeutung seines Daseins besteht darin, in einer Welt als deren Partner Sinn zu finden und kreativ zu stiften.797 Seine Würde gründet in der Freiheit, sich selbst als ein für die Welt und damit für sich wert­ volles, ihre Werte als seine Werte realisierendes Wesen zu erschaffen. Das würde bedeuten, sich in ihr und für sie nicht überflüssig gemacht zu haben.

Landmann: Ökologische und anthropologische Verantwortung, S. 165. Ebd., S. 178. 795 Ebd., S. 168. 796 Dass es sich dabei um eine anthropologische Verantwortung handelt, eben weil eine geschichtlich einmalig zu realisierende endgültige Moral oder Ethik dem Men­ schen schlicht unmöglich ist, sofern er nicht einer Ideologie verfallen will, verdeutlicht die folgende Textstelle: »That in man the means achieve an independence from the end, that man is able to multiply and refine the means ad infinitum, this demands from him – as does the »reduction in instincts« in general – an ethics that guides and bridles his »instrumental« capabilities. […] Ethics is not able to fasten these various capabil­ ities into a coherent chain. It can no longer revoke the anthropinon of the freedom of the means. In doing so, it would inevitably curtail the great possibilities which come from the freedom of the means« (Landmann: The Children of Darkness, S. 58). 797 Vgl. Landmann: Ökologische und anthropologische Verantwortung, S. 169. 793

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9. Werte

Verdichtete Ausgänge Die Frage nach Wert, Sinn und Sollen des Menschseins spielt bei Landmann systematisch eine entscheidende Rolle, schließlich ist mit der Formalität und Fundamentalität seiner Anthropologie auch ihre Wertneutralität beansprucht. Vom Aufzeigen der Angewiesenheit auf Bestimmung in Menschenbildern und Lebensformen führt kein Weg zu einem Plädoyer für ein bestimmtes menschliches Bild oder Leben. Vom Sein (dem Faktum des Menschseinmüssens) führt kein Weg zum Sollen (einer Norm des Menschseins). Mag diese strikte Trennung auch, zumal bei Landmann, dem es doch um den ganzen Menschen zu tun ist, irritierend sein, so wollen wir fragen, welchen Sinn sie in seiner Anthropologie haben kann. Dieser erhellt sich, wenn wir die Perspektive umdrehen und vom Sollen auf das Sein blicken. Dies tun Landmann zufolge genau jene Anthropologien, von denen er seine abzugrenzen bemüht ist. So wird etwa vom Ideal, vom Seinsollen des vernünftigen Menschen auf das Sein des Menschen als ›animal rationale‹ anthropologisiert. Zum Beispiel wird der vernünftige Bürger Kants zum Menschen schlechthin gekrönt. Dagegen beansprucht Landmanns, vom pluralen Bestand menschli­ cher Seinsweisen zu deren Möglichkeitsbedingung zu gelangen; in dieser Hinsicht scheint die Frage allerdings außerhalb präskriptiver Bestimmungen zu stehen. Was er nun in diesem Bemühen findet, das ist die formale Bestimmung des Menschen zu jenem Wesen, das angewiesen ist auf lebensgestaltende Formgebung im Rahmen seiner kulturellen Vorfindlichkeit. In dem Sinne aber, in dem auch die FundamentalAnthropologin aus geschichtlichen und persönlichen Gründen von der Pluralität ausgeht, ist diese als Wert bereits gesetzt – und darin ist selbstverständlich die Vorstellung eines Seinsollens des Menschen wirksam. Was Max Weber vorschwebte – dass Werte in der Wissen­ schaft zwar bei der Auswahl des Materials unhintergehbar ihre Rolle

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9. Werte

spielen dürften und sollten, aber im anschließenden wissenschaftli­ chen Umgang mit diesem Material gleichsam zu schweigen hätten798 –, ist zumindest bei einem Gegenstand wie dem Menschen nicht umsetzbar. Die Hinwendung zu dessen geschichtlich-kultureller Plu­ ralität ist ein Movens, das nicht gänzlich schweigt, nicht mehr gänzlich zu schweigen vermag, sobald es sich seine Gegenstände vorgelegt und ausgebreitet hat. Dass er es überhaupt mit einer Pluralität zu tun hat, wird erst dem Fundamental-Anthropologen zum ernsten Faktum, über das bisherige Anthropologie stets hierarchisierend, also unter erhöhtem Wertakzent, hinweggegangen ist. Sein Wissensver­ langen liegt ›zwischen‹ solch fiebrigem Weltordnungsbedürfnis und völlig erkalteter rein wissenschaftlicher Neugier; es lässt sich weder zur ersteren emporreißen noch erschöpft es sich im detailverlieb­ ten Spezialistentum der letzteren. Die Fundamental-Anthropologin möchte ja gerade verstehen, warum es so verschiedene Weisen des Menschseins gibt. Und sie will dies zumindest auch verstehen, weil sie als Mensch von ihnen attrahiert ist. Sie verstehen zu wollen, bedeutet immer auch schon in gewissem Ausmaß – und hier liegt der Wertakzent –, sie als etwas Eigenständiges, Eigenmächtiges und Eigenwertiges gelten lassen zu wollen und eben genau nicht, sie zu niedrigen Vorstufen oder gar Verirrungen eines als eigentlich vorgestellten Menschseins zu erklären. Man könnte sagen: Vom Sein lässt sich nicht auf ein Sollen schließen, aber dieses Sein ist selbst für die Fundamental-Anthropologin bereits als ein Sollen wirksam. Die Pluralität des Menschen ist für sie nicht nur realer, sondern auch normativer Ausgangspunkt. Damit aber liegen Wert und Sinn ebenso wie Unwert und Unsinn in der Geschichte selbst und nirgends sonst. Die Ansiedlung des Menschen in der Mittelwelt der Kultur bedeutet, ihn weder allein das sinnlos und triebgesteuert umherirrende Naturwesen, noch allein das einzig zum Sinn bzw. diesen zu erkennen begnadete Geschöpf Gottes sein zu lassen. So wird verständlich, warum die Verortung des Menschen in der Welt und seine Deutung als Wesen dieser Welt auch eine Ontologie dieser Welt nach sich zieht, das heißt hier: eine Kulturontologie.799 Da die Artefakte, Lebensformen und Ideen des 798 Vgl. Weber, Max: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpoliti­ scher Erkenntnis. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1904), S. 22– 87, v a. S. 27 f. und 56. 799 Vgl. zu Landmanns Vorstellung von »Kulturontologie« PuA, S. 203.

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Verdichtete Ausgänge

Menschen eben nicht allein Produkt seines gleich bleibenden und ihnen gegenüber gleich-gültigen (metaphysischen) Seins, sondern Ausdrücke seines geschichtlichen Werdens sind, fällt der Mensch mit dieser Kulturwelt zusammen, ist er »Durchgangspunkt für Objekti­ ves« und zugleich dessen Ursprung. An einer aufschlussreichen Stelle schreibt Landmann: »Die Kulturen sich wandeln zu lassen ist also nicht etwas, was zwar in unserer Macht steht, was wir aber ebensogut auch unterlassen können, sondern es ist aufs höchste zu bejahen.«800 Sein ›Trick‹ besteht darin, die Pluralität des Menschen als dessen Sein (als seine formale Bestimmung) zu deklarieren, wodurch ihre Bejahung dann – scheinbar – keine Sollensaussage bzw. -haltung, sondern schlichter die Anerkenntnis der menschlichen Faktizität sei. Von hier aus gesehen wäre die Rede von Wertrealisation und Sinnstif­ tung, die Verortung der Werte und des Sinns in der Welt wie auch im menschlichen Empfinden und Bewusstsein nicht nur plausibel, sondern sogar notwendig. Dass der Mensch das kreative Wesen ist, erhält bzw. verrät hier einen Wertakzent: das für richtig, gut und schön Befundene wird als solches geschaffen und erkannt; wenn uns an ihm gelegen ist, so sollen wir uns auch als Wesen begreifen, die dazu in der Lage und aufgefordert sind, Lebensformen und mit bzw. in ihnen Werte zu schaffen, das heißt: Sinn zu stiften. Eben weil das Wertvolle praktisch von uns abhängt, müssen wir uns in diesem Sinne begreifen, andernfalls geben wir es womöglich aus der Hand – in das Nichts, das uns hier als Metapher für das Sinnlose und Wertlose dienen mag, das ja gleichfalls irgendwie in der Welt (und insofern eine drohende Alternative) ist. Landmanns liebevolle Hinwendung zur Pluralität der Kulturen wie auch der Werte erfährt nun eine empfindliche Provokation durch alle Tendenzen, die in Richtung entweder einer Hierarchisierung oder einer Gleichmachung (›Vergleichung‹) des Unterschiedlichen gehen. Zweierlei offenbart sich erst hier in vollem Sinne: Erstens zeigt sich, dass Landmann letztlich, bei aller Liebe zu einer bestimmten Form des Menschseins (das ist der Mensch als Plural-Individuum), doch ernst macht mit dem Gedanken der Offenheit des Menschseins. Dies zeigt sich sowohl wenn er von einer Weltzivilisation spricht als auch wenn er eine Pluralität von Zivilisationstypen in Aussicht stellt.801 Erstere legt den Nerv auf die (stets latente) Depotenzierung der 800 801

Landmann: MSGK, S. 74. Vgl. Landmann: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum, S. 553.

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9. Werte

kreativen Potenz des Menschen etwa durch Technik, die weniger ihn als kreatives Wesen von der Erdfläche verschwinden, als vielmehr die Frage, was wir unter einem Menschen verstehen (wollen, können, sollen), neu und verschärft aufkommen lässt. Zweitere nimmt die Dominanz der Zivilisation gegenüber der Kultur (im engeren Sinne) zum Ausgangspunkt einer Reflexion über die Möglichkeit eines Menschseins, das sich in Zivilisationstypen ähnlich ausdifferenziert wie ›einst‹ in Kulturen. Zweitens deutet sich an, wie brüchig die lie­ bevolle Hinwendung zu einer Pluralität des Menschseins ist, mutet sich diese doch auch immer in ihrer bedrohlichen Tendenz zu, das heißt: als Relativität. Diese ist demjenigen ein Problem, der nach dem Sinn fragt bzw. durch sie einen (höheren) Sinn in Frage gestellt sieht. Wo das Wunder des Vielen als sein Schrecken erscheint, zieht die Würde der Unergründlichkeit einen Schatten auf sich. Der Funda­ mental-Anthropologin bleibt an dieser Stelle der stolze Trotz, jener Bindestrich, der aus dem (vermeintlich) Sinn- und Wertlosen wieder ein Sinn- und Wert-Los werden lässt – das auf uns fällt, sofern wir es ergreifen.

Anthropologische Architektonik 9.1 Die Werte als ein Zwischenreich Landmanns axiologische Überlegungen verstehen sich als Weiterfüh­ rung der materialen Wertethik Max Schelers und Nicolai Hartmanns und stehen damit in einer phänomenologisch-ontologischen Tradi­ tion, die bemüht ist, Kants erkenntnistheoretischen und ethischen Transzendentalismus und die ihm zugrundeliegende Trennung zwi­ schen erkennendem und ethisch wollendem Subjekt auf der einen und beidem gegenüber gleichgültigem Sein auf der anderen Seite zu überwinden. Ebenso wie »die sog. logischen Gesetze auf ein logisches Sein zurückverweisen […] wurde man nun auch auf ein hinter den ethischen Gesetzen stehendes Sein aufmerksam, eben die Werte.«802 Materiale Wertethik i.S. Hartmanns stellt den Ver­ such dar, entgegen einer rein historisch-deskriptiven Ethik deren philosophisch-metaphysischen Kern und gleichzeitig entgegen der 802

Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 92.

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9.1 Die Werte als ein Zwischenreich

klassischen einheitlich-formalistischen Ethik die phänomenale und ontische Pluralität ihrer Wertmaterien, d.h. ihrer Inhalte, denen die Werte jeweils zukommen803 zu behaupten. In diesem Sinne bezeichnet Hartmann sie als »die Synthese der Kantischen Apriorität und Überzeitlichkeit sittlicher Anforderung mit der von Nietzsche erschauten Mannigfaltigkeit der Werte.«804 Wenn klassischerweise und bis in die Sprache hinein ›der Wert einer Sache‹ als eine subjektiv-ideelle Zuschreibung an eine objektivreale Entität vorgestellt wird, so sprengt Hartmann diese Alternative zwischen Realismus und Idealismus und die Werte treten als ein Zwi­ schenreich hervor: nicht eine vom Seienden getrennte Subjektivität erkennt oder erschafft Werte, sondern in den Werten zeigt sich dem Geist eine bestimmte Dimension der Realität bzw. gewinnt in den Werten die Realität für den Geist Anteil an etwas wie der ›Schicht des Wertvollseins‹. »Der Geist wird ergriffen von neuen Wertbereichen, sofern diese selbst unabhängig davon bestehen. In diesem Sinne – und nur in diesem – darf man von einem ›idealen Sein‹ der Werte« als einem »Sein in Abhängigkeit von mannigfachen Seinsbedingun­ gen« sprechen.805 Die Verankerung der Werte in der historischen Realität und ihre gleichzeitige partielle Erhabenheit zeigt sich in der Unterscheidung zwischen ›Wertvollsein‹ und ›Für-wertvoll-Gelten‹, die für Hartmann keine analytische Spielerei, sondern Ausdruck eines ontologisch-axiologischen Verhältnisses ist: »Es ist unmöglich, daß etwas, was hier und jetzt wertvoll ist, unter wirklich gleichen Umständen jemals nicht wertvoll ›sein‹ könnte; aber es ist gar nicht unmöglich, daß es nicht für wertvoll ›gelten‹ könnte. Wertvollsein ist eben nicht dasselbe wie Für-wertvoll-Gelten.«806 Insofern eignet den Werten »bei aller Bezogenheit auf den Wechsel des Realen eine ganz bestimmte Art von Unabhängigkeit (Absolutheit): eben die des Wert­ charakters selbst, oder des eigentlichen Wertvollseins«.807 Hartmann denkt hier im besten Sinne des Wortes phänomenologisch: nicht gewinnt das Reale, indem es als wertvoll gilt, nachträglich Anteil an Vgl. Hartmann, Nicolai: Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart (1936). In: Kleinere Schriften Bd. 3. Berlin: de Gruyter 1958, S. 330 [im Folgenden: Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart]. 804 Hartmann, Nicolai: Sinngebung und Sinnerfüllung (1934). In: Kleinere Schriften Bd. 1. Berlin: de Gruyter 1955, S. 260 [im Folgenden: Sinngebung und Sinnerfüllung]. 805 Hartmann: Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart, S. 332, Herv. F.S. 806 Ebd., S. 330. 807 Ebd. 803

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9. Werte

einer überzeitlichen ideellen Sphäre freischwebender Werte, sondern im Wertvollsein(-können) des jeweiligen Inhalts des Realen erstreckt sich dieses über seine historische Kontingenz und Flüchtigkeit hinaus und gewinnt an seinem Wertvollsein selbst eine überzeitliche Dimen­ sion seiner ›Wirklichkeit‹. Es ist ein Irrtum, daß nur Ewiges ewigen Wert haben könne. Ewigen Wert hat gerade das Vergängliche. Sein Wertcharakter ist eben das Ewige an ihm. Der Wert einer Sache ist so wenig an ihre Dauer gebunden, wie die Wahrheit eines Satzes an das Aufblitzen und Verschwinden der Einsicht in menschlichen Köpfen.808

Während für Kants Unternehmen einer metaphysischen Bestimmung des einen ethischen Grundprinzips jegliche lebensweltlichen Bezüge ›ethischer Erfahrung‹ bedeutungslos bzw. nur ex negativo aufschluss­ reich sind, findet umgekehrt Hartmanns Ethik in ihnen genau ihren Ausgangspunkt und ihre Rückversicherung. Kants Einwand gegen jegliche empirisch motivierten Beweggründe bezieht sich auf deren Funktion als Mittel, d.h. ihre Stellung in einer Kette von Zweck-Mit­ tel-Relationen. Während sie für Kant in seinem am Vorbild der Logik bzw. Naturwissenschaften orientierten Begründungsversuch nur in einem teleologischen, nicht aber einem vitalistischen Sinne als Beweggründe in Betracht kommen, können, ja müssen für den phänomenologisch fragenden Hartmann die Erlebnis- und Gegeben­ heitsweisen des Ethischen in ihrer Eigenqualität thematisch werden. Wo die Erfahrung bei Kant vom letzten und einzigen Prinzip der Ethik, dem Zweck, der nicht mehr Mittel ist, nur ablenken und wegführen kann, ist sie bei Hartmann notwendige Voraussetzung jedweder Zwecksetzung: Wert und Sinn stehen jenseits aller Teleologie; sie bestehen auch ohne Zweckverhältnis, dieses aber setzt sie voraus. Der beste Beweis dafür ist das eigenartige In-sich-Geschlossensein alles wirklich Erhebenden und Beglückenden im Leben, seine Gleichgültigkeit gegen alle Einrah­ mung durch die Realfolge der Ereignisse, gegen Zusammenhänge und Gegensätze, die es überschatten.809

Hartmann: Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart, S. 330f. Hier liegt eine Ähnlichkeit zu Simmels Idee eines »individuellen Gesetzes« vor, in dem gerade das Individuelle und Vergängliche gesetzmäßig, als einem Gesetz unterstehenkönnend gedacht wird. 809 Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 265. 808

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9.1 Die Werte als ein Zwischenreich

Pluralität der Werte und »Enge der Wirklichkeit«: Mit dem konstitu­ tiven Geschlossen- und Gleichgültigsein des Werterlebens ist ein wichtiger Aspekt der Wertthematik aufgeführt, der in struktureller Analogie zu dem bereits erläuterten ›Monismus des Kulturgefühls‹ und dem ›ursprünglichen Im-Sinn-stehen‹ gesehen werden kann. 810 Jegliche Pluralität der Werte, sei es ihr Nebeneinander-, Überein­ ander- oder Im-Konflikt-Stehen, ist in diesem Erleben gar nicht präsent, ja ort- und stimmlos; und selbst die »Pluralität der Absoluta«, würde sie als wertvoll erlebt, wäre dann (in) diesem Erleben selbst wiederum ein einziger unteilbarer Wert. Anthropologisch brisant wird die Wertthematik erst, wenn wir die Pluralität und Aporetik der Werte zum Ausgangspunkt nehmen. Damit entfernen wir uns nicht etwa von der Phänomenologie ethischen Erlebens, sondern ziehen im Gegenteil mit dem Wertekonflikt den für Landmann tiefsten Erlebnisgrund des Ethischen erst in Betracht. »Gerade die Phase, während deren ich in ihm [dem Wertekonflikt, Anm. F.S.] verharre und ihn noch nicht zugunsten der einen oder der andern Partei beendet habe, enthüllt sich uns, wenn wir scharf genug beobachten, als das ethische Urerleben.«811 Im Konflikterleben ist die an und für sich unmotivierte Pluralität faktisch bestehender Möglichkeiten des Entscheidens, Handelns und Seinkönnens im Modus aufdringlicher Verwirklichungsappelle heterogener Werte präsent. Sucht Kant mit­ tels der Erkenntnis das eine für alle Pluralitäten und Unwägbarkeiten gleichermaßen geltende Prinzip zur Begründung ethischen Handelns, so qualifiziert Landmann dieses letztere gerade ausgehend von der Pluralität der Werte und in Abgrenzung zu sonstigem Handeln und zur Erkenntnis.

Wie Hartmann die Werte, so lässt Landmann Kultur (als Pluralität und Ausdruck von umfassend verstandener Kreativität) der Vernunft (als der Zwecke setzenden und für diese Mittel anvisierenden Kraft) vorgängig und vorrangig sein. Wenn Hartmann hier vom ›In-sich-Geschlossensein alles wirklich Erhebenden und Beglückenden‹ spricht, so erinnert dies wie gesagt an den Monismus des Kulturgefühls und das ursprüngliche Im-Sinn-stehen bei Landmann, jedoch mit dem Unterschied, dass die in Betracht stehenden Erlebnis- und Erfahrungsweisen bei Landmann in einem umfassenderen Sinne, eben als Kulturphänomene und damit auch nicht bereits bzw. nicht ausschließlich in ihrer immanenten Normativität (Wertigkeit) thematisch werden. Einmal mehr wird deutlich, dass Landmanns phänomenologische Kultur­ anthropologie inhaltlich ebenso eine Fortführung wie Vertiefung von Hartmanns phänomenologischer Ethik und Wertlehre ist. 811 Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 99. 810

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9. Werte

[S]ofern wir rein erkennende, ja auch sofern wir rein wollende Wesen sind, können wir im subjektiven Wertkonflikt verharren und so dem objektiven abspiegelnd gerecht werden. Erst als Handelnde müssen wir uns dazu vereinseitigen, Einem von dem vielen Gesollten und Gewollten den Vorrang zu geben. Die Enge der Wirklichkeit, innerhalb deren so oft zum Entweder-oder wird, was in der reicheren Welt der Möglichkeiten noch ein Sowohl-als-auch war, ist es, die uns zwingt, aus dem erkenntnismäßig richtigeren Konflikt heraus in die die Wahr­ heit vergewaltigende Entscheidung zu treten, aus der Vieldeutigkeit eine Eindeutigkeit herauszufälschen, den unlöslichen Knoten zu durch­ hauen. Für dieses Durchhauen aber gibt es keine Techne. Es bleibt dem Einzelnen von Fall zu Fall überlassen.812

Hier zeigt sich deutlich Landmanns mehr anthropologisch-psycholo­ gischer als ontologisch-axiologischer Zugang wie auch, mit welcher Konsequenz er die Inkommensurabilität von geistig-voluntativer und praktisch-realer Sphäre stehen lässt. Zwar kennt auch Hartmann »die Notwendigkeit stets wiederholter und darum unvorgreiflicher Entscheidung«, hat aber gleichzeitig »den Wertobjektivismus […] so weit getrieben […], daß er für die sich doch erst in der Enge menschlicher Wirklichkeit aus dem Sichentscheidenmüssen ergebenden Wertkonflikte seiende Korrelate, ideelle Antinomien aufstellt«813 und damit – in diese Richtung verstehe ich den hier geäußerten Einwand Landmanns, der sich sonst ausdrücklich für die Existenz von Sein­ santinomien ausspricht – fast wieder ein harmonisches Verhältnis herzustellen scheint, in dem sich Realkonflikt und Konfliktempfinden entsprächen. In solchem harmonistischen Aufriss wäre der mensch­ liche subjektiv-kreative Wertebezug allzu sehr als der objektiven Wertekonstellation entsprechen-könnend vorgestellt. Im Gegensatz dazu betont Landmann die unhintergehbaren Brüche, die jedwede Verwirklichung als solche mit sich führt, insofern sie stets nur durch Auswahl und Abwägung, d.h. eine Verengung des Möglichkeitsfeldes, sich vollziehen kann, unabhängig davon, ob dies auch gewusst oder erlebt wird. Die ganze reale Schärfe des Gegeneinanderstehens zweier Werte entsteht ja gerade erst für den Menschen; und zwar in einer Situation, in der beide nicht mehr nur »in beziehungsloser Absolut­ heit nebeneinanderstehen«814, d.h. inhaltlich zwar verschieden sind, virtuell aber gleichzeitig, ›sowohl als auch‹ bestehen können, sondern 812 813 814

Landmann: SaW, S. 68 f. Ebd., S. 31, Herv. F.S. Landmann: P, S. 57.

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9.1 Die Werte als ein Zwischenreich

in der sie um das Erwähltwerden konkurrieren, sich real ausschließen, weil ein Wert dem anderen vorgezogen werden muss, um realisiert werden zu können. Wir sehen deutlich, dass in dieser anthropologischen Dimension das Konflikterleben relativ unabhängig ist vom jeweiligen Wertinhalt; in ihr wird sich der Mensch vielmehr grundsätzlich bewusst, dass er die Werte, sofern sie ihm als Aporetik gegeben sind, »in sich nicht zur Harmonie bringen, sondern nur den Anspruch der einen, um der anderen gerecht zu werden, verkürzen kann, der Konsequenz seines Vor-den-Werten-stehens nach aber zwischen ihnen zerrissen ist.«815 Hier deutet sich bereits an, dass es Landmann, auch hier Scheler und Hartmann folgend, um eine kulturphilosophische Analyse ethischer Phänomene geht, weil diese den Blick für die Vielheit der Werte und von ihnen ausgehender aporetischer Sollensforderungen offen­ hält. Wenn auch im pragmatisch zu bewerkstelligenden Alltagsleben kulturell überlieferte Wertehierarchien bzw. Ordnungssysteme, in denen bestimmte Inhalte und Optionen gar nicht als wertvoll defi­ niert sind, handlungsleitend sein mögen, so insistiert Landmann auf einer Einstellung des Bewusstseins bzw. Empfindens, das aus der ethisch-kulturellen Verengung zurücktritt und dem sich so die Werte erst in Gänze ausfalten, jeder inhaltlich für sich und hinsichtlich seiner jeweiligen Position in einer bestimmten Wertekonstellation. Aporetisch nennen wir ein Empfinden, dem »ihr Verhältnis von einem gewissen Grade der Ausgefaltetheit ab weit mehr das eines Gegeneinander ist«.816 Von hier aus wird nicht nur deutlich, in welchem Ausmaß monis­ tische oder hierarchische Wertordnungssysteme funktional sind für den ›einfachen Lebensvollzug‹, sondern es zeigt sich auch umgekehrt, dass Menschen in der pluralistischen Betrachtungsweise, sofern sie sich nicht auf enzyklopädisches Sammeln beschränkt, sondern die bestimmende Kraft eines Lebensethos gewinnt, eine enorme kultu­ relle Leistung vollziehen. Dies wiederum weist darauf hin, inwiefern die Pluralität der Kulturen als Pluralität der Werte auch den norma­ tiven Ausgangspunkt von Landmanns Anthropologie bildet, ja in gewisser Weise bilden muss. In dieser Form, kraft dieses Wertakzents, balanciert bzw. erhebt sie den Menschen, der seine Pluralität sowie die der Weltdinge und Werte immer wieder ernüchternd als Individuali­ 815 816

Landmann: P, S. 57 f. Ebd., S. 57.

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9. Werte

tät, Kulturalität, Geschichtlichkeit, Begrenztheit erlebt. Das Wissen um seine Möglichkeiten lässt den Menschen seine Wirklichkeit zwar als solche und in ihrer Begrenztheit bewusst werden, doch erst der jeweilige Wert seiner vielen Möglichkeiten lässt ihn – was in gewisser, paradoxer Weise bereits Ausdruck seines Vermögens ist – seine Begrenztheit als Enge empfinden und gibt ihm zugleich Kraft und Anhaltspunkt, sich ihr doch auch (wieder) zu entwinden. Der Wertakzent objektiver Möglichkeiten vermittelt dem Subjekt sein bloßes Anders-sein-Können als ein Anders-sein-Sollen. Hier scheint offenbar die objektive Polymorphie sich subjektiv nur in einer ebensolchen widerspiegeln zu können und die engbegrenzte Indi­ vidualität, wie sie einer engbegrenzten Auswahl aus dem Wertreich entsprach, sich zugunsten eines allgemeinen Umfänglicherseins auflo­ ckern zu sollen.817

Wertschichten: Bisher haben wir die Werte, insbesondere im Bild ihrer Entfaltung, vorgestellt als eine Dimension der Realität, die zwar in ihrer Verbindung mit der kulturell-geschichtlichen Wirklichkeit, im Zusammenspiel mit ihr neue Gestalten bildet, selbst dabei aber zweidimensional strukturiert ist. Wir möchten an dieser Vorstellung nun eine Korrektur anbringen und, ausgehend von der Schichtenonto­ logie Hartmanns, die Werte selbst als eine Sphäre betrachten, die sich schichtenförmig aufbaut. Wenn jede der von Hartmann unterschie­ denen Schichten im Aufbau der realen Welt »eine ganze Ordnung des Seienden« darstellt, die »ihre eigenen Gesetze und Prinzipien«818 hat, so trifft dies m.E. auch auf die der Schicht des geschichtlich Geistigen zugehörige ›Subschicht‹ der Werte (genauer: der ›Werthal­ tigkeit‹) zu. In und mit den Werten setzt innerhalb der geschicht­ lich-geistigen Seinsschicht ein »kategoriales Novum«819 ein. Dieses Novum zeigt sich in der bereits erwähnten partiellen Überhobenheit der Werte, d.h. der Unabhängigkeit ihres Wertvoll-seins gegenüber ihrem Als-wertvoll-gelten. Diese ›Überhobenheit‹ ist nicht platonisch misszuverstehen als Losgelöstheit, sondern besteht in der bzw. als neue Dimension der Realität selbst: »Im Aufbau der Welt gibt es kein freies Schweben der höheren Schichten. Sie bestehen nur im Aufruhen auf den niederen, sind von ihnen getragen. Aber die Art 817 818 819

Landmann: EuM, S. 110. Hartmann: Alte und neue Ontologie, S. 334. Ebd., S. 336.

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9.1 Die Werte als ein Zwischenreich

des Aufruhens ist verschieden.«820 Ewige Werte amalgieren sich nicht einer vergänglichen Realität, sondern die Ewigkeit des Wertvollseins ist die Art und Weise, auf die der Wert dem bzw. im Realen aufruht, auf die sich der Wert des Realen an diesem selbst manifestiert und realisiert. »Die höhere Seinsschicht ist durchgehend von der niederen getragen« (der Wert einer Sache gilt nur unter den Bedingungen ihres Zustandeskommens und Bestehens), »aber nur teilweise durch sie bestimmt«821 (wertvoll ist eine Sache unabhängig davon, ob die Sache noch existiert). In dieser Ontologie ist die Einheit der Welt, ihr realer Zusam­ menhang, mit der Mannigfaltigkeit der Welt, die im ›kategorialen Novum‹ ihren Grund hat, vermittelt und jedweder monistischen Metaphysik eine Absage erteilt.822 Mit ihr verabschieden Hartmann, Scheler und Landmann auch die dualistische Weltordnung von Wert/ Unwert oder Gut/Böse und schlagen demgegenüber eine schichten­ mäßige Anschauung der Wertsphäre vor, in der verschiedene Inhalte dynamische ›Verbindungen‹ eingehen und je nach wechselnder Kon­ stellation als mehr oder weniger wertvoll, wertlos, gut, böse gelten. Wieder zeigt sich auch hier: mit dem Bösen verdammen wir einen ganzen Komplex, und Glieder des Komplexes widersetzen sich der Verdammung. Eine »tiefere Wertschicht« im Sinn Schelers, etwa die der Vitalität, macht ihren berechtigten Anspruch noch dort geltend, wo sie sich mit dem Bösen amalgamiert hat. Das Positive der tieferen Schicht wirkt durch das ethische Negative hindurch. Darum sagen wir im Nein auch Ja.823

Die damit aufgezeigte schichtenmäßig strukturierte Kontextualität und Konstellationalität der Werte steht ebenso wenig wie deren Geschichtlichkeit im Gegensatz zur menschlichen Freiheit, sondern ist gerade ihr stärkstes Zeugnis, nur dass hier nicht mehr allein die Freiheit zum Guten, ferner nicht nur wie prominent bei Schelling824 Hartmann: Alte und neue Ontologie, S. 336. Ebd., S. 334. 822 Vgl. ebd., S. 336. 823 Landmann: EdI, S. 102. Dies gilt übrigens auch umgekehrt, wenn einem ›Nega­ tiven‹ ein ›Positives‹ entspringt bzw. entwächst, d.h. über das ›Negative‹ hinaus in eine ›positive‹ Schicht ragt; auch hier bleibt das ›Negative‹ wirksam insofern wir mit­ unter ›im Ja auch Nein‹ sagen (bzw. aufrichtigerweise sagen müssten). 824 Vgl. Schelling in seiner Freiheitsschrift: »Der Idealismus gibt nämlich einerseits nur den allgemeinsten, andererseits den bloß formellen Begriff der Freiheit. Der reale und lebendige Begriff aber ist, daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sei« 820 821

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9. Werte

die Freiheit der Wahl zwischen Gut und Böse, sondern in feinerer Differenzierung die Freiheit zur Kombination verschiedener Wertin­ halte zu ›neuen‹ Werten und damit die Freiheit zur Realisation und Variation vielschichtiger ›Wertgebilde‹ gemeint ist. Während Nietz­ sches, sich an den lebens- und weltverneinenden Werten christlicher Moral entzündende Kritik eine nun selbst auch wertinhaltlich und das heißt ethisch engagierte, empathisch vitalistische ›Umwertung‹ die­ ser Wertinhalte vollzieht, richtet sich Hartmanns und Landmanns Kritik fundamentaler auf ethisch-moralische Monismen und Dualis­ men als solche, denen gegenüber sie, stärker ontologisch engagiert, die unerschöpfliche und unüberwindliche Pluralität und Antinomie der Werte als für das Verständnis des Ethischen bzw. Sittlichen zen­ tralsten Ausgangs- und Anhaltspunkt behaupten. Wo Freiheit keinen Spielraum hat, da gibt es den Unterschied von Gut und Böse nicht. Da haben auch sittliche Werte und Unwerte keinen Träger, an dem sie real werden könnten; da gibt es keine Akte, auf deren ›Rücken‹ sie erscheinen könnten. Der teleologische Determinismus ist das Verschwinden des sittlichen Wesens aus der Welt. Die auf Sinn hin ›angelegte‹ Weltordnung ist die radikale Vernichtung aller höheren Sinngebung in der Welt.825

9.2 Werteordnungen Die Pluralisierung der Werte führt bei Landmann ebenso wenig wie bei Hartmann in einen vulgären Relativismus; die zwei im Folgenden kurz skizzierten Werteordnungsraster stehen nicht in Widerspruch zum pluralistischen Wertepanorama, sondern in produktiver Span­ nung zu ihm, die – wie anschließend gezeigt werden soll – den Menschen als wertsetzendes Wesen überhaupt erst ins Spiel bringt und verständlich werden lässt. Klassifizierung der Werte nach Kulturbereichen: Dabei ist die Klassifizierung der Werte nach Kulturbereichen historisch wie auch systematisch als erster, von den Griechen vollzogener und sehr ent­ scheidender Schritt in Richtung einer Wertepluralisierung zu sehen. (Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Frei­ heit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975, S. 47 f.). 825 Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 272.

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9.2 Werteordnungen

»In den frühen Kulturen bilden das Heilige, das Schöne und das Wahre noch eine diffuse Einheit. Erst die Griechen desintegrieren aus diesem Komplex die einzelnen Werte heraus.«826 Es ist kennzeichnend für jegliche Tradition, als diffuse Einheit noch nicht unterschiedener Wert- und Wirksphären multipotent bestimmend zu sein. Die Wert­ haftigkeit selbst ist von ihrem historisch-kulturellen Träger noch nicht unterschieden; sie fällt mit ihm in eins, sodass die bloße Faktizität in erhöhtem Maße normativ wirksam ist. »Ursprünglich erscheinen diese Werte [schön, wahr, gut usw., Anm. F.S.] nicht unmittelbar und abgelöst, sondern nur inkorporiert in Objektivationen und daher in der jeweiligen geschichtlichen Fassung, die sie in diesen erfuhren.«827 Nur dass im kulturmonistischen Weltverhältnis diese geschichtliche Fassung gar nicht als solche erkennbar ist; die Natürlichkeits- und Ewigkeitssuggestion der Tradition nährt sich ja gerade aus der Kon­ gruenz von Sein und Sollen. Insofern war es allerdings ein großer Schritt, mit bestimmten geistigen Unterscheidungen (Sein und Sollen, Form und Inhalt) gegenüber der bekannten geschichtlichen Überlie­ ferung eine neue, nach anderen Gesetzmäßigkeiten sich aufbauende Weltordnung gelten zu lassen, in der der Einzelne überhaupt einen inhaltlichen und normativen Bezugspunkt für eine Kritik an den Traditionen gewinnt. »Erst bei den Griechen lösen die Werte sich aus der Tradition heraus und werden zu selbständigen Ideen. Das innere Auge auf sie gerichtet, kann der Einzelne es wagen, der Tradition ent­ gegenzutreten. Sie sind die Bedingungen der Produktivität.«828 Hier haben wir es noch einmal pointiert: Bevor der Mensch als Individuum, sich dann wieder auf Erkenntnis verengend, die Werte in der Welt erblickt und mittels bzw. in seiner Erkenntnis abbildet, war bereits ein Wertfühlen als Antriebsmoment dahingehend wirksam, sich über­ haupt als Einzelner aus der umspannenden Tradition herausgewagt zu haben. Dem Rationalen liegt, subtil und leicht zu verkennen, ein eher Irrationales zugrunde. Entscheidend ist aber vor allem, dass im autonomen Individuum, dessen ›Entdeckung‹ Landmann zufolge die Autonomisierung der Kulturbereiche vorhergeht, nicht nur eine Essenz, sondern ein Wert behauptet wird. Auf diese Weise wird ver­ ständlich, inwiefern sowohl in der Reduktion des ganzen Menschen auf Vernunft als auch in der Identifizierung des Wertvollsten mit dem 826 827 828

Landmann: UuS, S. 214. Landmann: FA, S. 134. Ebd., S. 135.

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9. Werte

Ewigen in der antiken Vorstellung einer unsterblichen Seele zunächst emanzipatorische Ansprüche sich Ausdruck und Geltung verschaffen. Das griechische Individuum erhebt sein Haupt nur deshalb in so stolzem Selbstsein, weil etwas vom Glanz und der Weihe der über­ menschlichen Ideen auf es fällt, durch die es sich erwählt, denen es sich untertan weiß und die tragend und für die kämpfend es mehr ist als nur es selbst. Der Grieche ist gleichsam der Priester der neuen Göttinnen der Wahrheit, der Schönheit und des Guten. Nur weil er von diesen objektiven Mächten seine Direktiven erhält, weil ihr stärkeres Gesetz ihn bindet, bindet ihn das Gesetz der Tradition nicht mehr. Die immanente Eigenlogik der objektiven Kulturwerte selbst ist es eigentlich, die die Alleingeltung der in der Gemeinschaft gehegten Tradition außer Kraft setzt.829

Das Individuum gibt sich sozusagen nie die volle Blöße, sondern erstarkt an seiner Verbindung mit einer Kultur- und Wertsphäre; wenn schon nicht seinen Wert, so doch dessen Geltung bezieht es von außerhalb (was auch und gerade am Beispiel der Menschenrechte eindrucksvoll deutlich wird).830 Bei Platon führt die Emanzipation autonomer Werte aus dem Traditionszusammenhang schließlich wie­ der in die Vorstellung einer Einheit des Guten, Wahren und Schönen, worin sich das monistisch-metaphysische Vor- und Werturteil seiner Ideenphilosophie und Vernunftanthropologie durchsetzt und zeigt. An die Stelle der starren Traditionen tritt nun eine ebenso starre Ide­ enwelt; die einzige Beweglichkeit des Individuums besteht im Streben nach Erkenntnis mit dem Ziel, die Idee des Wahr-Gut-Schönen zu schauen. Die geistige Kraft beschränkt sich nicht auf die Differenzie­ rung und Emanzipierung heterogener Kultur- und Wertsphären, die sie dann in ihrer Eigenqualität gelten ließe, sondern macht letztlich ihre entdifferenzierend-vereinheitlichende Tendenz wieder geltend. Sie wird selbst zur Tradition und als solche dann wiederum in Kritik gezogen von einer genuin erkenntnis- und vernunftkritischen Werte­ philosophie, die das Wertfühlen in sein Recht setzt. Wo Erkenntnis als solche bis zu einem gewissen Grad die Form von Einheitlichkeit Landmann: UuS, S. 20. Vgl. Landmann: FA, S. 135: »Schöpfertum ist also nichts so Ungebundenes, wie es zunächst im Vergleich mit der Instinktivität scheinen mochte. Es erwacht zur Frei­ heit in dem Augenblick, in dem es in die Dienstbarkeit der Wertideen tritt. Diese gönnen ihm zwar einen weiten Spielraum, begrenzen und lenken es aber zugleich durch ihre ›axiologische Determination‹ (N. Hartmann)«. 829

830

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9.2 Werteordnungen

anzunehmen tendiert, ist dem Gefühl die Heterogenität inkommen­ surabler Gefühlsinhalte und damit ihre Pluralität inhärent. Strahlte bei Platon die Autonomisierung der Erkenntnis zu einer erhöhten Wertsphäre zurück auf den entsprechend vernunftanthropologisch reduzierten Menschen, so strahlt nun umgekehrt die innere Vielheit des menschlichen Seelenlebens auf ein in unermesslicher Vielheitlich­ keit erscheinendes Wertereich aus, das sich weit über den Bereich des Ethischen hinaus erstreckt: »Denn auch die Werte etwa des Schönen oder des Heiligen werden ja erfühlt. Nur ein enger Ausschnitt des Wertfühlens also ist ethisch.«831 Die Perspektive auf die Werte und das Ethische ist damit geöffnet für eine geschichtliche Differenzie­ rung und schichtenmäßige Modellierung; die Kulturbereiche sind so gleichsam, vermittelt durch eine ganzheitlichere Anthropologie, einer umfassenderen Erkenntnis doppelt zurückgewonnen. Wenn Platon, überspitzt gesagt, in seiner eigenen Erkenntnissuche Philosophie als solche gegenüber einem dichten Traditionsgeflecht durchzusetzen hatte, genießen spätere Philosophen wie Scheler den Luxus, innerhalb der Philosophie und in Abgrenzung zu ihren tradierten Systemen differenziertere Ansprüche zu stellen. Man ist geneigt, zu sagen, erst jetzt sei es möglich geworden, eine allgemeine Axiologie aufzustellen, in der die ethischen Werte eine Klasse neben anderen bilden. Es ist ebenso konsequent wie bezeichnend, dass sowohl Scheler als auch Landmann sich in ihren frühen Schaffensphasen zwar dezidiert mit ethischen Problemen beschäftigen, durch diese dann aber auf die weitmaschigere Wertethematik und weiter auf eine breitere Kultur­ philosophie kommen, von der ausgehend sie dann im Rückschluss ihre Aussagen über Werte und das Ethische treffen.832 Von hier aus wird deutlich, inwiefern die Philosophie resp. Anthropologie der Kultur den Menschen und die Welt zusammen­ bringt, ohne das eine auf das je andere zu reduzieren. Kultur ist das Medium, in dem sich Mensch und Welt – letztlich nur analy­ tisch zu trennen – immer schon begegnen; eine Qualität dieses Sich-begegnen-könnens unter vielen ist das Ethische, das nun in seiner Abhängigkeit von geschichtlich-kulturellen Faktoren und Kon­ stellationen kenntlich wird. »In Gefühlen und Werten nun mag es sich manifestieren; wird man aber behaupten wollen, daß es in ihnen

831 832

Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 93. Vgl. ebd., S. 94.

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9. Werte

geradezu bestünde? Beide sind ja nicht von sich aus, sondern werden nur unter Umständen ethisch.«833 Von hier aus erhellt sich der normative, d.h. werthafte Sinn von Landmanns Kulturanthropologie menschlicher Pluralität, der ihr zwar zugrunde liegt, damit aber – und darin besteht und erfüllt sich die For­ malität von Landmanns Anthropologie – nicht automatisch Geltung beansprucht. »[W]eil es eine Pluralität ethischer Werte gibt, braucht doch nicht die Pluralität der Werte überhaupt ethisch zu sein.«834 Landmann denkt hier dezidiert axiologisch und nicht ethisch, hat also beispielsweise eine Pluralität ästhetischer oder eine sozialer Werte im Blick. Aus dieser wertphilosophischen Perspektive wird schließlich auch deutlich, dass die Wertschätzung einer Pluralität der Werte weder faktisch noch ihrer Begründung nach als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Erst indem Landmanns Kulturanthro­ pologie die Kulturalität und Fragilität ihrer eigenen geschichtlichen Grundlagen aufzeigt, gewinnt sie einen solchen normativen Sinn, der aber weniger eine Norm als einen Wert behauptet, weniger eine bestimmte Menschseinsweise (nicht einmal das Plurallebewesen Mensch) zum Absolutum deklariert als die Vielheit der Menschseins­ weisen als Grundlage menschlicher Wertschöpfung überhaupt begrün­ det. Die Pluralität der Werte ist also zwar nicht für sich genommen (das heißt, sofern die Pluralität der Werte eben schon, gleichsam selbstgenügsam, besteht) ethisch, aber in der Kulturanthropologie, die ja genau fragt, worin der Bestand und Weiterbestand von Werten und Kulturen im Plural sowie die menschliche Fähigkeit kreativer Kultur­ schöpfung und Wertzuschreibung überhaupt begründet ist – und zwar bezüglich ethischer, ästhetischer, sozialer und aller sonstigen Formen von Pluralität –, mit einem erhöhten Wertakzent versehen. Hierarchie der Werte: Sofern kulturelle Pluralität und geschicht­ liche Individualität anthropo-logisch eng zusammenhängen, ja in gewisser Betrachtung zwei Seiten einer Medaille sind, ist in der his­ torisch wie auch simultan-interkulturell vergleichenden Betrachtung eine gewisse Hierarchisierung möglich, ja sogar anthropo-logisch konsequent. Dass sich der ›ganze Mensch‹ real-kulturell in seinen verschiedenen Seinsweisen historisch und simultan erschafft und nur so erkennen lässt, bedeutet nicht, dass ›derjenige Mensch‹, der das Menschsein auf diese Weise kreativ-geistig nach- und mitvollzieht, im 833 834

Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 93. Ebd.

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9.2 Werteordnungen

entstehenden Panorama des Menschen keine »Wertakzente setzen«, keine »Gipfel und Tiefpunkte unterscheiden kann«.835 Vielmehr muss er dies sogar insofern als seine pluralistische Betrachtungsweise ihn nicht einfach zwar numerisch viele, aber ansonsten indifferente kultu­ relle Atome, sondern viele eigenqualitativ sich darbietende Kulturge­ stalten erkennen lässt; in deren geistig vollzogener werthierarchischer Anordnung macht sich das kulturelle pluralistisch-individualistische Wert- und Vorurteil des historischen Sinns selbst geltend. Entschei­ dend ist, dass die Hierarchisierung ihren Impuls nicht mehr aus dem monistischen Urteil erhält, dem das Niedrige als Schwundund Mangelstufe des Höheren erscheinen muss, ohne dass es in seiner Eigenfülle anerkannt werden kann. So wenig wie das Tal eine Tiefstufe des Gipfels oder dieser dessen vollkommene Entwicklung darstellt, so wenig ist das kulturell Mindere ein »bloßes Negativum des Höheren, und vor allem ist es nicht das Seinsmindere.«836 Mit der Überwindung des monistischen zugunsten des pluralistischen Wertund Vorurteils vollzieht sich eine weitere Umkehrung, an der deutlich wird, dass es sich bei dem kulturell Höheren keineswegs um das Überzeitliche, Unberührbare, Göttliche handelt, mit dem monistische Philosophie es gern verwechselt. Ganz im Gegenteil ist das Kriterium der kulturellen Höhe gerade das Auch-wieder-Untergehenkönnen. Nicht die Gipfel des Seins, sondern die niedrigeren Seinsschichten und -formen sind die jeweils weniger von der Zeit berührten […]. Allem Komplexen droht die Auflösung, allem Differenzierten die Einebnung. […] Eben darin aber erweist sich der Wertrang. Je vergänglicher, desto sublimer. Das Zerbrechlichste ist das Kostbarste.837

Von hier aus erhellt sich auch Landmanns Anthropologie des Bewah­ rens. Nicht weil das kulturell Höhere von irgendeiner transzendenten Ordnung aus seinen Wert bezöge, könne es als unverbrüchliche Wahrheit gelten, sondern soweit das Kulturelle besonderen Umstän­ den entwächst und fragilen Fundamenten aufruht, gewinnt es darin eine Erhöhung, eine Werthaftigkeit für den Menschen, für deren Geltung er dann wiederum bewahrend Sorge trägt. Es ist nichts weniger als die real-kulturelle Verflochtenheit des Menschen, die sich 835 836 837

Landmann: UuS, S. 103. Ebd. Ebd., S. 107.

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9. Werte

hier geltend macht und die von jeglichem Relativismus oder Relati­ vismusvorwurf nicht in Rechnung gestellt wird. Wenn Landmann schreibt, auch im simultan-interkulturellen Vergleich werde man »nach wie vor, wenn auch mit Vorsicht, Stufungen walten lassen« und so etwa an der »grundsätzliche[n] Wertscheidung zwischen Primitivund Hochkulturen […] trotz aller Hinneigung zu den Primitiven«838 festhalten, so mag dies von der Warte eines abstrakten und letztlich ethisch unpraktikablen Moraluniversalismus als ethno- oder euro­ zentristisch disqualifiziert werden, ist aber kulturanthropologisch betrachtet eine notwendige Konsequenz, die mit der Kulturalität des (ethischen) Pluralismus auch die geschichtliche Verantwortlichkeit des Menschen für eben diesen geltend macht. Wenn bei Platon und letztlich auch noch bei Kant Erkenntnis und Ethik in eins fallen, so besteht Landmann – wie wir bereits sahen – auf der Brüchigkeit zwischen pluralistischer Betrachtung einer bunten Wertsphäre auf der einen und hierarchisierender Wahl und verantwortlichem Handeln auf der anderen Seite. Die[] rein ästhetische und historische Sichtweise [des 18. Jahrhunderts, Anm. F.S.], für die die Mannigfaltigkeit um ihrer selbst willen einen Wert darstellt, kann jedoch nicht genügen im Augenblick, in dem wir Mithineinverflochtene, verantwortlich Mithandelnde in der sich real bewegenden Geschichte selbst sind. Von diesem Augenblick an wird das Nebeneinander bestritten durch das Übereinander des Höher und Niedriger. Wir müssen dem Wahreren den Vorzug geben vor dem Abwegigen, dem Menschenwürdigeren vor dem Barbarischen.839

Dass Landmann hier in einem kritischen Sinne von der ›rein ästhe­ tischen und historischen Sichtweise‹ spricht, deutet einmal mehr darauf hin, dass es sich in seiner Philosophie des Menschen nicht um eine ästhetisierende Hermeneutik menschlicher Kreativität, nicht um eine Übertragung ästhetischer Begriffe und Kategorien auf das Menschsein insgesamt, sondern umgekehrt um ein erweitertes Ver­ ständnis des künstlerischen Schöpfertums und seiner Grenzen vom anthropologischen Fragepunkt aus zu tun ist. Es gibt einen unmittel­ baren Zusammenhang zwischen Landmanns Erweiterung des Kultur­ begriffs und seiner Pluralisierung der Wertsphäre. Die Sphäre dessen, Landmann: Kulturphilosophie, S. 556. Landmann: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum, S. 546. Es ist bezeich­ nend, dass Landmann, auch hier konsequent, relativierend vom Menschenwürdigeren und nicht verabsolutierend vom Menschenwürdigen spricht.

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9.2 Werteordnungen

was unter den Begriff der Kultur fällt, wird nicht etwa erweitert und dann doch derart von der Wertsphäre abgelöst, dass nur noch ein enger Bereich des Kulturellen in diese hineinragen würde. Ganz im Gegenteil laufen die Erweiterung des als Kultur Begriffenen und die Erweiterung des als der Wertsphäre zugehörig Begriffenen parallel, die eine drückt sich in der anderen jeweils aus. Dabei verbindet Landmanns Kulturanthropologe nicht etwa auf konstruierende Weise sonst Getrenntes, sondern vollzieht die reale Verbindung bzw. Verbundenheit von kultureller und wertmäßiger Realität nach. Die Unterscheidung und Hierarchisierung von Werten, die Identifizierung des Wertlosen resp. Unwertvollen, der Vorzug und die Wahl eines Wertes – diese Leistungen und Akte vollziehen sich, trotz der oben erwähnten Inkommensurabilität von Geist und Leben, nicht rein intuitiv oder gänzlich irrational. Sie sind stets auch Ausdruck einer kulturell-geistigen Kategorialität bzw. implizieren diese, auch wenn dies notwendigerweise erst nachträglich bewusst wird, da andernfalls Handeln und Entscheiden unmöglich, wenigstens aber erheblich erschwert und gehemmt wären. Das Wertscheiden und -entscheiden kann verstanden werden als eine Art Medium für die Erkenntnis der Kultur im doppelten Sinne: der je geschichtlichbesonderen kulturellen Inhalte wie auch der Pluralität der Kulturen und Werte, d.h. der anthropo-logischen Formalstruktur von ›Kultur als solcher‹. »Wert und Unwert zu konstatieren, gehört hier zur vollen Erkenntnis mit hinzu. Ja da die Kultur nur um des Wertes willen ist, so krönt es ihre Erkenntnis erst. Wollte man die Wertur­ teile eliminieren, so würde man am Entscheidenden der kulturellen Gegenstände vorübergehen.«840 Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Kultur- und die Wertsphäre zusammenfallen, sondern damit wird die zwischen beiden Sphären bestehende Dichte und Dynamik aufgezeigt; es kennzeichnet das Kulturelle, sofern es objektiver Geist ist, sich von wertmäßigen Bedeutungen und Zuschreibungen lösen, sich diesen aber auch wieder verbinden zu können: »Was ›zuweilen‹ weder am Guten noch am Schlechten Anteil hat, ist bloß ein von sich aus zwar Wertloses, dem sich aber sehr wohl – nämlich je nach dem, wozu es gebraucht wird – dennoch jeweils Wert oder Unwert zugesellen kann.«841 Mit dieser Dynamisierung der Wertsphäre ist die gleichsam platonische Vorstellung eines fixen Bestandes eindeutig 840 841

Landmann: MSGK, S. 220. Landmann: SaW, S. 165.

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9. Werte

identifizierbarer und unbeweglicher Werte und Wertmaterien über­ wunden und damit eine pluralistisch-typologische Perspektive auf die Ethik gewonnen. Deren Ziel und Methode bestehen nun nicht mehr länger im metaphysischen Rückvollzug wertmäßiger Nuancen auf jenes Eine-Gute, das den Ausgangs- und Endpunkt jedweder monistischen Metaphysik bilden muss, sondern in der Deskription axiologischer Qualitäten und ihrer Verhältnisse, die von der wert­ schöpferischen Synthese bis zur Wertnegation reichen: Einheitsmetaphysik und Ethik schließen sich streng genommen aus. Denn die Ethik erstreckt sich auf das Reich des Qualitativen, sie kennt Wertunterschiede und -gegensätze; die Einheitsmetaphysik dagegen findet ja hinter und in allen Graduierungen letztlich stets nur wieder ihr homogenes Eines: und als Manifestation dieses Einen ist alles in gleicher Weise positivartig.842

Pluralität und Aporetik der Werte: Die Hierarchisierung der Werte wird damit verständlich nicht etwa als rein willkürlicher geistiger Eingriff in einen Bereich des Realen, dessen vermeintlich natürliche Ordnung damit gestört würde, sondern als Fähigkeit des erkennendschaffenden Geistes, mittels der die Geltung des Wertvollseins über­ haupt erst möglich und bewirkt wird. Die Geltung eines Wertes bedeutet insofern stets ein Höhersein seines Trägers; auch Land­ manns egalitär schmeichelnde »Pluralität der Absoluta« ist ohne das Für-höher-gelten des Wertes der Pluralität nicht zu haben. Dagegen ist im ethischen Monismus des Einen-Guten weder eine Hierarchi­ sierung möglich, da die für geringer erachteten Werte gar nicht als eigenartige Qualitäten Geltung erlangen, sondern lediglich als defizi­ täre Vorstufen des Einen-Guten, zu dem sie aus sich heraus streben und von dem sie durchweg abhängig sind, in Betracht kommen; noch ist ein kreativer Prozess denkbar, in dem das Wertvolle nicht nur abbildhaft als solches erkannt und einem fixen Wertereich abge­ lauscht, sondern durch Re-Konstellierung historisch ermöglichter Wertinhalte und -relationen überhaupt erst als neuer Inhalt einer stetig wachsenden Wertsphäre beigesellt wird. Damit ist Entscheidendes gewonnen, um zu verstehen, warum bei Landmann die Pluralität der Kulturen wie die der Werte in engem Zusammenhang mit ihrer Aporetik zu sehen ist und welchen kriti­ schen Sinn dies einschließt. Dieser besteht darin, entgegen der har­ 842

Landmann: GuL, S. 27.

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9.2 Werteordnungen

monistischen Tendenz, die jedem ethischen Monismus als solchem eignet, die Eigenqualität, Robustheit, Widerständigkeit, ›Nichthar­ monisierbarkeit‹, kurz: die antinomische Beziehung der Werte zu behaupten. Wie an die Stelle des Monismus die Pluralität, setzt Landmann an die Stelle von Harmonie eine Aporetik. Die Spannung gleichwertig gegeneinander stehender Werte843, die in ihrer Hierar­ chisierung, in der Gleichgültigkeit gar nicht erst aufkommt, bereits ›gelöst‹ ist, wird nun zum ethischen Zentralphänomen, an dem die Pluralität der Werte und ihre Erkenntnis einen Halt gewinnen. Damit richtet sich Landmann nicht nur gegen Platons monistische Ontologie, sondern auch gegen den eng mit ihr zusammenhängenden ethischen Rationalismus. Freilich – wenn Ethik die Erkenntnis des Guten bedeutet, dieses Gute aber einheitlich, ein Gutes, ist, und wenn es nun die Vernunft ist, die das Allgemeine, das Eine erkennt (wie sie überhaupt das den Menschen Auszeichnende sei), so liegt es nah, Tugend und Wissen in eins fallen zu lassen. Dagegen wendet sich Landmann entschieden, wenn er nicht wie Platon ontologisie­ rend vom einen Guten auf die Erkenntnis als der ›nun‹ auch ethisch qualifizierten Welterschließungsquelle schließt, sondern anthropolo­ gisierend vom Konfliktempfinden des Menschen, in dem sich ihm die ethischen Dimensionen seiner Weltbezüge überhaupt erst öffnen, auf die ontische Aporetik der Wertsphäre. Als wahrhaft ethische Situation, von der ab man erst eigentlich von Tugend und Untugend sprechen kann, empfinden wir doch aber erst die, in der nicht Ein Wert, sondern eine Mehrzahl uns in verschiedener Richtung determinierender Werte gleichzeitig vor unserm Bewußtsein steht. […] Hierdurch nun kommt das Schiefe in den Tugend-WissenSatz. Welchen Wert wir nämlich realisieren, für welche Determination wir uns entscheiden werden, ist durch das bloße Wissen noch völ­ lig unvorentschieden.844

Konträr auch zur stoischen Vorstellung, der zufolge der Mensch durch geistigen Nachvollzug der kosmischen Ordnung deren Harmonie in seiner Seele realisieren soll, bleibt er bei Landmann das Wesen, das sowohl darauf angewiesen ist, in Haltung, Entscheidung und Handlung dem Anspruch einer ethischen Forderung zugunsten einer anderen, mehr fordernden nur bedingt oder auch gar nicht zu folgen, 843 844

Vgl. Landmann: P, S. 57 f. Landmann: SaW, S. 55 f.

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9. Werte

als auch fähig ist, ihre – wenngleich ihn im Leben zerreißende – Gleichgültigkeit wenigstens geistig anzuerkennen.845 Pluralität und Antinomie, Vielheit und Konflikt sind gewissermaßen die Kategorien bzw. Dimensionen, in denen Ontologie und Anthropologie (einander) vermittelt sind, ohne dass es zu einer ungemäßen Verzerrung der einen durch die je andere käme. Der »für die Situation des Men­ schen« anthropologisch bezeichnende »Konflikt zwischen dem einen und dem andern Guten, […] zwischen Wert und Wert« korreliert gleichsam, als psychisches Erlebnis, einer »Vielzahl letzter Forderun­ gen«846, die weder in ihrer Qualität als Vielzahl noch in ihrem Aufforderungscharakter auf Psychisches reduziert werden können, in denen sich dem Erleben und Geist vielmehr die Qualität des Ethi­ schen, d.h. die Struktur des Seienden als einem ethischen Phänomen und Problem für den Menschen, kundtut. Die Herausforderung des ethisch Empfinden- und Handeln-Müssenden besteht nicht darin, auf dem schmalen Grat konstruierender Erkenntnis eines höchsten Wertes sich nicht beirren oder gar in Konflikte hineintreiben zu lassen, sondern darin, sich gerade der »Wertfülle des Gewachsenen hin[zu]geben«847 und dennoch, das heißt davon ausgehend, dessen eingedenk eine Entscheidung für und wider zu treffen. Es erscheint als ein geradezu antieudämonistischer Zug in Land­ manns Anthropologie, wenn er – in Opposition zur antiken Ethik, die das Glück zu maximieren und das Leid zu mindern bestrebt ist – die tragische Situation des Menschen, der, um ein Gutes haben zu können, an den dafür geopferten Gütern ›schuldig‹ wird, um ihrer anthropologischen Tiefe und Wahrhaftigkeit, und das heißt: um ihrer historisch-kulturellen Fülle willen bejaht. »Diese Tragik könnte auch die bestvollendete Welt uns nicht abnehmen, ja sie würde uns, wenn sie es könnte, mit dem Leid der Tiefe berauben. Menschliche Erlösbarkeit stößt so an eine Sachgrenze, die nur schlechter Traum illusionistisch überfliegt.«848 Es mag auf den ersten Blick verwundern, wenn Landmann hier etwas sperrig von einer ›Sachgrenze‹ spricht, die dem menschlichen Erlösungs- und Harmoniestreben gesetzt ist. In gewisser Weise wird diese Wortwahl allerdings verständlich, wenn wir ›Sachgrenze‹ als einen anthropologischen Terminus verstehen, der 845 846 847 848

Vgl. Landmann: P, S. 58. Landmann: JM I, S. 221. Landmann: Löwith Rezension, S. 239. Landmann: EdI, S. 144.

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9.3 Die Werte und der Mensch

bezeichnet, worin die anthropo-logische Ermöglichungsbedingung und zugleich die Grenze des Menschen besteht: d.i. seine konstitutive Unvollendung, die ihm im Wertekonflikt spürbar wird, und zwar als Unmöglichkeit, (alles) zu sein, was er (auch) gern wäre. Von hier aus wird werkgeschichtlich verständlich, wie Landmann von den frühen ethisch-phänomenologischen zu den späteren kultur-anthropologi­ schen Überlegungen gelangt. Erstere eröffneten ihm einen »mehr nur zufällig gerade durch die Ethik vermittelte[n] Zugang zu viel allge­ meineren Gesetzlichkeiten: an Hand von ihr kann uns eine ganze aporetische Philosophie aufleuchten. Von dieser wäre die aporetische Ethik nur ein Zweig.«849

9.3 Die Werte und der Mensch Nun haben wir bisher zwar die divergierenden oder gar konfligie­ renden Ansprüche heterogener Werte, jedoch nicht die unterschiedli­ chen Zugangsweisen des Menschen auf die Wertsphäre in Betracht gezogen. Dabei ist dies sehr aufschlussreich, um unterschiedliche For­ men des Wertekonflikts wie auch Ansätze ihrer geistig-produktiven Bewältigung kenntlich werden zu lassen. Wertfühlen: Beginnen wir mit dem, was Max Scheler ›Wertfüh­ len‹ nennt und mit dem er in deutlichem Gegensatz zur antiken Identifizierung von Tugend und Wissen die Emotion als das zentrale Bindeglied zwischen Mensch und Wertsphäre herausstellt. Damit ist jedoch weder bei Scheler noch bei Landmann ein blinder Irrationalis­ mus, sondern ein übersubjektives (d.h. die rationalen Kräfte erken­ nender Subjektivität übersteigendes) Werterfassen gemeint.850 Das fühlende Erfassen ist die Weise, wie der Mensch der »nicht intellek­ tuelle[n], sondern emotionale[n], Gegebenheitsweise der Werte«851 gleichsam entgegenkommt. Auf der objektiven Seite wird die ›logis­ tische‹ Reduktion des Geistigen auf Begriffliches, auf der subjektiven Seite wird die intellektualistische Reduktion des Erfassens auf das Erkennen (bzw. des Erkennens auf rationales Erkennen) kritisiert und zu überwinden gesucht. So werden Schönheit und Güte als konstitu­ tive und genuin emotionelle Momente (Facetten) des keinesfalls mit seinem Begriff identischen Wertphänomens rehabilitiert. 849 850 851

Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 105. Vgl. Landmann: MSGK, S. 220. Landmann: SaW, S. 52.

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9. Werte

Und wie auf der objektiven Seite mehr ist als bloß Logisches, so auch auf der subjektiven. Weil es von vornherein keine bloßen Abstraktio­ nen zu erfassen gilt, ist das Erfassen selbst primär nicht abstrakt, sondern »fühlende Schau«. Schon der Platonismus ist »emotionaler Intuitionismus«. Mit Recht sagt Hartmann (p. 109): »Das Platonische Motiv des ›Schauens‹ paßt gut zu auf das, was die materiale Wertethik ›Wertfühlen‹ nennt.«852

Mit der Überwindung der Identifikation von Tugend und Wissen, Wert und Erkenntnis ist nun ein erster entscheidender Schritt in Rich­ tung einer Pluralisierung der Wertsphäre gewonnen. Erschöpfte sich der Wert darin, Gegenstand von Erkenntnis zu sein, die beansprucht, das Ewigunveränderliche adäquat zu erfassen, so wäre unverständ­ lich, wie es zum Nicht-Gelten dieses Wertes kommen könnte, da sein Inhalt gewissermaßen mit seiner Geltung zusammenfiele. Wie sollte, was ewig ist, nicht auch ewig gelten? Von hier aus wird das auch pädagogisch äußerst aufschlussreiche teleologische Moment in Platons Ideenlehre einmal mehr deutlich: jede Abzweigung auf dem linearen Weg der wahren Erkenntnis des Einen-Guten muss eine Täuschung, ein Irrweg sein. Wer nicht geblendet wird, lebt in der Höhle. Ganz anders Hartmann, wenn er sich vom historisch fakti­ schen »›Nicht-Gelten‹ gewisser Werte zu gewisser Zeit […], die zu anderer Zeit in ›Geltung‹ stehen« über die »Zeitbedingtheit des Aktu­ ellseins«853 aufklären bzw. belehren lässt. Dem von Scheler geprägten »Begriff der ›Wertblindheit‹» ebenso wie dem von Hartmann einge­ führten Begriff der »›Enge des Wertbewußtseins‹»854 lässt sich so ein Sinn jenseits der binären Vorstellung von Wahrheit und Täuschung abgewinnen. Und nicht nur diachron, sondern auch synchron ist so die Wertsphäre pluralisiert; der ›Enge des Wertbewusstseins‹ korrespondiert die Weite, d.h. eine ›räumliche‹ Ausdifferenzierung der Wertsphäre. Würde die ›reine‹ Werterkenntnis notwendigerweise stets ›auf’s Ganze gehen‹, indem sie ihre Kriterien der Vollständigkeit und Überzeitlichkeit auf ihren Gegenstand übertrüge, so gilt für das Wertfühlen, das um einiges stärker sich von seinem ›Gegenstand‹ (der ›Wertfühlmaterie‹) attrahieren lässt, dass es »inhaltlich begrenzt ist, nicht zugleich alle Werte fassen kann und erst im Maße seines 852 Landmann: SaW, S. 53. Die im Zitat angegebene Seitenzahl bezieht sich auf N. Hartmanns Ethik. 853 Hartmann: Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart, S. 331. 854 Ebd.

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9.3 Die Werte und der Mensch

Reifens – in Abhängigkeit von der sich ändernden geschichtlichen [oder konstellatorisch-figurativen, Anm. F.S.] Gestaltung des Lebens – für sie sehend wird.«855 Wertbewusstsein: Damit sind wir bei einer stärker kognitiv-geis­ tigen Bezugsweise, bei der nicht wie beim Wertfühlen das Indivi­ duum vom Wertvollsein eines ihm Begegnenden eingenommen wird, sondern sich das Subjekt des Wertvollseins einer Sache bewusst wird, indem es sie geistig in einen Zusammenhang setzt, der ihr – mitunter indirekt – einen Wert verleiht. Sprachen wir bisher davon, dass mit dem Wertfühlen die kognitive Verengung des menschlichen Weltbezugs gesprengt wird, so sehen wir nun, dass der geistige Weltund Wertebezug seinerseits die wertfühlende Tendenz zumindest dann in ihre Schranken weist, wenn die emotionelle Vereinnahmung monistisch-absolute Intensität und Extensität erreicht. Wie das Kul­ turbewusstsein in Bezug auf den ›Monismus des Kulturgefühls‹ und wie das Sinnlose für den lebensweltlich primären Sinnbezug, so stellt das Wertbewusstsein ein Korrektiv für das primordiale Wertfühlen dar. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Inhalte und Bezugs­ kontexte des Wertbewusstseins selbst sich historisch wandeln856, denn es ist mit diesen ja nicht vollständig identisch. Zwar ist es bedeutsam, mit N. Hartmann zu sehen, dass sich das Bewusstsein eines Wertes durchaus nach seinem Aktuellwerden richtet, dessen »Seinsbedingungen mit zur Wertmaterie gehören (d.h. zu dem Inhalt, dem der Wert zukommt)« und dass also »die ganze Relativität in die Wertmaterie« (und nicht etwa in das erkennende Subjekt) fällt,

855 Hartmann: Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart, S. 331. Zugleich eröffnet sich dem Menschen im Wertfühlen erst das Sensorium für eine Fülle an WeltInhalten, die ihm erst jetzt, d.h. nur seinem Fühlen, als Wertmaterien, eben als Wertfühlmaterien zugänglich werden, während ihre Wertfülle seiner Erkenntnis womöglich verschlossen bleibt. Auch hier zeigt sich Landmanns pluralistisches Vorund Werturteil, das letztlich im ethischen Kontext auf eine emotionelle Variation des Tugend-Wissen-Satzes, also: Tugend = Wertefühlen, führt, worauf er selbst hinweist: »Ehe ich mich entscheiden kann, muß ich wissen, wofür ich mich entscheiden soll, und die Entscheidung wird umso verantwortlicher ausfallen, je umfänglicher ich mit der Möglichkeitsfülle des gesamten Wertreichs vertraut bin. In dieser Hinsicht gilt dann hier doch wieder, daß Tugend Wissen ist. Freilich darf man das Wissen hier nicht intellektualistisch verstehen. Das Wissen um Werte ist mehr ein Fühlen« (Landmann: Rezension von: Nicolai Hartmann: Ethik. In: Philosophische Studien, Bd. 2, Heft 1– 2, 1950, S. 225; Herv. F.S. [im Folgenden: N. Hartmann: Ethik (Rezension)]). 856 Vgl. Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 260.

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9. Werte

die »eben nicht zu allen Zeiten gegeben« ist.857 Gleichzeitig ist es paradoxerweise genau diese Individualisierung und Historisierung der Wertsphäre, die es ermöglicht, den Wert einer Sache, gleich ob er faktisch realisiert sei oder nicht, im historischen Bewusstsein gleichsam ›virtuell‹ zu aktualisieren. Das vom Historiker geforderte Sicheinfühlen ist insofern deut­ lich qualifiziert und verständlich als eine geistige Aktivität; das histo­ rische Verstehen hat die Abgeschlossenheit und ›Virtualität‹ seines Gegenstandes zur Voraussetzung. Wo es diese Grenze überschreitet, wo es ihm nicht mehr gelingt, Vergangenes oder anderweitig Abwe­ sendes an Ort und Stelle zu belassen, nimmt das Wertbewusstsein selbst die einnehmende Geste und Qualität eines Wertfühlens an und verfehlt damit seine korrektive Funktion wie auch seinen praktischen Sinn. Dieser letztere besteht darin, dass ein Wertbewusstsein resp. Wertwissen eine wenn auch mitunter sehr unscheinbare Vorausset­ zung menschlichen Handelns ist: »Ein Wertwissen nämlich, sei es auch nur ein geringgradiges, liegt jedem Tun zugrunde. Und insofern ist es immer Tun eines Wertes (1), nie eines Wertindifferenten (2) oder gar eines Unwertes (3).«858 Dass im gewöhnlich-alltäglichen Handeln in der Regel der in ihm realisierte bzw. für es leitende Wert nicht (in voller Deutlichkeit) bewusst ist, zeigt einmal mehr, wie grundlegend sowohl das Wertfühlen wie auch routiniertes Agieren für den Aufbau der sozial-kulturellen Welt des Menschen ist, das heißt, umgekehrt betrachtet: wie oft Menschen geistig und praktisch mit Werten in Beziehung stehen, ohne davon Kenntnis zu haben. Schließlich ist ein Wertbewusstsein auch für dasjenige Handeln grundlegend, bei dem sich ein Individuum, autonom wählend, selbst zur Geltung bringt; umgekehrt setzt ein adäquates Verständnis dessen, was ein Wert ist, die Autonomie i.S. der Wahlfreiheit des Einzelnen voraus: Wer aber die Wahl hat, hat die Werte: die Welt zerlegt sich ihm in zu Meidendes und zu Erstrebendes. Das Bewußtsein des Wählenkönnens wird also zugleich die Geburt des Wertbewußtseins sein. […] Wahl aber ist nur möglich auf Grund von Wahlfreiheit, von Selbstbestim­ mung. Nur wo Autonomie ist, kann es eine Philosophie der Werte geben. Nur von dieser Herkunft aus wird ihre Eigenart verständlich, nur von ihr aus auch darstellbar.859 857 858 859

Hartmann: Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart, S. 330. Landmann: SaW, S. 64. Ebd., S. 73.

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9.3 Die Werte und der Mensch

Damit grenzt sich Landmanns Vorstellung menschlicher Autonomie von einer streng existenzphilosophischen ab, der zufolge sich der Mensch in der freien Tat selbst (und wenn etwas, so sich selbst als Wert) setzt. Konstitutiv Kulturwesen zu sein, bedeutet in diesem Zusammenhang, in einer sozial-kulturellen Umwelt zu leben, in der eine begrenzte Anzahl von Werten gilt und in der ein begrenzter Raum für Variation und Neugestaltung des Wertvollen, das heißt des (nicht nur situativ) als wertvoll Erleb- und Teilbaren, offen ist. Die Option des Individuums, seine eigene Lebensform zu finden, ist bei N. Hartmann und Landmann – anders als im Existenzialismus, der sie an die Überwindung kultureller Übereinkünfte und historischer Bezüge knüpft und so Differenz priorisiert – verbunden mit dem Anspruch geistiger Durchdringung und praktischer Stiftung einer Pluralität des Wert- und Sinnvollen: Eine Fülle weiterer Werte des Menschen rückt gleichzeitig damit ins Wertbewußtsein ein: Kraft, Wille, Macht, Schönheit, Lebensfülle, Frohsinn, Verantwortungsfreudigkeit und vieles andere. Und erst mit dieser Mannigfaltigkeit eröffnet sich dem Blick die Größe der Aufgabe, vor die der Mensch gestellt ist.860

Wertrealisation: Wenn in diesem Zitat davon die Rede ist, dass ›eine Fülle weiterer Werte des Menschen‹ in das Wertbewusstsein ›einrückt‹, so legt diese Formulierung den Fokus auf die Weitung des Bewusstseins für eine Wertevielheit, die als bereits bestehend (und eben nur nicht zur Kenntnis und Geltung genommen) vorausge­ setzt wird. Dagegen ist für das Verständnis dessen, was Hartmann und Landmann unter Wertrealisation verstehen und was neben der Werteschau ebenfalls zur ›großen Aufgabe‹ des Menschen gehört, subjektiv die Vorstellung menschlicher Kreativität und objektiv die Vorstellung geschichteten Seins notwendig. Andernfalls erschöpfte sich die menschliche Fähigkeit auf eine Erkenntnis resp. Feststellung objektiver Wertfakten und die Wertesphäre selbst erschiene lediglich als zeitliche Aufeinanderfolge voneinander streng isolierter, je bereits vollständig erfüllter Wertmaterien. Erst im Schichtgedanken wird die zeitliche Bewegung zur Geschichte vertieft; er ist insofern so etwas wie das räumliche Äquivalent zur zeitlichen Vorstellung von kreativer Freiheit und individueller Geschichte. Wie menschliches Schöpfertum

860

Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 259.

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insgesamt bei bereits Geschaffenem ansetzt, so setzt auch die Wert­ neuschöpfung einen bestehenden Werthintergrund voraus. Und ebenso wenig wie die allgemein-kulturelle braucht die wert­ mäßige Ausgangslage dabei bewusst oder bejaht zu sein. Neben den Werten, die wir als schaffende Subjekte zu realisieren beabsichtigen und »die nur aus uns stammen, gibt es auch diejenigen, die mit der Sache selbst mitgeboren und ihr immanent sind. Kulturelles wird ja von den Hervorbringenden von vornherein um eines Wertes willen, als seine Realisation geschaffen.«861 Letztgesagtes ist sehr aufschluss­ reich, um zu verstehen, warum sich Kulturelles häufig auch dann noch erhält, wenn sich sein Sinn nicht mehr nachvollziehen oder aktualisie­ ren lässt. Dies hat offensichtlich nicht allein mit seiner Objektivität, seiner Abgelöstheit vom unmittelbaren Leben zu tun – bzw. zeigt sich diese Abgelöstheit selbst als Zugehörigkeit des Kulturellen zu einer ›objektiven‹ Wertsphäre. In der weiter oben zitierten Aussage Hartmanns, ewigen Wert hätte ›gerade das Vergängliche‹ und sein Wertcharakter sei ›eben das Ewige an ihm‹, wird ein ähnlicher Zusam­ menhang beschrieben wie er in der Robustheit des Kulturellen als Objektiviertem vorliegt. Und auch für das Verständnis menschlicher Kreativität ist dieser Zusammenhang erhellend insofern als diese nicht nur die Fähigkeit zur Imagination und Zwecksetzung voraus­ setzt, sondern ebenso die Motivation, im als Zweck Anvisierten etwas Sinn- und Wertvolles zu kreieren sowie die Verknüpfung von Fähigkeit und Motivation im eigenen Handeln. Da Kulturschöpfung nur als Wertschöpfung möglich und verständlich ist, sind die weiter oben beschriebenen Dispositionen (Monismus des Kulturgefühls, primäre Sinnbereitschaft, Enge des Wertbewusstseins) für das Kulturlebewe­ sen Mensch als solches konstitutiv. Werte bedürfen, um sich in Realisation umzusetzen, eines Mittlers, der selbst real in der realen Welt stehen muß, dabei aber die eigen­ tümliche Fähigkeit der Zwecksetzung und Zweckverwirklichung haben muß; erst durch ihn kann das Wertvolle zum Zweck gemacht und in Realisation umgesetzt werden. Der Mittler eben ist der Mensch. Und darauf beruht seine einzigartige Stellung in der Welt. Die Ohnmacht der Werte gerade ist die Grundlage der Macht des werterfassenden und aktiv zwecktätigen Wesens ›Mensch‹.862

861 862

Landmann: MSGK, S. 219. Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 261.

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9.3 Die Werte und der Mensch

Dies schließt eine kritische Funktion menschlicher Kreativität als Wertrealisation keineswegs aus, sondern lässt deren erhöhten dop­ pelten Anspruch erst verständlich werden: Erstens ist der nicht offen­ sichtliche Sinn oder Wert eines Kulturellen allein noch nicht hinrei­ chend, um es begründet zu verwerfen; es muss mindestens die Frage gestellt werden, ob sich Sinn und Wert wieder aktualisieren oder ob sich das Kulturelle einem neuen Sinn- und Wertgefüge einordnen, das heißt re-formieren und neu be-sinnen bzw. be-werten lässt. Dagegen hat der radikale Werteumstürzler sich selbst daraufhin zu prüfen, inwiefern seine revolutionäre Geste nicht auch seinem eigenen Leiden an der im Kulturellen erreichten Sinnerfüllung entspringt und sich damit letztlich gegen sich selbst richtet. Unter der Tarnmaske, das Kulturelle würde für ihn keinen Sinn mehr erfüllen, verbirgt sich womöglich die verdrängte Enttäuschung über seine eigene, trotz bzw. genau wegen der Sinnerfüllung anhaltende (genauer: aus dieser heraus neu lostretende) rastlose Sinnsehnsucht: Nietzsches Genealogie der Moral ist auf dem Gedanken aufgebaut, daß der Mensch auf die Dauer in der Tat so wird, wie er sich gewollt hat. Er drängt sich selbst in die Richtung der ihm vorschwebenden Ideen. Ist er aber annähernd so geworden, so bricht das Ethos um; er hascht sofort nach neuen Ideen, die ihn weiterführen können. Das macht ein unaufhaltsames Moment des Weitertreibens und der ständigen Revolution im Wertbewußtsein aus.863

Hier nun kommt schließlich zweitens alles darauf an, gerade einer solchen revolutionären Werterfassung, die »nicht nur entweder jen­ seits aller Verwirklichung oder dann in der Verwirklichung, [sondern] gerade auch anhand einer [dem Wert zuwiderlaufenden, Anm. F.S.] Wirklichkeit«864 erfolgen kann, eine kreative Tat folgen zu lassen, d.h. eine Tat, in der nicht nur Bestehendes zerstört, sondern ein Neuartiges an seine Stelle gesetzt wird. Gerade als Wertneuschöpfung ist die kreative Tat (vom Wählen als bereits »einem Akt der Wertreali­ sation«865 bis zur Ausgestaltung) an den unmittelbaren Lebensgrund des Menschen gebunden; bewusst oder unbewusst vollzieht sie sich als Re-figuration eines Bestehenden, das Neuartiges immer bereits als Potenz in sich trägt. Einmal mehr wird deutlich, dass Landmanns Emphase für das schöpferische Handeln des Menschen und dessen 863 864 865

Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 275. Landmann: EuE, S. 63. Landmann: SaW, S. 77.

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9. Werte

Fassung als (nicht zwingend bewusste) re-kreative Gestaltung eines Vorgegebenen sich werkgeschichtlich auf die ›Emphase‹ für eine als ethisch qualifizierte Handlungsform resp. -weise zurückführen lässt: Das Tun eines objektiv Guten ist noch nicht ethisches Handeln im spezifischen Sinne. Wer das Gute nur aus Tradition oder aus Zwang tut, handelt nicht ethisch. Dazu vielmehr müssen noch subjektive Momente hinzutreten: Wir müssen dem Guten innerlich von uns aus zustimmen, wir müssen unser Handeln selbst verantworten. Die Entscheidung gehört in den Zusammenhang dieser subjektiven Momente, aber keineswegs muß es immer Entscheidung sein, worin das subjektive Moment liegt.866

Wertteilhabe: Der übersteigerte Anspruch des Individuums (oder auch des revolutionären Kollektivs), jegliches kulturell Überlieferte über­ winden zu wollen bzw. zu müssen, wird von hier aus psychologisch verständlich als ein Selbstmissverständnis, dem zufolge als wertvoll nur gilt, was ›gänzlich neu‹ in die Welt tritt und als gänzlich neu wiederum nur, was vollständig der ›eigenen Schöpferkraft‹ entspringt. Im Gegensatz dazu stellt Landmann jene Form der Wertteilhabe positiv heraus, durch die nicht die Einzelne sich selbst in die Welt hinausprojiziert, sondern umgekehrt den Bereich dessen, was sie sich selbst zuordnet, an dem teilhabend sie sich selbst versteht, von der Weltseite aus erweitert. Es ist nicht wahr, daß wir nur in Akten der Freiheit unser Wesen erfüllen. Wir tun es auch als an der Welt Teilhabende, als aufnehmend Empfangende. Dieses Moment der Hinnahme von etwas, was wir nicht geschaffen hätten und wofür wir danken müssen, bleibt auch noch dort erhalten, wo wir nun schaffend in die Welt eingreifen.867

Der von ihr getrennte Mensch setzt nicht sein innerstes fixes Wesen in eine dafür passend eingerichtete Welt hinein, sondern er setzt das, was er noch nicht ist, was zu sein ihm aber vage vorschwebt, in einer ihn konstitutiv durchwirkenden und für ihn offenen Welt um. Insofern nun das libertär-autonomistische Pathos individueller Kreativität in einer subjektivistisch-intellektualistisch sich selbst missverstehen­ den, sich anthropologisch wie normativ überhöhenden Vernunft seine wohl stärkste Bezugsgröße hat, zieht Landmanns kultur- und wert­ Landmann: Situation und Entscheidung. In: Symphilosophein, Bericht über den dritten deutschen Kongreß für Philosophie in Bremen 1950. München 1952, S. 302. 867 Landmann: EdI, S. 211.

866

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9.4 Wert, Glück, Sinn

philosophische Kritik auch ein verändertes Vernunftverständnis nach sich. Demnach ist Vernunft »nichts bloß Subjektives und Innerliches. Durch sie gewinnen wir Anteil an den objektiven Werten, und auch diese Wertteilhabe ist ein den Menschen als Menschen Auszeichnen­ des.«868 Damit aber der individuellen Lebensform als solcher eine Absage zu erteilen, würde nur bedeuten, sich abermals einer autono­ mistisch-atomistischen Engführung bedient zu haben, die einzig das Atomistisch-Autarke als Individuelles gelten ließe. Dagegen deutet sich bei Landmann eine Typologie resp. Charakterologie der Lebens­ stile an, die jeglichen Dualismus (etwa ›passiv-aktiv‹) durchkreuzt: In Wirklichkeit aber gibt es doch auch den immanenten Sinn der Dinge in und für sich. […] So ist es nicht nur in der Geschichte, sondern auch im Einzelleben. Auch das Leben eines Menschen, der nicht auf etwas hin, um eines bestimmten Zieles willen lebt, kann doch sinnvoll sein im Ausblühen seiner eigenen Vitalität, in der Verwirklichung sittlicher und kultureller Werte und in der verstehenden Teilhabe an ihnen.869

Diese Stelle verweist m.E. auf eine feine, aber bemerkenswerte Akzentverschiebung in der Philosophie Landmanns verglichen mit der Hartmanns. Während letztere, ontologisch-phänomenologisch ausgerichtet, vom »rings umgebenden Reichtum« der Wertewelt ausgehend die ihr adäquate geistige »Haltung des Hinsehens, Einfan­ gens, Aufnehmens« und eine »Bereitschaft zu ewigem Hinzulernen«, ja ein »ehrfürchtiges Pathos des Staunens«870 als Elemente einer ethischen Lebensform871 veranschlagt, geht es Landmann darum, die unterschiedlichen, vor dem Hintergrund der kulturell-geschicht­ lichen Dynamik des Wertewandels zu verstehenden charakterlichen Temperamente gleichermaßen als Quelle, die ihnen entsprechenden Lebensformen als Ausdruck von Wertschöpfung zur Geltung zu brin­ gen.

9.4 Wert, Glück, Sinn Nicht unbeträchtlich für das Verständnis der kulturellen Dynamiken von Prozessen eines Wertewandels und der ihnen zugrundeliegenden 868 869 870 871

Landmann: UuS, S. 19. Landmann: Löwith Rezension, S. 240. Landmann: EuE, S. 51. Vgl. ebd., S. 52.

349 https://doi.org/10.5771/9783495995679 .

9. Werte

psychischen Dispositionen sind die Zusammenhänge von Werten und Glück sowie von Werten und Sinn. Glück als »Leerform«, Glücksstreben als Movens: Wenn Land­ mann den Fokus auf eine Philosophie der Werte und nicht etwa eine Philosophie des Glücks legt, so drückt sich darin auch die Umkehrung eines intuitiv plausiblen, aber trügerischen Verhältnisses aus: Zwar scheint der Mensch stets nach dem Glück und seinem Besitz zu stre­ ben; einer genaueren Betrachtung hingegen eröffnet sich, dass ›Glück‹ in diesem Streben lediglich als Abstraktum fungiert, das je konkret, d.h. mit glückbringenden Werten bzw. Wertmaterien ausgefüllt ist: Was heißt denn Glück? Ein Glück, das nicht Wertbesitz – oder dem Wertbesitz zugeordnetes Gefühl – wäre, ist undenkbar. Ein solcher Besitz geht jedem Glück wesensmäßig voran. […] Es ist gleichsam eine Leerform, die erst durch die Verbindung mit einer qualitativen Erfüllung ins volle Sein hinübertritt.872

Damit wird das Streben nach dem Glück wie auch das nach dem Guten als »eine uneigentliche Redeweise, ein unmöglicher Vorgang« enttarnt und zugleich wird verständlich, warum eine solche Rede- und letztlich Empfindungsweise überhaupt möglich, ja naheliegend ist: denn nur und gerade seine Flexibilität, d.h. »seine Formalität, sein Offenstehen gegen wechselnde Inhalte, seine Ergänzungsbedürftig­ keit« ermöglicht dem Glück, qualifiziert es dazu, allgemein erstrebt, ja ersehnt werden zu können; gerade seine ›unschuldige Beiläufigkeit‹ »macht seine Inthronisation als ›höchster Wert‹, macht es als Träger eines ›Ismus‹ verhältnismäßig ungefährlich.«873 Das vom Eudämo­ nismus grundgelegte Glücksstreben ist damit nicht in seiner Relevanz gemindert, sondern funktional in ein Verhältnis zu einem jeweiligen Wert gesetzt, mit dessen ›Erreichen‹ auch das Glück erst – wenn überhaupt – ›erreicht‹ wird, für dessen Erstreben es aber bereits grundlegend als »Motiv dienen kann, vielleicht sogar dienen muß.«874 So verstanden, gewinnt schließlich gerade das Glücksstreben einen Sinn für den emotional-voluntativen wie auch geistig-verstehens­ mäßigen Zugang des Menschen zur Pluralität der Werte; indem das selbst ›inhaltslose‹ Glück sich nicht mit einem einzigen Wert bereits identifiziert, d.h. verwechselt und so nicht sich in diesem und damit 872 873 874

Landmann: SaW, S. 138. Ebd., S. 138. Ebd., S. 131.

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9.4 Wert, Glück, Sinn

diesen selbst absolut setzt, hält es »die Aussicht auf den Reichtum des Wertreichs« und die Möglichkeit vieler, je nach Wert qualitativ eigen­ artiger Glückserfahrungen offen. Indem es als Streben »Wertinhalte fordert, gewinnen wir jene [die geistige, eine Erfahrung vorkündende, Anm. F.S.] Aussicht gerade durch es hindurch.«875 Der Ohnmacht des Wertes, für den Menschen selbst aus sich heraus, inhaltlich wie bezüg­ lich seiner Eigenwertigkeit, vollständig durchsichtig zu sein, kommt das Glücksstreben zu Hilfe: seinen Besitz als Glück zu erstreben und ihn so in hilfreicher Illusion »zum »höchsten Wert« [zu] erklären«, trägt zur »Bewußtseinsaktualisierung seines Eigenwertes«876 bei, die verwehrt ist, sobald ein Wert zum Mittel substanziell verstandenen Glückes degradiert würde. Das unbemerkte (heimliche) Glück: Dem Bewusstsein und Emp­ finden von Eigenwertigkeit steht die Neigung des Menschen entge­ gen, »alles teleologisch zu sehen«, ohne dabei zu bemerken, »daß er damit das in sich selbst Bedeutsame oder Beglückende bereits zum ›Mittel‹ herabgesetzt, d.h. verkannt hat.«877 Die oben beschriebene Rastlosigkeit des weiterstrebenden, sinnsehnsüchtigen Menschen wird in diesem Zusammenhang kenntlich als Mangel an Talent, sich im Erlebnis der Glückserfüllung beruhigen und es dabei belassen zu können. Dabei ist einzig solcher Gleichmut eine adäquate Einstellung resp. ›Reaktion‹ auf die eigentümliche Geschlossenheit des Beglü­ ckenden, in der bzw. deretwegen es ebenso zugänglich und genießbar wie unverfügbar flüchtig ist. Nun gelangen wir an den kulturpsychologisch brisanten Kern der bereits mehrfach erläuterten ›Tragik des Erreichens‹: Sobald sich nämlich im Erreichen, im Sicherfüllen eines Erstrebten das damit verbundene Gefühl merkwürdig absondert vom erlebenden Subjekt, scheint sich seine Gleichgültigkeit zumindest im Erleben des Subjekts auch gegen dieses selbst zu richten, ja es überflüssig zu machen. Wenn damit eine kulturphilosophische Dynamik beschrieben wird, durch die überhaupt etwas wie Objektivität als einer vom Subjekt partiell unabhängigen, aber zugleich partiell verfügbaren Sphäre entsteht, ist auch die ›Tragik des Erreichens‹ funktional für die Entstehung, Ausdifferenzierung und Entwicklung von Kultur als solcher. Proble­ matisch allerdings ist der daraus folgende bzw. im Empfinden bereits 875 876 877

Landmann: SaW, S. 138. Ebd., S. 139. Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 265.

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9. Werte

angelegte Trugschluss über die vermeintlich nicht mehr erforderliche Aktivität zur Erhaltung des (gutgeheißenen) Wertbesitzes.878 Und zwar nicht nur, weil sich der Mensch dabei selbst missversteht, indem er sich als – zwar nur noch subtil erkennbare, aber doch unkündbare – Letztquelle aller Wertsetzung entgleitet, sondern auch praktisch, wenn im Gleichschritt des »unbesonnene[n] Für-selbstver­ ständlich-Nehmen[s] der Glücksgüter […] die zum Erhaltenbleiben dieser Güter notwendige Anstrengung deswegen oft nicht genügend mobilisiert wird.«879 Das Sinn-Los der Sinngebung: Ein weiterer Zusammenhang wird von hier aus deutlich, wenn wir davon ausgehen, dass im Selbstmissverständnis des sich überflüssig wähnenden Menschen eine Verwechslung von Sinn und Wert wirksam ist. Im merkwürdig zweiseitigen, die Werterfüllung begleitenden Gefühl teilt sich dem Menschen mit, dass zwar sein Streben und Schaffen sich im fertigen Werk tatsächlich vollendet, dass dieses dann aber seinerseits von nichts als weiterem Sinnstreben und Wertschöpfen zu künden scheint: Sinn und Wert fallen eben nicht zusammen. Sie sind nur unlöslich ineinander verschränkt. Wohl ist alle Wertrealisation zugleich Sinn­ erfüllung. Aber die zu Ende geführte und fertig geschaffene Wertrea­ lität ist die Sinnentblößung des auf schöpferische Sinngebung angeleg­ ten Menschenwesens.880

Deswegen ist die das Erreichen begleitende Enttäuschung nicht nur Ausdruck von Unreife oder privaten Scheiterns, sondern anthropolo­ gisch hochaufschlussreiches Erlebnis und Phänomen. Die Kunst eines adäquaten, d.h. produktiven Umgangs mit diesem paradoxen Erlebnis besteht darin, in der empfundenen Sinnlosigkeit unabschliebßbaren Sinnstrebens nicht ein Argument gegen Sinn als solchen, sondern gerade umgekehrt die Voraussetzung für Sinn, d.h. das zentrale Anzeichen für den menschlichen Auftrag aktiv bewirkter Sinngebung zu sehen: »sinnvoll für den Menschen ist gerade die Sinnlosigkeit der Welt. Das Sinnlose ist ja nicht sinnwidrig; es leistet der Sinngebung nicht Widerstand. Es ist vielmehr das, worin allein Spielraum mögli­ cher Sinngebung ist.«881 Dieser Sinngebung ›entspricht‹ ontisch eine 878 879 880 881

Vgl. Landmann: MSGK, S. 169. Ebd. Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 264, Herv. F.S. Ebd., S. 271.

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9.4 Wert, Glück, Sinn

Pluralität zu fühlender, zu erkennender und zu schaffender Werte als ›Schlüssel‹ des Menschen zu einer »Welt, die gar nicht so sinnwidrig ist in ihrer Sinnlosigkeit und Sinnbereitschaft.«882 Sinnverlust und nihilistischer Individualismus: Doch nicht allein, weil uns dies so für sich stehend allzu harmonistisch erscheinen will, möchten wir uns dem erlebten Sinnverlust noch einmal zuwenden, sondern auch, weil sich davon ausgehend die kulturelle Dynamik zwischen Individuum und Wertgefüge erhellen lässt. Dabei kann das Individuum insofern als Entdecker des Sinnlosen gelten, als sein Aufkommen mit der kritischen Infragestellung bis Verwerfung der überlieferten Sinn- und Werteordnung auf’s Engste verknüpft ist. Man könnte sagen, in der Sinnrelativierung des Althergebrachten eröffnet sich ihm überhaupt ein »Grundgefühl von der tiefen Irratio­ nalität und Wertfremdheit des Seins«.883 Und diese nun bewusst gewordene Möglichkeit wirft wiederum ein Licht (zurück) auf Sinn und Funktion wertgebender Mächte: Der auf sie gerichtete und sie selbst durchlebende Sinnglaube erschöpft sich keineswegs darin, naiv am ›Beginn‹ des menschlichen Weltzugangs zu stehen; insofern seit jeher, wenn auch subtil, »die Möglichkeit des Sinnverlusts das menschliche Leben wie ein Schatten« begleitet, wird auch der Sinn­ glaube »schon früh gegen die ihn bedrohende Gefahr erkämpft durch eigene sinnstiftende Mächte. Er ist nicht einfach da, sondern verdankt sich einer Tendenz.«884 Nur dass dieses Erkämpft-worden-sein wie auch die Fragilität der Werte- und Sinnordnung verborgen ist unter ihrem Antlitz von Natürlichkeit, Wahrheit, Ewigkeit, Sicherheit und Güte, das die Rebellion des Individuums provoziert und intensiviert. Diese Rebellion anvisiert nun, das eudämonistische Verhältnis der­ art umzukehren, dass nicht mehr das Individuum dem Erhalt der (vermeintlich) sinnlos gewordenen Ordnung, sondern eine neu zu errichtende ›Ordnung‹ ihm zu dienen, um seines Glückes willen da und für dieses Glück sinnstiftend zu sein hat. Damit wird das Glück des Einzelnen als höchster, letztlich einziger Wert und also absolut gesetzt. »An inhaltliche Ziele, die um ihrer selbst willen erstrebenswert wären, glaubt man nicht mehr; was bleibt ist nur, was eigentlich die Prämie des erreichten Ziels bilden sollte, der subjektive Reflex darauf: das Glück.«885 882 883 884

Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 273. Landmann: GuL, S. 25. Landmann: Sinnverlust und Eudämonismus, S. 159, Herv. F.S.

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9. Werte

Unter der Annahme aber, dass Glück selbst lediglich eine erst zu füllende »Leerform« ist, tritt die nihilistische Geste eines einzig auf Glück zielenden Individualismus offen zutage. Gewissermaßen trägt sich die in der geistigen Kritik am Sinn der Werteordnung erwachte Mitmöglichkeit einer sinnlos gewordenen Welt schmerzvoll und getarnt im Zerstören(-wollen) dieser Ordnung fort, in dem sich Indi­ vidualismus und Nihilismus gegenseitig stützen und steigern.886 Insofern dabei auch noch die Kritik und Negation einer Ordnung inhaltlich und motivational auf diese Ordnung bezogen bleibt, ist der in ihnen sich verkündende Nihilismus bei aller autonomistischen Attitüde »selbst ein parasitäres Phänomen. Es bildet eine häufige Methode, einen Wert zu bestreiten, dabei jedoch die eigene Kraft daraus zu ziehen, daß er eben doch nach wie vor in Kraft steht und daß man sich – vielleicht ohne es zu merken – auf ihn stützt.«887 Wie seinem Sein(-können) nach Kulturwesen, so ist und bleibt der Mensch seinem Glücklichsein(-können) nach Wertewesen; auch als Indivi­ duum, als unteilbar-ungeteilte Person, nimmt es teil, »denn es gibt kein Glück, das nicht schon auf Wertteilhabe – sei es im Empfangen oder im Erstreben – beruhte.«888

9.5 Wert und Sollen Wertephilosophisch betrachtet steht in der kulturellen Spannung zwischen Individuum und Werteordnung nicht etwa ein sich über alle Werte erhebender Einzelner gegen ein sich ihm mächtig entgegen­ stemmendes Kulturganzes, sondern Wert gegen Wert. Es handelt sich also um einen Konflikt innerhalb der Wertsphäre selbst, in dem für Landmann wie bereits gesagt das ethische Ur- und Grundphänomen gegeben ist. Es stellt sich nun die Frage, wie von diesem ausgehend sich dasjenige entwickelt und verstehen lässt, was als Sollen qualifi­ ziert ist. Sein und Sollen: Nähern wir uns dieser Frage über die ›klas­ sische‹ Unterscheidung von Sein und Sollen, so stellen wir fest: die Innovation phänomenologischer Ethik besteht darin, gegenüber 885 886 887 888

Landmann: Sinnverlust und Eudämonismus, S. 163. Vgl. ebd. Landmann: Das Parasitäre, S. 47; vgl. auch S. 44. Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 265.

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9.5 Wert und Sollen

idealistisch-formalistischer Ethik überhaupt ontologische Aussagen über das Ethische zu treffen, indem sie »auch das hinter den ethischen Gesetzen stehende Sein [entdeckt], in dem jedes Sollen gründet, den objektiven und idealen Wert.« Damit ist auch das Sollen nicht mehr reduzierbar auf eine dafür ausgezeichnete Subjektivität resp. eine menschlicher Vernunft mögliche moralische Qualität, sondern erstreckt sich auf ein außerhalb dieser Seiendes hin. In aller Deutlich­ keit hält die phänomenologische Ethik derjenigen von »Kant, nach dem nichts in der Welt gut ist als der Wille, entgegen: ausser »das Gute selbst«.«889 Überhaupt kennt sie einen ›Zustand‹, in dem Sein und Sollen noch nicht getrennt sind, und zwar nicht erst als von der Erfahrung abgelöste, geistig-intellektuell zu erreichende Leistung der Vernunft, sondern basaler als eine bestimmte Qualität der Erfah­ rungswirklichkeit selbst.890 Aber vom Sollen im ethisch prägnanten Sinne, d.h. dem einem Wertekonflikt entspringenden Entscheidungs- oder Handlungsappell, kann hier noch nicht die Rede sein, ist es doch für das Sein gerade kennzeichnend, dass es selbst weder erschöpfend Auskunft über noch Anreiz für sein (Sein-)Sollen zu geben vermag, es also der ›Zutat‹ des entscheidenden, handelnden und so am Sein verändernd wirksamen ethischen Subjekts bedarf. Jene Naivität des ursprünglich in der Sinnund Wertordnung stehenden Menschen ist der ethisch Handelnden ebenso wenig vergönnt wie dem ethisch-anthropologisch Reflektie­ renden. Letzterem wird es nie gelingen, aus der Metaphysik des Menschen seine Ethik, aus seinem Sein sein Sollen abzuleiten. Jede Hoffnung, durch Erkenntnis seines Was einen Wink für sein Wie zu gewinnen, bleibt trügerisch. Man projiziert dabei immer nur, was in Wahrheit bereits selbsterko­ rener Imperativ ist, in sein Wesen hinein; und indem man dann sein Wesen als Rechtfertigung für diesen Imperativ anführt, verfängt man sich in einen Zirkel. Aus unserem Bestand folgt nichts über unsere Bestimmung.891 Landmann: SaW, S. VIII. Vgl. Landmann: EdI, S. 195 f. Vgl. außerdem Simmel, für den diese Überlegung in die Konzeption eines »individuellen Gesetzes« führt. Simmel schreibt, das Gesollte habe »›Bekanntheitsqualität‹ […] wir wissen das Sittliche fast stets unmittelbar in seiner Anwendung auf unseren einzelnen Fall, oder richtiger, in einer Weise, die noch undifferenziert jenseits der Trennung, vielleicht jenseits sogar der Möglichkeit der Trennung von Gesetz und Anwendung steht« (Das individuelle Gesetz, S. 200). 891 Landmann: MSGK, S. 99. 889

890

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9. Werte

Der Wertekonflikt und das Sollen: In diesem Zirkel ist der Wertekon­ flikt als ethisches Zentralphänomen gerade verdeckt. Dieser Konflikt kann nun darin bestehen, dass in der relevanten Situation keine kulturell überlieferte und geltende Norm (eindeutig) vorliegt oder darin, dass eine solche von außen kommende Norm mit einer anderen ebenfalls von außen kommenden oder auch persönlich innerlich emp­ fundenen konfligiert. Dass es aber überhaupt zum Konflikt kommt, markiert für das Individuum objektiv ein Moment der Unfreiheit, auch wenn diese sich ihm dann subjektiv – indem es der dem Konflikt entspringenden Handlungs- und Entscheidungsnötigung die Freiheit, wählen und handeln zu können, abgewinnt – als Autonomie darstellen mag. Die bei Kant in der Vorstellung von Autonomie als Selbstge­ setzgebung aufgelöste bzw. unkenntlich gemachte Heteronomie des Sollens wird von Hartmann in aller Deutlichkeit gesehen: Die Freiheit des Individuums – als die innere, ethische verstanden – erstreckt sich nicht auf die Auswahl der Werte, die er in seinem Leben gelten läßt. Sie erstreckt sich nur auf die Entscheidung im Wollen und Handeln; sie besteht in der Fähigkeit, auch gegen das empfundene und anerkannte Sollen zu entscheiden. Die Normen und Gültigkeiten selbst also sind für die Person ein Moment der Unfreiheit; die Ausdrücke ›Anforderung‹, ›Gebot‹, ›Sollen‹ sagen das in aller Eindeutigkeit.892

Damit wird auch die Bedeutung und Funktion der von Kant als lediglich dem Bereich der Erfahrung zugeordneten und damit als für ethisches Handeln untauglich befundenen sozial-kulturell über­ lieferten Sollens-Inhalte, d.h. der Normen und Werte einer bestimm­ ten überindividuellen Bezugseinheit, für das ethische Handeln des Einzelnen herausgestellt. Wie für das Individuum ein Moment der Unfreiheit, so sind die Normen und Werte »[f]ür den objektiven Geist […] ein Moment der Freiheit«893 – und genau daran entzündet sich der Konflikt, der bis in die Tiefenregion hinabreicht, wo Wert gegen Wert stehen. Die Freiheit des Individuums ist also zunächst und insofern eine negative, als je bereits objektiv für es vorentschieden worden ist, welche Werte »zur Zeit ›Gültigkeit‹ haben, anerkannt sind, im Gewissen und Wertempfinden der Menschen ›in Kraft‹ sind.«894 Zweierlei wird von hier aus deutlich: Erstens ist der ethische Anspruch

892 893 894

Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 275. Ebd., Herv. F.S. Ebd.

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9.5 Wert und Sollen

an das Individuum, das bei Kant – zugespitzt gesagt – lediglich das einmal als allgemein anerkannte moralische Gesetz anzuwenden hat, um ein Vielfaches erhöht. Zweitens steht dieser erhöhte Anspruch im Zusammenhang mit jener kulturgeschichtlich keineswegs selbst­ verständlichen Haltung, die nicht nur ästhetisch »eine Pluralität gleichberechtigter Stile« kennt, sondern auch ethisch sensibilisiert ist dafür, »jede Erscheinung nach ihren eigenen geschichtlichen Maß­ stäben, nach der über ihr schwebenden Norm«895 zu beurteilen. Die Herausforderung besteht darin, einerseits »auch bisher Verworfenes gelten zu lassen«, andererseits deshalb »nicht alles je Hervorgetretene [als] gleichwertig« anzusehen. Gerade weil Landmann den Konflikt zum ethischen Zentralphänomen erhebt, mutet es merkwürdig naiv an, wenn er schreibt: »Nach wie vor sollen wir das Geringere und Abzulehnende dem Vollendeten nachsetzen, bloß daß wir das Krite­ rium hierzu nicht mehr naiv aus unserm eigenen Wertsystem nehmen dürfen, sondern nur aus dem zugehörigen System.«896 Eine »neue Kasuistik«: Im Bereich der Ästhetik mag dies noch vergleichsweise einfach zu realisieren sein, schon allein, weil es hier zumindest in vielen Fällen ›lediglich‹ um Urteile, nicht aber um folgenreiche Entscheidungen und Handlungen geht. Wie aber im Feld des Ethischen? Eine Antwort deutet Landmann an, wenn er sich für eine »neue Kasuistik« und damit für einen Weg aus­ spricht, auf dem sowohl die je konkrete Lebensrealität ethischer Situationen als auch der allgemein-begriffliche Anspruch philosophi­ scher Reflexion berücksichtigt sind. Zunächst sei, gewissermaßen phänomenologisch, »von den typischen, in Abwandlungen ähnlich immer wiederkehrenden Situationen auszugehen, die eine ethische Entscheidung von uns verlangen.«897 Innerhalb dieser Situationen hätte die Analyse nun, sich hier den geschichtlich-kulturell besonderen Kontextbedingungen nähernd, »nach Rang und Gewicht die Motiva­ tionen heraus[zu]schälen, die in ihnen zusammenwirken und sich befehden.« Davon ausgehend könnte sie nun, aus der Deutung in die prospektiv-konstruktive Präskription übergehend, »das Spektrum 895 Landmann: Institute für Epochenwissenschaften. Lehrstühle für geisteswissen­ schaftliche Grundlagenforschung. In: Verstehen und Vertrauen. Otto Friedrich Boll­ now zum 65. Geburtstag. Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz: Kohlhammer 1968, S. 81 [im Folgenden: Institute für Epochenwissenschaften]. 896 Ebd. 897 Landmann: EdI, S. 45, Herv. F.S.

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9. Werte

der denkbaren Entscheidungen auffächern und ihr Für und Wider erörtern.«898 Damit würde sie nicht wie herkömmliche Kasuistik »auf dem Boden einer bestimmten Moral« von dieser ausgehend den Einzelfall betrachten und lediglich binär reduktionistisch darauf hin befragen, ob er unter ihr Gesetz fällt oder nicht, um dann zu einem letztlich – und sei es ex negativo – dieses bestätigenden und erfüllen­ den Ergebnis zu gelangen, sondern »die verschiedensten möglichen Vorzugsrichtungen gleichermaßen berücksichtigen« und so die je zu treffende Entscheidung im Gegenteil noch zusätzlich »erschweren, indem sie uns die Fülle der Faktoren bewußt macht, die wir bedenken und aufgrund deren wir die Entscheidung fällen müssen.«899 Nun könnte man fragen, ob diese nicht von einer geltenden Ethik auf das relevante Phänomen schließende, sondern umgekehrt aus diesem heraus eine ethische Entscheidung entwickelnde ›Methode‹ mit ihrer über die reale Komplexität aufklärenden Geste überhaupt praktikabel bzw. praktisch hilfreich ist. Die Antwort fällt positiv aus, nur dass der praktische Sinn der »neuen Kasuistik« nicht in der unmittelbaren Umsetzung einer allgemeinen Sollensforderung in eine konkrete Entscheidung besteht, sondern bescheidener darin, die Entscheidung vor[zu]bereiten, indem sie unser ethisches Gefühl klärt und schärft. Indem sie uns unsere Situation allseitiger sehen und verstehen läßt und ihren ethischen Gehalt diskutiert, würde sie entemotionalisieren und objektivieren. Wir würden erkennen, daß, was wir für nur individuell hielten, der Rationalisierung fähig ist, würden lernen, den Partner nicht mehr nur in unsere Perspektive einzustellen und auch uns selbst aus der seinen zu beurteilen.900

In diesem Zitat treten bemerkenswerte Implikationen von Land­ manns philosophisch-ethischen Überlegungen zutage, die deutlich werden lassen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Wertekonflikt als ethischem Zentralphänomen und der Werteplura­ lität als – wenn man so will – ontischem Zentralphänomen gibt. Was sollte die vor der Entscheidung Stehende ›allseitiger sehen und verstehen‹ lernen, wenn nicht die Vielheit der ethisch zulässigen Möglichkeiten? Wofür sollte sich ihr ›ethisches Gefühl‹ klären und schärfen, wenn nicht für die feinen Rangunterschiede konkurrierender

898 899 900

Landmann: EdI, S. 45 f. Ebd., S. 46, Herv. F.S. Ebd.

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9.5 Wert und Sollen

Wertmaterien und den (moralistisch allzu schnell hocherhitzten) ›ethischen Gehalt‹ einer Situation? Wohin soll die Einzelne durch entemotionalisierende und objektivierende Rationalisierung geführt werden, wenn nicht in jene überindividuelle, jegliches sozial-kultu­ relle Miteinander bedingende Welt geteilter Werte? Damit ist sie jedoch keineswegs aus der vereinzelnden Situation ethischer Zerris­ senheit in einen sozial-kulturell erlösenden Zustand wertepluralisti­ scher Harmonie versetzt. Dies wäre nicht nur ihr eigener, sondern auch der Rückfall der Ethik in einen ›Formal-Harmonismus der Pluralität‹. Unmissverständlich und konsequent lässt Landmann dem empfundenen auch einen realen Konflikt, der Problematik auch eine Aporetik entsprechen: »Soll die Zerrissenheit des Konflikts in irgend einem Drüben ihr Homologem begegnen, so muß auch dieses Drüben seinerseits zerrissen sein. Soll in uns Werterkenntnis gegen Werter­ kenntnis, so muß auch Wert gegen Wert stehen.«901 Auch im Wertfühlen lässt sich so ein weiterer, bisher noch unter­ belichteter Sinn entdecken. Wenn wir bisher den ethischen Konflikt primär als zu lösende Spannung in den Blick nahmen, so haben wir damit gleichsam das Sollen ›als ein Müssen‹ betrachtet, durch das die offen unbestimmte Bewegtheit (wieder) in den geschlossenen Zustand von Eindeutigkeit überführt wird. Entgegen dieser Vorstel­ lung, die eine Ontologie der Ruhe und Vollendung impliziert, ergibt sich aus Landmanns Ontologie von »Bewegung und Unvollendung« der folgende anthropologisch-ethische Zusammenhang, den Konflikt betreffend: »Gerade die Phase, während deren ich in ihm verharre und ihn noch nicht zugunsten der einen oder der andern Partei beendet habe, enthüllt sich uns, wenn wir scharf genug beobachten, als das ethische Urerleben.«902 Während klassische Philosophie nach dem Wissen, klassische Ethik nach dem Wissen des Guten fragt, rückt hier das ethische Empfinden in die deutliche Nähe eines Nichtwissens, das jedoch ausdrücklich selbst als eine spezielle, durchaus positiv qualifizierte Form von Wissen zu verstehen ist. Die Intensität des Wertfühlens wird von diesem Nichtwissen gerade nicht gemindert, sondern merkwürdig erhöht, indem wir etwas umso mehr als ein Wertvolles (unter vielem) empfinden, je weniger wir es als ein Seiendes

901 902

Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 101. Ebd., S. 99.

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9. Werte

(womöglich noch das einzige) wissen.903 »Man braucht dem Nicht­ wissen zuliebe das Wertfühlen nicht preiszugeben. Nur wird man das auszeichnend Ethische an ihm nun darin sehen, daß es nicht jeweilen durch einen bestimmten Wert bestimmt ist, sondern sich noch zwischen mehreren im Zweifel befindet.«904 Das »individuelle Gesetz«: Wie aber ist von diesem Verharren im Nichtwissen, in dem die Vielheit des Richtigen zur Anerkennt­ nis genommen ist, zu einer aktiven Entscheidung und kreativen Handlung zu gelangen, in der sich eine Option als die wenigstens bessere behauptet und durchsetzt? Diese Frage richtet sich auf die zentrale Bestimmung des Sollens als Sollen, d.h. in einer Schicht, die – ganz im Sinne von N. Hartmanns Schichtenontologie – getragen und insofern vom jeweiligen Sollensinhalt abhängig ist, jedoch als Sollen selbst eine gewisse Eigenqualität und insofern auch Autonomie aufweist. Von dieser Fragestellung nimmt auch Georg Simmels Theo­ rem des »individuellen Gesetzes« seinen Ausgang, dem wir uns nun erneut zuwenden. Durch die Erläuterung von vier zentralen Aspekten wollen wir nachvollziehen, wie das Sollen als Bindeglied zwischen Individuum und Kultur resp. Wertewelt verstanden werden kann: als gleichsam der Vollzugsmodus, in dem sich die je spezifische Freiheit beider realisiert. Dabei geht Simmel erstens auch bezüglich der Ethik grundlegend, d.h. metaphysisch, von der Einheit menschlichen Lebens aus und versteht entsprechend das Sollen als einen »Modus, auf den die irgendwie einheitliche Totalität des Lebens verläuft, nicht weniger, als der Modus der seelischen Wirklichkeit ein solcher ist.«905 Dies bedeutet jedoch gerade nicht, dass das Sollen radikal und willkürlich subjektiviert wäre, sondern qualifiziert ganz im Gegenteil die eigen­ artige Objektivität gerade des individuellen Sollens. Für Simmel gilt, »daß Individualität nichts weniger als Subjektivität oder Willkür ist« und daraus folgert er: »wenn die Wirklichkeit – die eine Form, 903 Diese durch die Erfahrung einer Pluralität der Werte wie auch ihrer Fragilität (Vergänglichkeit) hindurchgegangene und von ihr gleichsam geläuterte Form des Wertfühlens weist eine ganz andere Qualität auf als die des absolutistischen umfäng­ lichen Wertfühlens, das mit dem bzw. im ursprünglichen Im-Sinn-stehen gegeben ist. Vielleicht könnte man sagen, dass eine ›traurige Distanz‹, eine ›gebrochene Unmittelbarkeit‹, eine ›fragile Nähe‹, eine ›fließende Intensität‹, eine ›lächelnde Melancholie‹ diese Form des Wertfühlens auszeichnet. 904 Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 100. 905 Simmel: Das individuelle Gesetz, S. 197.

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9.5 Wert und Sollen

in der die Individualität lebt – Objektivität besitzt, so tut es die andere, das Sollen, nicht minder.«906 Dabei geht er in Abgrenzung zu Kant lebensphänomenologisch von der doppelten Erfahrung aus, in der bzw. als die sich das Leben selbst geistig gegeben ist: »Das Bewußtsein, in dem oder als das unser Leben sich darstellt, hat doch diese beiden Kategorien zur Verfügung: wir wissen uns, wie wir sind und wissen uns, wie wir sein sollen.«907 Das Sollen ist damit, kontraintuitiv zum Sprachgebrauch, dem­ zufolge es von außen an ein Individuum herantritt, zweitens als ein sich von innen nach außen entfaltender Modus des Individu­ ums selbst verstanden. Damit gelingt, was bei Kant nicht bzw. nur über einen teleologisch verkürzten Handlungsbegriff und die meta­ physisch-dualistische Beheimatung des Menschen in zwei Welten eingelöst wird: »die Kategorie des Sollens über die Tat als Lebens­ äußerung zu erstrecken oder beide innerlich zu verbinden.«908 Wäh­ rend bei Kant die Zweckproblematik in eine kategorische Unterschei­ dung führt zwischen ethisch untauglichen Zweck-Mittel-Relationen und dem Kategorischen Imperativ, in dem sich ausdrückt, dass der Mensch (sich) im ethischen Handeln (auch) Zweck ist909, finden wir bei Simmel die schichtmäßig vorzustellende Unterscheidung von Inhalt (dem Was) und Form (dem Dass) des Sollens. Nicht von einem solchen [Zweck, Anm. F.S.], sondern von uns aus sollen wir; das Sollen als solches ist kein teleologischer Prozeß. Dies betrifft natürlich nicht den Inhalt des Sollens, der vielmehr dauernd sich unter der Kategorie des Zweckes darstellt: unzählige Male sollen wir uns schlechthin zum Mittel für Zwecke machen, die über die minimale Einzelexistenz hinausgehen und denen gegenüber es auf uns als Selbstzwecke überhaupt nicht ankommt. Aber daß wir dies sollen, daß es uns unter der Kategorie der Pflicht auffordert – das ist nicht selbst wieder von dem Zwecke abhängig, dem wir mit der Tatsächlichkeit solchen Handelns dienen.910

Diese hinsichtlich ihrer teleologischen bzw. nicht-teleologischen Struktur getroffene Unterscheidung von Inhalt und Form des Sollens darf nun aber nicht als deren strikte Trennung missverstanden wer­ 906 907 908 909 910

Simmel: Das individuelle Gesetz, S. 225. Ebd., S. 196. Ebd., S. 195, Herv. F.S. Vgl. Kant: Grundlegung, S. 63. Simmel: Das individuelle Gesetz, S. 213.

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9. Werte

den. Vielmehr zeigt sich – und damit sind wir beim dritten Aspekt – an den Formen des Sollens deutlich, wie eng dieses an seinen jeweiligen Inhalt gebunden ist resp. in seiner Eigenart aus ihm erwächst. Wenn­ gleich »das über dem individuellen Leben oder vielmehr als dieses sich wölbende Sollen seinem inneren Sinne nach jenseits jeder Ver­ gleichung [mit einem anderen individuellen Leben resp. Sollen, Anm. F.S.] steht«911, so stellt sich nichtsdestoweniger die Frage, was inner­ halb dieses individuellen Sollens eigentlich die Einheitlichkeit jener unterscheidbaren Formen des Sollens erzeugt und erhält. Bereits bei Simmel deutet sich die von Landmann durchgeführte Ausweitung der Ethik (des einen Sollens) zur Kultur- und Wertephilosophie (als Typologie der Sollensformen) an, wenn er schreibt: Freilich aber ist hier die Frage am Platz, ob denn dieses Sollen, als welches der kontinuierliche Lebensprozeß sich neben seiner Wirklich­ keitsform vollzieht, auch wirklich oder auch immer das sittliche Sollen ist. Vielleicht sei gerade das so gefaßte Sollen eine viel allgemeinere Form, die nicht nur von ethischen Wertungen gefüllt ist, sondern auch von eudämonistischen, sachlichen, äußerlich praktischen, ja von perversen und antiethischen.912

Während Simmel werkgeschichtlich von der formalen Kulturphiloso­ phie des objektiven Geistes zur Ethik des »individuellen Gesetzes« gelangt, wird Landmann umgekehrt von der ethischen Problemstel­ lung913 in eine pluralistisch-typologische Philosophie der Werte und von dieser weiter in eine Anthropologie der Kultur geleitet. Eine ›materiale Kulturphilosophie‹ in Gestalt einer Philosophie der zentra­ len Bereiche und Inhalte des jeweiligen Kulturlebens lässt sich bei Simmel in expliziter Ausführung und Bezugnahme auf seine Ethik des Individuums schmerzlich vermissen, wenngleich sie implizit tragend ist, worauf Sybille Lotter hinweist: Simmel: Das individuelle Gesetz, S. 224. Ebd., S. 200. 913 Diese Problemstellung formuliert Landmann in der Frage »darnach, mit Hinblick auf welches immer wieder Identische solches Für-ethisch-Halten allererst möglich wird. Was ist der geometrische Ort, an dem Anteil haben muß, was ethisch sein will? Welches das Prinzip, das eine ganze Seinsregion in Abhebung von andern mit seiner Farbe durchtränkt? Was tritt neu hinzu, wo es auftritt? Und was vermissen wir, wo es fehlt?« (Phänomenologische Ethik, S. 90.) Es ist bezeichnend, dass hier in einer seiner frühsten Schriften bereits die Metapher des geometrischen Ortes auftaucht, die sich später auch in der Formulierung seiner kulturanthropologischen Grundthese wieder­ findet (vgl. FA, S. 145). 911

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9.5 Wert und Sollen

Das individuelle Sollen Simmels […] folgt vielmehr, wie Simmel erläutert, aus den Inhalten des ›individuellen Lebens‹. Was sind das für Inhalte? Nichts anderes, so stellt sich nun heraus, als die Inhalte der Kultur und der politischen Organisation, in der das Individuum auf­ wächst.914

Damit steht in Frage die Möglichkeit der Einheit, der Integrität einer Person, die sich verschiedene Sollungen zuschreiben, d.h. sich selbst als diesen zugehörig, ja als ihre ureigenste Quelle empfinden muss, um sich als frei handelndes Subjekt verstehen und – womit wir beim vierten Aspekt wären – Verantwortung erkennen, empfinden und übernehmen zu können. Dieses Problem stellt sich bei Simmel umso schärfer, als er die Verantwortung auf doppelte Weise radikalisiert: Erstens bezieht sich die Verantwortung nun nicht mehr allein auf eine ausgeführte Handlung, die Verantwortbarkeit nicht mehr allein darauf, ob diese einem bestehenden Sollen gemäß ist. Vielmehr ist auch dieses Sollen bereits zu verantworten, da es ja selbst Ausdruck des Lebens, ja »unser eigenes Leben (unter der Kategorie der Idealität) ist und, wie es entsprechend unter der Kategorie der Realität der Fall ist, an jedem aktuellen Sollen jedes Moment des bisher gelebten Lebens mitgeformt, mitbedingt hat.«915 Zweitens und untrennbar davon wirkt sich nun Simmels Metaphysik der radikal historisierten Lebenstotalität auf die Verantwortung des Individuums derart aus, dass entsprechend der Dynamisierung des Sollens zur Lebensfließbe­ wegung auch »das Absolute der Forderung in diesem Sinne ein absolut historisches wird«.916 Die Integrität der Person wird damit bei Simmel gar nicht eigentlich als Problem thematisch, sondern ist stets bereits – und, wie wir oben sagten, auch unabhängig von ihrem Erkanntwerden – metaphysisch vorausgesetzt. Von ihr leitet sich direkt die Absolutheit der – wiederum merkwürdig vom sie ergreifenden Subjekt losgelös­ ten – Verantwortung ab. »Schon in dem Gesolltwerden jedes einzelnen Tuns liegt die Verantwortung für unsere ganze Geschichte.«917 Simmels sich an Kants Formalismus entzündender libertärer Anspruch, das 914 Lotter, Maria-Sibylla: Das individuelle Gesetz. Zu Simmels Kritik an der Lebens­ fremdheit der kantischen Moralphilosophie. In: Kant-Studien. 91. Jg., Heft 2 (2000). Berlin; New York: de Gruyter 2000, S. 195 [im Folgenden: Zu Simmels individuellem Gesetz]. 915 Simmel: Das individuelle Gesetz, S. 228. 916 Ebd. 917 Ebd.

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Individuelle als Objektives und Gesetzmäßiges ins Recht zu setzen, schlägt hier deutlich um in einen ethisch-hermeneutischen, ›lebens­ totalitären‹ Determinismus. Zwar war es grundsätzlich auch Simmel darum zu tun, »aller Mannigfaltigkeit der ethischen Situationen und Evolutionen Rechnung [zu] []tragen«, aber ebenso stark hing er noch an der Vorstellung »der Einheit, Stetigkeit, Konsequenz des sittlichen Anspruches«.918 Dies mag ihm verhindert haben, für die geschicht­ lich-kulturelle Zerrissenheit des Menschen nicht allein in einem ethi­ schen Individualismus ein soteriologisches Harmonium, sondern wie Landmann in der pluralen Welt bestehender, zu erkennender und zu gestaltender Werte ein diesen Individualismus bedingendes und ergänzendes ontisches Analogicum zu suchen.919

Historisch-kritische Rückbindung 9.6 Die Entdeckung des Eigenwerts Nicht allein, um das pragmatisch wie ethisch brisante Problem der Integrität des Individuums philosophisch adäquat zu stellen, sondern auch geistesgeschichtlich ist seine Rückbindung an eine pluralistische Kultur- resp. Werteontologie, vor deren Hintergrund letztlich dieses Problem erst vollends verständlich wird, plausibel. Es gäbe keine Sorge um die Integrität des Individuums, wenn dieses, d.h. die Vor­ stellung und Wirklichkeit eines eigenqualitativen und sich selbst Simmel: Das individuelle Gesetz, S. 229. Vielleicht könnte man sagen, dass Simmels »individuelles Gesetz« einerseits auf die Zumutungen einer seit der Moderne komplexeren, differenzierteren und damit auch uneinheitlichen Kultur, für die gerade er sensibel gemacht hat, reagiert; andererseits reduziert sich Kultur als solche bei Simmel dann aber zu einem Verwirk­ lichungsmodus und Durchgangspunkt der metaphysischen Lebensganzheit auf dem Weg zu sich selbst (vgl. seine Formulierung von Kultur als »Weg der Seele zu sich selbst«). Dagegen ist in Landmanns kulturanthropologischer Konzeption der Mensch genuin Kulturwesen; was er in sich findet, wird ›Kulturelles‹ sein und er gestaltet dieses zu seiner höchsten, kulturellen Form. Normativen Rückhalt bezieht Landmann nicht allein im Individuum, sondern – untrennbar von diesem – in der Pluralität der kulturellen Menschseinsweisen wie auch der Pluralität, die der Einzelne selbst ist. Wie für Simmel das »individuelle Gesetz«, so bürgt für Landmann die »Pluralität der Absoluta« für die ›Güte‹ des menschlichen Lebewesens – ›Güte‹ jedoch nicht verstanden als Harmonie oder Harmonisierbarkeit, sondern als balancierender, die Spannung dabei nicht auflösender Ausgleich polarer Kräfte. 918

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9.7 Umwertung und Pluralisierung der Werte

bestimmenden Menschenwesens, nicht bereits als Wert gesetzt wäre. Und wenngleich seine Eigenwertigkeit in gewisser Weise bereits bei den Griechen aufkommt, so doch nur eingeschränkt, da entindivi­ dualisierend rückgebunden an die Idee überindividueller Vernünftig­ keit und sich wiederholender Geschichte. Erst die vernunftkritische Radikalisierung der Geschichtlichkeit der Epochen und Kulturen durch die »Eigenwertslehre«920 des 18. Jahrhunderts bringt auch das Einzelindividuum ›vollumfänglich‹ hervor. In dieser Linie steht gewissermaßen auch Simmels radikal-hermeneutische Metaphysik der Lebenstotalität, deren Stachel sich gegen jedwede das Einzelne einem heteronomen Telos oder Sinn unterstellende und es so verkür­ zende Philosophie resp. Ethik richtet. Damit eröffnet sich Simmel den Blick auf die lückenlose Eigensinnigkeit der individuellen Lebensge­ schichte, wie sich die ›Goethezeit‹ die sog. Weltgeschichte als großen Schatz sinn- und wertedurchwalteter Kulturgeschichten begegnen lässt: »Für die pantheistisch empfindende Zeit um 1800 war alles Geschichtliche als solches werthaltig. Daß der Historiker nicht werten soll, das heißt hier: er soll nicht abwerten.«921

9.7 Umwertung und Pluralisierung der Werte Auch Nietzsche steht noch als Kritiker der historischen Anschauung insofern in dieser Linie, als beide im dualistisch-teleologischen Mora­ lismus einen gemeinsamen Gegner haben; seine Idee resp. Forderung einer Umwertung der Werte stellt in dieser Hinsicht eine wichtige Vorstufe ihrer Pluralisierung v.a. durch N. Hartmann dar. Dass es bei Nietzsche auch bereits Ansätze einer schichtmäßigen Anschauung der Wertewelt gibt, lässt sich zeigen anhand seiner Lehre des Bösen, der zufolge dieses »für ihn überhaupt nur ein sekundäres Phänomen« und »nur die Fülle des Guten es ist, deren Gestalten es sich wechsel­ weise zustrahlen.«922 Der Gegensatz zwischen den Werten dient hier nicht mehr nur als Anlass einer ebenso kritischen wie vitalistischen Umkehrung der Wertigkeit im Denken, sondern ist bereits ontolo­ 920 Landmann: Löwith Rezension, S. 239. Vgl. auch Landmann: Der Mensch als Herr und Opfer der Geschichte, S. 247 und EuE, S. 165. 921 Landmann: MSGK, S. 218, Herv. F.S. 922 Landmann: GuL, S. 61, Herv. F.S.

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gisch als »Pluralismus der positiven Werte«923 gesehen und gesetzt. Vollends bei Hartmann und Landmann radikalisiert und vertieft sich die bei Nietzsche angelegte Kritik des menschlichen Denken- und Wertenkönnens von ontologischer Seite. Die ontische Begrenzung menschlicher Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit, die wir als Enge des Kultur- sowie Wertbewusstseins erläuterten, ist auch für die Frage nach der Integrität der Person äußerst aufschlussreich. Es zeigt sich nämlich, dass diese zumindest insofern nicht auseinanderzufallen droht, als sie im stets nur begrenzt erkenn- und verfügbaren Wertereich einen Rückhalt hat. Die ›Möglichkeit, alles zu sein‹ wie auch die ›Gefahr, dann nichts mehr zu sein‹ sind und bleiben gewissermaßen virtuell insoweit »sowohl Einzelne wie Epochen in ihrer starren Indi­ vidualität bisher jede meist nur durch einen – wenn auch immer wie­ der anderen – schmalen Sektor des Wertreichs ansprechbar waren, die Forderungen, die von seiner Gesamtheit an uns ergehen, also gar nicht vernahmen.«924 Von hier aus wird das Horrorszenario der zerfallen­ den Person selbst kenntlich als Hybris des Individuums bzw. als Defi­ zit einer Orientierung gewährenden Kultur- und Wertewelt. So wie die Identität des Individuums als Problem erst durch die bzw. im Modus der Kritik am umgebenden Sinn- und Wertegefüge aufkommt, erst »auf Grund komplexer Kulturvoraussetzungen explizit und zur sichtbaren Eigengestalt«925 wird, so ist es dann genau dieses Sinnund Wertegefüge, das nicht nur den Wert der Kritik selbst positiv in sich aufnimmt, sondern dem sich nicht beruhigen-könnenden Sichfinden-wollen des alles-problematisierenden Geistes926 orientie­ rende Haltepunkte und erholsame Ruhephasen ermöglicht.

Landmann: GuL, S. 62. Landmann: EuM, S. 110. 925 Landmann: EuE, S. 261 f. 926 Vgl. ebd., S. 257: »Aber auch innerhalb des intellektuellen Bereichs selbst ist das Erkennenwollen und noch gar das philosophische Erkennenwollen vielleicht nur einer der vielen Äste, die aus dem gemeinsamen Stamm dieser Anlage [sich nicht beruhigen zu können, Anm. F.S.] hervorwachsen«. 923

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9.8 Aporetik und Problematik

Erkenntnisphänomenologische Vergewisserung 9.8 Aporetik und Problematik Ein solches Gehalten- und Orientiertsein des Erkennens im kulturellwertbezogenen ›Gefüge‹ bedeutet aber keineswegs, dass es in einem Harmonismus kritikvergessener Wertehingabe verharren müsste. Im Gegenteil zeigt sich, dass eine Form der Erkenntnis, die sich von den disharmonischen Verhältnissen einer aporetischen Wertewelt belehren lässt, um einiges radikaler ausfällt als jene, die aus der Dis­ harmonie der Werteordnung nichts als die Notwendigkeit ihrer Über­ windung schließen zu können vermag. Während in der klassischen Philosophie seit Platon die Welt dualistisch in Sein und Erscheinung, das Erkennen in Wissen und Meinen zerfällt, stellt Landmann die innere Vielheit resp. Zerfallenheit der Welt sowie die Uneinheitlich­ keit der auf sie gerichteten Erkenntnis als Erst- und Letztgegebenheiten in Aussicht: derart, dass »es nicht nur Phänomene, sondern auch ein Ansich des Problems gäbe, d.h. sich Probleme aufzeigen ließen, die schon selbst das letzte Sein sind, hinter dem sich kein wahrhafteres mehr verbirgt. Wir würden solche ansichseienden Probleme Aporien nennen«.927 Während ein von der (vermeinten) Einheit der Welt sich in die eigene Einheitlichkeit irreführen-lassendes Erkenntnisstreben Probleme nur als defizitäre Phänomene, als Mangelerscheinungen eines vollumfänglichen Wissens kennt, kann von einer »ontologi­ sche[n] Aporetik« aus gerade »das bloße Innesein der Aporien als eine letzte und seinsgemäße, auf keinerlei Ergänztwerden durch eine nachfolgende angewiesene Geisteshaltung gelten.«928 Diese Haltung ist nun merkwürdig zweiseitig, indem sie einerseits zwar Letztge­ gebenheiten annimmt und insofern die rastlose Denkbewegtheit in sich zur Ruhe kommen lässt, andererseits aber keinerlei wirkliche Beruhigung ermöglicht, da ja das, was als ein Letztes angenommen wird, selbst in sich zerrissen, vielheitlich, in ständiger Bewegtheit unvollendet ist. Genau aber in dieser Zweiseitigkeit wird die Para­ doxie des Denkens, eine nach Ruhe strebende Bewegtheit zu sein, nicht nur ausgedrückt, sondern selbst zur geistigen Quelle einer kreativ-produktiven Bewältigung, d.h. praktischen Gestaltung der Paradoxität. Nicht um einen als real imaginierten Zustand der Welt zu 927 928

Landmann: EuE, S. 265. Ebd.

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erreichen, muss sich eine diesen einklagende Kritik radikalisieren, um sich dann gleichsam überflüssig zu machen; sondern um den Zustand der Welt, den Blick für ihre realen Möglichkeiten offen zu halten, muss das Denken sich seinen Gegenstand vollumfänglich zur Anschauung bringen, das heißt zum Problem machen: Sollte sich nicht das, was immer nur Krise des Denkens zu sein scheint, die möglichst rasch wieder behoben werden soll, zur selbständigen Denkgestalt emanzipieren lassen, sollte es nicht ein radikales und absolutes Problematisieren geben, das seine Idee nackt und unver­ quickt darstellen will und für das das sonst natürliche Ziel des Erken­ nens, zum wieder eindeutigen Wissen hinzuleiten, sein Verlockendes und seinen Zielcharakter eingebüßt hätte?929

9.9 Sinnnichtwissen und Sinnstiftung In deutlicher Abgrenzung zu jedweder sinnpredigenden Heilsphi­ losophie plädiert ein solches Denken, das in der philosophischen Kulturanthropologie Michael Landmanns eine prominente Stimme findet, »für die Bewältigung der existentiellen Konflikte und nicht für ihre Aufhebung, […] für das Aushalten der Sinnlosigkeit oder -widrigkeit menschlicher Existenz und nicht für die Stiftung eines neuen Sinnhorizonts, eines neuen Evangeliums.«930 Dabei zeigt sich, dass gerade im Sinn-Nichtwissen der anthropo-logische wie auch psy­ chisch-motivationale Grund für die spezifisch menschliche Sinn-Stif­ tung besteht. Nicht erst an den Grenzen des Wissens, wo man – wie es eine bemerkenswerte Redewendung ausdrückt – nicht mehr weiter weiß, eröffnen sich dem Menschen die außer-intellektuellen, kritisch wertfühlenden Zugangsweisen auf die ihn umgebende Kultur- und Wertewelt; diese sind vielmehr immer bereits wirksam, sobald er auch nur – etwa im Anvisieren eines künftig besseren Zustandes – historisch, d.h. in zeitlich unterscheidbaren Sinneinheiten, zu denken beginnt. »Ein Teilaspekt des Sinnes ist der Wert. Geschichtliche Einheiten stellen sich uns stets dar als tingiert durch einen höheren Landmann: EuE, S. 262. Hartung, Gerald: Der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? Friedrich Nietzsche und die philosophische Anthropologie. In: Kulturwissensch. Studien 5 (2000), S. 42 [im Folgenden: Der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes?]. 929

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Verschwiegene Eingänge: Der Wert des kulturellen Lebens

oder niedrigeren, positiven oder negativen Wert.«931 Während sich nun in der Ideologie das (mehr oder weniger noch ›virtuelle‹) Wert­ fühlen als Sinnwissen um eine (bereits geschehende) geschichtliche Erfüllung missversteht, bleibt bei Hartmann wie bei Landmann mit dem Sinnlosen auch die Möglichkeit künftiger Sinnstiftung, das heißt die Notwendigkeit künftigen Nichtwissens, in der Welt. »Die Geschichte ist weder reine Sinnerfüllung noch reine Sinnlosigkeit. Sie ist der stets zugleich sinnvolle und sinnlose Prozeß, die fortlaufende Synthese aller in der Welt waltenden Mächte«.932 Und während in der Ideologie dem einzelnen Menschen lediglich die Rolle zukommt, den ohnehin vor sich gehenden Gang der Geschichte zu befördern oder zu beschleunigen, steht er in der philosophischen Kulturanthro­ pologie vor der echten Aufgabe einer praktischen Sinnerfüllung, die er »seinerseits hineinzutragen berufen ist, die ohne sein Entscheiden und Tun nicht zuwege kommt.«933

Verschwiegene Eingänge: Der Wert des kulturellen Lebens Von hier aus lässt sich ein weiterer Sinn von Landmanns dialektischantinomischer Kulturanthropologie des schaffenden Bewahrens und bewahrenden Schaffens aufzeigen. Nicht nur kulturdynamisch, son­ dern auch axiologisch sind neuschöpferische Kreativität und fundie­ rende Kulturalität ineinander verflochten. Und zwar insofern, als sich im menschlichen Schöpfertum selbst eine Grenze auftut, bis zu der es als geistige Kritik am kulturell Bestehenden dessen Wert (inhaltlich wie bezüglich seines Geltensollens) in Frage stellt resp. negiert, mit deren praktisch-konstruktiver Übertretung es aber schließlich selbst ein kulturell Neues hervorbringt und damit den Wert des kulturellen Lebens überhaupt realisiert und geltend macht. Dieser Wert des kulturellen Lebens bildet die Grenze jeder Kulturkritik nicht nur negativ, indem sie inhaltlich und voluntativ vom Kritisierten ihren Ausgang nimmt, sondern auch produktiv, indem sie – letztlich in jeder ihrer Phasen, von der phantastisch-abstrakten Anvisierung bis zur konkret-praktischen Gestaltung – inhaltlich auf bestimmte Werte bezogen, vom Wunsch und Ziel ihrer Verwirklichung gezogen, vom 931 932 933

Landmann: MSGK, S. 217. Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 276. Ebd., S. 269.

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Glauben an ihre Realisierbarkeit, das heißt ihre Ausgestaltbarkeit in kulturellen Lebensformen getragen ist. Dieser Zusammenhang kreativitäts-, kultur- und wertphiloso­ phischer Aspekte verweist deutlich auf »die Relevanz einer Verhält­ nisbestimmung von Logik, Hermeneutik und Axiologie.«934 Diese Relevanz wurde von Landmann durchaus gesehen; eine genauere Verhältnisbestimmung ist er uns allerdings schuldig geblieben. Damit wird seine Kulturanthropologie von zwei Seiten angreifbar, auf deren eine Frank Tremmel hinweist: »Die axiologische Dimension der Einbildungskraft muss deutlich herausgearbeitet werden, wenn die Lebensformen nicht einem rein ästhetizistischen Stilurteil unterlie­ gen sollen.«935 Neben dem Einwand ästhetizistischer Willkür sieht sich eine jede Philosophie menschlicher Kreativität dem Vorwurf, nur begrifflicher Spiegel einer bestehenden Werteordnung und damit reaktionär zu sein, solange zu Recht ausgesetzt, wie sie nicht den Wer­ tebezug in seiner anthropologischen Bedeutung gerade für das Neu­ schöpferische herauszustellen vermag. Den Ansatz dafür haben wir im von Landmann bereits in seinen frühen Schriften für den Bereich des Ethischen herausgearbeiteten Zusammenhang von Pluralität und Antinomie, dessen zentrale Bedeutung für seine Kulturanthropologie sich hier bereits unmissverständlich zeigt: Es mag Aporien geben, die auch oder sogar nur seinsmäßig beantwortet werden können. Vielleicht ist auch die Kultur ein Antwortversuch auf große anthropologische Aporien, und eben hieraus erklärte sich dann auch die wechselnde Vielzahl ihrer eben stets nur Versuch blei­ benden Formen.936

Tremmel: Kulturphilosophie, S. 167. Ebd. 936 Landmann: EuE, S. 269. ›Seinsmäßig‹ könnte man hier mit ›kreativ-schöpferisch‹ übersetzen. 934 935

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Teil III Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen

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Nachdem wir uns im vorangehenden Teil der Arbeit die Kern­ überlegungen von Landmanns Kulturanthropologie über die sechs zentralen Begriffe bzw. Begriffsfelder Kreativität, Individualität und Vernunft, Kulturalität, Geschichte und Werte erschlossen haben, wollen wir nun das Erschlossene zu einer Theorie der Bildung des Kulturlebewesens Mensch ummünzen und verdichten. Dabei sind Bildung und Kultur eng verwoben und in mancher Hinsicht kaum scharf zu trennen: Bildung als Menschwerdung bedeutet Kulturwer­ dung sofern der Mensch im Medium von Kultur sein Leben führt und vollzieht; Kultur als Charakteristikum des Menschen ist Ausweis seiner Bildsamkeit (als einer anthropo-logischen Disposition) und Bildung (als einer überzeugenden Chiffre für den Prozess und die Dynamik von Menschwerdung). Die methodisch-heuristische Dramaturgie in den vorigen Kapi­ teln findet sich auch in den folgenden Überlegungen, jedoch in abgewandelter Form. Jetzt ist es uns nicht mehr darum zu tun, die Bedeutungsfülle und innere Spannung der das Zentrum von Land­ mann Anthropologie aufspannenden Begriffe durch die Unterschei­ dung dreier Dimensionen aufzuzeigen bzw. auszufalten. Umgekehrt wollen wir nun die ausgefalteten Inhalte wieder verallgemeinernd komprimieren. Dafür aber baut sich nun eine Spannung auf, die der bisherigen Dramaturgie der drei unterschiedenen Dimensionen in folgendem Sinne entspricht: für das theoretisch-architektonische Unterfangen einer Bildungsphilosophie als Theorie der Menschwer­ dung des auf Formgebung angewiesenen Lebewesens Mensch bildet Kul­ turphilosophie als Theorie der Kulturwerdung des auf Pluralisierung und Formvarianz angewiesenen Geschichtswesens Mensch ein histo­ risch rückbindendes, ergänzendes und vertiefendes Korrektiv. Diese innere Spannung von Bildung und Kultur findet ihrerseits Selbst­ vergewisserung und Ausdruck in einer von den erkenntnisphänome­ nologischen Momenten des Nichtwissens und Wissensverlangens ausgehenden Weise der Reflexivität, die die Frage nach dem ›Wesen des Menschen‹ sinnvoll stellen lässt und im geistigen Medium als ›Philosophie des Menschen‹ ausgestaltet. Kulturanthropologie i.S. Landmanns wird dabei als Weise und Form der Bewältigung geschichtlich-kultureller Pluralität verständ­ lich. Soweit der ›klassische‹ Bildungsbegriff wenigstens in einem allgemeinen Sinne von der Einheit des Menschen wie der Welt aus­ geht und auf diese abzielt, bezieht er im Zusammenhang mit Land­ manns Anthropologie kultureller Pluralität den Sinn einer Kritik,

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die sich letztlich auf ihn selbst richtet. Dieses gebrochene Verhältnis zu sich selbst ›teilt‹ die Idee von Bildung mit der philosophischen Anthropologie als solcher. Genauer und etwas weiterführend gesagt: die prekäre ›Stellung‹ der Bildungsidee zwischen Monismus (Univer­ salismus) und Pluralismus (Partikularismus) lässt sie, wenigstens diesen Aspekt betreffend, notwendig auf eine philosophisch-anthro­ pologische Frage- und Problemperspektive bezogen sein; umgekehrt ist die Bildung des Menschen, die vom ›Wesen des Menschen‹ ebenso wenig zu trennen wie mit ihm gleichzusetzen ist, zugleich zentraler Inhalt und kritischer Bezugspunkt philosophischer Anthropologie. Dieser dichte Zusammenhang von Bildung und Anthropologie ist – so die These, die plausibel gemacht werden soll – der systematische wie kritische Dreh- und Angelpunkt einer sinnvollen Bestimmung von Bildung, die den kulturellen und geistigen Herausforderungen der Gegenwart gewachsen ist. Phänomene wie Globalisierung, Digi­ talisierung, Klimawandel eint als thematischer Zusammenhang das Problem und die Aufgabe der Vermittlung des Universalen (Globalen) mit dem Partikularen (Pluralen). Von der kulturellen Pluralität führt folglich nicht nur anthropolo­ gisch der Weg zur Frage nach und Theorie von Bildung, sondern diese erfährt nun ihre zentrale Bestimmung wiederum von der kulturellen Pluralität her, der faktischen wie der sein-sollenden, d.h. ebenso zur Disposition wie in Frage stehenden. Kulturanthropologie wird normativ verständlich als geistiger (und in genauer zu bestimmen­ dem Sinne humanistischer) Einspruch gegen Formen und Grade des Relativismus, die selbst entscheidend vom menschlichen Geist vorangetrieben werden. Zugespitzt lässt sich an dieser Stelle sagen: Bildung muss sein, damit Pluralität sein kann. Letztere ist zwar anthropologisch ›notwendig‹, sofern das anthropologische Fragen als solches, sowohl inhaltlich (in seinem Aspekt als Nichtwissen) als auch vital (in seinem Aspekt als Wissensverlangen), von der Pluralität als dem Charakteristikum des Menschen seinen Ausgang nimmt. Geschichtlich aber ist kulturelle Pluralität durchaus retrowie prospektiv kontingent – zumal als »Pluralität der Absoluta«, in der sie als Aporetik eine kritische Funktion gewinnt, die sich auf den Fallstrick eines Harmonismus des Pluralen bezieht. Wie in der Problematik der Philosophie als solcher, so ist in der Aporetik der Philosophie des pluralen Kulturwesens Mensch eine Grenze gesetzt, die sie nicht selbst überschreiten, über die sie jedoch – und zwar gerade als Philosophie – skeptisch-utopisch hinauszuweisen vermag:

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der Übergriff des Denkens ist ebenso zu verantwortender Eingriff wie utopischer Vorgriff. Von der Anthropologie belehrt, geht auch das zur monistischen Einheit tendierende Denken von der Nichtselbst­ verständlichkeit kulturell-geistiger Überlieferungen aus, die durch die geistes- und kulturgeschichtliche Problematisierung ebenso als einst errungene wie einst verlierbare kenntlich werden. Die unver­ meidliche Bestimmung des robust Unbestimmbaren, im Folgenden aufgefasst als Prozess der Vervieldeutigung des Voreindeutigen und Wiedervereindeutigung des Vieldeutiggewordenen, stellt die pädago­ gisch-anthropologische Kernaufgabe einer Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen dar.

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Bildung zur Kultur

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10. Der Mensch als Problem

10.1 Probleme von Menschen und der Mensch als Problem Von den Lösungen zum Problem: Im Unterschied zu älteren Anthro­ pologien beansprucht die Philosophische Anthropologie, ausgehend vom Faktum, dass der Mensch sich in der Frage nach sich selbst überhaupt erst problematisch – und schließlich problematischer denn je – geworden ist, dieses Sich-problematisch-werden in das anthropologische Fragen und Aussagen explizit hineinzunehmen. Dies führt auf jene paradoxe und zirkuläre Formulierung, der Mensch sei dadurch bestimmt, unbestimmt zu sein; er sei eben »das Offene, das sich selbst schließt, das Problem, das sich selbst löst.«937 In dieser Perspektive auf den Menschen als »homo problematicus«938 befinden wir uns insofern noch im engeren Bereich der Erkenntni­ santhropologie als es sich bei Problemen um geistige Phänomene handelt. Als solche – so Landmann, der hier über Simmel schreibt – »sprudeln sie überall, wo man mit der philosophischen Zaubergerte hinrührt, hervor; die Welt ist voll von Problemen.«939 Ihre Weltbzw. Lebenshaftung, die hier im Sprudeln bildlich übersetzt ist, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es der menschliche Geist ist, dem sich ein Seiendes als Problem stellt, dem es einzig zum Problem werden kann – der es aufspürt, aufrührt und so aufsprudeln lässt. Aufschlussreich scheint es hier, mit Arnold Gehlen einen der sehr prominent Kritisierten selbst zu Wort kommen zu lassen, der die Kernproblematik der Anthropologie, die zugleich den Rahmen ihrer Axiomatik bildet, selbst wie folgt formuliert hat: Wir können nur ahnen, daß mit der bloßen Existenz, geradezu mit der Durchführung der Bewegungen des Lebens, schon ein ›Problem‹ gelöst wird, und zwar mit einer Vollkommenheit, die jeder Erkenntnis spottet. 937 938 939

Landmann: Von der Individualanthropologie zur Kulturanthropologie, S. 335. Landmann: EuE, S. 261. Landmann: P, S. 380.

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10. Der Mensch als Problem

Es scheint in irgendeiner Hinsicht am Leben unendlich viel gelegen zu sein.940

Hier ist das Paradox der Anthropologie, denkend fassen zu müssen, was dem Denken unfassbar bleibt, auf den Punkt gebracht. Sie verfällt nicht vom evidenten Leben abrückend und abstrahierend, sondern gerade umgekehrt von den Evidenzen des Lebens ausgehend und diese zum Anlass einer transzendentalanthropologischen Fragestel­ lung nehmend auf die These vom ›homo problematicus‹. Zu diesen Evidenzen gehört neben den vielfachen Funktionsweisen des Leben­ digen selbst vor allem auch die Pluralität seiner Formen. Dass diese allesamt sowohl Ausdruck der Einheit des Lebendigen als auch Zeug­ nis der Variabilität des Lebens sind, findet in der Rede vom Problem, das sich selbst löst, indem es sich Lösungen gibt, eine präzise Formel. ›Problem‹ meint hier gerade nichts Statisches, sondern im Gegenteil nur den kritischen Grenzwert der Lebensformen, die von hier aus verständlich werden als Lösungen – eben – eines Problems. Nicht weil der Mensch ein Problem ist, finden wir viele Menschseinsweisen als dessen Lösungsversuche, sondern umgekehrt: weil wir den Menschen immer bereits im Plural, d.h. Menschseinsweisen vorfinden, wird er uns zum Problem, das heißt (eben darin) als Problem, das heißt als ein Wesen, dessen Erscheinungsweisen sinnvoll als Problemlösungsver­ suche aufzufassen sind, zugänglich und verständlich.941 Als nacktes Problem vermag er ja nicht zu existieren; das Problem trägt in sich die Notwendigkeit seiner Überwindung. Wenn wir daher etwas Allgemeines über ihn aussagen, wenn wir seine gleichbleibende Struktur freilegen sollen, dann müssen wir durch alle Lösungen wieder durchstoßen bis zum Urgestein der über sich selbst hinausdrängen­ den Problematizität.942

Und wie nun Landmann in der von ihm hochgelobten Kreativität des Menschen den Modus seiner Problemlösungsaktivität erblickt, so überträgt sich seine Liebe zur Kreation rückwirkend auf deren – Gehlen: Der Mensch, Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1. Aufl. von 1940. Teilband 1. Hg. v. K.-S. Rehberg. Frankfurt/M.: Klostermann 1993, S. 77. 941 Vgl. Landmann, wenn er schreibt, »daß nämlich nur logisch, nicht aber auch psy­ chologisch der Weg vom Problem zur Lösung führe, in der lebendigen Forschung vielmehr sehr oft erst vom Resultat her der wahre Problemzusammenhang übersehbar werde« (P, S. 173). 942 Landmann: MSGK, S. 26; vgl. auch ebd., S. 59 und P, S. 316. 940

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10.1 Probleme von Menschen und der Mensch als Problem

anthropologisch herausgestellten – Ermöglichungsgrund, etwa wenn er »die Fähigkeit des Heraustretens aus allem Umhegten und des Pro­ blematisierens [als] die eigentlich fruchtbarere und weiterführende in uns«943 bezeichnet. Das Problem als präsent-absentes Doppelphänomen: Insofern das Problem sowohl von etwas wie einer vermeintlichen Lösung (bzw. etwas sperrig gesagt: dem vorgeblichen Lösung-sein von etwas) provoziert wird, als auch selbst bereits den Ansatz, die Ankündigung einer neuen Lösung enthält, ist es als präsent-absentes Doppelphä­ nomen verstehbar. Entsprechend bezeichnet Landmann das Problem als eine Vorstellung, bei der wir »nur über die Fransen, über sie selbst aber in ihren Einzelheiten noch nicht verfügen« und die für uns zunächst »nur durch ihre Beziehungen«944 bestimmt und zugänglich ist. In diesem Zusammenhang bezieht die Rede vom Menschen als dem Problem, das sich selbst löst, den Sinn einer zwar nach wie vor paradoxen Aussage, die aber der modernen Ein­ sicht in das historisch-kulturelle Herkommen und Hindeuten auch der Frage- und Problemstellungen des menschlichen Geistes selbst Rechnung trägt, mehr noch: sie in formal-anthropologischer Form zum Ausdruck bringt. Mit der Hinwendung zu Problemen ist dabei keineswegs einem Transzendentalismus das Wort geredet, sondern im Gegenteil der Horizont für eine anthropologisch-ontologische Betrachtung geöffnet. Wie die Frage, die Aporie, die Aufgabe und das Rätsel ist auch das Problem ein zwischen Geistigem und Seiendem befindliches bzw. diese umfassendes »eigentümliches Dazwischen […], das zwar durchaus als Gegenständliches vor uns steht, […] aber zugleich doch auch kein selbständiges Sein aufweist, sondern nur auf Grund eines ungenügenden Bescheidwissens unsrerseits überhaupt zustandekommt.«945 Damit ist das Problematische, Auf­ gegebene etc. aus den engen Zusammenhängen menschlichen Erken­ nens und Handelns gelöst und etwas wie das »Enthaltensein der Fragen im Seienden«946 denkbar. Entsprechend ist die Verfügbarkeit nicht nur des menschlichen Problemlösens, sondern bereits des Pro­ Landmann: EuE, S. 252. Dass der Mensch »aber überhaupt das Uneindeutige ist, das sich deuten muß, daß er in sich die schöpferische Keimzelle eines homo hominans verschließt, das macht seinen character indelebilis [untilgbares Prägemal, Anm. F.S.]« (Von der Individualanthropologie zur Kulturanthropologie, S. 335). 944 Landmann: P, S. 311. 945 Ebd., S. 31. 946 Ebd., S. 319. 943

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blematischwerdens einer Sache für den Menschen begrenzt, was eine Korrektur am Problemlösungsstolz (etwa) der Vernunftanthropolo­ gie bedeutet: »Daß uns etwas als Problem erscheint, […] beruht jeweilen auf einer unvorausdirigierbaren, sich von selbst meldenden ursprünglichen Entdeckung, wie sie […] nicht nur das methodisch geschulte wissenschaftliche, sondern auch schon das naive Bewußt­ sein machen kann.«947 Bildung zur Fraglichkeit? Die Ambivalenz des Problems, eine öff­ nende Bewegung anzustoßen und zugleich den Horizont der Schlie­ ßung aufzuspannen, finden wir im Zusammenhang der Bildung einer resp. zur Persönlichkeit, deren Abgeschlossenheit ebenso notwendig imaginiert werden wie unerreicht bleiben muss.948 Dies verleiht der Bildungsphilosophie bzw. der Pädagogik einerseits einen kritischen Sinn, wenn sie von »Identität in Fragen der Bildung des Menschen nur als Problem, nicht aber als Tatsache«949 ausgeht. Gleichzeitig setzt sie sich damit selbst einer Kritik aus, die auf die Ermöglichungs­ bedingungen und Grenzen der Problematisierung und Fraglichkeit abzielt. Wenn es stimmt, dass wir »je tiefer wir etwas begreifen, [es] desto radikaler […] in seiner Fraglichkeit«950 begreifen, dem problematisierend fragenden Menschen sich also »immer wieder aufs Neue sein Wissen des Nichtwissens«951 bestätigt, so stellt sich allerdings die Frage nach den Grenzen jener scheinbar nicht abschließ­ baren Dynamik von Nichtwissen und Selbstwerdung. An dieser Stelle spätestens wird für den Bildungs- der Kulturbegriff unabdingbar zur Bestimmung der Bedingungen und, von diesen ausgehend, der Grenzen einer – eben jeweiligen – Weise der Problematisierung. Ob es ein »radikales und absolutes Problematisieren geben«952 könne, ob aus der »Einsicht in die positionelle Gebundenheit allen Verstehens […] ein Konzept« folgen müsse, dem zufolge »der Mensch sich gerade diese Positionalität immer wieder neu bewusst machen und Landmann: P, S. 330. Vgl. die folgende Stelle aus Landmanns Referat zum dänischen Philosophen Harald Høffding: »Ebensowenig wie die Persönlichkeit kann das Denken je als völlig abgeschlossen gedacht werden – ja unser Drang, die Probleme zu lösen, ist nur eine spezielle Form des Dranges nach Übereinstimmung mit sich selbst« (ebd., S. 305, Anm. 5). 949 Mollenhauer: Vergessene Zusammenhänge, S. 159. 950 Landmann: P, S. 323 f. 951 Landmann: EuM, S. 41. 952 Landmann: EuE, S. 262. 947

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sie kritisch bedenken muss«953 – das sind Fragen, die sich zwar notwendig aus der Konsequenz einer bestimmten geistigen Disposi­ tion des Menschen zu sich und zur Welt ergeben, jedoch allein aus einem sich abgelöst vermeinenden Geist heraus nicht überzeugend beantworten lassen. Luxurierende Skepsis als Luxus der Anthropologie? An dieser Stelle gilt es, ebenso den gerade für die Anthropologie konstituti­ ven und kritisch-konstruktiven Sinn radikaler Problematisierung zu sehen wie auch deren Grenze, in der wir zugleich einen ihrer kultu­ rellen Gründe haben. Ideengeschichtlich betrachtet, ist die philoso­ phische Anthropologie geistiger Ausdruck und Bewältigungsversuch jener Intensivstufe menschlicher Fraglichkeit des 20. Jahrhunderts als einem Jahrhundert der politischen Ideologiekämpfe und maßlos inhu­ maner Verbrechen. Dass das Denken »aus der historischen Erfahrung der Selbstverleugnung des Menschseins«954 heraus den Menschen thematisiert, trifft auf die meisten prominenten Philosophien des letzten Jahrhunderts zu; die Weise dieser Thematisierung dagegen ist nicht zwingend anthropologisch, sondern im Gegenteil überwiegend anthropologiekritisch ausgerichtet. Diese Alternative stellt sich für Landmann nicht, bei dem sich Anthropologie und ihre Kritik nicht nur nicht ausschließen, sondern sogar wechselseitig fundieren. Mit der Fraglichkeit der Geschichte des Menschen intensiviert sich seine historische Verantwortung für die geistigen und kulturellen Formen seines Lebens. »Aus einer anthropologisch verankerten Möglichkeit wird das Fundament der Zukunft. Heute muß der Mensch, um zu überleben, seine eigene Entwicklung in die Hand bekommen. […] Das praktische Tun des heutigen Menschen und die theoretische Anthropologie tragen sich gegenseitig.«955 Dieser anthropologischen Verantwortung vermag der Mensch ohne ein ›Bild‹ von sich nicht nachzukommen, als dessen zentrale Konturen die Grundgedanken einer Fundamental-Anthropologie gelten können.956 Deren Frage Was ist der Mensch? entspringt nicht allein den Geistern bestimmter Berufsdenker, sondern – entsprechend dem bereits zitierten ›Enthal­ Koerrenz, Ralf: Bildung als Reflexion und Gestaltung von Vorurteilen. Globale Bildung und die Welt im Kopf. Pädagogische Reform im Horizont der Globalisierung. Hg. v. dems. u. A. Blichmann. Paderborn: Schöningh 2014 [im Folgenden: Bildung als Reflexion und Gestaltung von Vorurteilen], S. 18. 954 Steffens: Ontoanthropologie, S. 45; Herv. F.S. 955 Landmann: FA, S. 297. 956 Vgl. dazu Landmann: PA, S. 40. 953

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tensein der Fragen im Seienden‹ – »einer Not der Zeit.«957 Das sich an ihr entzündende, von ihr losgetretene Denken hat den Menschen in seiner tiefsten Fraglichkeit nicht nur zum Gegenstand, sondern ist zugleich selbst Ausdruck der historisch-kulturellen Situation und Existenz eben genau dieses Menschen.958 Dass die Anthropologie es mit ihm auch und gerade in seiner Inhumanität noch anthropologisch aufnimmt, markiert unter einer kultur- und ideologiekritischen Ober­ fläche den tiefer liegenden Punkt, an dem sich der klassische Vorwurf entzündet, sie sei affirmativ oder reaktionär. Dies schließt nicht aus, am ›homo problematicus‹ insofern eine Kritik heranzutragen, als sich der Fragilität des (prekären) Mensch­ seins bei Landmann zuweilen (und wie zum Ausgleich) etwas wie ein Elitarismus des (hohen) Menschseins zu amalgamieren bzw. erstere die Form des letzteren anzunehmen scheint. Dies etwa, wenn er über die Mystik schreibt, sie sei »ein Mittel der Regression; sie lindert die Spannung, die durchzustehen von uns gefordert ist, in der uns bewährend wir unseren Sinn erfüllen. Sie gehört zu den Kräften, die uns von der Hochebene des Menschseins herunterziehen.«959 Landmanns Anthropologie des aus sich heraus gefährdeten Men­ schen960, die sich in einem dezidiert ideologiekritischen Sinne gegen jegliche Harmonismen menschlicher Sinnsättigung (man denke dabei nur an die klassischen Bildungskonzeptionen um 1800, seien sie wie bei Herder mehr naturphilosophisch oder wie bei Humboldt mehr geistesphilosophisch inspiriert) richtet, tendiert in diesem Zitat zu einer elitären Vorstellung, in der die menschliche Fähigkeit der Formund Sinngebung herabgesetzt bzw. reduziert ist – obwohl diese ja einen der zentralen Pfeiler der Kulturanthropologie bildet, für des­ sen Beachtung sich gerade Landmann stark macht. Noch deutlicher kommt diese Tendenz zum Ausdruck, wenn er gegenwartskritisch vom Mangel einer Herausforderung spricht, »die das Leben auf die Probe stellt, es gefährdet, zugleich aber erst die schöpferische Antwort aus ihm provoziert und es so erst im wahren Sinn Leben sein läßt.«961 Hier gilt es, den evidenten Sinn einer Kritik an vereinfachenden Men­

957 958 959 960 961

Landmann: PA, S. 40. Vgl. Landmann: GuL, S. 96. Landmann: JM I, S. 233. Vgl. Hartung: Der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes?, S. 32. Landmann: JM II, S. 40.

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10.2 Das Wissen des Nichtwissens

schenbildern, die den unaufhebbaren »Urdiphthong«962 kultureller Geprägtheit und kreativer Schöpfung zu überwinden trachten, zu unterscheiden von einer überzogenen Stilisierung der Gefahr, die letztlich auch in der Sakralisierung einer bestimmten Form von Krea­ tivität hinter Anspruch und Niveau einer pluralistischen Typologie menschlich-kreativer Kräfte zurückbleibt.

10.2 Das Wissen des Nichtwissens Die Qualitäten des Nichtwissens als Form des Wissens: Eine Sakrali­ sierung menschlicher Sinnenthaltung oder gar -leugnung ist nicht zuletzt auch in ihrer überzogenen und damit vereinfachenden Kon­ frontation von Wissen und Nichtwissen zurückzuweisen. Dagegen hat gerade Landmann nachdrücklich auf den Wissenscharakter selbst des Nichtwissens hingewiesen. Damit meint er nicht nur, dass Nicht­ wissen stets auf ein Wissenwollen und letztlich ein Wissen führt, sondern grundlegender sich selbst aus wissensmäßigen Aspekten, Inhalten und Bezügen aufbaut und deswegen eine bestimmte Form des Wissens ist. »Das Nichtwissen ist nichts Statisches, sondern es ist zugleich bereits der erste Ansatzpunkt der Bewegung, die über es hinaus, es überwindend, zum Wissen vordringen will.«963 Entsprechend drücken Nichtwissensphänomene wie Frage, Problem, Rätsel, Aporie und Aufgabe »gleichsam das Gewußte in derjenigen Form und Zuspitzung aus, in der die Lücke des Noch-nicht-gewußten fühlbar wird.«964 Ich weiß um das Nichtgewusste. Und ich weiß um es als Nichtgewusstes – und dies ist das Nichtwissen. »Es ist, als ob Nichtwissen und Wissen am gleichen Ort schliefen. Nun wird das Nichtwissen geweckt. Und nun weckt es seinerseits das Wissen.«965 Landmann: MSGK, S. 57. Landmann: EuM, S. 30. Vgl. auch P, S. 89 u. 332. 964 Landmann: P, S. 32. 965 Landmann: EuM, S. 38. Es scheint für unseren Zusammenhang sekundär, ob es sich beim Nichtwissen um ein schlichtes oder bewusstes Nichtwissen handelt. Ledig­ lich erwähnt werden soll, dass philosophische Anthropologie i.S. Landmanns in ihrer Grundannahme sinnvoll als bewusste Form des Nichtwissens verstanden werden kann, jedoch als solche eben zugleich auch eine Form des Wissens ist – »nämlich um die Seinseigenschaft, auf Grund deren sich die Unwissenheit, und notwendig, erst ergibt« (Landmann: P, S. 188). 962

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Umgekehrt spannt jede Wissung einen Umkreis verschiedener Nicht­ wissungen um sich auf.966 Die von Landmann forcierte Fokusverschiebung vom Wissen auf das Nichtwissen folgt einem gleichzeitig erkenntnisphänomeno­ logischen und wissens- bzw. vernunftkritischen Impuls. In der Linie der Lebensphilosophie (und, wie zu ergänzen wäre, der Erlebens­ philosophie) stehend, geht er davon aus, »Erwartungen, in denen wir uns das wiewohl Nichtgewußte gleichwohl schon vorweg ausma­ len, s[eien] überhaupt für unseren Weltbezug nicht minder konsti­ tuierend als die ihren Gegenstand schon sicher im Griff habenden Wissungen.«967 Von hier aus eröffnet sich ein differenzierteres Ver­ ständnis verschiedener Nichtwissenserlebnisse, die eben wegen der spannungsreichen Verwobenheit von Wissen und Nichtwissen häufig in sich paradox sind, etwa wenn sich in die Resignation bezüglich einer Grenze des Begreiflichen ein Staunen über das auf der anderen Seite derselben Grenze sich wenigstens subtil ahnen-lassende Unbe­ greifliche mischt.968 Landmanns Fokussierung des Nichtwissens steht im Zusammenhang seiner lebensphilosophischen und kulturontolo­ gischen Erweiterung der klassischen Erkenntnistheorie zur Anthro­ pologie. Erst sie ermöglicht eine umfassende Typologie menschlicher Wissens- und Nichtwissenserlebnisse, die auf einem komplexen Kontinuum zwischen Mensch (Subjekt) und Welt (Objekt) angesie­ delt sind. [V]erglichen mit nüchtern theoretischer Konstatierung ist das Staunen das bei weitem Affektivere, verglichen mit dem Sich-entsetzen aber ist es das bei weitem Theoretischere. Das Sich-entsetzen wirft den Menschen auf sich selbst zurück, im Staunen gibt er sich an die Welt hin und öffnet sich für sie.969

Pädagogik des Nichtwissens: Gerade in Hinblick auf Landmanns Fokusverschiebung auf das Nichtwissen ist kritisch zu fragen, ob hier an die Stelle der Tugend des Wissens, die sich verdichtet im TugendWissen-Satz970 findet, schlicht eine Tugend des Nichtwissens getre­ ten ist. Landmanns erkenntnisphänomenologischer Anspruch scheint Vgl. Landmann: EuE, S. 101; außerdem WiP, S. 91 f. Landmann: EuE, S. 102. Vgl. auch Landmann: P, S. 22. 968 Vgl. Landmann: P, S. 258. 969 Landmann: EuE, S. 183. 970 In diesem Satz von Sokrates gehen »das Verlangen nach Tugend und das Verlan­ gen nach Wissen eine […] seltsame Einheit« ein und es wird entsprechend nicht 966

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10.2 Das Wissen des Nichtwissens

für seine Kritik wie auch seine Position zentraler zu sein als ethische Überlegungen: Dem Seienden nähern wir uns nicht nur und nicht erst im Versuch, »es im Wissen abzubilden«, sondern auch bereits und letztlich grundlegender, »indem wir es im Nichtwissen abzubilden und dasselbe absichtsvoll herbeizuführen suchen«.971 Sofern es das Seiende problematisiert, steht das Nichtwissen näher auf der Seite des Erkennens, das »indem es das Wissen für unzulänglich hält, immer im Recht [ist].«972 Dass sich aber die daraus folgende Deklaration des Nichtwissens zum Ziel des Erkennens auch pädagogisch halten lässt, müsste erst begründet werden. Einen Ansatz hierfür bietet Volker Spierling, wenn er aus der »rationalen Unbegründbarkeit von Erziehungszielen durch den Aufweis der Paradoxie der Struktur der Subjektivität« und der darin sich bekundenden »Nichtfestlegbar­ keit des Menschen als ein ›Zwischenwesen‹ […] das allgemeine Erziehungsziel: Nicht-Wissen«973 ableitet. Hier deutet sich schon an, wie eng eine Pädagogik des Nichtwissens gebunden ist an eine Anthropologie des sich selbst teilverborgenen Lebewesens Mensch, in anderen Worten: an ein Menschenbild, das – als der wissentliche Anteil am Nichtwissen – sich in ihr gleichsam praktisch Ausdruck ver­ schafft: »Erweist sich diese Kritik am Identitätsdenken als stichhaltig, dann intendiert das Erziehungsziel ›Nicht-Wissen‹ die theoretische Erkenntnis der prinzipiellen Nichterkennbarkeit des Menschen als praktische Anerkenntnis seiner Nichterkennbarkeit.«974 weniger behauptet als »die Abhängigkeit des richtigen Handelns von der richtigen Einsicht« (Landmann: SaW, S. 3). Vgl. auch P, S. 65 f. 971 Landmann: EuE, S. 251. An folgender Stelle deutet Landmann darauf hin, dass wir uns im Erlebnis des Nichtwissens eher ›dem Nichts‹ als dem Sein oder einem Seienden (bzw. eben ›dem Nichts als einem Seienden‹) nähern. Im Erlebnis des Nichtwissens rühren wir »in einem noch weit radikalerem Sinne als aller Apriorismus es tut, an die Ursprungssituation unseres Geistes […], wo er noch frei und unspezifiziert ist, gleich­ sam an die kognitive Repräsentanz des Nichts« (Landmann: Philosophie des Nicht­ wissens und Sokratische Ironie, S. 185). 972 Landmann: EuE, S. 251. 973 Spierling: Skeptische Pädagogik. In: Zeit der Ernte: Studien zum Stand der Scho­ penhauer-Forschung. Festschrift für Arthur Hübscher zum 85. Geburtstaf. Hg. v. Wolfgang Schirmacher. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1982, S. 386 f. [im Folgenden: Skeptische Pädagogik]. 974 Ebd., S. 387. Das Paradox der Anthropologie, von Spierling intellektualistisch verkürzt auf die Antinomie der Erkenntnis, findet sich auch in einer entsprechenden Pädagogik wieder: »Die Paradoxie der Subjektivität mündet als hypothetisches Kon­ strukt einer ›didaktischen Klammer‹ […] in das Paradox: die Verbindlichkeit einer – noch zu entwickelnden – Skeptischen Pädagogik« (ebd., S. 389).

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10. Der Mensch als Problem

10.3 Der anthropologische Sinn des Wissensverlangens Geist und Leben – Pluralität und Verflechtung der Wissensmotive: Wie es einer skeptischen Pädagogik in der Zielstellung Nicht-Wissen letztlich um das Offenhalten, das heißt aber um die Pluralisierung von Perspektiven geht, so liegt diese als »Pluralität ursprünglicher Wissensmotive«975 Landmanns Kulturanthropologie erkenntnisphä­ nomenologisch bereits zugrunde. Die »häufige Tatsache eines Durch­ wachsen- und sogar Getragenseins der Wissensintention von anderen Intentionen«976 ist Anzeichen und Ausdruck einer Vielheit des Wis­ sensverlangens, das »an die ganze Mannigfaltigkeitsbreite der Nicht­ wissensgestalten anknüpft und sie auf seine Weise wiederholt«.977 Wie das Verlangen des Menschen nach Wissen allgemein betrachtet nur eine spezielle Form »eines Verlangens darstell[t], das ihn auch sonst in anderen Formen durchregt und beherrscht«978, so lässt sich das für jedes Verlangen logisch grundlegende Defizitempfinden entsprechend beim Wissensverlangen als »das Fühlbarsein eines Erkenntnisdefekts«979 bestimmen. Mit dem Insistieren auf das Gefühl wendet sich Landmann wiederum dezidiert gegen eine rationalisti­ sche Erkenntnisanthropologie und Ontologie.980 Auch auf das »dem Irrationalen scheinbar entgegengesetzteste Gebiet« der Erkenntnis strahlt das Irrationale aus und durchdringt so das vermeintlich unbewegte Wissen bis in die feinsten Verzweigungen hinein als leidenschaftliches »Verlangen nach ihm«.981 Erst und nur von hier aus eröffnet sich auch eine Charakterologie des Wissensverlangens, die in der Ethik des einen, durchweg guten und allverbreiteten Wissensver­ Landmann: P, S. 382. Ebd., S. 49. 977 Ebd., S. 44, Herv. F.S. Vgl. auch ebd., S. 385. 978 Landmann: EuE, S. 194. Georg Simmel formuliert eindrücklich, wie stark die Phi­ losophie des Lebens, der auch Landmann zugehört, aus der Kritik am (Erkenntnisan­ spruch des) Rationalismus motiviert ist, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass sie – wie bereits erläutert – aus der Konsequenz der Ablehnung eines Dualismus von Geist und Leben in eine selbst wiederum kritikwürdige Metaphysik des einen und ganzen Lebens mündet, sich und ihren Gegenstand sozusagen in diese hineinrettet (vgl. ders.: Der Konflikt der modernen Kultur. Ein Vortrag. In: Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 16. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 198 [im Folgenden: Der Konflikt der modernen Kultur]). 979 Landmann: P, S. 42. 980 Vgl. Landmann: EuM, S. 80. 981 Ebd., S. 75. 975

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10.3 Der anthropologische Sinn des Wissensverlangens

langens bei Platon gar keinen Gegenstand fände und unterscheidbar macht, ob überhaupt und was ein Mensch (nicht) wissen will, »mit welchem Grad der Genauigkeit und mit welchem der Sicherheit ferner er dies wissen will«.982 Steigerung und dialektische Selbstaufhebung des Wissensverlan­ gens: Mit der lebensphilosophischen Fundierung des Wissens und der erkenntnisphänomenologischen Analyse seiner Elemente lässt sich die Dynamik des Erkennens als dialektische Steigerung des vielseitig motivierten Wissensverlangens und schließlich dessen Selbstaufhe­ bung (als Verlangen) im Wissen begreifen. So wie es die Wissensdurs­ tige auf den Weg des Erkennens führt, überführt das Wissensverlan­ gen sie dann – zu schnell – ans Ziel: »der Glaube, wissend zu sein, ist – dynamisch gefaßt – der Glaube des Erkenntniswillens, befriedigt zu sein.«983 Das Wissensverlangen, soeben noch in erkenntniskritischer Absicht auf der Positivseite stehend, rückt nun selbst in ein kritisches Licht, genauer gesagt wird es vom Anspruch der Erkenntnis, eine Bewegtheit zu sein, das heißt als Erkennen offen zu bleiben, in dieses kritische Licht gerückt. Stand das Wissensverlangen ›eben noch‹ als die Erkennensbewegung anstoßend ganz in ihrem Dienst, bringt es sie ›nun‹ vorschnell zur Ruhe, indem es »natürlicherweise nicht auf eine sich erst in unendlicher Zukunft schließende, sondern auf eine schon jetzt ihre wohltätige Klarheit verbreitende und alle quälenden Fragen zum Schweigen bringende Erkenntnis« geht.984 Gerade für das Erkennenwollen gilt das Gesetz »von der Selbstaufhebung des Wollens überhaupt. Denn jeder Wille tendiert wesensmäßig über sich hinaus und ist somit nur ein Übergang.«985 Der letzte Satz ist entscheidend, macht er doch verständlich, dass anthropologisch und erkenntnisphänomenologisch betrachtet jede Wissensruhe vorüberge­ hend bleiben muss soweit der menschliche Wille als solcher in ihr sich nicht zu beruhigen vermag. Die hier von Landmann durchaus begrifflich irreführend als ›Selbstaufhebung des Wollens‹ bezeichnete

Landmann: P, S. 50. Landmann: EuM, S. 29. Vgl. auch P, S. 16. 984 Landmann: P, S. 251, Herv. F.S. Vgl. auch ebd., S. 292: »Auf […] den Erkenntnis­ bestand in einem gegebenen Zeitpunkt […] erfolgt ein Angriff in Form eines Pro­ blems. Von ihm wird der Medialabschnitt der Deproblematisation ausgelöst. Ist die Vitalreihe ›vollständig‹, so kommt es dann endlich in der Lösung auch zur Wieder­ herstellung der ursprünglichen Ruhe und die Vitaldifferenz ist aufgehoben«. 985 Landmann: EuE, S. 238. 982

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10. Der Mensch als Problem

Dynamik verweist auf die Antinomie von Geist und Wille, Erkenntnis und Leben. Sofern aber in der ›natürlichen Einstellung‹ des menschlichen Lebensvollzugs anthropologisch unzulässige Zuordnungen und Iden­ tifikationen von Erkennensverlangen und Wissen eher die Regel sein dürften, ist es weniger selbstverständlich als »dann doch Sache fortschreitender geistiger Kultur, sie [die Nichtwissenserfahrungen, Anm. F.S.] nicht nur sogleich wieder vom verfügbaren Wissen resor­ bieren zu lassen, sondern voll und sie zur Basis zu nehmen, auf der sich planvolles Suchen und auf Grund von ihm späteres Wissen aufbauen kann.«986 Umgekehrt erhellt sich mit der Einsicht in die tiefe Abhängigkeit des Erkenntnissubjekts »von dem es tragenden Lebens­ subjekt« – das »aus seinen Lebensnöten und -zwecken heraus Inter­ esse daran hat, sich das Ungedeutete, das seine Sicherheit bedroht, zu verschleiern und sich in Sicherheiten zu verankern«987 – der lebens­ pragmatische Sinn jeder anthropologisch betrachtet illusorischen Wissensruhe. In diesem Zusammenhang ist mit Landmann an der kompensatorisch pathetischen Glorifizierung des Nichtwissens eine Korrektur anzubringen. Gerade das Wissensverlangen entspringt durchaus auch einem Leiden am Nichtwissen: »Wir wollen das Unver­ ständliche in ein Selbstverständliches, das Unklare in ein Klares, das Scheinbare in ein Wahres, das Zweifelhafte in ein Zweifelloses, das Widersprechende in ein Übereinstimmendes überführen.«988 Das Primat des Vorhandenen vor dem Zuhandenen: Die konstitu­ tive Funktion der Illusion für das Leben steht dabei nicht etwa im Widerspruch zur menschlichen Fähigkeit der Erkenntnis und Kritik, sondern hat diese im Gegenteil zur anthropo-logischen Vorausset­ zung. Die entsprechende Fragestellung lautet: Was sind die Bedin­ gungen der Möglichkeit eines Lebewesens, das ebenso fähig zu wie angewiesen auf geistig-kulturelle Selbst- und Weltentwürfe ist, die ihm ebenso natürlich und wahr wie regelmäßig auch kontingent und als Täuschungen resp. Illusionen erscheinen? Landmann antwortet in der Linie eines anthropologischen Denkens, das »im Menschen den geborenen Theoretiker sieht. Auch der homo faber ist kein Tier. Er selbst macht sich erst sein Zuhandenes aus dem primären Vor­ handenen. Nur deshalb kann er immer wieder anderes Zuhandenes 986 987 988

Landmann: P, S. 17. Landmann: EuE, S. 250. Vgl. Landmann: P, S. 295 f.

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10.3 Der anthropologische Sinn des Wissensverlangens

aus ihm machen.«989 Unter der Voraussetzung eines Primats des Vor­ handenen vor dem Zuhandenen erhellt sich der dichte Zusammen­ hang zwischen der Pluralität menschlicher Denk- und Lebensformen und der Fähigkeit zur Illusion wie zur Kritik. Die Dinge sind dem Menschen anthropo-logisch betrachtet »zunächst bedeutungsindiffe­ rent, nicht immer schon und nur als Relationsglieder für eine bestimmte eigene Praxis, sondern von ihr abgerückt, als eine neu­ trale reine Gegenstandswelt gegeben.«990 In der Bedeutungsindiffe­ renz der »selbständig-abständig in sich ruhenden, subjektunabhän­ gigen«991 Dinge gewinnt er, eröffnet sich ihm ›zugleich‹ ihre kreative Deut- und Gestaltbarkeit, ihre Bedeutungs- und Verwendungspotenz – als dem kulturobjektiven ›Anlass‹ seines Wissensüberflusses. »Zum Aufbau der spezifisch menschlichen Praxis gehört gerade, daß jeweils ein Überfluß, ein Überhang des Wissens über das verwend­ bare Wissen herrscht, daß – entgegen Heideggers These – das Zuhandene zu einem solchen erst wird aus dem ursprünglichen Vorhandenen.«992 Um der »besonderen [kreativen, pluralisierenden resp. differenzierenden, Anm. F.S.] Struktur seines Handelns willen« verfügt der Mensch »über ein objektiveres und umfänglicheres Erken­ nen […], das nicht in unmittelbarer Beziehung zu seinem jeweiligen Handeln steht und darum zunächst unnotwendig erscheint.«993 Von hier aus wird verständlich, dass der Mensch im Durchschauen der Kontingenz seines eigenen Welt- und Selbstentwurfs, im Lüften sei­ nes Illusionsschleiers, anthropo-logisch betrachtet ›an den Punkt zurückkehrt‹, an dem sich ihm in der Kreativität seines Welt- und Selbstbezugs ›erstmals‹ auch Fähigkeit und Schicksal der Täuschung resp. Täuschbarkeit eröffnete.

989 990 991 992 993

Landmann: PA, S. 168. Landmann: WiP, S. 104. Ebd. Ebd., S. 105. Vgl. auch PA, S. 167, FA, S. 102. Landmann: UuS, S. 201.

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10. Der Mensch als Problem

10.4 Das plurale Selbst als Leitbild und die »polyphrene Lebensform«994 Das plurale Selbst als Einheit des Vielen – Pluralität als Fakt und Potenz: Für die Frage nach der Bildung des Menschen ist der Zusammenhang von Kreativität, Pluralität und Täuschbarkeit insofern zentral, als er die Pluralität des Menschen nicht nur als notwendige Konsequenz aus seiner formal-anthropologischen Situation, sondern auch als real-anthropologisches Ideal seiner Existenz, als ›priorisierte‹ Bewälti­ gung der eigenen Unbestimmtheit (resp. Täuschbarkeit) verständlich macht. Der objektiven Vielheit und Wandelbarkeit der Kulturbereiche wie auch der Kulturen selbst korrespondiert im Leitbild des pluralen Selbst eine Pluralität der subjektiven Kulturbezüge: »den verschie­ densten Kulturen können wir uns hingeben und die eine Kultursphäre aus dieser, die andere aus jener, ja selbst differente Gestalten ein und derselben Sphäre simultan oder successive in uns zu aktualisieren suchen.«995 Das hier bereits anklingende Werturteil für die Pluralität bezieht sich ebenso anthropologisch auf die (breiter entwickelte) Persönlichkeit wie ontologisch auf die (umfassender einbezogene) Welt; Landmann spricht von »dem wohl beanspruchenderen, dafür aber auch zugleich persönlicheren und welthaltigeren Seinsbezug dessen, der in Vertrautheit mit mehreren ihm zugänglichen kultu­ rellen Formen lebt«.996 So sehr aber auch sich dieses Werturteil auch beim Menschen selbst auf einen »Trieb zum Vielessein«997 stützen zu können meint, so fragil ist doch das plurale Selbst in seiner empfindlichen Nähe zur desillusionierenden Relativierung oder Partikularisierung seiner Elemente, dagegen der Monismus des einheitlichen Selbst illusionsfreundlicher anmutet. Das plurale Selbst kann zwar anthropo-logisch vorausgesetzt, muss biographisch jedoch »in schmerzlich gereifter Polyphonie« 998 gestaltet und durch­ gesetzt werden. In der die ›Tragik der Sukzession‹ verschweigenden, simultaneistisch verkürzten Rede vom »Zwei- und Vielseelenmen­ Landmann: EuM, S. 116. Ebd., S. 111. In diesem thematischen Kontext spricht Landmann auch – in der Nachfolge Simmels – von der »inneren Gesellschaft« und einer diese erforschenden »Soziologie der Seele« (DaD, S. 190 f.). 996 Landmann: EuM, S. 112. 997 Ebd., S. 115. Vgl. auch ZaS, S. 59. 998 Landmann: DaD, S. 59. 994

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10.4 Das plurale Selbst als Leitbild und die »polyphrene Lebensform«

schen«999 drückt sich womöglich verborgen der Wunsch aus, um allen Ansprüchen und Möglichkeiten »gerecht werden zu können, nicht ein Mensch, sondern einige, polyphren zu sein.«1000 Genau diese Grundspannung artikuliert sich im oft schon flos­ kelhaft bemühten Terminus einer Einheit der Vielheit, den inhaltlich zu bestimmen umso dringlicher ist als davon die Begründbarkeit eines entsprechenden Bildungsideals abhängt. Die vorausgesetzte Situation des Pluralwesens Mensch ist die folgende: »Auch also wenn [er] sich in einem seiner Charaktere wiederfindet, so findet [er] sich daher doch in ihm niemals ganz wieder. Sie sind weder allgemein genug, um ein Schema, noch konkret genug, um ein Spiegel der vollen Wirklichkeit zu sein.«1001 Wir sehen deutlich, dass die Pluralität in einem als Differenz, genauer: Nicht-Konvergenz, das Problem und als Freiheit den Modus der Problembewältigung hergibt. Hier aber haben wir den Ansatzpunkt für eine Deutung jener berühmten Einheit der Vielheit. Diese nämlich erwächst dem Men­ schen in und aus der Aufgabe der Bewältigung von Pluralität, die dem Individuum auch kulturhistorisch insofern zugrunde liegt, als dessen Autonomisierung derjenigen der Kulturgebiete und -ansprüche folgt. Es besteht keine Einheit, die dann ihre eigene innere Vervielfältigung sekundär integriert und harmonisiert, sondern aus dem ursprünglich Vielheitlichen wächst etwas wie eine Einheit zusammen; aus ihm baut sich eine Einheit auf, die weniger als Substanz, mehr als Prinzip der Organisation und Verteilung der Inhalte und Kräfte vorzustellen ist. ›Einheit‹ ist folglich kein terminus a quo, sondern ein terminus ad quem. Paradoxerweise scheint die Teilung des (noch gar nicht als solches bestehenden) Selbst dessen Vorstellung und Empfinden von Ungeteiltheit und Unteilbarkeit vorauszugehen. Eindrücklich führt Landmann diesen Gedanken auf in einem Referat zu Odo Marquards Lob des Polytheismus: »Die Forderung des einen Gottes gilt nie absolut und exklusiv, weil man auch dem andern Gott dienen muß. Eben dadurch erhält der Mensch die Chance der Freiheit. Er darf eine eigene Vielfalt haben, und das heißt: er darf ein Einzelner sein.«1002 Bereicherndes, klärendes Fremdes; engendes, verdunkelndes Frem­ des: Spricht Landmann hier im theologischen Zusammenhang vom Landmann: EuM, S. 117. Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 103. 1001 Landmann: EuM, S. 94. 1002 Landmann: JM I, S. 224, Anm. 5. 999

1000

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›Dürfen‹, als sei der Mensch begnadigt, Pluralwesen zu sein, so spricht er an anderer Stelle anthropologisch von dessen »Gabe, die Sphäre der mittleren Distanz, in die zu schauen er gewohnt ist, sowohl nach außen, nach dem Fremden, wie nach innen, nach dem Eigenen hin, zu erweitern.«1003 In beiden Perspektiven steht mit dem Pluralen auch das Neue und Fremde in einem sehr hellen Licht, was doppelt kritik­ würdig ist: Erstens ist dieses Werturteil, gleich ob die Entwicklung des Pluralwesens Mensch als Ausfaltung1004, Erweiterung1005 oder Umwandlung1006 spezifiziert wird, getragen von der Unterstellung einer Unvollständigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit, ja eines Unge­ nügens des Selbst. Diese Unterstellung ist, wie bereits zu Beginn der Arbeit gezeigt wurde, für die Bildungsidee als solche grundlegend; dies prominent bei Humboldt, dem zufolge »das Individuum, um die Totalität der Menschheit in sich zurückzuholen, das, was es im Sein nicht darstellen kann, wenigstens im Geist in sich aufnehmen und sich verstehend auch um die anderen Individualitäten ausweiten [muss].«1007 Sie ist trotz ihrer problematischen Implikationen und Konsequenzen jedoch insofern zu befürworten, als »das psycholo­ gisch und durch philosophiegeschichtliche Tradition bedingte Vorur­ teil zuungunsten des Fremden bis heute fort[wirkt].«1008 In diesem Vorurteil wirkt ein »horror alieni«1009 als eher emotional-psychologi­ scher Dimension und eine die Höherbewertung des ›Eigenen‹ mitbe­ wirkende Selektion bestimmter Bezugseigenschaften des Fremden als eher geistig-psychologischer Dimension.1010 Zweitens ist, die ambiva­ lente und vielschichtige Relation und Dynamik zwischen Fremdem und Eigenem selbst betreffend1011, typologisch zu unterscheiden das zerstörende und furchtbare Fremde vom gnädig beschenkenden Frem­ 1003 Landmann: FA, S. 202. Vgl. auch Landmann: Hermeneutik als Übersetzungs­ geschehen, S. 36 f. 1004 Vgl. Landmann: Hermeneutik als Übersetzungsgeschehen, S. 32. 1005 Vgl. Landmann: EuM, S. 110. 1006 Vgl. ebd., S. 112. 1007 Landmann: AgV, S. 199, Herv. F.S. Die Vorstellung menschlicher Defizität trägt sich in der Nachfolge des klassischen Bildungsdenkens auch in formalere Bildungs­ theorien fort und taucht dort modifiziert, aber mit ähnlich starkem Pathos wieder auf, etwa als Identitätskonflikt bei Klaus Mollenhauer (vgl. ders.: Vergessene Zusammenhänge, S. 179, Anm. 17). 1008 Landmann: Plädoyer für die Entfremdung, S. 150, Herv. F.S. 1009 Landmann: EV, S. 183. 1010 Vgl. Landmann: EdI, S. 33. 1011 Vgl. Landmann: EV, S. 172.

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den; und wie »gegen jenes abwehrend und aktiv, so muß er [der Mensch, Anm. F.S.] sich vor diesem hinnehmend-demütig verhalten. Will er gerecht sein, so darf er über der einen Form des Fremden die andere nicht vergessen.«1012 Dem entsprechend und analog zu Landmanns (resp. Toynbees) Überlegungen zum mittleren Challenge übt eine »Reizwirkung des Befremdlichen […] nur aus, was zwischen dem Eigenen und dem neutral außerhalb unserer Welt Liegenden steht, also partiell nicht nur ein Anderes schlechthin, sondern mein Anderes und damit doch auch ein Eigenes, zumindest für uns relevant, für uns da ist.«1013 Ineinander und Dynamik des Fremden und Eigenen: Dies verweist bereits auf das typologisch letztlich nicht einholbare Ineinander von Fremdem und Eigenem und die Dynamik zwischen ihnen. Wie Adam Zurek treffend schreibt, lässt sich Landmanns »Modell des Fremden […] in eine räumliche Komponente (Topik) und eine dynamische (Dialektik) aufsplitten.«1014 Beide Komponenten wirken gewisserma­ ßen zusammen in der ambivalenten Erfahrung, »in der gleichzei­ tig aus Fremdem Vertrautes, aber auch aus Vertrautem Fremdes wird«1015 und in der sich nicht nur sukzessive eine Verschiebung, sondern auch eine räumlich vorzustellende Rekonstellierung und Umschichtung ereignet. »Das scheinbar Nächstliegende und Bekann­ teste zeigt bei genauerem Zusehen ein unbegreiflich fremd anmutendes Gesicht.«1016 Wenn Landmann die Analyse menschlicher Entfrem­ dungen an die des Fremden koppelt, so auch deswegen, um die rein geschichtliche um eine entfremdungstopologische Betrachtung zu ergänzen. Diese ermöglicht, das Sichzeigen und Sichverbergen bestimmter Aspekte des Welthaften und des Menschen – fernab eines teleologischen Modells der Entfaltung des Geistes in der Geschichte – auf die Diskrepanz zwischen ontischer Nähe und gnoseologischer Ferne zurückzuführen.1017 Werden, der man (auch noch) sei? – Grenzen der Pluralisierung des Selbst: Nicht allein mit dem komplexen Ineinander von Fremdem und

Landmann: Plädoyer für die Entfremdung, S. 147. Landmann: EV, S. 171. 1014 Zurek, Adam: Psychologie der Entfremdung. Eigen, fremd, entfremdet. Kröning: Asanger 2007, S. 83 [im Folgenden: Psychologie der Entfremdung]. 1015 Landmann: EV, S. 180. 1016 Landmann: EuE, S. 78, Herv. F.S. Vgl. auch FA, S. 201. 1017 Vgl. Landmann: FA, S. 201. 1012

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Eigenem gehen Grenzen der Anverwandlung1018 des Unbekannten resp. Verfremdung des Bekannten einher. Auch der Charakter selbst – so wenig er Substanz ist und so sehr er sich aus Differentem und Heterogenem aufbaut – bildet »eine jedesmal wieder anders ver­ laufende Grenze, die, wie sie soundsovieles unerbittlich einschließt, ebenso anderes nicht minder unerbittlich ausschließt.«1019 Damit ist nicht allein die mit der »Enge der Wirklichkeit« gegebene Dia­ lektik von Ein- und Ausschluss gemeint, sondern durchaus auch eine insbesondere für pädagogische Fragestellungen wichtige Typo­ logie der Charaktere: Ist tatsächlich, wie Landmann schreibt, »das Nebeneinanderbestehenkönnen gegensätzlicher Haltungen […] eine Teilfrage innerhalb der allgemeineren Frage nach Weite und Enge überhaupt«1020 – so haben wir darin einen Ansatzpunkt für die Kritik am Leitbild des Pluralwesens Mensch. So sehr gerade die Uneinheitlichkeit des Charakters (der menschlichen Psyche) philoso­ phie- und geistesgeschichtlich als Errungenschaft anzuerkennen ist, so wenig stellt dies der Anthropologie einen Freibrief aus, sich in der immunisierenden Deklaration zu bequemen, der Mensch habe nun einmal »sein Auszeichnendes […] darin, ein uneinheitliches, vielleicht sogar ein zerrissenes Wesen zu sein.«1021 Landmann selbst verweist auf die prekäre Möglichkeit, »die Distanz der Mentalitäts­ systeme, die ein Mensch in sich beherbergt, [könne] doch so groß sein, daß sie ohne jede Beziehung bloß nebeneinander koexistieren und der Betreffende dann nicht reicher und weiter, sondern bloß gleichsam bunt zusammengewürfelt erscheint.«1022 Sofern nun die Integration des Heterogenen in das plurale Selbst als ein kreativer bzw. re-kreativer Prozess verstanden werden muss, bezieht sich die Kritik daran notwendig auch auf die Vorstellung menschlicher Krea­ tivität als zentraler Dimension des zugrundeliegenden Menschenbil­ des. Gerade eine Kultur des Pluralismus hat den Gradmesser ihrer Konsistenz und Güte in der Frage, ob sie dem Einzelnen auch die Unfähigkeit resp. Verweigerung gestattet, dem, »wovor […] ihm graut,

1018 1019 1020 1021 1022

Vgl. Landmann: UuS, S. 202. Landmann: EuM, S. 106. Ebd. Landmann: GuL, S. 119. Landmann: EuM, S. 115.

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10.5 Bildung zur Gestalt – Gestalthermeneutik als Phänomenologie des Vorurteils

gleichwohl herzhaft entgegenzutreten und es sich dadurch in ein Inti­ mes umzuschaffen.«1023

10.5 Bildung zur Gestalt – Gestalthermeneutik als Phänomenologie des Vorurteils Von hier aus eröffnet sich die bildungsphilosophische Frage, wie die Einheit der Vielheit als Bildungsideal begründet und zugleich der Blick für die prekären Grenzphänomene der Pluralisierung des Selbst (Zerrissenheit, Partikularität) kritisch offen gehalten werden kann. Die Antwort führt auf die Vorstellung einer Gestalt, d.i. die Form und Erscheinungsweise der Einheit des Vielen. Der Mensch als gestaltsichtiges Lebewesen und die antinominalis­ tische Ontologie: Was wir soeben über die Dynamik von Eigenem und Fremdem sagten, erhält nun eine gestaltphilosophische, dezidiert antinominalistische Fundierung. Die wahrnehmungsphilosophische Annahme lautet, dass Menschen grundlegend »ebenso Relationen und Ganzheiten [wahrnehmen], die zwar genetisch von den Sinnes­ daten aufgebaut werden, für das Erleben aber von vornherein die Rah­ men sind, in welche wir jene hineinstellen.«1024 Die Gestaltsichtigkeit des Menschen ist dabei, und dies ist für den Bildungsprozess äußerst wichtig, in sich ambivalent bzw. paradox: Einerseits lässt sich mit ihr die bereits zu Beginn dieses Kapitels erläuterte menschliche Fähigkeit zur Objektivierung eines Weltelements als dessen Herauslösung aus der engen Umweltbeziehung und neu relationierende Einord­ nung in einen ihm Objektivität verleihenden Rahmen verstehen.1025 Andererseits ist die Gestaltsichtigkeit selbst die Voraussetzung jener Umweltbeziehung insofern sie den Menschen überhaupt Relationen zwischen Elementen sowie deren Zugehörigkeit zu Ganzheiten wie auch zu sich selbst wahrnehmen und erkennen lässt, was ihn selbst Landmann: EuE, S. 230 f. Landmann: Sichtbares und Unsichtbares im Wechselspiel, S. 47. Sehr plastisch sind die von Portmann aufgeführten Beispiele aus dem alltäglichen Welterleben, »in dem ›oben‹ und ›unten‹ Bedeutungsrichtungen sind, nicht indifferente Raumdimen­ sionen – ein Erleben, in dem eine Linie nur dann ›steigt‹ (im Abendlande mindestens), wenn sie von links nach rechts aufsteigt; liegt dagegen der höchste Punkt links, so ›sinkt‹ sie!« (Portmann: Um das Menschenbild. Biologische Beiträge zu einer Anthro­ pologie. Stuttgart: Reclam 1956, S. 55 f.). 1025 Vgl. Landmann: UuS, S. 200. 1023

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überhaupt erst in einer Umweltbeziehung verortet.1026 Die Parado­ xie des pluralen Selbst (der Einheit des Vielen) ist folglich nicht erst geistiges Spätprodukt einer kulturellen Entwicklung, sondern fundiert in der menschlichen Wahrnehmung, die ausgezeichnet ist durch die spannungsreiche Dynamik zwischen partikularen, flexiblen, prinzipiell austauschbaren Elementen und einer »unvertauschbar spezifische[n], die Elemente wieder anders lagernde[n], ja aus andern Elementen bestehende[n] Struktur«.1027 In der Erfahrung, »daß das­ selbe Element im Rahmen der verschiedenen Gestalten […] trotz substantialer Selbigkeit funktionell nicht dasselbe ist«1028 vermitteln sich dem Menschen die Welt und er selbst als eine Vielheit – und zwar nicht eine Vielheit untereinander getrennter Einzelheiten, sondern eine sich aus ›gleichartigen‹ Elementen aufbauender Gestalten. Die Bildungsgeschichte des Einzelnen betreffend, wird so verständlich, wie sogar ein Element, an das wir »vielleicht seit Jahren nicht gedacht haben, plötzlich in einer neuen Situation zum Baustein des Verstehens werden« kann.1029 Die gestaltphilosophische Fundierung des Mensch-Welt-Ver­ hältnisses richtet sich dezidiert gegen eine nominalistische Ontologie und ist wenigstens in diesem Impuls (wie die mit ihr verschwisterte Phänomenologie) als transformierende Wiederaufnahme der Ideen­ lehre Platons verstehbar.1030 »Der ideelle Faktor eines Dinges, das ist eben das, was seinen Aufbau und seinen Umriß ausmacht […]. Man könnte das, was Platon das Ideelle an den Dingen nennt, geradezu als ihre Gestalt, als ihre Struktur angeben.«1031 Die Fähigkeit zur Objektivierung, die man ebenso gut als Gestaltbildung wie auch als Entstaltung verstehen kann, ist eine Idealisierung insofern, als in ihr ein bestimmtes Verhältnis der Elemente, das als ihre Struk­ tur (genauer: als eine ihrer strukturell-konstellatorischen Optionen) kenntlich wird, vom menschlichen Geist aktiv arrangiert wird. Diese Idealisierung geht jedoch von einer ontischen Realität aus und bekun­ det sich in dieser: »Der ideelle Faktor am Ding entspricht auf der Seite des Seins dem, was auf der Seite unseres Verstehens Begriffe 1026 1027 1028 1029 1030 1031

Vgl. Landmann: Sichtbares und Unsichtbares im Wechselspiel, S. 47. Landmann: Der Mensch als Evolutionsglied und Eigentypus, S. 430. Landmann: EuE, S. 110. Landmann: UuS, S. 200. Vgl. ebd., S. 190. Ebd., S. 179.

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10.5 Bildung zur Gestalt – Gestalthermeneutik als Phänomenologie des Vorurteils

und Worte sind«.1032 Nur eine anthropologisch und ontologisch ausgerichtete Doppelperspektive eröffnet ein umfassendes, nicht intellektualistisch verkürztes Verständnis der menschlichen Fähigkeit des Bedeutens, die wie die diesem eingewobenen Verhältnisse des Andeutens, Vordeutens, Hindeutens ihr Äquivalent im Seienden hat: Allenthalben weist das Wahrgenommene selbst […] auf ergänzendes neues Wahrnehmbares hin. »Nur so ist es zu verstehen, daß das Bewußtsein über das wahrhaft Erlebte hinausreichen kann. Es kann sozusagen hinausmeinen.« Die Dinge erscheinen ihm dann nur in bild­ licher Andeutung, perspektivisch verkürzt und abgeschattet, oder sind gar bloß indirekt durch Angrenzung mitgemeint und vorgedeutet.1033

Vorurteil und identifikatorischer Grundtrieb: Die ambivalente Doppel­ funktion des Gestaltsehens für die Mensch-Welt-Beziehung kann analog gesehen werden zur Paradoxie des Bildungsprozesses, in dem sich zeitlich betrachtet Vervieldeutigung (Verfremdung) und Verein­ deutigung (Identifizierung) abwechseln. Einem natürlichen identifi­ katorischen Grundtrieb folgend1034, leben wir »in der Hoffnung, das uns Begegnende möge wieder ein Bekanntes sein.«1035 In eine Para­ doxie führt diese menschliche Grunddisposition, da die Verfremdung von A einerseits zwar ermöglicht, A überhaupt als etwas anderes, z.B. als B zu erwägen und also aus seinem bisherigen Bezugskontext zu lösen, gleichzeitig aber damit A wiederum als B identifiziert und damit nur von einem neuen, wiederum Eindeutigkeit beanspruchenden Bezugskontext eingehegt worden ist. Mehr noch kann, sofern der Geist die fatale Tendenz hat, sich ihm (zunächst) Heterogenes (dann doch wieder) anzugleichen, seine Aktivität sogar eine verschärfte und überdies sich selbst verborgene Verhärtung mit sich führen: »Sein A = B hat wesentlich den Sinn: das nur scheinbar neue A ist im Grunde Gott sei Dank doch wieder lediglich das alte B.«1036 Zum einen hat die geistig-identifikatorische Aktivität ihr Fundament durchaus in der menschlichen Wahrnehmung selbst, wenn wir wie bei sinnlichen Landmann: UuS, S. 188. Landmann: P, S. 310 (Landmann zitiert hier Husserl aus dem zweiten Band sei­ ner Logischen Untersuchungen). Vgl. auch Sichtbares und Unsichtbares im Wechsel­ spiel, S. 47. 1034 Vgl. Landmann: EuE, S. 116. 1035 Ebd., S. 117. 1036 Ebd., S. 118. Vgl. auch EV, S. 206 u. Hermeneutik als Übersetzungsgeschehen, S. 34. 1032

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Erfahrungen »hier wie dort auf etwas stoßen, was der Differenzierung der Bereiche noch vorhergeht« und so konsequenterweise z.B. Lichtebenso wie Tonerlebnisse als ›hell‹ bezeichnen.1037 Zum anderen gibt es neben diesem »weiterbringenden Gleichsetzen […] auch ein solches aus Trägheit […]. Wie oft tun wir zwei Dinge wegen nur partieller und äußerer Ähnlichkeit ins selbe Fach, glauben uns das Novum ohne weiteres mit den Mitteln des schon Besessenen adaptieren zu können«.1038 Diese sehr grobe Typologie der Identifikationsweisen eröffnet einen differenzierten und sozusagen anthropologisch realistischen Blick auf die Funktion und Struktur dessen, was man gemeinhin unter dem Titel Vorurteil verhandelt. Allgemein betrachtet ist das Vorurteil beschreibbar als ein parasitäres Verhältnis zwischen Teil (Gesichts­ punkt) und Ganzem bzw. der Teile untereinander. »Nicht durch ihre Existenz als solche, die durchaus legitim ist, sind die Gesichtspunkte, die den Primat beanspruchen, parasitär, wohl dagegen durch ihre Hypertrophie. Sie wuchern so sehr, daß sie die ganze Beurteilungs­ kraft auf sich allein lenken und aufbrauchen.«1039 Und nicht nur den Leistungen des menschlichen Geistes im Fortschritt der Kultur­ geschichte liegt diese gestalthaft-vorurteilende Struktur zugrunde, sondern auch der ›natürlichen Ökonomie‹ des Lebens: selbst noch die Zuwendung zum unverstandenen Fremden leitet potentiell den »quälenden Vorgang einer drohenden Selbstentwertung ein, den wir – und das ist die ökonomische Funktion des Vorurteils – möglichst noch vor den schmerzlichen oder unlustbereitenden Erfahrungen fast reflexhaft beenden.«1040 Gestaltwandel und Lernfähigkeit: Was lässt sich mit und aus der gestalthaft-vorurteilenden Struktur menschlichen Wahrnehmens, Empfindens, Urteilens, Denkens für das Verständnis menschlicher Bildung gewinnen? Erscheint es angesichts der Ambivalenz seiner entstaltend-gestaltenden Vernunfttätigkeit nicht geradezu notwen­ dig, im Plädoyer für den Menschen und seine Bildsamkeit selbst einem Vorurteil anheimzufallen? Muss man nicht an einen Fortschritt Landmann: DaD, S. 129. Ebd., S. 135. 1039 Landmann: Das Parasitäre, S. 35. 1040 Mitscherlich, Alexander: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. Zürich: Buchclub Ex Libris 1963, zitiert aus: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Quellenbd. 3: Mit anderen zusammen leben. Freiburg/ Basel/Wien: Herder 1986, S. 179 f. 1037

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in der Geschichte glauben, um dem bloßen Gestaltenwechsel etwas entgegenzusetzen? Zumindest erscheint es unter den obigen Voraus­ setzungen naheliegend, den Wechsel der Gestalten, als die die Welt­ dinge dem Menschen und als die erst sich selbst erscheint, antirelati­ vistisch als Entwicklung, Erhellung, Weitung zu begreifen. Erst unter dieser Voraussetzung ist die sich in bloßen Zustandswechseln nicht erschöpfende Zeitlichkeit menschlichen Lebens einbezogen, wodurch der Gestaltbegriff seinen ganzen Sinn, zumal für das Verständnis von Bildung, erfüllt. Paradoxerweise steht nämlich eine rein räumliche Sicht auf die Gestalt der nominalistischen, gegen die sie doch gerade andenkt, insofern verdächtig nah, als in ihr ein echter Gestaltwandel ungesehen bleiben muss, da dieser die Geschichtlichkeit, d.h. das transformierende Aufgehobensein des Alten im Neuen und Anvisiert­ sein des Neuen im Alten, impliziert. Anders gesagt bekommen die Gestalten erst in einer zeitlichen Betrachtung miteinander zu tun, wogegen sie in der reinen Raumschau individuell, aber unverbunden nebeneinander stehen: Begegnet uns nun ein Novum, für das wir noch keine ihm spezifisch zugeordnete Kategorie besitzen, dann bleibt uns zunächst nichts übrig, als es in eine uns schon geläufige benachbarte Kategorie zu fassen. Aber nicht so, daß wir sie, wie sie nun einmal ist, einfach auf den neuen Bereich mit anwenden! Vielmehr erfährt sie von der Sache her eine Dehnung und Ausweitung. Die bisher fest umrissene Kategorie wird nochmals in Arbeit genommen, es werden ihr gleichsam Räume angebaut. Nach einiger Zeit gewöhnt sich dann der Geist daran, daß sie auch diese Dimension umgreift. So vollzieht sich ganz allmählich durch die fortschreitende Anschulung des Ich an die Welt eine Bereicherung und Verfeinerung unserer kategorialen Apparatur.1041

Im (keineswegs selbstverständlichen) Zugeständnis eigener Lernfä­ higkeit gewinnt der Mensch einen produktiven Zugang zu jenem ambivalenten »›Trieb zur Vervollständigung‹»1042 und jener »entstal­ Landmann: DaD, S. 134, Herv. F.S. Landmann: P, S. 289. Streng genommen nur unter der insofern nicht zufällig für die klassische Geschichte des Bildungsdenkens so zentralen Idee und Voraussetzung einer Perfektibilität des Menschen und seiner Geschichte kommen die ambivalenten Mechanismen seines Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Gestaltens als Fähigkeiten, als Vermögen in Betracht. Jetzt ergibt es Sinn, wie Landmann zu schreiben: »Nur dem Menschen gelingt es, die Elemente aus der Gestalteinbettung zu isolieren und sie zu neuen Gestalten zusammenzufügen. Diese Fähigkeit bildet also ein Anthropinon« (Landmann: EV, S. 81; Herv. F.S.). 1041

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tende[n] Vereinheitlichung«.1043 Mit anderen Worten: was hier als Gestalt einem Bildungsbegriff zugrunde- und zum Ziel gelegt wird, ist keineswegs so normativ enthaltsam wie es zunächst erscheinen mag. Die Gestalt wird ebenso grundlegend wie normativ als die für menschliches Leben ›prototypische Form‹ vorausgesetzt; als solche steht sie zwischen den zwei menschlichen Grenzfällen differenznegie­ render und Begegnung verunmöglichender Identität auf der einen und differenznegierender und Begegnung verunmöglichender Relativität auf der anderen Seite. In wenn man so will pragmatischer Manier wird der Unumgänglichkeit des Gestaltsehens und Vorurteilens eine positive Bedeutung abgerungen; und dies ist der ex negativo am Kontrastfall bloßer Relativität gewonnene, tiefere Sinn jener Idee menschlicher Bildsamkeit als dem paradoxen Äquivalent menschli­ cher Limitation. Ja solche Zusammenhänge [zwischen Weltelementen, Anm. F.S.] erschließen sich oft nicht trotz, sondern gerade wegen der weltan­ schaulichen Voraussetzung. Denn jede solche Voraussetzung will sich bestätigen und macht daher für denjenigen Ausschnitt des Weltstoffes sensibel, der sie selbst rechtfertigt. Sie tritt gleichsam mit einer Frage an die Welt heran, und wenn dadurch auch das Gesichtsfeld von vornherein eingegrenzt ist, so ist mit einer solchen Frage immerhin doch auch eine Chance zu tieferem Eindringen gegeben, die dort fehlt, wo überhaupt keine Voraussetzungen vorliegen.1044

Dynamik und Topik der Gestalt, Hermeneutik und Phänomenologie des Vorurteils: Damit aber bezieht die topologische Perspektive auf das Vorurteil einen gegenüber einer nun wiederum allzu historisch-teleo­ logischen Sichtweise kritisch-korrektiven Sinn. Gerade hinsichtlich des Vorurteils ist die »Deskription der Eigenart des Gegebenen, [die] Analyse der geworden-gegenwärtigen Struktur« umso legitimer, als die retro- wie prospektive »Frage nach der Genesis […] oft zu Kon­ struktionen verführt«1045, zu denen auch die Idee humangeschichtli­ cher Perfektibilität gehört. Womöglich verlöre die Rede vom Vorurteil in einem ausschließlich geschichtlich-hermeneutischen Sinne sogar ihren kritischen Stachel, da hermeneutisch betrachtet, das heißt im Rückblick, das Vorurteil ja immer schon durchschaut ist, was nichts anderes meint als dass der Mensch sich als Lernender, der eine 1043 1044 1045

Landmann: DaD, S. 71. Landmann: MSGK, S. 221. Landmann: Geisteswissenschaften, S. 266 f.

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10.5 Bildung zur Gestalt – Gestalthermeneutik als Phänomenologie des Vorurteils

Entwicklung hinter sich hat, begreift. Der topologisch-phänomenolo­ gische Blick dagegen durchschaut das Vorurteil nicht, sondern fokus­ siert derart, dass der Inhalt des Vorurteils gleichsam geschaut wird. Damit greift er genau das, was am Vorurteil stets Urteil, das heißt setzend, im Anschein der Voraussetzungslosigkeit verharrend, welt­ ordnend-absolut, progressiv-thetisch ist, und zwar in seiner ontischen Dimension. Für diese ist radikal geschichtliches Denken standortblind dort, wo es das Standortproblem – übrigens schon in der Bezeichnung ›Standort‹ selbst – auf die Subjektivität des Erkennens reduziert und unbefragt lässt, dass vom Standort aus immer auf Etwas geschaut wird. Dieser sozusagen ontische Aspekt der Intentionalität ist in der Reflexion der Subjektivität des Standorthabens nicht erschöpfend ein­ geholt. Anders gesagt: Das Standortbewusstsein führt aus dem Sehen – und das ist immer ein Sehen-von-Etwas, ein Auf-etwas-Sehen – nicht heraus.1046

1046 Ausgehend von Plessner macht auch Joachim Fischer darauf aufmerksam, dass wir selbst im ›Modus‹ eines Standortbewusstseins aus der Grundproblematik, eine Position geistig-leiblich einzunehmen, einen Standort zu ›vertreten‹, nicht heraus­ kommen, uns gewissermaßen auch in der geistig-imaginativen Versetzung als Leib­ geistwesen mit ›hinübernehmen‹: »Wenn das menschliche Lebewesen sich in der Phantasie von der positionalen Raum-Zeit-Stelle, an der es sich befindet, entrücken lässt, die Raum-Zeit-Stelle überschreitet, dann nimmt es die Matrix des Leibkörpers mit und überträgt dessen Gestalt und Verhaltenszüge biomorphisierend und anthro­ pomorphisierend in die offene Welt« (Fischer: Das Imaginäre, Kreative, Schöpferische, S. 31).

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11. Das Leben als Aufgabe

11.1 Anthropologischer Sinn und Aspekte der Aufgabe Wir haben uns soeben in ebenso fruchtbarer wie unzulänglicher Fokussierung auf den Menschen als ›homo problematicus‹ dessen geistigen Fähigkeiten des Gestaltsehens und Gestaltbildens zugewen­ det und wollen uns nun der von diesen ohnehin nur analytisch trenn­ baren kreativ-praktischen Dimension seiner Weltoffenheit: seiner Lebensgestaltung im Modus der Bewältigung von Aufgaben zuwen­ den. Kann dabei die Aufgabe allgemein als ein praktisch gewordenes Nichtwissen verstanden werden, so geht sie doch über dieses hinaus insofern es jetzt für den Menschen mit der praktischen1047 auch »eine ›ethische‹ Dimension [erhält]. Es wird ihm zur Aufgabe.«1048 Anders, wenigstens schärfer als das Problem stellt sie sich in einer bestimmten Situation, die ihr mit der Offenheit und dem Realitätsgewicht einen erhöhten Ernst verleiht.1049 In Hinblick auf ihren Realitätsernst ist die Gestaltung des Lebens trefflich als nicht ohne eine gewisse »Gewalt­ samkeit«1050 praktikable Bewältigung von Aufgaben verstanden. Von hier aus erscheint Landmanns Philosophie des schöpferischen Kultur­ wesens Mensch geradezu als eine positive Umkehrung jener Zumu­ tung, die ihm im Aufgaben-haben entgegenkommt: »Der Mensch […] findet an sich selbst eine Aufgabe vor, und das ist aber kein Mangel, sondern die höchste Auszeichnung, denn ›wo Gefahr ist wächst das Rettende auch‹».1051 Vgl. Landmann: P, S. 39. Landmann: PA, S. 167, Herv. F.S. 1049 Vgl. Landmann: AgV, S. 92. 1050 Vgl. Landmann: P, S. 34. Landmann verwendet hier wie an anderen Stellen das Bild des Durchhauens eines Gordischen Knotens. 1051 Landmann: Von der Individualanthropologie zur Kulturanthropologie, S. 327 (zitiert wird hier Hölderlin), Herv. F.S. Ähnlich schreibt Hartmann: »Der Sinn des Sollens aber erschöpft sich nicht in der Verwirklichung des Seinsollenden (des Wertes also); das Unerfülltsein und die Aufgabe sind ihrerseits auch sinnvoll – für ein Wesen 1047

1048

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11.1 Anthropologischer Sinn und Aspekte der Aufgabe

Der anthropologische Sinn des Aufgaben-habens ist vielschich­ tig. Zunächst einmal ist die Aufgabe anthropo-logisch betrachtet eine Metapher für die menschliche Grundsituation, auf die der von der Pluralität der Menschseinsweisen zurückfragende Geist stößt: nur als (geschichtlich) viele Lösungen einer (anthropologischen) Aufgabe bilden sie eine Einheit des Vielen. Hier ist die Philosophie des unvoll­ endeten Kreativwesens Mensch auch zu verstehen als verlegene Antwort auf die Frage, wer eigentlich die Aufgaben stellt und warum bzw. mit welchem Recht. Anders, wenigstens schärfer als im Problem vermittelt sich in der Aufgabe, wie Landmann sie versteht, dem Men­ schen seine ihm ›anonym‹ zugemutete Unvollendetheit als schöpferi­ sche Freiheit im Dienst eines Anderen: »Denn es ist das Geheimnis des Schöpfertums, daß es seinen Ernst und seine Tiefe nur solange behält, als es sich noch in Übereinstimmung mit objektiven Gesetzen weiß, als es noch glaubt, gleichsam nur einen Auftrag auszuführen.«1052 Die Grunderfahrung des Menschen, unvollständig und damit von etwas abhängig zu sein, rettet sich in die sekundäre Aussicht, auf etwas hin gestaltbar, ja für dieses da zu sein.1053 In paradoxem Zugleich bedingt die Kontingenz des Menschen seine Aufgabe und wird von dieser zugleich zu überwinden gesucht. Im Anschein der Aufgabe ist die Kontingenz verdunkelt; ist erstere bewältigt, scheint letztere aber wieder auf: »In jedem Haltepunkt verlieren wir uns ebensosehr wie wir uns gewinnen, und daher dürfen wir in keinem beharren,

nämlich, dessen ganze geistige Artung auf Freiheit gestellt, auf Wollen, Einsatz des eigenen Selbst für eine Bestimmung, kurz auf Bewältigung von Aufgaben angelegt ist.« (Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 264) Diese Textstelle Hartmanns lässt die folgende von Hupe getroffene Unterscheidung von Landmanns und Hartmanns Teleo­ logieverständnis mindestens fragwürdig erscheinen: »Besonders wichtig aber ist der Hinweis, daß jeder Mensch Zielbild, Telos, Bestimmung als Aufgabe selber konzipie­ ren und die Mittel zu ihrer Realisierung bzw. Erfüllung selber suchen und ersinnen muß: dies nämlich ist der eigentliche Kern von M. Landmanns Teleologieverständnis; noch einmal: es steht damit in krassem Gegensatz zur Interpretation N. Hartmanns, in der diese Selbstbestimmungskomponente praktisch keinen Platz hat – oder durch ihr Eingebettetsein in die übergeordnete ›Vorsehungs- und Vorbestimmungsideolo­ gie‹ gänzlich ihren Wert verliert.« (Kreativität und Teleologie, S. 122) Ich würde den Fokus anders setzen und Hartmanns hier von Hupe angedeutete Kritik am Sinn- und Telosglauben genau umgekehrt deuten als kritischen Appell an die Sinngebungs- und Sinnstiftungskräfte und -fähigkeiten des Menschen. 1052 Landmann: MSGK, S. 101. 1053 Vgl. Landmann: FA, S. 136 u. Sinnverlust und Eudämonismus, S. 160.

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sondern müssen unentwegt von einem zum nächsten gleiten und aus der Verfestigung in dieses Gleiten wieder zurückschnellen.«1054 Kulturphilosophisch betrachtet besteht die Funktion der Aufgabe für den Vollzug menschlichen Lebens darin, dieses strukturgebend zu rahmen: Was seine Zeit vom Einzelnen »erwartet, tritt nicht als etwas Äußerliches, per accidens, an seine anderweitig schon feststehende Schöpferindividualität heran, sondern baut von vorn­ herein an der Substanz seiner Individualität mit.«1055 Fernab der Vorstellung eines notwendig emanierenden, atomisierten Individu­ ellen schafft Landmann zufolge erst der Auftrag »den Rahmen, in dem sich das [freilich nun umso mehr mystifizierte, Anm. F.S.] innere entfalten kann, ja oft mobilisiert erst er lange Bereitliegendes, das dennoch ohne ihn nicht nach außen gedrungen wäre.«1056 Dieser existenzphilosophisch anmutende Zug in Landmanns Verständnis der Aufgabe findet sich auch, wenn er über deren Funktion für die Selbsterkenntnis schreibt: »Der Mensch kennt sich selbst nicht. Er lebt in (meist beschönigenden) Bildern seiner selbst. Erst wenn er in der wirklichen Situation wirklich handeln muß, bricht sein Selbst durch.«1057 Solche existenzphilosophischen Ausflüge erfordern umso mehr, Landmanns Grundthese vom Menschen als Kulturwesen (das heißt einem Wesen, das auf das Engste verwoben ist mit seiner jeweiligen Umwelt, mit der es letztlich eine ›Einheit‹ bildet) in das Zentrum zu rücken. Im Lichte dieser These gelten solche Ausflüge als kulturanthropologisch unzulässig, erfüllen aber ihre kritische Funktion gegenüber Reduzierungen menschlicher Autonomie auf den Bereich der Erkenntnis.

11.2 Ganzheit, Einheit, Integrität – die Vorstellung vom Leben als »Gestalteinheit«1058 Der insgesamt allerdings problematischen Vorstellung, das Seelische, rein Innerliche sei ein Chaos, das erst durch die von außen herantre­ tenden Aufgaben und ihre Bewältigung Form und Gestalt annimmt, 1054 1055 1056 1057 1058

Landmann: MSGK, S. 76. Landmann: ZaS, S. 93. Landmann: Der rechte Umgang mit dem Schicksal, S. 1269. Landmann: AgV, S. 92. Landmann: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum, S. 543.

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können wir doch einen Sinn abgewinnen, wenn wir sie verstehen als deutenden Umgang mit der zugrundeliegenden Erfahrung von Geschichtlichkeit und Pluralität. Nicht weil der Mensch eine tabula rasa wäre und nicht wüsste, wer er ist, wandelt er sich im Laufe seines Lebens, sondern weil er im Verlauf seines Lebens offensichtlich sich wandelt, können, ja müssen wir ihn sinnvollerweise als ein Wesen verstehen, das ebenso bildsam wie sich partiell verborgen ist. Mit anderen, trivial anmutenden Worten: er ist ein Wesen, dem es eigen und möglich ist, sich eine Vielheit von Aufgaben (im Plural) zu stellen und diese zu bewältigen. Sofern er aber – eben deswegen – auf die Integration seiner eigenen Pluralität zur Einheit dieser Vielheit angewiesen ist, erfüllt die Rede vom menschlichen Leben als Einheit und entsprechend als einer Aufgabe (im Singular) ihren vollen Sinn. Insofern reflektiert sich in der anthropo-logischen Deutung des Menschseins als Einheit der Vielheit das Erleben des Lebens als Einheit i.S. der Zugehörigkeit aller Einzelgeschichten zu einem übergeordneten Zusammenhang und als Ganzheit i.S. der ›Vollständigkeit‹ und Sinngerichtetheit dieses Zusammenhangs.1059 Dualismuskritik und Emergenz: Entsprechend verweist Land­ mann auf den dualismuskritischen Anspruch von Anthropologie als solcher: »Ursprünglicher als die Wechselwirkung von Teilen ist die ihnen gegenüber noch neutrale Ganzheit. Anthropologie ist Anticar­ tesianismus. Sie wird geleitet von der ›regulativen Idee‹ dieser Ganz­ heit.«1060 Trotz aller sonst von Landmann häufig und gern bemühten Kritik am monistischen Denken ist letztlich auch und gerade die moderne Anthropologie, zumal in ihrer dezidierten Opposition zu dualistischen Positionen, selbst eine Spielart des Monismus. Max Scheler eröffnet sie zwar in Gegenwendung gegen einen falschen Monismus dualistisch. Sie erreicht aber den echten – weder naturalistischen noch spiritualisti­ Vgl. Landmann: MSGK, S. 223. Landmann: Anthropologie im Schnittpunkt, S. 76. Wenigstens verwiesen sei hier auf den ›hebräischen Zug‹ dieser ganzheitlichen Mensch- und Weltbetrachtung, auf den Landmann auch selbst hindeutet: »Überall dort, wo die Wissenschaft hinter die griechischen Trennungen, die bereits spezielle metaphysische Vorentscheidungen enthalten, wieder zurückgeht, so wie in der älteren Neuzeit hinter Essenz-Existenz, Substanz-Akzidens, und so wie in der Gegenwart Ausdruckskunde und Psychosoma­ tik hinter Seele-Körper, der Expressionismus hinter Form-Inhalt, Urbild-Abbild, die Physik hinter Materie-Struktur, entsteht daher eine gewisse Nähe zum biblischen Denkstil« (UuS, S. 300). 1059

1060

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schen – Monismus schon bei Plessner. […] Die Lebensform des Men­ schen […] bestimmt ihn ganzheitlich durchgehend vom Intellektuellen bis zum Vegetativen.1061

Positiv gewendet bedeutet der dualismuskritische Duktus der moder­ nen Anthropologie die gestaltphilosophisch inspirierte Vorausset­ zung von Emergenz. Von Emergenz als der These, dass etwas mehr resp. anderes ist als die Summe seiner Teile, spricht Landmann sowohl im ontologischen als auch im anthropologischen Bezug.1062 Ersteren betreffend ist N. Hartmanns Theorem von der »Suigenerität der ontischen Schichten« impulsgebend; ihr zufolge »ist in jeder höheren Schicht eine Anzahl von Elementen der niedrigeren enthalten, aber sie geht niemals in deren Summe auf, ist niemals nur Komplexion aus ihnen«.1063 Was wir oben bereits andeuteten, zeigt hier seinen vollen Sinn: wenn Gestalten sinnvoll als Rekombinationen und -kon­ stellierungen identischer Elemente verstanden werden müssen, diese Elemente aber auch qualitativ selbst (und nicht nur hinsichtlich ihrer Position oder Relation im Gefüge) in neuem Gestaltkontext neue Bedeutungen annehmen, so stellt sich die Frage, woher ihnen die neuen »valeurs«1064 zugespielt werden wenn nicht aus der Gestalt selbst als der übergeordneten, das heißt emergenten Struktur, die weder aus der Summe der Teile sich zusammensetzen noch aus der Analyse ihrer Relationen erschöpfend sich verstehen lässt. Von hier aus bezieht die Rede vom Menschen als dem sich (partiell) verborgenen Wesen präzisen Sinn: ihm werden er selbst und sein Leben deswegen nie restlos durchsichtig, weil beides – das strömende Leben und das deutende Verstehen – einen offenen Horizont hat. In den Gestalten resp. Gestaltungen des Lebens, die ja selbst gleichsam der plurale und soweit ›genaue‹ Ausdruck der menschlichen Offenheit (der »anthropinen Lücke«) sind, ›übersetzt‹ sich diese Offenheit in Emergenz, in Überschüssigkeit, in eine doppelte Gefülltheit der »anthropinen Lücke«. In dem Maße, in dem sich in den konkreten Aufgaben des Lebens dem Menschen etwas von 1061 Landmann: PA, S. 95. Phänomenologisch-kritische Einwände gegenüber der Dualismus-Kritik finden wir bei Hartmann (vgl. ders.: Arnold Gehlen. Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt [Rezension]. In: Kleinere Schriften Bd. 3. Berlin: de Gruyter 1958, S. 390). 1062 Vgl. Landmann: MSGK, S. 230; EuE, S. 125; Geisteswissenschaften, S. 267; FA, S. 13. 1063 Landmann: EuE, S. 54. 1064 Vgl. Landmann: EdI, S. 61.

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Gewicht und Größe des Menschseins (verstanden als im Ganzen und damit eine Aufgabe-sein) mitteilt, das heißt er in seiner Fähig­ keit, Einzelheiten einem sie übersteigenden Emergenten zuzuordnen, angesprochen wird, vermag er, diese Aufgaben mit entsprechendem Einsatz und ›anthropologischem Ernst‹ anzugehen. Diese Form der Mensch-Welt-Beziehung ist bei Landmann nicht erst ein Ideal, son­ dern anthropologisch-phänomenologische Voraussetzung, gleich ob diese sich bewusst gemacht wird oder nicht: »mit unserm gesamten Sein wirken wir in die Welt, und auch die Welt ihrerseits sieht uns in dieser Ganzheit und antwortet auf sie.«1065 Ganzheit: Gerade um den gegenüber einer nominalistischen Fragmentierung des Selbst (und einer dieser förderlichen Kultur) kri­ tischen Sinn einer ›ganzheitlichen‹ Betrachtung begründen und diese gegen das Klischee von Ganzheitlichkeit als mystischer Harmonistik abgrenzen zu können, ist es unerlässlich, sich den Voraussetzungen und immanenten Spannungen der Ganzheitsidee zuzuwenden. Das Verhältnis von Teil und Ganzem ist ambivalent; die Gestalt bereichert das Element und lässt es Anteil haben ebenso wie sie seine Reichweite und Wirktiefe quantitativ und qualitativ einschränkt. Die Gestalt beschenkt das Element unendlich mit Kräften, Funktio­ nen und Bedeutung. Sie hebt es, wie im Sein, so auch durch das Wissen, Glied eines reicheren und stärkeren Ganzen zu sein, über sich hinaus. Hebend aber schnitzt sie es sich zurecht: sie schaltet all das aus ihm aus, was über die bereitgehaltene Fuge, die es füllen soll, hinausragen würde. Sie macht es durch Vereindeutigung ärmer, mordet, indem sie sie unaktualisiert läßt, andere Möglichkeiten, die es sonst gehabt hätte.1066

Für das Element als analytisch im nachträglichen Zerlegen der vor­ gängigen Gestalt vorausgesetztem Baustein dieser Gestalt resp. Form ist es kennzeichnend, selbst insofern ungeformt zu sein als es einzeln ist, dagegen die Rede von einer Form sinnvollerweise das Vorhandenund In-Beziehung-sein von mindestens zwei Elementen bedeutet. Mit der Annahme der ambivalenten, ja zuweilen paradoxen Beziehung der Elemente untereinander positioniert sich Landmanns Ansatz in einer schwer bestimmbaren Mitte zwischen einem Dualismus der Landmann: Der rechte Umgang mit dem Schicksal, S. 1272. Landmann: EdI, S. 245. Einen ähnlichen Zusammenhang besprachen wir in Teil I, Kap. 1 bezüglich der gestaltenden Funktion des Ausdrucks für das ungeformte ›rein Innerliche‹. Vgl. auch Landmann: UuS, S. 109. 1065

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(unvermittelten) Substanzen und einem Monismus der (harmoni­ schen) Einheit, was sich sprachlich verdichtet in seiner häufigen Rede von Polarität resp. Polarisierung (innerhalb eines, wie man ergänzen könnte, Kräftefeldes): »Vom Denken in Ganzheiten kamen wir zum Denken in Polaritäten. Beides ist nah verwandt, denn Ganzheit heißt nicht eo ipso Harmonie.«1067 Die polare Spannung der Elemente ist nun ebenso Faktor wie Produkt bzw. Ausdruck ihrer jeweiligen Flexibilität, ja ihrer ›Tendenz‹ zu Neuverbindung und Rekombination. Von hier aus lässt sich eine weitere Bedeutung der für Landmanns Anthropologie wie auch die Bildungsidee als solche grundlegenden Vorstellung einer »Enge der Wirklichkeit« gewinnen. Das Wirkliche ist nicht eng, weil – wie Platon dachte – es als solches defizitär ist gegenüber der überwirkli­ chen Idee, sondern weil es überhaupt ist, das heißt auch anders sein könnte und genau darin sein Auszeichnendes hat. Nicht allein weil an den zu Bildenden von außen das Verdikt seiner Defizität und der Anspruch seiner Veränderung herangetragen wird, sondern auch weil bzw. indem der sich Bildende in sich einen Spannungs- und Spielraum dessen, was er ist, das heißt in seiner Wirklichkeit eine Möglichkeit, genauer: seine Wirklichkeit als Möglichkeit und damit sich als einen Wandelbaren entdeckt – ereignet sich seine Bildung. Sie nimmt pro­ duktiv Anstoß am Problem der Zeitlichkeit, die insofern als eng bzw. einengend erlebt wird, als das in einem Moment gleichfalls Mögliche nicht zugleich mit dem tatsächlich Verwirklichten aktualisiert sein kann. »Indem wir uns die Mannigfaltigkeit anderer Möglichkeiten des Lebens und des Geistes vergegenwärtigen, weiten wir unsere subjektiv-zufällige Enge und nehmen dasjenige, was wir im Sein nicht verkörpern, wenigstens teilnehmend und mitfühlend in uns auf.«1068 Sofern für die Verwirklichung als solche kennzeichnend ist, dass aus einem »größeren Komplex von unausschöpfbaren Möglichkeiten«1069 ›für den Moment‹ genau eine, dann sogleich sich wieder multipotent und flexibel öffnende Option gewählt wird, ist Verwirklichung per se Vereinseitigung. Dass der Mensch sie aber als solche zu erleben, ihr einen produktiven Sinn zuzusprechen und sie so auch das Leiden an ihr geistig wie gestaltend zu mildern vermag, zeugt davon, dass am Grunde der verengenden Wirklichkeit eine Fülle der Wirklichkeiten 1067 1068 1069

Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 277. Landmann: Der Mensch als Herr und Opfer der Geschichte, S. 253, Herv. F.S. Landmann: PuA, S. 50.

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liegt, für deren Sinn und Recht einzutreten ein zentraler Impuls der klassischen Bildungsidee ist. An dieser Stelle verstrickt diese Idee sich in ihren schärfsten, unhintergehbaren Selbstwiderspruch, der darin besteht, den Menschen als das Wesen zu denken, das erst noch wird, was es schon ist; das also in Gestalt der Wirklichkeit, die es schon und als die es immer bereits Mensch ist, doch noch nicht – und hier eben wird es brenzlig – in vollstem Sinne ganzer Mensch ist. Durch historische Bildung vor allem erheben wir uns der klassischen Bildungsidee zufolge »über die starre Begrenztheit unseres zufälligbesonderen Standorts und werden erst zu vollen Menschen.«1070 Dieser Widerspruch durchzieht Theorien, die den Menschen als sich geschichtlich entfaltendes und geistig vervollständigendes Wesen denken ebenso wie bildungskritische und postmoderne Theorien, die Bildung als ein Offenhalten für die Option (oder Verwirklichung) des Anderen, Differenten, Nichtidentischen usw. präsentieren; er tritt hier wie dort in Erscheinung als Paradoxie zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, die darin besteht, dass alles Wirkliche zugleich Ausdruck wie Ausschluss von Möglichem ist. Der spezielle kritische Sinn einer Idee vom ganzen Menschen in Landmanns Verständnis erhellt sich vollständig erst vom Grenzfall eines gefürchteten, durch abstrahierend-zerlegende Vernunfttätigkeit real drohenden (Wieder-)Zerfallenkönnens ursprünglicher Ganzhei­ ten in unverbundene Entitäten und Aktivitäten aus: »Anschauung des Individuellen bildet tiefer als das Denken des Allgemeinen. Indem sie vieles, verschiedenartiges Individuelles einbegreift, run­ det ihre Universalität die zersplitterten und vereinseitigten Kräfte wieder zur Totalität.«1071 Wenn im Bildungsdenken des 18. u. 19. Jahrhunderts die Totalität von Mensch und Geschichte durchaus als sich inhaltlich vervollständigende und teleologisch abschließende Humanität vorgestellt ist1072, so ergibt sich mit Landmanns pluralis­ tischer Anthropologie eine ebenso subtile wie folgenreiche Akzent­ verschiebung, die deutlich macht, dass Bildung mit ihm nicht als abschließbarer Prozess, sondern als sich punktuell ereignend, als prozessuale Struktur bestimmter menschlicher Erlebnisweisen sowie Welt- und Selbstverhältnisse zu verstehen ist: »Es ist das Wunder und Geschenk des Verstehens, daß wir uns auch in das einfühlen 1070 1071 1072

Landmann: UuS, S. 203. Vgl. auch DaD, S. 204, Anm. 8. Landmann: JM I, S. 74. Vgl. Landmann: AgV, S. 199.

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können, was wir selbst nicht sind und nie sein werden, und daß so das Ich in der Berührung mit Daseinsformen des Fremd-Ich noch in eine reichere Ganzheit wächst.«1073 Hier ist die klassisch-idealistische Vorstellung von Bildung realistisch mit ihren Grenzen vermittelt und überdies originell variiert insofern nicht mehr das Subjekt die Welt in sich aufnimmt, sondern – und dies ist der tiefe synthetische Sinn einer ebenso kreativitäts- und ausdrucksphilosophischen wie kulturanthropologischen Fundierung von Bildung – als Teil der Welt selbst an Aspekten der dieser teilhat und an solchen, die es ›nicht ist‹, in diese hineinwachsend teilgewinnt. Um es so zu sagen: der mit dem Stolz des Vernunftindividuums verschwisterte Stolz des klassischen Bildungsbürgers, die Welt geistig in sich aufzunehmen und abzubilden, ist produktiv gebrochen in Landmanns Philosophie von Kultur, mit der der Mensch ursprünglich »eine Einheit bildet und die in sich [und außer sich, Anm. F.S.] wiederholend er erst ganz wird.«1074 Einheit: Stärker als in der Vorstellung von Ganzheit, in der das Element auf die Vollständigkeit der Totalität hin, als ›Durchgangs­ punkt‹ eines teleologischen Prozesses seinen Sinn bezieht, ist mit der Vorstellung von Einheit ein strukturaler Zusammenhang des Vielheitlichen gemeint, der durch das Fehlen eines Elements nicht etwa nur unvollständig bleibt, sondern als solcher seine Form, seinen inneren Zusammenhalt verliert bzw. modifiziert. Als heuristische Kategorie steht Einheit zwischen einem Atomismus unverbundener Elemente und einem Monismus des Seins: »Alle gedachte Einheit ist nur in der Welt, nicht die der Welt. Nirgends habe ich das, immer nur ein Sein.«1075 Im Sinne der Schichtenontologie ermöglicht sie, ein Seiendes zugleich in seiner Eigentümlichkeit (als Einheit für sich) wie in seiner Einbezogenheit (als Element einer anderen Einheit) zu begreifen.1076 Dabei lassen sich unterscheiden eine eher räumliche Perspektive, die fokussiert, wie ein Sachverhalt »sich in Landmann: EV, S. 176, Herv. F.S. Vgl. außerdem EuM, S. 113. Landmann: Der Mensch als Evolutionsglied und Eigentypus, S. 439. 1075 Landmann: P, S. 388. 1076 Vgl. dazu Landmanns Überlegungen zum ›synthetischen‹ Welt- und Menschen­ bild seiner Zeit: »Die (auch hierin der Goethezeit verwandte) Gegenwart sucht, nach­ dem sich die Aufregungen der Abstammungslehre gelegt haben, beides zu verbinden: wie sie den Menschen selbst auf nichtnaturalistische Weise als Einheit faßt, so stellt sie ihn in die Einheit der Natur hinein, ohne deswegen seine Einmaligkeit und Son­ derstellung preiszugeben« (PA, S. 124). 1073

1074

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ganzer phänomenaler Reichhaltigkeit, als Einheit von den Momenten seiner Bedeutsamkeit her gliedert«1077 von einer (im Fokus) eher zeitlichen Perspektive, wobei die Zeitformen des Menschen gerade nicht linear, sondern als »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« in Betracht kommen.1078 Ist die Einheit, wie wir sahen, stets eine Einheit der Vielheit, so bedeutet die Einheit von Mensch und Kultur als solche eine Pluralität kultureller Formen und Funktionen: »Die Kultur wäre nicht ohne den sie vollziehenden Menschen. Aber ebenso wäre er nichts ohne sie. Wie er an ihr, so hat sie an ihm eine unabtrennbare Funktion. Nur künstlich lassen sich aus dieser Einheit die beiden ineinandergreifen­ den Glieder herauslösen.«1079 Wir sehen nun, dass in der Doppelthese vom Menschen als Kulturwesen und von Kultur als Pluralität der formal-anthropologische (monistische) mit dem kultur-phänomeno­ logischen (pluralistischen) Anspruch vermittelt ist. Die Trennung von Mensch und Kultur ist dabei ebenso analytisch problematisch wie ihre Homogenisierung synthetisch unzulässig. Das eine Mal fassen wir die Kultur gleichsam als ein nach außen gelagertes Organ des Menschen, das andre Mal fassen wir den Men­ schen nur als den Konkretisator und als das ausführende Organ der Kultur. Vielleicht sind die beiden einander viel heterogener. Aber bei aller Heterogenität ist der Mensch in seinem gesamten Bau auf das umhüllende Medium der Kultur hingeordnet, er ist in sie gewisserma­ ßen ähnlich eingebettet wie der Fisch ins Wasser und der Vogel in die Atmosphäre.1080

Bräuer: Pädagogisches Denken als konkretes Denken, S. 9, Herv. F.S. Vgl. Simmel: Das individuelle Gesetz, S. 208 f. Als Idee geht die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen mindestens bis auf Hegel zurück, wurde prominent von Bloch und Reinhart Koselleck unter diesem Begriff gefasst. 1079 Landmann: PA, S. 187. Vgl. auch: FA, S. 46; PuA, S. 33; EdI, S. 211. 1080 Landmann: Individualanthropologie zur Kulturanthropologie, S. 331 f. Vgl. Sim­ mel: »Man hat das Werkzeug schlechthin als die Verlängerung der Hand oder der menschlichen Organe überhaupt charakterisiert. In der Tat: wie für die Seele die Hand ein Werkzeug ist, so ist ihr auch das Werkzeug eine Hand. Daß aber der Werkzeug­ charakter Seele und Hand auseinanderschiebt, verhindert nicht die innige Einheit, mit der der Lebensprozeß sie durchströmt; daß sie außereinander und ineinander sind, das eben macht das unzerlegbare Geheimnis des Lebens aus. Dies aber greift über den unmittelbaren Umfang des Leibes hinaus und bezieht das ›Werkzeug‹ in sich ein; oder vielmehr, Werkzeug wird die fremde Substanz, indem die Seele sie in ihr Leben, in den Umkreis, den ihre Impulse erfüllen, hineinzieht« (Der Henkel. In: Ders.: Das individuelle Gesetz, S. 98). 1077

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Landmanns häufig topologische Metaphorik ist nicht zufällig, weil sein Kulturbegriff sich ja gerade von einer zeitlichen Vorstellung abgrenzt, bei der die Kultur des Menschen zu seiner Natur nach­ träglich erst hinzukomme. Wenn er etwa schreibt, wir Menschen seien »wie Halbreliefs, die bei aller heraustretenden Konturiertheit dennoch von hinten her gehalten bleiben und übergehen in einen interindividuellen Untergrund«1081, so meint dies nichts weniger als dass wir Menschen ebenso wie unsere zeitliche Ausdehnung in Form unserer Geschichte auch unsere räumliche Ausdehnung in Form unserer in Schichten und Kreisen vorzustellenden Struktur sind. Auf diese Weise ergänzt Landmann ein Geschichtsparadigma, das den Menschen eng an sein genealogisches Herkommen bindet, um eine räumlich-strukturbezogene Perspektive. Diese ist insofern radikal als ihr die Kultur des Menschen nicht allein als (problematisch) hinzukommende Prägung einer – häufig mehr verschwiegenen als zugestandenen – Substanz des ›eigentlichen‹ Menschen, sondern als genuiner Aufbau- und Haltefaktor jeglichen Menschseins in Betracht kommt. Als ›Durchgangspunkt für Objektives‹ ist der Einzelne nicht nur an bzw. um eine Zeitstelle, sondern auch an bzw. um einer Raumstelle situiert, das heißt an bzw. um einen zeitlich-räumlichen Schnittpunkt; und dies nicht nur quantitativ, sondern als eine emer­ gente Qualität, die vielleicht als eine Art Verdichtung von Quantitäten denkbar ist. Indem die Kulturalität des Menschen tiefer gesehen ist, ver­ schärft sich auch der kritische Sinn einer entsprechenden Anthro­ pologie, die gerade weil sie die faktische und funktionale Einheit von Mensch und Kultur analytisch-realistisch in den Blick nimmt, auch ihren monistischen und harmonistischen Einheitsanspruch nor­ mativ-kritisch zu betrachten vermag. Der bildungskritische Sinn einer Vorstellung von Kultur als Pluralität (und Antinomie) besteht darin, ebenso ernsthaft wie rhetorisch zu fragen: »Woher dieses Ideal der einheitlich geschlossenen Persönlichkeit?«1082 Weder das menschlich reichhaltigere und spannungsreichere Erleben noch die vielseitigen Ansprüche der Kulturbereiche lassen sich mit diesem Ideal von Har­ monie und Identität vollständig vereinbaren. Indem es die Kräfte des Einzelnen überspannt, verengt sich im Ideal subtil der Bereich der von ihm einbezogenen Aspekte der Welt und seiner selbst auf jene, die das 1081 1082

Landmann: MSGK, S. 20. Landmann: EuM, S. 107.

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11.3 Integration zur Gestalteinheit – Desintegration zur Person

– unbemerkte, doch wirksame – Maß an Harmonisierbarkeit nicht überschreiten. »So ergibt sich hier von demjenigen aus, was man den Platonismus des Subjekts nennen könnte, das wie eine Idee erscheint, an deren Gepräge auch alle seine Taten Anteil haben müssen, notwen­ dig eine gewisse Verengerung der aufstellbaren Vorbilder.«1083 Von hier aus wird die formal-anthropologische Einheit des Plu­ ralwesens Mensch als kritische Transformation des Persönlichkeits­ ideals klassischen Bildungsdenkens verständlich. Die Orientierung an der die Pluralität verengenden oder gar verunmöglichenden Ein­ heitsidee, sei es »das Eine Heil der Kirchen« oder »das theologisierte Eine Wahre der Vernunft«1084, wird ebenso fallen gelassen wie die Rückbindung der Bildungsidee an eine Kontinuitäts- und Einheits­ vision des sich Bildenden gelöst. Die Verlegenheit philosophischer Anthropologie besteht darin, dennoch die Einheit des Menschen nicht zerfallen lassen zu wollen und sie so abstrahierend in die formale Bestimmung des Menschen als Kreativ- und Kulturwesen hinüber­ zuretten. Es wirkt fast ein wenig unverschämt, wenn Landmann im Folgenden den dezidiert kritischen Impuls seiner Frage sogleich wieder zurückzunehmen scheint: Bricht aber damit nicht geradezu die Einheit des Menschseins ausein­ ander? Sie tut es nicht, denn worin wir variieren, das ist nur das Inhaltliche, wozu wir uns jeweils schaffen. Darunter aber verbirgt sich doch etwas wie ein perennierend-konstantes Wesen des Menschen, wenn auch dieses Wesen freilich mehr nur in einem formalen Prinzip besteht: es besteht eben in der Aufgabe und in der Fähigkeit des Sich-schaffens selbst.1085

11.3 Integration zur Gestalteinheit – Desintegration zur Person Die Ambivalenz von Landmanns Kulturbegriff, den Menschen als Einheit der Vielheit, menschliches Leben als eine sich in viele Aufga­ ben ausgestaltende Aufgabe zu fassen, führt auf ein ambivalentes Landmann: EuM, S. 108. Es ist wenig verwunderlich, dass und wie eng das (neu-)humanistische Bildungsdenken an das Ideal des antiken Menschen resp. der antiken Kultur geknüpft war – ja in seiner Vorstellung von Vervollkommnung, die es umgekehrt aus diesem Ideal bezog, notwendig geknüpft sein musste. 1084 Landmann: MSGK, S. 67. Vgl. auch UuS, S. 148. 1085 Landmann: MSGK, S. 26. 1083

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11. Das Leben als Aufgabe

Verständnis von Bildung als Integration zur Gestalteinheit und als Desintegration zur Person. In der Integration zur Gestalteinheit ist grundlegend die mensch­ liche Fähigkeit bezeichnet, zunächst heterogen und nicht zugehörig Empfundenes dem eigenen Selbstbild einzuordnen, wie es etwa in der bedeutungs- und sinnstiftenden Verdichtung von nüchtern betrach­ tet unzusammenhängenden Ereignissen und Erfahrungen zu einer mehr oder weniger einheitlichen Lebensgeschichte geschieht. Das ist bereits bei jedem ›teleologisch‹ verfassten Lebenslauf der Fall, der alles scheinbar Nebensächliche des eigenen Herkommens zugunsten einer externen Norm, nicht zuletzt aber für den Schreiber selbst abschneidet und ausscheidet. Landmann verdeutlicht es seinerseits am Extremfall der nachträglichen Integration eines Unglücks: »Ich integriere es in meine neue, durch es mitbedingte Ganzheit. Als deren Auslöser, als Ferment meiner Kreativität, die sonst vielleicht brach gelegen hätte, kann ich es nachträglich indirekt sogar beja­ hen.«1086 Fernab eines idealistisch-konstruktivistischen Dualismus, der das einheitliche Ich als Geist vom Leben als fragmentierender Materie trennt, sieht Landmann in der Nachfolge Simmels die Flexibi­ lität des ganzheitlichen Geistlebewesens Mensch, dem sich das Leben in seinen kontingenten Inhalten und Faktoren nicht allein äußerlich auferlegt. Vielmehr ist es ausdrücklich sein Schicksal soweit er auf die von außen erhobenen Ansprüche schöpferisch zu antworten vermag und also tatsächlich selbst real ein anderer wird. Die Gestalt hat nun ihre paradoxe Funktion und ihren Sinn gerade darin, die in Spannung stehenden Elemente doch integriert sein bzw. dem Geist so erscheinen zu lassen: »Von außen scheint das Gefüge harmonisch und friedlich, innerlich hält es sich nur gegen Spannungen aufrecht.«1087 Die Gestalt hält sich, wie man genauer sagen müsste, als Span­ nung aufrecht, was vielleicht ein anderer Ausdruck dafür ist, dass die sich zu ihr konstellierenden Elemente Verwirklichungspotenziale enthalten, die sie in dieser Gestalt nicht (erschöpfend) zu aktualisieren vermögen. Die daraus sich motivierende »Rebellion der Teile gegen ein Ganzes, das sie von vornherein unter ein bestimmtes Vorzeichen stellt, das sie lenken will, das sie schwächt« ist Voraussetzung und Faktor jener Desintegration, die wir bereits als die entstaltende Leis­ tung menschlicher Vernunft erläutert haben. »Die Elemente sprengen 1086 1087

Landmann: Berliner Rückblenden, S. 684. Landmann: EdI, S. 245.

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11.3 Integration zur Gestalteinheit – Desintegration zur Person

die umklammernde falsche Form, um sich in ihrer ursprünglichen Reinheit selbst erst zu finden.«1088 Für Landmann steht sie nicht vor allem als Vernunftleistung, sondern in Hinblick auf ihre plu­ ralitätsbefördernde Wirkkraft im Fokus – dies ist genau der Sinn seiner kreativitäts- und damit pluralitätsphilosophischen Wendung im Verständnis menschlicher Vernunft. Unter dieser Voraussetzung und eingedenk der Anerkennung gerade der die Persönlichkeit wei­ tenden Uneinheitlichkeit des menschlichen Charakters1089 lässt sich dem Begriff der Person resp. Personalität ein Sinn abgewinnen1090, der sehr nah an jener etymologischen Bedeutung von Person als Maske, durch die das Individuum hindurchtönt (personare), und in diesem Sinne dann als Rolle, liegt. In diesem Verständnis zeichnet die Person (Personalität) gerade nicht das aus, was als substanzieller Rest ›übrig bleibt‹, wenn man vom Menschen seine Rollen, Funktionen und Wandlungen subtrahiert, sondern gewissermaßen umgekehrt die Eigentümlichkeit, in und mit der er die innere Pluralität, die er faktisch (als Kulturwesen) ist und die sich u.a. in seinen Rollen, Funktionen und Wandlungen zeigt, gestaltend arrangiert und so – sie ebenso vor dem Zerfall in einen Relativismus unverbundener Identitätspartikel wie vor einem eingleisigen Monismus rettend – in einer spannungsreichen Mitte erhält. Im Personbegriff ist so das ambivalente Verhältnis von Individualität als Unteilbarkeit und Ungeteiltheit des Menschen auf der einen und durch Desintegration motivierter und bewirkter Pluralisierung auf der anderen Seite nicht nur berücksichtigt, sondern zum Ausdruck gebracht. Desintegration zur Person bezeichnet die Gestalteinheit des Vielfachmenschen als Ziel, Wert und Aufgabe. Sie nimmt produktiv Anstoß an der desinte­ grierenden Pluralisierung, greift metaphysisch utopisch zurück auf die Idee (der Einheit) des Individuums und geschichtlich utopisch voraus auf die Idee (der Einheit) des Pluralindividuums.

Landmann: EV, S. 112. Vgl. Teil II der vorliegenden Arbeit. Vgl. Landmann: EuM, S. 106. 1090 Dies lässt sich verstehen als Reaktion auf die kritischen, m.E. jedoch am Kern von Landmanns Konzeption einer Kulturanthropologie vorbeigehenden Bemerkungen, die Vincent Berning in seiner Bezugnahme auf Michael Landmanns Kulturanthropo­ logie vorbringt (vgl. Berning: Die Idee der Person in der Philosophie. Ihre Bedeutung für die geschöpfliche Vernunft und die analoge Urgrunderkenntnis von Mensch, Welt und Gott. Philosophische Grundlegung einer personalen Anthropologie. Paderborn.: Schöningh 2007, S. 139). 1088

1089

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11. Das Leben als Aufgabe

11.4 Bildung zur Freiheit kultureller Konkretion Von diesem Doppelziel von Bildung aus lassen sich nun rückfragend anthropologisch-ontologische Voraussetzungen, Erlebnismodi und Strukturmomente des Bildungsprozesses bestimmen. Die kreative Bildung des Pluralwesens Mensch hat dabei in der Freiheit kultureller Konkretion ebenso ihr Ziel wie sie »aus der unendlichen Fülle der Konkretion«1091 ermöglicht wird. Streben und Bewegung, Nichterreichen und Fülle: Dem bereits im 1. Kapitel dieser Arbeit erläuterten Streben als einer anthropologi­ schen Voraussetzung menschlicher Kreativität korreliert ontologisch die Bewegung, deren Primat-Status sich jedoch geistesgeschichtlich erst gegen die Ontologie des einen sich gleichbleibenden Seins durch­ setzen musste. Mit der »Einsicht, daß das statische Bild der Welt, wie unsere eng konfinierte Eigenerfahrung es uns zeigt und in dem alles sich gleich bleibt, trügerisch ist und daß in Wahrheit dauernde Bewegung und Umgestaltung stattfindet«1092 geht nun für den Men­ schen folgenschwer einher, dass kein Seiendes dem Sehnen der Seele »im Tiefsten Genüge tun [kann], sondern ein Rest unüberbrückbarer Fremdheit bleibt immer zurück.«1093 Die menschliche Unvollendung bezieht zeitlich betrachtet den Sinn, dem Menschen das Sein der Welt und seiner selbst im Denken und für die Gestaltung offen zu halten. Läge dagegen »die Vollendung ewig im Kern der Dinge, so muß sie nicht mehr als eine zukünftige erhofft und geschaffen werden.«1094 In eher räumlicher Perspektive wird das menschliche Nichterreichen als Inadäquatheit, als Qualitätswechsel verstehbar: »Denn der Übergang vom Begehren zur Erfüllung vollzieht sich nicht auf der gleichen Ebene. Mögen sie sich im Gehalt kongruent sein, aber als heterogene Seinsmodi berühren sie sich nie. Sie sind gleichsam derselbe Stoff in verschiedenen Aggregatzuständen.«1095 Ähnlich leitet N. Hartmann die Unmöglichkeit ›reiner‹, d.h. ausschließlich-abschließender Sinn­ gebung in der Geschichte ab aus »der Inadäquatheit zwischen der Aufgabe und dem grundsätzlichen Können des Menschengeistes im

1091 1092 1093 1094 1095

Landmann: EuE, S. 122. Landmann: PA, S. 134. Vgl. UuS, S. 104 u. EuE, S. 199. Landmann: EuE, S. 217. Landmann: EdI, S. 160. Landmann: PuA, S. 165.

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11.4 Bildung zur Freiheit kultureller Konkretion

Weltgeschehen«1096, die ihm in seinen wechselnden Aufgaben konti­ nuierlich eine Fülle verschiedener Sinngebungsoptionen eröffnet. Enttäuschung und Resignation, Überraschung und Staunen: Von hier aus werden die Enttäuschung (mit ihrer prekären Grenze der Resignation) und die Überraschung (mit ihrer kündenden Grenze des Staunens) als grundlegende Erlebnis- und Reaktionsweisen in der Mensch-Welt-Beziehung verstehbar. Beide entspringen der Erwar­ tung als einer spannungsreichen Relation, beide ›realisieren sich‹ als Verfehlung (Unterbietung oder Übertreffung) des Erwarteten. Unmissverständlich verweist Landmann auf die lähmenden Gefahren wie kreativen Chancen menschlichen Enttäuschtwerdens: Jeder muß also durch Täuschung und Enttäuschung hindurch. Darin liegt Gefahr: sie können ihn zerbrechen oder zumindest ein lähmen­ des Trauma in ihm hinterlassen, können nicht wiedergutzumachende Definitivitäten setzen. Besteht er aber die Gefahr, dann geht er als ein anderer aus ihr hervor. Er wird jetzt als ganzer seiner Verantwortung bewußter, wird dünnhäutiger sein, wird die Sprache der günstigen und ungünstigen Vorbedeutungen besser verstehen.1097

Anthropologisch betrachtet erscheint die Enttäuschung als psycholo­ gisches Äquivalent zur bereits erläuterten Flexibilität des Geistes wie auch der Weltdinge und ihrer wechselseitigen Verbindungen; im Erleben von Differenz als Anders-sein-können entbehrt der Mensch zwar des Für-sicher-und-wahr-Vermeinten, gewinnt aber darin zugleich eine erhöhte Sensitivität für seinen Wert als eines Immerhin-temporär-Bestehenden, dessen Fragilität seinen kreativen Einsatz fordert. »Erst die mit dem Entbehren verbundene Bewußtheit erzeugt so sekundär eine Bewußtheit des Habens. […] Erst auf der Folie der Krise werden wir sensibel für die Gnadenfülle des Stabilzu­ standes.«1098 Dieses ambivalente Verhältnis bleibt für den Menschen eine beständig neu zu bewältigende Aufgabe, die ihn kontinuierlich sich vorfinden und wandeln lässt in einem »Überraschungsfeld, das

1096 Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 277. Vgl. auch Landmann: PuA, S. 166. 1097 Landmann: AgV, S. 111. Vgl. auch die Überlegungen Norbert Hinskes in seinem Text Glück und Enttäuschung in dess.: Lebenserfahrung und Philosophie. StuttgartBad Cannstatt: frommann-holzboog 1986, S. 82 [im Folgenden: Glück und Enttäu­ schung]. 1098 Landmann: Kulturbewusstsein, S. 101.

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11. Das Leben als Aufgabe

er durcharbeiten und sich verfügbar machen muß.«1099 Der Anspruch philosophischer Anthropologie an den Menschen besteht insofern in nichts geringerem als darin, dieser Zumutung einen positiven Sinn abzugewinnen, das heißt sich vom Überraschtsein in ein Staunen verführen zu lassen. Dieses kann sinnvoll verstanden werden als geistig-emotionale Sublimierung des affektiveren Überraschtseins. Stärker als in der Überraschung und Enttäuschung, wo die Inadäquat­ heit von Erwartung und Erfüllung mit vollerer Wucht und freilich ver­ schiedener Valenz wirkt, wo entsprechend das Mensch-Welt-Gleich­ gewicht ›empfindlicher gestört‹ ist, wird im Staunen die Sensitivität für die Differenz mit einer Empfänglichkeit für die sie bedingende hintergründige Konstanz vermittelt. Gäbe es nichts Bleibendes als Beziehungspunkt, das Werden würde in seinem Anderssein gar nicht hervortreten. So aber hoffen wir einerseits dauernd auf etwas Konstantes; da sich aber diese Hoffnung andererseits nie […] auf eine bestimmte, sondern nur ganz allgemein auf Konstanz gleichviel welcher Art richten kann [das heißt: da wir nie präzise wissen, was wir hoffen, Anm. F.S.], so werden wir selbst auch dann, wenn sie in Erfüllung geht, da die genauere Form dieser Erfüllung eben doch nicht vorauszusehen war, gleichwohl […] überrascht und in unserem Glauben an etwas Regelhaftes enttäuscht.1100

Bildsamkeit und Kulturalität: Im Staunen haben wir eine zentrale Erlebnisweise freigelegt, die der meist implizit bleibenden positiven Valenz (in) der Idee menschlicher Bildsamkeit korrespondiert. Dass das »Ineinander von Undurchbildetheit, Bildsamkeit und Auftrag des Sichbildens«1101 auch bei Landmann nicht nur ein formales Anthropi­ non, sondern eine normative Aussage darstellt, verrät sich (subtil) in der engen Kopplung von Kreativität und Freiheit: »Soweit Anthropo­ logie aber doch positive Aussage ist, so läuft diese darauf hinaus, daß der Mensch über eine noch höhere Freiheit verfügt als er bisher schon von sich glaubte. Er ist nicht nur frei zu Gut und Böse, zu dieser oder jener Entscheidung: er ist frei zu seiner ganzen Seinsform.«1102 Diese Landmann: PA, S. 152. Landmann: GuL, S. 146, Herv. F.S. 1101 Landmann: PA, S. 194 f. Vgl. außerdem UuS, S. 183: »Das letzte Festlegbare an der Menschheit ist ihre Plastizität, vermöge deren sie immer wieder ein Neues aus sich selbst herausmodeln kann«. 1102 Landmann: FA, S. 44, Herv. F.S. Vgl. ebd., S. 256: »Schöpferisch aber kann der Mensch nur sein, weil er ›zur Freiheit organisiert‹, weil Freiheit die ›Achse‹ des 1099

1100

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11.4 Bildung zur Freiheit kultureller Konkretion

Sichtweise steht nicht in Widerspruch zur Grundthese vom Menschen als kulturgeprägtem Wesen; sie wurde vielmehr der Frage, »wie sich aus der vollen Einsicht in die vielfältige Abhängigkeit des Menschen die Lehre von der Freiheit der Entscheidung modifizieren muß und welches der Raum der Freiheit bleibt«1103 positiv, das heißt zugunsten der Freiheit des Menschen abgerungen. Landmanns Philosophie des kreativen Kulturwesens Mensch ist durchaus zu verstehen als Ver­ such, dessen Freiheit nicht nur tiefer zu verankern, sondern auch brei­ ter zu fächern – in einer mit der Typologie der Vernunft vermittelten Typologie der Freiheit, die sich wenigstens andeutet, wenn er schreibt: »Vernunft ist wie Originalität auch Modellierbarkeit. Nicht allein in der schaffenden Freiheit liegt das Humanum.«1104 Die »eigentliche Aporie des Freiheitsgedankens: daß Freiheit Undeterminiertheit heißt und wir dennoch unbeschadet ihrer der Determinationskraft der Werte nachgeben dürfen«1105 wird hier ebenso wie die Aporie der menschlichen Vernunft typologisch-pluralistisch gewendet. Dass der Mensch sich und sein Leben vollenden muss, weil er das unbestimmte Wesen (negativ frei von sich bzw. ›offen‹) ist, gewinnt unter der Voraussetzung seiner Kulturalität den ebenso präzisen wie paradoxen Sinn, dass er sich und sein Leben gestalten kann, weil er das immer schon kulturell geprägte Wesen (positiv frei zu sich bzw. ›relativ geschlossen‹) ist. Sofern der Mensch immer bereits Kulturwesen und als solches ohne sein Zutun oder Wollen vorvereindeutigt (worden) ist, eröffnet sich ihm im empfundenen Leiden an dieser externen Machtwirkung jene Vorstellung eigener Unvollständigkeit (ja Unzulänglichkeit), die dann paradoxer-, man möchte fast sagen: zynischerweise seine Selbstvollendung als Befreiung motiviert. Insofern markiert die for­ male Bestimmung des Menschen zu jenem Wesen, das angewiesen ist auf lebensgestaltende Formgebung im Rahmen seiner kulturellen Bereitsvorfindlichkeit, die Stelle, an der Bildung und Kultur im allge­ meinsten wie kritischsten Sinne zusammenlaufen. Mit der kreativi­ tätsphilosophischen Wendung jener naiven Vorstellung von Freiheit als ›unbeschadeter‹ Über- und Umsetzung einer individuellen Sub­ Menschlichen ist. Darin liegt seine Größe, liegt jedoch zugleich auch seine unendliche Gefahr«. 1103 Landmann: Situation und Entscheidung, S. 279. 1104 Landmann: EV, S. 155. 1105 Landmann: SaW, S. 108.

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11. Das Leben als Aufgabe

stanz in eine diese spiegelnde Lebensform1106 weitet sich die Sphäre der Freiheit auf jene den Menschen umgebenden Kulturbereiche, in denen er sich und seine Freiheit einzig zu verwirklichen vermag. Sie liefern ihm nicht nur passiv das Material seiner lebensgestaltenden Aktivität, sondern sind selbst kreativ an ihm tätig – das ist der genaue Sinn einer (allzu selbstverständlichen und damit häufig verkürzten) Rede von Kultur, die den Menschen prägt. »In Wahrheit ist er, weil er das Wesen der Freiheit ist, auch das Wesen des Schicksals: nur bei ihm wird es produktiv.«1107 Freiheit der Bildung zur kulturellen Pluralität: In Hinblick auf die­ ses Verständnis menschlicher Freiheit erhellt sich die Bedeutung von Pluralität als dem Ziel- und Ausgangspunkt menschlicher Bildung auf doppelte Weise: Erstens ist die Pluralität menschlicher Lebensformen das ›genaue‹ Äquivalent menschlicher Freiheit im weitesten, das heißt anthropologischen Sinne.1108 Die enge Verschränkung von Freiheit und Pluralität resp. Geschichte ist dabei – wie oben bereits gesagt – anthropologisch und ontologisch begründet: nicht nur muss der Mensch frei sein, da er in Geschichten lebt und Aufgaben hat, sondern ihm öffnen sich Geschichten und Aufgaben seiner selbst in bzw. aus seinem kulturellen Sein als dem realen Ausgangsgrund und Gestaltungsraum seiner Freiheit. Zweitens ist Freiheit im engeren, das heißt die ›Emanation‹ des Einzelindividuellen anvisierenden Sinne selbst ein Phänomen und Wert unter vielen, mit denen sie in (antino­ mischer) Spannung steht: »Freiheit erzeugt individuelle Ungleichheit. Diese ist eine solche nicht nur des gleichstufigen Andersseins, son­ dern auch des Höher und Niedriger. […] Die soziale Gerechtigkeit fordert Gleichheit. Für sie muß die Freiheit geopfert werden.«1109 Diese Sichtweise ist als Kritik eines individualistisch-harmo­ nistischen Freiheitsverständnisses aufzufassen, das ebenso gerne Vgl. Landmann: EdI, S. 226. Ebd., S. 213, Herv. F.S. Fast präzise spricht Landmann von einem »Schicksals­ raum« des Menschen; nimmt man ihm diesen, »so nimmt man ihm die Luft zum Atmen, und es ist schlimmer, als wenn man ihm ein Glied seiner selbst wegnähme.« (PuA, S. 174) Ähnlich formuliert Lotter: »Für ein endliches Wesen hingegen gilt das Paradox, daß es umso mehr Persönlichkeit ist, je mehr es zu seiner Umwelt in Wech­ selwirkung tritt und sich hierdurch selbst verändert (statt Einflüssen zu unterliegen, die ihm äußerlich bleiben)« (Zu Simmels individuellem Gesetz, S. 189). 1108 Vgl. Landmann: MSGK, S. 81: »Die Geschichte ist der Inbegriff all dessen, was aus menschlicher Freiheit hervorgeht. Weil er frei ist, deshalb ist er geschichtlich so wechselvoll«. 1109 Landmann: Teuer bezahlte Vernunft, S. 98. 1106 1107

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11.4 Bildung zur Freiheit kultureller Konkretion

bemüht wird wie die »Fehlinterpretation des Schöpferischen im Sinn einer schrankenlosen Libertinage.«1110 Umso mehr als sie selbst eine Philosophie des Schöpferischen entwirft, formuliert sich Landmanns Anthropologie dezidiert als Kulturanthropologie und damit unmiss­ verständlich als Kritik an der Vorstellung substanzieller, sich unpro­ blematisch ausströmen-könnender Individualität: »In Wirklichkeit ist dieses eigenste Ich nur eine Fiktion. Wir wären in Verlegenheit anzugeben, wo es aufhört und wo Anderes beginnt. Es bleibt auf dieses Andere zu seiner eigenen Ergänzung und Vervollkommnung angewiesen.«1111 Diese Kritik führt auf den doppelten Anspruch, die polare Konstellation menschlicher Kräfte phänomenologisch zu beschreiben und anthropologisch zu begründen, wie Landmann es für die Spontaneität ausführt: »Sie ist gerade als Spontaneität um so mehr ›bei sich‹, je mehr sie noch die Nichtspontaneität sich gegenüber hat und sich von ihr abhebt. Wir kehren damit zu unserer Anfangs­ feststellung von der Zweiheit und Aufeinanderangewiesenheit der anthropinen Grundkräfte zurück.«1112 Dies widerspricht nicht etwa dem Erlebtwerden von Spontaneität (oder Freiheit) als ›reinem‹ Flie­ ßen (oder ›reinem‹ Verwirklichen), sondern macht dieses vielmehr als Aspekt und Produkt jener grundlegenden Inadäquatheit von Erlebnis und Erkenntnis, Leben und Geist verständlich. Das Erleben von Spontaneität und Freiheit ist ungeachtet ihrer faktischen kulturellen Getragen- und Bestimmtheit durch ein Äußerliches gerade umge­ kehrt durch die Nichtgetragenheit, genauer: durch die Umkehrung des Richtungspfeils, sodass das Innerliche sich entäußert, qualifiziert. Der grammatisch einen Zustand fassende Begriff von Freiheit ist unpräzise und müsste treffender durch ›Freiung‹ oder ›Befreiung‹1113 ersetzt bzw. wie in Landmanns Anthropologie weniger als Ziel denn als Voraussetzung von Bildung gesetzt werden. Ziel eines so verstan­ denen Bildungsprozesses ist die kulturelle Pluralität als Grund und Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 178. Vgl. auch FA, S. 275. Landmann: EuE, S. 191. Vgl. zu diesem Gedanken Buber: Rede über das Erzie­ herische, S. 22 u. 26. 1112 Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 189. 1113 Von der rein als Ausfluss erlebten ›Freiung‹ wäre die ›Befreiung‹ dadurch unter­ schieden, dass hier im bzw. für das Erleben der Gegner, der das Sich-befreiende gebunden hält, in seiner (potentiellen) Wirksamkeit präsent und damit das Erleben mit-qualifizierend ist, mindestens als entfernte Anti-Projektionsfläche, in jedem Fall als eben das, dem sich zu entwinden und dessen Macht abzustreifen versucht wird. Eine phänomenologisch genauere Typologisierung der Erlebnisweisen menschlicher Freiheit wäre ein zumal pädagogisch äußerst lohnendes Projekt. 1110

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11. Das Leben als Aufgabe

Erscheinungsmodus menschlicher Freiheit. Sofern die Pluralität aber eben erscheint, ist sie Chiffre für die Koexistenz menschlicher Indivi­ dualitäten. Ihren ethischen Sinn erfüllt sie also um der Individualität (um der kreativ-kulturellen Freiheit des Individuums) willen, deren metaphysische Voraussetzung sie zugleich ist. Bildung zur kulturellen Konkretion: Sofern das Individuum seine Kulturalität als Unfreiheit erlebt, ist sein Versuch, ihr schöpferisch etwas gänzlich Anderes entgegenzusetzen, ›lebensweltlich konsis­ tent‹, bleibt dennoch aber anthropologisch paradox insofern, als er ihr noch in der schärfsten Ablehnung lediglich ein wiederum Kulturelles entgegenzusetzen vermag. Sofern es aber umgekehrt seine schöpfe­ rische Tätigkeit als Bildung seiner selbst im Medium von Kultur zu erleben und erkennen vermag, lichtet sich ihm rückblickend seine ›vermeintliche‹ Unfreiheit als Freiheit, die kulturell engende Prägung als Angriffsfläche seiner bildenden Weitung. Erst jetzt eröffnet sich ihm der Spielraum kulturell-traditionaler Konkretionen1114 als Reich seiner diese aus-, um und neudeutenden1115 sowie -gestaltenden Freiheit. Sich selbst als Kulturwesen zu begreifen und Kultur als gestaltungsoffen zu erleben – dies sind die Faktoren, als deren Produkt die Möglichkeit von Bildung als kultureller Konkretion des Individuums, das heißt seine Option, aus der Wandelbarkeit der Welt seine eigene Wandelbarkeit und in dieser ein positives Pendant zur Defizität zu gewinnen, erscheint: »in jedem Augenblick ist wieder Schöpfungsmorgen. Zwischen dem Vor und Nach liegt ein Sprung, und wir selbst werden in diesem Sprung zu anderen.«1116 Kreativ- und Kulturwesen zu sein, bedeutet, sich in dem bzw. als das, was man notwendigerweise nicht ist, doch kreativ ausgestalten zu können. Nicht zu wissen, wer man ist, bedeutet gerade nicht, noch nicht zu sein, sondern: stets auch noch anderes zu sein als man von sich weiß: »Ja bleibe nicht auch ich selbst mir opak? Durch jede neue Aufgabe, sie bewältigend oder vor ihr versagend, lerne ich mich erst kennen; mein eigenes Unbewußtes überrascht mich mit einem Ich, in dem das bewußte Ich sich nicht wiederfindet.«1117 In dieser Richtung ordnet Theodor Ballauff in seinen von N. Hartmanns Stratifikationstheorie ausgehenden pädagogischen Überlegungen der 1114 1115 1116 1117

Vgl. Landmann: EV, S. 82. Vgl. Landmann: PA, S. 198. Landmann: PuA, S. 166. Landmann: EV, S. 171.

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11.5 Entfremdung als Entstaltung, Familiarisierung als Gestaltung

Erziehung die Aufgabe zu, den jungen Menschen »die begrenzte Frei­ heit erfahren [zu lassen], die ihm als Angehörigen aller Schichten die Schichtengesetzlichkeit gewährt. Sie läßt ihn den Geist objektiv erfah­ ren, als selbständige Schicht, und fordert ihn zugleich auf, eine indi­ viduelle Selbständigkeit als Person zu erringen.«1118 Um es paradox zu sagen: von der stets konkret sich stellenden und ein bestimmtes Ideal einschließenden Aufgabe der Selbstvollendung im Medium kul­ turell-hervorbringender Lebensgestaltung wird der Mensch, sobald er sie konkret erfüllt, zugleich wieder frei – frei aber nur zur nächsten Option.

11.5 Entfremdung als Entstaltung (Entkreation), Familiarisierung als Gestaltung (Rekreation) Wenden wir uns damit dem so verstandenen Bildungsprozess genauer, das heißt seinem Ziel, seinem allgemeinen ›Inhalt‹ und seiner Grundstruktur zu. Umkehr und Umlernen – Chiffren der Erneuerung: Von einem ›Ziel‹ der Bildung des Plurallebewesens Mensch kann mit Landmann nur in einem anthropo-logischen Sinne die Rede sein, das heißt es wird transzendental von der Pluralität der Menschseinsweisen auf deren Ermöglichungsbedingung so zurückfragt, als ob hinter der Plu­ ralität ein Plan liege, in ihr ein intendiertes Ziel erreicht sei. Kann dies auch wissentlich nicht ausgeschlossen werden, so gründet Landmanns Anthropologie wie bereits mehrfach gesagt in der Unbestimmtheit und Offenheit des Prozesses, der mit dem ›Aufkommen‹ und der Evolution des Menschen sich vollzieht. Bereits auf der biologischen Ebene tritt mit dem Menschen eine in ihrer Komplexität hochgradig unwahrscheinliche Lebensform, eine weitere Umkehrung der ›natür­ lichen Tendenz‹ in die Welt: Die unbelebte Materie drängt zur Ruhe, zum Ausgleich der Spannun­ gen. Leben mobilisiert mehr Kräfte als sonst nötig wären, es läuft der Entropie entgegen. Es strebt vom Einfachen zum Komplexen, von

1118 Ballauff: Pädagogische Konsequenzen aus Nicolai Hartmanns Philosophie. In: Nicolai Hartmann 1882–1982. 2. Aufl. Bonn: Bouvier 1987, S. 29 [im Folgenden: Päd­ agogische Konsequenzen aus Hartmanns Philosophie].

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11. Das Leben als Aufgabe

Niedrigen zum Höheren. Insofern bildet das Leben als solches eine Umkehrung. Es ist das physikalisch gesehen Unwahrscheinliche.1119

Dieser physikalisch-anthropologische Zusammenhang bildet die Grundlage dafür, Anthropologie als ›Philosophie des Unwahrschein­ lichen‹ und die Bildung des Menschen als Umkehr, menschliches Lernen als Umlernen zu begreifen. Gleichviel, ob von »plötzliche[r] Umkehr«, »innere[r] Umdrehung«, »verwandelnde[r] Umgeburt« oder wie in einem autobiographischen Gedicht Landmanns von »Zurückgeburt«1120 die Rede ist – stets ist unter der Umkehrung ein Neuwerden verstanden, das einen doppelten Sinn einschließt: einmal, eher zeitlich, das Zurück- und von dort aus Neu-und-anders-Wie­ derlosgehen; einmal, eher räumlich, das Umdrehen und rekonstellie­ rende Neuausrichten der bisherigen Ordnung bzw. Gestalt. An dieser Stelle wenigstens zu erwähnen ist die für Landmanns Philosophie des Kreativwesens Mensch womöglich insgesamt inspirative jüdische Lehre um den hebräischen, mit ›innere Umkehr‹ zu übersetzenden Begriff Teschuba.1121 Dieser hat nicht allein den ethischen Sinn, dass »eine moralische Schuld durch […] innere Umkehr, durch Reue getilgt werden« und so der Mensch von seiner Sünde frei werden und »ein neues Leben beginnen« kann.1122 Wie sich im letztgesagten bereits andeutet, schließt Teschuba darüber hinaus den Sinn einer kreativen Lebensgestaltung ein. Diese bildet gleichsam das expressiv-prakti­ sche Äquivalent zur psychisch-verinnerlichenden »Erneuerung des Herzens«, zum »Sich-selbst-Erneuern durch Einkehr in sich selbst, durch Reue und Buße«.1123 Landmanns Philosophie der Kultur, die den Menschen erschaffen sein lässt und ihm doch einen Spielraum eigener Schöpfertätigkeit überlässt, enthält insofern mindestens eine Reminiszenz an das strukturell analoge Verhältnis zwischen dem hebräischen Gott und dem (so nicht nur) im Alten Testament por­ trätierten Menschen: »Nicht nur am Anfang der Welt ereignet sich eine Schöpfungstat: es gibt Umschaffungen auch innerhalb der schon Landmann: Berliner Rückblenden, S. 691. Landmann: PA, S. 65; EdI, S. 207; PA, S. 65; JM II, S. 232 f. Vgl. außerdem: Formgründende Erfahrung, S. 4; EdI, S. 247. 1121 Vgl. Landmann: JM I, S. 85. 1122 Ebd. 1123 Landmann: UuS, S. 296. Vgl. zum Lernen resp. Umlernen in der Kultur resp. Religion des Judentums Ralf Koerrenz: Die Grundlegung der Sozialpädagogik im Alten Israel, Oldenburger Universitätsreden. Vorträge – Ansprachen – Aufsätze. Hg. v. F. W. Busch u. H.-J. Wätjen. Nr. 131 (2001), S. 40. 1119

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11.5 Entfremdung als Entstaltung, Familiarisierung als Gestaltung

bestehenden. Die Zeit ist für den Hebräer nicht ein kontinuierliches Fließen, sie weist Zäsuren auf«.1124 Und auch von der Anstrengung, die menschlichem Leben in der biblischen Vorstellung eigen ist, finden wir etwas in Landmanns Anthropologie des schöpferischen Menschen, hat dieser doch auch ihr zufolge stets darauf zu achten, »von der Höhe, auf die er gestellt ist, nicht abzustürzen« und sich »wenn dies doch geschieht, durch einen eigenen neuen Schöpfungs­ akt wiederher[zu]stellen.«1125 Diese, wenn man so will, nüchtern-realistische Sichtweise auf den Menschen bezieht ihren Sinn auch als Kritik an Anthropolo­ gien, die glauben, »die Schlechtigkeit der Menschen nur auf die Unzulänglichkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen« zurückführen zu können; und es ist philosophisch wie pädagogisch äußerst auf­ schlussreich, dass Landmann ausgerechnet in diesem thematischen Kontext in einem dezidiert anthropos-kritischen Sinne vom Umlernen spricht: »Jetzt dagegen ist die Zeit der Umkehrung, des Umlernens. Aus der Distanz zum Erfüllungszustand waren wir noch illusionär. Religion und Philosophie verlautbarten nur diese Illusion. Jetzt sind wir am Ziel. Die Illusion fällt von uns ab.«1126 Anthropo-logisch betrachtet ist menschliches Lernen, das in pädagogischen Theorien in der Nachfolge idealistischer Philosophie gern auf die entsprechende psychische Fähigkeit und weniger auf die anthropische Notwendig­ keit zugeschnitten wird, per se als Umlernen zu charakterisieren insofern die Antinomie von Geist und Leben ständige wechselseitige Täuschungen und Aufklärungen der beiden mit sich führt. Die dem Lernen inhärente positive Valenz ist aber in der Vorstellung vom Umlernen keineswegs verloren, sondern ›lediglich‹ modifiziert, etwa in der spannungsreichen Rede vom durch seine Verirrungen wachsen­ den Geist.1127 Für die Selbsterkenntnis der Lernenden bezieht die Rede vom Umlernen einen gegenüber der klassisch-humanistischen, gewissermaßen kumulativen Vorstellung eines sich sukzessive trans­ parent werdenden Geistes kritischen Sinn. Dieser besteht darin, dass Landmann: UuS, S. 296. Ebd., S. 308. 1126 Landmann: Formgründende Erfahrung, S. 7. 1127 Vgl. Landmann: EdI, S. 43: »Der Geist wächst nicht stetig, sondern durch Verir­ rungen, aus denen er zurückkehrt, und durch Rückgriff auf frühere Stufen und Ent­ würfe«; vgl. außerdem JM II, S. 20: »Es ist das Privileg des wachen Geistes, anhand des konkreten Falles umzulernen, vertraute Denkkategorien aufzusprengen und die Fronten neu zu ziehen«. 1124

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11. Das Leben als Aufgabe

die Lernende sich nicht nur als jemand erkennt, der sie bereits ist, sondern sich, indem sie sich als die erkennt, die sie offensichtlich auch ist, überhaupt erst als diese andere erschafft. Erst in der Situation »erkennt sich auch das Subjekt selbst, ja es wird in ihr faktisch ein anderes. Solange es die Situation nur träumte, erwartete es von sich selbst noch ein anderes Handeln als das, zu dem es sich dann in ihr entschließt.«1128 Diese enge Kopplung von Geist und Leben im Lernprozess lässt die Rede von Täuschung und Illusion lediglich sinnvoll erscheinen, wenn damit ein Strukturmoment, eine ebenso unüberspringbare wie verschwindend kurze Etappe dieses Prozesses gemeint ist. Das Befremdende als »Gegenmöglichkeit«: Damit sind wir bei der Frage nach dem allgemeinen ›Inhalt‹, durch den der Bildungsprozess, verstanden als Umkehr und Umlernen, angestoßen wird und der ihn sachlich rahmt wie motivational trägt. In den Erläuterungen zu kulturellem Wandel sprachen wir bereits vom mittleren Challenge als der optimalen Situation für die Freisetzung kreativer Aktivität. Was am mittleren Challenge, so müssen wir fragen, setzt die Möglichkeit der Bildung frei, das heißt: was lässt es ein produktives Challenge für den Menschen sein? In der Antwort bestimmen wir es hinsichtlich seiner Position im komplexen Verhältnis von Eigenem und Fremdem: Sofern es den Menschen (als den, der er ist) herausfordert, handelt es sich bei ihm nicht lediglich um ein auffällig, ja seltsam anmuten­ des »Exceptionelles und Regelwidriges«, sondern schärfer um »ein Befremdendes, Unerhörtes und Verblüffendes, ja geradezu Unheimli­ ches, Schreckhaftes und Gefährliches, Verwirrendes, Erschütterndes und Beängstigendes.«1129 Sofern es den Menschen (aus sich selbst) herausfordert, befremdet ihn das Befremdende nicht derart, dass er sich ihm total ausgeliefert sähe, sondern betrifft ihn in einer polyvalenten Vielstimmigkeit, die sich dem Betroffenen vermittelt im paradoxen Erlebnis, zwar unmissverständlich gemeint, aber nicht erschöpfend als der, der er bereits zu sein vermeint, angesprochen zu sein. Dass in diesen Stimmen ein wie stark auch immer ausgeprägter Wertakzent erklingt, ist notwendige Voraussetzung für Anstoß und Freisetzung einer Bildung und bezeichnet, wenn man so will, die unauflösliche Normativität jeglicher Idee von Bildung. Das Befrem­ dende ist und wirkt als Landmann: EV, S. 163. Vgl. ähnlich A. Steffens: Ontoanthropologie, S. 46 f. Landmann: P, S. 294, Herv. F.S. Vgl. zu weiteren Erfahrungsweisen des (Ein­ bruchs des) Neuen PA, S. 65. 1128

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11.5 Entfremdung als Entstaltung, Familiarisierung als Gestaltung

etwas, was nicht so sein zu können und zu dürfen scheint, wie es uns entgegentritt, etwas Unhaltbares und Unmögliches – und dabei ist es doch auch wieder nicht ein schlechthin Nichtiges, sondern etwas, sobald es einmal da ist, Unumgängliches, sich Aufdrängendes und Packendes. Es stört und quält, beengt und bedrückt, bereitet Unruhe, Pein und Aufregung; zugleich aber interessiert und fasziniert es auch, zieht an und läßt nicht wieder los.1130

Landmann prägt hierfür den Begriff der »Gegenmöglichkeit«1131 als dichte Bezeichnung jener Zweiseitigkeit des Befremdenden, zugleich ein (das Sein des Betroffenen angreifendes) Gegenläufiges und ein (das Sein des Betroffenen aufwühlendes) Öffnendes zu sein. Nein, schärfer noch: die polyvalente Qualität der Befremdlichkeit gewinnt das Befremdende gerade in seiner Gegenläufigkeit, die als eine reale Möglichkeit für den bzw. des Betroffenen selbst Geltung beansprucht und nur so produktiv wirksam zu werden vermag: »Die konstruktive Funktion des Fremden am Eigenen stellt als positive Syntheseleis­ tung das genaue Gegenteil der Auflösung des Selbstseins durch das Fremde in der Entfremdung dar.«1132 Von hier aus ist die der Bildung anthropo-logisch zugrundeliegende Bildsamkeit als Entfremd- bzw. Befremdbarkeit des Menschen qualifiziert und Entfremdung selbst als zentrales Strukturelement von Bildung bestimmt. Bildung im Rhythmus von Entstaltung und Neugestaltung: Unter den eingangs erläuterten gestaltphilosophischen Voraussetzungen ist die Entfremdung wiederum als aufgliedernde Entstaltung des als Gestalt begriffenen Selbstbildes zu verstehen. Was unter Entstaltung zu verstehen ist, deutet Landmann im thematischen Kontext der Ästhetik resp. Literatur an: »Die erste Leistung des Satzes ist also eine analytische, entstaltende: sie führt von der Wirklichkeit, so wie sie zunächst unreflektiert erlebt wird, fort und gliedert sie auf.«1133 Die in der gestaltsichtig-vorurteilenden Wahrnehmung des Menschen gründende Unwahrscheinlichkeit entstaltender Aktivität wenigstens Landmann: P, S. 294. Landmann: Formgründende Erfahrung, S. 4 u. UuS, S. 185. 1132 Zurek: Psychologie der Entfremdung, S. 87. Ähnlich und im thematischen Zusammenhang von Erziehung beschreibt Buber »eine Umkehr des einzelnen Triebs, die ihn durchaus nicht aufhebt, sondern sein Richtungssystem umstellt. Eine solche Umkehr kann von der elementaren Erfahrung bewirkt werden, mit der das eigentlich Erzieherische anfängt und auf der es sich gründet. Ich nenne sie die Erfahrung der Gegenseite« (Rede über das Erzieherische, S. 32 f.). 1133 Landmann: DaD, S. 75. 1130 1131

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11. Das Leben als Aufgabe

im menschlichen Alltag zeigt sich indirekt auch im Befremdungser­ eignis selbst insofern dieses vom Einbruch eines Ungedeuteten1134, das heißt Ungegliederten, ganzheitlich und vollwuchtig Wirksamen ausgelöst wird. Von hier aus betrachtet besteht die polyvalente Wirk­ samkeit des Befremdenden darin, als absolut potent erlebbar, aber (noch) nicht versteh- und erkennbar zu sein. Entstaltung lässt sich begreifen als keineswegs voraussetzungsarme Fähigkeit, ebenso dem Ungedeuteten seine Deutbarkeit wie dem Bereits-Gedeuteten seine Umdeutbarkeit (wieder) abzugewinnen. Das Befremdliche ist damit genauer bestimmt als dasjenige, das bei aller ganzheitlichen Wirk­ samkeit dem Menschen doch noch ermöglicht, ihn in seiner Fähigkeit anspricht, Elemente und Faktoren aus der auf ihn einbrechenden Ganzheit »herauszupräparieren und […] als in sich geschlossene Erkanntheiten festzuhalten, mit deren Hilfe sich dann, wenn sie sich in anderen Verbänden wiederfinden, ein Verständnis auch für diese erzielen läßt.«1135 Letzteres bezeichnet den Transfer jener relevanten Elemente der befremdenden Gestalt in die damit sich rekonstellierende Gestalt (des eigenen Selbst). Dieser Transfer ist zeitlich-prozessual nicht erschöpfend begriffen, ist doch die Herauslösung eines Elements aus einer Gestalt selbst bereits motiviert und strukturiert von einer ›hintergründig‹ präsenten und wirksamen anderen Gestalt, von der es gleichsam angezogen wird bzw. die sich zu bilden, aufzuspannen, anzudeuten beginnt, sobald das Element sich löst. Die Vorgängig­ keit (und nur ›sekündliche‹ Hintergehbarkeit) des Gestaltsehens im menschlichen Geist, für den es so gesehen keine isolierten Elemente gibt, vermittelt sich mit der Aktivität des Gestaltbildens, mit der sie gleichsam einen positiven, das heißt kreativ-produktiven Sinn gewinnt, in einer Landmann zufolge ebenso für die Kunst wie für die Wissenschaft charakteristischen Form der Anschauung: »Der Anschauungsgehalt will zergliedert und geistig durchdrungen sein. Wie ein Maler durch das Malen an seinem Sujet valeurs entdeckt, die dem Nichtmalenden entgehen, so analog geschieht es auch bei der wissenschaftlichen Interpretation.«1136 Hier haben wir ein analoges Verhältnis wie zwischen der anthropo-logisch vorausgesetzten bzw. transzendental deduzierten Angewiesenheit des Menschen auf kultu­ 1134 1135 1136

Vgl. Landmann: P, S. 84 u. EuE, S. 253. Landmann: EuE, S. 110. Landmann: MSGK, S. 230.

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11.5 Entfremdung als Entstaltung, Familiarisierung als Gestaltung

relle Selbstvervollständigung und der normativ gefärbten Fähigkeit des Menschen zur kreativen Lebens- und Selbstformgebung. Bildete die Gestalt am ›Beginn‹ des Bildungsprozesses als Welt und Selbst ›ungemäß‹ vorvereindeutigende Ganzheit die Angriffsfläche für den Einbruch des Befremdenden und die entstaltende Aktivität des durch dieses aufgewühlten Geistes, so bildet sie nun in der ›Mitte‹ des Bildungsprozesses paradoxerweise genau umgekehrt als Gestaltein­ heit Ziel, Sinn und Inhalt einer neugestaltend-familiarisierenden Vermittlung von Eigenem und Befremdendem. Psychologisch-anthropologische Voraussetzung solcher Familia­ risierung ist die Fähigkeit und Bereitschaft zur Identifikation, das heißt zum Aufbau einer integrativen Korrespondenz zwischen der sich um den befremdenden Aspekt aufbauenden Gestalt und dem, was der sich Bildende sich gestalthaft als Selbstbild vorlegt. Sofern es sich bei beiden um Gestalten handelt, ist ihre strukturelle Ähnlichkeit gegeben, die eine wechselseitige Beweglichkeit der Elemente, ihren Transfer und damit die Rekonstellierung der Gestalten ermöglicht, begünstigt und fordert: »Was man lebendig-anschaulich vor sich sieht, greift auch in tiefere, impressionablere und identifikationsbe­ reitere Schichten der Seele, die noch räumlich-extensiv und figural denken.«1137 Dass nun gerade nicht wie bisher die entstaltende, das heißt problematisierende, sondern die menschliche »Mit- und Gegen-Kraft des Deproblematisierens«1138 wirkt, verdeutlicht den dichten Zusammenhang von Kreativität und Irrationalität, der in der Formel von Familiarisierung als deproblematisierender Neugestaltung Ausdruck findet. Als Vorstufe von Landmanns Fragment gebliebener Philosophie des Irrationalen kann seine in Ansätzen entwickelte Typologie menschlicher Vernunftkräfte angesehen werden. Entspre­ chend wirken im Prozess der Bildung des Menschen die entstal­ tend-entfremdende und die familiarisierend-rekreative Vernunft in einem unabschließbaren, stets vorübergehend, räumlich betrachtet: nur gestalthaft abschließbaren, das heißt: stets wieder neu gestaltba­ ren Wechsel: Kaum daß er einer Inadäquatheit zwischen dem Bilde, das er sich vom Sein machte, und diesem selbst gewahr wird, erfaßt ihn eine unwi­ derstehliche Adäquationstendenz. Das Transobjektive wird ihm nun 1137 1138

Landmann: Sichtbares und Unsichtbares im Wechselspiel, S. 51. Landmann: EuE, S. 260.

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11. Das Leben als Aufgabe

zum objiciendum, in das hinein er die Objektionsgrenze immer weiter vorverlagern möchte. Aus dem Problem resultiert so der Progreß.1139

Anders als in der stärker vom Subjekt ausgehenden Zuschreibung, wo die ›Veranähnlichung‹ der Welt durch und an den Geist gerade eine mittels Bildung wieder zu öffnende Verengung bedeutet, ist hier vom Fortschritt der Vernunfterkenntnis die Rede und erscheint deren ›Adäquationstendenz‹ in positiver, stärker auf das Objekt fokussie­ render Valenz, die sie gerade als Familiarisierung erhält, sofern sie die Weltdinge transparent macht.1140 Diese Ambivalenz der Vernunft­ leistung verweist auf das dichte Ineinander der beiden Vernunftfor­ men und damit auf die partielle Austauschbarkeit der Begriffe und Zuschreibungen. Auf beides ist umso eindringlicher hinzuweisen als wir bei Landmann – nicht zufällig im vernunftkritischen Spätwerk – skeptizistische Äußerungen finden, deren implizite Trennung von Wahrheit und Täuschung in dieser Strenge kulturanthropologisch nicht zu begründen ist: »Die Familiarisierungstendenz pervertiert das Erkennen. Ihr dienend, wartet es mit Resultaten auf, die zwar einen Familiarisierungseffekt, aber keine Wahrheit haben.«1141 Die Kritik dieser strikten Trennung von Familiarisierung und Wahrheit und der in dieser Kritik selbst erhobene Wahrheitsanspruch stehen nicht im Widerspruch dazu, das gerade für den Bildungs- resp. Umlernprozess grundlegende Moment der »Rückgängigmachung der Pseudowahr­ heiten, die es [das ›zu sich selbst erwachende Erkennen‹, Anm. F.S.] für Pseudofamiliarisierungen aus sich hervorgehen ließ«1142 in aller Deutlichkeit zu sehen.

11.6 Bildung zur Gestalt – Sorge und Gelingen als Dimensionen von Bildung als Aufgabe Bei aller berechtigten und zu leistenden Kritik an Landmanns nicht allein anthropologisch, sondern zumal in ihrer Schärfe dezidiert Landmann: P, S. 338. Vgl. Landmann: Sinnverlust und Eudämonismus, S. 154, wo er von der »durch­ sichtig-machenden, familiarisierenden Leistung« der Vernunft ebenso spricht wie von ihrem »entfremdende[n] Verhängnis« als gewissermaßen deren ›anderer Seite‹, Fak­ tor und Effekt: »Indem sie die Natur physikalisch und chemisch erklärt, entfernt sie sie von uns«. 1141 Landmann: EV, S. 181. 1142 Ebd. 1139

1140

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11.6 Bildung zur Gestalt

kultur- und gegenwartskritisch motivierten Vernunftskepsis enthält diese einen durchaus kritisch-produktiven Sinn als Sorge um das Gelingen einer Bildung zur Gestalt. In der kulturkritischen These vom »postkreativen Zeitalter« steht für Landmann mit der menschlichen Kreativität auch die Gestalt als gleichsam deren Kristallisation und Siegel prekär in Frage; die anthropologische Problemstellung des Menschen als Kreativ- und Kulturwesen nimmt die Form einer Sorge an, in der sie auch einen ihrer Bedingungs- und Gestaltungsfaktoren hat. Nur die entdeckte und erkämpfte Kreativität ist wirklich verlier­ bar und entsprechend umkämpft. Das Motiv der Sorge: Von hier aus wird sichtbar, dass der in der Vernunftkritik wirksame Anspruch auf Wahrheit paradoxerweise genau um dessentwillen, auf das die Kritik sich richtet, erhoben wird: das ist das Leben, genauer: die Lebendigkeit bzw. die Lebensgemäßheit (eben im Unterschied zur Pseudofamiliarität). Deutlich formuliert Landmann diesen Zusammenhang an der folgenden Stelle, die uns auch einen Wink dahin gibt, mit der Sorge, im Sich-sorgen auch am bereits kritisch erläuterten Ideal des ›hohen Menschseins‹ bei Landmann eine sensiblere, demütigere Seite sich andeuten zu lassen. Die Tat des Helden aber, der eben deshalb der große Aufrichtige ist, besteht dann darin, das abgelebte System künstlich und hohl gewordener Konventionen zu zerbrechen und an ihre Stelle wieder das ursprünglich Gewachsene, Lebensechte, Naturgemäße zu setzen. Das Leben selbst hatte keine Wahrheit mehr, und erst er schenkt sie ihm zurück. Was hier am Ausnahmemenschen deutlich wird, das ist aber im kleinen Aufgabe eines jeden.1143

In diesem dezidiert kreativitäts- und kulturphilosophischen Sinne bezieht auch die Rede vom in die Welt geworfenen Menschen einen welthaltigeren Sinn fernab jeder existenzphilosophischen Eigentlich­ keitsmetaphysik. Soweit der Mensch ›unverschuldet‹ die Weltbühne betritt, das heißt je schon in ein kulturelles Umfeld hineingeboren worden ist, bzw. je schon ein bestimmter ist, und doch nichtsdestoweni­ ger für Gelingen und Güte der Kulissen und Aufführungen auf dieser Bühne zuständig, befähigt, ja verantwortlich ist, das heißt mit sich selbst eine als Probleme und in Aufgaben sich stellende Geschichte dieser Welt gewinnt, bzw. je erst zu werden beauftragt und genötigt ist, was er in produktiver Vermittlung mit der Kultur sein kann – soweit ist der Mensch zwar tatsächlich geworfen, aber sozusagen beauftragt 1143

Landmann: UuS, S. 195.

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11. Das Leben als Aufgabe

geworfen; und dies genau macht die innere Spannung des damit verbundenen Erlebens aus. Was am Geworfen-sein als Zumutung empfunden wird, ist in einem doppelten Sinne historisch-kulturell signiert: einmal in seinem Inhalt, sofern der in die Welt geworfene Mensch stets an einen bestimmten Ort, in eine bestimmte Zeit mit jeweiligen Bürden, Grenzen und Chancen geworfen ist; und dann insofern, als die Zumutung gerade darin besteht, sich in einem als prägbar und geprägt, das heißt an der eigenen Person die Macht und den ambivalenten Doppelsinn von Kultur, die Paradoxie re-kreativer Freiheit, zu erleben. Das Motiv des Gelingens: In der Sorge erfassen wir eine dem Problem korrespondierende psychisch-kulturelle Disposition ebenso wie im Gelingen einen der Aufgabe korrespondierenden spezifischen ›Modus‹ menschlichen Handelns und Gestaltens. Wie Problem und Aufgabe, sind auch Sorge und Gelingen eng ineinander verwoben und aufeinander verweisend. Die Grundpolarität von virtus und fortuna, von reiner (emanierender) Freiheit und totaler (lückenloser) Determi­ nation spannt in sich ein Kräftefeld auf, das als Gelingen-können (und als Scheitern-können) zu bezeichnen und ›exakt‹ der Raum, der Modus des Menschen ist. Menschliches Leben ist weder reine Entfal­ tung vorbestehender Anlage noch reine Erfüllung vorschwebender Ziele, sondern gelingen-könnende Vermittlung polarer Kräfte, bei der der Einzelne an der Überformung durch das, was ihn übersteigt, gerade als Individuum zu wachsen vermag. Damit sind wir am dichtesten Verbindungspunkt von Anthropologie und Bildungsphilo­ sophie: Analog wie in der Anthropologie die Kreativität des Menschen an seine Kulturalität gebunden bleibt, trägt sich im Anspruch des Gelingens die menschliche Sorge fort, ja eigentlich ist das Gelin­ gen-wollen bzw. Gelingen-sollen selbst bereits der Anstoß ihrer praktisch-gestaltenden Bewältigung. Landmanns zentraler Beitrag zur Bildungsphilosophie besteht darin, mit der Fassung des Menschen als Kulturwesen das bildungsphilosophische Problem ›werdender Identität‹ kulturphilosophisch zu wenden und, es vertiefend, zugleich aufzubrechen. Das Problem, das sich der Mensch – kulturgeschicht­ lich spät und kontingent – als Individuum in Folge kulturellen Wandels wurde, löst er einzig und immer bereits im Medium kultureller Objek­ tivierung, d.h. weltgestaltender Selbsthervorbringung, in der weniger Menschsein als vielmehr Menschwerdung immer bereits gelingt, was nur ein anderer Ausdruck dafür ist, dass Bildung stattfindet, so

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11.6 Bildung zur Gestalt

sehr überzogene Individualitäts- oder Identitätsansprüche dies auch verdecken mögen: Im Ausdruck klärt sich das Auszudrückende. Indem aber der Mensch erfährt, welch höherer Präzision und Rundheit sein Fühlen und Denken im Medium der Gestaltung fähig ist, sucht er sich nun auch im Vollzug der eigenen Subjektivität auf diese Höhe zu steigern und vor ihr zu bestehen. Das verbesserte Bild seiner selbst, das die Gegenseite ihm zurückwirft, nimmt er verbindlich, er will selbst in es hineinwachsen. So wird die eigene Vergegenständlichung für ihn zur großen Verwand­ lerin. Die Vollendung, die zunächst nur Möglichkeit und Forderung des Objektiven ist, zieht, indem er sich mit ihr konfrontiert sieht, auch seine eigene nach sich.1144

Sorge um das Gelingen einer Bildung zur Gestalt: Unter diesen Vor­ aussetzungen lässt sich die Ambivalenz der Bestimmung des Men­ schen zum Kreativwesen und davon ausgehend der (letztlich kultur-) kritische Sinn der Bestimmung des Menschen zum Gestaltwesen aufzeigen. Es stellt sich die Frage, inwieweit unter den sozial-struktu­ rellen Bedingungen wie der Beschleunigung und Flexibilisierung des Lebenswandels, die für die Gegenwart wenigstens der Industrienatio­ nen kennzeichnend sind, ein Gelingenkönnen des Lebens, das heißt die Formung des Lebens zu einer Gestalt als Einheit der Vielheit, über­ haupt möglich oder auch nur wahrscheinlich ist. Sofern aber gerade das Leitbild des Kreativwesens Mensch diese Bedingungen kataly­ siert bzw. mehr noch deren geistige Gussform ist, bezieht sich die Frage nach dem Gelingen-können ideologiekritisch auf dieses Men­ schenbild selbst und kulturkritisch auf die ihm korrespondierenden sozial-kulturellen Faktoren. Sie schließt die Frage ein, ob den Formen des Sorgens, die unter den gegebenen Voraussetzungen aufkommen (können), Erfahrungen des Gelingen-könnens und Formen gelingen­ der Lebensgestaltung korrespondieren (können), die eine Alternative, wenigstens aber ein kritisches Korrektiv zum ökonomisch ausgerich­ Landmann: EV, S. 38. Einen ähnlichen Gedanken finden wir bei Mollenhauer: Vergessene Zusammenhänge, S. 167. Vgl. zum Gelingen als ›Modus‹ menschlichen Lebens, an dem bereits umgangssprachlich bemerkenswert ist, dass etwas zwar, jemand dagegen nicht gelingt: Verf.: Das je aufgegebene Leben – seine Gestaltung in spannungsreicher Kulturwelt. Michael Landmanns Kulturphilosophie des schöpferi­ schen Lebens im Anschluss an Georg Simmel. In: Kozljanič, R.J. (Hg.): IX. Jahrbuch für Lebensphilosophie 2018/19. Väter, Mütter, Töchter und Söhne der Lebens(kunst)philosophie. München: Albunea 2019 [im Folgenden: Das je aufgege­ bene Leben], S. 290). 1144

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11. Das Leben als Aufgabe

teten Leistungs- und Mehrwertimperativ darstellen. Impulsgebend für diese Kritik ist der folgende Verdacht: in der überzogenen, ebenso systemstabilisierenden wie anthropologieblinden Orientierung an der Möglichkeit sind auch die Erfahrungen des Gelingen-könnens, Scheitern-könnens, der »Tragik des Erreichens«, der »Melancholie der Erfüllung« vom Möglichkeitssinn1145 derart absorbiert, dass sie nicht wirklich erlebt werden, das heißt nicht als Medien der Vermittlung von Ich und Welt, in der beiden ein kontrastiv-produktiv aufeinan­ der bezogener Sinn zukommt, zugänglich sind. In der Perspektive dieser Kritik erscheint die polare Grundspannung des Menschen in Richtung der objektiven Kultur überdehnt, ohne dass deswegen die Behauptung oder Postulierung einer strikten Trennung der beiden einen philosophisch anspruchsvollen Inhalt gewinnt. Die technisch perfektionierte Optimierungslogik ›umgeht‹ die diffuse Erfahrung einer Melancholie des erreichenden Nichterreichens, weil die zwei Modi dieser Realität, Erreichen und Nichterreichen, zugleich im virtuellen Modus der Erreichbarkeit bzw. Nichterreichbarkeit (also dort, wo nie gehalten werden muss, was umso heftiger versprochen worden ist) deaktiviert sind. Nicht weil die Lage an sich trostlos wäre, spendet die Vertröstung auf morgen keinen Trost, sondern weil es hier – vermeintlich – gar nichts und niemanden zu trösten gibt, die rein virtuell verharrende Sphäre der Optionalität weder ein Trostsubjekt noch ein Trostobjekt hervorzubringen vermag. Erst in diesem Zusammenhang wird voll verständlich, dass und warum die faktisch erhöhte (im engeren Sinne) kreative Aktivität einer Kultur bzw. ihrer Trägerinnen kein ausreichendes Kriterium für deren (im grundsätzlichen Sinne) ›anthropo-logische Ausgeglichenheit‹ abgibt. Deutlich zeigt sich hier die kritische Grenze eines ebenso formalen wie selbstbezüglichen Kreativitätsbegriffs und damit der tiefe Sinn von Landmanns Bindung menschlicher Kreativität an ihren Gegenpol der Kultur. Die Verheißung offener Formen und der Verlust von Reibungsflä­ chen: Aus Richtung dieser konkreten, das heißt auf eine bestimmte 1145 Vgl. Bubers Kritik an der seiner Zeit zugeschriebenen »Macht der Fiktivgesin­ nung. Diese Macht nenne ich die Ungebildetheit des Menschen dieses Zeitalters. Gegen sie steht die zeitwahre, zeitgerechte Bildung, die den Menschen hinführt zum gelebten Zusammenhang mit seiner Welt und ihn von da aufsteigen läßt zu Treue, zu Erprobung, zu Bewährung, zu Verantwortung, zu Entscheidung, zu Verwirklichung« (Bildung und Weltanschauung, S. 62).

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Kultur bezogenen Sorge um das gelingen-könnende Leben erhellt sich der normative Sinn von Landmanns Anthropologie menschlicher Kreativität, die die beanspruchte Formalität und Neutralität eben nicht bis in die Tiefen ihres kulturellen Herkommens hinein durchzuhalten vermag. Sofern sie nämlich genuin an ein bestimmtes Verständnis von menschlicher Kultur gebunden ist, bezieht sie von diesem her auch ihre Inhalte, wie wir es bereits an den gestaltphilosophischen Implikationen verdeutlicht haben. Zu diesen Inhalten zählen Objek­ tivität, Konkretheit, Widerständigkeit, Dauer. Folgen wir den beden­ kenswerten Überlegungen Wolfgang Ullrichs, die gewissermaßen in der Linie von Landmanns Diagnose vom »Ende des Individuums« stehen, so sind diese Inhalte im herrschenden »Kreativitätsdispositiv« bereits abgelöst durch (sphärische) Offenheit1146, (spontan-inspira­ tive) Variation1147 und (soziale) Diffusität1148. Unmissverständlich macht Ullrich auf die systembildende und -stabilisierende Funktion einer Mentalität aufmerksam, für die Kreativität zur Chiffre perma­ nenter Öffnung und Variation, forcierter Andeutung und Entgren­ zung geworden ist: Für eine Gesellschaft unter dem Einfluss des Kreativitätsdispositivs kann es kaum etwas Passenderes geben als möglichst viele Spielarten von Semiaktivität. So erlauben sie es am besten, die begehrte Erfahrung des Kreativ-Seins intensiv zu machen, sich in einem großen, geschütz­ ten Raum voller Optionen zu fühlen und dabei keinem Risiko von Durststrecken und Geduldsproben ausgesetzt zu sein. Noch besser als jemand, der seine Ideale in eine Vergangenheit verschiebt und nur über einzelne Dinge Kontakt zu ihnen hält, kann der semiaktive Spieler und Reblogger in einem Zustand der Unschuld verweilen und die Gefahr von Ernüchterung weitgehend meiden.1149

Topographie der Grenze: Anthropologisch betrachtet sind die Sehn­ sucht nach Unschuld und Offenheit und die Flucht vor Ernüchterung und Entscheidung ebenso verständlich wie problematisch. Der Preis, den beide für die Entgrenzung der Wirklichkeit in alle Richtungen Ullrich: Der kreative Mensch, S. 63 u. 89. Vgl., S. 102. In der verbreiteten Kulturpraxis des Rebloggens (vgl. dazu ebd., S. 80 f.) beispielsweise leben sich Bedürfnis und Vision einer rundum verfügbaren, letztlich aber strukturell wie auch unter diesem erhitzten Anspruch notwendig ›virtuell bleibenden‹ Kreativität aus, die wir bei Landmann nur als Gegenstand seiner Kritik finden, etwa wenn er über die Mythen reiner Spontaneität schreibt. 1148 Ebd., S. 63, 64 u. 84. 1149 Ebd., S. 82. 1146 1147

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11. Das Leben als Aufgabe

des je an sie grenzenden Möglichen bezahlen, ist die übersprungene Wirklichkeit, die Sphäre kultureller ›Gestaltigkeit‹ selbst. Von hier aus lässt sich ein nicht zuletzt auch kulturkritisch bedeutsamer Zusammenhang zwischen Kreativität und ›Problematizität‹ aufzei­ gen: Beiden eignet die prekäre Tendenz, sich selbst derart entgren­ zen zu wollen, dass ihnen damit der sie überhaupt ermöglichende, wenn auch i.d.R. uneingestandene Boden, die unproblematisierte und genau darin funktionable Kultur resp. Gewissheit, Stück für Stück wegbröckelt. Das latente Versprechen besteht hier darin, das Grenz­ problem vollständig ausgeblendet sein lassen und so den Bereich des Real-Möglichen resp. Real-Utopischen überspringen und direkt in den Utopismus reiner Optionalität übersetzen zu können.1150 Sofern die Grenze mit Landmann gerade nicht als zwei Sphären ›anteillos‹ trennende Linie, sondern als in Fransen verlaufender, mehr oder weniger breiter Streifen1151 vorzustellen ist, also eine eigenartige Topographie und Topologie aufweist, ist in der ›Fiktivgesinnung‹ mit der Grenze fatalerweise auch der Raum ihrer Gestaltung und Verschiebung übersehen und übergangen, das heißt jene Region, die das Faktische mit dem Möglichen, besser: das einst nur Mögli­ che, jetzt Faktische mit dem womöglich einst Faktischen, derweil nur Möglichen zeitlich wie räumlich verbindet, genauer: verbunden und verbindbar sein lässt.1152

1150 Vgl. zum Utopismus im hier kritisierten Sinne B. Strauß: »Utopie im Wortsinn ist auch eine Überall-Welt, die sich nicht mehr topisieren läßt. Utopistis nennt sich dann eine krankhafte Störung, wenn jemand den Ort, an dem er sich befindet, nicht mehr als Ort erkennen kann. Man hat nach Dienstschluss zuviel Zeit für die Welt. Zentrum des Lebens bleibt zugleich das Heim. Weltweit gilt für gut, was das Heim­ gefühl nicht verletzt. Das Heim bedarf keiner Ideologie, es genügt ihm eine einzige Negation: es muß seine Grenzen haben« (Vom Aufenthalt, S. 290). 1151 Vgl. Landmann: UuS, S. 216; EuE, S. 229; P, S. 311 u. 332. An anderer Stelle schreibt Landmann, die menschliche Vernunft sei von einer »Grenzregion des Pro­ blematischen, Geheimnisvollen und der Begreiflichkeit Entrückten umschleiert« (P, S. 321). 1152 Vgl. dazu sehr erhellend Schöning, M.; Weinberg, M.: Ironie der Grenzen – Horizonte der Interkulturalität. In: Positionen der Kulturanthropologie. Hg. v. A. Ass­ mann et al. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, v.a. S. 206 f. u. 221.

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Kultur einer Pluralität

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12. Kulturelle Polyphonie

Auf der Kontrastfolie dessen, was wir bisher als Bildungsprozess mit dem Ziel- und Leitbild einer Gestalt als Einheit der Vielheit erläu­ tert haben, erscheint die mit einer ›Fiktivgesinnung‹ einhergehende Lebensform als entstaltende Zerrform in Richtung einer partikula­ ristischen Vielheit, als ›atomistischer Utopismus‹. Um dagegen die Einheit der Vielheit und damit Landmanns Verständnis von Pluralität zu gewinnen, vertiefen wir den Blick nun abermals vom zwei- in den dreidimensionalen Raum des schichtmäßigen Seins. Durch die schichtenontologische Perspektive auf Kultur wird das Je-Kulturelle in seiner komplexen Struktur, seinen vielheitlichen und heterogenen, teils gegensätzlichen Bezügen kenntlich. In und mit dieser Komplexi­ tät setzt es bestimmten Verfügungsambitionen des Menschen, etwa einer atomistischen Auflösung der ›organisch‹ gewachsenen und sich erhaltenden Kulturgestalt in ihre Elemente oder einer utopistischen Versetzung genau dieser Kulturgestalt in einen ihr (noch) hetero­ genen Kontext, Grenzen. Landmanns Kritik an Partikularisierung und Unifizierung ist positiv begründet, gehalten und komplementär ergänzt von seinem Verständnis kultureller Pluralität.

12.1 Pluralistisches Erleben und das pluralistische Vorurteil Pluralität und Differenz als Erfahrung und Faktizität: Landmanns Verständnis menschlicher Pluralität ist grundlegend für seinen Begriff des Individuums, das er nicht substanziell vorbestehen, sondern rela­ tional, aus der Differenzierung und Autonomisierung bzw. der Plura­ lisierung der Kulturbereiche entstanden sein lässt. Am Grunde der Erfahrung, ungeteilt-unteilbar zu sein, liegt paradoxerweise die durch die objektive Kulturwelt provozierte Gegenerfahrung, differenzierund pluralisierbar zu sein. Pluralität ist Grundsignatur (nicht nur) der Lebensform des Menschen und fasst als solche dessen Konstitution als Natur- resp. Lebewesen ebenso wie seine expressiven und geisti­

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12. Kulturelle Polyphonie

gen Aktivitäten. In der Pluralität seiner Kulturen erfüllt er einerseits als Lebewesen das natürliche »Gesetz der Formenvielfalt«1153; in der Pluralität seiner Kulturen bildet er andererseits selbst eine ausgezeich­ nete Lebensform. Die These vom Menschen als reproduktiv-originä­ rem Doppelwesen geht von der kulturellen Pluralität aus und rahmt bzw. formt ihrerseits deren Verständnis. Für so verschiedene Erlebnisresp. Erkenntnisinhalte wie Differenz, Variation, Entwicklung, Entfal­ tung, Schichtung, Kontextualität, Ergänzung, Begrenztheit, Verste­ hen, Missverstehen, Bedeutung, Perspektivität bildet ›Pluralität‹ eine allgemeine, freilich notwendig unscharfe Chiffre. Pluralität als Vor- und Werturteil: Die Pluralität der menschlichen Lebensformen bildet bei Landmann wie den transzendental-anthro­ pologischen so auch den kulturphilosophisch-normativen Bezugs­ punkt. Bei allem Anspruch auf normative Enthaltsamkeit schreibt Landmann selbst: »die Pluralität der Kulturformen ist ein Letzthin­ zunehmendes und Gerechtfertigtes.«1154 In seiner aufschlussreichen Rezension von Landmanns Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur fragt Richard Wisser mit Bezug auf die »Pluralität der Absoluta« mehr rhetorisch: Liegt nicht gerade hier sein gewissermaßen kulturanthropologisches Vorurteil zutage, unter dessen Einfluß er nun seinerseits die Viel­ heit als solche verabsolutiert? An sich vertragen sich Vielheit und Einheit ganz gut miteinander. Weil Landmann aber darauf besteht, daß die »Optima« »inkompossibel« sind, tut er sich nun auch wertlo­ gisch schwer.1155

Ungeachtet der Tatsache, dass Landmann im selben Buch Notwen­ digkeit und Sinn einer axiologischen Differenzierung innerhalb der letztlich um der Werte willen bestehenden kulturellen Pluralität zugesteht1156, trifft Wisser hier einen Nerv von Landmanns Anthro­ pologie, deren Anspruch auf Formalität in der historischen Betrach­ tungsweise einen geistig-kulturellen, normativen Bezugskontext hat: Landmanns pluralistischer Blick lässt ihn nicht einfach zwar nume­ risch-viele, sonst indifferente kulturelle Atome, sondern eigenquali­ tativ-viele, sich darbietende und geltend-machende Kulturgestalten Landmann: PuA, S. 202 sowie PA, S. 155 f. Landmann: Kulturphilosophie, S. 556. 1155 Wisser: Buchbesprechung MSGK, S. 645. Vgl. auch J. Duschka: Anthropologie und Normativität, S. 175 f. 1156 Vgl. Landmann: MSGK, S. 220. 1153

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12.1 Pluralistisches Erleben und das pluralistische Vorurteil

erkennen; sowohl in seinem Anspruch auf wertegalitäre Betrachtung der kulturellen Gestalten, als auch in der faktisch vollzogenen wert­ hierarchischen Anordnung derselben macht sich das pluralistischindividualistische Wert- und Vorurteil des historischen Sinns geltend. Die implizite Voraussetzung bzw. das dahinterstehende philosophi­ sche Problem ist die Emergenz, das heißt der in der kulturellen Pluralität offenkundige ›Möglichkeitsüberschuss‹ des Menschen, der gerade gegen die vereinheitlichende Tendenz abstrahierender Ver­ nunft durchzusetzen ist. Kulturanthropologie heißt in diesem Aspekt, all das, was wir geschichtlich an Lebensformen des Menschen finden, auch anthropologisch Mensch sein lassen zu können – das heißt, es mit der menschlichen Pluralität anthropo-logisch und axiologisch aufzunehmen. Philosophiegeschichtlich bedeutet Landmanns axiolo­ gischer Akzent auf der Pluralität die Kritik an einer har-monistischen Substanzen-Ontologie, der zufolge die Pole »die Extreme eines Gan­ zen [bilden], ohne daß sie in einem realen Wirkungszusammenhang stünden«; dagegen setzt er die relationalistische Vorstellung, es seien die Pole selbst, »durch die das Ganze erst entsteht und seine Form gewinnt.«1157 Der Preis für die Aufgabe der Substanzen ist die Fra­ gilität der Gestalten; was an ontologischer Stabilität der ersteren verlorengeht, wird als axiologische Stabilität der letzteren zurückge­ wonnen. Empfindliche Nähe zum Relativismus: Hier setzt die Kritik Richard Wissers an Landmanns Kulturanthropologie ein, die völ­ lig zurecht Anstoß nimmt an deren empfindlicher Nähe zu einem relativistischen, axiologisch enthaltsamen Formal-Harmonismus der Pluralität: »Aber diese Bejahung, die zwar wegen der Inhalte geschieht, die sich aber nicht für Inhalte entscheidet, läßt die Kulturen in einem wertphilosophischen Schwebezustand.«1158 Auch hier fasst Wisser in die Wunde, finden wir doch bereits in Landmanns frühen Schriften ein allerdings problematisches Vorurteil zugunsten der ›Wahrheit der Pluralität‹ und zuungunsten der ›Willkür der Entscheidung‹, das letztlich selbst – wenn man den Gedanken weiterspinnen möchte – der Möglichkeit (dem Noch-sein-können) des Menschen seiner Wirklichkeit (seinem Schon-sein) gegenüber den Vorzug gibt. Pro­ blematisch ist dieses Vorurteil insofern unter der Höherwertung der Möglichkeit gegenüber der Wirklichkeit (man denke in diesem 1157 1158

Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 277. Wisser: Buchbesprechung MSGK, S. 646.

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Zusammenhang an die suggestive Wirkung der von Landmann sog. »Enge der Wirklichkeit«) eine philosophische und zunächst einmal wertneutrale Analyse ihrer realen Antinomie verdeckt ist. Wir können die Wahrheiten zwar nicht schaffen – so wie wir die Irrtümer vielleicht schaffen können –, aber auch in der Begünstigung der einen vor der andern liegt noch Willkür genug. Daß die volle Wahr­ heit dabei nur die Mannigfaltigkeit selbst, die Begünstigung lediglich eine Notwendigkeit der Praxis ist und stets nur eine ›Wahrheit‹ her­ ausgreift, deren Absolutheit von einer andern bestritten werden kann, haben wir bereits angemerkt.1159

Es erscheint uns nicht allzu weit hergeholt die Annahme, dass Land­ manns tiefe Skepsis, ja Abneigung gegenüber jeglichem Monismus ihn umso energischer zu einer Anthropologie der Pluralität tendieren lässt, die Wisser – in diesem Aspekt treffend – als »pluralistisch-abso­ lutistische Kulturphilosophie« charakterisiert.1160 Die metaphysische und die axiologische Voraussetzung, das heißt: Notwendigkeit und Gnade kultureller Pluralität, bilden ein unauflösliches Gefüge, was sich nicht zuletzt an den Formulierungen aufzeigen lässt, wenn Land­ mann über die Kultur des Menschen schreibt: »Daß er sie überhaupt schaffen darf, darin liegt bereits, daß er sie immer wieder anders, daß er sie als die allerverschiedenste schaffen darf.«1161 Dies ist umso bemerkenswerter, als Landmann selbst in seinem Spätwerk die These von der Notwendigkeit menschlicher Pluralität durchaus und – was wichtig ist – wiederum unter kulturkritisch-normativem Gesichts­ punkt in Frage stellt resp. gestellt sieht. Von hier aus erscheint seine Philosophie des Pluralwesens Mensch als ambitionierter Versuch, entgegen der Erfahrung von und Tendenz zur Unifizierung umso mehr die Notwendigkeit von Vielheit zu begründen. Unwillkürlich reagiert er damit auf einen kritischen Einwand Hilckmanns: »Fast möchten wir meinen, daß Landmann den Gedanken der Pluralität der Kultur überspitzt. […] Gewiß, die Vielheit und Verschiedenheit der

Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 102, Herv. F.S. Wisser, Richard: Probleme der philosophischen Anthropologie, insbesondere der Kulturanthropologie. In: Die Welt der Bücher. Literarische Beihefte zur Herder-Kor­ respondenz. Zweite Folge, Heft 6. 1961, S. 293 [im Folgenden: Probleme der philoso­ phischen Anthropologie]. 1161 Landmann: MSGK, S. 25 f., Herv. F.S. 1159

1160

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12.2 Kultur als Normativität des Faktischen

Kulturen ist eine Tatsache; aber daß sie eine notwendige Tatsache sei, dürfte sich doch schwerlich begründen lassen.«1162

12.2 Kultur als Normativität des Faktischen Neben den gegenüber monistischer Philosophie und unifizierender Kultur kritischen Motiven hat Landmanns Emphase für die Plura­ lität menschlicher Lebensformen ihren kulturphänomenologischen Grund in der Kultur als solcher eignenden Tendenz, sich selbst als Natur auszugeben. Die Funktionalität von Kultur besteht zu nicht unwesentlichen Teilen darin, ihre eigene Faktizität als Normativität, ihr Sein als ein Immer-und-überall-so-sein und ein So-sein-sollen, ja -müssen erlebbar zu machen.1163 Vorgängigkeit der Welt, Objektivität der Kulturdinge: Einen basa­ len, ontologisch-anthropologischen Aspekt dieser Kultur-MenschRelation bildet die Objektivität der Kulturdinge, deren Erlebtwerden wiederum eng mit der Vorgängigkeit der dem Einzelnen äußerlichen Kulturwelt1164 als ganzer zusammenhängt. Die Formen des objekti­ ven Geistes stehen ihm, »einmal vorhanden, mit einer gewissen Selbständigkeit und Härte gegenüber. Er findet sie eben immer bereits vor wie die äußere Natur und kann an ihnen ebensowenig wie an ihr etwas ändern. Er muß den Forderungen, die sie an ihn richten, 1162 Hilckman: Der Mensch und die Kultur, S. 365, Anm. 10. Es ist bezeichnend, dass die Kritik an Landmanns ›radikalem‹ Pluralismus bei Hilckman wie bei Wisser aus­ geht und getragen ist von einer monistischen Konzeption, die bei ersterem von der Religion im Unterschied zur Kultur (vgl. ebd., S. 362), bei letzterem von einer die pluralen Lebensformen des Menschen ›einenden‹ Transzendenz (vgl. Wisser: Buch­ besprechung MSGK, S. 645) ausgeht. 1163 Vgl. Hupe, der beschreibt, wie die jeweilige Kultur entwicklungspsychologisch wie funktional »erst einmal den Eindruck entstehen [lässt], die ganze Welt sei von Menschen bewohnt, die geradeso dächten, glaubten und handelten wie wir. […] In all diesen Fragen sind wir in so starkem Maße durch unsere spezifische Kultur geprägt – noch ehe wir überhaupt Kenntnis davon bekommen, daß es auf der Welt auch etwas anderes gibt – daß wir leicht dazu neigen, schließlich unsere Lebens-, Denk- und Auf­ fassungsweise für die beste, ja die einzig richtige (da normale) zu halten« (Kreativität und Teleologie, S. 149). 1164 Vgl. Arbeitskreis: Einleitung zu Der Begriff der Kultur, S. 11, wo es heißt: »Die Vorgängigkeit der kulturellen Formen und Vermittlungen wird zum Thema einer Phi­ losophie der Kultur, die sich auf die unhintergehbare Verwobenheit der kulturellen und sozialen menschlichen Tätigkeiten konzentriert«.

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genügen.«1165 Kulturdinge nehmen nicht sekundär die Form resp. den ›Aggregatzustand‹ der Objektivität an, sondern umgekehrt qua­ lifiziert erst seine Objektivität ein Ding überhaupt als Element von Kultur. Zeitlich als »Immer-schon-vorhandenheit«1166 wie räumlich als Allgültigkeit profilieren und stilisieren sich kulturelle Formen als eigenständige und eindeutige Elemente einer ›Natur‹, die des Menschen, wenn überhaupt, nur um ihrer selbst willen bedarf. Die ›Funktionalität von Kultur als Natur‹ ist erfüllt, sofern dieser selbst als ›Durchgangspunkt für Objektives‹ ihr nichts hinzuzufügen, sie nicht ummodeln zu können scheint: Da er sich noch nie anders denn als gelenkt erfahren hat, erlebt er über­ haupt keine Forderung. Eine Forderung erlebt nur, wer noch andere Möglichkeiten sieht als die von ihr zu realisieren geforderte. Sondern er erlebt nur eine einzige Möglichkeit des Tuns, eine verpflichtende Notwendigkeit, der sich entziehen er nicht einmal wollen kann. Indem er ein überschreitbares Gebot befolgt, glaubt er ein unausweichlich eintretendes Naturgesetz zu befolgen. Was er tut, geschieht gleichsam nicht durch ihn, sondern durch ihn hindurch.1167

Heimeligkeit der Umgebung und Handeln nach Gewohnheit: Von der Seite des subjektiven Erlebtwerdens aus betrachtet fungiert und funk­ tioniert die jeweilige Kultur als »gewohnte Umgebung« und trägt als solche »durch tägliche Einübung den Charakter der Fidentialität, der Heimhaftigkeit. Ihre Teilmomente sind das Existential, das Notal und das Sekural: Wirklichkeit im Sinne vollen Seins, Bekanntheit und Sicherheit.«1168 Der Objektivität und Natürlichkeitssuggestion der Kulturdinge spielen diverse menschliche Trugschlüsse in die Hände, die das Bekannte mit dem Seienden und (dieses mit) dem Siche­ ren und Vertrauenswürdigen identifizieren.1169 Diesem Erleben ent­ spricht praktisch die Form des Gewohnheitshandelns resp. -verhal­ Landmann: MSGK, S. 31. Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 175. 1167 Landmann: SaW, S. 99. 1168 Landmann: Plädoyer für die Entfremdung, S. 134. Landmann bezieht sich hier auf die Terminologie von Richard Avenarius. Vgl. auch P, S. 292 f., außerdem FA, S. 201: »Weil wir uns seinsmäßig bereits besitzen, deshalb meinen wir naiverweise, wir besäßen uns eo ipso auch wissensmäßig«. 1169 Vgl. Landmann: P, S. 293 u. Plädoyer für die Entfremdung, S. 143. Siehe außer­ dem Elisabeth Welskopf: Entfremdung, historisch gesehen. In: Dt. Zeitschr. f. Phil., Nr. 6 (1965). Berlin: VEB Dt. Verl. der Wissensch., v.a. S. 711–713 [im Folgenden: Entfremdung, historisch gesehen]. 1165

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12.3 Unproblematik der Welt und Illusionsfähigkeit des Menschen

tens, die empirisch quantitativ den Normalfall bildet und verstehbar ist als eine Kultur und Mensch diffus vermittelnde Gestalt, in der letzterer die erstere bzw. ihre Inhalte derart und dermaßen erfüllt, als sei er sie selbst. Insbesondere Landmanns Philosophie menschlicher Kreativität muss gesehen werden vor dem Hintergrund seiner Vor­ stellung von Kulturalität als der unproblematisierten Geprägtheit des Menschen durch seine Umgebung und seine allzu leicht ›von der Hand gehende‹ Erfüllung ihrer Vorgaben. Und zwar nicht allein, weil das originäre Schaffen und die vollstreckende Ausführung faktisch in Spannung, ja Widerspruch zueinander stehen können, sondern auch sofern in einer schichtmäßigen Betrachtung die Kreativität auf der sie ermöglichenden, rahmenden und motivierenden Kulturalität aufruht – ähnlich wie eine Schauspielerin gerade dem auswendig gelernten Text umso feinere Raffinessen und individuierende Momente einzu­ weben vermag.

12.3 Unproblematik der Welt und Illusionsfähigkeit des Menschen Primat der geschlossenen Deutung – Kritik als sekundärer Luxus: Betrachten wir das Mensch-Kultur-Verhältnis (objektiv als ›Normati­ vität des Faktischen‹1170, subjektiv als ›Heimeligkeit der Umgebung‹ verstanden) unter dem Aspekt menschlichen Erkennens, so greifen die Unproblematik der Welt und die Illusionsfähigkeit des Men­ schen ineinander und bilden gemeinsam ein mehr oder weniger stabiles, freilich nicht notwendig bewusstes ›Wissen‹. Dieses Wissen ist ebenso seinsmäßig sekundär (als Schließung eines ursprünglich Offenen) wie erlebnismäßig primär (als umfassende Geschlossen­ heit). Sobald der Geist sein Auge aufschlägt, findet er sich bereits in einer Unzahl von Wissungen stehend vor. Und keineswegs werden nun diese Wissungen normalerweise als Resultate früherer Erkenntnisprozesse 1170 Der von Georg Jellinek im Kontext des Rechts eingeführte Terminus (bzw. die Idee) einer ›Normativität des Faktischen‹ resp. ›normativen Kraft des Faktischen‹ wird hier insgesamt kulturphilosophisch verstanden und findet sich dem allgemeinen Inhalt nach dezidiert bei Landmann: »Deshalb akzeptieren die meisten die bestehen­ den Zustände. Der innere Anspruch erliegt der Suggestion des sichtbaren Realen« (EdI, S. 196).

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angesehen. So rekonstruiert es sich der Verstand, aber so ist es nicht im ursprünglichen Erleben. Für dieses vielmehr sind die überkommenen Wissensgehalte so selbstverständlich da wie Licht und Luft, wer wird sie vor die Ursprungsfrage stellen?1171

Hier von ›Wissen‹ zu sprechen, ist genau genommen irreführend, da die relevante Erlebnisqualität ja gerade darin besteht, mehr affektiv, in einer »gleichsam traumhafte[n] Erlebniswirklichkeit« die gegenüber­ stehende Sache mit dem, was als ein Wissen von ihr erscheint, zu identifizieren, »zu verwürfeln.«1172 Im unproblematisierten Weltbe­ zug sind resp. halten sich das ›Wissen‹ und sein ›Gegenstand‹ derart in Deckung, »wie man von zwei übereinanderliegenden Bogen Papier auf den unmittelbaren optischen Eindruck hin oft nicht sagen kann, ob es einer oder zwei sind.«1173 Es ist entsprechend eine allerdings kulturobjektiv wie psychisch voraussetzungsreiche hermeneutische Leistung des Geistes, aus dem »Gehäuse der Schongedeutetheiten […] auszubrechen und des zu Deutenden als solchen erst wieder gewahr zu werden.«1174 Nicht allzu übertrieben spricht Landmann sogar vom »Luxus, die Gedeutetheiten als solche zu begreifen, sie abzutragen und hinter und unter ihnen das durch sie verdeckte Ungedeutete und die unbeantwortete Frage aufzuspüren.«1175 Es Landmann: EuE, S. 246. »Unser Geist ist früher empfänglich als kritisch« (AgV, S. 72). 1172 Landmann: UuS, S. 193. Diese unpräzise Bezeichnung hat auch Landmann im Blick, wenn er schreibt, das »Wahrheitserlebnis hat ursprünglich etwas EmphatischAntithetisches. Wahrheit ist das, was sich gegen einen Hintergrund von Unwahrheit abzeichnet, die durch sie gleichzeitig erst als solche bloßgestellt und beiseitgesetzt wird« (AgV, S. 101). 1173 Landmann: EuE S. 103 f. Das Bild der Schablonen ist auch insofern treffend, als in ihm die Zweidimensionalität des unproblematisierten Weltzugangs visualisiert ist, die sich wiederum ergibt aus der »Urtatsache des Wissens: daß es primär eine Relation zum Gewußten, nicht aber auch zum Ungewußten darstellt« (ebd., S. 221). Sobald im Problematisieren das Ungewusste mit einbezogen wird, besteht wenigstens die Chance zur Erweiterung in Richtung einer dreidimensionalen Gestalt. Die tendenzi­ elle Absenz des Un- oder Nichtgewussten für den Geist rührt daher, dass er um das Nichtwissen des Nichtgewussten wissen müsste, um überhaupt vom (Bestehen eines) Nichtgewussten wissen zu können; ganz im Gegenteil aber »verfallen wir […] natür­ licherweise gern dem Glauben, alles, wovon wir nicht zufällig wissen, daß wir es nicht wissen, wüßten wir. Erst bei zunehmend häufiger Enttäuschung dieses Glaubens ent­ decken wir zunehmend, daß es umgekehrt ist und wir alles, was wir nicht zufällig wissen, nicht wissen« (ebd., S. 249). 1174 Ebd., S. 231. 1175 Ebd., S. 247 f. Vgl. EdI, S. 196. 1171

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braucht eine »›Abschüttelung des Umweltbannes‹ (Scheler)«1176, eine Entwindung aus der habituell[en] […] Beantwortetheit«1177, in der der Mensch – zumal bezüglich des ›Wissens‹, das er von sich selbst zu haben meint – tendenziell verharrt. Illusionsfähigkeit und habituelle Täuschung als lebenspragmati­ sche Notwendigkeit: Die Fähigkeit des Menschen zur Illusionsbildung und Selbsttäuschung ist ebenso philosophisch-anthropologisch pro­ blematisch wie lebenspragmatisch sinnvoll und notwendig. Zumal letzteres ist umso nachdrücklicher zu betonen als die Rede von Täuschung und Illusion streng genommen nicht nur unpräzise, da letztlich grundlos, sondern darüber hinaus negativ konnotiert ist. Ob von einer »habituellen Täuschung«1178, einem »lebensbedingte[n] Illusionismus«1179 oder einem »freiwillige[n] Irrtum«1180 die Rede ist – stets und noch im Eingeständnis seiner Unerreichbarkeit ist das Ideal eines allgültigen, vollständigen, erschöpfenden Wissens leitend. Dieses wird bezeichnenderweise auch bei Landmann indirekt mit dem Etikett der Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit versehen, wenn er schreibt, der geistig geweckte Mensch [müsse] überhaupt, um Gradlinigkeit in sein Denken und Tun zu bringen, durch künstliche Abblendung etwas von der Unempfänglichkeit für Probleme wiederzugewinnen trachten, mit der die meisten Menschen, selbstverständlich in ihrer umgrenzten Lebenssphäre zu Hause und für das sie nichts angehende Fremde von vornherein uninteressiert, wie mit einem Schutzpanzer durchs Leben gehen.1181

Diese Textstelle ist bezeichnend nicht nur, weil sie das normative Erkenntnisideal wenigstens N. Hartmanns, über dessen Philosophie Landmann hier schreibt, verdeutlicht, sondern darüber hinaus eine für Landmanns Anthropologie äußerst wichtige Motivation dieses Erkenntnisideals andeutet: das ist die (eben keinesfalls selbstver­ ständliche) Pluralität, im Zitat tituliert als das ›die meisten Menschen nichts angehende Fremde‹, für das – und dies ist entscheidend – der Mensch, wie er Landmann vorschwebt, durch das Sich-offen-halten 1176 1177 1178 1179 1180 1181

Landmann: PA, S. 165. Landmann: FA, S. 201. Vgl. auch P, S. 289. Landmann: AgV, S. 113. Landmann: Berliner Rückblenden, S. 690. Landmann: P, S. 50. Ebd., S. 343.

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für Probleme ebenfalls offen zu bleiben vermag. Der Mensch im Kollektivsingular ist hier wie stets problematisch: Trifft das über den Menschen Gesagte auch für die Menschen im Plural zu? Das Problem ist hier Türöffner für die Infragestellung des Eigenen und Blicköffner für das Andere. Landmann insistiert umso nachdrücklicher auf dem Illusorischen des Unproblematischen, als er deutlich sieht, dass zumal »das Stehenbleibenmüssen bei […] unlösbaren Problemen etwas Unbefriedigendes« hat und es daher stets naheliegt, »unehrlich gegen sich selbst zu sein, sich das Unvermögen zu einer ernstlichen Antwort nicht einzugestehen und sich unbedenklich eine fiktive zurechtzu­ phantasieren.«1182 Die normative Wucht, mit der er hier ungnädig den lebenspragmatischen Normalfall abkanzelt, ist gleichsam die andere Seite seiner Positivbewertung menschlicher Pluralität, die er hier bedroht sieht. Nicht weil Landmann meint, der Mensch könne sich seiner habituellen Täuschung grundsätzlich entwinden, plädiert er aufkläre­ risch für ein an ihre Stelle tretendes Wissen, sondern gerade weil er umgekehrt die Funktionalität menschlicher Illusionen für den Vollzug menschlichen Lebens und Erkennens in aller Deutlichkeit sieht, plädiert er umso nachdrücklicher für die Öffnung des Lebensund Erkenntnishorizonts im – Wissen und Nichtwissen zugleich einbeziehenden – Problem als gleichsam ›geistigem Äquivalent‹ zum offen-strömenden Leben. Von hier aus lässt sich einer Rede von Illusion und Täuschung, die sich streng genommen zusammen mit dem Wahrheitsanspruch erledigt, doch ein spezieller kritischer Sinn abgewinnen. Nähern wir uns diesem über Landmanns in zweierlei Hinsicht positive Bestimmung menschlicher Illusionsfähigkeit: Ers­ tens ist sie fernab ihrer epistemologischen Qualität und Valenz »die Grundlage von Leben und Kultur«.1183 Als solche versieht sie wie die ›Wahrheit‹ auch »im ›Verhalten-Umwelt-Gefüge‹ eine vitale [was auch bedeutet: eine potentiell devitalisierende, Anm. F.S.] Funktion. Obgleich es auch ›tödliche Wahrheit‹ und ›heilsamen Irrtum‹ gibt, kann Sich-der-Wahrheit-entziehen Störung (wenn nicht Zerstörung) des Lebens sein.«1184 Illusionen können darüber hinaus zweitens Landmann: P, S. 321; S. 51: »Nicht alles, was man weiß, weiß man gern«. Landmann: GuL, S. 81. 1184 Landmann: AgV, S. 100. Vgl. Welskopf: Entfremdung, historisch gesehen, S. 719. Landmann: WiP, S. 116. Vgl. außerdem Landmann: Schopenhauer heute, S. XXXII u. GuL, S. 37. 1182

1183

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»dazu beitragen, daß der Mensch sich die Welt bewußtseinsförmig macht und seine Fähigkeiten entwickelt«, indem sie »Eigengesetzlich­ keiten aus[lösen], die ihn auf neue Ebenen des Daseins heben.«1185 Sie sind dann nicht nur für den Vollzug menschlichen Lebens in der Welt, sondern gerade als Illusionen, d.h. als eine bestimmte Form der Welterschließung für die menschliche Erkenntnis funktional. Man kann von hier aus so weit gehen, gerade dem ›Wissen‹ und der ›Wahrheit‹ eine erkenntnisverdeckende Wirkung, dem Irrtum dagegen einen die Erkenntnisaktivität als solche anregenden und anzeigenden Effekt zuzuschreiben: »Ist nämlich unser Wissen wahr, dann verschwindet es selbst und die Wahrheit im Gewußten. Beide überdecken sich. Erst beim Irrtum, in dem eine inhaltliche Differenz zwischen dem Vermeintsein der Sache und der Sache selbst aufklafft, tritt die eigene Leistung des Bewußtseins gesondert hervor.«1186 Wir sehen deutlich, dass nicht nur, »was die Wirksamkeit angeht, der ›Schein‹ der ›Wahrheit‹ nicht nachsteht und ein Glied im Kausal­ verlauf der Realität selbst sein kann«1187, sondern beide durchaus analoge Effekte zeitigen, was die Frage nach ihrer Unterscheidbarkeit aufkommen lässt. Für diese Unterscheidbarkeit ist nun, wenigstens bei Landmann, die menschliche Pluralität zentral, als der normative Anhaltspunkt, der der Rede von Wahrheit und Täuschung noch Richtung, Inhalt und Sinn gibt. Dass die Pluralität des Menschen das zugleich Evidenteste und Verborgenste ist und Erkenntnis wie Leben dazu neigen, sich über ihre Faktizität und Valenz hinwegzutäuschen, lässt sie für Landmann in einer ausgezeichneten Mitte zwischen radikaler Skepsis und statischer Wissensruhe stehen und qualifiziert sie als epistemologischen, ethischen bildungsanthropologischen ein­ heitlichen Kern seiner Philosophie: Im Leben können wir die Wahrheit durchaus umgehen und mißachten. Das eine ist es, sie zu erkennen, das andere aber, das keineswegs gradlinig daraus folgt und deshalb in den Bereich der Ethik fällt, ist es, ernst mit ihr zu machen und sie verbindlich zu nehmen, und ohne dies gibt es keine Selbstwerdung des Menschen.1188

1185 1186 1187 1188

Landmann: FA, S. 298. Landmann: WiP, S. 16. Landmann: EuE, S. 279, Anm. 2a. Landmann: UuS, S. 194.

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Die nach- und nochidealistische Befangenheit der Lebensphilosophie – noch eine Lanze für das Leben: Die Qualität, ›wahr‹ zu sein, bezieht die Pluralität des Menschen für Landmann daraus, unabhängig vom Erkanntwerden durch den menschlichen Geist zu gelten. Dies ist der genaue Sinn jener paradox anmutenden Vorstellung menschlicher Grundstrukturen, die zwar historisch entdeckt und durchgesetzt wer­ den müssen, aber bereits dem Menschen als solchen eigen sind. Zwar ausgehend vom historischen Material, also von dem, was die unzähligen Geschichten vom Menschen kundtun, zielt Anthropologie doch auf das, »was er ist, auch wäre, wenn kein Subjekt ihn sich zum Objekt machte. Das Gegenstandsein ist ihm äußerlich. Erst dadurch gewinnt es überhaupt auch Sinn, von Erkenntnis im Gegen­ satz zu Irrtum zu sprechen.«1189 Die Pluralität des Menschen ist der ›Inhalt‹, in dem und durch den ›der Mensch‹ für die Anthropologin als »Gegenstand einen Eigenstand hat, der sich nicht vom Subjekt her verschieben läßt«1190 und insofern nicht zu verhandeln, das heißt als wahr anzunehmen ist. Nur in diesem Sinne lässt sich Begriffen wie objektiver Irrtum, trügerische bloße Meinung, bloße subjektive Vorstellung, bewußte Lüge ein epistemologischer Sinn zuschreiben; im Verständnis des menschlichen Lebens und Erlebens greifen sie an den relevanten Phänomenen vorbei. Landmann deutet dies an, wenn er schreibt, diese Begriffe hätten »etwas seelisch Entlastetes, sie spielen ausschließlich in der kognitiven Sphäre zwischen der Erkenntnis und der Sache, die getroffen oder verfehlt, enthüllt oder verhüllt wird.«1191 ›Illusion‹ in einem streng lebensphilosophischen Sinne, d.h. unter Berücksichtigung nicht nur der Funktionalität des Geistes für das Er-Leben, sondern auch der Eigenqualität des letzteren als Er-Leben, kann lediglich Verwechslung, Übertreibung, Verkürzung, Verzerrung, Zuspitzung, Fokussierung etc. bedeuten. Es ist bezeich­ nend, dass negativistisch- bzw. idealistisch-voluntaristische Lebens­ philosophen wie Schopenhauer, Marx, Freud (im Unterschied zu Bergson, Nietzsche, Simmel) sich zwar philosophisch dem Leben dezidiert zuwenden, es aber gleichzeitig mit einer negativen Valenz

1189 1190 1191

Landmann: EuE, S. 75. Ebd. Landmann: UuS, S. 222.

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12.3 Unproblematik der Welt und Illusionsfähigkeit des Menschen

versehen1192 und damit in der lebensfeindlichen Befangenheit idealis­ tischer Philosophie hängen bleiben. Weit davon entfernt, mit den Lebensfaktoren als positiven Kräften Ernst zu machen, ziehen sie mit dem verschleiernden Geist (der Illusion, Ideologie, Kultur) auch das Verschleierte selbst (den Willen, die Arbeit, die Triebe) in die Negation, um dann letztlich sogar den Geist als positive und umso heller strahlende Kraft (als willensenthobene Schau, Ideologiekritik, Psychoanalyse) rückzugewinnen.1193 Diese Reinigung der menschli­ chen Erkenntnis gelingt allen dreien umso leichter, als es ja letztlich von vornherein nur die voluntativen, praktischen, sexuellen Interes­ sen des Lebens waren, durch die und unter deren dumpfem Diktat sie verunreinigt worden ist. Wenigstens sprachlich1194 steht auch Landmann in der Linie einer Deutung des Lebens ex negativo vom Geist her, wenn er von Abblendung spricht und davon, ›Illusionen‹ seien pragmatisch funktional, da das Leben ohne sie unlebbar wäre – anstatt das unter ›Illusion‹ nur unzureichend Begriffene tatsächlich phänomenologisch und in der Nachfolge Nietzsches unter positivem Vorzeichen zu betrachten. Ungeachtet der Frage, ob dies angesichts der Schwierigkeit, dass es stets Geist bleibt, der das Leben denkt, überhaupt möglich ist, scheint der gestaltphilosophische, die lebensund kulturphilosophisch zu begreifende Dynamik von Gestaltwech­ Vgl. Landmann: Schopenhauer und Marx, S. 184: »Die Ideologie hält damit im System von Marx den Platz besetzt, den bei Schopenhauer die Illusion einnimmt. Sie ist die ›Illusion‹ von Marx, so wie die Illusion Schopenhauers ›Ideologie‹ ist. Ideologie wie Illusion sind Verschleierungen eines Furchtbaren, jene von Herrschaftsstrukturen, diese der Raserei des Willens«. 1193 Landmann führt diese paradoxe Dynamik im Fall Schopenhauer zurück auf das »Aufeinandertreffen zweier Weltbilder und zweier Zeitalter. Er hat eine neue Wirk­ lichkeit schon erblickt, behält aber noch die traditionalen, nicht aus ihr genommenen und ihr entgegenstehenden Wertungen bei. Er metaphysiziert die vita activa und preist die vita contemplativa, leitet die Sinnlosigkeit jener aus dem ihm schon vorher ander­ weitig feststehenden Sinn dieser ab. Hatte die Romantik das Irrationale am Seelenle­ ben nicht nur entdeckt, sondern auch geliebt, so steigert Schopenhauer dieses Irra­ tionale zum blind Dynamischen, das er aber haßt« (Landmann: Das Menschenbild bei Schopenhauer. In: Zeitschr. f. philos. Forschung. Bd.14. Meisenheim/Glan: A. Hain 1960, S. 399). 1194 Von einem Negativurteil über das Leben insgesamt kann bei Landmann m.E. nicht die Rede sein, auch wenn Figuren wie die »Enge der Wirklichkeit« und die Betonung menschlichen Leidens (an sich und der Welt) wie überhaupt der Einfluss von Schopenhauers Philosophie nicht zu gering veranschlagt werden sollten. Wenn er letztere als Semipragmatismus deutet, so ist dies vielleicht auch für sein eigenes Denken partiell kennzeichnend. 1192

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12. Kulturelle Polyphonie

seln (und Wechseln der Erlebnismodi) ins Zentrum rückende Zug in Landmanns Philosophie in diese Richtung zu weisen. Unproblematik des Lebens als Grenze der Hermeneutik – Anthro­ pologie als fragile Kulturtechnik: Es lässt sich deutlich sehen, dass das Leben als solches, das heißt strukturell und nicht allein aus bzw. als Interesse, seinem Erkanntwerden Grenzen setzt bzw. selbst eine sol­ che Grenze ist; hier ist das Negativurteil über das Leben verstehbar als ›Racheakt‹ eines beleidigten Geistes, dem es sich schlicht und einfach entzieht. Als Leben vollzieht sich der Mensch (bei Simmel heißt er Mehr-als-Leben) unproblematisch und insofern geradezu ›ungeistig‹, was in der Rede vom Sich-vollziehen des Lebens präzise ausgedrückt ist. Sofern der Mensch nur unter bestimmten Voraussetzungen der Kontingenz (›Problematizität‹) seiner Lebensformen, das heißt aber auch seiner eigenen geistig-kulturellen, sich im Gewohnheitsmodus als solche zwar verbergenden, für das Sich-vollziehen-können des Lebensflusses allerdings funktionalen Auslegungs- und Deutungs­ aktivität inne wird, bildet Kulturanthropologie im Aufzeigen, in der Begründung und Analyse menschlicher Pluralität eine ebenso dringliche und wertvolle wie prekäre Kulturtechnik. Auch wo um die Pluralität des Menschen gewusst wird, sieht sie als FundamentalAnthropologie ihre Aufgabe darin, diese Wissung bzw. Gewissheit zu intensivieren und so »dumpfes, undeutliches oder zu Unrecht für selbstverständlich angesehenes Wissen ins volle Bewußtsein emporzuläutern (während das Leben selbst der umgekehrten Tendenz zur Unbewußt-machung unterliegt).«1195 Gerade in der empathischen Hinwendung zum menschlichen Leben (zu sich als Leben) vollzieht sich die menschliche Erkenntnis (die Aktivität des Menschen als Geist) als Umkehrung. Der Geist kommt gleichermaßen zu früh und zu spät, ist nachträglich und doch immer schon im Weg: Wie die Kultur als ganze, so wird der Mensch sich selbst erst spät thematisch. Von allem, womit er sich befaßt, bildet er immer schon die Voraussetzung. […] Der Mensch liegt sich selbst im Rücken. Er muß sich umdrehen, um sich zu erkennen. Er ist sich selbst das Transzenden­ talste.1196

Die Pluralität des Menschen ist in diesem Aspekt auch als eine Art heuristisches Mittel anzusehen, in und mit dem der Mensch sich immer wieder problematisch, ja überhaupt thematisch bleibt, in und 1195 1196

Landmann: FA, S. 95. Ebd., S. 15.

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12.4 »Pluralität der Absoluta«

mit dem sogar der menschliche Geist dem für ihn unerreichbaren Leben trefflich zu schmeicheln vermag.

12.4 »Pluralität der Absoluta« Nehmen wir Landmanns Verständnis menschlicher Pluralität genauer in den Blick, das in der Formel von der »Pluralität der Abso­ luta« seine dichteste Formulierung findet, so lassen sich philoso­ phisch-anthropologische von axiologischen und ethisch-ästhetischen Aspekte unterscheiden. Kulturphilosophische Aufschlusskraft und erkenntnisanthropolo­ gischer Sinn kultureller Pluralität: Wie wir bereits mehrfach anführten, ist die Pluralität ebenso empirischer Ausgangspunkt wie metaphy­ sischer Rückbezugspunkt der kulturanthropologischen Frage, wie Landmann sie stellt. Das transzendental-anthropologische Rückfra­ gen von der Vielheit der Menschseinsweisen führt darauf, dass »offen­ bar der Mensch selbst nichts bis ins Letzte Festgelegtes, […] nur eine unvollendet offene Frage [ist], auf die er sich selbst in den Kul­ turen ebensoviele Antworten erteilt. Ihre Vielheit ist nur die äußere Folge seiner inneren Uneindeutigkeit.«1197 Kulturphilosophisch resp. -ontologisch besteht die Umkehrung darin, nicht mehr klassisch eine ursprünglich, sich dann sekundär ausfaltende Einheit des Seins, sondern (wie im Polytheismus) eine »substantiale, unhintergehliche, irreduzible Vielfalt«1198 anzunehmen. Damit ist die zeitliche um eine simultaneistische Perspektive ergänzt; was unter der »Herrschaft des Einheitspostulats« ausschließlich als »Succession der Zeit« the­ matisch wurde, kann nun, »nachdem das Postulat nicht mehr mit der bisherigen Strenge gilt, vielleicht bis zu einem gewissen Grade auch innerhalb der Gleichzeitigkeit«1199 betrachtet werden. Mit dem Monismus wird philosophisch auch die Vorstellung einer Harmonie, Abgeschlossenheit oder Vollständigkeit des Seins fallen gelassen, was sich anthropologisch übersetzt in die paradoxe Bestimmung des Menschen, »kulturelle Formen zu schaffen, und daher immer wieder Landmann: Von der Individualanthropologie zur Kulturanthropologie, S. 336. Landmann: EdI, S. 41. 1199 Landmann: EuM, S. 113. Vgl. zur Unterscheidung von Vielheit der Simultaneität und Vielheit der Sukzession UuS, S. 138. 1197

1198

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die Fülle des Unzulänglichen zu schaffen«.1200 Unzulänglich ist das je Kulturelle freilich nur im anthropologischen Sinne; geschichtlich betrachtet betont Landmann ja im Gegenteil seine je innere Voll­ kommenheit. Dem »Kulturgesetz der begründeten und berechtigten Vielheit«1201 gemäß sollen verschiedene Kulturerscheinungen »über­ haupt nicht mehr am selben Maßstab gemessen werden, weil in ihnen auch ganz verschiedene Ideale herrschen.«1202 Die »Pluralität der Absoluta« erschöpft sich jedoch nicht darin, methodisches bzw. heu­ ristisches Leitprinzip für Historikerinnen zu sein, sondern markiert eine kulturontologische Aussage, die ihre argumentative Kraft aus der Umkehrung des klassischen philosophischen Vorurteils bezieht, absolut könne nur Eines sein, das Viele sei die Sphäre des Relativen, sich eben durch seine Vielheit gegenseitig Relativierenden. Die sophis­ tische Entdeckung dagegen läuft, richtig verstanden, darauf hinaus, daß es auch eine Pluralität der Absoluta gibt. An die Stelle eines falschen Absolutheitsglaubens setzt sie die an sich vorhandene Relativität. Wo aber die Relativität nicht mehr durch ein Absolutes relativiert wird, ist sie selbst absolut.1203

Diese Argumentation ist ebenso anthropologisch konsequent wie axiologisch fragil. Mit Bezug auf die empirische Evidenz deklariert Landmann selbstsicher, »das vertikale, unterordnend-rangstufende und zugleich am Zeitfaden aufreihende, evolutionäre Anschauungs­ gerüst« behalte »Unrecht […] gegen das horizontale, demokratische, stigmatische und atemporale«.1204 Im Ringen dieser zwei »alles durchgreifende[n] Denkstile« trüge, obwohl dem ersten die mensch­ liche Neigung gilt, in der Gegenwart der zweite reifere, komplexere und anspruchsvollere den Sieg davon.1205 Wenn Landmann diesen Denkstil als ›demokratisch‹ charakterisiert, so deutet dies auf eine Normativität hin, durch die der Sinn einer Rede von ›absoluter Relati­ Landmann: Aufstand der Spontaneität, S. 174. Landmann: MSGK, S. 68. 1202 Landmann: UuS, S. 182 f. 1203 Landmann: MSGK, S. 66. Vgl. auch FA, S. 84 sowie in seiner Rezension von Hartmanns Ethik: »Aus dieser Vielheit einen Relativismus zu folgern, erweist sich so als ein Zeichen seelischer Armut. Daß der Absolutheitsanspruch vieler Moralen nebeneinander besteht, bedeutet nicht, daß sie sich gegenseitig aufheben müssen, sondern beweist nur die Schwäche des Menschen, die inhaltliche Fülle des Absoluten adäquat zu fassen« (Landmann: Hartmann: Ethik (Rezension), S. 225). 1204 Landmann: PuA, S. 220. 1205 Ebd. 1200 1201

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12.4 »Pluralität der Absoluta«

vität‹ fraglich wird. Wir schließen uns hier Hilckman an, der andeutet, »daß mit der Einsicht in die Pluralität der Verwirklichungsformen der einen humanitas durchaus nicht notwendig die von Landmann anscheinend gezogene Konsequenz eines philosophischen Relativis­ mus verbunden sein muß.«1206 Gerade als metaphysische, das heißt »letzte philosophische Aussagen« des menschlichen Geistes, dem Landmann eine »die Kulturalität transzendierende Bewegung und Beweglichkeit« gleichsam verweigert, beziehen die »Pluralität der Absoluta« und die »Multiplizität der Geschichtlichkeit«1207 auch einen dem radikalen Relativismus spottenden axiologischen Sinn und bringen eine letztlich weltzugewandte und insofern philosophie- resp. vernunftkritische Haltung zum Ausdruck.1208 Die axiologische Signatur und das Wertinvestment der Pluralitäts­ idee: Wir kommen dem axiologischen Investment von Landmanns Pluralitätsidee auf die Spur, wenn wir uns den Fall eines strengen Relativismus als sozusagen partikularistische Zerrform von Plurali­ tät versuchsweise vorstellen. Erschöpft sich hier das je Kulturelle darin, unverbunden Einzelnes, ja atomistisch Vereinzeltes zu sein und erschöpft sich die Vielheit der Singularitäten darin, sinngleichgültiges Produkt eines Zufalls zu sein, so stehen die kulturellen ›Einzelheiten‹ bei Landmann in einer Beziehung, die sie mehr als Einzelheiten, das heißt: Kulturindividualitäten, sein lässt. Eben als Pluralität der Absoluta bildet die Pluralität selbst einen Wert, der die Singularitäten axiologisch transzendiert, das heißt: sie Elemente sein lässt in einer gestalthaften Konstellation, die ihnen den speziellen Sinn verleiht, sie an der speziellen Bedeutung Anteil haben lässt, ebenso wenig einziger wie defizitärer Ausdruck des Menschen zu sein. Die ›Rela­ tivität‹ der Kulturen gilt absolut, sofern diese sich notwendig aus der anthropo-logischen ›Situation‹ des zur Kulturschöpfung konfigu­ rierten Menschen ergeben; sie gilt geschichtlich nur eingeschränkt absolut, da für die Betrachterin Kulturen axiologisch unterscheidbar werden je nachdem, ob und inwieweit ihre Inhalte einer Pluralität des Menschen (resp. einem entsprechenden Offenhalten seiner Lebens­ formen) förderlich sind oder nicht. Bekämen sie atomistisch vereinzelt gar nichts miteinander zu tun und könnten sie auf kein Gemeinsames bezogen werden, so bilden die Kulturindividualitäten für Landmann 1206 1207 1208

Hilckman: Der Mensch und die Kultur, S. 358, Herv. F.S. Wisser: Buchbesprechung MSGK, S. 643. Vgl. Landmann: FA, S. 37.

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12. Kulturelle Polyphonie

eine Vielheit, was stets bedeutet: eine Vielheit-von, eine Vielheit des Menschen, der als verbindende Bezugsgröße auch einer Rede von der Differenz der Kulturen erst Inhalt gibt – und zwar den Inhalt, gerade als Differenz Ausdruck der schöpferischen Freiheit des Menschen zu sein: »Die Vielheit ist erst wegen des allgemein Bedeutsamen, das in der Verschiedenheit zum Vorschein kommt, schätzenswert.«1209 Mit stärkerem Fokus auf die je einzelne Kultur formuliert Landmann: »Der Wert von Kulturen und Epochen liegt gerade in ihrer Indivi­ dualität, in der immer wieder anderen lebendigen Gestalt.«1210 Jetzt wird voll verständlich, warum die Doppelthese, das Kulturindividuelle beziehe seinen Sinn aus sich selbst und sei auch nur von diesem immanenten Inhalt her zu verstehen, weder einem Relativismus entspringt noch in ihn führt. Jede der kulturellen Möglichkeiten des Menschseins »ist spezifischen, geschichtlich wechselnden Lebensvor­ aussetzungen zugeordnet, läßt sich [geistig wie praktisch, Anm. F.S.] auf andere Voraussetzungen nur mit Gewaltsamkeit, nur um den Preis des Unechtwerdens übertragen.«1211 Dies trifft nun auch auf den geistig-kulturellen Inhalt der Idee einer »Pluralität der Absoluta« selbst zu; in ihr sind die kulturelle Eigenwüchsigkeit und Eigentüm­ lichkeit des Individuellen und ihre Nichtübertragbarkeit, Unwieder­ holbarkeit anthropologisch gesehen und als Wert investiert. Die über eine Differenzerfahrung vermittelte Unangemessenheit einer Übertragung der Kriterien für das Verstehen und Beurteilen des Fremdkulturellen vermittelt dem Verstehen-wollenden dieses selbst als einzig legitimen Rahmen seines Verstehens – was jedoch selbst bereits Produkt resp. Ausdruck seines geschichtlich-pluralistischen Vorurteils ist! In dichtem Ineinander kommt ihm die Möglichkeit, eine »Pluralität der Absoluta« zu sehen, vom sein Verstehen-wollen induzierenden Gegenstand zu und erwächst ihm motivational wie inhaltlich bereits aus seinem eigenen Hintergrund. In der normativen Anerkenntnis des Kulturellen als eines Wertvollen und Besonderen sieht er es also nicht nur als das, was es inhaltlich ist, sondern bringt es darin, das heißt unlösbar davon als Wert zur Geltung, realisiert am

1209 1210 1211

Wisser: Buchbesprechung MSGK, S. 646. Landmann: Geschichtsphilosophie, S. 691. Ebd., S. 693.

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12.4 »Pluralität der Absoluta«

konkreten Einzelfall den übergeordneten Wert der Pluralität, lädt es auf zum Ausdruck-von.1212 Ästhetisch-ethischer Doppelsinn der Vorstellung kultureller Plura­ lität: Schwer von der axiologischen Signatur der Pluralitätsidee zu trennen und gewissermaßen als ihre prospektiv-postulative Fortset­ zung schließt die »Pluralität der Absoluta« einen ästhetisch-ethischen Doppelsinn ein. Dies wird deutlich, wenn Landmann »die Hinnahme des unableitbaren Wunders jeder Gestalt«1213 als »zum wissenschaft­ lichen Stolz unseres Jahrhunderts«1214 gehöriges Element hervorhebt. Dabei lässt sich nicht genau bestimmen, wie bzw. wodurch die mehr ästhetische Betrachtung der »eigenwüchsige[n] Wesensart« und des »autonome[n] Gestaltungsprinzip[s]« eines Einzelkulturellen über­ geht in die Deklaration seines »gleichen hohen Wert[es]«1215 in Zusammenschau mit anderen. Offensichtlich aber lässt sich sagen, »daß der Pluralismus umso leichter anerkannt werden kann, je weiter ein Kulturgebiet [hier ist die zur Vielheit der Stile sich differenzie­ rende Kunst zu nennen, Anm. F.S.] von der Sphäre der Wahrheit entfernt steht oder zu stehen scheint, und daß der Widerstand gegen ihn um so größer wird, je näher es ihr steht [was für das monistische Denken in Philosophie, Ethik und Religion zutrifft, Anm. F.S.].«1216 Umgekehrt betrachtet wird Landmanns Anthropologie des Pluralwe­ sens Mensch kenntlich als der unermüdliche Versuch, die monistische Neigung des (philosophisch-ethischen) Denkens umzulenken in Rich­ tung einer pluralistischen Metaphysik, die Pluralität, Individualität, Geschichte und Bewegung sowohl metaphysisch-ontologisch an den Anfang, als auch ethisch als höchste Werte setzt. Für diese Umlenkung einzutreten, erscheint Landmann umso dringlicher als auch in der pluralitätsaffinen Gestimmtheit der ›Goe­ Dabei wird, anders als in Platons idealistischer Trennung der ideellen von einer realen Sphäre, im Anschluss an Hartmann das Ineinander von Real- und Wertsphäre als ein reales Ineinander aufgefasst. Nicht nur hat die Wirklichkeit wie bei Platon insofern an den Ideen Teil, als sie nach ihnen strebt, sondern sie hat realen Anteil am ewig Wertvollen insofern, als dieses nur im Realsein wirklich, eben: verwirklicht wird: »das Realsein eines Wertvollen braucht nicht ewig zu währen, kann nicht ewig währen – eben weil es Realsein ist –; das Wertvollsein eines Realen aber, und das heißt sein Wert selbst und als solcher, ist dennoch ewig – und zwar eben deswegen, weil es nicht ein reales Etwas ist« (Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 266). 1213 Landmann: PuA, S. 207, Herv. F.S. 1214 Landmann: PA, S. 145, Herv. F.S. 1215 Landmann: PuA, S. 206. 1216 Landmann: AgV, S. 73. 1212

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thezeit‹ häufig das teleologische Motiv zu finden ist, wenigstens (und unvermeidlich) dem eigenen Standort das Prädikat der Höherwertig­ keit resp. Fortschrittlichkeit zu verleihen. »In einer andern Hinsicht dagegen ist das evolutionistische Schema bis heute fast unbestritten geblieben: das Spätere scheint eo ipso das Höhere sein zu müssen. […] So sehr sind wir alle, auch ungewollt, von der Überlieferung unseres Kulturkreises geprägt.«1217 Mit der Idee von Fortschrittlich­ keit (überhaupt: Teleologie) schreibt sich der Pluralitätsidee ein ihr fremder, sie potentiell zersetzender Inhalt ein; in der auf das Eine, Allgemeine zielenden Bewegung abstrahierender Vernunft ist es nur ein kleiner Schritt vom Telos der Geschichte zur Uniformität der Kulturen. Auf diese Gefahr zielt Landmanns Kritik am philosophi­ schen Vernunftoptimismus seiner Zeit: »Die neue Aufklärung sieht in der Hingabe an die geschichtliche Pluralität nur noch das kontem­ plativ Unverbindliche, nicht mehr das geistig Differenzierende. Der vielfältige Dialog soll abgelöst werden durch Dienst am Einen.«1218 Entsprechend scheinen ihm – von den Sprachen und Literaturen abgesehen – die »Aussichten des Kulturpluralismus […] für kom­ mende Jahrtausende nicht günstig zu stehen.«1219 Die »Pluralität der Absoluta« gilt zwar anthropologisch notwendig, geschichtlich aber ist sie, wie sie einst gewonnen werden musste, verlierbar; sie mag als zentraler Kulturinhalt und -faktor unumstößlich erscheinen, besteht aber nur unter bestimmten Voraussetzungen, die zu gewährleisten und zu befördern der Mensch ethisch-anthropologisch verantwortet: Wir stehen damit im Überschneidungspunkt widersprüchlicher Tra­ ditionen und Tendenzen. Daß Kultur bisher vielheitlich entstand, schließt nicht aus, daß von einem bestimmten Punkt ab der Weg der Menschheit einheitlich sein könnte. Daß er es aber sein kann, das besagt noch nicht, daß er es sein soll. Wir sind hier aufgerufen, nicht nur festzustellen, was ist, sondern darüber zu entscheiden, was wir für wünschenswert halten.1220

Tröstung der Pluralität und Grenze der Ästhetisierung: Der im erken­ nenden Weltzugang als solchem liegende Impuls zur Vereinheitli­ chung hat seine psychologisch-praktische Funktion wie erläutert darin, den Menschen in seiner künstlichen Umwelt doch quasi-natür­ 1217 1218 1219 1220

Landmann: PuA, S. 105. Landmann: AgV, S. 76. Landmann: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum, S. 552 u. 550. Ebd., S. 545.

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12.4 »Pluralität der Absoluta«

lich beheimatet sein zu lassen. Sofern dem Menschen die Pluralität in ihren verschiedenen Erscheinungsweisen als Differenz, Inkohärenz, Fragilität, Endlichkeit, Kontingenz zur Überforderung, ja Zumutung wird, eröffnet die »Pluralität der Absoluta« in einem die Möglichkeit, formelhafter Ausdruck dafür und mildernde Tröstung darüber hinweg zu sein. Sie ist als versuchsweise Bewältigung des menschlichen Lei­ dens an der Vergänglichkeit anzusehen, wie wir sie Landmann zufolge bereits als psychisches Motiv hinter Platons Harmonismus des Einen vermuten dürfen.1221 Ganz anders aber als bei Platon ist hier das Individuelle gerade als Endliches ausgezeichnet, wofür nun Pluralität als zeitliche wie räumliche Mehrheitlichkeit ›des‹ Individuellen eine Chiffre bildet. Wir sehen nun, wie bedeutsam und fragil der Wert­ akzent der Pluralitätsidee anhaftet; nur indem Kultur als Wert gilt und erlebt wird, kann ihre (unerträgliche) Relativität als (erträgliche bis liebenswürdige) Pluralität erscheinen und zugänglich sein. Im weiten anthropisch-ontischen Spielraum zwischen dem Leiden an der Relativität auf der einen und der Wertschätzung der Pluralität auf der anderen Seite bekunden und vermitteln sich die (hermeneutische) Flexibilität des menschlichen Geistes und die (emergente) Flexibilität des Kulturseienden. Die anthropologisch und ontologisch konsequente Anerkennung der Endlichkeit erreicht nun ihrerseits eine kritische Intensität im Ästhetizismus als übermäßig erhabener, letztlich verantwortungs­ loser Welt- und Menschenbetrachtung. Wenngleich Landmanns Anthropologie die Überwindung einer ästhetisch-verengten Deutung des Schöpferischen beansprucht1222, neigt sie als Philosophie der menschlichen Pluralität zur dieser gegenüber affinen Ästhetik – bzw. umgekehrt öffnet sich in Landmanns ästhetischem Gespür auch sein kulturphilosophischer Sinn für die (mehr oder weniger) feinen Unterschiede, das heißt Raffinessen des Menschseins. Gerade aber in dieser das Eigene und das Fremde, Innen und Außen entgrenzenden Leidenschaft für das Viele droht der Ästhet sich selbst zu verlieren; er »verharrt in der ästhetischen Haltung auch dort, wo von der Vgl. Landmann: UuS, S. 94: »Aus tieferen Schichten aber werden diese scheinbar reinen Erkenntnisevidenzen [gemeint ist hier Platons Behauptung der Ewigkeit der Dinge bzw. Elemente, Anm. F.S.] insgeheim dirigiert von einem existentiellen Sichnicht-Abfindenkönnen damit, daß Leben und Dinge der Zeit und mit ihr der Verän­ derung und der Auflösung überantwortet sind«. 1222 Vgl. Landmann: FA,132. 1221

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12. Kulturelle Polyphonie

Situation her Ernsthaltung gefordert wäre, erlebt nur als Bild, was er als Realität erleben und worauf er daher mit anderen Kräften seines Wesens anspringen müßte.«1223 Er wird damit nicht nur den hetero­ genen Ansprüchen der – wie zu betrachtenden und genießenden so auch zu gestaltenden, bewältigenden und verändernden – Weltdinge nicht gerecht, sondern bringt sich, indem er sich selbst als Aufgabe verliert, um seine eigene Wahrhaftigkeit. Richard Wisser weist auf die der »Pluralität der Absoluta« als solcher eignende Gefahr hin, in der ›ästhetisierenden‹ Letztanerkennung der Pluralität menschlicher Kultur »die Wahrheitsfrage aus dem Kulturproblem heraus zu manö­ vrieren«.1224 Landmanns Kulturanthropologie bleibt dem Verdikt, philosophisch-intellektualistisches Pendant eines Ästhetizismus zu sein, so lange ausgesetzt, wie sie zwar unzweifelhaft Notwendigkeit und Sinn einer Wahl und eines Tuns des Wahreren deklariert, sich selbst aber der solches Wählen und Tun theoretisch begleitenden und mitgestaltenden philosophischen Bestimmung dessen, was als das Wahrere gelten kann, enthält.1225

Landmann: DaD, S. 100. Vgl. dazu auch UuS, S. 206 f. Wisser: Buchbesprechung MSGK, S. 644. Für den Kontext der Pädagogik ver­ weist J. Oelkers auf das Problem resp. Paradoxon einer Pluralisierung des (einen) Guten, mit der man dieses nicht nur einer Politisierung, sondern auch jedweder Kritik entzieht (vgl. Oelkers: Das Ender der sozialistischen Erziehung?, S. 442–446) – mit der Einschränkung, wie ich hier ergänzen möchte, die Pluralität sei resp. gebe selbst den Maßstab einer Kritik ab. 1225 Mit anderen Worten: Landmanns Philosophie einer »Pluralität der Absoluta« stellt keinen relativistischen Freibrief aus. Die Idee von formaler (formal-anthropolo­ gischer) Egalität hat eine normative Idee von Pluralität immer schon zur Vorausset­ zung. Es ist nicht alles gleichberechtigt, weil man es (dies) anthropologisch begründen könnte, sondern es ist ›genau das‹ gleichberechtigt, das mit der Bedingung der Möglichkeit von Pluralität, das heißt aber: mit dem Menschsein im anthropologischen Sinne ›verträglich ist‹ bzw. von ihm bedingt, auf es zurückführbar ist. Nur das, was Pluralität selbst nicht ausschließt, kann unter ihrer Voraussetzung als legitim oder gut gelten. Entsprechend wäre es widersprüchlich, ja parasitär, beispielsweise faschistisches Denken pluralistisch zu rechtfertigen, da es seine argumentative Kraft (inhaltlich wie motivational) von etwas anderem bezöge, das nicht nur im Faschismus nicht enthalten ist, sondern von ihm gerade ausgeschlossen, negiert, bekämpft, vernichtet wird. 1223

1224

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12.5 Entfremdung als Pluralisierung, Familiarisierung als Rekonstellierung

12.5 Entfremdung als Pluralisierung (Differenzierung), Familiarisierung als Rekonstellierung (Neugliederung) Hier liegt der Sinn von Landmanns Anthropologie kreativ-schöpferi­ scher, d.h. sich praktisch-gestaltend vollziehender Menschwerdung. Was der Mensch als inhaltlich fixierbares Wissen von sich einbüßt, gewinnt er als Möglichkeit seiner Bildung ›zurück‹. Die FormalAnthropologie verzichtet zwar tatsächlich auf ein ›inhaltliches‹ Leit­ bild, formuliert und wandelt diesen Verzicht aber wiederum in den Inhalt menschlicher Individualität und Pluralität um. Konkretion und Seinsfülle, Bedeutung und Vieldeutigkeit: Dieser in sich spannungsreiche Doppelinhalt bildet Voraussetzung und Ziel menschlicher Bildung, die sich im Wechsel von Entfremdung als Pluralisierung (Differenzierung) und Familiarisierung als Rekonstel­ lierung (Neugliederung) vollzieht. Sie impliziert die ontologischanthropologische Kategorie der Möglichkeit, und zwar nicht nur verstanden als Entfaltung (Aktivierung) eines bereits Angelegten (Inaktiven), sondern als echte Verwirklichung, das heißt als verwan­ delnd wirksamer Eintritt eines durch diesen erst seinen Inhalt gewin­ nenden und realisierenden Neuen in das dann um diesen erweiterte und damit selbst andersgestaltige Bestehende.1226 Die ambivalente Struktur der Bildung, dass sich der Mensch, weil er bestimmungsoffen ist, erst eine konkrete Form geben muss, mit der er sich ebenso verwirklicht wie die Fülle und Weite seiner Konkretionsmöglichkeiten verengt, zeigt sich in der hermeneutischen Grundspannung von Bedeutung und Vieldeutigkeit. Der Inhalt der Bedeutung (dass x etwas und damit etwas anderes nicht bedeutet) spottet der Vieldeutigkeit ebenso wie der Fakt des Bedeutens (dass x etwas bedeutet, ohne sich in dieser, ja ohne sich überhaupt in Bedeutung zu erschöpfen) auf Deu­ tigkeit, das heißt Vieldeutigkeit verweist und diese, konkretisierend, aktualisiert.1227 Sofern die Bildung des Menschen sich weder als prak­ Mit den Worten Ernst Blochs: »Das ist das Unentdeckte im Menschen, nicht nur unsere äußere Wirklichkeit, auch unsere inwendige und menschlich-gesellschaftliche; alle Vorhandenheit ist von einem viel größeren Meer objektiv-realer Möglichkeit umgeben« (Bloch: Diskussion mit Herbert Marcuse. In: Praxis. Philos. Zeitschrift. Marx und Revolution 1/2. Zagreb: Druckerei der Jugoslawischen Akad. der Wis­ sensch. und Künste 1969, S. 324). 1227 Die Vieldeutigkeit resp. das Bedeutungspotenzial kann vorgestellt werden als etwas, das an den Übergängen, bei der Übersetzung von Etwas in Etwas (etwa einer Wahrnehmung in einen sprachlichen Ausdruck) entsteht, aufspringt, gleichsam 1226

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12. Kulturelle Polyphonie

tische noch als geistige Aktivität rein mechanistisch-kausal-linear als Wechsel der Zustände vollzieht, ohne dass im Folgezustand vom Ausgangszustand etwas aufgehoben wäre, lösen sich Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit streng genommen nicht ab, sondern steigern, stilisieren und verfeinern sich gegenseitig, was Pluralität zu einer Lebensform, das plurale Selbst zu einer ›Identitätsform‹ profiliert. »Durch den Umweg über den Ausdruck wachsen wir, werden wir zugleich polyphoner und eindeutiger.«1228 Struktur und Rhythmik von Bildung als Prozess entfremden­ der Pluralisierung und familiarisierender Rekonstellierung: Der viel­ leicht von Hegel am prominentesten einer Philosophie grundgelegte Umstand, dass in der Bildung des Menschen »nicht nur das Neue als solches entdeckt wird, sondern von ihm aus nun auch wieder rückflutend ein Licht auf alles übrige fällt«1229, erhellt nun auch, warum – wie bereits gesagt – in der mittleren Distanz die opti­ male Voraussetzung menschlicher Bildung liegt. Sofern die letztere stets das Eigene wie das Fremde umfasst, blickt der zu beiden in einer gewissen Distanz stehende Geist auf beide Ufer, sodass der reziprok transformative Transfer der Bildungsinhalte gelingen, das heißt die Spannung von Ein- und Vieldeutigkeit entfremdend (das heißt entfamiliarisierend) und familiarisierend (das heißt rekonstel­ lierend) produktiv und so in Bewegung gesetzt werden kann.1230 In der mehr oder weniger umfangreichen, nicht immer gemütlichen mittleren Zwischenregion ermöglicht sich der menschliche Geist, zugleich in einer »entselbstverständlichenden Distanz«1231 zum Eige­ nen von diesem abzusehen und sich durch die so mitgewonnene »Begegnungsbereitschaft«1232 und Verstehensoffenheit »wahrhaft in aufplatzt. Es wäre dann die Differenz, die Inadäquatheit, Entfremdung, die überhaupt erst einen Raum bzw. eine Fläche, eben die Fläche des Bedeuten-könnens, aufspannt bzw. aufzeigt. 1228 Landmann: MSGK, S. 44, Herv. F.S. 1229 Landmann: EuM, S. 64. 1230 Von »Entfamiliarisierung« spricht auch Landmann und versteht darunter: »mit­ ten im scheinbar Nahen eine Wiederentdeckung des unerwartet und unbehebbar Fremden« (EV, S. 183). 1231 Landmann: EV, S. 176. Diese ›entverselbständigende Distanz‹ ist zentraler Aspekt einer philosophischen Haltung, die sich in Landmanns Philosophie an vielen Stellen findet und die man als Heuristik der Kontraintuition bezeichnen könnte. 1232 Landmann: Martin Buber – Deuter in der Krise der Gegenwart. In: Universitas. 21. Jg., Heft 6 (1966). Stuttgart: Wissensch. Verlagsges, S. 595 [im Folgenden: Martin Buber].

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12.5 Entfremdung als Pluralisierung, Familiarisierung als Rekonstellierung

das Innere des Nichteigenen hineinzuversetzen und seinen Pulsschlag und seine besondere Melodie zu vernehmen.«1233 Dass es sich bei Bildung im erläuterten Sinne um einen reziprok transformativen Austauschprozess handelt, gewährleistet paradoxerweise ihre Unab­ schließbarkeit im menschlichen Leben und ihre Funktionalität für dasselbe. Entsprechend mag es zwar intuitiv verwundern, sich dem Nachdenken aber mit Sinn füllen, wenn Landmann schreibt: »Erst aus dem Doppelrhythmus von Vereindeutigung und sich zurücknehmen­ dem Wieder-vieldeutig-Werden ergibt sich die volle Harmonie.«1234 Präzise erfasst er hier die Struktur von Bildung, bei der gleichsam zwei Prozessreihen, die entfremdender Pluralisierung und die fami­ liarisierender Rekonstellierung, parallel laufen und die wenigstens solange ›harmonisch‹ verläuft, wie die Integrität des Selbst nicht total aufgelöst (worden) ist. Zeitlich zeigt sich die Funktionalität der Bildung für das Leben in der bzw. als Flüchtigkeit ihres zentralen Moments, das heißt darin, dass das den Bildungsprozess anstoßende pluralistisch auflockernde Problematisieren und Infragestellen »die geschlossene Kette der Gewißheiten, wenn überhaupt, so zumeist nur für Bruchteile von Sekunden […] unterbrechen darf.«1235 Diese Geschmeidigkeit der Bildung des Lebewesens Mensch steht in unauf­ löslicher Spannung zur ›Dysfunktionalität‹ ihrer Produkte, das heißt der kulturellen Formen für das Lebewesen Mensch: Freilich müssen wir uns hüten, das Verhältnis Mensch-Objektivation zu harmonistisch zu denken. Das Urverhältnis kann umspringen in ein Mißverhältnis. Die kulturelle Objektivation, deren Funktion die Selbstkonstitution des Menschen ist, kann dysfunktional werden und dann den Menschen gerade von sich entfremden. Daher gibt es auch einen Pessimismus der Objektivation.1236

Aspekte sekundärer Familiarität: Von Harmonie im strengen, das heißt statischen Sinne ließe sich sinnvoll nur sprechen, wenn sich 1233 Landmann: PuA, S. 199. Wie neuerdings auch Hartmut Rosa in seiner ResonanzTheorie spricht Landmann bereits davon, das Fremde werde »anverwandelt« (UuS, S. 202). 1234 Landmann: MSGK, S. 76. 1235 Landmann: EuE, S. 260. 1236 Landmann: AgV, S. 125. Weiter schreibt Landmann: »In dem vorliegenden Buch ist mehr als von der heimat-gebenden von der entfremdenden, mit dem Menschen ungleichgewichtigen Objektivation die Rede« (ebd.). Dass er hier bemerkenswerter­ weise von zwei Formen resp. Weisen der Objektivation spricht, verdeutlicht einmal mehr den durchweg antidualistischen Grundzug seiner Anthropologie.

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12. Kulturelle Polyphonie

das Durch-die-Bildung-gegangen-sein dem Menschen nicht oder nur peripher und ohne Wirksamkeit mitteilte, er sozusagen immer wieder, ohne Erinnerung und Verweis auf sein Herkommen und Hingehen, ein radikal Neuer würde. Stattdessen aber ›erreicht‹ er ›lediglich‹ eine sekundäre Familiarität, was in der Rede von Wieder­ vereindeutigung und Rekonstellierung auch sprachlich seinen Nieder­ schlag findet. Vertrautsein – verlieren – entfernen – entfremden – umkehren, zurückfinden – heimkehren, das ist eine sich aus sich selbst entwi­ ckelnde Reihe. Der Endpunkt der zweiten Bewegung, der heimwärts gerichteten Bewegung, ist nur scheinbar identisch mit dem Ausgangs­ punkt; der neue Zustand ist Ergebnis eines zwiefachen Weges, und nie der gleiche wie zu Beginn.1237

Damit sind auch die Grenzen sowohl der Entfremdung als auch der Familiarisierung bestimmt, wie wir sie indirekt bereits in bzw. von der mittleren Distanz als optimaler Voraussetzung von Bildung markiert sehen resp. gezogen haben. Der Zustand einer Nichtentfremdung bildet ebenso einen Grenzwert für die Erkenntnis wie der einer Totalentfremdung einen Grenzwert des Lebens. Dies ist genau die zuweilen bittere Botschaft der Bildung – dass der Mensch gar nicht umhinkommt, schöpferisch an sich und der Welt tätig zu werden und so beide als etwas hervorzubringen, das ›stets‹ sein Produkt ist, ihm als solches aber abständig und insofern ›stets‹ fremd, das heißt undurchdringlich bleibt. In der Erfahrung sekundärer Familia­ rität1238 wird die Vorstellung eines nicht-entfremdeten Lebens und die Sehnsucht danach aber nicht etwa aufgelöst, sondern sublimiert und mit einer gewissen Chance direkt proportional zur Einsicht in die anthropologische Signatur menschlicher Entfremdung vertieft. Wie die Entfremdung selbst ist auch »der Wunsch nach dem nichtentfremdeten Leben […] dem Menschen naturhaft eingepflanzt, ist ein Anthropinon.«1239 Der durch Bildung sich in der sekundären Familiarität einstellende Lerneffekt besteht darin, anders als im nai­ ven Wunsch eines nichtentfremdeten, totalharmonischen, statischen ›Lebens‹ sich, das heißt dem menschlichen Leben, ein gewisses Maß 1237 Welskopf: Entfremdung, historisch gesehen, S. 713 f. Wenn Welskopf hier vom ›zwiefachen Weg‹ spricht, so beschreibt sie damit einen ähnlichen Zusammenhang wie Landmann in seiner Rede vom ›Doppelrhythmus‹. 1238 Vgl. ebd. 1239 Landmann: EV, S. 48.

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12.5 Entfremdung als Pluralisierung, Familiarisierung als Rekonstellierung

an Entfremdung zuzugestehen.1240 Sofern gerade die Pluralitätsidee selbst dazu geneigt macht, harmonistische Illusionen und Visionen zu katalysieren, in denen die menschliche Pluralität letztlich unwil­ lentlich (aber: wirklich immer bzw. ganz und gar unwillentlich?) aufgehoben wäre, hält Landmann sie in der engen ›Rückbindung‹ an die Antinomien offen – und mit ihr den sich immer wieder fremd werden könnenden und müssenden Menschen.

1240 Vgl. Landmann: EV, S. 225. Einen ähnlichen Gedanken finden wir in Thomas Bauers – wenn man so will – ›Plädoyer für die Ambiguität‹ (vgl. ders.: Die Verein­ deutigung der Welt, S. 15 f.).

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13. Aporetische Stachel

In Gegenwendung zur dialektischen Tendenz des Geistes, Vielheit die Entfaltung einer Einheit sein zu lassen, fokussiert die aporetische Sichtweise die Inkommensurabilität und Unvereinbarkeit der Kultur­ individualitäten. Die gerade in der »Pluralität der Absoluta« mit ihrem Wertakzent auf der Gleichrangigkeit der Individualitäten liegende Tendenz, in einen letztlich pluralitätsgefährdenden Plural-Harmonis­ mus zu entgleiten1241, wird durch ihre enge ›Rückbindung‹ an die, ja durch ihre Deutung als Antinomien kritisch-reflexiv eingeholt und so wenigstens gezügelt. In thematisch etwas anderem Zusammenhang deutet Landmann die Kopplung von (echter, das heißt ursprünglicher) Pluralität und (echter, das heißt substanzieller) Differenz an, wenn er schreibt: »Erst der Widerstreit der Götter macht vollends deutlich, daß ihre Vielheit nicht nur Ausfaltung eines gemeinsamen Göttlichen, sondern substantiale, unhintergehliche, irreduzible Vielfalt ist.«1242 In dieser Kopplung zeigt sich auch einmal mehr die spezifische Normativität der Idee einer »Pluralität der Absoluta«: indem sie zwischen einem atomistischem Partikularismus auf der einen und differenznegierendem Monismus auf der anderen Seite steht, von denen sie sich gleichfalls abgrenzt, erhebt sich ihr Inhalt insofern zur Norm, als er selbst die Möglichkeit menschlicher Selbstentfremdung bezüglich dieses Inhalts einschließt: ein mittels eigener Kreativität singuläres resp. monistisches Wesen zu sein oder zu werden.

13.1 Aporetisches Erleben und das aporetische Vorurteil Der kulturanthropologische Sinn von Aporetik: Landmanns Hinwen­ dung zu den Erkenntnis- und Seinsantinomien ist im Kontext sei­ ner pluralistischen Fassung von Ethik als Wertephilosophie wie 1241 1242

Vgl. Landmann: EdI, S. 175. Ebd., S. 41.

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13.1 Aporetisches Erleben und das aporetische Vorurteil

überhaupt seiner Erweiterung der Ethik und Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie zu sehen. Setzt Landmann eine Pluralität – werk­ geschichtlich betrachtet zunächst der Werte, schließlich der Kulturen – an die Stelle ihres Monismus, so die Antinomie an die Stelle von Harmonie. Wie letztere enthält auch die Aporetik als ihre schärfste Kritikerin eine erkenntnistheoretische, eine kulturontologische und eine kultur- und sozialanthropologische Dimension.1243 Sie ist Chif­ fre für die unauflösliche »in der Relation ›Mensch und Vernunft‹ als solcher begründete«, hinzunehmende und durchzustehende1244 Grundspannung des Menschen und eröffnet paradoxerweise jene kräfteausgleichende Beweglichkeit, die in dieser Grundspannung liegt. Statt, wie es das Prinzip der modernen Welt war, jeder Kraft Autonomie zu geben und sie sich bis zum Extrem steigern zu lassen, scheint es daher dann ratsam, im Interesse des Ganzen auf die großartigen, aber zerstörerischen Extreme zu verzichten und sie wieder auf ein bestimmtes Maß einzuschränken. Hatten die Kräfte sich früher nie über ein solches Maß hinaus entwickeln dürfen, so gilt es nun, sie wieder auf es zurückzubinden.1245

Aporetik als seins-adäquater Erkenntnisstil: Die erkenntnistheoreti­ sche Dimension der Aporetik ist für diese insofern grundlegend, als es sich bei ihr per definitionem um eine Erkenntnishaltung handelt, die Landmann bestimmt als »das Aufsuchen des Fragwürdigen in den Phänomenen, das zunächst zweckfreie, noch nicht nach Resultaten ausschauende Aufrollen der Probleme selbst«.1246 Als solches ist es die »dem ungetrübten Bedürfnis nach Wahrheit« entsprechende, von lebensfunktionalen »Mitbedürfnissen, […] die nur das ihnen Konforme als Wahrheit gelten lassen wollen« freie geistige Aktivität. Gegen die Tendenz des Geistes, aus den gestellten Problemen, aus dem Nichtwissen sogleich wieder in eine Gewissheit zurückzuschnel­ len bzw. gegen die Tendenz des menschlichen Lebens, aus den sich stellenden Aufgaben sogleich wieder in eine sekundäre Seinssicher­ heit sich zu verführen, wird der Aporetiker »nicht nur das Wagnis der schon gegebenen Aporie auf sich nehmen, sondern er wird auch noch zusätzliche Unsicherheit suchen, weiterhin ins Unabschließbare 1243 Vgl. zu den Dimensionen der Reihenfolge nach exemplarisch: Landmann: PuA, S. 211; ebd., S. 42; DaD, S. 166. 1244 Landmann: AgV, S. 67. 1245 Landmann: EuE, S. 172. 1246 Landmann: P, S. 335.

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13. Aporetische Stachel

vorspähen und sogar die sog. Lösungen aufdröselnd hinter ihnen das verbaute Aporetische wieder herauswittern.«1247 Insofern gerade die (Methode der) Dialektik solche monistisch-synthetischen Lösungen herbeiführt bzw. befördert, bildet die (Methode der) Antinomik ein sie kritisch ergänzendes Korrektiv, das sowohl die in eine Synthese gezwungenen wie auch die – gewissermaßen in einer Vorstufe zur Synthesebildung – »zum Gegensatz zugespitzt[en]« Individualitäten nüchterner, neutraler als eine erkenntnis- wie seinsoffenere »bloße Vielheit«1248 kenntlich und verstehbar macht. Es bezeugt einmal mehr Sinn und Funktionalität der Aporetik für die Pluralität, dass Landmann hier das eigentlich der Aporetik näherstehende Verhältnis des Gegensatzes kritisch der Dialektik zuordnet. Der aporetische Stachel trifft die Dialektik nicht nur als Prinzip und Methode des (logischen) Denkens, sondern auch ihre ontologisch-idealistische Annahme, hinter jedem Erscheinenden müsse sich »ganz andersarti­ ges Sein verborgen halten. In Wirklichkeit aber ist vielleicht das Sein genau so wie es uns erscheint.«1249 Innerhalb des so, das heißt onto­ logisch-realistisch, aufgefassten Seienden verlaufen nun die Grenzen zwischen dialektischem und antinomischem Verhältnis allerdings wieder fließend, was ebenso Element wie Faktor einer Ontologie der polaren Dynamik gestalthafter Entitäten ist: »Daher steigert sich das bloße Sich-Gegenüberstehen des Lebensprozesses und seiner Formen jetzt zur Antinomie. Sie dienen nun dem Leben nicht mehr, sondern engen es ein und vergewaltigen es.«1250 Seinsantinomien: Was die kulturontologische Dimension der Aporetik betrifft, steht Landmann dezidiert in der Nachfolge Hart­ manns, der »neben dem ›für uns Unlösbaren‹ und oft mit diesem vermengt und verwechselt, doch auch noch ein ›an sich Unlösba­ res‹ kennt.«1251 Als Seinsantinomien versteht Landmann Verhält­ Landmann: EuE, S. 266 f. Landmann: PuA, S. 221. 1249 Landmann: EuE, S. 81. 1250 Landmann: Einleitung Simmel, S. 12. 1251 Landmann: EuE, S. 80. Dass der radikale Gedanke von Seinsantinomien seinem allgemeinen Gehalt nach (mindestens) bis auf Schleiermacher zurückgeht, legt fol­ gende Stelle aus dessen Frühwerk nah: »Alle Pflichtkollisionen deuten auf einen Widerspruch in dem Gegebenen, von welchem die Forderungen ausgehen« (Schlei­ ermacher: Bruchstücke der unendlichen Menschheit. Fragmente, Aphorismen und Notate der frühromantischen Jahre. Hg. v. K. Nowak. Berlin: Union 1984 [im Folgen­ den: Bruchstücke], S. 114). 1247

1248

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13.1 Aporetisches Erleben und das aporetische Vorurteil

nisse, »die das innere Wesen einer Sache ausmachen« und bei denen die »Gegenläufigkeit des Widerstreitenden« auf einen »echten Realwiderstreit zurückgeht.«1252 Weder ist das Antinomische hier ursächlich-genealogisch durch ein »inadäquates Verstehen verschul­ det«1253, noch kann es vom Geist teleologisch-synthetisch aufgelöst werden.1254 Die Annahme von Seinsantinomien bedeutet nicht nur eine Erweiterung der aporetischen Sphäre resp. Gegenstände, son­ dern darüber hinaus eine Kritik an der Tendenz des Erkennens als solchem, das heißt in seiner auf Einheit abzielenden, zeitlich-teleo­ logisch verlaufenden Grundstruktur1255, selbst die eigens von ihm entdeckten und postulierten Antinomien doch wieder dialektisch aufzulösen, dagegen in den Seinsantinomien als ontischen, räumlich zu denkenden Verhältnissen die reale irreduzible Vielheit tendenziell bestehen und erhalten bleibt. »Oft kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, das ontologische Verhältnis werde nur deshalb verkannt, weil ihm unbewußt das logische substituiert wird. Die Gegensätze sollen zum Verschwinden gebracht werden, weil man stillschweigend Widersprüche in ihnen erblickt.«1256 Wurde vorhin in der Relation Dialektik-Aporetik die Kategorie des Gegensatzes kritisch der Dialek­ tik zugeordnet, so hier in der Relation Logik-Ontologie mit positiver Valenz – und kritisch gegenüber der dualistischen und insofern anti­ pluralistischen Kategorie des Widerspruchs – der Ontologie. Indes – auch der Gegensatz beschreibt um nichts weniger ein duales resp. binäres und insofern (noch) nicht-pluralistisches Verhältnis; entspre­ chend ist es wichtig, neben den zahlreichen Beispielen für Antinomien in dieser Richtung (etwa Gerechtigkeit und Nächstenliebe, Wahrheit und Freiheit, Reinheit und Fülle1257) immer wieder den pluralistischen Impuls und Zug von Landmanns Seins- resp. Kulturaporetik zu

Landmann: PuA, S. 42 f. Vgl. auch EuE, S. 81. Landmann: EuE, S. 81. 1254 Vgl. Landmann: PuA, S. 42 f. 1255 Vgl. ebd., S. 222. 1256 Ebd. 1257 Weitere Beispiele sind: Unsterblichkeitsglaube und Ethik, Religion und Sittlich­ keit, Sicherheit und Gefahr, Überfluss und Not, Gleichheit und Freiheit, Stolz und Demut, vgl. Landmann: EuE, S. 81. Vgl. auch: »Offene Möglichkeit opponiert gegen geschlossene Wirklichkeit, Werden gegen Sein, Spontaneität gegen Institution, Zukunft gegen Gegenwart. Holistische Prätention bricht sich an Atomstolz« (Land­ mann: EdI, S. 245). 1252

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betonen, etwa wenn er von »eine[r] antinomische[n] Lagerung der einzelnen Sphären der Kultur als ganzer untereinander«1258 spricht. Aporetisches Erleben: Damit eröffnet sich nicht zuletzt auch eine Typologie des aporetischen Erlebens, je nachdem ob die es bestim­ mende und rahmende Konstellation binär, triadisch oder anderwei­ tig plural strukturiert ist. Umgekehrt begünstigt die Fokussierung des Erlebens selbst insofern eine pluralistische Sichtweise, als es – anders als das wenigstens in der Logik der ›westlichen Hemisphäre‹ binär sich vollziehende Erkennen – selbst inhaltlich plural und mehrschichtig ›aufgebaut‹ ist. Landmann verdeutlicht dies im werk­ geschichtlich primären thematischen Zusammenhang menschlichen Wert-Erlebens, in dem die ebenso dichte wie feine Verwobenheit von Pluralität und Antinomie anders als in der dualistisch oder monistisch verdünnten ethischen Theorie zugänglich ist. Phänomenal gegeben ist uns niemals die Einheit des sittlich Guten, sondern nur eine Pluralität spezieller Wertmaterien. Noch diesseits der Unvereinbarkeit oder Gegensätzlichkeit der Werte ist es diese Pluralität als solche, die einen ersten Typus ethischer Antinomien her­ aufbeschwört.1259

Die spezielle Qualität, die den jeweiligen ›Inhalt‹ aporetisch sein, genauer: als aporetisch erlebbar werden lässt, besteht darin, dass er eine Vielheit zugleich eigenständig-wahrer wie verweisend-unzu­ länglicher ›Elemente‹ enthält.1260 In dieser Ambivalenz, weder ato­ mistisch unvermittelte noch synthetisch kommensurable Aspekte ›ein und derselben‹ Welt aufzuzeigen, wird »die eigentümliche Schwierigkeit der Aporie erst voll fühlbar«; erst in ihr öffnet sich für das Erleben »aus der gleichsam geschlossenen die aufgefaltete Aporie.«1261 Im aporetischen Erleben zeigt sich die Welt dem Sub­ Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 276. Landmann: Hartmanns Wertantinomien, S. 178. 1260 Ähnlich, wenn auch in einer romantisch-harmonisierten Deutung bzw. Konse­ quenz, typisiert Simmel das Empfinden des Romantikers: »Die romantische Seele durchfühlt eine endlose Reihe von Gegensätzen, von denen jeder einzelne im Augen­ blick seines Gelebtwerdens als Absolutes, Fertiges, Selbstgenugsames erscheint, um im nächsten überwunden zu werden und in dem Anderssein des einen gegen den andern das Selbst eines jeden erst ganz zu genießen« (Simmel: Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft). In: GSG Bd.16. Hg. v. G. Fitzi u. O. Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 147 [im Folgenden: Grundfragen der Soziologie]). 1261 Landmann: EuE, S. 269. 1258

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jekt nicht in einem ihrer zufälligen Aspekte, sondern offenbart ihre Grundstruktur, die insofern ontologisch-anthropologisch doppelbe­ stimmt ist, als die Antinomien zwar solche des Seins resp. im Sein sind, jedoch als solche, das heißt als Antinomien in ihrer vollen Schärfe nur für den Menschen bestehen und zugänglich sind. Sind, wie Landmann in Erinnerung an Leibniz schreibt, die Optima deshalb nicht kompossibel, »weil die Kraft begrenzt ist und nur für eines von ihnen ausreicht«, so kann damit nur die Kraft des resp. der Menschen gemeint sein. Wenn »[i]nnerhalb eines Ganzen […] jede exzessive Vervollkommnung einer Fähigkeit Raub an andern Fähigkeiten«1262 ist, so ist es wiederum und einzig der Mensch, für den es ein Ganzes geben kann und der eine Vervollkommnung als exzessiv und diesen Exzess als Raub zu erleben vermag. Wenngleich der Fokus innerhalb der anthropischen Sphäre nur vom Erkennen auf das Erleben der Antinomien verschoben ist, bezieht die Perspektive gleichzeitig die ontische Sphäre, die Welt im Aspekt ihrer Aporetik, ein. Die Optima schließen sich aber auch von innen her aus: das bonum ist in sich pluralistisch und antinomisch. Wer die eine Vollkommen­ heit sucht, muß daher auf die andere verzichten. Diese steht jener im Wege. Unvollkommenheit auf dem einen Gebiet ermöglicht erst Vollkommenheit auf dem andern.1263

Umso mehr als der Mensch anthropomorphistisch zur Rückführung des Welthaften auf Menschliches (sei es das Erkennen, Wahrnehmen, Erleben, Empfinden etc.) neigt, muss ihn die Annahme einer Pluralität resp. Aporetik des Seins, genauer: eine ontische Dimension dessen, was er in der Vielheit wie auch den Antinomien erlebt, tendenziell verwundern, faszinieren, ja erschrecken.1264 Entsprechend ist für das Erleben, erst recht aber für das Entscheiden und Handeln des Menschen der »Anspruch des vielförmigen Guten […] weit schwerer zu bestehen als der des Guten und des Schlechten.«1265 Je nachdem, wie genau das Aporetische sich darbietet und erlebt wird – ob die Differenz von a und b zum Beispiel mehr zuständlich-qualitativ Landmann: EdI, S. 230. Ebd. Vgl. auch Landmann: Das Parasitäre, S. 38. 1264 Nicht ohne Grund schreibt Landmann: EuE, S. 80: »Es gehört nun zum Erre­ gendsten an der Philosophie Hartmanns, daß er, neben dem ›für uns Unlösbaren‹ und oft mit diesem vermengt und verwechselt, doch auch noch ein ›an sich Unlösbares‹ kennt«. 1265 Landmann: EuM, S. 109. 1262

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13. Aporetische Stachel

(a und b finden sich ›passiv‹ voneinander unterschieden vor) oder eher dynamisch-relational (a und b unterscheiden sich ›aktiv‹, bewe­ gen sich voneinander weg) –, fallen auch die Begleitstimmungen sowie die Optionen und faktischen Reaktionen des Menschen unter­ schiedlich aus. Um den Nuancenreichtum und die Vielschichtigkeit (wenigstens) der aporetischen Stimmungen anzudeuten, seien nur »Ratlosigkeit« und »Verlegenheit« genannt, die Landmann im the­ matischen Zusammenhang der Sokratischen Erkenntnismethode mit dem Aporetischen in engste Verbindung bringt.1266 Unter der (kul­ tur-)psychologischen Annahme, »[d]ie Gegensätze s[eien] das Nahe, das Erlebte, das Gewisse, die Einheit nur das Erschlossene und Geträumte«1267, bezieht die Anthropologie des plural-aporetischen Kreativwesens Mensch den praktischen Sinn, die Gestaltbarkeit der Welt nicht trotz, sondern eingedenk ihrer Aporetik, ja in positivem Bezug auf diese zu begründen und ihrerseits theoretisch auszugestal­ ten. Dieser positive Bezug ist die eingangs erwähnte dichte Kopplung von Pluralität und Antinomie: Indem die Pluralität ebenso Grund wie Motiv und Ausdruck der kreativen Potenz des Menschen ist, gerade aber als deren Ausdruck eine Fülle inkommensurabler (anti­ nomischer) Individualitäten bildet, bezieht die Aporetik selbst den Sinn, die menschliche Kreativität mindestens zu bezeugen. Bewahrt die Aporetik die Pluralität vor der ihr immanenten Tendenz zum Harmonismus einer Substanz, so schützt die Pluralität die Aporetik vor deren Neigung hin zum Atomismus unverbundener Fakten.

13.2 Die Unlösbarkeit des Konflikts öffnet seine kulturelle Bewältigung Der menschlichen Aufgabe (resp. dem Aufgaben-haben des Men­ schen) als der lebensweltlich-praktischen Dimension seines Schöp­ fertums im Akzent der Pluralität entspricht im Akzent der Antinomie der menschliche Konflikt. Zwischen den Extrempolen der totalen Unzugänglichkeit und letztgültigen Lösbarkeit nimmt er eigenwillig eine Zwischenstellung ein und spannt so gerade in seiner anthropo­ logisch bedingten Unlösbarkeit den Raum seiner kulturellen Bewälti­ gung. 1266 1267

Vgl. Landmann: Die Sokratische Hebammenkunst, S. 876. Landmann: PuA, S. 221.

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13.2 Die Unlösbarkeit des Konflikts öffnet seine kulturelle Bewältigung

Der anthropologische Doppelsinn von Konflikthaftigkeit: Der anthropologische Sinn einer Betonung der Konflikthaftigkeit des Menschen besteht darin, dass in und mit ihr menschliches Leben für die Pluralität offen gehalten ist; die wenngleich theoretisch oder mittels Verdrängung harmonisier- bzw. abblendbaren, empirisch aber deswegen nicht zu leugnenden Konflikte werden in der Anthropo­ logie des plural-aporetischen Kulturwesens Mensch zugleich unge­ schönt ernstgenommen und mittels – freilich selbst problematischer – Rückführung auf einen anthropologischen Grundkonflikt forma­ lisierend gemildert. »Der letzte Quellpunkt des Kampfes ist der unaufhebbare anthropologische Antagonismus zwischen Wiederho­ lung und Originarität, zwischen Bewahren und Schaffen, zwischen cultura culturata und cultura culturans.«1268 Wenngleich hier präzise vom ›letzten Quellpunkt‹ die Rede und damit die Perspektive für eine Reihe vermittelnder Zwischenschritte und Verbindungselemente offen gehalten ist, bleibt die anthropologische Rückführung proble­ matisch. Gleichzeitig wäre es verwunderlich und ebenso zu begrün­ den, wenn sich das anthropo-logische Axiom des kreativ-kulturellen Doppelaspekts1269 als der formalen Begründung menschlicher Plu­ ralität in der Erfassung menschlicher Konflikte, das heißt ebenfalls menschlicher Pluralität, nur eben im Aspekt der Differenz, inhaltlich nicht vermittelte. Entsprechend erfüllt der menschliche Konflikt den gewisserma­ ßen paradoxen Doppelsinn: einerseits Grundmodus des menschli­ chen, stets aus einer Spannung heraus bzw. als eine Spannung sich vollziehenden Lebens zu sein und Grundsituation des Menschen zu bleiben; andererseits ihm gerade so eine ihm gemäße spezielle Form und Weise der Freiheit zu eröffnen, die in der Bewältigung besteht – und eben in der Bewältigung von Konflikten, denn was sonst ließe sich überhaupt bewältigen? In der Bewältigung menschlicher Konflikte haben wir die stärker vom menschlichen Erleben einer Unvereinbarkeit im Konflikt ausgehende Kontrastchiffre zur stärker an der Plastizität des als Aufgabe Gegebenen ansetzenden Gestaltung. Landmann: PuA, S. 88. Vgl. Christian Grawe: »Für Landmann stellt sich das Verhältnis von Mensch und Kultur als ein Gefüge von Spannungen dar, die im Wesen des menschlichen Seins selbst liegen und daher nicht harmonistisch aufgelöst werden können« (Herders Kul­ turanthropologie. Die Philosophie der Geschichte der Menschheit im Lichte der modernen Kulturanthropologie. Bonn: Bouvier 1967, S. 156 [im Folgenden: Herders Kulturanthropologie]). 1268

1269

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13. Aporetische Stachel

Die Unvereinbarkeit der Elemente steht hier jedoch gerade nicht im Gegensatz zur Integrität des Menschen als Ganzheit, sondern ist umgekehrt Voraussetzung, ja Konstitutionsprinzip dieser Ganz­ heit, die eben darin als Gestalt, das heißt als stabil-fragiles Gefüge spannungsreicher, polyvalenter Elemente kenntlich wird. Im Rahmen einer gestaltphilosophischen Konzeption, für die »das einzelne Sei­ ende durch Wechselwirkung polarer Kräfte zustande kommt und jedes Gesetz in Relation zum Gegensatz steht« ist es nur konsequent, auch und gerade dem Konflikt eine »durchaus positive und integrierende Rolle«1270 zuzuschreiben, in ihm – wie Simmel – eine Vergesellschaf­ tungsform zu erkennen. Die mehr oder weniger bewusste Situation resp. ›Position‹ des Menschen, vielseitig, das heißt von »mehreren […] ›Welten‹, […] aber eben deshalb von keiner von ihnen ganz bestimmt« zu sein, lässt ihn sich in ihnen vorfinden, die nun »ande­ rerseits [sein]em Leben erst Hintergründe geben« 1271, es also bereits vor seinem (bewussten) Eingriff motivational und inhaltlich prägen. Hierin liegt der Sinn von Landmanns Kulturanthropologie, die nicht nur den Menschen als Wesen der Kultur auffasst und ihr so näher rückt, sondern auch umgekehrt die Kultursphäre um Dimensionen und Aspekte des Menschen erweitert, die in der Anthropologie klassi­ scherweise einem metaphysisch aufgeladenen ›Wesen des Menschen‹ vorbehalten geblieben sind1272 – so etwa intellektualistisch in Kants Lehre von den Antinomien der Erkenntnis oder psychologistisch-bio­ logistisch in Freuds Konflikttheorie. Von der diese Richtung umdrehenden Annahme der »kulturellen Grundlagen seelischer Konflikte«1273 geht nun auch ein zweiter, nicht Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. GSG Bd.11. Hg. v. O. Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 288 [im Folgen­ den: Soziologie]. 1271 Landmann: Georg Simmel: Konturen seines Denkens. In: Ästhetik und Soziolo­ gie um die Jahrhundertwende. Hg. v. Böhringer/Gründer. Frankfurt: Klostermann 1976, S. 4 [im Folgenden: Simmel: Konturen seines Denkens]. 1272 Vgl. Landmann: PuA, S. 39: »Der Mensch verdankt – was einer naturwissen­ schaftlichen Psychologie der ›zeitlosen‹ Seele nie genug entgegengerufen werden kann – nicht nur seine wechselnden Weltverarbeitungskategorien, seine ethischen und ästhetischen Wertsysteme usf. der Geschichte; auch viele seiner Konflikte entspringen erst den komplexgespannten Situationen, in die er durch sie gestellt wird«. 1273 So der Untertitel von Landmann: PuA. Vgl. MSGK, S. 53: »Auch der politische Mensch ist doch zugleich noch ethischer Mensch, der Glaubende zugleich Weltkind usf. Dadurch wird der Mensch in sich gespalten. Der sachliche Konflikt der Kulturs­ phären wird auch zum Konflikt in seiner Seele«. 1270

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13.2 Die Unlösbarkeit des Konflikts öffnet seine kulturelle Bewältigung

genealogisch rückfragender, sondern prospektiv vorweisender Sinn aus, mit dem die Kulturalität (Konfliktualität) des Menschen sich nun für seine Kreativität (Pluralität resp. Individualität) öffnet bzw. als diese zugänglich wird. Nicht obwohl der Mensch in Konflikten steht, ist ihm kreatives Handeln möglich, sondern dass er in Kon­ flikten lebt, erfordert seine kreative Antwort. Die spezielle Form und Weise der Freiheit des Menschen qualifiziert sich als Kreativität gerade dadurch, in Spannung Stehendes zu vermitteln, das heißt eine unauflösliche Spannung als geistigen Widerpart und praktische Angriffsfläche kreierender Neugestaltung zu gewinnen. Insofern das Verhältnis der einer kreativen Gestaltung zugrunde- bzw. vorliegen­ den Elemente tatsächlich antinomisch ist, trägt das Produkt dieser Gestaltung den Charakter eines Kompromisses. Von hier aus wird Landmanns Anthropologie des Kreativwesens Mensch verstehbar als Versuch, den Menschen zwar formal als Schöpfer (und Geschöpf) der Kultur zu bestimmen, ihn damit aber nicht wie die klassischen Anthropologien wertmäßig zu überhöhen. Weder sind die sog. Genies die einzigen kreativ tätigen, noch sind erst die sog. großen originalen Werke Ausdruck von Schöpferkraft. Im Gegenteil betont Landmann immer wieder, dass und inwiefern auch das vermeintlich Originäre am kulturellen Bestand und seinen inneren Spannungen seinen Ansatz und sein Material findet; Kreativität ist kulturontologisch fundiert, und damit anthropo-logisch als Kompromissleistung bestimmt, und als solche freilich wieder, unter nun verändertem Wertbezug, dop­ pelt ausgezeichnet. »Vielspältigkeit«1274 – der Konflikt als Erscheinungsmodus von Pluralität: Wir haben den Konflikt als Gestaltungsraum menschli­ cher Kreativität wie als Erscheinungsmodus menschlicher Pluralität bestimmt. In diesem Rahmen bezieht das dementsprechende Kon­ flikterleben potentiell den anthropologisch wie ethisch fruchtbaren Sinn einer Anerkennung des irreduzibel Vielen. Im Konfligieren ver­ schiedener Kultur- und Wertinhalte springt die entweder monistische oder dualistische Ruhe und Geschlossenheit gleichsam wieder zurück in ein offen-unberuhigtes Gegebensein jener multiplen Inhalte, die um der Einfachheit und Lebensdienlichkeit willen beispielsweise zu einem hierarchisch strukturierten Höher-niedriger-Gebilde1275 Landmann: PuA, S. 113. Vgl. außerdem ebd., S. 223, wo Landmann von einer »Vielspältigkeit des Seins« spricht. 1275 Vgl. Landmann: EuE, S. 209. 1274

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13. Aporetische Stachel

verdichtet, verzerrt und hinweggefälscht worden sind. Mit der dem Geiste aufscheinenden Inkommensurabilität der Inhalte verbietet sich nun ihre praktische Synthetisierung ebenso wie sich ihre konkretgeschichtliche Bewältigung, das heißt auch: ihr Immer-wieder-neubewältigt-werden-Können-und-Müssen, überhaupt erst eröffnet. Anthropo-logisch betrachtet bleiben die kulturellen Lebensfor­ men freilich »notgedrungene Auswege aus dem in seiner Komple­ xion für uns ewig Unbewältigbaren« – und es ist insofern durchaus voraussetzungsreich, davon auszugehen, jene »Erschütterung der Selbstsicherheit, die mit einem […] Innewerden ungeahnter und doch gleichberechtigter Vorzugsrichtungen einhergeht, [sei] ethisch gerade das Fruchtbare.«1276 Landmann selbst verweist indirekt auf das dafür nötige Maß an nüchterner Distanz: »Emotionell unbelastetere Einsicht aber entdeckt, daß die Idee in sich selbst gespalten ist und daß es gilt, diese Gespaltenheit als ein Letztes hinzunehmen und zu ertragen.«1277 Umso mehr sich die vermeinte Sicherheit einer irgendwie gearteten Kommensurabilität der Kultur- und Wertinhalte als festes Wissen darbietet, bedeutet umgekehrt die Anerkennung einer Pluralität und Aporetik der Absoluta das geistige Eingeständnis eines anthropolo­ gisch ebenso bedeutsamen wie lehrreichen Nichtwissens, wie es Land­ mann zufolge auch erlebnismäßig als »schwankendes Nichtwissen […] das Innerste und Unterste des Konflikts«1278 bildet. Erst hier, im Handlungs- oder Entscheidungskonflikt, wird dem Menschen das Problem »wie läßt sich die Offenheit für das Viele damit verbinden, daß auch er eine Position beziehen, entschieden und einseitig sein muß?«1279 zur ethischen Aufgabe – einer Aufgabe, die im doppelten Sinne zu bewältigen ist, was sich in der Rede von einem schwanken­ den, das heißt bewegten wie bewegbaren, Nichtwissen andeutet.1280 Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 104. Landmann: PuA, S. 202, Herv. F.S. 1278 Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 98. 1279 Landmann: EV, S. 177. 1280 Wirklich ethisch ist Landmann zufolge, der damit in deutliche Opposition zur ebenso monistischen wie moralistischen Sokratischen Tugendethik tritt, erst eine Wertentscheidung resp. -verwirklichung zu nennen, »die den Wert, den sie verwirk­ licht, anderen, ebenfalls, wenn auch in geringerem Grade, verwirklichungswürdigen Werten vorgezogen haben muß und eben durch dieses Vorziehen, durch die Entschei­ dung eines Konfliktes, erst zur Tugend wird. Sokrates scheint uns einen doppelten Irrweg einzuschlagen, indem er erst die ethische Konfliktsituation in eine konfliktlose umdeutet, der ihr entspringenden Tat dann aber dennoch die volle ethische Schwere zuurteilt« (Landmann: SaW, S. 56 f.). 1276

1277

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13.2 Die Unlösbarkeit des Konflikts öffnet seine kulturelle Bewältigung

Konflikte als Spiegel der Weltdisharmonie und Schule der Selbst­ werdung: Im bewegt-bewegenden Nichtwissen haben wir das geis­ tige Pendant zur bereits erwähnten Ontologie der Bewegung und Unvollendung, für das die das Seiende immer wieder dem Wer­ den öffnende und so dauerhaft offen-haltende Pluralität auch im ›Modus‹ der menschlichen Konflikte repräsentativ ist.1281 Anders als in harmonistischen Modellen heilstheologischer oder geschichtste­ leologischer Couleur, deren »Glauben an eine Weltharmonie« den menschlichen Konflikten lediglich die Zeitstelle und Funktion eines Übergangs gewähren, wird der menschliche Geist in Landmanns pluralistisch-aporetischer Anthropologie »reif für die Anerkenntnis einer Weltdisharmonie«.1282 Bemerkenswerterweise kommt an dieser Stelle eine philosophiegeschichtlich wie bildungsphilosophisch wich­ tige Unterscheidung zwischen »unwürdigen, unnötigen Konflikten« sowie »rohen Gegensätze[n]« auf der einen und »feineren« Gegen­ sätzen sowie an sich bestehenden und, wie man ergänzen kann, würdigen, unausweichlichen Konflikten auf der anderen Seite ins Spiel.1283 Impliziert ist hier wie auch bereits in der Rede von der reif gewordenen ›Anerkenntnis einer Weltdisharmonie‹ die Vorstel­ lung einer fortschrittlichen Annäherung des Geistes an seinen Gegen­ stand, seiner sich verbessernden Durchdringung und Bewältigung der Welt. Dieses Fortschreiten vollzieht sich aber weder notwendig noch reibungslos, sondern hat wie objektiv den »Wegfall der rohen Gegensätze« subjektiv »eine innere Umdrehung«1284 zur Vorausset­ zung. Wie bei der menschlichen Kritik überhaupt, so handelt es sich auch bei der Aporetik um einen weder anthropologisch noch geschichtlich selbstverständlichen, sondern voraussetzungsreichen, ja ›luxuriösen‹ Weltbezug. Dass das anthropologisch Einsichtige (wie überhaupt theoretisch Annehmbare) das im Lebensvollzug Unwahrscheinliche (für das Leben Unannehmliche) ist – diese Ambivalenz ist zugleich Bedingung menschlicher Bildung wie kritische Grenze ihres erhöhten Anspruchs. Ihr allgemeiner Inhalt, Mensch und Welt einander zu vermitteln, bleibt zwar auch in der ›nachklassischen‹ Bildungsidee erhalten, wird jedoch inhaltlich dahingehend umgekehrt, dass die Aufgabe des sich 1281 1282 1283 1284

Vgl. Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 99. Landmann: EdI, S. 207. Ebd. Ebd.

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Bildenden nun darin gesehen wird, die an sich bestehenden »Antino­ mien in Konflikten zu spiegeln und sich ihnen dadurch gewachsen, auf Augenhöhe mit ihnen stehend zu zeigen. Er muß der objektiven Aporetik begegnen durch subjektive – erkennende und ins eigene Sein aufnehmende – Problematik.«1285 Und wie oben bezüglich der Geschichte des Erkennens allgemein wird auch für die Bildung des Individuums von einer Entwicklung ausgegangen, bei der mit der Intensität der Konfliktkonfrontation und des Zweifelns die charak­ terliche Spannweite wächst.1286 An dieser Stelle rücken Anthropo­ logie und Bildungsphilosophie derart dicht aneinander, dass ihre Inhalte zirkulieren: Aus der offensichtlichen Pluralität und Antino­ mie seiner Lebensformen heraus wird der Mensch anthropo-logisch bestimmt als das Wesen, das sein Leben als Aufgabe hat, es in der unabschließbaren Bewältigung von Aufgaben führt und ausgestaltet; und wie gerade die Inkommensurabilität der Menschseinsweisen die Anthropologin nicht nur nicht davon abhält, sondern vielmehr dazu inspiriert, von einer (formalen) Einheit des Menschen zu sprechen, so lassen für den sich Bildenden »gerade solche Zustände, die die Persönlichkeit nahezu zur Inkohärenz zerreißen, […] die Einheit der Lebensbewährungen dringlicher als je zur Aufgabe werden. So wird der Konflikt geradezu zur Schule, in der sich das Ich bildet.«1287 Erhöhung durch Spannung, Würde der Zerrissenheit? Hier liegt der Ansatz einer Kritik, wie wir sie bereits unter dem Stichwort »Bildung zur Fraglichkeit?« behandelt haben, nur dass der Fokus jetzt nicht so sehr auf der geistigen Problematisierung vermeintlich identitätsstiftender Inhalte der Welt und des Selbst, sondern mehr auf der praktischen Bewältigung sich im Modus von Konflikten darbietender Lebensaufgaben liegt. Mit welchem Recht und aus welchem Grund belässt es Landmann nicht dabei, anthropo-logisch vom menschlichen Konflikt als »einer permanenten Krise«1288, son­ dern auch axio-logisch von ihn adelnden Konflikten1289, ja einer »beglückende[n] Sublimierung der eigenen Zerrissenheit«1290 zu sprechen? In der Beantwortung dieser Frage vermengt sich ein 1285 1286 1287 1288 1289 1290

Landmann: EdI, S. 207. Ebd. Landmann: Hartmanns Wertantinomien, S. 176, Herv. F.S. Landmann: PA, S. 94. Vgl. Landmann: FA, S. 46. Landmann: EuE, S. 256.

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13.2 Die Unlösbarkeit des Konflikts öffnet seine kulturelle Bewältigung

mehr bildungs-anthropologisches mit einem eudämonistisch-ontolo­ gischen Element. Ersteres geht davon aus, in der Suche von Kampf und Gefahr führe der Mensch »den Bogen des Lebens höher, ja stellt so erst seine Ganzheit wieder her.«1291 Das kleine Wörtchen ›wieder‹ ist bezeichnend, weil es die Bildungsidee an die Vorstellung einer verlorenen Ganzheit rückbindet, die sich in Landmanns Anthro­ pologie des konstitutiv unvollendeten Kreativwesens Mensch streng genommen ebenso verbietet wie die Idee ihrer Wiederherstellung. An dieser Stelle aber wird die Vorstellung von Pluralität als Konflikt gerade bildungsphilosophisch konstruktiv: Betrachteten wir bisher den Konflikt als Erscheinungsmodus von Pluralität, so gilt es nun, umgekehrt die Pluralität als Erscheinungsmodus von Konfliktualität anzusehen, womit sich ihr positiver Wertakzent auf letztere überträgt. Von hier aus bezieht, was für sich betrachtet eine Zumutung bleibt, einen anthropologisch-ontologischen Sinn: »in der Vielspältigkeit des Seins neben dem Leiden auch eine Bereicherung, ein Stimulans, ein Glück«1292 zu sehen. Nicht obwohl, sondern weil am tiefsten Grunde des Menschen eine Spannung liegt, die ihm jede Versöhnung im Sinne von Einheitlichkeit und Letztgültigkeit ungemäß sein lässt, erreicht er eine zwar ›gebrochene‹, gerade nicht die Gegensätze für sein Glück synthetisierende, sondern sich erst aus ihnen aufbauende und so sei­ ner eigenen Vielstimmigkeit gemäße Harmonie.1293 Dass Landmann hier von einer Harmonie spricht, deutet auf einen Bildungsoptimis­ mus hin, der eng verbunden ist mit dem Wertakzent seiner ontologi­ schen Vorstellung von Pluralität und Antinomie, der seinerseits darin besteht bzw. Kraft daraus bezieht, dass beide ebenso Voraussetzung wie Ausdruck und Ziel menschlicher Kreativität sind. Der gegenüber Vernunftanthropologie kritische Impuls von Landmanns Kulturan­ thropologie zielt auch auf deren idealistische Harmonievision, der er in und mit der praktisch-hervorbringenden Gestaltung kultureller Lebensformen ein alternatives Bildungsideal entgegensetzt. Diesem zufolge vermag der Mensch den multiplen Ansprüchen der Welt und seiner selbst nicht, das heißt nur kreativ bzw. im Maßstab dessen, was er innerlich, denkend, erlebend, empfindend aufzunehmen vermag, nur oberflächlich gerecht zu werden: Landmann: PuA, S. 175. Vgl. ebd., S. 222: »Erreicht nicht auch der Mensch erst dann, wenn er sich diesem Spannungsbogen gewachsen zeigt, seine letzte innere Weite?«. 1292 Ebd., S. 223. 1293 Ebd., S. 222. 1291

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Denn wenn er die gegensätzlichen, unversöhnlichen Impulse, Pflich­ ten, Strebungen, Sehnsüchte alle so tief hinunter denken würde, so absolut bis ans Ende empfinden, wie ihre und seine Natur es eigentlich fordern, so müßte er zerspringen, wahnsinnig werden, aus dem Leben laufen. Jenseits einer gewissen Tiefengrenze kollidieren die Seins-, Wollens- und Sollenslinien so radikal und gewaltsam, daß sie uns zer­ reißen müßten. Es ist genau umgekehrt, wie der monistische Optimis­ mus es meint: daß man die Gegensätze nur tief genug hinunter zu ver­ folgen hätte, um zu ihrer Versöhnung zu kommen.1294

13.3 Das Tragische als »ethisches Zentralphänomen«1295 Landmanns Philosophie des Kreativlebewesens Mensch stellt den ebenso anspruchsvollen wie gewagten Versuch dar, bei aller in der Pluralität als Antinomie erkenn- und erlebbaren Tragik des Mensch­ seins dieser doch einen positiven Sinn abzugewinnen. Schauen wir uns also an, wogegen seine Anthropologie, es nüchtern einbeziehend, doch ›heimlich‹ rebelliert. Dies erscheint uns gerade im Rahmen phi­ losophischer Anthropologie nötig, ist es doch, wie Simmel schreibt, »erstaunlich, wie wenig von den Schmerzen der Menschheit in ihre Philosophie übergegangen ist«.1296 Leiden an der Welt und menschlicher Selbsthass: Diesseits einer Reduktion des Negativen auf die Unvollkommenheit der Welt (etwa der Materie bei Platon) oder die Unzulänglichkeit des Menschen (etwa seines Willens bei Schopenhauer) besteht es bei Landmann genau in einem bestimmten Verhältnis von Mensch und Welt. Die Inadäquatheit der beiden ist ebenso wie Quelle der Faszination, Inspiration und Kreativität Quelle menschlichen Leidens an der Welt, ja destruktiven Selbsthasses. Es wäre insgesamt zu fragen, ob eine Philosophie menschlicher Kreativität ohne eine solche menschlicher Destruktivität ›vollständig‹ sein kann. Bei Landmann sind, allgemein betrachtet, die destruktiven Kräfte und Aktivitäten des Menschen in seinem umfassenden Verständnis menschlicher Kreativität einbezo­ gen, was er immer wieder daran verdeutlicht, dass die Erschaffung Simmel: Miszellen aus dem nachgelassen Tagebuche. In: GSG Bd.20. Hg. v. T. Karlsruhen u. O. Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004 [im Folgenden: Mis­ zellen aus dem nachgelassen Tagebuche], S. 271. 1295 Landmann: Hartmanns Wertantinomien, S. 174. 1296 Simmel: Miszellen aus dem nachgelassen Tagebuche, S. 272.

1294

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13.3 Das Tragische als »ethisches Zentralphänomen«

eines Neuen anthropologisch immer mit dem (modifizierenden, par­ tiellen) Abbau, zuweilen auch der Destruktion eines Bestehenden einhergeht. Von einer Inadäquatheit von Mensch und Welt zu spre­ chen, bedeutet vor diesem Hintergrund bereits eine verharmlosende Abstrahierung und Formalisierung jener »tiefe[n] Unverwandtschaft zwischen Seele und Welt«1297, die ontisches Element verschiedenster eigenqualitativer Erlebensweisen ist. Von der den Menschen abrü­ ckenden »grundsätzlichen Fremdheit in der Welt überhaupt« etwa ist das Erleben von »Wirklichkeitsschwere«1298 zu unterscheiden, in dem sie ihm gleichsam zu nah kommt, ihn erdrückt. Ebenso sind im »Leiden an Zufälligkeit und Monotonie, Enge und Druck unserer Welt« deren (vermeintlich) fixe Vorgaben bestimmend, wogegen sich das Leiden an der »unschließbare[n] Offenheit und d[em] Auseinan­ derbrechen der Welt« gerade an der Unwägbarkeit, am »Doppelbödigund Doppelgesichtigwerden aller Dinge« entzündet.1299 Bei aller begründeten Kritik an einer zu dichten Verklamme­ rung von Anthropologie und Ontologie (zumal Heideggerscher Prä­ gung1300) sind in der These vom Menschen als Kultur- und damit Weltwesen auch die Formen und Weisen menschlichen Leidens in ihrer Kulturalität, das heißt aber: Weltbezogenheit, ja Welthaltig­ keit gesehen. So sehr das Subjekt erst durch ihn sich seiner selbst bewusst, ja überhaupt Subjekt wird, so sehr leidet es doch auch »unter dem Widerstand der Welt. Sein Urwunsch ist, sie möchte auf es hingeordnet und durch sein Bedürfnis lenkbar sein.«1301 Der weder selbstverständliche noch stabile Lerninhalt und -effekt, »daß nicht die Welt sich nach ihm richtet, sondern daß es selbst sich nach ihr zu richten hat und sie nur unter Kenntnis und Nutzung ihrer Gege­ benheiten sich gefügig machen kann«1302, muss sich immer wieder behaupten gegenüber der ebenso naheliegenden wie aussichtslosen Ausflucht in einen sich am Empfinden eigenen Ungenügens negativ berauschenden menschlichen Selbsthass.1303 In der ebenso psycho­ Landmann: EuE, S. 211. Vgl. auch EV, S. 180 f.: »Geschichtlich muß der das Fremde verdeckende falsche Uranthropomorphismus zuerst abgebaut und zerschla­ gen werden: die Welt ist nicht unser Analogon, ist nicht für uns eingerichtet«. 1298 Landmann: ZaS, S. 83 u. DaD, S. 93. 1299 Landmann: EdI, S. 57; EuM, S. 11; Plädoyer für die Entfremdung, S. 144. 1300 Vgl. Landmann: PA, S. 48. 1301 Landmann: EdI, S. 157. 1302 Ebd. 1303 Vgl. Landmann: EV, S. 172. Vgl. auch JM I, S. 210 u. FA, S. 183. 1297

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logisch nachvollziehbaren wie anthropomorphistisch verzerrenden Geste anthropischer Vergeblichkeit neidet der Mensch den Weltdin­ gen ihre (vermeintliche) Natürlichkeit, Vollständigkeit, Schönheit, Genügsamkeit, Unantastbarkeit etc. Warum nur, klagt er, schließt das Menschsein dagegen »eine beständige Anspannung und Vorsicht ein«; warum darf ich mich nicht auch »schlicht der Entfaltung des Lebens überlassen«1304? Aus genau der ihn auszeichnenden, ja als Subjekt bzw. als Mensch überhaupt erst hervorbringenden Fähigkeit der Erkenntnis und Anerkenntnis, ja Bewunderung der Weltdinge heraus entgleitet er sich nun paradoxerweise selbst und entwickelt in affektiver Reaktion auf den ungemäß stark erlebten Selbstverlust den »Wunsch nach Selbstaufgabe, nach dem pseudoutopischen Glück außermenschlichen Daseins.«1305 Wir sehen deutlich, dass noch der menschliche Selbsthass in der Welt und an ihren Dingen seinen Bezugspunkt und Inhalt findet: nicht als von ihnen völlig verschiede­ nes Wesen, sondern gerade in der komplizierten Zwischenstellung, als Wesen (in) der Welt doch ›nicht von dieser Welt‹ zu sein, entfrem­ det er sich von sich als einem Weltwesen. Die polare Grundspannung des Menschseins, sich in der Welt Lebensformen erschaffen zu kön­ nen, in denen er aber doch nicht letztgültig heimisch wird, wendet sich destruktiv gegen sich selbst. Menschlicher Selbsthass ist »nicht nur ein individualpsychologisches, sondern ein anthropologisches Phänomen. In ihm empören sich die niedergehaltenen, in ihrem Anspruch beschnittenen seelischen Schichten gegen ihre Herren.«1306 Tragisches erleben und tragisches Erleben: Der paradoxe Doppe­ linhalt, als Kulturwesen in der Welt, als Kreativwesen aber nicht erschöpfend von dieser Welt zu sein, qualifiziert die entsprechende Welt- und Selbsterlebensweise gegenüber anderen als tragisch, das heißt in gleichwohl besten Absichten ›selbstverschuldet‹ und damit unausweichlich. Erlebt wird der »tragische Konflikt des Lebens als Geist, der natürlich jetzt in dem Maße fühlbarer wird, in dem das Leben sich bewußt wird, ihn wirklich aus sich selbst zu erzeugen und deshalb organisch, unausweichlich mit ihm behaftet zu sein.«1307 Landmann: FA, S. 183. Ebd. u. Formgründende Erfahrung, S. 12. 1306 Landmann: JM I, S. 263. 1307 Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur, S. 200. Erlebt wird das Tragische als radikal vereinzelnd; der tragisch Erlebende empfindet sozusagen die Unvertretbarkeit seines Empfindens. Darauf macht Bergson aufmerksam, indem er Tragik und Komik kontrastiert: »Der tragische Held ist eine einmalige Gestalt. Man kann ihn nachah­ 1304 1305

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13.3 Das Tragische als »ethisches Zentralphänomen«

Mit dem, was ihn in seinem Kern als Individuum befremdet, doch als Dividuum unkündbar verwoben zu sein, ja ihm bei aller Abnei­ gung noch zugehörig zu bleiben – dies ist die tragische Situation des Menschen. Sie eröffnet sich und wird erlebt etwa bei all jenen Entscheidungen, die »einen Wert zwar einem niedrigeren, aber doch nicht einem baren Un-wert vorzuziehen haben, den es wesensmäßig nachzusetzen gälte, sondern einem unleugbaren Wert unreduzierba­ rer Positivität, der unter anderen Konstellationen auch vorzuziehen sein mag«.1308 Dem erlebenden Subjekt vermittelt diese Situation die Kontingenz seiner Wahl hinsichtlich der Verwirklichungswürdig­ keit gleichwertiger Optionen und objektiv die Unmöglichkeit einer ›vollständigen‹ Welt, das heißt: die »Enge der Wirklichkeit«.1309 Indes – ist auch »die tragische Weltsicht, die den Widerstreit der höchsten Werte und das Zerbrechen des Menschen an diesem Widerstreit als Letztgegebenheit hinnimmt […], die tiefste, zu der wir vordringen können«1310, so drängt er im täglichen Lebensvollzug ein entsprechen­ des »aporetisches Lebensfühl tief […] zurück. Offenbar wäre das Maß an Verungerechtigung, das zu begehen wir verurteilt sind, auch noch dauernd präsent zu halten über unsere Kraft.«1311 Bemerkenswerterweise eröffnet sich nun aber gerade aus der paradoxen Doppelheit des Mensch-Welt-Verhältnisses, das ihn nötigt, sich (als Lebewesen) in Formen einzurichten, die für ihn (als Geistwesen) nur viele unter vielen so verunmöglichten bleiben und das so seine eigene kreative Potenz tragisch färbt, für den Men­ schen ein entlastend-tröstender Sinn. Dass es sich bei den Konflikten und Antinomien nicht mehr allein um ein menschlich verursachtes Unvermögen, sondern zugleich um eine ontische Struktur im Sein handelt, ist nur eine andere Formulierung dafür, dass nicht nur der weltfremde Mensch aus dem Sein, sondern auch das menschenfremde Sein aus dem Menschen herausfällt. Die Öffnung der Philosophie für die Ontologie in Landmanns Kulturanthropologie signiert die Würde des Menschen nicht nur positiv in der Vorstellung mensch­ men, aber dann gerät man bewußt oder unbewußt vom Tragischen ins Komische. Niemand ist ihm ähnlich, weil er keinem anderen ähnlich ist« (Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, übers. v. R. Plancharel-Walter, Zürich: Verl. der Arche 1972, S. 112). 1308 Landmann: SaW, S. 58. 1309 Vgl. Landmann: EdI, S. 204. 1310 Landmann: JM II, S. 218, Herv. F.S. 1311 Landmann: Phänomenologische Ethik, S. 103.

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licher Kreativität als Kultur hervorbringender und pluralisierender Werterealisation, sondern auch indirekt in der ihn von seiner ›Schuld‹ teilentlastenden Annahme einer Aporetik im Sein. Die sich aus dieser anthropologisch-ontologischen Kopplung ergebende, zunächst dop­ pelt schmerzliche Einsicht in die Unhintergehbarkeit (Immer-wie­ der-gestaltbarkeit) der Antinomien befreit den Menschen sekundär davon, sich immer wieder am Unmöglichen (der statisch-letztgülti­ gen, uniformistischen Harmonisierung des unhintergehbar Hetero­ genen) zu versuchen und zu verschwenden. Stattdessen lässt diese Einsicht ihn noch, ja gerade als Fremden der Welt in dieser verortet sein und weist ihm die nur Menschen zukommende Aufgabe zu, die vorfindliche Welt in den Kulturen und Werten um jene Sinnhaftigkei­ ten zu bereichern, die sie aus sich heraus nicht zu gewinnen vermag. Kritik und kritischer Sinn des Tragismus: Diese Tröstung steht nicht in Widerspruch zu dem gegenüber jedwedem Harmonismus kritischen Sinn der tragischen Welt- und Menschenanschauung, sondern ist als Tröstung, das heißt als Grenze menschlicher Wunsch­ erfüllung, gewissermaßen selbst eines ihrer Elemente resp. Inhalte. Sofern einer Philosophie daran gelegen ist, den Menschen nicht als Substanz und isoliert von der (sonstigen) Welt zu begreifen, sondern als Lebewesen, für das die Weltdinge die Qualität des Kultu­ rellen, das heißt Suggestivnatürlichen und Kontingenten, Flexiblen, Plural-Aporetischen annehmen, ist sie genuin tragische Weltsicht. An der Reflexion auf die Konsequenz ihres eigenen Inhalts aber, das heißt an der Kritik am aporetischen Welt- und Menschenbild, sofern es selbst zur Fixierung von Mensch und Welt in einem Tragismus der Inkommensurabilitäten geneigt macht, muss sie sich ihrerseits messen lassen. In den Worten Plessners aus einem Brief an König: »›Eine Philosophie, die den Geist der Schwere heute nicht einmal in Frage stellen kann – nach Nietzsche – bleibt Schulphilosophie.‹»1312 Landmanns Philosophie der menschlichen Kultur hat ihren kritischen Sinn darin, der in seiner Plural-Aporetik liegenden Gefahr, untragi­ sche Formen des menschlichen Handelns, Erlebens oder Seins gar nicht mehr denken zu können1313, Einhalt zu gebieten. Nicht nur Schürmann, Volker: Plessners parteiliche Anthropologie. Aspekte eines sperrigen Verhältnisses zur Phänomenologie. In: Journal Phänomenologie 34 (2010), S. 18 [im Folgenden: Plessners parteiliche Anthropologie]. 1313 Es ist schwer, zu bestimmen, wann eine Philosophie dieser Gefahr ganz erlegen ist; Landmann kommt dem zweifelsohne sehr nah, etwa wenn er in PuA, S. 49 schreibt: 1312

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13.3 Das Tragische als »ethisches Zentralphänomen«

ist ethisch zu fragen, wieviel Aporie der Mensch als erkennendes und erlebendes Wesen verträgt1314, sondern kulturphänomenologisch zu sagen, dass das menschliche Leben in der Regel, das heißt in seinem ›kulturnatürlichen‹ Sichvollziehen, als dezidiert tragikfrei, das eben heißt ja: als bis in die Tiefen kulturell, das heißt: einheitlich und eindeutig, zu charakterisieren ist, worin es jedoch keinen Mangel, sondern im Gegenteil sein Auszeichnendes hat. Darauf ist umso dringender hinzuweisen, als sich der von den Antinomien verführte Tragismus gefährlich gut zu vermählen weiß mit einem aus der Pluralität sich motivierenden Ästhetizismus, wie wir ihn bereits erläuterten. Beide verbindet die Tendenz, nicht trotz, sondern gerade wegen ihres sensiblen, umfassenden Realitätssinns sich in einem zweiten Schritt von dieser Realität, die als erkannte nicht lebbar ist, umso weiter zu entfernen. Das Ausmaß der Konsequenzen dieser Dynamik zeigt sich etwa dann, wenn Menschen zwar »das im Spiegel der Dichtung oder Kunst geschaute Menschenleid tief mitzufühlen vermögen, aber stumpf bleiben bei dem, was ihnen an Leid und Elend in ihrer wirklichen Welt entgegentritt.«1315 Von den lähmenden Effekten einer tragischen Welt- und Menschenanschau­ ung ist die Pädagogik als Bewältigungsfeld zwischenmenschlicher Konflikte ebenso potentiell betroffen wie als Ereignissphäre zwischen­ menschlicher Aktivitäten partiell vor ihnen geschützt. Entsprechend ist zum einen mit Bollnow auf die im ambivalenten Doppelaspekt eines die pädagogische Relation begründenden Vertrauens und einer Kontingenz des pädagogischen Prozesses bestehende Tragik des Erzie­ herberufs zu verweisen.1316 Zum anderen stellt Volker Spierling in Aussicht, aus der die tragische Anschauung begründenden Aporetik gerade für die Pädagogik einen kritischen Inhalt zu gewinnen: »Stellt die Erkenntnisantinomie […] selbst ein begründetes Erziehungsziel dar, das zwischen pädagogischen Zielvorstellungen einen kritischen Zusammenhang zu stiften vermag?«1317 »All unserm Tun ist daher von innen das Tragische eingewoben«. Dies mag anthro­ pologisch resp. ontologisch plausibel sein, ist phänomenologisch aber fragwürdig. 1314 Vgl. Landmann: EuE, S. 267. 1315 Münch, Wilhelm: Jenseits der Schule, Seitenblicke eines Pädagogen auf Men­ schenart und Menschenleben. In: Neue Jahrb. f. Pädagogik. Hg. v. R. Richter. 3. Jg. 1900. Leipzig: B.G. Teubner, S. 525. 1316 Vgl. dazu Koerrenz: Bollnow Porträt, S. 77. 1317 Spierling: Skeptische Pädagogik, S. 386. Zur weiterführenden Frage, was aus der Annahme, Analyse und Ausarbeitung der Seinsantinomien pädagogisch zu gewinnen

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13. Aporetische Stachel

13.4 Anthropologischer Sinn und Vorzug von Versöhnung Wir sprachen bisher vom Tröstenden als einem gleichsam indirekt positiven Sinn bzw. als einem inhärenten Element der Plural-Apore­ tik. Nun wollen wir das unmittelbar positive, versöhnende Potenzial der Plural-Aporetik in den Blick nehmen. Wir werden sehen, dass sie dieses Potenzial gerade als Tragik enthält und entfaltet, insofern sie nämlich als tragische Welt- und Menschenanschauung abseits sowohl von einem sinnleugnenden Nihilismus als auch von einem allsinnigen Harmonismus steht.1318 Tragik als Signatur menschlicher Schöpferkraft: Landmanns Posi­ tion in der Frage nach der Versöhnlichkeit des Menschen mit sich und der Welt ist nicht eindeutig. Einerseits scheint er gerade in der Annahme und Anerkennung der Seinsantinomien in der Linie Simmels zu stehen, der eine solche gelten lässt »nur hinsichtlich des Verstehens […]. Wir können jedem dieser Gegensätze im Geiste gerecht werden […]. Dagegen auf der Realitätsseite herrscht Unver­ söhnlichkeit, die nur von Künstlern sowie im Wunder – in einem individuellen Gesetz – zusammengebogen wird«.1319 Mit den Worten von Simmel selbst: Hier nach einer Versöhnung zu suchen, nach einem Begriff und einer Theorie, die diese Gegenrichtungen der Wertgefühle als verträgliche und in einer höheren Strebung zusammenlaufende demonstriert, weil in vielen Seelen tatsächlich beide mit geteilten Rechten herrschen: Das ist soviel wie: den Gegensatz von Tag und Nacht hinwegbeweisen, weil es eine Dämmerung gibt.1320

ist, vgl. Theodor Ballauff: Pädagogische Konsequenzen aus Nicolai Hartmanns Phi­ losophie. 1318 Charakterisiert Hupe Landmann als »Philosoph des Ausgleichs« (Kreativität und Teleologie, S. 168), so fällt G. Maschkes Einschätzung kritischer aus: »Der überall verstehende und fast überall verzeihende Denkgestus Landmanns ist Ergebnis eines versteckten, doch intensiven Harmoniewillens: Nachdem die Komplexität und Wider­ sprüchlichkeit menschlichen Zusammenlebens deutlich bewußt wurde, soll auf die­ sem Boden eine neue Naivität entstehen. Das ist der verständliche Wunsch eines reifen und abgeklärten Gelehrten, der klug genug ist, keine allzu hohe Meinung von der Wissenschaft zu haben« (Ein Flaneur im Irrgarten der Vernunft, S. L9). 1319 Dies sind Landmanns Worte aus einem Protokoll zu einer Diskussion über Sim­ mel (vgl. Landmann: Georg Simmel: Konturen seines Denkens [Aus der Diskussion], S. 15). 1320 Simmel: Soziologische Ästhetik, S. 73 f.

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13.4 Anthropologischer Sinn und Vorzug von Versöhnung

Andererseits finden wir folgenden Hinweis auf einen positiv-versöh­ nenden Zusammenhang zwischen Antinomie und Tragik auf der einen, Pluralität und Kreativität auf der anderen Seite: Die Relation zwischen ihm [dem Leben, Anm. F.S.] und seinem Gegenüber geht nie als Gleichung auf, es behält stets noch eine höhere Entfaltbarkeit und Neuprägungsbereitschaft zurück. Dieser sein unversieglicher innerer Reichtum ist es, der das, was noch soeben seine Selbstoffenbarung war, schon bald zum beengenden, zu spren­ genden Gehäuse werden läßt. […] Was daher statisch gesehen die Schwäche und Gefährdetheit der Kultur ist, bildet prozessual gesehen die Kraft und den Überschwang des Lebens. Der Dualismus, der sich an der Kultur als Tragödie äußert, erweist sich am sie tragenden Leben als Schöpfertum.1321

Nun könnte man zwar sagen, dass es sich auch bei dieser Überle­ gung eben um eine Sichtweise, um eine geistig sublimierend-versöh­ nende Deutung von an sich Unversöhnlichem handelt. Gleichzeitig aber – und allzumal in Landmanns anthropologisch-phänomenolo­ gischer Fokusverschiebung vom Erkennen auf das Erleben – wer­ den ebenso wie die Enge der kulturellen Gehäuse auch ›Kraft und Überschwang des Lebens‹ doch erlebt und bilden als solche einen allerdings realen Bezugspunkt für ein entsprechendes Versöhntsein bzw. dessen Erlebnisinhalt. Wie sonst, wenn nicht unter der Annahme einer Erlebbarkeit von Pluralität, Antinomie und Tragik als Grund und Ausdruck menschlicher Kreativität, Individualität, Geschichte und Freiheit könnte Landmann davon ausgehen, es sei »auch ein Zeichen der Kraft, die Unsicherheit aufzusuchen und zu ertragen und sich gegen die an sich bestehenden Aporien – die auf die Dauer doch die stärkeren sind – nicht von vornherein durch vermeintliche Unerschütterlichkeiten sichern zu wollen«?1322 Versöhnung als Vision, Versöhnlichkeit als Faktum – Phänomeno­ logie der Mensch-Welt-Passung: Besteht hier der Sinn von Aporetik und Tragik für den Menschen darin, dass er sich seines schöpferischen Potenzials, seines Werdens, genauer: Noch-werden-könnens, bewusst wird und sich selbst als Potenz erlebt, so findet er auch und gewis­ sermaßen umgekehrt in seinem Sein, genauer: Bereits-schon-sein, Landmann: PuA, S. 233. Landmann: MSGK, S. 117, Herv. F.S. An anderer Stelle spricht er von »der Pflicht, selbst noch in dieser Aporie zu atmen und ihre Form so zu fassen, wie sie sich auf unserem Lebensgrund abspiegelt« (GuL, S. 98, Herv. F.S.). 1321

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13. Aporetische Stachel

einen Bezugspunkt und Inhalt eines bestimmten Versöhnlichkeitser­ lebens. An dieser Stelle mag die etwas spitzfindige Unterscheidung von Versöhnung und Versöhnlichkeit hilfreich sein. Zwar kann der Mensch in Landmanns Verständnis einerseits, das heißt anthropologisch betrachtet, nicht versöhnt sein, Versöhnung in letztzuständli­ cher Weise, als letztgültige Form nicht erreichen. Andererseits aber erreicht er ja als kulturell-geschichtliches Wesen immer wieder auf’s Neue einen Zustand, in dem ihm seine je kultürlich geschaffene Lebenswelt nicht nur als Natürliches erscheint, sondern – sofern er in ihr erst, das heißt: zunächst nur in ihr Mensch wird – tatsächlich seine natürliche Lebenswelt ist. Und nun wirkt sich zwar die Erkenntnis bzw. das Erlebnis der Kontingenz des für natürlich Gehaltenen und damit der Pluralität des für möglich Haltbaren modifizierend auf das menschliche Erleben seiner selbst und seiner Kulturwelt aus, was wir bereits in der kurzen Charakterisierung ›sekundärer Familiarität‹ andeuteten. Gleichzeitig aber wird im Regelfall die Funktionalität der Kultur am Leben des Menschen, ihn in einer jeweiligen Welt behei­ matet sein zu lassen, als solche nicht außer Kraft gesetzt, sondern eben ›lediglich‹ modifiziert. Der allgemeine Erlebnisinhalt wie auch die grundlegende Erleb­ nisstruktur ›sekundärer Familiarität‹ ist nun in den Worten Versöhn­ lichkeit und Versöhnbarkeit gerade mit deren Unschärfe relativ gut getroffen. Nicht als versöhnt, wohl aber als versöhnlich (womit der Fokus stärker auf die menschliche Fähigkeit, sich versöhnlich zu stimmen, gerichtet wird) und versöhnbar (worin die ontische Seite der Mensch-Welt-Passung in Betracht kommt) erlebt sich der um seine Kulturalität wissende und doch seine jeweilige Kultur – zur Fortsetzung oder Um- und Neugestaltung – annehmende Mensch. Zugleich um die zufällige Raumzeitstelle des Je-Kulturellen im menschlichen Gesamtgeschehen und -verlauf zu wissen, und dieses an seiner Stelle doch für voll (und schön, richtig, wahrhaftig etc.) zu nehmen – diese spannungsreiche Gleichzeitigkeit qualifiziert das menschliche Erleben von Versöhnlichkeit, das der anthropo-logi­ schen Situation des Menschen ebenso entspricht wie das tragische Erleben komplementär positiv ergänzt. Im Versöhnlichkeits- und Versöhbarkeitserlebnis erwächst dem Menschen gewissermaßen ein ›Gegenerlebnis‹ zum Tragismus und eine Gegenkraft zu dessen – konservierender und devitalisierender – Tendenz, »die Antinomie in ihrer jetzt bestehenden Schärfe für ewige Menschennatur aus[zuge­

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13.5 »Menschlich entfremdende Vernunft« und das Irrationale

ben].«1323 Seinen potentiellen, praktisch-vitalisierenden Sinn erhält dieses ausgleichende und darin der menschlichen Vernunft bzw. einer ihrer Formen verbandelte Erlebnis, sofern es den Willen auslöst oder bestärkt, »das Maß der Antinomie immer noch herab[zu]setzen«.1324 Indem vor allem im Erleben von Versöhnbarkeit der Geist sich vom Leben resp. Sein eine Grenze, d.i. die Grenze der harmonisierenden Vernunft, setzen lässt, eröffnet sich ihm ein spezielles ›geistiges Erlebnis‹. Dessen Inhalt ist die unausweichliche Geschichtlichkeit des Menschen in der notwendigen Pluralität seiner Kultur. In ihm eröffnen sich dem Kreativ- und Kulturwesen Mensch Zugänge zu sich und den Dingen, die diesseits der uniformierenden Erkenntnis der einen Wahrheit der einen Welt quellen. Von hier aus lässt sich auch etwas von der Vorstellung und am Erlebnis menschlicher Zerrissenheit erhellen. Dieses hat logisch die Vorstellung von und psychologisch das Bedürfnis nach Einheit des Selbst resp. der Welt zur Voraussetzung; und indem die Einheitsvor­ stellung in der pluralistischen Schau aufgehoben ist, verliert damit auch das Provokative menschlicher Zerrissenheit seine Angriffsflä­ che. Der konziliatorische Sinn von Landmanns Kulturanthropologie besteht so betrachtet darin, den Menschen als plurales Wesen zu denken, seine Pluralität über die Antinomien anthropologisch zu vertiefen sowie offen zu halten und die relativistische und ihn zer­ reißende Tendenz er Aporetik wiederum im Wertakzent auf seiner Pluralität wenigstens zu mildern. Ist das Gefühl des Zerrissenseins Element bzw. Folge des tragischen Erlebnisses, vor den unvereinbaren Werten resp. Kulturen zu stehen und von ihren auseinandergehen­ den Ansprüchen zerrissen werden zu müssen, so haben wir in der Versöhnlichkeit resp. Versöhnbarkeit umgekehrt ein synthetisches Erlebnis des Mit-ihnen-Seins, des In-der-Einheit-ihrer-Vielheit-ver­ bunden-Seins.

13.5 »Menschlich entfremdende Vernunft« und das Irrationale Wie in den Seinsantinomien von ontologischer ist also in den Erleb­ nisweisen des Tragischen und Versöhnlichen von erlebnisphänome­ 1323 1324

Landmann: EdI, S. 243. Ebd.

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nologischer Seite eine ergänzende bis korrigierende Kritik an der menschlichen Erkenntniskraft im engeren Sinne gegeben, die das Fundament bietet für eine bei Landmann in Ansätzen gegebene Philosophie des Irrationalen. »Entfremdende Vernunft«: Dabei finden die nicht voneinander lösbaren Perspektiven der Fundamental-Anthropologie und der Kul­ turkritik im Terminus »menschlich entfremdende[r] Vernunft«1325 ihre dichte Verbindungsstelle. Landmanns gegenwartskritische Frage »Ist Vernunft noch das Humanum?« geht aus von der anthropolo­ gischen Annahme, dass der Mensch erst und gerade in den qua Distanzierung entfremdenden Effekten der Vernunfterkenntnis die ihn auszeichnenden und für sein Leben funktionalen Weltbezüge gewinnt. Er verdeutlicht dies am grundlegenden Phänomen der menschlichen Sprache als dem ›Prototyp‹ distanzierender Aneignung: Zwischen den unmittelbaren Andrang der Wirklichkeit und den erle­ benden Menschen […] stellt sich die Sprache und legt so zwischen die beiden eine Distanz. Indem aber der Sprechende sich von der Wirklich­ keit entfernt, erhält er sie eben dadurch, so wie immer der Abstand erst die Erkenntnis bringt, auf andere Weise erst voll geschenkt. Er entdeckt an ihr Dimensionen, die dem ihr ganz Unterworfenen entgehen. Für das minder intensive Erleben kommt eindringenderes und überschauenderes Erkennen.1326

Dass der Mensch wie immer bereits in einer Kultur, so stets schon in einer Sprache (als zentralem Strukturelement der ersteren) lebt, steht nicht in Widerspruch zu deren entfremdender Wirkung, wenn­ gleich diese eben deswegen in der Regel unbemerkt bleibt. Es ist ja genau Anspruch und Sinn eines anthropo-logischen Begriffs von Entfremdung, nicht nur an deren geschichtlichen, mehr oder weniger bewussten Phänomenen Anstoß zu nehmen, sondern sie als Bedin­ gung der Möglichkeit des Menschseins zu begründen und gerade dort aufzudecken, wo ganz und gar nichts entfremdet erscheint: im Vollzug menschlichen Lebens als Kultur. »Überall dort, wo die Vernunft sich über das Elementarste erhebt, wo sie es [immer bereits, Anm. F.S.] mit einer gegliedert-vielschichtigen Wirklichkeit aufnimmt, wird sie sehr leicht in sich selbst antinomisch.«1327 Im erkennenden Weltbezug des Menschen werden zwei außerrationale Aspekte, der ›unmittelbare 1325 1326 1327

Vgl. Landmann: Teuer bezahlte Vernunft, S. 106. Landmann: DaD, S. 107 f. Landmann: AgV, S. 87, Herv. F.S.

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Andrang der Wirklichkeit‹ und der ›erlebende Mensch‹ einander vermittelt – und in dieser Vermittlung gehen beiden bestimmte, sie als solche, das heißt als einzelne gerade qualifizierende Dimen­ sionen verloren. Sofern nun Erkenntnis als dem eigenen Anspruch nach einheitliche Zugangsweise auf das Allgemeine ihrer Gegenstände abzielt, wird im erkennenden Verhältnis sowohl die Pluralität der menschlichen Kräfte wie die der Weltaspekte schmerzlich reduziert. Es ist diese anthropo-logische, jegliches Besondere unifizierend ein­ ebnende Grunddynamik, die im wissenschaftlichen, logik- und evi­ denzbasierten Zeitalter eine Intensivstufe und ein extensiv erhöhtes Ausmaß erreicht: »Was offenkundig und beweisbar ist, das schließt die innere Beteiligung in gewisser Weise geradezu aus, es bedarf ihrer zumindest in weit geringerem Maße als das Irrationale.«1328 Wie zur Kompensation der entfremdenden Effekte einer dann schnell als falsch deklarierten Erkenntnis kippt der Mensch gleichsam um in die Vision mensch-weltlicher Versöhnung mittels einer als menschlich, wahr, eigentlich etc. beschworenen Vernunft. Im Gegen­ satz zu solcher Fortschritts-Eschatologie betont Landmann gerade die anthropologisch kritische Funktion entfremdender Vernunft. Diese ist menschlich entfremdend nicht (nur und erst) im geschichtsteleolo­ gischen Sinne einer verlorengegangenen und wiederzuerlangenden Humanität des Menschen, sondern grundlegender als »Auflocke­ rung [sein]es selbstverständlichen Zuhauseseins in einer gedeuteten Umwelt«. Diese ihn aus der Selbstverständlichkeit seiner selbst in der Welt herausproblematisierende Bewegtheit »und die mit ihr einher­ gehende Verwirrung und Lähmung ist […] das ursprünglichere und tiefere Ergriffensein von Problematik, dem gegenüber ihre Funktion für den geordneten Gang der Wissenschaft eher domestiziert anmu­ tet.«1329 Im Gegensatz zur einen substanziellen oder geschichtsphilo­ sophischen Dualismus der menschlichen Kräfte implizierenden For­ derung nach einer humanistischen, die barbarische überwindenden Vernunft bleibt Landmann konsequent beim dichten Ineinander der Vernunftkräfte und stellt ihre ausgleichend-begrenzende Vermittlung in Aussicht: »Es bedarf einer ›Kritik der legitimierenden Vernunft‹, die die scheinbar so aufgeklärte erst über sich selbst aufklärt. Sie

1328 1329

Landmann: UuS, S. 212. Landmann: P, S. 343 f.

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muß lernen, neben sich selbst noch andere Quellen der Legitimität zu respektieren.«1330 Vernunft und Irrationalität im Gefüge menschlicher Kräfte: Zu diesen Quellen gehören zum einen die der Vernunft selbst in ihrer Verengung auf wissenschaftliche Erkenntnis »entglittenen Sphären«, in denen die »verlorene Ganzheit«1331 des menschlichen Intellekts wiederzugewinnen sei. Finden wir hier auch bei Landmann die bedenkliche zeitliche Figur einer verlorengegangenen Ganzheit, auf die doch seine Kritik gerade abzielt1332, so wollen wir seine mehr simultaneistische, deutlich weiter führende Perspektive auf die Ver­ nunft im Gefüge menschlicher Kräfte einnehmen. In Abwandlung von Kants berühmter Formel verdichtet er den Anspruch seiner krea­ tivitätsphilosophischen Vertiefung und Erweiterung der klassischen Vernunftanthropologie: »Kreative Vernunft ohne kritische ist naiv, kritische ohne kreative nihilistisch.«1333 In der geistigen Bestimmung des Menschen zum in unabschließbaren Geschichten wechselnden und inkommensurablen Kulturen sich differenzierenden Wesen wird die Vernunft ebenso postuliert wie proklamiert als eine Kraft, die das zwar Uneinheitliche doch erkennend erfasst: »Daß es keine ewigen,

Landmann: AgV, S. 91. Landmann: EV, S. 122 u. 92. 1332 Anthropologisch unzulässig ist ein solches geschichtsphilosophisches Vernunft­ verständnis insofern, als hier der grundlegende Hiatus »[z]wischen dem Rationalen und dem Humanum« (ebd., S. 25) verzeitlicht und damit seiner anthropologischen Tiefendimension wie seinen nur simultaneistisch fassbaren Aspekten beraubt ist. Gleichzeitig ist die geschichtliche Perspektive unverzichtbar, allein schon, um den unter den je sozial-kulturellen Voraussetzungen notwendig veränderten Sinn der anthropologischen Grundaussage von der ›menschlich entfremdenden Vernunft‹ bestimmen zu können. Die Frage ›Ist Vernunft noch das Humanum?‹ zielt insofern auf die Problemstellung, ob und was es in der Gegenwart inhaltlich bedeuten könne, von Vernunft als dem menschlich Auszeichnenden zu sprechen. Landmann antwortet darauf nicht zufällig mit parallelisierendem Verweis auf die Ästhetik: »Wir treten ein ins Zeitalter der transhumanen Vernunft. Es gibt heute ein Buch mit dem Titel ›Die nicht mehr schönen Künste‹. Ähnlich könnte man als Titel wählen: ›Die nicht mehr humane Vernunft‹« (Teuer bezahlte Vernunft, S. 83). Seine Forderung, die Entfrem­ dung als Anthropinon ernst- und anzunehmen, »dem es ins Gesicht zu sehen und das es ins Lebensgefühl aufzunehmen gilt«, kommt offensichtlich ohne den versöhnlichen Bezug zur noch das vermeintlich Hässliche in sich aufnehmenden Ästhetik nicht aus: »Wie die Musik in unserer Zeit die Dissonanz geadelt und zum künstlerischen Prinzip erhoben hat, so müssen wir auch die Dissonanzen in uns akzeptieren und auf ihnen aufbauen« (PuA, S. 32). 1333 Landmann: EV, S. 161. 1330 1331

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allgültigen Normen gibt, daß auf allen Gebieten eine Pluralität von Formen gleichwertig nebeneinander steht, ist die unabweisliche Evi­ denz der Vernunft selbst.«1334 Dass Landmanns Kritik sich nicht auf die Vernunft als solche, sondern auf ihre monistische oder dualisti­ sche Reduktion bezieht, der gegenüber er vernunfttypologisch ihre Formen als Glieder eines funktionalen Gefüges zu erfassen sucht, wird allzumal deutlich, wenn er schließlich in diesem Gefüge sogar den Irrationalismus partiell einbezogen sein lässt: »Es gibt zwei Formen des Irrationalismus: einen antirationalistischen und einen, dessen Kritik an der Vernunft die einer anderen Vernunft selbst ist.«1335 Dieser Schritt ist aus vielen Gründen philosophisch problematisch, was sich auch darin andeutet bzw. verrät, dass sich Landmann hier, wenn er von einer ›anderen Vernunft‹ spricht, selbst einem nicht weiter bestimmten Dualismus gefährlich nähert. Es stellt sich die brisante Frage, in welchem Verhältnis zueinander die Einheit der menschlichen Vernunft und die Einheit des menschlichen Lebewe­ sens stehen. Letztere in ersterer nicht aufgehen lassen, gleichzeitig aber einen Substanzdualismus vermeiden zu wollen, markiert den allerdings hohen Anspruch einer von der Pluralität der Menschseins­ weisen wie auch der Einheit des Menschen zugleich ausgehenden Anthropologie. Ist dieser in einer dialektisch verführerischen Formu­ lierung wie der folgenden tatsächlich eingelöst? »Ihre Einseitigkeit reflektierende Aufklärung und aufgeklärter Irrationalismus müssen münden in die eine und ganze Vernunft.«1336 Hier scheint nicht nur der Ratio, sondern sogar der Irratio ihr entfremdender, aporetischer Stachel monistisch entschärft. Diese Kritik an der Vereinnahmung der Irratio durch die – wenn­ gleich weiter gefasste – Vernunft bei Landmann steht keinesfalls in Widerspruch zu dem dichten und vielschichtigen Ineinander der beiden, sondern beansprucht im Gegenteil, deren wechselseitige, indi­ rekte Steigerung durch- und Klärung aneinander zu sehen. »Dadurch nämlich, daß das Rationale in seiner Helligkeit zu einer abgrenzbaren eigenen Region wird, trennt sich erstmalig in solcher Schärfe eine dumpfere Region von ihm ab, und auch diese, die dumpfere, wird damit auf neue Weise in ihrer Eigenartigkeit fühlbar.«1337 Hier kommt 1334 1335 1336 1337

Landmann: EV, S. 121. Ebd., S. 112. Landmann: EdI, S. 168. Landmann: EuM, S. 64.

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alles darauf an, das Ineinander der menschlichen Kräfte nicht derart – letztlich monistisch – aufzufassen, dass die außer- und irrationalen nur als blasse, verdünnte, defizitäre Zerrformen (Abkömmlinge) der reinen Ratio gelten.1338 Im Gegenteil steigern und klären sich Ratio und Irratio gerade durch ihre jeweilige Autonomisierung und ihre grundlegende Heterogenität, durch die – und diese keineswegs selbst­ verständliche Annahme ist wichtig – ihre ›Einheit‹ und damit die des Menschen offensichtlich trotzdem nicht auseinanderzufallen scheint. »So paradox es auf den ersten Blick scheinen mag, die Orientierung am Denken als höchster Erkenntniskraft bringt es mit sich, daß das ihm weit ferner stehende Irrationale seine Geltung beibehalten und sogar vertiefen kann«.1339 Irrationale Lebens- und Weltgründe: Landmanns Vernunftkritik hat neben diesem anthropologischen einen ontologischen Sinn, der Anstoß nimmt an der Vorstellung, nicht nur alles im Menschen sei Vernunft, sondern die Welt sei durchweg vernünftig eingerich­ tet. Mehr rhetorisch fragt er: »Wie nun aber, […] wenn es einen ›Fragezeichencharakter der Dinge‹ als metaphysisch Letztes und ein in dauerndem Werden befindliches Chaos auch auf der objektiven Seite gäbe?«1340 Landmanns ontologische Annahme eines irreduzibel »Irrationalen in den Phänomenen«1341, das sich ebenso wenig im Leben abweisen wie erkennend auflösen, sondern nur umreißen lässt, ist eng gekoppelt an seine Philosophie resp. Anthropologie des Schöpferischen. Seine Erweiterung der menschlichen Vernunft um außer- und irrationale Kräfte und die Vertiefung der Kreativität zum Anthropologicum verbinden sich in der Annahme, Menschen hätten gerade aus einem Bewegt-worden-sein vom Ungewissen, Irra­ tionalen »alle wahrhaft grundschürfenden Werke der Menschheit hervorgetrieben. Es ist der mütterlich tragende Boden, von dem wir uns dankbar bewußt bleiben sollen, daß jede ernstliche Schöpferkraft sich aus ihm speist.«1342 In seiner Ratio und Irratio einschließenden und produktiv vermittelnden Kreativität eröffnet sich dem Menschen die rational-irrationale ›Doppelbödigkeit‹ (innere Pluralität und Apo­ retik) der Weltdinge; aus ihr heraus bringt er letztere in dieser 1338 1339 1340 1341 1342

Vgl. Landmann: EuM, S. 73. Ebd. Landmann: P, S. 370. Landmann: EuE, S. 79. Landmann: P, S. 232.

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13.5 »Menschlich entfremdende Vernunft« und das Irrationale

Doppelheit neu hervor. In diesem Entsprechungsverhältnis zwischen der Weise, wie der Gegenstand gedacht wird und der Weise, wie die Kraft, ihn wahrzunehmen, zu denken, zu fühlen, hervorzubringen, gedacht wird1343, sind Anthropologie und Ontologie, ebenso sich begrenzend wie einander richtungweisend, vermittelt. Irrationales Erleben und Kulturbewusstsein: Wie mit der Krea­ tivität des Menschen, so steht das Irrationale in enger, spannungs­ reicher Verbindung zu seiner Kulturalität. Wir nähern uns dieser indirekt über eine bemerkenswerte, bereits im 1. Kapitel zitierte Textstelle. Landmann zufolge wäre der Mensch ohne Kultur »ein Chaos verpuffender Emotionen und zielloser Akte.«1344 Welchen Sinn und welche Grundlage aber hat die bloße Denkmöglichkeit eines nichtkulturellen Zustandes des Menschen unter der Voraussetzung, dass er doch konstitutiv und bis in die Tiefen seines Empfindens, Wahrnehmens, etc. hinein Kulturwesen ist? Es scheint sich bei dieser Denkmöglichkeit um die geistige Sublimierung eines ursprünglichen, zweischichtigen Erlebnisses zu handeln: dem Erlebnis des Haltge­ benden der Kultur resp. ihrer Formen für den Menschen, in dem indirekt auch seine Angewiesenheit auf Haltgebendes, das heißt der Grenzfall seiner Haltlosigkeit erleb- und erkennbar wird. Etwas ihm Äußerliches als haltgebend zu erfahren, schließt die imaginierte, antizipierte, erinnerte, gegenläufige Erfahrung des Menschen ein: ›ein Chaos verpuffender Emotionen und zielloser Akte‹ zu sein, als deren sie ebenso formende wie deformierende Bewältigung er die kulturellen Formen erlebt. Deutlich sehen wir hier den Zusammen­ hang von Ratio und Irratio, wenn sich dem Menschen gerade am Grenzfall des sich rein vollziehenden, ›blind‹ pulsierenden Lebens, als das er sich erlebt, sein anthropologisches Wissen, das heißt sein Kulturbewusstsein schärft, verfeinert, vertieft. Im Kulturbewusstsein sind rationale und irrationale Aspekte des Menschseins verbunden: es ist ebenso anthropologisches Wissen um das eine formale, rational fassbare ›Wesen des Menschen‹ wie geschichtliches Wissen um die vielen, irreduzibel-uneinheitlichen und in diesem Sinne irrationalen 1343 Landmann selbst exemplifiziert diesen allgemeinen Zusammenhang am Beispiel des Pantheismus, dessen veränderte Ontologie auch die Valenz der menschlichen Weltzugänge modifiziert: »Alles Wirkliche ist als solches gott- und sinnhaltig. Die Sinnmomente liegen nicht in einer abgetrennten eigenen Sphäre, sondern sind dem Wirklichen selbst immanent. So steigt hier das Wirkliche im Rang. Und mit ihm steigt daher auch das Wahrnehmen« (PA, S. 98). 1344 Landmann: Cultura formans als Faktor der Menschwerdung, S. 171.

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13. Aporetische Stachel

Menschseinsweisen. Nicht um einen Dezisionismus zu beschwören, sondern um die Pluralität und Antinomie des Menschen anthropolo­ gisch zu begründen, lässt Landmann ihn das kreativ-handelnd sich hervorbringende Wesen sein. Insofern Handlungen als solche ebenso einer individuell-kontingenten Situation entspringen wie eine solche aus sich erzeugen, ist seine schöpferische Selbsthervorbringung irra­ tional: »Nur durch einen irrationalen Sprung, durch eine setzende Tat, kann der Inhalt jeweilen festgelegt werden. Er kann es nicht mit Gründen für alle, sondern nur durch eine Entscheidung innerhalb eines gegebenen Lebenskreises.«1345

13.6 Grenzen des Pluralen Es gilt nun, nachdem der anthropologische und ontologische Sinn von Pluralität und Antinomie erläutert wurde, den metaphysischen und utopischen Sinn resp. Ort des Pluralen in Landmanns Philosophie aufzuzeigen, wodurch zugleich die Grenzen des Pluralen selbst wie auch seiner Philosophie kenntlich werden. Wie wir sahen, emaniert bei Landmann die Pluralität der Menschseinsweisen und Weltdeu­ tungen nicht sekundär aus einer ursprünglichen Einheit, sondern ist selbst letztes Anthropologicum resp. Metaphysicum. Am Anfang war Vieles – »Pluralistische Metaphysik« als Umkeh­ rung des philosophischen Harmonismus: Nirgends beschreibt Land­ mann die Umkehrung des philosophischen Harmonismus in einen metaphysisch-prophetischen Pluralismus plastischer als in seinem autobiographischen Text Anti-Plotin, dessen Lektüre Einsicht in die Keimzelle seiner Philosophie vermittelt. Dort heißt es: In meiner Jugend-Intuition stand am Anfang gerade das nicht aus einer Trennung oder Unterscheidung hervorgegangene genuin Disparate. Dieses Disparate kontrahiert sich in den dunklen Klumpen des Einen. Von einem so schönen Vorgang wie einer Emanation kann hier nicht die Rede sein. Es ist ein Abkrachen in die gnadenlose Negativität, in der alles qualitativ Individuelle eingeebnet wird zu einem homogenen Brei. Dieser Höllensturz erfolgt nicht aus schenkendem Überfluß, sondern aus Schuld, weil die höheren Formen, die aus dem Mannig­ faltigen gebaut werden können, noch unaktualisiert waren. Tief in den Eingeweiden des unerlöst Uniformen pulst die Erinnerung an das 1345

Landmann: MSGK, S. 99.

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13.6 Grenzen des Pluralen

Lichtreich des Dualen und Pluralen, treibt das Verlangen nach Rückund Heimkehr zu ihm. Das Verlangen erfüllt sich, der göttliche Glanz der Sonderungen stellt sich wieder her.1346

Mit dieser Sichtweise stellt sich Landmann in eine Reihe etwa mit Hesiod, der Götter und Welt »aus dem anfänglichen Chaos« entste­ hen und den später sog. Kosmos von diesem abkünftig sein und schließlich beide »in archaischem Zugleich nebeneinander« ruhen lässt.1347 Nachdem sie »von aufklärerisch-parteilicher, wunschden­ kend-flacher, der ganzen Wirklichkeit nicht gerecht werdender Philo­ sophie vergessen worden war«1348, macht er wie Simmel auch »Ernst mit »dem ›pluralistischen Universum‹. Am Anfang steht das Einzelne, und höhere Ganzheiten kommen – Leibnizisch – erst zustande durch die Beziehungen des Einzelnen aufeinander.«1349 Die Einheit der Welt resp. des Menschen wird dabei nicht etwa geleugnet; vielmehr sahen wir bereits, wie Landmann die Pluralität der Menschseinsweisen selbst eine bestimmte Form der Einheit, eine Einheit der Vielheit und das heißt auch: eine aus der ursprünglichen Vielheit des Unverbunde­ nen entstandene und jederzeit wieder in diese aufbrechen-könnende Einheit sein lässt. Die »Gegenüberhaftigkeit der Dinge« und das pluralistische Erkenntnisethos: Umgrenzt von den sie ebenso bedingenden wie gefährdenden Extremzuständen unverbundener Partikularität auf der einen und einebnender Uniformität auf der anderen Seite bildet die Pluralität der kulturellen Gestalten den fragilen Zwischenmodus des Menschen wie des Seienden für den Menschen: Jetzt aber zeigt sich: der Transitus durch den Erebos des Hen war nicht umsonst. Denn die ersten Mannigfaltigkeitspunkte waren noch unverbunden und ohne Relation. Erst durch das Bad im Hen kommt in das Multiversum Gliederung und Bewegung. Jetzt erst wird das eine für das andere zum Objekt für ein Subjekt: es entsteht die wunderbare, nie genug zu bejubelnde Gegenüberhaftigkeit der Dinge. Es entstehen Polaritäten und mit ihnen Spannung, Dynamik, Fortgang zum Neuen. Es entstehen aus Elementen leistungsfähigere, sinnhaltigere Gestalten

Landmann: Berliner Rückblenden, S. 687. Landmann: Formgründende Erfahrung, S. 4 f. 1348 Ebd., S. 4. 1349 Landmann: Einleitung Simmel, S. 16 f. Wie die Vielheit resp. Uneinheitlichkeit der Welt ist auch die Pluralität und Aporetik ihrer Erkenntnis für Landmann eine Erstund Letztgegebenheit (vgl. EuE, S. 265 u. AgV, S. 37). 1346

1347

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und aus den Gestalten abermals komplexere Gestalten. Durch all dies ist die Welt des Multiplen dem in sich gefangenen, unproduktiven Unum überlegen. Das Unum hat nur die Funktion, dem Multiplen dazu zu verhelfen, daß es seine vollen Möglichkeiten ausschöpft.1350

Dieser ontologisch-prozessualen Dynamik entspricht in Landmanns Annahme und Forderung ein phänomenologisch-pluralistisches Erkenntnisethos; in dessen sozusagen konservativem »Grundsatz von der Hinnahme des Gegebenen liegt die Hinnahme der ganzen ›bunten Fülle‹ des Gegebenen.«1351 Damit ist nun weder impliziert, der Mensch könne die Welt umfassend und erschöpfend erkennen, noch, dass wie bei Kant sein Erkennen an eine ihm immanente Grenze stoße, dagegen die Welt doch einheitlich, abgeschlossen und also prinzipiell erkennbar sei. Landmanns pluralistische Metaphysik legt vielmehr die ontologische Annahme nahe, »daß es keine Grenze auch des Seins mehr gibt und daß die Erkenntnis deshalb, auch wenn sie immer und immer weiter vorzudringen vermag und faktisch vordringt, dennoch nie an eine Grenze stoßen wird.«1352 Das pluralistische Lebensethos und die Grenzen anthropologischer Unerschrockenheit (gegen relativistischen Atomismus): Die von Land­ mann seiner Anthropologie grundgelegte Unabgeschlossenheit des Menschen führt mit sich die Unabschließbarkeit seiner Erkenntnis wie seines Lebens. Von beiden legt die Pluralität der Menschseinsund Erkenntnisweisen geschichtlich Zeugnis ab; insofern scheint anthropologisch betrachtet »die Fähigkeit und die Tendenz zum Viel­ heitlichen sogar die ursprünglichere und eigentlichere menschliche Wirklichkeit zu sein.«1353 Für die Bildung des Menschen ist diese Annahme äußerst bedeutsam und folgenreich: Es wird nun gerade nicht mehr wie im klassischen Bildungsdenken von der ursprüngli­ chen Einheit der Person oder des Charakters, die sich dann entfaltet und so vervielfältigt, ausgegangen, sondern vom pluralen, chaoti­ schen Selbst, das sich erst durch die Konfrontation und Begegnung mit einem Heterogenen zu einer Gestalt, einer gegliederten Pluralität verdichtet. Nicht aus falscher Demut oder Selbstflucht »sollen wir von uns selbst gerade absehen und uns den Wundern des Heterogenen

1350 1351 1352 1353

Landmann: Berliner Rückblenden, S. 688. Landmann: EuE, S. 45. Landmann: P, S. 177. Landmann: EuM, S. 114.

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13.6 Grenzen des Pluralen

öffnen«1354, sondern weil wir erst und nur in ihm als unserem Objekt überhaupt eine inhaltliche und motivationale Bezugsfläche gewinnen für die Erkenntnis und Erschaffung dessen, was wir sind bzw. werden. Dieses pluralistische Lebensethos ist dem von Martin Buber sehr verwandt, der den Menschen versteht als »das ›gegenüberseiende Wesen‹, das […] primär in vergegenwärtigenden Ich-Du-Relationen steht und nur im Vollzug von Begegnungen – zu denen auch und gerade die Verschiedenheit der Partner gehört – sich in seinem Eigensein findet«.1355 Dass der Mensch sich gerade im Absehen von dem, was er bereits zu sein vermeint, und im Zugehen auf das, was er womög­ lich kaum sein zu können oder zu wollen geneigt ist, erst findet, dass er durch die Zuwendung zu ihm Fremdem (eher und mehr) gewinnt (als verliert) – dieser eigentlich ungeheuerliche Gedanke ist anscheinend nur aufrecht zu erhalten mit deutlichem Wertakzent auf der menschlichen Pluralität resp. Heterogenität, der die Grenze sowohl eines absoluten Monismus als auch eines absoluten Relativis­ mus markiert.1356 Der Impuls gegen die negativen bis gefährlichen Effekte relativistischen Denkens, Handelns und (Er-)Lebens scheint mir in Bubers Denken insgesamt leitend zu sein; dies umso mehr als er sie in der Ich-Es-Beziehung des Menschen als einem seiner Weltverhältnisse (»Grundworte«) ihren anthropologischen und psy­ chologischen Grund haben und insofern nicht geschichtsteleologisch überwindbar sein lässt. Etwas wie eine ›anthropologische Unerschro­ ckenheit‹ bezüglich der inhumanen Konsequenzen relativistischer wie monistischer Welt- und Menschenanschauungen machen ihn wie Landmann auch sensibel für die Notwendigkeit, auf den humanistisch pluralistischen resp. dialogischen Welt- und Menschenbezug einen starken Wertakzent und damit letztlich gerade auch der eigenen anthropologischen Unerschrockenheit aus ihrer eigenen Konsequenz heraus eine Grenze zu setzen. Aus kritischer Sicht auf eben dieses pluralistische Vor- und Werturteil stellt sich die Frage, um welchen Preis der Mensch sich der Gefahr aussetzt, sich zu bilden, das heißt sich selbst problematisch, 1354 Landmann: UuS, S. 204. Buber spricht in diesem Zusammenhang von der »Akzeptation der Anderheit« (Urdistanz und Beziehung, S. 30). 1355 Landmann: UuS, S. 293. 1356 Vgl. Buber: Ich und Du. Mit einem Nachwort von B. Casper. Stuttgart: Reclam 1995, S. 18, 33 f. u. 95 f.

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13. Aporetische Stachel

fremd und zur Aufgabe zu werden unter der voraussetzungsreichen Annahme, er sei noch nicht, der er sei, er wisse noch nicht und könne nie wissen, ja nie letztgültig sein, wer er sei. Gerade und vielleicht erst in Hinblick auf die Bildungsgeschichte des Einzelnen wird deutlich, in welch erhöhter Spannung Landmann in seiner Grundthese der Polarität von Schaffen und Bewahren den Menschen sich befinden lässt. Diese Spannung mag uns, sofern wir dialektisch zu denken und zu lesen gewohnt sind, recht harmlos erscheinen, zumal wenn wir dabei an die ›großen‹ Geschichten der Kulturen denken; in Rücksicht auf die radikale Zeitlichkeit allzumal des menschlich Seienden zeigt sie allerdings ihren Stachel.1357 Ist solche Anthropologie des Nicht­ wissens und Noch-nicht-seins nicht verdächtig zirkulär, ja immun gegen Widersprechendes? Dieser kritische Einwand führt direkt auf die Frage nach dem Ver­ hältnis von Pluralität und Individualität. Es zeigt sich nämlich, dass die »Pluralität der Absoluta« ihren Wertakzent streng genommen nicht aus sich heraus, sondern insofern bezieht, als jedes Einzelkultu­ relle als Individuelles Wert erlangt bzw. zugesprochen bekommt. Der Einspruch gegen jedweden Monismus, der die Einzelheiten lediglich Abkömmlinge eines Ursprünglichen sein lässt, bringt jede von ihnen als irreduzibel Individuelles zur Geltung. Die Pluralität der Mensch­ seinsweisen hat also – wie ihre Aporetik auch, der es ebenfalls, gleichsam von der Seite der Differenz, um den Eigenstand des Indivi­ duellen zu tun ist – ihre bedingende Grenze und ihren axiologischen Letztbezugspunkt im menschlichen resp. kulturellen Individuum. Von hier aus lässt sich nun auch die Grenze des Pluralismus zum Relativismus bestimmen, was umso wichtiger ist, als ersterer – bereits bei den Sophisten – zu diversen Formen des letzteren geneigt macht. Allein je höher ein Prinzip, desto drohender auch die durch es herauf­ beschworenen Gefahren. Der sophistische Gedanke ist wie ein Gipfel, von dem es schwer war, nicht in Mißdeutungen abzugleiten. Weil es keine schlechthin notwendigen und richtigen Institutionen gibt und weil sie vielfältig variieren, deshalb glaubte man bald, ausnahms­ los jede verteidigen zu dürfen. Aus der Schöpferfreiheit wurde die Schöpferwillkür herausgefälscht, aus der Subjektivität der Wahrheit der Subjektivismus.1358

1357 1358

Vgl. Landmann: Formgründende Erfahrung, S. 13. Landmann: UuS, S. 118.

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13.6 Grenzen des Pluralen

Den Grenzbereich des Pluralismus zum Relativismus bildet der geschichtlich-kulturelle Bezugskontext des pluralistischen Denkens und Empfindens selbst, also eine ›historische Individualität‹, aus deren Voraussetzungen heraus ein strenger Relativismus zwar denkbar und zu befürchten, aber streng genommen nicht, wenigstens nicht ohne erheblichen Aufwand, durchführbar ist. Auch für die Idee und Wirklichkeit menschlicher Pluralität gilt, was bereits im 9. Kapitel die­ ser Arbeit zitiert wurde: dass »sowohl Einzelne wie Epochen in ihrer starren Individualität bisher jede meist nur durch einen – wenn auch immer wieder anderen – schmalen Sektor des Wertreichs ansprechbar waren, die Forderungen, die von seiner Gesamtheit an uns ergehen, also gar nicht vernahmen.«1359 Die »›Enge des Wertbewußtseins‹«, ja die »›Wertblindheit‹»1360 ist zwar in der Pluralitätsidee dem Anspruch nach und inhaltlich weitgehend, aber nicht prinzipiell aufgehoben. Spätestens im konkreten Handelnmüssen zeigt sich, dass gerade im Pluralismus allein die jeweilige Kultur einschließlich ihrer Welt- und Menschenanschauung den Bezugskontext bildet, aus dem heraus sie sich selbst und nach außen Aufschluss zu geben vermag über ihre Grenzen und die Möglichkeiten ihrer Überschreitung. Das »pluralistische Endreich« und der prophetische Impuls phi­ losophischer Anthropologie (für pluralistischen Humanismus): Wie Landmanns Anthropologie menschlicher Pluralität kritisch und pro­ duktiv Anstoß nimmt an den philosophischen Strömungen seiner Zeit, so steht auch ihr historischer Vorläufer im 18. Jahrhundert kontrastiv in Spannung zum Rationalismus der Aufklärung. Mit letzterem »setzt zunehmend die rationale Gestaltung aller Lebensbe­ reiche ein, die dann auch zu ihrer ubiquitären Gleichartigkeit führt. In diesem Augenblick, in dem eine gemeinsame Weltkultur sich auf den Weg macht […], nimmt sich der Gedanke der Pluralität und der Geschichtlichkeit an.«1361 Umso mehr als das unifizierende Denken das pluralistische provokativ bedingt, droht letzteres – zumal das Denken als solches zur Vereinheitlichung neigt – wieder in ersteres zurückzufallen. Von dorther bezieht Landmanns pluralistisches Vorund Werturteil wie seine Philosophie des Menschen insgesamt einen prophetischen Sinn, als Äquivalent bzw. streng genommen selbst Element seiner pluralistischen Metaphysik. Was er im Frühwerk für 1359 1360 1361

Landmann: EuM, S. 110. Hartmann: Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart, S. 331. Landmann: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum, S. 544.

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13. Aporetische Stachel

die Ethik des Individuums entwickelt, macht er im Spätwerk für die Geschichte der Kulturen geltend: »Wie es aber für den Einzelnen eine Pluralität guter Entscheidungen gibt, so gibt es eine solche auch hinsichtlich der Gestaltung des Ganzen. Ziel müßte daher nicht das eine Endreich, sondern müßten heterogene Endreiche sein.«1362 Geradezu versöhnlich, ja prophetisch vermittelt Landmann die zivili­ satorisch-unifizierende Tendenz seines Zeitalters mit der Aussicht auf ein »pluralistisches Endreich«: Im ausgehenden Neolithikum tat die Menschheit den Evolutions­ sprung zur Hochkultur, heute tut sie abermals einen Evolutionssprung; aber so wie sie nebeneinander mehrere Hochkulturen hervorbrachte, so könnte die Unifikation, deren Zeugen wir in unserm Weltaugenblick sind, begleitet sein von einer – sich vielleicht in einer zweiten Phase noch verstärkenden – Ramifikation. Vielleicht wird der Pluralismus der Endzeit den bisherigen noch in den Schatten stellen.1363

Landmanns Bestreben einer Vermittlung von Einheit und Vielheit, Universalismus und Partikularismus, das hier eine im Wortsinne epochale, in die Zukunft hineinwirkende Bedeutung gewinnt, bildet grundsätzlich den Anspruch seiner Anthropologie, wenn er die – so gesehen als Einheit funktionale – Kulturalität des Menschen und die – so gesehen auf Pluralisierung zielende – Kreativität die zwei Kraftpole des menschlichen Spannungsgefüges sein lässt. Als diesen entsprechende psychische Dispositionen und Erlebnismodi lassen sich »das existentielle Ergriffenwerden durch das Eine« und das »humanistische Sichöffnen für die Fülle« identifizieren, die weder ein­ ander überflüssig machen noch sich ersetzen können: »Wir bedürfen ihrer beider, müssen in der Spannung zwischen ihnen leben.«1364 In einer Kultur der medieninduzierten Emotionalisierung und Erregung stellt sich die Gestaltung des Spannungsverhältnisses von Offenheit und Ergriffenheit als eine besonders drängende Herausforderung dar.

1362 1363 1364

Landmann: EdI, S. 144. Ebd., S. 148 f. Landmann: Der Mensch als Herr und Opfer der Geschichte, S. 253.

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Pluralität des Menschen

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14. Epoche und Typus

Wir sind an der Stelle angelangt, wo die Erkenntnisgegenstände von Landmanns Kulturanthropologie und einer ihr entsprechenden Philosophie der Bildung des Menschen, Epochen und Typen, explizit in den Blick kommen. Sie werden nun nicht mehr als Ausgangs­ punkt der anthropologischen Frage- und Blickrichtung vorausgesetzt, sondern selbst verständlich als notwendige Konstruktionen, besser: Gestalten, in denen Kulturanthropologie als Theorie mittlerer (d.h. kultureller) Reichweite ihren geschichtlich-pluralistischen mit ihrem formal-anthropologischen Erkenntnisanspruch produktiv vermittelt.

14.1 Kultur und implizite Anthropologie Kulturanthropologie als Theorie mittlerer bzw. kultureller Reichweite: Diese Vermittlung ist letztlich die zwischen Geist und Leben selbst, das heißt zwischen geistigem Nach- und Mitvollzug des Lebens und strömendem Sichvollziehen des Lebens. Leitend ist die insge­ samt für Landmanns Anthropologie zentrale Annahme, die jewei­ lige Kultur resp. Epoche enthalte selbst bereits eine Welt- und Menschenanschauung, in der sie sich selbst thematisch (und pro­ blematisch) wird, sich ebenso typisiert, stilisiert und profiliert wie ihre mannigfaltigeren Inhalte verdichtet und vergröbert. Gerade aber deren (als geistige notwendig verallgemeinernde) Raffung im Weltund Menschenbild ermöglicht ihre partielle Lösbarkeit von ihrer ›ursprünglichen‹ Zeitraumstelle und ihre typologische Übertragung auf heterogene Bezugskontexte: Dieses Hinüberwechseln des individuiert Chronologischen ins Typo­ logische ist aber unvermeidbar und notwendig, denn jede inhaltlichgeistige Gesamtumreißung eines Zeitalters sieht ja als solche bereits vom Individuellen der Gestalten und Werke ab und operiert mit allgemeinen Formeln; alles Allgemeine jedoch hat sein Gesetz eben

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14. Epoche und Typus

darin, daß es auch an anderm individuellem Material, als aus dem es gewonnen war, wiederkehren kann.1365

Um genau ein solches ›Hinüberwechseln‹ des Historisch-Individuel­ len ins Typologische handelt es sich, wenn Landmann die geschicht­ lich kontingenten Menschseinsweisen zugleich anthropine Struktu­ ren des Menschen sein lässt, wenn er historisch, d.h. in bestimmten Zeiten und Orten zutage getretene Akzente des Menschen (Vernunft, Individualität, Kreativität usw.) anthropologisiert, d. h. als typisch für den Menschen auslegt. Nicht in jeder einzelnen erscheint vollumfäng­ lich der ganze Mensch, sondern was der Mensch ›typischerweise‹ ist, destilliert sich aus der Geschichte seiner Einzelgestaltungen, erscheint in jeder von ihr auf’s kumulativ Neue. So wie Anthropologie im jewei­ ligen Leben weniger einen ihr adäquaten Bezugspunkt als vielmehr ihre eigenen Grenzen erkennt, sucht und findet sie ihn in den (geisti­ gen) Formen, als die das Leben selbst sich vollzieht. Das Kulturelle wird von Landmann zwischen Allgemeinem und Singulärem bzw. als beide ein- und aufeinander beziehend vorgestellt, womit er sich von einer psychologistisch individualisierenden Betrachtung abgrenzt. Was dieser »fälschlich allein aus dem seelischen Innern aufzusteigen scheint, das erweist sich bei einer ganzheitlichen Betrachtung, die das Individuum und seine Umkultur in engster Verwobenheit schaut, als kulturbedingt.«1366 Was wir im vorherigen Teil dieser Arbeit als die Kulturalität des Menschen erläuterten, lässt sich nun genauer bestimmen als Epochalität und Typik. Beide stehen wie Landmanns Kulturbegriff insgesamt im Zeichen menschlicher Pluralität, die mit­ tels ihrer erkennend zugänglich und so weit als möglich durchdringbar wird. Epochen wie Typen führen uns auf »ein Kategoriennetz, mit dessen Hilfe wir sie [die Geschichtskörper, Anm. F.S.] durchdringen, gliedern und untereinander in Relationen bringen können.«1367 Das je Besondere wird so gerade nicht, wie der Einwand oft lautet, ent­ individualisiert, sondern kommt durch diese seine Relationierung und Konstellierung überhaupt erst als Besonderes, Differentes, in seiner Spezifik zum Vorschein.1368 Tragend ist hier wieder die von Simmel übernommene, gestaltontologische Anschauung, dass das Einzelne, Individuelle sich aus einer Vielheit heterogener, ja gegen­ 1365 1366 1367 1368

Landmann: ZaS, S. 34. Ebd., S. 93. Landmann: PuA, S. 201. Vgl. ebd., S. 221.

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14.1 Kultur und implizite Anthropologie

sätzlicher Bezüge als Spannungsgefüge erst aufbaut. Die heterogenen Elemente bilden den allgemeinen Hintergrund für das Gegenübertre­ ten der je aus ihrer unterschiedlichen, stets eigenartig emergenten Konstellierung sich ergebenden individuellen Gestalten (in) der Kul­ tur und Geschichte. Implizite Anthropologie als Welt- und Menschenanschauung: Eine zentrale Dimension der Geschichte selbst wie ihres philosophischen Nachvollzugs bilden die je impliziten Welt- und Menschenanschau­ ungen, die die Anthropologin als menschliche Problemlösungsversu­ che zu rekonstruieren, das heißt »wieder auf ihr Problemgewesensein zurückzuführen und sie von dort aus gleichsam nochmals entstehen zu lassen« hat.1369 Zweierlei ist dabei mit Landmann zu betonen. Erstens fokussiert seine Anthropologie als Problematik gerade die oft schwieriger zugänglichen Nichtwissungen und Wissensgrenzmar­ kierungen einer jeweiligen Epoche: »nicht nur, daß hierüber oder darüber dies oder jenes gewußt wird, sondern auch, daß darüber hinaus nicht gewußt wird, ist Tradition«.1370 Zweitens wird unter der Voraussetzung, »daß die ›Sozialpsyche‹ sich auf allen Lebensge­ bieten äußert«1371 eine Reduktion des Weltanschaulichen etwa auf das Politische verworfen. Nur als umfassende gerät die jeweilige Welt- und Menschenanschauung in ihrer anthropologischen Funktio­ nalität in den Blick. An dieser Stelle tritt deutlich der ganzheitliche Anspruch von Landmanns Anschauung des Menschen zutage, in der dessen theoretische Welt- und Selbstbezüge von den praktischen nicht getrennt, sondern inhaltlich und funktional mit ihnen verfugt sind: »daß der Anthropos einen Anthropologen einschließt, das ist nicht theoretische Spielerei, die auch fehlen könnte; es entspringt der

1369 Landmann: EuE, S. 258 f. Eine ähnliche Überlegung finden wir bei Michel Fou­ cault: »Es gilt herauszubekommen, in welchem Maße das, was wir davon wissen, die Formen der Macht, die darin zur Ausübung kommen, und die Erfahrung, die wir von uns selbst machen, nur historische Gestalten bilden, die durch eine gewisse Form einer Problematisierung bestimmt werden, welche Gegenstände, Handlungsregeln und Selbstbeziehungsmodi definiert. Die Untersuchung der Problematisierungen (ihrer Modi, das heißt von dem, was weder anthropologische Konstante noch chronologische Variation ist) ist also die Art und Weise, wie man Fragen von allgemeiner Bedeutung in ihrer historisch einzigartigen Form analysiert« (Was ist Aufklärung? In: Koners­ mann, R. (Hg.): Grundlagentexte Kulturphilosophie. Hamburg: Meiner 2009, S. 262). 1370 Landmann: P, S. 55. 1371 Landmann: PuA, S. 93.

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14. Epoche und Typus

Notwendigkeit desjenigen Wesens, das sich selbst schaffen muß und das daher eines Bildes bedarf, auf das hin es sich schaffen soll.«1372 Dass der Einzelne sich über den meist undeutlich erscheinenden »Horizont des Selbstverständnisses […] nicht nur seiner eigenen Person, sondern ebensosehr des Menschen überhaupt«1373 i.d.R. keine Rechenschaft ablegt, steht nicht in Widerspruch zu, sondern ist gerade Anzeichen und Ausdruck der Funktionalität jenes Selbst­ verständnisses als kultureller Dimension des Menschseins selbst. Wie jeder kulturellen Form würde er sich auch einer Welt- und Men­ schenanschauung nicht »unterwerfen, wenn er nicht das Vertrauen haben dürfte, daß sie seine angestammte Urform, seine eigentliche Form«1374 sei – und genau in diesem Sie-für-natürlich-nehmen besteht die Funktionalität der Anschauung – bzw. ist letztere als Anschau­ ung selbst bereits eine theoretisch-abstrakte Fassung der sozusagen ›reinen Lebensvollzüglichkeit‹ des Kulturellen. Und wenngleich die­ ser Zusammenhang vom Menschen bewusst gemacht werden und erlebt werden kann etwa in der Hoffnung, die Selbst- und Weltdeu­ tung möge ihm »wegweisend werden für seine Vollendung«1375, so liegt der Schwerpunkt bei Landmann kulturphilosophisch auf dem »in sämtliche[n] Kulturdomänen eines Volkes und einer Epoche enthalten[en] […] unausgesprochene[n] und vielfältig gebrochene[n] menschliche[n] Selbstverständnis«.1376 Der Fokus auf dem kollektiv Unbewussten steht im Kontext seiner Kritik an einer Vernunftanthro­ pologie, der zufolge dem Menschen nicht nur die Welt, sondern auch er selbst durchsichtig und ergründbar ist. Als Unbewusstes ist es auch der dezidiert auf Bewusstmachung abzielenden philosophi­ schen Anthropologie partiell entzogen, was beide in gewissem Maß einander verbunden sein lässt, ohne damit ihrem eigenen Anspruch, weltanschauungsarm zu bleiben, etwas zu nehmen: »Dennoch besteht ihre Intention darin, sich von diesen Menschenbildern freizuhalten. Nur durch sie kann der Bann der Menschenbilder über die Philosophie gebrochen werden.«1377

1372 1373 1374 1375 1376 1377

Landmann: PA, S. 10. Landmann: FA, S. 194. Landmann: MSGK, S. 157. Ebd. Landmann: FA, S. 194. Ebd., S. 32.

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14.1 Kultur und implizite Anthropologie

Implizität der Kultur, Unergründlichkeit des Menschen, Verant­ wortung der Anthropologie: Die Implizität des Kulturellen bildet im doppelten Sinne eine Grenze philosophischer Anthropologie: als Annahme, von der sie als Kultur- und Lebensphilosophie ausgeht und als Grenze, die sie in der ›Unergründlichkeit‹ des Menschen ebenso anerkennt wie formuliert, in der sie als Dennoch-den-Men­ schen-Denken den Bezugspunkt ihrer eigenen Verantwortlichkeit hat.1378 Auch ihre Idee vom Menschen »strahlt auf die Wirklichkeit zurück und prägt sie mit. Deshalb ist unsere humane Selbsterkennt­ nis für uns das Schicksalhafteste, die Arbeit an ihr das Verantwort­ lichste.«1379 In der Doppelannahme der Implizität alles Kulturellen und der Kulturalität alles Geistigen gesteht das philosophisch-anthro­ pologische Denken auch sich selbst zu, Dimension des Kulturellen und betroffen von dessen Implizität, das heißt: im Begreifen sei­ nes Gegenstandes begrenzt und auch sich selbst partiell verborgen zu sein. Auch ihr eröffnet sich kein Weg, hinter sich »auf etwas Ursprünglicheres zurückzugehen. Es bleibt nichts andres übrig, als die ›Unergründlichkeit‹ des Menschen (Dilthey, Plessner) und damit zugleich die Unabsehbarkeit der Lebenserscheinungen philosophisch ernst zu nehmen.«1380 Landmann nimmt diese heikle Ausgangslage zum Anlass für ein Denken, in dem das menschliche Nichtwissen (die Unergründlichkeit) und Wissensverlangen (als produktives Ele­ ment geistig-lebendiger Aktivität) mit der kulturellen Pluralität (der Gegründetheiten) und der menschlichen Kreativität (als gründender und begründender Produktivität) vermittelt sind. Im Bekenntnis impliziter Anthropologien und Ontologien liegt das doppelte Zuge­ ständnis an das Nichtwissenkönnen des Menschen und sein – diesem auch trotzend noch verbundenen – Sicherschaffenmüssen. Als kultur- und lebensphilosophische Annahme meint Implizität der Anschauungen zweierlei. Erstens ist damit ›genealogisch‹ verwie­ sen auf die häufig unbewussten und doch (gerade deswegen) »pri­ märe[n] Verschiebungen im Sich-selbst-Fühlen des Menschen, […] 1378 Vgl. Buber, M: Bildung und Weltanschauung [1935]. In: Ders.: Reden über Erzie­ hung. 8. Aufl. Heidelberg: Schneider 1995, S. 60 f. Buber spricht in diesem ebenso grundlegend wie bildungspraktisch und zeitgeistig ausgerichteten Text von einem zumal für die politische Bildung als Aspekt der pädagogischen Zielstellung zentralen »Weltanschauungsgewissen« und einer »existentielle[n] Verantwortung der Person für das Haben einer Weltanschauung« (ebd., S. 61). 1379 Landmann: FA, S. 41 f. Vgl. Bohr: Landmann zum 100. Geburtstag, S. 192 f. 1380 Bollnow: Die anthropologische Betrachtungsweise, S. 37.

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14. Epoche und Typus

von denen die Verschiebungen der Metaphysik, der Erkenntnistheorie und anderer philosophischer Disziplinen nur der Reflex sind.«1381 Sofern letztere ihre freilich meist uneingestandenen inhaltlichen und motivationalen Bezüge im Vor- und Außergeistigen haben, selbst aber als geistige Phänomene keine oder nur unzureichende Mittel und Anlässe für den expliziten Einbezug dieses Vor- und Außergeis­ tigen besitzen, bleibt dieses in ihnen implizit enthalten. Eben weil aber in und an dem Kulturinhalt, so sehr auch versucht wird, ihn explizit resp. transparent zu machen, stets implizit bleibende Bezüge wirksam sind, kennt sich – zweitens – auch prospektiv betrachtet eine Weltanschauung und mit ihr die sie tragende und von ihr getragene Epoche als ganze nicht: »sie weiß nicht, was wahrhaft ›an der Zeit‹ ist, sie versteht ihre eigene geschichtliche Stunde nicht.«1382 Von hier aus erhellt sich ›vollständig‹, inwiefern umso mehr für die Vorstel­ lung der Unergründlichkeit des Lebens eine in irgendeinem Sinne pluralistische resp. differentielle Weltanschauung, und inwiefern für diese wiederum ein pluralistisches, differentielles Leben und Erleben Voraussetzung ist, sind wir doch, »[s]olange wir nur unsere eigene Weltanschauung kennen, […] in ihre Konsequenz wie eingeschlos­ sen.«1383 Dass auch der Vorstellung von Implizität selbst irreduzible und (nicht nur) geistig unverfügbare Dimensionen innewohnen, deutet sich bei Landmann an, wenn er schreibt, jede »Kulturschöpfung schließ[e] eine heimliche, eine Kryptoanthropologie, ein« oder von der Frage nach der conditio humana als einem »geheime[n] Antrieb« hinter anderen Fragen spricht.1384 Landmann: FA, S. 195. An anderer Stelle spricht Landmann ähnlich davon, dass »die Begriffe ein Niederschlag unseres schon bisherigen Weltumgangs sind« (EuE, S. 125). 1382 Landmann: ZaS, S. 95. 1383 Landmann: EuM, S. 137, Anm. 305. 1384 Landmann: PA, S. 10 u. FA, S. 199. Vgl. auch Landmann: Geschichtsphiloso­ phie, S. 682. Heimlich und geheim sind die Lebensbezüge des Bewusstseins und Wis­ sens nun aber für Landmann nicht vor allem, weil die menschliche Vernunft sie noch nicht enttarnt oder durchschaut hätte oder Interessen bestimmter Akteure ihre Geheimhaltung forcierten, sondern aufgrund der u.a. zeitlich bedingten und erschei­ nenden Antinomie von Geist und Leben. Bei Platon haben die Menschen vergessen, was sie einmal wussten; bei Landmann wussten sie es nie, weil sie es immer bereits und auch später immer noch, immer auch lebten, ja weil sie es sind. Nicht nur wird der Mensch so wie er sich in seinem Selbstbild weiß, er ist bereits der Mensch, als den er sich – eben darum – nicht weiß, nicht und nie erschöpfend wissen kann. Vgl. dazu auch Landmann: Die Sokratische Hebammenkunst, S. 878. 1381

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14.1 Kultur und implizite Anthropologie

Die erhöhte welt- und menschenanschauliche Investition der Päd­ agogik: Was wir erläuterten, gilt für die Pädagogik als Wissenschaft und Praxis insofern in erhöhtem Maße, als sie es per definitio­ nem mit der (Theorie der) Erziehung und Bildung von Menschen in ihrer Gänze zu tun hat, was notwendig ein Bild von Mensch und Welt (davon, was sie waren, sind, werden) einschließt. Wie in der Anthropologie, so gab es auch in der Pädagogik im Laufe ihrer Theoriegeschichte eine Fokusverschiebung von inhaltlicheren Bestimmungen zu formaleren Ideen resp. Problematisierungen, was sie jedoch (gerade(nicht vor jenen subjektivistisch-konstruktivisti­ schen Auflösungstendenzen etwa (vermeintlich) ideologiekritischer Couleur bewahrte, von denen an anderer Stelle noch die Rede sein wird. Entsprechend, und vielleicht auch mit kritischem Blick auf letzt­ genannte, erinnert Mollenhauer »an die alte Frage […], ob es so etwas wie ›Elementaria‹ neuzeitlicher Pädagogik gebe, einen Minimalkanon von Problemstellungen also, die heute niemand ignorieren sollte, der verantwortlich erziehen will«.1385 Bezieht dieser pädagogische Problemkanon seine Inhalte zunächst sozusagen konservativ selbst aus der ›neuzeitlichen Kultur‹, so besteht der Beitrag der Pädagogik dann progressiv darin, »daß sie ihre eigenen Problemstellungen wieder stärker in [d]en Kulturzusammenhang einfädelt.«1386 Sofern nun ein Menschenbild resp. Bildungsideal ein unlösbares Element, ja eine eigene Dimension dieses Kulturzusammenhangs ist, kann sich auch eine um ihre Problemstellungen zentrierte Pädagogik nicht auf die bloße bequeme Distanznahme zu ihm beschränken.1387 Im Gegenteil hat und gewinnt sie sowohl ihre inhaltlichen wie auch die Bezüge ihrer Kritik erst im – bereits – selbstkritischen Eingeständnis, dass auch sie »getragen [ist] von einer ganz bestimmten Auffassung vom Menschen. Diese bildet die einheitliche Mitte, aus der alle Einzelzüge hervorgegangen sind und in der sie untereinander zusammenhän­ gen.«1388 Eben unter dieser Voraussetzung aber kann das erhöhte welt- und menschenanschauliche Investment der Pädagogik, mag es zunächst auch als ihre Schwäche erscheinen, ein umfassendes kulturphilosophisch wie kulturkritisch wirksames Potenzial entfalten, »denn in der Bildungsaufgabe am einzelnen Menschen haben wir ein 1385 1386 1387 1388

Mollenhauer: Vergessene Zusammenhänge, S. 16. Ebd., S. 19. Vgl. Bräuer: Pädagogisches Denken als konkretes Denken, S. 47, Anm. 19. Bollnow: Die anthropologische Betrachtungsweise, S. 15.

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14. Epoche und Typus

übersehbares Feld, gewissermaßen den lebendigen Spiegel, in dem die gesamten geistigen Strömungen einer Zeit zusammengefaßt wer­ den.«1389 ›Mensch und Maschine‹ als zentrale kulturelle Signatur der Gegen­ wart: Die Frage nach dem Menschen und seine Bestimmung als Kultur- und Kreativwesen nimmt in unserer Gegenwart mit der extensiv wie intensiv zunehmenden Verbindung und Interaktion von Menschen und Maschinen ebenso eine erhöhte Brisanz wie insgesamt einen speziellen Zuschnitt an. Technikdystopien sind dabei mit der philosophischen Anthropologie kaum bis nicht zu haben, pocht doch gerade sie auf die feinen Unterschiede in der Beschreibung und Bewertung unterschiedlicher Welt- und Selbstbezüge des Menschen: »Hingabe ist nicht Preisgabe. Vergegenständlichung muß nicht Ver­ dinglichung sein. Arbeit an der Maschine muß nicht den Menschen selbst zur Maschine machen. Gelänge es ihr, woher käme dann sein Protest?«1390 Zwar ist es wichtig, kritisch zu hinterfragen, welche neuen Selbstbilder, Seins- und Erlebensweisen des Menschen durch seine buchstäbliche Verinnerlichung (Ver- bzw. Einkörperung) von Technik etwa über die Implementierung von Elektrochips oder Herz­ schrittmachern sich ausbilden. Kulturanthropologisch betrachtet liegt in der ›post-menschlichen Ganzheit von Mensch und Technik‹ aber zunächst schlicht ein dem ›anthropotechnischen Zeitalter‹ (Sloter­ dijk) gemäßer Typus Mensch vor, der gerade als solcher die Frage nach der conditio humana grundsätzlich aufwirft. »The posthuman does not represent the emergence of some radically new state of humanity but rather highlights one ineluctable fact of our very humanity: we face openly its question.«1391 Eine im Gestus des Nachanthropologischen stehende Rede vom Post- oder Transhuma­ nen birgt die Gefahr, den Menschen als bekannt vorauszusetzen – denn nur, wer weiß, was der Mensch ist, kann wissen, wann er es bzw. was er nicht mehr ist. Die anthropologisch-humanistische Aufschlusskraft des Mensch-Maschine-Verhältnisses erwächst wie beim Mensch-Tier-Vergleich nicht trotz, sondern gerade aus der bis Bollnow: Die anthropologische Betrachtungsweise, S. 15. Plessner, H.: Homo absconditus. In: S. Philosophische Anthropologie heute. Elf Beiträge. Hg. v. R. Roček u. O. Schatz. München: Beck 1972, S. 48 f. [im Folgenden: Homo absconditus]. 1391 Weiss, D.M.: Humanity at the Turning Point. Philosophical Anthropology and the Posthuman. In: Expositions. Interdisciplinary studies in the humanities, Vol. 1 (2007) [im Folgenden: Humanity at the Turning Point], S. 207. 1389

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14.1 Kultur und implizite Anthropologie

in die Tiefe verfolgten Differenz von Mensch und Nichtmensch.1392 Gestaltphilosophisch lassen sich dabei differenzbildende Charakteris­ tika formulieren, die allgemein genug sind, um so unterschiedliche Sphären wie Wahrnehmung, Denken, Empfinden und Erleben ein­ zubegreifen.1393 Eine solche philosophisch grundlegende Reflexion ist umso wichtiger in einem Zeitalter, das politisch und moralisch für die Notwendigkeit und Aufgabe menschlicher Selbstbestimmung sensibilisiert und also anfällig für reduktionistische Antworten ist. »Is humanity something to be preserved, or enhanced, or a condition to be gotten over? How we answer that question depend heavily on what we take humanity to be.«1394 Im kulturanthropologischen Zusammen­ hang mit diesen ethischen Fragen sind die Chancen und Risiken menschlicher Profilbildung durch ›Anthropotechniken‹ auszuloten. Wie Kulturanthropologie spezielle Freiheitspotenziale aufzeigt, so wirkt sie zugleich als gut informierte Kritik an Kulturaffirmation und Technikutopismus. Für beides grundlegend ist ihr Verständnis der wechselseitigen Funktionalität von Mensch und Kultur; die evidente Funktionalität und die funktionale Evidenz der Technologien für das menschliche Leben begründet die Potenziale wie die Gefahren dieser Technologien. In globalen und omnipräsenten Strukturen wie dem Internet exponiert sich die paradoxe Dynamik menschlicher Vernunft, die sich in der Hinwendung zu ihrem Objekt vom unmittelbaren Leben entfernt, infolgedessen aber das von ihr objektiv Erkannte resp. Erschaffene für dieses Leben nutzbar und funktional wird, was im Falle des Internets sogar das völlig neuartige Unmittelbarkeitserleben, über ein einziges Gerät als Vehikel mit der ganzen Welt verbunden zu sein, einschließt. In dem Maße, wie Technologien das Leben des Menschen immer feiner, schneller und umfassender prägen, besteht dessen kulturkritische Aufgabe und Verantwortung umso mehr darin, neben ihrem Einbezug in die Selbstbefragung bzw. als eine Dimension dieses Einbezugs die Technologien selbst kritisch darauf zu prüfen, ob sie dem menschlichen Leben, wie es sich je versteht und entwirft, sich verstehen und entwerfen will, entsprechen und förderlich sind. Der Anblick von Menschen, die verkabelt mit Ohrstöpseln durch die Gegend laufen und dabei auf einen Bildschirm starren, ist längst alltäglich geworden. Eine Partnersuche mit Hilfe von Dating-Apps 1392 1393 1394

Vgl. Landmann: FA, S. 202. Vgl. Landmann: Cultura formans als Faktor der Menschwerdung, S. 175. Weiss: Humanity at the Turning Point, S. 208.

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14. Epoche und Typus

macht sich ausgefeilte Algorithmen zu Nutze, um uns allzu ambigui­ tätshaltige Begegnungen zu ersparen. Und mit virtual reality equipment kann man in eine ambiguitätsfreie Welt eintauchen.1395

Die kritische Prüfung von Technologien auf ihre ambiguitätsnivellie­ rende Wirkkraft stößt dabei an eine unhintergehbare (nur gestaltbare) Grenze: Ob er will oder nicht, aber in dieser Prüfung befragt der Mensch notwendig auch sein jeweiliges Selbstbild, und zwar nicht erst kritisch, sondern immer bereits ›affirmativ‹ insofern als jedes Menschenbild, auch noch das der Kulturanthropologie, partiell selbst dem entspringt, wogegen es prüfend opponiert: »Die Anthropina sind Anthropologisierungen neuzeitlicher Wissenschaft und Tech­ nik, neuzeitlichen Fortschrittstrebens und Geschichtsbezuges. Unsere anthropologische Wahrheit […] besteht nicht unabhängig von der geschichtlichen Großepoche, in der sie konzipiert wurde.«1396

14.2 »Epochologie«1397 und die verführerische Gliederung der Geschichte Aspekte von Epochalität: Wir widmen uns nach diesen spezielleren Exkursen in die Pädagogik und das ›anthropotechnische Zeitalter‹ nun wieder grundlegender den Epochen und Typen resp. den ihnen zugeordneten Erkenntnisweisen einer anthropologischen Geistes­ wissenschaft. Zunächst bestimmen wir mit Landmann die Epoche als »einen Zeitabschnitt, der durch einen einheitlichen Stil charakterisiert ist«.1398 Auf den Begriff des Stils und insbesondere den des Lebensstils kommen wir am Ende dieses Kapitels noch einmal zu sprechen. Unsere Frage nun lautet: worin besteht diese ihre »Epochaldetermina­ Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt, S. 94. Landmann: FA, S. 362. Entsprechend wären die Kultur- und Sozialwissenschaf­ ten allzumal der Gegenwart, so gern sie sich anders und damit missverstehen, zwi­ schen Kulturtechnik (die sie selbst sind) und Technologiekritik (die sie ausüben) bzw. beide einbeziehend zu positionieren. Dies wird, wie Armin Nassehi schreibt, »möglich sein, wenn diese selbst anerkennen, wie sehr sie jenen Technologiezentren ähneln, die sich naive Wissenschaftspolitik alleine vorstellen kann. Erst wenn man das moralische Selbstbewusstsein der weichen Wissenschaften mit einem technologischen Selbstbe­ wusstsein härtet, wird eine realistische Einschätzung möglich« (Nassehi, A.: Denker in die Produktion! In: Heidbrink u. Welzer: Das Ende der Bescheidenheit, S. 127). 1397 Landmann: ZaS, S. 38 u. 18. 1398 Ebd., S. 44. 1395

1396

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14.2 »Epochologie« und die verführerische Gliederung der Geschichte

tion«, ihre »epochale Prägung«1399 und worauf richtet sie sich, was bezieht sie ein? Die Epoche determiniert als Letztheit, Ganzheit und Substanz. Wenn Landmann von Epochen »als geschichtsmächtige[n] Letztheiten«1400 spricht, so ist dies in einem die geschichtsphilosophi­ sche Formulierung seiner metaphysischen These von der Letztheit der Pluralität und seiner anthropologischen These von der konstitutiven Kulturvorgängigkeit.1401 Als Ausdruck von Pluralität und Kulturalität enthält die Epoche eine innere Spannung, die der Forscher produktiv aufzunehmen hat: Zwar nimmt er sie hinsichtlich ihrer Funktiona­ lität und Wirkkraft als Ganzheit, als »Substanz«1402 an, darf aber unter diesem Vorgriff nicht »Zusammenhänge überbetonen oder gar konstruieren. Es gibt auch unzusammenhängende Gleichzeitigkeit. Epochenwissenschaft ist insofern, auch wenn sie zu ihr inkliniert, nicht immer und eo ipso Ganzheitswissenschaft.«1403 So wie die Anthropologie in der Historie zwar ihre inhaltliche Grundlage hat, diese jedoch unter der Grundannahme einer ›Emergenz des Anthro­ pischen‹ formalisierend systematisiert, setzt die »Epochologie« neben »die mehr inhaltlichen Themata der Historie […] das mehr formale des inneren Zusammenhangs ihrer Inhalte.«1404 Sie steht unter der kultur- und geschichtsontologischen Annahme, »das Ganze einer Epoche oder einer Kultur [sei] im gleichen Maße ein Seiendes wie die einzelnen Domänen es sind, aus denen sie sich zusammensetzt«; soweit ist die Epochologie »logisch gleichursprünglich«1405 mit den einzelnen Geisteswissenschaften, deren Ergebnisse sie freilich in der Forschungspraxis voraussetzt. Indem sie die Kultur bzw. Zeit als Ganze in den Blick nimmt, so damit auch notwendig den ganzen jeweiligen Menschentypus. Umso mehr in die epochale Prägung (vermeintlich) heterogenste Kulturbe­ reiche und Inhalte einbezogen sind, desto tiefer und breiter ist auch der Mensch in seinen verschiedenen Weltzugangsweisen (Wahrneh­ mung, Empfindung, Phantasie usw.) durch sie ansprech- und prägbar. Die Epoche bestimmt ebenso seine Grundanschauungen von Raum

1399 1400 1401 1402 1403 1404 1405

Landmann: ZaS, S. 94. Ebd., S. 18. Vgl. Landmann: Geschichtsphilosophie, S. 684. Landmann: Institute für Epochenwissenschaften, S. 77. Ebd., S. 72 f. Landmann: ZaS, S. 44. Landmann: MSGK, S. 201.

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14. Epoche und Typus

und Zeit1406 wie seine »Lebensgrundgefühle«1407, die die Epocholo­ gin aus den in irgendeiner Weise vorliegenden und zugänglichen Menschenbildern herausarbeitet wie die Anthropologiehistorikerin sie umgekehrt als implizite Anthropologien verständlich werden lässt, das heißt »die geistige Infrastruktur einer Zeit, die sich selbst ein Geheimnis ist, aus ihren manifest werdenden Seinsgeburten«1408 erschließt. Im Bild der Infrastruktur drückt sich ebenso wie in der Rede von »Epochenphysiognomien«1409 die schichtmäßige Struktur des Epochalen aus. So handelt es sich beim »Epochalziel«1410 einer Zeit, sofern wir ein solches überhaupt nachvollziehbar aufzeigen und belegen können, nicht nur um einen Aspekt, sondern eine ganze Dimension, eine »neue Wirklichkeitsschicht des durchgehend Gemeinsamen«.1411 Nicht nur bezüglich der unterschiedlichen dia­ chronen Dimensionen einer Epoche, sondern auch für Verständnis und Berücksichtigung der gleichzeitig wirksamen historischen Bezüge, die die Rede von der Epoche als Einheit ad absurdum zu führen schei­ nen, ist die schichtenontologische Betrachtung unerlässlich. Ebenso wie, geschichtsontologisch betrachtet, die »früheren Epochen die Gegenwart gleichsam wie Stockwerke tragen«1412, so lagern sich, kollektivpsychologisch betrachtet, in »der Seele der Völker, wie des einzelnen, […] die geschichtlich durchlaufenen Stationen wie Strata übereinander«.1413 Nicht zuletzt um die vielseitigen Potenziale einer Zeit in den Blick zu bekommen, ist die schichtenontologische Betrachtungsweise unerlässlich. Historiographische Kategorien wie Potenz, Latenz, Ten­ denz1414 implizieren die Unterscheidung von Wirklichkeit und Mög­ lichkeit, die keine strikt getrennten Entitäten, sondern unterschiedli­ che Schichten eines in sich komplexen Seienden bilden. Die Annahme des Epochalen als ›Einheit der Vielheit‹, als Zusammenhang der Vgl. Landmann: ZaS, S. 69, Anm. 20. Landmann: PA, S. 122. 1408 Landmann: ZaS, S. 78. 1409 Landmann: Erinnerung an Karl Jaspers, S. 203. 1410 Landmann: ZaS, S. 37. Gemeint ist ein »den verschiedenen Kulturäußerungen eines Zeitalters […] gemeinsame[r] Sinn und eine gemeinsame Zielgerichtetheit« (ebd., S. 64). 1411 Ebd., S. 64. 1412 Landmann: JM II, S. 149. 1413 Ebd., S. 148 f. 1414 Vgl. zur Kategorie der Tendenz Landmann: ZaS, S. 44, Anm. 19 u. Materialien zur Selbstdarstellung, S. 277. 1406 1407

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heterogenen kulturellen Bezüge und Inhalte stellt den Versuch dar, das philosophisch schwierige Problem der wechselseitigen Beein­ flussung von Möglichkeit und Wirklichkeit kultur- und geschichts­ philosophisch zu fassen und anthropologisch produktiv werden zu lassen.1415 Die Tendenz des Historikers, den sukzessiven Wechsel der historischen ›Zustände‹ epochenbildend zu deuten und dabei jede Epoche als den einen Ausdruck einer Möglichkeit zu nehmen, ist vertiefend zu balancieren durch eine pluralistisch-simultaneisti­ sche Betrachtung. Diese reduziert das Wirklichkeit-gewordene nicht darauf, Möglichkeit im Sinne seines Übergetretenseins aus dem Aggregatzustand des Möglichen in den des Wirklichen (gewesen) zu sein, sondern begreift in und mit ihm auch jene Aspekte, die sich nicht in Wirklichkeit übersetzt haben, die im Ansatz stecken blieben, eingesickert sind, denen damit aber ihre Bedeutung und Wirksamkeit nicht einfach abgesprochen werden kann. Landmanns Anthropologie der Unvollendung und des Nichterreichens gewinnt hier den Sinn einer epochologischen Kritik an jedweder Idee von Notwendigkeit in der Geschichte.1416 Epochologie steht in ebenso unlösbarer wie produktiver Spannung zwischen der heuristisch- geschichtsphiloso­ phischen Annahme, ein Zeitalter lebe seine Möglichkeiten1417 und der kritisch-kulturontologischen Kontrastannahme von »Zeitchancen, die ungenützt verstreichen.«1418 Zur Ordnung verführt – Grenzen von Epochalität: Damit sind die Probleme von Epochalität wie auch der sie zum Gegenstand nehmenden Wissenschaft bereits angedeutet. Sie bilden insofern unhintergehbare Grenzen der epochologischen Erkenntnis, als diese auf kategoriale Fassung und Ordnung des Menschlichlebendigen abzielt, das, sofern es überhaupt geordnet ist, eine für die Erkenntnis nicht erschöpfend zugängliche, von ihr nicht vollständig abbildbare Ordnung ist. Ist in der simultaneistisch-gestaltsichtigen Raumschau einerseits der Blick für die Pluralität der inhaltlichen Bezüge und strukturalen Zusammenhänge des Kulturellen erheblich geschärft, so ist zugleich durch ihr notwendiges ›Einfrieren‹ der geschichtlichen Sukzession der Blick für die Pluralität und diffuse Dynamik seiner Vgl. Landmann: Institute für Epochenwissenschaften, S. 73. Eine ähnliche Kritik in Bezug auf die pädagogische Geschichtsschreibung finden wir bei Bräuer: Pädagogisches Denken als konkretes Denken, S. 31 f. 1417 Vgl. Landmann: Teuer bezahlte Vernunft, S. 95 u. ZaS, S. 100. 1418 Landmann: ZaS, S. 100. 1415

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Zeitbezüge (Tempi, Phasen, Rhythmik, zeitlichen Schichtung) ver­ engt. Um das gleichzeitig Seiende fokussieren zu können, wird das diachron (vielzeitlich) neben-, mit-, und ineinander, vorneweg und hinterher Verlaufende notwendig und wenigstens partiell ausgeblen­ det. Umgekehrt schärft der Mensch im geschichtlichen Bewusstsein seinen Geist für die Zeitlichkeit und Individualität des Seienden, schränkt damit aber sein Erleben-können einer auch dem Sinn nach diffusen Gleichzeitigkeit, ja Unzeitlichkeit ein.1419 Die epochale Betrachtung findet, wie sie selbst das menschliche Erleben prägt und damit begrenzt, ihre eigene Grenze im ›pantheistischen‹ Erleben: »das Gewesene ist noch heutig, das Heutige war schon, und so wird und soll es bleiben.«1420 Dass nicht nur die Epochenwissenschaftlerin in ihrer Konstruk­ tion, sondern »der Charakter einer Epoche [selbst, Anm. F.S.] vieles unberührt« lässt, setzt Landmann in das folgende Bild: »Er gibt nur eine Farbe, aber diese Farbe durchdringt die Zeiten nicht durch und durch.«1421 Die unterschiedlichen Tiefenwirkungen des Epochalen lassen sich allein simultaneistisch nicht erfassen, da die Analyse zeitli­ cher Phänomene wie Wirkung, Prägung, Durchdringung, Verfehlung und Abnutzung der Wirkung auch einen zeitlichen Vergleichsrahmen voraussetzt.1422 Dieser aber, und hier wird es interessant, liegt natür­ licherweise nicht vor, sondern muss erst vom Historiker gesetzt werden. Um überhaupt Aussagen über das Sein im zeitlichen Verlauf treffen zu können, muss er eine künstliche Ordnung konstruieren, die es notwendig verfehlt. Nicht erst bei den Epochen, sondern bereits bei den Zeitformen als solchen handelt es sich um dynamische, halbkontingente Konstruktionen, was Landmann in aller Deutlichkeit am Beispiel der Vergangenheit unterstreicht: Der Historiker ist kein bloßes Erkenntnissubjekt, sondern hat teil an geschichtlichen Seinssubjekten, die zu einem Vergangenen in jeweils anderen Relationen stehen, sich mit ihm zu neuen Sinneinheiten zusammenschließen. Daß er von der Vergangenheit wechselnde Bilder gewinnt, entspringt nicht seiner Subjektivität, sondern dem realen Vgl. Landmann: UuS, S. 106. Ebd. 1421 Landmann: Formgründende Erfahrung, S. 8. 1422 Vgl. Landmann: ZaS, S. 42: »Streng genommen dürfte man gar nicht von einer Kulturstufe sprechen, auf der eine Kultur als ganze steht, sondern nur von Stufen einzelner Seiten der Kultur«. 1419

1420

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Anderswerden der Vergangenheit selbst aufgrund neuer, auf sie rück­ wirkender Entwicklungen. Sie ist wie ein Element, dem verschiedene Gestalten jeweils andere Valenz zustrahlen.1423

Deutlich grenzt sich Landmann in diesem Zitat vom radikalen Subjek­ tivismus resp. Konstruktivismus ab, indem er – wie wir es bereits an anderer Stelle sahen – nicht nur die menschliche Erkenntnis, sondern auch das Sein selbst kontingent, perspektivisch, geschichtlich bewegt und sinnoffen sein lässt. Die Rede vom ›realen Anderswerden der Vergangenheit‹ provoziert neben dem konstruktivistischen auch das lineare Denken, für das es eine abgeschlossene Vergangenheit aller­ dings gibt. Dass es uns etwas mystisch, ja fast selbst konstruktivistisch anmutet, wenn Landmann von der Vergangenheit als einem Element spricht, dem rückwirkend ›Valenzen zugestrahlt‹ werden können, zeigt, wie sehr wir selbst der Vorstellung einer abgeschlossenen Ver­ gangenheit anhängen bzw. uns konstruktivistisch damit begnügen, ihr Fortlaufen lediglich im Geiste stattfinden zu lassen. Dagegen macht Landmann mit der Ontologie des unabschließbaren Werdens Ernst, die selbst eine Reminiszenz ist an jenes Erleben, dem das Vergangene noch, das Künftige schon ist. »Sich wandelnde Gegenwart wandelt auch die Vergangenheit, die mit ihr eine organische Ganz­ heit bildet. Es gibt zwar auch in der Geschichte eine Grundschicht feststehender Fakten. Aber ihr Stellenwert wechselt.«1424 Dass sich die Aspekte des Seienden erst sukzessive und häufig erst, wenn sie vermeintlich schon nicht mehr sind, enthüllen, ist empirisch evident etwa bei technischen Erfindungen, deren ökologische Gefahren mit­ unter erst nach der Verbreitung und Etablierung ihres Einsatzes durch genauere Forschung aufgezeigt bzw. belegt werden können.1425 Hier kann eine gegenüber der Abgeschlossenheit des Seienden notwendig und produktiv blinde gestaltphilosophische Betrachtung produktiv werden, indem sie gerade als a-temporale die Einsicht in die Temporal­ strukturen vertieft. Ihr Anspruch und ihre letzte Konsequenz ist eine nicht partikularisierende Verflüssigung des Seins unter der folgenden Annahme: »wo man das eine enden und das andere beginnen läßt, das bleibt bis zu einem gewissen Grade Willkür. Und so ist es auch bei den Epochen […]. Die an sich unscharf, nicht als Linie, sondern als breiter Streifen verlaufende Grenze […] muß erst vom Historiker markiert 1423 1424 1425

Landmann: Geisteswissenschaften, S. 270. Ebd. Vgl. ebd.

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werden.«1426 Nicht in ein anderweitig, aus sich heraus unsichtbar geordnetes Sein zieht er verfälschend enge Fronten, sondern formt das ›grenzenlos‹ erscheinende Sein mittels breiter Grenzen zu zwar konturierten, doch immer wieder reformungsoffenen Gestalten. »Epochalwissenschaft« als kritisches Forschungsprogramm: Ein­ gedenk dieser Grenzen lässt sich nun der explorative und der kritische Sinn einer »Epochalwissenschaft«1427 als einer, wie Landmann es fordert, »selbständigen Wissenschaft mit eigener Methodik«1428 auf­ zeigen. Deren Aufgabe besteht darin, die Geschichte der einzelnen Kulturgebiete ergänzend, neben den vertikal-diachronischen Längsschnitten horizontal-syn­ chronische Querschnitte durch die Geschichte zu legen. Sind jene aus der Abgrenzung des Stoffes genommen und dafür zeitlich universal, sich von den Anfängen eines Gebietes bis zur Gegenwart erstreckend, so sind diese aus der Abgrenzung der Zeit genommen und dafür stofflich universal, alle Gebiete einbeziehend.1429

Der explorative Sinn dieses Ansatzes besteht in anthropologiehistori­ schen Forschungen, wie sie Landmann selbst in größeren Studien und in kleineren Texten ansatzweise durchgeführt hat. Die Epoche bildet einen Bezugsrahmen, der Zeitgleiches, das im direkten Vergleich sich inhaltlich fern zu stehen scheint, in seinen teils verblüffenden Ähnlichkeiten kenntlich macht. Schließlich werden die Epochen resp. Konstellationen selbst untereinander verglichen, was in diachroner Kontrastierung die jeweiligen Konturen stärker hervortreten und beispielsweise eine »Zeitstilverwandtschaft« oder »Zeitstilähnlich­ keit«1430 deutlich werden lässt. Das Erkenntnispotenzial wie auch die Konstruktivität dieses Ansatzes werden deutlich, wenn Landmann in seiner geistesgeschichtlichen Deutung der »Ästhetik des hellenisti­ schen Juden Hermagoras« schreibt: Mit verweltlichtem Schöpfergott-Glauben jedoch trat die Neuzeit als ganze in eine geistesgeschichtlich analoge Situation, in der im Alter­ tum der assimilierte Jude Hermagoras als Einzelner stand. Und deshalb Landmann: ZaS, S. 47. Landmann: Institute für Epochenwissenschaften, S. 72. 1428 Ebd., S. 71. 1429 Ebd. 1430 Landmann: PA, S. 113 u. 107. Vgl. auch FA, S. 18; Rückblick auf die Frankfurter Schule, S. 108. Von einer Wiederkehr der Situationstypen in der Geschichte spricht Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 274. 1426 1427

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konnte er erst jetzt ins Breite wirken und zum Kronzeugen einer verwandelten Ästhetik werden. Erst jetzt bestand zwischen ihm und der Zeit das gemeinsame Medium, das seine Stimme trug. Wie Caesar Napoleon entspricht, so entsprechen Theodoros und Hermagoras der Gefühls- und Ausdrucksästhetik des 18. Jahrhunderts.1431

Doch verrät das Verdikt des Konstruierten die Verlegenheit einer sich erkenntnistheoretisch enthaltsam vermeinenden Position, die histo­ rische Zeiträume außer durch ihre Inkommensurabilität gar nicht mehr verbunden sein lässt. Dagegen schließen sich für Landmann die Anerkennung des je Individuellen und sein Einbezug in Überindivi­ duelles nicht aus, sondern bedingen sich im Gegenteil. So nimmt es z.B. den jeweiligen Denksystemen von Schopenhauer und Marx für sich nichts, beide als »typische Figuren der Epochensynthese«1432 auf­ zuzeigen. Ihr je Besonderes ist lediglich nicht mehr kryptomystisch substanziell, sondern als je eigenartige Kombination und Vermittlung ähnlicher Elemente und Bezugsinhalte aus verschiedenen Zeiten und Kontexten aufgefasst. Sehr schön illustriert Landmann den epocho­ logischen Ansatz in dem an Simmels Metaphorik erinnernden Bild vieler sich mit dem geistesgeschichtlichen Abstraktionsgrad immer weiter erstreckender Ringe, in denen das Individuelle steht bzw. als deren In- und Umeinander es sich als Gestalt herauskonstelliert: Nachdem wir so das goethezeitliche Zerbrechen der literarischen Gat­ tungen in den weiteren Ring der damaligen Auflösung übergeschicht­ lich-übersubjektiver Formen überhaupt gestellt haben, können wir aber jetzt diese ganze Bewegung abermals in einen noch weiteren Ring, können wir sie der Geschichte des Antiplatonismus einordnen.1433

Was in diesem Zitat anklingt, ist die geistesgeschichtliche Intuition, die Landmanns Anthropologie als solcher zugrunde liegt. Nicht im luftleeren Raum anthropologischer Spekulation erhellt sich nachträg­ lich der Sinn der Geschichte für die Frage nach dem Menschen, sondern in den Dokumenten dessen, was der Mensch faktisch wurde, lassen sich Strukturen erkennen und über den Vergleich verschiedener Dokumente diese Strukturen wie Folien übereinanderlegen, wodurch nun wiederum allgemeinere Strukturen sichtbar werden usf. Die Verlegenheit der hallenden Frage, was der Mensch sei, wie auch all der 1431 1432 1433

Landmann: UuS, S. 263. Landmann: Schopenhauer und Marx, S. 178. Landmann: DaD, S. 163.

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14. Epoche und Typus

verschiedenen, blutleer anmutenden formalen Antworten verweist Anthropologie darauf, ebenso den in der abstrakten Frage enthalte­ nen ›existenziellen‹ Impuls wie die in der formalen Antwort verbor­ gene, sie subtil von unten haltende geschichtliche Fülle aufzuzeigen. Genau dieser komplexe Wechselbezug von geschichtlicher Fülle und anthropologischer Formalität bildet Rahmen und Motiv einer spezi­ ell anthropologiegeschichtlich-epochalwissenschaftlichen Kritik, die sich auf die Genie-Historie wie auf einen »Epochen-Nominalismus« richtet. Mit der Genie-Historie steht eine ganze Anthropologie in Kritik, die den individuellen Menschen (die Seele, die Vernunft usf.) etwas von der Geschichte und Kultur substanziell Verschiedenes sein und doch – worin sich das Werturteil verrät – die beiden letzteren von dem, als was der Genius sich vermeintlich rein ausdrückt, entschei­ dend geprägt und prägbar sein lässt. In solch letztlich dualistischer Betrachtung »übersieht man die Voraussetzungen, von denen er stillschweigend ausging, das Vätererbe, das in ihm lebendig war und dem er nur einen neuen Baustein hinzufügte. Erst indem man dieses unsichtbare Erbe dem sichtbaren Werk zuordnet, hat man die ganze Gestalt.«1434 In diesem Bild der ›ganzen Gestalt‹ ist das Individuelle mit dem Allgemeinen, ohne dass eins das andere schlucken würde, vermit­ telt; insofern ist es dem aus einem Gegenimpuls zur Vorstellung des geschichtemachenden Genies motivierten Bild einer den Einzel­ nen durchrauschenden »Strömung jener größeren und eigentlichen Geschichtskörper«1435 vorzuziehen, wenn auch in diesem eine spezi­ elle Erlebensweise des Menschen, und nicht die randständigste, meta­ phorisch gefasst ist. Gerade kultur- und geschichtsanalytisch ist ein gestaltphilosophischer Aufriss der inter- und intrakulturellen Zusam­ menhänge gegenüber stark metaphorischer Naturkraft-Semantik im doppelten Vorteil, die These vom »eigenen Wirklichkeitscharakter umspannender Gesamtphänomene«1436 konkret belegen und so auch kritisch gegen einen »Epochen-Nominalismus« einbringen zu kön­ nen, für den sie nichts als Phantome sind.1437 1434 Landmann: Das Tier in der jüdischen Weisung. Mit einem Vorwort v. J. Schlosser. Illustrationen v. E. Schwimmer. Heidelberg: Lambert Schneider 1959, S. 121 [im Fol­ genden: TjW]. 1435 Landmann: Der Mensch als Herr und Opfer der Geschichte, S. 255. 1436 Landmann: UuS, S. 190, Herv. F.S. 1437 Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 275.

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14.3 Typologie und die fragile Ordnung der Welt

14.3 Typologie und die fragile Ordnung der Welt Aspekte des Typischen: Landmanns Kritik am Kult des Individuums (sei es das politische oder ästhetische der Genie-Historie oder das der Vernunftanthropologie) ist grundlegend für seine Überlegungen zum Typus, der (neben der Epoche als mehr geschichtlicher) die zweite zentrale, mehr strukturale Betrachtungseinheit bildet. Ähnlich wie die Epoche den Zusammenhang des Vielen innerhalb eines Zeitraums bezeichnet der Typus »die Pluralität innerhalb eines Bezirks.«1438 In umgekehrter Richtung als bei der Epoche, die das vermeintlich Unzusammenhängende zur Struktureinheit verbindet, ist von Typen überall dort die Rede, »wo ein und derselbe Seinsbezirk eine Mehr­ heit selbständiger, miteinander auf gleicher Höhe stehender Ausfor­ mung zuläßt.«1439 Das Typische besteht als ein spezielles Verhältnis von Individu­ ell-Vergänglichem und Allgemein-Unvergänglichem und hat seine mehr oder weniger eingestandene anthropologisch-eschatologische Funktion darin, das Vergangene nicht ganz absent, seine Schichten nicht ganz abgetragen sein zu lassen: »Wie bei Platon der Mensch nie ganz stirbt, weil ja die Seele bleibt, so geht hier Geschichtliches nie ganz unter, weil ja das Typische bleibt.«1440 Zwischen generalisieren­ der Philosophie und individualisierender Geisteswissenschaft bildet der Typus das Mittelglied; als solches baut er »auf der Erfahrung, der er daher auch rückwirkend weit dienlicher ist, auf, geht jedoch kulmi­ nierend und steigernd – wie Max Weber das beschrieben hat – über sie hinaus.«1441 Die Typen bilden sozusagen ein Zwischenreich1442; durch dessen mittlere Reichweite in je die Richtung der Erkenntnis und des Seins finden diese in ihm eine vermittelnde Berührungsfläche. Mit anderen Worten: in den Typen findet resp. bildet der Geist die »Ordnungsprinzipien des Geschichtsverständnisses«; mit denen fasst Landmann: PuA, S. 201. »Beispiele typologischer Sehweise« liefert Landmann in ebd., S. 209–220. 1439 Ebd., S. 201. 1440 Landmann: UuS, S. 96. Es seien, schreibt Landmann, die »modernen Typologien, in denen wir das epochemachend-bleibende Novum der Geisteswissenschaften unse­ res Jahrhunderts bewundern dürfen« (PuA, S. 200). 1441 Landmann: PuA, S. 202. 1442 Auf diese Zwischenstellung des Typischen zwischen Individualität (Einzelheit) und Universalität (Gesamtheit) weist am Beispiel der antik-griechischen Kunst Anne­ katrin Puhle hin (vgl. Puhle: Persona, S. 37). 1438

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14. Epoche und Typus

er »die Grundseinsformen […], in denen Gebiete der Kultur sich ausfächern.«1443 Zusammen mit der Epochologie bildet Typologie den »spezielle[n] Teil der Kulturontologie« und »neben dem Zugriff auf die Singularitäten die andere große Aufgabe der Geisteswissen­ schaft.«1444 Als Konstruktion führt der Typus, das Individuelle übergehend, doch auf indirektem Weg zu ihm hin. Die Typisierung bildet eine zwar fragile Brücke zum dann aber umso »präziseren Bestimmen des Individuellen selbst.«1445 Kontraintuitiv erscheint, dass man das Kon­ krete durch seine Verallgemeinerung schärfer zu fassen bekomme, nur unter der Annahme substanzieller Konkretheit. Unter der Annahme dagegen, dass das Konkretum als eine Gestalt aus heterogenen Inhal­ ten und Bezügen erst kulminiert und seinen Inhalt mehr in der Weise der Strukturierung und Organisierung dieses Vielseitigen hat, wird es mittels Typisierung nicht nur schärfer gefasst, sondern tritt durch sie überhaupt erst eigens hervor. Von hier aus sehen wir deutlich die Vermessenheit der Vorstellung, Individuelles, also Ungeteilt-Unteil­ bares überhaupt erkennen zu können. Selbst das als ›Einheit und Strukturierungsweise des Heterogenen‹ aufgefasste Individuelle lässt sich als Individuelles, das heißt: als dergestalt Eigenartiges nur indi­ rekt an irgendeiner Vergleichsfläche bzw. eben in Differenz zu ihr erkennen. Ähnlich wie im ›hermeneutischen Zirkel‹ das aus dem Verständnis des Ganzen heraus ermöglichte feinere Verständnis des Einzelnen seinerseits das Vorverständnis des Ganzen korrigiert und erweitert1446, wirkt auch das diffiziler verstandene Individuelle auf den nun umgekehrt an ihm sich wieder verfeinernd oder gar ausdiffe­ renzierend profilierenden Typus zurück.1447 Die erläuterte Zwischenstellung des Typus lässt ihn ein Verhält­ nis sein, das grundsätzlich auf sehr viele Bereiche und Dimensionen des Seins adäquat anwendbar ist. In ihm sind, ähnlich wie in der Landmann: PuA, S. 203, Herv. F.S. Ebd. Aus dem Text, dem diese Stelle entnommen ist, geht nicht hervor, worin in Landmanns Anordnung der allgemeine Teil der Kulturontologie besteht. Unter der Annahme, dass es sich bei ihm um eine metaphysisch-ontologische Grundlegung han­ delt, erscheint es plausibel, die Epochologie ebenfalls dem speziellen Teil zuzuordnen. 1445 Ebd. 1446 Vgl. Landmann: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, S. 376. 1447 Darauf scheint Landmann anzuspielen, wenn er schreibt, wir müssten die Typo­ logien (besser: die Typen) »uns selbst gegenständlich machen, müssen daran arbeiten, daß wir sie gewinnen und differenzieren« (PuA, S. 203). 1443

1444

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14.3 Typologie und die fragile Ordnung der Welt

Epoche, synchrone und diachrone Elemente vermittelt, weswegen grundsätzlich auch eine Typologie zeitlicher Phänomene resp. Dimen­ sionen, etwa des Ereignisses, möglich ist. »Jedes Ereignis hat geis­ tige und geschichtliche Grundlagen. Nur aus ihnen erklärt es sich, wird es durchsichtig. In jedem Gesamtablauf gibt es tragende und fazitziehende Phasen, Hauptschauplätze und Nebenhandlungen.«1448 Jedes Ereignis erscheint zeitlich und räumlich strukturiert nicht nur insofern es immer in einer Zeit und verortet ist, sondern auch insofern es in sich zeitlich nach ›Phasen‹ und räumlich nach ›Schauplätzen‹ strukturiert ist. Im Finden und Ordnen von Ereignis-Typen greifen entsprechend eine geschichtliche und eine simultaneistisch-typolo­ gische Betrachtung ineinander. Ob dabei das genuin Zeitliche des Ereignisses, das in der Abfolge der Phasen als Sukzession besteht, durch die räumlich-typisierende Anordnung dieser Phasen nicht emp­ findlich entkernt wird, steht stellvertretend für die allgemeinere Frage, wieweit überhaupt sich Zeitliches räumlich begreifen lässt und vice versa. An diese erkenntnistheoretische Frage bzw. die ontologischen Voraussetzungen der typologischen Betrachtungsweise zu erinnern erscheint umso erforderlicher als ihr axiologischer Sinn, ihr pluralis­ tisch-egalitärer Charme durchaus dazu geneigt machen kann, sie zu übergehen. Was mit der geschichtlichen Perspektive auch ontologisch als geschichtlicher Zusammenhang im Sein verlorengehen kann, muss ggf. von irgendwoher wiedergewonnen werden, andernfalls wird die Rede von Typen, die ja immer Typen einer bestimmten logischen Klasse (Typen-von) sind, sinnfrei. In schwer bestimmbarem Maße liegt das Abgleitenkönnen in einen Partikularismus unverbundener Entitäten im »methodische[n] Prinzip der Typologie« selbst, das darin besteht, »im Entwickelten trotz seiner Entwickeltheit immer das selbstgesetzliche Eigene, das sich aus einem inneren Zentrum Aufbauende und darum auch nur von diesem Zentrum her zu Verste­ hende, eben den neuen Typus, zu erblicken.«1449 Landmann: Sichtbares und Unsichtbares im Wechselspiel, S. 54. Landmann: Der Mensch als Evolutionsglied und Eigentypus, S. 429. Dieses der Eigenheit des je in Betrachtung Kommenden Gerechtigkeit widerfahren lassen wol­ lende Motiv der typologischen Betrachtungsweise gilt es herauszustellen gegen Wie­ sings Kritik, in Landmanns Anthropologie fehle »die naturhistorisch-evolutionäre Perspektive«, sie begreife Geschichte »als bloße Variation allgemeinmenschlicher Strukturen in der Zeit« und dem sei »entgegenzuhalten, daß Variabilität gerade nicht mit Geschichtlichkeit gleichzusetzen ist, vielmehr die Unveränderlichkeit eines Sche­ mas voraussetzt« (Theorie der Bildung, S. 54 f.). Dem ist nun seinerseits zu entgeg­ 1448

1449

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14. Epoche und Typus

Dreifacher Sinn und kritische Motive der typologischen Betrach­ tungsweise: Diesem methodischen Prinzip folgend, gewinnt die typo­ logische Sichtweise einen dreifachen Sinn. Erkenntnisanthropolo­ gisch betrachtet bekommt die Typologin ›mehr Welt‹ bzw. deren Dinge differenzierter in den Blick, indem sie sich ihnen nicht mit der Einstellung x sei nichts als y (und damit nicht gleichwertig), sondern aus der offenen Erwartungshaltung, in x ein völlig Eigenartiges und Eigenwertiges anzutreffen, zuwendet. »Erst wenn man ihm seine Gleichwertigkeit zubilligt, wird man aber auch dazu gelangen, es inhaltlich nicht mehr mit den Kategorien des Früheren zu begreifen, sondern heterogene, immanente Kategorien in ihm zu vermuten und sie ihm abzulauschen.«1450 Am Mensch-Tier-Vergleich lässt sich verdeutlichen, wie mit der typologischen Ordnung (in dem Fall) der Lebewesen sich auch die Frage- und Problemstellungen verschieben. Erst unter der typologischen Annahme der Inkommensurabilität von Tier und Mensch vermag dieser, den Fokus von der Frage um die eigene Abstammung, in der er sich ebenso um sich sorgt wie von sich fernhält, produktiv umzulenken auf »die Wesensanalyse seines eigenen, nun einmal so gewordenen und gegebenen Gegenwarts­ seins.«1451 Diese Fokusverschiebung ist Grundlage einer Umdeutung, in der – und hierin liegt der psychologisch-ethische Sinn der Typologie – die anthropologische Kränkung, die der Mensch in seiner wie auch immer gearteten Abhängigkeit resp. Abkünftigkeit erlebt, partiell gemildert wird. An die Stelle der Demut des Gekränkten tritt nun der neugewonnene Stolz des Versöhnten, sich wie auch anderen Lebewesen Selbstwert, Würde und Rechte zuzusprechen – und selbst das (soweit es uns bekannt ist einzige) Wesen zu sein, das praktisch für deren Geltung Sorge zu tragen vermag.1452

nen, dass Landmann sich vielfach den unterschiedlichen Vorstellungen und Ordnun­ gen der Zeit und ihrer Formen, also den heterogenen Geschichtskonzepten, zuwendet. Nicht anstelle, sondern neben der zeitlichen ist bei Landmann eine ›simultaneistische‹ Vorstellung von kultureller Vielheit (als Ausdruck menschlicher Variabilität) angelegt bzw. implizit ›wirksam‹. 1450 Landmann: Der Mensch als Evolutionsglied und Eigentypus, S. 429. 1451 Landmann: PA, S. 145 f. Vgl. Hupe, der – Landmanns Kritik an einer Mängel­ wesen-Anschauung verdichtend – schreibt, der Mensch unterscheide sich »nicht kom­ pensativ, sondern kreativ vom Tier, ist nicht nur graduell, sondern der Art nach von ihm verschieden« (Kreativität und Teleologie, S. 193). 1452 Vgl. Landmann: PuA, S. 210 u. 207, außerdem: Ökologische und anthropologi­ sche Verantwortung, S. 170.

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14.3 Typologie und die fragile Ordnung der Welt

Es ist wichtig, zu sehen, wie nicht nur der erkenntnisanthropolo­ gische Impuls der Typologie diesen ethisch-moralischen Sinn mit sich führt, sondern seinerseits anthropologisch-psychologisch funktional, also letztlich ethisch fundiert ist. Genau aus diesem Eingeständnis ihres eigenen Wertakzents bezieht die Typologie nun den speziellen Sinn einer Kultur- und Moralkritik, die sie nicht zuletzt auf sich selbst zu beziehen hat. Diese Kritik richtet sich auf die überzogene Aufwertung des Nichtmenschlichen, die ebenso gut gemeint wie häufig blind für ihre anthropologischen Implikationen, ja in Bezug auf diese durchaus ein parasitäres Phänomen ist. Was Tiere bereits oder sogar vermögen, gleich ob es sich dabei um mentale, emotionale, soziale Fähigkeiten handelt, hat seinen inhaltlichen wie axiologischen Bezug beim Menschen allein. Was sich der menschliche Geist in der Aufwertung des Tieres als Erkenntnis- resp. empathisches Vermögen selbst verweigert bzw. verschleiert, kompensiert er durch dessen Aufwertung. Umgekehrt wird deutlich, wie grundlegend der typolo­ gische Anspruch, auch, ja gerade ohne Wertung »das unvergleichlich Charakteristische und das Tiefsinnige hervorheben«1453 zu können, Ausdruck einer im doppelten Sinne selbstbewussten Erkenntniskraft des Menschen ist, was freilich unter ihrem axiologischen Pathos auch bei Landmann tendenziell verdeckt bleibt. Während ›inkonsequent demütiger‹ Geist, der zwar das ihm Fremde, aber dieses doch allein kraft dessen, was er selbst vermag, aufwertet, ohne sich dies einzugestehen, seine Kritik gern umso fundamentaler nach außen und auf alles, was ihm nicht entspricht, richtet, fällt die typologische Erkenntniskritik differenzierter aus. Als Kritik am Einheitsdenken bricht sie inhaltlich eindeutig eine Lanze für die »Phänomenologie des pluralistisch Gegebenen«, lässt dabei die Frage »nach Stufungen innerhalb des Pluralistischen« jedoch gelten; nur dürfe diese nicht »durch zu frühes und exklusives Einset­ zen die Deskription blockieren. Monismus und Typologie müssen sich gegenseitig begrenzen.«1454 Auch die typologische Kritik am »monolatrisch-rangordnenden Grundhang unseres Geistes«1455 ist insofern relativiert als hier anthropologisch realistisch von einem ›Grundhang‹ des Geistes die Rede ist, womit ein vollumfänglich Rangordnung vermeidendes Denken als wenigstens unwahrschein­ 1453 1454 1455

Landmann: PuA, S. 207. Landmann: EV, S. 91. Landmann: PuA, S. 217.

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14. Epoche und Typus

lich herausgestellt wird. »Wie oft wird unser Denken durch das hierarchistische oder evolutionistische innere pattern, dem wir uns allzu bereitwillig und gewohnheitsmäßig anvertrauen, in die Irre geleitet, während erst der typisierende Blick die wahren Verhältnisse trifft.«1456 Gerade aber weil die typologische Betrachtungsweise nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, ist umso entschie­ dener mit Landmann für sie einzutreten: »Die Hypotaxe der Stufen reprimiert die Parataxe der Typen. Typus gegen Stufe! Morphologie contra Evolutionismus! lautete in den 20er Jahren das Feldgeschrei mit Recht.«1457 Relativiert ist schließlich auch die typologische Kritik an der linear- resp. stufenteleologischen Tendenz (nicht erst) des modernen Denkens. Ihre Kritik richtet sich konkret etwa auf den Reduktionis­ mus der Telos-Idee, wenn diese ein geschichtlich Nichteingetretenes als ontisch Unmögliches oder menschlich Nichtvermochtes auffasst. Damit ist der Entwicklungsgedanke etwa des Evolutionismus nicht, was kontratypologisch wäre, als solcher verworfen, sondern erkennt­ niskritisch und geistesgeschichtlich verortet: »während er im 19. Jahrhundert dominierte, steht er heute als nur noch eine Sehweise neben einer anderen. Und zwar ist diese andere in gewisser Weise wieder die von ihm einst resorbierte, jetzt aber neuerstandene mor­ phologische.«1458 Wir sehen: in ›letzter‹ Konsequenz wendet die Typologie ihre eigene Methode auf sich als einen selbst historisch-kul­ turell verorteten Stil an und erhellt sich damit ihre geschichtlich retrowie prospektive Kontingenz. Grenzen der Typisierung: Der historisch-kulturelle Bedingungs­ kontext markiert einen Grenzstreifen des Typologischen, an den zwei Zerrformen des Typischen resp. Typologischen anschließen. Die erste 1456 Landmann: PuA, S. 209. An anderer Stelle spricht Landmann von der »verhäng­ nisvolle[n] Tendenz unseres Geistes, in allen Bereichen eine einzige Verwirklichung auf ein Podest zu erheben und alle andern nur Kümmerformen von ihr sein zu lassen« (ebd., S. 212). 1457 Landmann: EdI, S. 33. Kritik an der typologischen Betrachtungsweise kommt nun wiederum aus der Richtung singularistischen oder partikularistischen Denkens. Sein Einwand lautet, dass »sie angeblich die Geschichtsindividualitäten in eine künst­ liche Ordnung preßt« (Materialien zur Selbstdarstellung, S. 276). Bezeichnender­ weise scheint dieser Einwand seine vermeintlich kritische Kraft aus der Gegenvor­ stellung einer ›natürlichen Ordnung‹ und damit aus einem ontologisch wie erkenntnistheoretisch voraussetzungsreichen Bezugsrahmen zu gewinnen. 1458 Landmann: Der Mensch als Evolutionsglied und Eigentypus, S. 428. Er spricht auch von »der morphologischen Begabung unseres Jahrhunderts« (PA, S. 144).

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14.3 Typologie und die fragile Ordnung der Welt

ist der Stereotyp, der sich von dem fluid bleibenden, am Konkretum sich differenzierenden Typ darin unterscheidet, fest, hart und starr zu sein.1459 Diese Verfestigung erfolgt häufig als Reduktion oder Vereinseitigung des Individuellen durch »Hypertrophie« einzelner Aspekte oder Elemente, die so »die ganze Beurteilungskraft auf sich allein lenken und aufbrauchen.«1460 Nicht nur ist hier der Erkenntnis­ anspruch, im Typischen als einer ersten Annäherung, einer Brücke zum Individuellen dieses umso präziser zu fassen, verfehlt, sondern auch der ihn tragende wie von ihm getragene positive Wertakzent auf dem Individuellen negativ gewendet. Sich selbst wie ihren Gegen­ stand missversteht die (dann nicht mehr) typologische Sichtweise in dieser wie in der zweiten ihrer Zerrformen. Hier wird ihr der eigene Anspruch auf wertfreie Deskription zur axiologischen Überforderung eines Relativismus bloßer Andersheit, der sich im Empfinden als Ernüchterung oder gar Resignation breitmacht. Dem entgegenzuwir­ ken vermag das Aufzeigen des pluralistischen (nicht relativistischen) Wert- und Vorurteils ebenso wie eine phänomenologische Typologie der Differenz, die aufzeigt, dass und mit welchen Unterschieden1461 die hierarchisierende wie die typologisierende Ordnung der Welt­ dinge von deren Differenz ausgeht, was dem Relativismus Wind aus den Segeln nimmt: Differenz verweist auf ein Umspannendes, dessen Typen die Anthropologin bildet und mit dem diese in engem inhaltli­ chen wie axiologischen Zusammenhang stehen. Dieser Rahmen des Typologischen ist ihm selbst eine Grenze, in deren Wahrung es sich selbstreferentiell zur Geltung bringt: Freilich stünde es uns schlecht an, an dieser Stelle selbst rangstufend zu verfahren und das evolutionierende Denken grundsätzlich dem typisierenden hintanzusetzen. Bei andern Beispielen könnte gerade das Typisieren die Fehldeutung sein und erst das Evolutionieren die wahren 1459 Im Duden-Fremdwörterbuch finden wir ihn definiert als »eingebürgertes Vor­ urteil mit festen Vorstellungsklischees innerhalb einer Gruppe« (Duden. Das Fremd­ wörterbuch. 9. aktual. Aufl. Hg. v.d. Dudenredaktion. Mannheim u.a.: Dudenver­ lag 2007). 1460 Landmann: Das Parasitäre, S. 35. 1461 Es erscheint mir lohnenswert, die Formen von Differenz ihrerseits bis in die kleinsten Feinheiten hinein zu differenzieren, sie zu vergleichen und in Gruppen zu ordnen. Die axiologischen Unterschiede scheinen dabei noch vergleichsweise einfach greifbar und oberflächlich zu sein, herausfordernder dagegen schon die Frage, worin genau etwa der Unterschied zwischen A ist etwas anderes als B und A ist nicht B bestünde.

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14. Epoche und Typus

Verhältnisse freilegen. Hiergegen darf uns, daß wir uns heute gegen die Exzesse des Evolutionierens zur Wehr zu setzen haben, nicht blind machen. Sobald das Evolutionieren seinen Alleinherrschaftsanspruch aufgibt, zeigt sich, daß es und das Typisieren selbst zwei Typen sind.1462

Bildung zum Lebensstil: Wir wollen die Betrachtung nun über die Kategorie des Stils, die mit der der Epoche und der des Typus eng zusammenhängt, explizit auf die Bildungsthematik lenken und deu­ ten so die bildungsphilosophische Aufschlusskraft der Epochologie und Typologie wenigstens an. Als – gegenüber etwa der Gattung – »höhere und höchste Formeinheit«1463 bildet der Stil für Landmann nicht nur eine ästhetische, sondern eine kulturphilosophische Grund­ kategorie. Ein Stück weit steht seine Kulturanthropologie durchaus in der Linie Rothackers, der Kulturen als »geschlossene ›Lebens­ stile‹» versteht, die nicht nur in manchen Aspekten bestimmen, etwa »wie tief sich der Blick worein einsenkt, sondern die gesamte ›Haltung‹ und über sie Interesse, Weltanschauung und Ethos.«1464 Sie sind keine sekundären, Einzelnes überspannenden Entitäten, sondern diesen gleichursprüngliche »selbständige Wirklichkeiten«, ihrem Abstraktionsgrad nach freilich »Gegenstände zweiter Ord­ nung.«1465 Zentral für Landmanns Stilverständnis ist dessen grund­ legend pluralistische Signatur. Von Stilen ist immer genau dann zu sprechen, wenn »interregionale, umspannende Formmöglichkeiten sich auf verschiedenen Gebieten, wenn auch durch die immanenten Gesetze und Entwicklungstendenzen eines jeden abgewandelt, mani­ festieren.«1466 Und wie jeder Stil in sich pluralistisch strukturiert ist, für sich also eine spezifische Einheit der Vielheit darstellt, so gilt untrennbar davon, ja als anderer Ausdruck resp. Aufweis dessen, »daß er einer neben andern ist, daß viele Stile bestehen.«1467 Die Pluralität der Stile bildet, wenn man so will, das allgemeine Grundthema von Landmanns gesamter Philosophie: bereits im Frühwerk als der Wertepluralität korrespondierende Vielheit »ethischer Typen«1468, Landmann: PuA, S. 220. Landmann: DaD, S. 158. So spricht er häufig vom »Denkstil« (u.a. JM I, S. 50 ff.), im mehr psychologisch-lebensphilosophischen Kontext vom »Stilwillen« (u.a. PuA, S. 214; ZaS, S. 32), im epochologischen Sinne von »Stilwellen« (ZaS, S. 32). 1464 Landmann: PA, S. 189. 1465 Landmann: Institute für Epochenwissenschaften, S. 70. 1466 Ebd., Herv. F.S. 1467 Landmann: PuA, S. 201. 1468 Landmann: SaW, S. 90. 1462

1463

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14.3 Typologie und die fragile Ordnung der Welt

später in kulturphilosophischer Wendung als nun die Charakterologie ihrerseits bedingende »Multiplizität selbständiger, womöglich gleich­ berechtigter Lebensformen«.1469 Aus Richtung des kulturschöpferischen Individuums gesehen, wird die Vorgängigkeit und Emergenz des Stils, genauer: des Stil­ haften, verstehbar als Voraussetzung und Zeugnis des durchaus ori­ ginalen Ausdrucks, der eben »nicht bloß abbildende Nachahmung der Seele statt eines Weltobjekts ist, sondern sie im Medium der Gestaltung produktiv umsetzt, sie in Formen sich ergießen läßt, die zuvor nicht in ihr waren und aus denen sie dann dennoch spricht und erkennbar wird.«1470 Dieses Doppelte aber, dass der Mensch sein Innerliches in einer diesem grundlegend heterogenen Form doch zum Ausdruck zu bringen hat und vermag, lässt ihn das Wesen sein, das in einem jeweiligen Lebensstil lebt, der pluralistisch strukturiert und geschichtlich offen ist. Wie für den menschlichen Charakter (als mehr innerlich-dispositionaler Dimension des Menschen) gilt für die Lebensstile, wenngleich vielleicht in schwächerem Maße, dass sie »weder allgemein genug [sind], um ein Schema, noch konkret genug, um ein Spiegel der vollen Wirklichkeit zu sein.«1471 In der vermeintlich trivialen Formel einer Bildung zum Lebensstil (nicht: Bildung eines Lebensstils) reflektiert pluralistische Kulturphilosophie das Bildungsideal ihrer Zeit, ohne damit nur annähernd an die Formu­ lierungsdichte Simmels heranzureichen: »Wir alle sind Fragmente, nicht nur eines sozialen Typus, nicht nur eines mit allgemeinen Begriffen bezeichenbaren seelischen Typus, sondern auch gleichsam des Typus, der nur wir selbst sind.«1472

Landmann: SaW, S. 95. Vgl. DaD, S. 106, wo Landmann den Künstler als »einen eigenen menschlichen Typus, eine legitime andere Lebensmöglichkeit« und: Form­ gründende Erfahrung, S. 11, wo er »Aufsprengen und Formen« als »verschiedene Begabungen gegensätzlicher Menschentypen« aufführt. 1470 Landmann: UuS, S. 130. 1471 Landmann: EuM, S. 94. 1472 Simmel: Lebensanschauung. In: GSG Bd.16. Hg. v. G. Fitzi u. O. Rammstedt. Frankfurt/M: Suhrkamp 1999 [im Folgenden: Lebensanschauung], S. 280. 1469

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15. Philosophie und Anthropologie als Wirkmächte

Nahmen wir mit der Epoche und dem Typus die allgemeinen Kate­ gorien (kategorialen Zugänge) einer sich als Epochologie und Typo­ logie durchführenden Kulturanthropologie in den Blick, so richten wir diesen nun mit Landmann auf ihre philosophiegeschichtlichen Ursprünge, wobei wir sehr selektiv und zugespitzt vorgehen. Es geht dabei vorrangig darum, einen allgemeinen Rahmen aufzuspannen für die dann nachfolgenden Ausführungen zum erkenntniskritischen Sinn von Landmanns Kulturanthropologie und ihrem spannungsrei­ chen Verhältnis zur Philosophie, in dem die Doppelheit des Menschen als ›homo creator‹ und ›homo creatus‹ in der Sphäre des Erkennens wieder auftaucht.

15.1 Vom Zweifel zum Verdacht – moderne Philosophie als Forensik? Der Zweifel wächst – Streifzüge durch die abendländische Philosophie­ geschichte: Wir müssen uns dabei nicht nur was die Zeit und den geographischen Raum betrifft, auf sehr wenige Wendepunkte der sog. westlichen Philosophiegeschichte beschränken, sondern spitzen diese für unser Thema auch inhaltlich zu auf ihr kritisches, genauer: ver­ dächtigendes Motiv. Wir folgen dabei der These von der Neuzeit »als [dem] ›Zeitalter der Verdächtigung‹».1473 Ihr zufolge lässt sich, wenn wir den ganz weiten Bogen von Platon in die Neuzeit schlagen wollen, eine Wende von der moralischen Ontologisierung des Wahren zur subjektiven Hypostasierung des Irrtums ausmachen. In der Nachfolge Platons, für den das Wahre als Wahrseiendes bereits da ist und nur der Mensch aufgrund eines überwindbaren und zu überwindenden Unvermögens dieses Wahrsein (noch) nicht erkennt, »ging die Philo­ 1473

Landmann: Dialektik der Entlarvung, S. 146.

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15.1 Vom Zweifel zum Verdacht – moderne Philosophie als Forensik?

sophie davon aus, daß der Irrtum ein unbeabsichtigter ist und daß wir ihn vermeiden würden, sobald wir ihn vermeiden könnten. Es galt das Sokratische ›Niemand fehlt freiwillig‹.«1474 In der spät sich durchset­ zenden, gegenüber der menschlichen Erkenntnisfähigkeit skeptischen Grundhaltung der Philosophie nimmt Kant v.a. insofern eine Sonder­ stellung ein, als in seiner radikalen Vernunftkritik Subjekt und Objekt der Skepsis gewissermaßen zusammenfallen. Dass die Vernunft in der idealistischen Annahme, ausgerechnet sie sei die Instanz, die einzig ihre eigenen Grenzen erkennen und sich zu setzen vermag, selbst wiederum dazu neigt, ›unkritisch‹ zu werden, deutet Landmann im folgenden Satz über Kant an: »Indem er aus dem dogmatischen Schlummer aufschreckt, lullt er in einen kritischen Schlummer.«1475 Gegenüber dieser idealistischen, wenn man so will erkenntnis­ optimistischen Vernunftskepsis Kants stellt die im 19. Jahrhundert einsetzende materialistische Kritik der Realien in mehrfacher Hin­ sicht einen Bruch dar, sodass erst jetzt vom Verdacht in einem mehr ›forensischen‹ bzw. ›kriminologischen‹ Sinne gesprochen werden kann. Immer noch richtet sich die Kritik der menschlichen Vernunft auf sich selbst, jedoch unter nun eher negativem Wertakzent, was – wie bereits erläutert – der Rede von Illusion und Täuschung erst ihren Stachel ansetzt. Ontologisch gehen Denker wie Schopenhauer, Freud, Marx zwar ähnlich wie Kant von einem Dualismus aus, fokussieren aber umgekehrt zu ihm, für den das ›moralische Vernunftgesetz‹ das ›empirische Leben‹ des Menschen bestimmen soll, wie dessen Überzeugungen faktisch von sinnlichen, willensbezogenen, materiel­ len Neigungen bestimmt sind. Entspringen die Erkenntnisse auch noch beim spätplatonischen Kant ›natürlicherweise‹ einem »reinen Bedürfnis nach Wahrheit«, dessen ›vollständige‹ Entfaltung sie sind – so sind sie für die vernunftkritischen Lebensphilosophen »von hinten her durch elementare Interessen dirigiert […], die aus dem Weltstoff nur eine Auswahl zur Gegebenheit bringen und auch das Gegebene sehr oft von vornherein nur in bestimmten Zurechtfor­ mungen und Verkürzungen zeigen«.1476 Ihr allgemeiner und durchaus fortschrittlich zu nennender Anspruch, »die Erkenntnis als ein Glied im größeren Gefüge einzuordnen und sie mit ihren vitalen Zwecken

1474 1475 1476

Landmann: Schopenhauer und Marx, S. 182 vgl. auch UuS, S. 132. Landmann: P, S. 239. Landmann: Schopenhauer heute, S. XXXIII, Herv. F.S.

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15. Philosophie und Anthropologie als Wirkmächte

zusammenzuschauen«1477, nimmt unter dem Einfluss ihres stark normativen, Geist wie Leben betreffenden Verdachtsmotivs bedauer­ licherweise die zumal lebensphilosophisch problematische, mystisch anmutende Gestalt eines Dualismus von verdeckender Erscheinung und geheimem Wesen an. In dieser Hinsicht ist im quasi neoplatonischen Erkenntnismut phänomenologischer Bemühungen ein Fortschritt zu sehen. »Nicht immer nur das erkenntnistheoretische Messer zu wetzen, sondern eine ›Wende zum Objekt‹ zu vollziehen: das gehörte zum Ehrgeiz des neuen philosophischen Epochalstils.«1478 An dieser Stelle endlich wollen wir kontrastierend einen der prominentesten Zweifler der Philosophiegeschichte noch vor Kant, René Descartes, anführen, mit dem Landmann zufolge das »aus Enttäuschung, aus einem Trauma der Verführten geborene Pathos der Vorsicht, schon immer ein Moment der Philosophie, […] in sein Intensivstadium [tritt].«1479 Dieses Vorsichtspathos ist für Landmann einerseits Kennzeichen der Reife menschlichen Denkens, das sich so etwa »gegen wild wuchernde Gedankenphantastik« zu schützen vermag. Gleichzeitig aber – und dies gilt für Descartes wie für Kant – ist es parasitär insofern als es ein »Interesse an der Welt, die Zuwendung zu ihr, bereits vor­ aus[setzt].«1480 Wie sonst könnte Kant darauf gekommen sein, die Grenzen der Erkenntnis doch erkennen, das heißt erkennend bestim­ men zu wollen und zu können; und wie Descartes darauf, am Ende seiner skeptischen Meditationen umso entschiedener Aussagen über die Beschaffenheit der Materie und des Geistes zu treffen? Skeptisches Denken ist insofern als defensiv-offensives weltzugewandtes Zwei­ feln zu charakterisieren und verliert seine Aussagekraft, je stärker es diese innere Ambivalenz in Richtung einer Abwendung von der Landmann: FA, S. 16. Landmann: EdI, S. 65. Scharfsinnig analysiert Landmann die ambivalente Struk­ tur und paradoxe Dynamik der problematisierenden Aktivität des Skeptikers, der auch als solcher Erkennender bleibt: »Insofern, als er an die Stelle des Bekannten Unbe­ kanntes setzt, gleicht er (wiewohl freilich sein Unbekanntes nicht ein frei erfundenes, sondern ein entdecktes ist) dem Phantasten. Was ehedem durch die Zeit bestätigt schien, wird durch ihn paradox. Insofern aber, als er nicht nur das Selbstverständliche in die Fraglichkeit, sondern dann auch die Fraglichkeit in ein neues Selbstverständli­ ches überführt, erzeugt er wieder den Wissenden. Aber auf keinen dieser beiden Wege darf er sich spezialisieren und den andern unbegangen lassen, sondern er muß sie immer beide hintereinander gehen« (Landmann: EuE, S. 252). 1479 Landmann: WiP, S. 97. 1480 Ebd. 1477

1478

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15.1 Vom Zweifel zum Verdacht – moderne Philosophie als Forensik?

Welt oder auch nur ihrer Reduktion auf vermeintlich gesicherte Aspekte aufzulösen versucht. Wo das defensive Pathos des Denkens »alleinherrschend wird, führt es zur Verkümmerung der Philosophie. Denn es könnte sein, daß wir über geringfügigere Dinge zu sichere­ rer Wahrheit gelangen als über die wesentlicheren Dinge.«1481 Für Landmann sind die phänomenologische Zuwendung zu den Weltdin­ gen und die anthropologisch-existenzphilosophische Hinwendung zu »den tieferliegenden Problemen des Seins, der Geschichte, der Existenz«1482 nicht nur kein Widerspruch, sondern treten vielmehr in seiner Anthropologie als skeptischer Philosophie des Menschen in der Kultur in ein produktives Gespräch. Sinn und Grenzen des (anti-harmonistischen) Zweifelns: Als Pro­ blematisierung des menschlichen Wissens von sich und der Welt in seiner Streuung und Sukzession ist Anthropologie eine dezidiert skeptische Denkform. Sofern ihre Grundannahme der Unhintergeh­ barkeit geistiger wie kultureller Formgebung auch Skepsis und Kritik als kulturell-geistige, wechselnden Lebensproblemen und -aufgaben entspringende Formen einbezieht, begründet sie sich als skeptisches Denken der Skepsis vom Leben her, das heißt als Kulturphilosophie der Kritik. Darin gestaltet Anthropologie das Paradoxon des Geistes, sich aus eigener Kraft Grenzen zu setzen, mehr als es aufzulösen; ihre Gestaltung, d.h. versuchsweise Bewältigung des Paradoxons besteht darin, den Geist grundsätzlich vom Leben her begrenzt sein zu lassen und dies als den Dreh- und Angelpunkt menschlicher Skepsis und Kritik aufzuzeigen. Das für seinen Lebensvollzug primäre und konsti­ tutive Erlebnis des Menschen, sich selbst bekannt und durchsichtig zu sein, so dass es erst einer Herauslösung aus seiner ›natürlichen Eingestelltheit‹ bedarf, um sich thematisch, problematisch, Aufgabe zu werden1483, ist Aufweis der Nachrangigkeit jeglicher Skepsis wie überhaupt ihrer je kulturell-geschichtlichen Abhängigkeit und Getra­ genheit. Von hier aus können wir sehen, wie in Landmanns Philosophie des plural-antinomischen Menschen, so sehr sie selbst einem antiharmonistisch skeptischen Impuls entspringt, dieser Skepsis dann wiederum eine Grenze gesetzt ist. Antinomie und Pluralität wie Landmann als genuin zusammen seiend zu denken, erfüllt hier seinen 1481 1482 1483

Landmann: WiP, S. 97. Ebd. Vgl. Landmann: Die Liebe im anthropologischen Rahmen, S. 162 u. FA, S. 199 f.

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15. Philosophie und Anthropologie als Wirkmächte

erkenntnistheoretischen Sinn, der sich an folgender Stelle wenigstens andeutet: »Weit eher scheint es, als ob diesem in sich selbst antino­ mischen, d.h. vieldeutigen Gegenstand [der Wertsphäre, Anm. F.S.] gegenüber nicht das eindeutige Wissen, sondern gerade […] ein fortgesetztes Zweifeln, das Adäquate sei.«1484 Dass Landmann hier bemerkenswerterweise ›antinomisch‹ mit ›vieldeutig‹ gleichsetzt, ist zwar philosophisch unscharf, da ein Vieldeutiges eine Einheit (die des Gedeuteten) voraussetzt, die im Gedanken der Antinomien ja gerade nicht impliziert sein soll. Gleichzeitig ist es aufschlussreich durch den Hinweis darauf, dass die Antinomien immer auch eine Pluralität, das heißt eine Vielheit von je Individuellem sind. Die gegebenen Weltdinge können eben auch nicht auf jene Aspekte reduziert werden, durch die sie für den skeptisch denkenden und erlebenden Menschen als Antinomien gekennzeichnet sind; die Aporetik bildet Intensivstufe und Grenze des anti-harmonistischen Zweifelns, auf deren ›anderer Seite‹ die ›harmonische‹ Fülle der je individuellen Lebensgestalten sich aus- und von der aus sie dem erkennenden Geist zuströmt.1485 Der Sinn klassifikatorischer Vorsicht und der klassifikatorische Erkenntnisgewinn: Unter den Voraussetzungen von Landmanns Kul­ turanthropologie lässt sich entsprechend der Sinn einer Zurückhal­ tung klassifizierenden Denkens ebenso bestimmen wie der spezifi­ sche Erkenntnisgewinn durch ein solches Denken. Zurückhaltung und Vorsicht sind geboten, da jede »Erkenntnisabbildung ihre Grenze [hat]. Es gibt Erstreckungen des Seins, die sie schlechterdings nicht in sich aufnehmen kann.«1486 Entsprechend dürfen etwa die Kate­ gorien der Epoche und des Typus diese Erkenntnisgrenzen nicht übertreten, sondern müssen sich umgekehrt als Kategorien einer über­ haupt sichtbarmachenden, historisch-typologischen Deutung (nicht Abbildung) von Prozessen und Zusammenhängen in der Welt aus diesen Grenzen ergeben. Epochologie und Typologie sind kritische Unternehmungen geistig-kategorialer Verarbeitung jener Singulari­ täten, die ebenso wenig bewiesen werden können wie Strukturen, Landmann: SaW, S. 68. Eine andere Fassung dieses Gedankens haben wir in dem komplizierten Zusam­ menhang zwischen den Antinomien der Kultur auf der einen und der Antinomie von Geist und Leben als einem irgendwie eigenqualitativen, ihnen gewissermaßen übergeordneten Verhältnis auf der anderen Seite, in dem sich das (antinomische) Denken als dem Geist zugehörig selbst antinomisch auf das es unüberschreitbar begrenzende Leben bezogen sein lässt. 1486 Landmann: EuE, S. 249. 1484 1485

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15.2 Zwischen System und Prozess, Problem und Fülle

das heißt: die nur angenommen und ›dem Sein‹ unterstellt werden können.1487 Gerade aber aus der erkenntniskritischen Zurückhaltung bezüglich kategorialen Denkens eröffnet sich nun für Landmann eine Hinwendung zu den Phänomenen in ihrer ›einfachen‹ Gegebenheit, die freilich nicht letztbegründet werden kann, d.h. angenommen wer­ den muss (und in der erkenntniskritischen Annahme bzw. Haltung bereits impliziert ist). Kulturanthropologie i.S. Landmanns greift die Phänomene in der Nachfolge von Lebensphilosophie und Phänome­ nologie dort auf, »wo sie noch gewachsen und schlicht sind. Vor der logischen Verästelung liegt die Anschauung des Ganzen oder die hinleitende Impression. Es ist darin auch ein Bewußtsein der Kraft, die sich nicht schon im ersten Moment ganz einsetzt«.1488 In dieser ›Anschauung des Ganzen‹, d.h. des je Konkret-Individuellen, werden anthropologische und ontologische Perspektiven produktiv vermittelt. Nicht kommt wie bei Platon das Chaos menschlicher Weltbezüge in einer statischen Ontologie zur Ruhe; sondern umge­ kehrt wird die ›geordnete Geschlossenheit‹ menschlichen Welt- und Selbsterlebens mittels einer dynamischen, stratifikatorischen, plura­ listisch-antinomischen Ontologie in öffnende Aufruhr versetzt. In dieser ›ontologischen Fixierung‹ von Pluralität und Differenz gewinnt das kulturanthropologische Erkennen neuen Mut und eröffnet sich, von den aus dem geschichtlichen Material der Forschung gewonne­ nen »spezielleren Kategorien […] weiterzuschreiten zu Wesen und Formen, einheitlicher Konfiguration, Bewegungskräften und rhyth­ mischem Ablauf der Kulturen überhaupt, also zu einer allgemeinen Kultur- und Geschichtsstrukturlehre.«1489

15.2 Zwischen System und Prozess, Problem und Fülle – Philosophie und Kulturanthropologie im Ensemble Der doppelte Anspruch jeder Philosophischen Anthropologie, unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Einzelwissenschaften (insb. Vgl. Landmann: PuA, S. 200. Landmann: Gespräch mit Ernst Bloch (Tübingen 1967), S. 22. Dieses ›Haushal­ ten‹ der eigenen Erkenntniskraft steht in Zusammenhang mit der bemerkenswert erkenntnisoptimistischen Annahme, der »Zweifel des Descartes kommt immer noch früh genug; der Geist darf nicht unmittelbar und zu schnell mit ihm einsetzen« (FA, S. 34). 1489 Landmann: Institute für Epochenwissenschaften, S. 81. 1487

1488

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15. Philosophie und Anthropologie als Wirkmächte

der Lebenswissenschaften) diese philosophisch verallgemeinernd zu reflektieren und zu systematisieren, ist im Rahmen des nicht span­ nungsfreien Verhältnisses von Anthropologie und Philosophie zu sehen. Dies zeigt sich bei Landmann schon daran, dass er in De homine Philosophiegeschichte als Anthropologiegeschichte betreibt, dagegen in Was ist Philosophie? die Anthropologie als eine der Disziplinen der Philosophie aufführt. Ihr Verhältnis bleibt insgesamt diffus und uneindeutig; wir wollen ein paar ihrer zentralen, wechselseitig ebenso erhellenden wie korrektiven Bezüge aufzeigen. Philosophie als »Gesamtdeutung von Welt und Leben« und als Welle im Kulturstrom: Schon in sich ist die Philosophie ambivalent, wenn sie einerseits beansprucht, selbst »den geistigen Entwurf, aus dessen Horizont alles Einzelne heraustritt, [eine] Gesamtdeutung von Welt und Leben«1490 abzugeben, andererseits den Plural von Philosophien anerkennt, die ihrerseits »nur Verdichtungspunkte brei­ terer, umfassenderer Strömungen, nur Überkreuzungspunkte älterer und weitergehender Problemlinien«1491 sind. Diesen Doppelaspekt nimmt Landmann, Simmel folgend, in seiner erkenntnisvoluntativen Fokussierung auf, durch die Philosophie als eine bestimmte Form und Weise des Wissensverlangens verstehbar wird. Nicht mehr daß es diese oder diese Gegenstände angeht, macht dem­ gemäß nach Simmel das Erkennen, sondern ›eine bestimmte geistige Attitüde zu Welt und Leben‹, eine ›gleichsam formale Bewegtheit des philosophierenden Geistes‹ macht die angegangenen Gegenstände phi­ losophisch.1492

Damit ist das kreativ-konstruktive Moment der geistigen Welther­ vorbringung betont und der Bereich dessen, was der Philosophie zum Gegenstand, zum Problem werden kann, prinzipiell erst einmal entgrenzt, woraus ihr der Anspruch erwächst, Gesamtdeutung zu sein. Menschliche Erkenntnis fügt mit ihren schöpferischen Erzeugnissen der Kultur nicht nur Inhalte, Bezüge, Dimensionen hinzu, sondern ist, was ihre Grenzen und Aufgaben betrifft, ihrerseits Produkt der Kultur und als solche wie alles Kulturelle wandelbar: »es gibt keine philosophia perennis. Wenn neue Erkenntnisse gewonnen werden, dann ist es nicht nur das Verdienst des Erkennenden, sondern der 1490 1491 1492

Landmann: UuS, S. 13. Landmann: MSGK, S. 21. Landmann: P, S. 379 f.

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15.2 Zwischen System und Prozess, Problem und Fülle

veränderten Kultur, in der sie gleichsam reif wurden.«1493 Mit der Fokussierung seiner dem Leben entströmenden Dimensionen, das sind Nichtwissen, Problembewusstsein und Wissensverlangen, ist das philosophische Erkennen – vor seiner ›Autonomisierung‹ zur Erkenntnis – in seiner geschichtlichen und kulturellen Wandelbarkeit gesehen. Die in isolierender Betrachtung gesehene (bzw. unterstellte) Kontinuität und Fortschrittlichkeit der philosophischen Denkformen wird ersetzt durch die epochologische Inblicknahme ihrer jeweiligen »Verwandtschaft mit andern Kulturdomänen, mit denen gemeinsam sie Ausdruck derselben Epoche ist, die geschichtliche Einheit der Philosophie durch die gegenwärtige Einheit des Zeitgeistes.«1494 Als Erkenntnis hingegen, das heißt: im Aspekt der speziellen Abgeschlossenheit, die das Leben für sie als Erkennensgegenstand notwendig annehmen muss, hat Philosophie, obwohl als Wissensver­ langen dem Leben entströmend, in dieser Fixierung des Fluiden, etwa in der abstrahierenden Deutung eines konkret Gegebenen als speziel­ len Fall des menschlichen Wissensverlangens, »eine Gegenwendung zum Leben zur Voraussetzung«.1495 Es ist genau dieses ambivalente Verhältnis von Philosophie und Leben, das sie sich wechselseitig an ihren Grenzen steigern, intensivieren, im Kontrast kristallisieren und erhellen macht. Entsprechend ist nicht nur jede Philosophie daraufhin zu überprüfen, wie und an welchen Stellen sie ihre Gegen­ stände übermäßig an sich abformt und so unangemessen verformt, sondern auch umgekehrt gewinnt der Mensch ›als Lebewesen‹ in philosophischen Inhalten und Zugängen Referenzpunkte einer Kritik der selbst nicht erschöpfend über sich Auskunft geben-könnenden, außererkenntnismäßigen Dimensionen des Lebens. »Gebrochene Dogmatik« als »produktive Einseitigkeit«1496: Sein analytisches wie kritisches Potenzial entfaltet der Philosoph in Land­ manns Verständnis nicht allein, wie es seit Platon immer wieder vorgestellt worden ist, in distanzierender Erhebung über das kon­ krete Seiende und mit dem Anspruch auf dessen umfassende und objektive Abbildung in der Erkenntnis, sondern auch aus seiner erlebten Verwobenheit mit diesem. Er registriert es »nicht nur sich 1493 Landmann: Materialien zur Selbstdarstellung, S. 275, vgl. außerdem ZaS, S. 12, Anm. 15b u. EdI, S. 179. 1494 Landmann: WiP, S. 103, Herv. F.S. 1495 Landmann: P, S. 46. 1496 Vgl. Landmann: EdI, S. 189 u. 184.

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gegenüber, sondern spricht es auch als das aus, als was er es sich selbst durchwalten fühlt. Und dies ist eben der Grund, weshalb er es trotz allem nur in einseitiger Belichtung erfaßt, in der nicht jeder seine eigenen Erfahrungen wiederzuerkennen braucht.«1497 Ihre Einseitigkeit lässt Philosophie unhintergehbar Dogmatik sein ebenso wie die Gebrochenheit der Dogmatik die Einseitigkeit der Philosophie produktiv werden lässt. Diese Produktivität besteht allerdings nicht darin, das ontologisch vorausgesetzte einheitliche ›Ganze der Welt‹ in einem ›System der Philosophie‹ zu spiegeln, sondern aus der mittleren resp. gebrochenen Distanz zu sich selbst als Erkenntnis heraus das menschliche Welthaben anthropologisch, das heißt die Plu­ ralität der Menschseinsweisen und Welt- resp. Kulturhabensweisen zu begründen.1498 Diese Distanz zu sich selbst (das heißt: die Offen­ heit für das je konkret Vorliegende) produktiv aufrecht zu erhalten, den »Widerstreit der von ihm klar erkannten Pluralität der Kulturen und der einen unwandelbaren Wahrheit, zu der der Philosoph ja doch hinstreben muß«1499 zu gestalten – dies bildet die spezielle, allerdings herausfordernde Aufgabe. Wie in der Vernatürlichung seiner Kultur insgesamt täuscht sich der Mensch auch im Allwahrheitsanspruch seiner Philosophie über deren Kontingenz und Einseitigkeit hinweg. Dass das Kulturelle für ihn nur unter der Suggestion seiner Einheit­ lichkeit und Letztgültigkeit Lebensform zu werden vermag, eine Suggestion, die der kulturellen Pluralität ebenso entgegensteht wie sie hervorbringt – diese Paradoxie gilt auch für die Philosophie: Wir müssen das Ewige wollen, um das Vergängliche zu gewinnen. Wird uns die Hoffnung auf jenes zerstört, so gelingt uns nicht einmal dieses. Aus dem Ideal des einen Abschließenden entspringt die Wirklichkeit des vielen Wechselnden. Nur weil jede Überzeugung sich für definitiv hält, lösen Überzeugungen einander ab.1500

Das Geistige vom Kulturleben und seiner unumgänglichen Parado­ xie her zu begreifen, stellt die Philosophin vor die Aufgabe, nicht Landmann: PuA, S. 241. In diese Richtung scheint mir Schürmann zu weisen, wenn er über Plessners Anthropologie schreibt: Weil diese »sich selbst als exzentrisch verfaßt weiß, ist sie Weltphilosophie: reflektierte Grundlosigkeit schützt ihre leidenschaftliche Vernünf­ tigkeit vor jedem Weltbild-Imperialismus« (Plessners parteiliche Anthropologie, S. 18). 1499 Hilckman: Der Mensch und die Kultur, S. 360. 1500 Landmann: EdI, S. 189. 1497

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in Übergehung der Pluralität und »Verzwicktheit der Probleme in ihrer ganzen Ausdehnung«, sondern gerade um beiden gerecht zu werden, »an demjenigen System zu arbeiten, das für jene Vielheit und Verzwicktheit gleichwohl Raum hat.«1501 ›Philosophie und Philosophieren‹ als Ausdruck der anthropologi­ schen Grundspannung: Wir sehen, wie der Inhalt, als den der geistige Weltzugang des Menschen das Kulturleben denkend erfasst, d.i. die Grundspannung von strömender Kreativität und kultureller Objekti­ vität, auf ihn selbst zurückstrahlt: So sehr bei der Entstehung von Philosophien »mutiges Hinausgreifen ins Unbekannte am Werke gewesen sein muß, so sehr machen sie nun durch ihr eigenes Vorhan­ densein diesen selben Mut scheinbar überflüssig und verschleiern uns, daß wir seiner eigentlich nach wie vor bedürften.«1502 Wie Kreativität und Kultur, so fasst Landmann auch das bewegt-bewe­ gende Denken und die Wahrheit, in der es seinen vorläufigen Ruheund Haltepunkt findet, als Phasen bzw. Momente eines kontinuierli­ chen Prozesses, als verschiedene Aggregatzustände des einen Lebens. »Auch das Denken ist ein Leben und auch die Wahrheit ist einerseits die notwendige Grenze, andrerseits aber […] doch nur wie eine Phase dieses Lebens. Ihr scheinbar unauftaubar starres Gebilde gerät so in Fluß.«1503 Wenn hier durch eine – der Semantik des Vitalen entnom­ mene – Metaphorik ›bruchloser Transformation‹ von Geist und Leben diese fast harmonistisch ineinander verführt werden, so fokussiert die – mehr simultaneistisch-konstellatorische – Betrachtung von Philosophie als fixem System (Ganzheit) und Philosophieren als freier Reflexivität (Element) den konfrontativen Aspekt ihres Verhältnis­ ses: »Auch philosophische Systeme waren höhere Ganzheiten. Sie begrenzten das Element der Reflexivität nach ihren Notwendigkeiten. Im Aufstand der Umklammerten zu neuem Schöpfungsmorgen hat auch die Reflexivität eine Chance.«1504 Wie hier von philosophischen Systemen im Präteritum, so spricht Landmann an anderer Stelle von den »Zielen der bisherigen Philosophie«, aus deren Umklammerung das »Element der freien Reflexivität« zu befreien wie überhaupt für es einzutreten er bestrebt ist.1505 Sofern Philosophie als System 1501 1502 1503 1504 1505

Landmann: EuE, S. 57. Ebd., S. 231. Landmann: P, S. 375. Landmann: EdI, S. 180. Ebd., S. 171, Herv. F.S.

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›thetisch regiert‹, bezieht das Philosophieren »den Sinn radikaler Skepsis« unter dem Anspruch, »die Weisheit durch das ›Streben nach ihr‹, die statische Wahrheit durch das Prozessuale der unendlichen Bewegung auf sie hin zu ersetzen.«1506 Sofern das philosophische System ebenso sozial-kulturell gesichert ist wie selbst einen Rückhalt der kulturellen Überlieferung insgesamt bildet, wirkt das Philoso­ phieren entsichernd.1507 Für ein »radikales und absolutes Problematisieren«? Beide Betrachtungen, die metaphorische und die konstellatorische, kommen schließlich zusammen in einem räumlich-vitalen Bild, das aufschluss­ reich ist auch für die Frage nach einem »radikalen und absoluten Problematisieren«, von dem bereits kurz im 9. Kapitel dieser Arbeit die Rede war: Anders ist das Wissen völlig unzusammengesetzt, es ist nichts als das vertrauensvolle Ruhen in einer für vollendet erachteten Deutungs­ welt. Das Erkennen dagegen ist kein schlichtes Ruhen, sondern eine komplexe Tätigkeit, es hat keinen einen Standpunkt, sondern nur eine gegliederte Bewegungsfläche.1508

Das präzise Bild einer ›gegliederten Bewegungsfläche‹ lässt zwei für das Erkennen resp. Philosophieren typische Aspekte deutlich werden, die sich nur dem Anschein nach widersprechen. Dass es ›keinen einen Standpunkt‹ hat, ist nur eine anderer Ausdruck dafür, dass es für sich betrachtet in mehrere Richtungen bewegt und beweglich, orien­ tierungsoffen ist und seine Kraft deshalb wohl umso entschiedener in die Kritik der starren Wissensformen, in denen es seine Angriffs­ punkte findet, kanalisiert. So sehr das chaotische Erkennen gerade und nur an der Geformtheit des Wissens sich selbst als Bewegtheit gewinnt und bewusst wird, so sehr kann es die gewonnene Kraft nun darein setzen, »den geschlossenen Deutungskosmos […] wieder ins Chaotische [zu] zerspreng[en].« Und fast so, als würde es aus der selbstkritischen Ahnung heraus, es könne nicht immer Chaos, nicht alles bloße Bewegung sein, Vorsorge leisten, um seinen Widerpart Landmann: EuM, S. 41. Vgl. Landmann: The means as an end in itself – Europe as the perfection of mankind. In: History of European Ideas 3 (1981), S. 187: »The individual’s aspiration to additional and more precise knowledge, under the guidance of the idea of the true, changes truth into a movement out of which many theoretical points of view develop«. 1507 Landmann: EuM, S. 41. 1508 Landmann: EuE, S. 251. 1506

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nicht zu verlieren, zersprengt es den anvisierten Kosmos »doch nur, um einen andern solchen Kosmos dann seinerseits aufzubauen.«1509 Liegt aber ein »Verlangen nach Haltgewährendem«, ein Bestre­ ben, den aufgerissenen Abgrund […] wieder spekulativ zu überbrü­ cken«1510 nicht erst in der Philosophie als Form, sondern bereits im Philosophieren als Bewegung, so ist auch dieses gegen solcherlei Ver­ festigungstendenz zu wappnen. Dies jedoch nicht durch Verdrängung ihres eigenen Form- und Haltstrebens, sondern im Gegenteil durch dessen geistig-konstruktiven Einbezug in die eigene Bewegtheit. Als ein solcher Einbezug kann (nicht erst) Landmanns erkenntnistheo­ retische Wendung zur Problematik und seine ontologische Wende zur Aporetik verstanden werden. In ihrer Öffnung zur Ontologie – das heißt in der Annahme, es gäbe »gleichbleibende Probleme, auf die die Philosophie durch ihr Gestelltsein in die immer gleiche Welt immer wieder stößt: die Probleme des Seins, des Menschen, des Zusammenlebens, des Guten, der Erkenntnis«1511 – wendet sich Philosophie ihrem eigenen Form- und Haltewunsch positiv zu; in ihrer Ausrichtung der Ontologie als Aporetik, die sie sich selbst als Problematik ermöglicht, bewahrt sie sich davor, im Halt auf der Endhaltestelle zu treten.1512 Die Vermittlung von Geist und Leben realisiert sich bei Landmann in einer Philosophie von Kultur als der ›natürlichen‹ Lebensform des Menschen. Insofern der Mensch in den Weltdingen stets auch sich selbst befragt, und zwar auf eine anthropo-logische Weise, das heißt: suchend nach den Bedingungen der Möglichkeit eines Lebewesens, das (eine) Welt hat, dem sich ihre Elemente als Dinge darbieten – insofern ist Philosophie als solche Anthropologie: »ein seinsmäßiges Sich-hineinstellen in die Dinge selbst, das einen auf der gesamten Lebensfläche in Wechselwirkung mit ihnen bringt.«1513 Landmann: EuE, S. 251. Ebd., S. 253. 1511 Landmann: WiP, S. 103 u. 107 sowie P, S. 335. 1512 Erkenntnispsychologisch zeigt sich diese Ambivalenz der Philosophie im para­ doxen, ja absurden Erleben einer mildernden, ja heilenden Wirkung gerade des (erhöhten) Problematisierens. »Ihre Aufgabe vielmehr ist es ebenso sehr auch, die Fragen wachzuhalten und dadurch, daß sie sie in voller Schärfe fühlbar werden läßt, vor zu leichten Lösungen zu bewahren. [...] Vielleicht aber kann sie auch schon allein dadurch, daß sie den Fragen ins Auge blickt und sie furchtlos ausspricht, medicina mentis sein und die dumpfe Unruhe, die in uns gärt, wenigstens mildern, indem sie sie klärt« (Landmann: GuL, S. 104). Vgl. dazu auch WiP, S. 94. 1513 Landmann: P, S. 255. 1509 1510

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Kulturanthropologie als interdisziplinär engagierte, »vergleichende Menschheitswissenschaft«: Von hier aus lässt sich erhellen, inwiefern sich eine Anthropologie, die Philosophie des ganzen Menschen zu sein beansprucht, für Landmann nur als Kulturanthropologie denken und ausführen lässt. Wie in der Fokusverschiebung von Philosophie auf Anthropologie die objektivistische Vorstellung einer die Substanz der Weltdinge abbildenden Vernunfterkenntnis überwunden ist, so beansprucht die Vertiefung von Anthropologie in Kulturanthropolo­ gie, den Menschen entgegen subjektivistischer resp. anthropomor­ phistischer Verkürzungen als Weltwesen, das heißt: ganzheitlich zu fassen. Und wie sie ihren Gegenstand, den Menschen, als Einheit und Ganzheit begreift, so beansprucht sie auch selbst, einheitlich und »eine ausgesprochene ›Ganzheitswissenschaft‹»1514 zu sein. Anders, sagen wir stärker als Philosophie, deren Produktivität gerade in ihrer Einseitigkeit besteht, zeichnet sich Kulturanthropologie durch die breite Berücksichtigung und Aufnahme interdisziplinärer Wissens­ inhalte aus, die sie bündelt und zur Basis ihrer dann freilich phi­ losophisch-anthropologischen, synthetisch verdichtenden Deutung nimmt. Vermeintlich weit entfernte Gebiete wie Humanbiologie und Geistanthropologie treten so in ein gemeinsames Gespräch und »müs­ sen als Glieder der einen Menschheitswissenschaft jede das Wissen der andern im Hintergrundbewußtsein tragen.«1515 Wie im Quer­ schnitt durch den Menschen als Lebe- und Geistwesen, so bildet sie »als ›vergleichende Menschheitswissenschaft‹» auch im Längsschnitt durch die Geschichten seiner Kulturen »eine Grundlagendisziplin« für die Geistes- und Kulturwissenschaften.1516 Umgekehrte Fragerichtung – »Pluralistische Metaphysik« und der »ursprüngliche Mensch«: Wie Philosophie, so geht auch Kulturan­ thropologie von einer Pluralität des ontisch Gegebenen aus, nur dass erstere einen geringeren Abstraktionsgrad erreicht, wenigstens sofern sie auf eine inhaltliche ›Gesamtdeutung von Welt und Leben‹ abzielt. Letztere dagegen lässt die Pluralität des ontisch Gegebenen auch metaphysisch rückverankert sein; in Umkehrung der philoso­ Landmann: FA, S. 200. Landmann: PA, S. 156 f. Vgl. auch FA, S. 272 u. PA, S. 40. 1516 Landmann: PA, S. 40, Herv. F.S. Der Terminus ›vergleichende Menschheitswis­ senschaft‹ stammt von Rothacker, vgl. Frank Tremmel: »Menschheitswissenschaft« als Erfahrung des Ortes. Erich Rothacker und die deutsche Kulturanthropologie. Mün­ chen: Herbert Utz 2009. 1514

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phisch-monistischen Tendenz behauptet sie, »daß die Welt auf einer irreduziblen Vielheit von Prinzipien beruht.«1517 Damit vermag Kul­ turanthropologie, wenigstens dem Anspruch nach, was der Philo­ sophie als solcher tendenziell verborgen bleibt: die Pluralität und Geschichtlichkeit im Denken der Welt selbst metaphysisch zu begrün­ den in der ›Pluralität der Welt‹. Mit anderen Worten: sobald und sofern Philosophie tatsächlich beansprucht, die Pluralität des ontisch Gegebenen aus sich heraus, allein mit ihren Mitteln zu begründen, stößt sie an ihre Grenzen resp. Voraussetzungen, das heißt auf ihre Geschichtlichkeit – als Philosophie der Geschichte aber ist sie bereits Philosophie der Kultur als solcher, das heißt Anthropologie. Wiede­ rum anders gesagt: in der Anthropologie der kulturellen Pluralität hat die Philosophie eine externe Referenz für die Begründung und Legitimierung der Pluralität auch ihrer Formen1518, so wie erstere in der letzteren einen Teil ihres den Menschen bezeugenden Materials. Ausgehend von diesem Material stellt Kulturanthropologie die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Pluralität, die nicht mit der metaphysischen Frage nach der Pluralität des ontisch Gegebenen zusammen- und auch in der Beantwortung inhaltlich anders ausfällt. Die Pluralität des Menschen hat nämlich gerade kein metaphysisches Homologon, sondern in dessen konstitutiver Unbe­ stimmtheit resp. Weltoffenheit lediglich ein formal-anthropologisches Äquivalent. Nicht obwohl, sondern weil die multiplen Wirklichkeiten des Menschen den unverhandelbaren Anreiz der kulturanthropolo­ gischen Frage bilden, muss diese derart gestellt und ihre Antwort derart formal sein, dass sie diese multiplen Wirklichkeiten allesamt einbegriffen sein lässt. Philosophische Anthropologie kann demgemäß nur Anthropologie der Möglichkeit sein: sie zieht gleichsam den geometrischen Ortsbogen, auf dem die Kulturen liegen, deren Füllung durch konkretes Sosein sich jedoch nicht aus verbindlichem Allgemeinheitsdenken, sondern aus dem instituierenden Leben ergibt.1519 Landmann: PA, S. 104 f. Vgl. Landmann: P, S. 392. 1519 Landmann: FA, S. 145. Das Verhältnis von Kulturanthropologie und Pluralität resp. Geschichte ist dabei zweiseitig: Einerseits lässt sich die Kulturanthropologie des schöpfungsoffenen Menschen von der Geschichte (den Geschichten) kritisch belehren über die Unselbstverständlichkeit menschlicher Pluralität insofern diese für den Men­ schen eben auch ›negativ‹ verfügbar, d.h. verfehlbar, seine Freiheit insofern ›grundlos‹ ist. Andererseits klären die Geschichten des Menschen als Zeugnisse seiner kulturellen 1517

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Als ›Anthropologie der Möglichkeit‹ ist ihr, deren Basis die kulturel­ len Wirklichkeiten im Gesamt bilden, jede einzelne Kultur anthropo­ logisch verdächtig, denn »der ursprüngliche Mensch wird von ihr verdeckt, ist unter ihr wie verborgen. Um ganz zu erfahren, wer wir sind, müssen wir uns daher aus ihr wieder herausreißen.«1520 Damit steht Kulturanthropologie in der Spannung, Grundlagendisziplin der »das historisch zutage getretene Kulturelle in seiner wechselnden Fülle« behandelnden Geisteswissenschaften zu sein, zugleich aber (und teils dem entgegen) fundamental-anthropologisch »die Funktion von Kultur überhaupt am Menschen überhaupt und die Funktion des Menschen an ihr«1521 zu erhellen. Die »ideologische Offenheit der philosophisch-anthropologischen Denkmotive«1522: Der doppelte Bezug der kulturanthropologischen Betrachtungsweise, von den konkreten Lebensformen und Selbstbil­ dern des Menschen ausgehend nach deren formalem Ermöglichungs­ prinzip zu fragen, kehrt wieder als ihr doppelter Anspruch, zwar Quelle einer Kritik von Menschenbildern, selbst aber ›ideologisch offen‹ zu sein. Dieser Anspruch ist so konsequent wie problematisch. Konsequent insofern als ihr zentraler Inhalt – die Offenheit des Men­ schen – von der Kulturanthropologie nicht nur aus ihrer offenen (das heißt: weitest möglichen) Frage nach ihm gewonnen wird, sondern sich als Offenheitsanspruch auf sie als der ›geistigen Form‹ dieses Inhalts rücküberträgt. Wenn Kulturanthropologie »von einem über­ zeitlichen Wesen des Menschen spricht, dann hat sie nur eine formale Struktur im Auge, und zwar eben die innere Offenheit, vermöge deren der Mensch sich im Lauf der Geschichte immer wieder zu einem andern macht.«1523 Dass dieses zirkuläre Verhältnis von Gegenstand und Erkenntnis, in dem sich beide aneinander stützen und durch­ einander erfüllen, problematisch ist, lässt Kulturanthropologie an ihrer im Gestus ideologischer Offenheit auftretenden Deklaration metaphysischer und ethischer Enthaltsamkeit deutlich werden. Für sie ist der Mensch ein Lebewesen eigentümlicher Art, das sie deskriptiv, durch den Vergleich mit andern Lebewesen, durch trans­ Pluralität (Offenheit) die Anthropologie über dessen insofern unschließbare ›utopi­ sche Horizonte‹ auf. 1520 Landmann: MSGK, S. 75. 1521 Ebd., S. 11. 1522 Plas u. Raulet: Einleitung zu: Philosophische Anthropologie und Politik, S. 27. 1523 Landmann: PA, S. 49.

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zendentalen Regress von seinen Kulturleistungen, zu erfassen sucht. Metaphysische und ethische Aussagen liegen ihr dabei fern.1524

Wie in dieser Arbeit zu zeigen versucht wurde, liegt Landmanns Kul­ turanthropologie allerdings ein pluralistisches Vor- und Werturteil zugrunde, auch wenn sie dieses nicht, wenigstens nicht in Form von Aussagen, explizit formuliert. In der Annahme, es handle sich beim Ausgehen von der menschlichen Pluralität um eine metaphysisch und axiologisch uninteressierte, rein-formale Denkbewegung, täuscht sie sich über ihren geistigen Bezugskontext hinweg. Gerade Landmanns Werkgeschichte zeigt, wie die formale (Frage der) Anthropologie einer Philosophie der Pluralität menschlicher Kulturen und Werte bereits entspringt. Eine Philosophie der Wertepluralität ist jedoch, wie mir scheint, ohne den vorausgesetzten Wert der Pluralität selbst ebenso wenig zu haben wie eine Ontologie des Werdens ohne Metaphysik der Prinzipienvielheit. In der Hinwendung zur Welt in ihrer Vielheit hat die Kulturanthropologie ihren blinden Fleck; ihre Offenheit ist nicht allein eine für die erst zu entdeckende und begründende Plu­ ralität, sondern selbst bereits Ausdruck dieser Pluralität als Wert. Entsprechend betrifft der von Volker Spierling für die geisteswissen­ schaftliche Pädagogik geltend gemachte Verdacht auf Dogmatik auch die ihr verwandte Kulturanthropologie. Mit ihm lässt sich die kritische Frage formulieren, inwieweit auch im unendlich öffnend anmutenden pluralistischen Wert- und Vorurteil der Weltbezug des Menschen auf problematische Weise reduziert, entsprechend bei der kulturanthro­ pologischen Betrachtung von »einer wertunterstellenden Verkürzung der Tendenz zur Weltbindung«1525 zu sprechen ist. Die Form als Inhalt – Kulturanthropologie als Transzendental­ analytik des anthropologiegeschichtlichen Menschenwesens: Es gibt eine bemerkenswerte Stelle, an der Landmann selbst das Ineinander von Form und Inhalt der Kulturanthropologie formuliert und die uns eine Grundlage bietet, um diese als Versuch einer Vermittlung von geschichtlicher Fülle und formaler Bestimmung, als Transzenden­ talanalytik des anthropologiegeschichtlichen Menschenwesens1526 zu verstehen: Landmann: FA, S. 32. Volker Spierling: Skeptische Pädagogik, S. 386, Herv. F.S. 1526 Landmann spricht von einer »Tieferlegung und Erweiterung des Transzendenta­ lismus« (PA, S. 39) in der Kulturanthropologie sowie von ihrem »historischen Apriori« (FA, S. 148).

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Verglichen mit den früheren, noch inhaltlich gefüllten Menschenbil­ dern ist das unsrige sehr viel formaler. Mit Inhalt gefüllt kann es immer nur von einer konkreten Kultur, vom konkreten Menschen werden. Und auch daß es dies werden muß, liegt in unserem Menschenbild beschlossen. Hierin, sowie in der Aufgabe des Menschen, frühere Erfüllungen zu bewahren, mag man doch noch einen Restbestand an »materialer Anthropologie« finden.1527

Der in Abgrenzung von ›noch inhaltlich gefüllten Menschenbildern‹ erhobene Anspruch der Kulturanthropologie auf erhöhte Formalität führt nicht erst selbst auf die Bestimmung von Kreativität und Tradi­ tionalität, Schaffen und Bewahren als Prinzipien des Menschseins; sondern die keineswegs voraussetzungsfreie Vorstellung, der Mensch bzw. etwas am Menschen ließe sich formal bestimmen, eröffnet sich erst aus der Insichtnahme der heterogenen, verstreuten Zeugnisse seiner Geschichten als Ausdruck allgemeinerer Prinzipien und als durch diese ermöglicht. Das von Landmann im Zitat so genannte Men­ schenbild, das die Kulturanthropologie ist, eröffnet sich ihr aus der formal-inhaltlichen Frage Wie müssen wir den Menschen in Anbetracht seiner irreduziblen Vielheit verstehen? bzw. Was ist der Mensch als Wesen, das sich selbst Lebensformen, Selbst- und Weltbilder gibt? In dieser Frage-Stellung ist die Anthropologin nicht nur derart positio­ niert, dass sich »das Zeugnis der Geschichte« des Menschen als »das unendliche Inventar seiner Spezifikationen vor [ihr] ausbreitet«1528, sondern auch derart, dass es ihr unter einem anthropo-logischen Gesichtspunkt thematisch und interessant wird. Die Perspektivität der kulturanthropologischen Betrachtung selbst bildet den Rahmen ihrer Systematik und bestimmt den Grad ihrer Formalität; insofern ist sie auch als formale, »auf den letzten Ursprung zurückführende Begründung«1529 des Menschen zugleich selbst nur eine weitere, individuelle Ausgestaltung in der Geschichte der Anthropologie.1530 Dass sie als geistige Aktivität aus ihrem Standort heraus über das jeweilige Leben der Menschen allgemeinere Aussagen zu treffen vermag, impliziert bereits die Annahme, dass dieses Leben sich selbst Landmann: MSGK, S. 99. Landmann: PA, S. 194. Vgl. auch MSGK, S. 26 u. FA, S. 37. 1529 Landmann: PA, S. 39. 1530 Auf diesen Zusammenhang richtet sich m. E. der Einwand Odo Marquards in seinem Aufsatz Zur Geschichte des philosophischen Begriffs »Anthropologie« seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts in ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilo­ sophie. Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 215, Anm. 7). 1527

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geistig transzendiert, was aber nur eine andere Formulierung der anthropologischen These vom sich selbst formenden Menschen ist. Die dem Leben immanente Transzendenz des Lebens1531 ist unent­ wirrbar ebenso Antwort auf die anthropologische Frage wie Voraus­ setzung dafür, diese stellen zu können. Die Lebens- und Denkformen des Menschen liegen der pluralistisch vorurteiligen Kulturanthropo­ login nicht wie vereinzelte Partikel, sondern spezifisch gegliedert vor: als Ausdruck-von, als Entwurf-für. Sie sind ihr als etwas anschaulich, das je schon über sich hinausgeht und hinausweist; insofern hat sie auch für ihren Entwurf in der Geschichte der geistigen Formen des Menschen ihr ›ausgezeichnetes‹ und letztlich, da menschliches Leben dem Erkennen stets nur geistig vermittelt zugänglich ist, einziges Material. Sofern ihr damit auch die Philosophie in ihrer Geschichtlich­ keit, ihrer Epochalität und Typik, das heißt in Gestalt von Menschenund Weltanschauungen thematisch wird, bezieht Kulturanthropolo­ gie in ihrem historisierenden Bezug einen philosophiekritischen Sinn, was eine produktive Zusammenarbeit der beiden jedoch weniger verhindert als zusätzlich und vertiefend inspiriert: Beide Erkenntnisweisen verhalten sich alternativ: Philosophie ist eine Anti-Geschichte, Geschichte eine Anti-Philosophie. Das schließt nicht aus, daß sie gesamtgeschichtlich, in der »Kultursynthese der Gegenwart« (Troeltsch), kooperieren. Beide müssen an ihrer Stelle wirksam sein.1532

Wie Kulturanthropologie der jeweiligen Philosophie ihren historischkulturellen Bezugskontext aufzeigt und sie so verortet, verwirklicht umgekehrt die freie Reflexivität des Philosophierens ihr kritisch-ver­ einseitigend sprengendes Potenzial gegenüber der systembildenden Tendenz, die der Kulturanthropologie ihrerseits eignet. Was diese Tendenz und Landmanns Ansatz eines »Systems der Anthropina« betrifft, wollen wir uns auf einige wenige Punkte beschränken und verweisen zudem auf Teil I dieser Arbeit. Nimmt man Landmanns ambivalente bis widersprüchliche Aussagen diesbezüglich zusam­ men, so ist – wenn überhaupt – vom ›System der Anthropina‹ als von einem offenen System der Grundstrukturen der Menschseinsweisen

Vgl. Simmel: Lebensanschauung, S. 212 ff. sowie Landmann EV, S. 229 – Land­ mann bezeichnet sie hier als »anthropologisches Grundgesetz«. 1532 Landmann: JM I, S. 75. Vgl. auch UuS, S. 23 u. FA, S. 37. 1531

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zu sprechen.1533 In der Vorstellung, dass es geschichtlich verortete und zugleich von ihrem Bezugskontext lösbare Strukturen gibt, wirken eine phänomenologisch-ontologische und eine erkenntnistheoreti­ sche Annahme: Erstens sei »[d]as ›gattungsmäßige Wesen‹ […] mit dem Gegebenen mitgegeben, w[erde] in der Realerfahrung miter­ fahren.« Zweitens könne der Anthropologe »das ursprünglich Allge­ meine aus der Verwobenheit mit der Vereinzelung herauslösen und gleichsam wiedergewinnen.«1534 Die erste Annahme ist ein anderer Ausdruck der Idee, dass wir ›den Menschen‹ überall (und einzig) dort finden, wo er irgendwie gegeben und real erfahrbar bzw. wo sein Zeugnis auf eine Erfahrung beziehbar ist. Die zweite Annahme lässt umgekehrt die Erfahrung etwas wie das implizite Kondensat eines ›ursprünglich Allgemeinen‹ sein, das ihm nun wieder zu entlocken ist, so wie bspw. in Landmanns Verständnis bei den biblischen Propheten »der Zukunftsbegriff das ein[holt], was der faktische Umgang mit der Zukunft anthropologisch schon immer implizierte.«1535 Offen ist das ›System‹ der menschlichen Grundstrukturen nicht allein sofern der Mensch stets im Werden und Sichwandeln ist, sich also das, was er ist, in eine offene Zukunft hinein, solange es sich als Menschen begreifende Wesen gibt, kumulativ anhäuft. Auch inner­ halb einer bestimmten Anordnung der Anthropina, wie Landmann sie versuchsweise vorlegt hat1536, haben diese unscharfe Grenzen und flexibles Spiel. Dies wird deutlich, wenn er die Fundamental-Anthro­ pina umschreibt, das heißt sie synonym setzt und zugleich in je verschiedenem Aspekt fasst als »Kreativität und Kulturalität, das Gestalten der Zukunft und die Abhängigkeit von der Vergangenheit, 1533 Nach Hupe gewinnt Landmanns »System der dreiundzwanzig Anthropina […] – als eine Art (Selbst-) Deutungssystem des Menschen – seine Zeitlosigkeit und All­ gemeingültigkeit dadurch, daß er als Charakteristika des Menschseins nicht starre Kategorien i. S. unveränderlicher Eigenschaften und Wesenszüge ausmacht, sondern Variable: Anlagen, Möglichkeiten, Potenzen« (Kreativität und Teleologie, S. 198). Vgl. dazu Schlitte, die über Simmels Auffassung des Systemcharakters von Philosophie schreibt: »Die philosophische Formung einer Einheit erfolgt nun dadurch, dass ein einzelnes Moment der Wirklichkeit als Zugang zum Ganzen der Welt verstanden wird, indem es als Symbol fungiert. Die Philosophie hat diesem symbolischen Prinzip zu folgen und kann laut Simmel nie zu einem festen, abgeschlossenen System gerin­ nen; sie muss sich ›labil erhalten‹, wie es in einer paradoxen Formulierung einmal heißt« (Schlitte: Bildung und Kultur bei Georg Simmel, S. 224). 1534 Landmann: EuE, S. 63. 1535 Landmann: FA, S. 358. 1536 Vgl. ebd., S. 139–169.

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15.3 Zur Gestaltung von Pluralität – der prophetische Sinn von Epigonalität

Offenheit für das Neue und Geprägtheit durch die Tradition, Freiheit und Festgelegtheit«.1537 Und nicht nur ihr multifaktorieller und poly­ valenter Inhalt, sondern auch ihre Relationen, ja sogar ihre Anord­ nung als »fundamentalere und weniger fundamentale Anthropina« sind hochgradig flexibel, was die dynamische Freiheit und gerade nicht eine starre Systematik des anthropologischen Denkens bezeugt.1538 Entsprechend verwundert es kaum, wenn Landmann vom »lediglich formalen Charakter« der Anthropina spricht und hinzusetzt, man dürfe »sie in ihrer Leistungskraft nicht überschätzen. Sie beziehen sich aufs Ganze, erklären nicht das Einzelne.«1539

15.3 Zur Gestaltung von Pluralität – der prophetische Sinn von Epigonalität Was wir bisher in teils umwegigen Erläuterungen und Deutungen der Inhalte von Landmanns Philosophie resp. Kulturanthropologie in Betracht nahmen, soll nun den Hintergrund bilden für den Entwurf eines Panoramas, in dem sich auch diese Inhalte selbst in teils bisher noch ungesehenen Aspekten erhellen lassen. Während wir im zweiten Teil der Arbeit Landmanns These vom Menschen als »Schöpfer und Geschöpf der Kultur« über sechs Kernbegriffe unter drei Perspekti­ ven erläuterten, so war es Anliegen des dritten Teils, die impliziten Gehalte dieser Anthropologie sowie »Pluralität und Antinomie« als ihren Dreh- und Angelpunkt freizulegen und zu einer Theorie der Bildung des Menschen auszugestalten. Dies und die Arbeit vorerst abschließend wagen wir in nochmaliger Anspannung einen Wurf, in dessen Bewegung (vermeintlich) Verschiedenstes, ja Widerspre­ chendes für- und durcheinander sprechend werden soll. Das von Landmann dem Menschen zugrunde gelegte Spannungsverhältnis von Kreativität und Traditionalität, Schaffen und Bewahren wird uns noch einmal thematisch als das die Bildung eines Plurallebewesens Mensch konstituierende Wechselspiel von Prophetie und Epigonali­ tät, Utopie und Skepsis, Pluralismus und Humanismus. Landmann: FA, S. 157. Vgl. ebd., S. 123: »Aus der Kreativität läßt sich die Erkenntnisbegabung, aus der Modellierbarkeit lassen sich Kulturalität, Traditionalität, Sozialität und Geschicht­ lichkeit ableiten. Man könnte aber auch aus der Kulturalität die Modellierbarkeit und den Rest ableiten«. 1539 Ebd., S. 152.

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Eindrücklich, anhand einer Anekdote sowie mit Verweis auf Landmanns Lebensgeschichte und die Titel seiner Schriften, fasst Norbert Hinske im ersten Beitrag der Gedenkschrift »die Schwer­ mut des Zuspätgekommenen« als »ein Lebensgefühl […], ohne das die Philosophie Landmanns nicht angemessen zu verstehen ist«; keinen Zweifel lässt Hinske daran, »wie stark dieses Bewußtsein des Zuspätgekommenen das Denken Landmanns geprägt hat.«1540 Es ist verwandt dem Gefühl resp. Bewusstsein, Epigone zu sein, dem wir nun allerdings einen prophetischen Sinn abzugewinnen suchen. Dieser deutet sich bei Hinske an, wenn er von der »Entschiedenheit, mit der Landmann das Phänomen der Enttäuschung immer wieder in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gerückt hat«1541 schreibt und dies in Verbindung bringt mit seiner »Rückwendung zum Judentum« (und, wie zu präzisieren wäre, vor allem zum Messianismus), die Hinske zufolge neben privaten »zugleich ihre ernsten philosophi­ schen Gründe« hatte.1542 Epigonalität zwischen typologischer Profilierung und anachronis­ tischer Unterbestimmung der Gegenwart: Für unseren thematischen Zusammenhang, Entwurf und Zuschnitt begreifen wir Epigonalität als eine geistige Einstellung, in der nicht allein zeitlich auf ein Geschichtliches zurückgeblickt, sondern die Pluralität des Menschen simultaneistisch angeschaut resp. erschlossen wird. Solche Raum­ schau der »Pluralität der Absoluta« hat in der geschichtlichen Betrach­ tungsweise des 18. Jahrhunderts zwar ihre kulturell-geistige Grund­ lage, hebt von dieser aber nun ab zur ›nachgeschichtlichen‹, genauer müsste man sagen: ›außerhistorischen‹ Sichtweise. Gerade und nur in seiner Abständigkeit wird das vielheitlich Gegegbene dem Epigonen zugänglich, vermag er, es trotz seiner inneren Widersprüchlichkeit, ja Unvereinbarkeit versöhnt sein zu lassen: Als historisch Zurückschauende und Übernehmende dürfen wir beide, Monotheismus und Polytheismus, trotz ihres Widerspruchs in uns zum Schwingen bringen. Wir müssen uns zwischen ihnen so wenig entscheiden wie zwischen klassischer Kunst und Rembrandt, zwischen Kantischem Mechanizismus und Goetheschem Organizismus, zwi­ schen Schopenhauers Lebensanklage und Nietzsches Lebensjubel. Ein neuer Weltzustand versöhnt, was sich früher befocht. Der Epigone 1540 1541 1542

Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 8. Ebd., S. 13. Ebd., S. 15.

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15.3 Zur Gestaltung von Pluralität – der prophetische Sinn von Epigonalität

ist der Synthetiker, erneuert aber damit zugleich die uralte Kraft, in Gegensätzen zu leben.1543

Wenn Hinske schreibt, Landmann sei »der geborene (oder der gelernte) Pluralist«1544 gewesen, so typisiert er damit ebenso den Epigonen, »der mit der ›Größe der Einseitigkeit‹ auch der ›Einseitig­ keit der Größe‹ (Simmel) ermangelt«1545, wie den Anthropologen, dem sich auf der Kontrastfolie des kulturell Heterogenen das je Kulturelle als Ausdruck-von, als Projektion-von zu erkennen gibt. Indem der Spätgeborene »die Projektion als solche durchschaut, [kann er] das Metaphysische, als ein Sekundäres, gleichsam wieder substrahieren, um nur das Anthropologische übrigzubehalten resp. zu gewinnen.«1546 Epigonalität ist ein zentraler kulturell-geistiger Aspekt der Erkenntnis- und Erlebnissituation pluralistisch-ästheti­ scher Charaktere, die hinsichtlich der Zeitgeisttendenz monistischer wie partikularistischer Vernunftorientierung abseits stehen. Die epi­ gonale Distanz zur eigenen Gegenwart eröffnet der Anthropologin einerseits eine schärfer kontrastierende Betrachtung und damit typo­ logische Profilierung derselben. Zugleich aber enthält sie die pre­ käre Tendenz, die Gegenwart ungemäß, das heißt: anachronistisch am historischen Vergleichsfall zu konturieren. Diese Tendenz, die jeder epochologischen oder typologischen Klassifizierung eignet, ist hier erhöht, da die Gegenwart unabgeschlossen und selbst in ihren Tendenzen mangels ausreichender Distanz ihres Betrachters kaum durchsichtig ist. ›Epigonalität‹ ist ebenso trefflich, um den Inhalt und Faktor einer entsprechenden Haltung zur Welt und Geschichte begrifflich zu fassen wie ungemäß, um eine Epoche hinsichtlich ihrer eigenen schöpferischen Möglichkeiten zu kennzeichnen.1547 Landmann: JM I, S. 228. Grundner et al.: Exzerpt und Prophetie, S. 11. 1545 Landmann: Geschichtsphilosophie, S. 695. 1546 Landmann: FA, S. 195 f. 1547 Letzteres betreffend, besteht der feine bedeutsame Unterschied darin, ob man in der Behauptung, die Gegenwart kombiniere ›lediglich‹ kulturell Überliefertes, dies als eine neue Form kreativer Schöpfertätigkeit, ja als höheres Level der Kreativität ver­ steht oder als Ausdruck schöpferischer Impotenz. Umso mehr als Landmann ›biogra­ phisch‹ von der Vorstellung durchdrungen gewesen sein dürfte, dass der Raum des neu Schaffbaren enger würde (vgl. dazu u.a. Landmann: FA, S. 51 und kritisch Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 145 ff.), die dann selbst in der Behauptung eines »Ende des Individuums« fatal kumuliert, ist das hier vorgeschlagene Verständnis von Epi­ gonalität immer auch als Kritik an Landmanns eigener Kulturanthropologie zu for­ 1543

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Erbschaft und Gespräch: Ohne den pessimistisch-dystopischen Klang von Landmanns Kulturkritik eines postkreativen Zeitalters zu übertönen, wollen wir ihr doch feine Obertöne ablauschen, indem wir Epigonalität weniger in ihrer Zeiten und Räume trennenden als vielmehr sie dialogisch verbindenden Dimension fokussieren. Um solche Verbindung ist es Landmann umso mehr zu tun als er seiner Zeit eine gewisse Geschichtsvergessenheit attestiert: »Heute fühlen viele Jüngere sich nicht mehr aus geschichtlichen Ursprüngen herkommend, deren Kontinuität unterbrochen scheint. Daher geht die ›historische Bildung‹ zurück und eine teils naturwissenschaftliche, teils politische Haltung greift Platz.«1548 In der These von der Kultura­ lität und Geschichtlichkeit des vermeintlich sich selbst bestimmenden Vernunftindividuums spricht sich ebenso der Dank dessen aus, der sich als traditionell reich beschenkt empfindet wie seine Kritik an jenen, die ihre Verlegenheit des Beschenktseins emotional und geistig vereinseitigen zur autonomistischen Klage gegenüber kulturell-tradi­ tionalen Restriktionen. Dabei könnte, worauf N. Hartmann hinweist, die jüngere Generation umgekehrt, das heißt im ausdrücklichen Bezug auf ihre eigenartige, unersetzliche Position als Erbin, einen motivationalen wie inhaltlichen Ansatzpunkt gerade ihrer Kritik an der Überlieferung gewinnen, würde sie sich nicht im neophilen Auf­ begehren darüber hinwegtäuschen, dass sie »geschichtlich gemessen älter und weiser ist als das Alter. Das Volk selbst – oder wenn man so will, der objektive Geist – ist jedesmal in der jungen Generation um eine Stufe älter und erfahrener geworden als er im gleichen Entwicklungsstadium der alten war.«1549 Wie die allgemeine Vorstel­ lung resp. historische Konstruktion von Erbschaft konkret inhaltlich gefüllt wird, entscheidet letztlich darüber, ob und für wen sie einen progressiv-utopischen Sinn einschließt. Die produktive Unschärfe und immanente Kontrastspannung in der Idee eines doppelten Erbes, wie es Landmann zufolge in den zwei Geschichtsverständnissen der

mulieren – bzw. diese in verborgenen Bedeutungen bzw. Anschlussstellen aufzuzei­ gen. 1548 Landmann: Geisteswissenschaften, S. 262. 1549 Hartmann: Sinngebung und Sinnerfüllung, S. 274. Die Begriffe ›Volk‹ und ›objektiver Geist‹ haben eine nicht unproblematische Geschichte, meinen hier aber soviel wie das Überindividuelle, das in jedem scheinbar ganz individuellen Akt wirk­ sam ist: was man in einer Zeit mit Zeitgenossen gelernt hat, was allgemein anerkannt ist, was man weiß.

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Griechen und Hebräer1550 sowie in Rationalismus und Romantik vorliegt, droht ihr kreativ-utopisches Potential zu verlieren, sobald sie sich zur (konservativen) Vorstellung eines vollen Erbes bequemt. So sehr die Idee einer vollen Erbschaft bei Landmann als Kritik an ungemäßen Vereinseitigungen bestimmter Aspekte des Menschen auftritt, so suggeriert sie zugleich selbst die Vorstellung von Vollstän­ digkeit, und zwar einer historisch bereits erlangten Vollständigkeit, womit die Aussicht auf Menschseinsweisen, die womöglich gerade aus vereinseitigend gestaltender Tendenz erwachsen, verdeckt ist. Von der Anthropologisierung bestimmter historischer Spannungsgefüge, in denen und als die der Mensch lebt resp. sich erlebt, ist es nicht weit zur Idee von Epigonalität als Postkreativität: Der ewige menschlich-kulturelle Konflikt wird sich im 18. Jahrhundert seiner selbst bewußt und spitzt sich zu. Die rationalistische und die romantische Komponente vereinigt der moderne Mensch bis heute in sich in unausgetragener Spannung. Will er, um Eindeutigkeit zu gewinnen, eine der beiden in sich selbst austilgen, so betrügt er sich um sein volles Erbe, um seine Spannweite und um das in ihr liegende produktive Potential.1551

Unter dem ›vollen Erbe‹ des Menschen ist also ausdrücklich nicht die inhaltliche Vollständigkeit des Menschen, sondern im Gegenteil (und sprachlich irreführend) seine Unabgeschlossenheit, das heißt: produktive Gespanntheit, gemeint. Und wie der inhaltlich vollstän­ dige, vereindeutigte Mensch weder sprachlich noch überhaupt kreativ etwas auszudrücken, weder aus sich heraus noch einem Anderen etwas mitzuteilen hätte, so bildet umgekehrt das Gespräch, der Dialog von Gegenüberseienden das Medium einer produktiven Begegnung des werdens-offenen Subjekts mit seinem deutungs-offenen Objekt. Gegenüberhaftigkeit und schöpferischer Dialog: Gegenüberhaftig­ keit im Sinne Landmanns ist in Abgrenzung zu einer atomistischen Vorstellung qualifiziert als eine bestimmte Weise der Beziehung, die er am Beispiel der historischen Betrachtung folgendermaßen charakterisiert: in ihr steht »nicht nur der Ausdruck unreduzierbar verschiedenen Lebens zur Betrachtung für den Außenstehenden nebeneinander. Vielmehr handelt es sich um zwei Partner, die sich Vgl. Landmann: UuS, S. 240. Landmann: FA, S. 355. Vgl. auch JM I, S. 214 f. Dieses produktive Potenzial deutet sich bei Landmann an als eine dem aufklärerisch-romantischen Doppelerbe gleichsam entwachsende Lebensform (vgl. JM I, S. 42). 1550

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im selben Medium begegnen, die beide mit derselben Sache befaßt sind.«1552 Diese ›gemeinsame Sache‹ wird hier ebenso vorausgesetzt wie sie sich auf die Erfahrung derer, die immer wieder verwandelnd in solches Gespräch hineingezogen werden1553, stützen kann. Die dia­ logische Gegenüberhaftigkeit ist außerdem abzugrenzen erstens vom ausschließenden Gegeneinander der Gesprächspartnerinnen: »An die Stelle des Gegeneinander, sich selbst auflösenden Kampfes, tritt das Gegenüber, schöpferischer Dialog. Soweit es aber doch ein Kampf ist, spielt er sich nicht mehr nur zwischen Fremden ab, sondern auch in unserer eigenen Seele, die er immer zu sich bereit finden wird.«1554 An dieser Stelle erhellt sich der dezidiert geschichts- und kulturphiloso­ phische Sinn von Landmanns Anthropologie des bipolar gespannten Lebewesens Mensch: nicht weil dieser aus dem Nichts heraus oder nach mystischer Eingebung das zerrissene Wesen ist, entlässt er dann daraus seine wechselnden Geschichten und Kulturen, sondern die Bestimmung des Menschen zum in sich gespaltenen Lebewesen ist umgekehrt der geistige, formal-anthropologische Ausdruck einer fak­ tischen menschlichen Pluralität, die geschichtlich als Aporetik erlebt wird und in Erscheinung tritt. Von hier aus lässt sich verstehen, wie erst im – keinesfalls selbstverständlichen – Dialog das Aporetische die Qualität des Pluralen annimmt, die antinomisch getrennten und zerstreuten Elemente zu aufeinander bezogenen Gliedern einer über­ geordneten Gestalt sich wandeln. Damit aber ist der schöpferische Dialog zweitens zur anderen Seite hin abgegrenzt von einer die heterogenen Elemente unifizierenden Harmonie, die »der Welt die fundamentale Gegenüberhaftigkeit [raubt], ohne die das Sein ein dunkler Klumpen wäre, da erst sie es in Subjekt und Objekt zerfallen läßt und jenem die füllende Welthaltigkeit, diesem die Gnade des Sich-darstellen-müssens und die Deutbarkeit verleiht.«1555 Unter einem Dialog ist mit Landmann nicht vor allem die alltägliche Konversation, sondern anspruchsvoller eine existenzielle, mitunter krisenhafte Erfahrung, ein ebenso spannungsvolles wie schöpferisches Ereignis zu verstehen, in dessen Verlauf die Partner

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Landmann: UuS, S. 13. Vgl. ebd. Landmann: PuA, S. 223. Landmann: JM I, S. 218.

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sich einander fremd und so aneinander bildend tätig werden.1556 Die Annahme, dass Gespräche und in ihrem Medium Begegnungen faktisch sich ereignen, scheint mir als Voraussetzung unerlässlich, will man nicht sowohl in überhöhte Sakralisierungen des Begegnungs­ ideals als auch (und daran gekoppelt) in die resignative Diagnose einer durch und durch dialogfeindlichen Gegenwart abgleiten. Durch­ aus plausibel spricht Köhnke von den »theologisch-philosophischen Überhöhungen, die das menschliche Ich erst im Spiegel des Du zu erkennen glauben, wie bei Martin Buber, oder die wie Emmanuel Lévinas gar den anderen durch jegliches interessegeleitete Anspre­ chen zu verletzen meinen« und bemerkt dazu: Die Zeit- und Standortgebundenheit solcher Theorien, auch wenn sie anthropologische Konstanten zu bezeichnen glauben, klingt zwischen den Zeilen oft genug an, und sie kommen, wie letztlich die wissen­ schaftlichen Bearbeitungen auch, von Erfahrungen menschlicher Ein­ samkeit, Verständnisproblemen und von Brutalität her, aber nie vom Positiven und Allzuselbstverständlichen des alltäglichen Begegnens, Redens und Umgangs.1557

Der kulturanthropologische hat gegenüber dem existenzphiloso­ phisch ›alteritätsmystischen‹ Zugang den Vorzug, bei aller begründe­ ten Fokussierung auf Sprachlosigkeit, Schweigen, Kommunikationsund Verstehensproblemen dennoch nicht das selbstverständliche und unzerstörte, ja vielleicht gänzlich unver­ lierbare Bedürfnis und Vertrauen zu übergehen, das nicht nur mit jeder Generation neu aufwächst, sondern beständig auch aus religiösen und anderen Quellen schöpft oder schlichtweg an das Gute glaubt, solange es geschieht. Wohl sind wir belehrt und hören von so vielem Unvermögen zu Gespräch und Geselligkeit, zu Friedfertigkeit und Humanität, daß dies eigentlich schon lange nicht mehr vorgekommen sein dürfte. Und doch: was der Begriffsphilosophie, -theologie und Wissenschaft manchmal entgeht, geschieht alltäglich.1558

Womöglich hängt die allzu bequeme Diagnose einer dialogfeindli­ chen Zeit auch zusammen mit einem Fluchtreflex vor eben jenen dialogischen Situationen, in denen stets ein Nichtwissen (latent) wirksam ist und die insofern prekäre Erfahrungen mit sich führen 1556 Vgl. dazu Robert Kozljanič: Grenzerfahrungen bei Jaspers und Klages. In: Hestia – Jahrb. d. Klages-Gesellschaft, Bd. 22 (2004–2007). Würzburg: K&N 2007, S. 161. 1557 Köhnke: Nachwort zu Lazarus: Über Gespräche, S. 53. 1558 Ebd., S. 54.

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bzw. provozieren (können), wofür Landmann drastische Bilder resp. Metaphern wählt: Hat alles Wissen etwas Beruhigendes, so umgekehrt das Nichtwissen etwas in hohem Maße Beunruhigendes und Unbefriedigendes. Ja man könnte fast sagen: etwas Beängstigendes, denn aus dem schwarzen Loch des Unbekannten, mit dem uns das Nichtwissen in Beziehung setzt, kann uns ja in jedem Augenblick der Möglichkeit nach das Gefährliche entgegenschnellen und uns packen. Daher pflegen die meisten den Anblick dieses Loches nicht zu ertragen. Sie blicken sogleich wieder weg von ihm oder setzen an seine Stelle eine wenn auch nur scheinhafte Wissensmeinung. Demgegenüber gehört eine gewisse intellektuelle Gelassenheit und Stärke, ja Mut dazu, mit dem Loche ernstzumachen und es nicht aus dem Auge zu verlieren.1559

Die Struktur resp. Dynamik menschlicher Dialogik ist in Analogie zu der bereits zitierten metaphysischen ›Jugend-Intuition‹ Landmanns nicht allzu schlecht begriffen. Wie hier das »genuin Disparate […] sich in den dunklen Klumpen des Einen«1560 kontrahiert, so dringt im Dialog das Befremdende in die Kontinuität und Kohärenz des Menschen ein, die ihm dadurch erst deutlich wird. Nicht ist es ein substanziell Fremdes, das sekundär die Eigenheit des Menschen bedrohen würde, sondern sein durch die Konfrontation mit der Ander­ heit freigesetztes Erleben eigener Fragilität resp. Kontingenz, das heißt: seines drohenden Falls in die Nichtunterschiedenheit, lässt das fragend Anrückende für ihn die Qualität eines Befremdlichen haben. Die sich eröffnende, bildende Chance des Dialogs besteht darin, dass die aufeinanderprallenden Elemente nun in reziproke Bewegtheit versetzt werden, durch die sie letztlich erst, jedes für sich und relational, innere Gliederung gewinnen und so äußerlich Gestalt annehmen.1561 Die gegliederte Pluralität (Gestalt) fällt im nur durch den Tod als absoluter Grenze des Lebens abschließbaren, genauer: zerstörten Bildungsprozess rhythmisch in die partikulare Pluralität (Individualität) ›zurück‹ und der Prozess beginnt auf ›höherer‹ Stufe von vorn. Die Gegenüberhaftigkeit, die die Elemente füreinander, als die sie sich einander gewinnen, bildet ebenso die Voraussetzung eines Dialogs zwischen Menschen resp. Mensch und Welt wie eine spezielle 1559 1560 1561

Landmann: EuM, S. 9. Landmann: Berliner Rückblenden, S. 688. Vgl. ebd.

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Herausforderung und Grenze ihrer Dialogfähigkeit. Dies lässt sich am ›dialogischen‹ Verstehen historischer Gegenstände verdeutlichen, die in ihrer Abgeschlossenheit in erhöhtem Maße den Anschein erwecken, vollständig sowie faktisch, inhaltlich und teleologisch not­ wendig zu sein. Folgt die Historikerin dieser Suggestion, so mag dies dem Verständnis der Inhalte des Gegenstandes und ihrer Zusam­ menhänge ein Stück weit dienen, als ein historischer Gegenstand, das heißt: als Konkretum, das heißt: als Möglichkeit-von, ist er damit allerdings noch nicht erschlossen. Wir folgen hier Bräuer, der schreibt: »Konkret denkt man ja eben etwas, was aus menschlichen Verhältnissen kommt, nicht nur als bare Tatsächlichkeit, sondern als Seinkönnen. Dieses im Konkreten eingeschlossene Mögliche ist in der Destruktion des Objektivgewordenen erst wieder freizulegen.«1562 Etwas als ›Seinkönnen‹ und damit als Nicht-so-sein-müssen resp. Anders-sein-können zu begreifen, bildet die Voraussetzung eines Dialogs im anspruchsvollen Sinne wie auch dessen allgemeinen Inhalt: In der Kontingenz resp. Kulturalität des Wirklich-gewordenen betritt der (historisch) fragende Geist jene Brücke, die ihm das abge­ schlossene Leben (das Vergangene) und das offen strömende Leben (das Künftige) verbunden sein lässt. Nicht damit die Überlieferung reproduziert werde, soll sie die Gegenwart etwas angehen, sondern weil sie als Möglichkeit-von für diese Gegenwart anregender Spiegel (Projektions- und Produktionsfläche) ihrer eigenen Potenziale ist, geht sie sie faktisch etwas an: Im Werden noch des Gewordenen erhascht der verstehende Geist »die Konstanz des Seins selbst, die sich auch der Wahrheit von ihm mitteilt. Der Mensch kann diesen Bestand wohl verkennen und auch wieder verlieren; entscheidend aber ist, daß er ihn auch gewinnen und an ihm festhalten kann.«1563 Die Konstruktivität dieser ontologisch-anthropologischen Anschauung verweist auf eine Grenze des Dialogs (bzw. ist selbst deren versuchsweise Bewältigung resp. Gestaltung). Sie besteht objektiv, das heißt vom Gegenstand her, insofern als das Frühere und das Spätere »in verschiedene Dimensionen [greifen], an denen das gemeinsame Maß nur ein Teilglied bildet.«1564 Dem Subjekt vermittelt sich diese Grenze als paradoxe Struktur seiner Erkenntnis: Obwohl es dieser unmöglich ist, aus der eigenen Standörtlichkeit 1562 1563 1564

Bräuer: Pädagogisches Denken als konkretes Denken, S. 31. Landmann: EuE, S. 242. Landmann: Phänomenologie, Kierkegaard, Marxismus, S. 466.

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herauszutreten, eröffnet sich nur aus dieser heraus der Blick für die Bedingtheit der eigenen Position und darin bereits – denn Bedingt­ heit lässt den Standpunkt bereits eine das Erkenntnissubjekt in ein Lebenssubjekt hinein vertiefende Linie sein – der Horizont alternati­ ver Sichtweisen. Die Enge des Eigenen und die Fülle der Anderheiten sind dem Sein wie dem Erkennen nach unlöslich ineinander verwo­ ben: »Ohne Position kein Horizont, der an die Begrenztheit meiner Perspektive und die Fülle anderer Möglichkeiten erinnert; ohne Hori­ zont keine Position, die das Eigene vom Anderen abhebt.«1565 Sorge um Weltverlust und Individualismus der Teilhabe: Die vermeintlich paradoxe Struktur dialogischer Begegnung, in der die Partner zunächst die mittlere Distanz der Gegenüberhaftigkeit gewin­ nen müssen, um in einen gemeinsamen Dialog treten zu können1566, zeigt sich hinsichtlich der dabei wirksamen geistigen Aktivität als Spannungsfeld von Teilung und Teilhabe. Es bildet den Raum, die Sphäre des Dialogischen; es ist umgeben von den Zerrformen des ein­ nehmenden Monologs und der nicht mehr teilnehmenden Isolation, in denen es je einseitig aufgelöst ist. Gegen diese Zerrformen richtet sich Landmanns Kritik an überzogenem Individualismus wie auch übertriebenem Monismus, die inhaltlich und motivational eine Klam­ mer seines Gesamtwerks bildet: Wie er seine Kulturanthropologie als philosophische Kritik an der Vorstellung des sich selbst kraft Vernunft hervorbringenden Individualwesens Mensch beginnen lässt, so endet seine Kulturkritik als prophetisches Klagelied auf das sich nun, wie es scheint, historisch erfüllende »Ende des Individuums«. Jetzt, da dies gesagt ist, wollen wir weitersprechen – von jenem Hintersinn, der sich ausgehend von der kulturellen Pluralität des Menschen als dem inhaltlichen und axiologischen Dreh- und Angelpunkt von Land­ manns Philosophie unter der Formel Individualismus der Teilhabe dieser entlocken lässt. Ausgangspunkt ist dabei die anthropologische Annahme, der Mensch sei das Wesen, das in seinem speziellen, zerlegenden und objektivierenden Bezug zu den Weltdingen sich selbst als Individuum herausbildet bzw. bereits zur Voraussetzung hat. Beide, die Eigenheit des Objekts und die seiner eigenen Per­ son, sind unlöslich verbunden. Das Individuum ist für Landmann eben nichts Ursprüngliches oder Substanzielles, sondern historisch Schöning u. Weinberg: Ironie der Grenzen – Horizonte der Interkulturalität, S. 204. 1566 Vgl. Landmann: Das Doppelgesicht weiblicher Schönheit, S. 107. 1565

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entstanden, also kulturgeschichtlich sekundär wie konstellatorisch einbezogen in außerindividuell Umspannendes. Objekthaben und Selbstsein sind zwei Ausdrücke für jene mittels Teilung und Spaltung gewonnene Differenz, mit der vom Menschen in anthropologischem Sinne überhaupt erst gesprochen werden kann. Welche Gewalt in dieser ihn doch auszeichnenden Vernunftaktivität für den Menschen selbst liegt, wird sichtbar, wenn Landmann vom ›Zersprengen‹ der Gestalten in Elemente, vom ›Herausbrechen‹ letzterer spricht.1567 Von hier aus wird deutlich, dass jeder substanziell verstandene Individualismus in einen Atomismus unverbundener Elemente füh­ ren muss und inwiefern umgekehrt in der Vorstellung vom Menschen als Kulturlebewesen selbst eine Form des Individualismus gefasst ist. Während in der substanzdualistischen Vorstellung von Individuum und Kultur (resp. Gesellschaft) beide lediglich negativ aneinander teil­ nehmen, das heißt: voneinander einen Teil wegnehmen, eröffnet eine kulturanthropologisch-ganzheitlichere Betrachtung, sie ursprünglich einander zugeteilt sein und so auch geschichtlich aneinander Anteil haben und gewinnen zu lassen.1568 Die Konstruktivität der Vorstel­ lung eines Individualismus diachroner und synchroner Teilhabe ist weniger Schwäche dieser Vorstellung als Aufweis der begrenzten Verfügbarkeit jener grundlegenden und vielheitlichen menschlichen Erfahrungen eines Außer-sich-seins für den erkennenden Welt- und Selbstzugang. Auf diese vor allem auch ethisch bedeutsame Unver­ fügbarkeit der Relation von Mensch und Kultur scheinen mir auch Schöning und Weinberg hinzuweisen, wenn sie mit dem Begriff des Horizonts »eine Form von Teilhabe […] bezeichnen, die jede mögliche Perspektive einschließt, ohne von einer oder mehreren als ausschließ­ liches Gut beansprucht werden zu können. Mit anderen Worten: Was das Eigene mit dem Anderen verbindet, ist in diesem Sinne zwar gegeben, aber nicht zu haben.«1569 Das hier als Individualismus der Teilhabe Umrissene ist weniger steiles Ideal eines querköpfigen Konservatismus als vielmehr jenes Menschenbild, das immer schon impliziert ist, sobald verdächtig selbstverständlich davon die Rede ist, »wir sollen auch fremde Kulturen verstehend in uns aufnehmen, 1567 Vgl. Landmann: PA, S. 169, DaD, S. 119 sowie ähnlich Welskopf: Entfremdung, historisch gesehen, S. 715 ff. 1568 Vgl. Landmann: FA, S. 55 u. PA, S. 181. 1569 Schöning u. Weinberg: Ironie der Grenzen – Horizonte der Interkulturalität, S. 203.

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sollen auch durch sie etwas in uns zum Klingen und zum Wachs­ tum bringen.«1570 Wenn Landmann so ehrlich wie konsequent die Menschen nicht allein in ihrer schöpferischen Freiheit, sondern »auch als an der Welt Teilhabende, als aufnehmend Empfangende«1571 glänzen lässt, so schöpft er dabei selbst aus der ihm ein- und angewurzelten geistigen Quelle des Judentums, das in emet und emuna gegenüber der griechi­ schen eine ganz eigenartige Vorstellung von Wahrheit kennt.1572 So wie das Individuum materiell über das, als was es sich unmittelbar empfindet, hinausgeht, gehört auch die Wahrheit »weder dem Men­ schen noch den Dingen: sie steht zwischen beiden, in ihr fixiert er, was jene ihm gezeigt haben.«1573 Wahrheit spannt zwischen ihnen ein »intermediäres Reich der Vermittlung«1574; wenn überhaupt, so ist sie – wie bereits zitiert – eine »dialogische Eigenschaft«1575, die nicht einem Objekt anhaftet und vom Subjekt erkannt wird. Im weit mehr praktischen und ethischen Sinne meint Wahrheit hier »ein Verhalten im tätigen Miteinander aufeinander zielender und abge­ stimmter Gemeinschaftsglieder, die die gegenseitig eingegangenen Verpflichtungen einhalten werden.«1576 Anders als in der griechischen Vorstellung, in der Wahrheit den Dingen unverrückbar einwohnt und lediglich von der Erkenntnis verfehlt werden kann, steht sie in der hebräischen Vorstellung gänzlich, das heißt auch ontisch, zur Disposition: Ihren existenziell-ethischen Sinn bezieht Landmanns Philosophie des Kulturlebewesens Mensch aus einer Sorge um dessen Verlust einer Weltbindung, die in der griechischen Ontologie resp. Anthropologie bereits vorausgesetzt ist, in Landmanns Begriff der Kultur resp. Kulturalität ins Zentrum rückt. Und während in der griechischen Erkenntnisdidaktik der Lehrer leidglich zur Erhellung des bereits im Schüler An- resp. Abgelegten beizutragen scheint, ist emet ein dialogisch und kreativ tätiges »Glied im gemeinsamen Lebensstrom, der zwischen Menschen fluktuiert, eine clef de voute

Landmann: MSGK, S. 102 f., außerdem JM II, S. 171 u. EdI, S. 188. Landmann: EdI, S. 211. 1572 Vgl. Kap. 7 der vorliegenden Arbeit sowie Koerrenz: Das hebräische Paradigma der Pädagogik, S. 334. 1573 Landmann: UuS, S. 217. 1574 Ebd. 1575 Ebd., S. 219, Herv. F.S. 1576 Ebd., S. 220. 1570 1571

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[ein Schlussstein, Anm. F.S.] der Intersubjektivität.«1577 Es leuchtet von hier aus unmittelbar ein, warum der adäquate Umgang mit der eigenen kulturellen Überlieferung für Landmann keine periphere Geschmacksfrage, sondern Gradmesser und Ausweis einer Wahrhaf­ tigkeit ist, die sich einzig bewährt durch reziproke Verlässlichkeit, durch aktive »Aufrichtigkeit, Treue, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit.«1578 Landmann selbst fand für die Zuwendung zur eigenen Überlieferung immer wieder die Form eines griechisch-hebräisches Gesprächs, des­ sen kulturpraktischr Sinn nun – als Zusammenfassung des Unfassba­ ren, als Abschluss des Unabschließbaren – formuliert werden soll.

Landmann: UuS, S. 219. Die ›hebräische‹ Vorstellung von Wahrheit als dialogi­ scher Eigenschaft und von Erkenntnis als dialogischer Tätigkeit entspricht der ver­ gleichsweise voraussetzungsarmen Erfahrung, die ›wir Menschen‹ im Gespräch machen und um derentwillen u.a. wir dieses zu schätzen wissen, wie Moritz Lazarus bemerkt: »Ein besonderer Vorzug des Gesprächs schließt sich daran, daß es eben gemeinschaftliche Arbeit der Geister ist, an das Bewußtsein und die unmittelbare Wahrnehmung: der Gedanke wird nicht von mir und nicht von dir allein, sondern von uns beiden erzeugt« (Lazarus: Über Gespräche, S. 42). 1578 Landmann: UuS, S. 219. 1577

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Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen: Plädoyer für einen Humanismus der »natürlichen Künstlichkeit«

In diesem Gespräch treffen die griechische Idee von Desintegration (Individuation) des Eigengesetzlichen und die hebräische Vorstellung von Gestaltung (Kreation) einer Geschichte produktiv zusammen. Sie finden ihr Gemeinsames in einer Idee, die ich in Anlehnung an einen Terminus von Plessner »Humanismus der ›natürlichen Künstlichkeit‹» nenne und die mehr anstelle als im Sinne eines Fazits dieser Arbeit an deren Schluss steht.1579 Utopie und Skepsis – die anthropologische Grundlegung utopischer Imagination: Grundlegend für diese Konzeption resp. Vision ist der dichte Zusammenhang von Utopie und Skepsis in Landmanns Kultur­ anthropologie, der uns bereits in den Ausführungen zur menschlichen Kreativität (vgl. Kap. 4) und zum Wissen des Nichtwissens resp. Nichtgewussten (vgl. Kap. 10) thematisch wurde. Das Nichtseiende, Mögliche, Utopische ist in Landmanns Anthropologie und Ontolo­ gie nichts Sekundäres, vom Seienden und Wirklichen Abkünftiges, sondern diesem Gleichursprüngliches, es (unmerklich) konturierend Umgebendes, was sich gut am Phänomen des Gedankens zeigen lässt. »Der Gedanke umspannt auch das nur Mögliche, er profiliert das Seiende durch Kontrastierung mit dem Nichtseienden. Wollte man 1579 Das erste von Plessners »anthropologischen Grundgesetzen« heißt das »Gesetz der natürlichen Künstlichkeit«: »Weil dem Menschen durch seinen Existenztyp auf­ gezwungen ist, das Leben zu führen, welches er lebt, d.h. zu machen, was er ist – eben weil er nur ist, wenn er vollzieht – braucht er ein Komplement nichtnatürlicher, nicht­ gewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künst­ lich. Als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts ste­ hend, konstitutiv heimatlos, muß er ›etwas werden‹ und sich das Gleichgewicht – schaffen. Und er schafft es nur mit Hülfe der außernatürlichen Dinge, die aus seinem Schaffen entspringen, wenn die Ergebnisse dieses schöpferischen Machens ein eigenes Gewicht bekommen« (Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 310).

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seine Gedanken malen, dann würde man erst staunend inne werden, wie wenig von ihnen eine optische Repräsentation findet.«1580 Land­ mann ist es um eine erkenntnisanthropologische Begründung des Unbekannten, um das Aufzeigen seiner Implikationen auch dort zu tun, wo es scheinbar isoliert und selbstgenügsam für sich zu bestehen scheint: »Auch wer das Unbekannte als solches liebt, muß doch Grund zur Annahme, daß ein solches überhaupt existiert, und damit ein wenn auch noch so schematisches Vorwissen von ihm haben.«1581 Umso mehr als das Nichtgewusste im alltäglichen Lebensvollzug nur begrenzt oder ästhetisch der Welt ferngerückt repräsentiert ist, entsprechend nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, dass das Unbekannte und »Unbegriffene auch als zu Begreifendes erlebt wird«1582, erfüllt Metaphysik, ja Philosophie insgesamt als vergeistigte Form ursprünglicherer Verwandlungshoffnung den Sinn utopischer Skepsis resp. skeptischer Utopie. Als solche glaubt [sie] zu wissen, daß alles gerade umgekehrt ist, als es sich zunächst gibt. Ihr Uraffekt heißt: ›ganz anders‹. […] Um ihre Wahrheit zu enthüllen, so weiß sie, müßten die Dinge sich verwandeln. Sie ist der zum Erkenntniswagnis abgeblaßte Rest der Hoffnung auf Ver­ wandlung.1583

Von hier aus erhellt sich, wie tief Landmanns Philosophie des sich erschaffenden Kulturlebewesens Mensch im Motiv der Ungenügsam­ keit ankert, die sie dann positiv, das heißt: pluralistisch wendet, was in der doppelt gefüllten, ja übererfüllten »anthropinen Lücke« in ein treffliches Bild gesetzt ist. Wie der Mensch findet auch die Philosophie des Menschen kein Maß, weswegen sie sich zwischen den Polen Skep­ sis und Utopie ausgestaltet. Das erläuterte Spannungsverhältnis von Philosophie und Kulturanthropologie wird hier produktiv: während erstere sich als kulturkritische, letztlich weltferne Skepsis zur Negati­ vutopie vom »Ende des Individuums« resp. »post-histoire« verführen lässt, gewinnt letztere aus der Zuwendung zum Individuellen und Pluralen eingedenk seiner historischen Kontingenz skeptisch-utopi­ schen Sinn.1584 Führte erstere auf die Konsequenz vom ›Ende der Landmann: DaD, S. 88. Landmann: P, S. 155. 1582 Ebd., S. 293. 1583 Landmann: EdI, S. 32. 1584 Vgl. Hupe, der schreibt, Landmann habe mit seiner Kulturanthropologie »die Wendung zur Zukunftswissenschaft vollzogen« (Kreativität und Teleologie, S. 164). 1580

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Bildung‹, so hebt letztere umgekehrt von der Unumgänglichkeit, dem Fakt menschlicher Bildung zur Kultur an und schwingt sich in norma­ tiv-utopische Entwürfe künftigen Menschseins aus: ihr kulturanthro­ pologischer Anspruch, alles was geschichtlich vorliege, sei Mensch, der gar nicht anders könne als sich zu bilden, das heißt je schon gebildet ist, transformiert sich in den bildungsphilosophischen Zuspruch, Bil­ dung müsse sein, damit Pluralität sein könne. Denn diese gilt zwar anthropologisch, sofern das Fragen nach dem Menschen auf Pluralität als sein Charakteristikum stößt, ist geschichtlich aber verlierbar, das heißt: je neu zu gewinnen. Die »Pluralität der Absoluta« bildet den empirischen Rückhalt und utopischen Vorgriff für das Bildungsideal der sich individuell gestaltenden und plural organisierenden Person: »Von einer überpersönlichen Sachlogik funktionalisiert, opfern wir unsere Spontaneität und unsere Ganzheit. Diese Entfremdung zu überwinden, ist die weiteste Utopie unserer Zeit.«1585 Humanismus als fundamentalanthropologisches Problem und anthropologiegeschichtliches Experiment: Das spannungsreiche Ver­ hältnis von Skepsis und Utopie finden wir wieder in jenem Auf­ riss von Humanismus als »Humanismuskritik«, den Egon Schütz in seinem gleichnamigen Text vorlegt. Darin deutet bzw. setzt er den Kern humanistischen Denkens mindestens seit der Neuzeit als »die durch den Menschen gegenüber ›fremden‹ Sinnmächten entschieden reklamierte Selbsterkenntnis als fundamentalanthropo­ logisches Problem.«1586 In dieser Fokusverschiebung von Inhalten des Menschlichen zum Problem des Menschen, genauer: in der Her­ ausstellung dieses Problems als Kerninhalt humanistischen Fragens, holt dieses »seine offenen oder geheimen Skeptiker immer wieder ein. In diesem Sinne wendet sich die Kritik des Humanismus zu seiner deutlichsten Exposition.«1587 Wie bei Landmann ist es auch für Schütz die Geschichtlichkeit des Menschenwesens, die die Frage nach dem Humanum ebenso zuverlässig aufkommen wie verlässlich weiterziehen lässt. Im humanistischen Bekenntnis zum Menschen als Problem und Aufgabe ist weniger ein spezieller Inhalt fixiert als vielmehr ein allgemeiner Rahmen gespannt für »die Reklama­ Landmann: FA, S. 134. Auch sprachlich deutet sich der utopisch-prophetische Grundzug in Landmanns Denken an, wenn er vom »anthropischen Auftrag« spricht (vgl. JM I, S. 208 u. EdI, S. 144). 1586 Schütz: Humanismus als »Humanismuskritik«, S. 2. 1587 Ebd., S. 9 f. 1585

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tion und Verbürgung der Menschlichkeit durch den Menschen.«1588 Psychologisch und axiologisch ist das humanistische Ansinnen zu verstehen als Aufbegehren des Menschen gegen seine Erfahrung, sich in der kontinuierlich verlaufenden Zeit doch zu fragmentieren und zu zerstreuen, die sich ihm geistig und praktisch als Problem seiner Identität vermittelt. Dass er »sich in der Zeit aussteht, daß er an sich selbst Halt und Bestimmung gewinnen muß, macht Bildung zu einem Experiment der Selbst-Entsprechung und gibt ihr jenen riskant utopi­ schen Zug«.1589 Humanismus macht es sich nicht im Bildungsideal substanzieller, sich keimhaft entwickelnder Individualität bequem, sondern erkennt in dieser selbst eine historisch späte Leistung, in der Menschen die Pluralisierung ihrer Lebenswelt und ihrer selbst so kreativ wie versuchsweise bewältigen. Individualität ist nicht nur in der Zeit, sie ist vor allem durch die Zeit. Der Humanismus weiß das, und es ist sicherlich keine völlig falsche Interpretation, wenn man Konzepte der harmonisierenden, den ganzen Menschen und die menschliche Ganzheit ins Auge fassenden Bildung auch als Antwort auf die Zerstreuung individuellen Lebens in die Zeit begreift.1590

Dieser Zuschnitt des Problems auf die diachrone Vielheit ist in Landmanns Anthropologie ergänzt und vertieft um eine Perspektive auf die synchrone Pluralität der kulturellen Bezüge als Simultaneität des Heterogenen. Beides hat er im Blick, wenn er im Unterschied zum attraktiv-selbstbezüglichen existentiellen das humanistische Erleben als »expansives Erleben, Selbstentäußerung« charakterisiert: »Hier dagegen sollen wir von uns selbst gerade absehen und uns den Wundern des Heterogenen öffnen.«1591 Etwas wie Individualität wird hier von der Pluralität her, und diese als in sich spannungsreich bis aporetisch, gedacht. So wie die Pluralität an der Aporetik (als einem ihrer Erscheinungsmodi) ihre Grenze findet und einen erhöhten Wertakzent gewinnt, sind im »Humanismus der ›natürlichen Künst­ lichkeit‹» kulturanthropologischer Universalismus und kulturanthro­ pologischer Partikularismus vermittelt. In der anthropologisch-axio­ 1588 Schütz: Humanismus als »Humanismuskritik«, S. 2. Vgl. Landmann: ZaS, S. 9: »auch der Mensch selbst erscheint als in diese qualitative Mannigfaltigkeit hereinge­ zogen, erscheint selbst von Mal zu Mal wie ausgetauscht.« 1589 Schütz: Humanismus als »Humanismuskritik«, S. 5. 1590 Ebd., Herv. F.S. 1591 Landmann: UuS, S. 204.

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logisch doppelsinnigen Fragestellung Wie bleibt man skeptisch beim Menschen? ist der Anspruch formuliert, wie dem Relativismus Plura­ lität so dem Monismus Humanität entgegenzusetzen. Diese Heraus­ forderung stellt sich umso dringlicher unter den Voraussetzungen von Globalisierung, das heißt einer zunehmenden zeitlichen Verdichtung und räumlichen Erstreckung sich inhaltlich differenzierender, medial bündelnder Kommunikations- und Handlungsweisen: »›Globalisie­ rung‹ ist heute der Horizont, zu dem das Individuum sich mit Blick auf die Welt verhalten muss.«1592 Hier ist der Einsatzpunkt einer gegenwartskritisch angelegten Kulturanalyse, die empirisch zu untersuchen, begrifflich zu fassen hätte, welche Selbst- und Weltverhältnisse, Erlebens-, Empfindensund Denkweisen durch globale Technologien wie das Internet ermög­ licht, begünstigt, erschwert, verhindert werden. Ausschlaggebend hierfür ist der Befund, dass es sich beim Internet nicht allein um eine Technologie, sondern um ein die Lebenswelten der in ihm lebenden, aus ihm heraus erlebenden Individuen umfassendes, sämt­ liche Kulturbereiche einbegreifendes Medium handelt. Als solches vereint, repräsentiert und transformiert es vielheitliche kulturelle Inhalte und Bezüge in neuartigen Strukturen, die sich ihrerseits zu Formen der Kommunikation (bspw. blogging, reblogging, twit­ tern), Präsentation (bspw. posting) und Identifikation (bspw. liken) resp. Inhalten wie Digitalität, Online-Sein, Social Media verdichten, die als Kulturfaktoren lebensstilprägend sind. Es ist der doppelte Anspruch eines »Humanismus der ›natürlichen Künstlichkeit‹», kri­ tisch wider die Zerstreuung des Menschen im Raum anzufragen wie auch konstruktiv die kulturellen Chancen einer zunehmenden Verschränkung von Pluralität, Globalität und Digitalität zu ermessen. Die anthropologische Spannung von Künstlichkeit und Natürlichkeit des Lebewesens Mensch ›erscheint‹ geschichtlich als jeweiliges Ver­ hältnis von Allgemeinem und Besonderem, in dem der Mensch seine spezifische Wirklichkeit, die Anthropologie den Gradmesser ihrer Adäquatheit resp. Aussagestärke hat. Was Landmann seinerzeit über das Planetarwerden der abendländischen Kultur eher beschrei­ bend sagte, dürfte für die Situation unserer Gegenwart weit mehr noch einen normativen Bezugspunkt bilden: »Die einzelnen Kulturen bleiben zwar unterschieden genug, formen auch das Empfangene jeweils nach ihrer eigenen ›Konstellation‹, ihrem ›Kulturwillen‹ um, 1592

Koerrenz: Bildung als Reflexion und Gestaltung von Vorurteilen, S. 14.

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dennoch bildet sich so innerhalb getrennter Kulturen ein Stratum des überspannend Gemeinsamen.«1593 Künstlichkeit als Kulturfaktor und Deutungsmuster: Seinen axio­ logischen Akzent gewinnt kulturanthropologisch-humanistisches Denken gerade aus dem erhöhten, das heißt: anthropologisch vertief­ ten Bewusstsein der Künstlichkeit des Menschen.1594 Indem es ihn als solchen das kreativ neue Lebensformen ersinnende und gestaltende Wesen sein lässt, appelliert es nachdrücklich an sein entsprechendes, unversiegliches Vermögen: »Wenn sie ungemäß werden, erkennt er ihre Künstlichkeit und löst sich von ihnen. Wie er sie selbst gemodelt hat, so kann er sie auch ummodeln.«1595 Das natürlich-künstliche Lebewesen ist der Mensch anthropologisch, soweit Künstlichkeit seine ›Natur‹ bildet und geschichtlich, insofern seine Loslösung aus einer traditionalen Bindung in eine neue ›Kulturnatur‹ übergeht. Der Terminus der ›natürlichen Künstlichkeit‹ ist eine deskriptive Chiffre und ein kritisches Symbol. Er eröffnet einen Zugang, um die Ambivalenz zu fassen, die sich in Repräsentationsformen neuester Medien wie dem Internet finden lässt. Diese besteht darin, dass zwar die Künstlichkeit der Inhalte und Darstellungsformen in bzw. durch deren Flüchtigkeit, Kontextualität, Wandelbarkeit ersichtlich ist, zugleich aber ihre Omnipräsenz, Abrufbarkeit, Wiederholbarkeit ihnen einen erhöhten Natürlichkeitsanstrich verleiht. Von hier aus stellt sich die pädagogische Frage nach Mitteln eines ›digitalen Lernens‹, das u.a. die Entwicklung von »Kriterien zur Beurteilung von Konstellationen«1596 bezwecken würde. Fassen wir mit Ralf Koerrenz formale Bildung als »Auseinandersetzung mit der Vorhandenheit von Vorurteilen im hermeneutischen Zir­ kel« und bestimmen das »Gewahrwerden der Vorurteilsstruktur im Verstehensprozess« als »zu vermittelnde[n] Bildungsgehalt«1597, so führt uns das auf die kultur- und medienphilosophische Frage nach den speziellen Voraussetzungen, Elementen und Dynamiken von Vorurteilsbildung in digitalen Kontexten. Dabei ist ebenso wenig wie in Landmanns Anthropologie die Kreativität eine davon aus­ gehende Bildung des Menschen auf geistige Aktiva und Prozesse 1593 1594 1595 1596 1597

Landmann: Die Vielheit der Kulturen vor dem Ultimum, S. 541. Vgl. Landmann: PA, S. 183. Ebd., S. 154. Ullrich: Der kreative Mensch, S. 90. Koerrenz: Bildung als Reflexion und Gestaltung von Vorurteilen, S. 26.

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reduzierbar. Wie der anthropologischen Problemstellung die Vielheit menschlicher Lebensformen vorausgeht, so bildet diese auch ihren skeptisch-utopischen Fixpunkt, und zwar in einem dezidiert kultur­ schöpferischen Sinne. Dieser ergibt sich aus einem Verständnis von Geschichte als lebendiger, sich noch nicht und nie gänzlich ausgelebthabender Wirklichkeit des Menschen: »Gab der historische Sinn uns bisher nur die Möglichkeit, uns im Geiste an jede Stelle der Vergan­ genheit zurückzuversetzen, so muß er uns jetzt die noch höhere Möglichkeit geben, uns im Sein an sie zurückzuverpflanzen.«1598 Nur für eine linear-teleologische Ontologie des historischen Seins ist solches ›Zurückverpflanzen‹ ein Rückschritt; einem Verständnis von Geschichte als permanenter Rekonstellierung polyvalenter Inhalte und unausgeschöpfter Potenziale eröffnet sich ein simultaneistischpluralistischer, teleologisch enthaltsamerer Blick, der die ›natürliche Künstlichkeit‹ des Menschen so radikal wie schöpferisch ernst nimmt: Die abendländische Kultur hat in vielen Domänen den schöpferischen Punkt überschritten. Auf begrenzten und abgeschirmten Territorien könnte sie Kulturzustände wachsen lassen, die sich noch in früherer und keimträchtig produktiverer Phase befinden. Zunächst künstlich erzeugt, würden sie, sich selbst überlassen, eine natürliche Entwick­ lung nehmen und die Menschheit so noch mit einer Mannigfaltigkeit neuer Hochformen beschenken.1599

Es scheint wenig gewonnen, wenn diese Aussage vordergründig darauf reduziert würde, das kreative Potenzial des Menschen hätte sich tatsächlich erschöpft. Ihr von hier aus wenigstens erwägbarer, zumal bildungstheoretisch bedeutsamer Hintersinn besteht darin, dass der Mensch sich gerade aus dem Erleben und Empfinden von Künstlichkeit, die sich ihm ebenso als Kulturalität und Epigonalität seiner selbst wie als Relativität und Kontingenz der geschichtlichen Pluralität vermittelt, zu einem durch den Wertakzent auf der Plura­ lität inhaltlich wie motivational angestoßenen kreativen Handeln Landmann: MSGK, S. 129. Landmann: EdI, S. 148. Dies ist ›anthropologisch realistisch‹ insofern das zivili­ satorisch-kulturelle ›Level‹ Freiheitsräume eröffnet, so eine Verlagerung auf bis dato Unnotwendiges ermöglicht, der auch sich modifizierende Bedürfnislagen entsprechen könnten, da ja prinzipiell nicht nur das bisher Überflüssige in ein für notwendig Gehaltenes (vgl. Landmann: Das Parasitäre, S. 43), sondern umgekehrt auch dieses wieder in ein Überflüssiges umgedeutet und schließlich nach und nach ›umempfun­ den‹ werden kann. 1598

1599

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aufschwingt. Noch einmal ad hominem formuliert: Du bist gemacht, also mache Dich, denn viele soll es geben! Wie sich die Pluralität der Menschseinsweisen ohne ›anthropologische‹ Einheit nicht denken lässt (sofern diese nur als Ausdruck-von einander vermittelt sind), so ist die Pluralität der Menschseinsweisen ohne ›utopische‹ Einheit nicht zu haben (sofern die andernfalls willkürlich verpuffende Kreati­ vität nur, wenn sie einem Darauf-hin verbunden ist, gestaltend tätig wird). Die kreativ-konstruktive, paradox-prekäre Verknüpfung von Universalismus (Einheit) und Partikularismus (Vielheit) in der nor­ mativen Vorstellung einer »Pluralität der Absoluta« bildet Anspruch und Hintergrund von Landmanns Denken; sie ist als eine anthropo­ logische Formalisierung der hebräischen Geschichtsphilosophie mit ihrer Vorstellung einer Auserwähltheit-für-alle zu verstehen.1600 Die Erwählung bildet den Elativ der Partikularität. Durch die Erwäh­ lung wird sie zu einer Partikularität nicht nur neben andern, sondern zu einer über alle andern hinausgehobenen. Aber das, was sie heraushebt, ist eben die Macht, die allen gehört, die also logisch gar nicht (nur geschichtlich) herausheben kann. Durch die Erwählung empfängt die Partikularität paradoxe Weihe.1601

Wenn man so will, kehrt hier die anthropologisch im Begriff von Kultur gefasste Objektivität und ›Notwendigkeit‹ des Natur-gewor­ denen wieder in der axiologisch-utopisch gewonnenen Vorstellung des Kultur-werden-sollenden. Beides, Ausdruck von und auf Etwas hin zu sein, bildet nicht nur die Voraussetzung des Kulturellen selbst, sondern Bedingung und Grenze auch seines Verstehens, denn dieses »richtet sich immer auf den Ausdruck, nie aber auf das Erleben des Anderen selbst. Dort ist eine Grenze, die nicht übersprungen werden kann und die Achtung erfordert.«1602 Der spezielle, erhöhte Anspruch inter-personalen Verstehens und Handelns besteht darin, zwar die Grenzen der Versteh- und Verfügbarkeit des kulturell Heterogenen zu wahren, es dabei aber gleichzeitig nicht – eben auch nicht via Mysti­ fizierung zum Totalfremden – auf die hinter diesen Grenzen liegenden Inhalte und Bezüge zu reduzieren, es bei allem Differenzerleben zwar ein Eigengestaltiges und Eigensinniges, deswegen aber nicht auch ein Einheitliches und Geschlossenes sein zu lassen: »Die ›Schließung‹ Vgl. Landmanns Erläuterungen zu fünfzehn Anthropina der Genesis in UuS, S. 284–286. 1601 Landmann: JM I, S. 39. Vgl. Auch: UuS, S. 290 ff. 1602 Koerrenz: Bollnow Porträt, S. 88. 1600

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des Kreises zieht Grenzen, fokussiert auf die jemeinige Kultur, in der der Andere (als Fremder) identifiziert wird – um einen doppelten Preis: das konstitutive Un-eins-Sein seiner wie meiner Kultur wird so vergessen gemacht.«1603 Von hier aus lässt sich nochmals zeigen, auf welche Weise bei Landmann die Vorstellung von Individualität in der einer konstitu­ tiven Pluralität wurzelt: Nicht in und kraft seiner substantiellen Einheitlichkeit ist der Mensch ein Individuum, das seinen fixen personalen Kern in der Zeit entfaltet und auslebt; sondern seine Individualität besteht in der kreativ-reaktiven Gestaltung und Orga­ nisation seiner inneren Pluralität. Nur sofern inter-personale und inter-kulturelle Differenzen als Ausweis nicht nur der faktischen Fülle des Menschen (der Heterogenität des Individuums), sondern auch seiner utopischen Wandlungsoffenheit (der Pluralität des Heteroge­ nen) geltend gemacht werden, erfüllt sich der humanistische Sinn der »Pluralität der Absoluta« vollständig gegenüber jedwedem Rela­ tivismus. Diesen Zusammenhang von Heterogenität und Pluralität haben, wie mir scheint, auch Schöning und Weinberg im Blick, wenn sie schreiben, der Horizont »fungiert […] eher als das als unendliche Fülle interpretierte Absolute, das die divergenten Perspektiven beher­ bergt.«1604 Das pluralistische Vor- und Werturteil einer Heterogenität bejahenden Haltung wird selten expliziert, verrät sich aber in der posi­ tiven Valenz von Worten wie ›Vielfalt‹ oder ›interkulturell‹, die sich bezeichnenderweise bei ›Kultur‹ und ›kulturell‹ weniger eindeutig durchsetzt, ganz abgesehen davon, dass häufig von ›Interkulturalität‹, selten aber von ›Kulturalität‹ die Rede ist. Gerade die Bejahung von Differenz dürfte einen nicht geringen Anteil ihrer Kraft von der Vorstellung einer Bereicherung durch Pluralisierung beziehen.1605 Sobald sich die Philosophie des Kulturlebewesens Mensch dieses plu­ ralistischen Wert- und Vorurteils bewusst wird, definiert, differenziert und begrenzt sich ihr Aussagebereich: dass er das Kreativ-, Kulturund Plurallebewesen ist, vermag sie anthropologisch zu begründen; 1603 Schöning u. Weinberg: Ironie der Grenzen – Horizonte der Interkulturalität, S. 210. 1604 Ebd., S. 204. 1605 Diese finden wir in den weiteren Ausführungen Schönings und Weinbergs zum Horizont (vgl. ebd.), in dem m.E. ebenso eine philosophisch fruchtbare Metapher wie eine bezüglich der Fokussierung auf das Geistige und Ausblendung (bzw. unzurei­ chenden Andeutung) des pluralistischen Wertakzents problematische Abstrahierung der Idee menschlicher Kulturalität zu sehen ist.

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dass er es sein solle, vermag sie lediglich zu postulieren. Aus ihrer Unzuständigkeit, die Güte des Menschen zu beweisen, tönt ihr Appell an ihn, er möge seinerseits praktisch bezeugen, dass das, was sie anthropologisch über ihn aussagt, Ausweis seiner Güte ist bzw. sein kann.1606 Von Menschen zeugen – Humanismus als Anti-Inhumanismus: Damit sind wir bei der ethisch-axiologisch tiefsten Einsatzstelle von Landmanns Kulturanthropologie und eines von ihr bezogenen »Humanismus der ›natürlichen Künstlichkeit‹» angelangt. Die Frei­ heit und Kreativität des Menschen wird hier in ihrer menschlich fragilsten Form, als Gegenmöglichkeit des Inhumanen, thematisch; die seine Schöpfertätigkeit ermöglichende Fremdheit in der Welt und Distanz zu ihren Dingen pervertiert sich in eine offene Feindschaft, wofür Andreas Steffens treffende Worte gefunden hat: »Im Extrem kann dieses, was ich nicht bin, mein eigenes Dasein ergreifen, wenn ich als Objekt einer Feindschaft äußerstenfalls zu dem gemacht werde, was es in der Welt nicht geben soll.«1607 Eingedenk dieser äußersten Contra-Möglichkeit des Humanum selbst ist ein von seiner ›natür­ lichen Künstlichkeit‹ und damit erhöhten Fragilität ausgehender Humanismus als Anti-Inhumanismus bestimmt.1608 Deutlich zeigt sich hier die bedingende Grenze des kulturanthropologischen Ansin­ nens, in Gegenwendung zu den Reduktionen der Menschenbilder die Bestimmung ›des Menschen‹ transzendental von all seinen Zeugnis­ sen in der Geschichte zurückfragend zu gewinnen. Diese bedingende Grenze liegt in der kulturellen Pluralität, in der Menschen vielleicht den deutlichsten Ausweis von Humanität haben wie umgekehrt in vielheitsnegierenden Ansätzen und Aktivitäten ernste Warnzei­ chen realer und drohender Inhumanität. Nicht obwohl, sondern weil Landmanns Kulturanthropologie das Inhumanum realistisch als dem Humanum inhärent begreift, vermag sie, ihm diesen kritischen Sinn für einen Humanismus des Plurallebewesens Mensch abzuringen. Von hier aus erhellt sich der axiologisch-kritische Sinn einer Tieferlegung der Philosophie des Menschen im Kulturbegriff: Erstens Vgl. Hupe: Kreativität und Teleologie, S. 200. Steffens: Ontoanthropologie, S. 47 f. 1608 Ich übernehme in dieser Formulierung eine sprachliche Konstruktion, wie sie Schöning und Weinberg für eine präzisere und kritische Fassung des Ethnozentrismus bzw. seiner Problematik verwenden, wenn sie von »Anti-Antiethnozentrismus« spre­ chen (Ironie der Grenzen – Horizonte der Interkulturalität, S. 221). 1606 1607

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bezieht sich deren Kritik an jedweder Anthropologie eines sich selbst hervorbringenden Individuums auch auf dessen ethische Anmaßung, wie Landmann sie, ebenso drastisch wie ohnehin sehr konstruktiv, platziert: »Wie gern würde der Einzelne, wenn es nur auf ihn ankäme, morden, stehlen und ehebrechen! Aber die Gesellschaft als ganze kann sich nur erhalten, wenn ihre Mitglieder sich nicht gegenseitig zerfleischen, wenn der Besitz gesichert ist und die Erbfolge unbe­ stritten bleibt.«1609 Aufschlussreich ist dieses ›Gedankenexperiment‹ für das Verständnis von Funktionsweise, Sinn und Angreifbarkeit jener geistigen Formen (etwa des Rechtes), in denen ›das Ethische‹ auf irgendeine Weise fixiert und materialisiert, das heißt kulturell verbürgt ist. Die in ihnen sanktionierte inhumane Gegenmöglichkeit des Menschen vermittelt sich sprachlich wie inhaltlich und bleibt so, wenngleich subtil, präsent: »Die ethischen Gebote sind Verbote […]. Daher die häufig hervorgehobene negative Form des Dekalogs. Das Ethische ist seiner Natur nach Postulat und hat immer erst einen Gegenimpuls niederzuringen«.1610 In positiver wie negativer Formulierung ist das Du-sollst des Menschen Aufweis der Notwen­ digkeit seines aktiven Einsatzes, eine axiologische Akzentuierung seines anthropologischen Du-kannst als dem deutlichen Hinweis auf seine Kreativität. Die Künstlichkeit, das heißt: Verlierbarkeit seiner Kultur samt ihrer ethisch relevanten Aspekte und Formen, die nur unter der Voraussetzung eines ontisch und ethisch letztgültig fixier­ baren Wesens des Menschen dessen ethisches Empfinden kränken würde, bedingt unter den Voraussetzungen von Kreativität, Pluralität, Geschichte gerade umgekehrt den erhöhten Wertakzent des Kultu­ rellen als einem Ethischen und also, was einen pädagogischen Sinn einschließt, praktisch zu Bewährenden. Jetzt fordert der Mensch bewußt das Unnatürliche als das Höhere. Wer es für natürlich hält, der verkennt die Anstrengung und die Spannung des kulturellen Lebens und wird verabsäumen, genügend dazu zu erziehen und vor der Abweichung zu warnen. Weil er die Kultur fälschlich für Natur hält, wird sich ihm die wahre Natur wieder enthüllen.1611

An einer nicht unproblematischen Stelle in einem unter dem Titel Andersheit des Judentums veröffentlichten Brief wird deutlich, dass Landmann unter ›Humanität‹ allerdings einen erhöhten Anspruch 1609 1610 1611

Landmann: PuA, S. 23. Ebd., S. 23 f. Landmann: MSGK, S. 158.

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formuliert. Sofern sie etwas mit der vereinnahmenden Geste des ›Menschlichen, das alle eint‹ zu tun haben soll, kommt alles darauf an, dass diese Geste nicht der Flucht vor einer radikal vielheitlichen, darin sich zwar zumutenden, dennoch um nichts weniger staunenswürdi­ gen Realität entspringt, sondern umgekehrt jener von Landmann geforderten Haltung, es mit dieser vielheitlichen Wirklichkeit (so) ehrlich (es geht) aufzunehmen: Die Juden stellen nun einmal unter den Völkern etwas ganz Spezifi­ sches, Einmaliges dar, und es scheint mir eine falsche Humanität zu sein, sie dadurch in Schutz zu nehmen, daß man erklärt: sie sind Men­ schen wie wir. Die wahre Humanität müßte gerade dieses Einmalige anerkennen und bejahen, aber eben dies ist gerade das Schwerste, denn es scheint ein tiefer Instinkt der Seele zu sein, daß sie das Andere, das, was die vertrauten Kategorien sprengt, zunächst einmal verwirft.1612

Der axiologisch-kritische Sinn eines philosophischen Kulturbegriffs zeigt sich zweitens als – auch in der eben zitierten Textstelle mit Bezug auf das Individuum als einer ›personalen Ganzheit‹ enthaltenen – Kritik an der Neigung menschlicher Vernunft zu monistischer Beru­ higung und abstrahierender Unifizierung sowie an deren inhumanen Folgen. Transhuman ist die den Menschen ebenso auszeichnende wie gefährdende Vernunft »in dem doppelten Sinn, daß nicht nur ihre Leistung die der Einzelvernunft weit hinter sich läßt, sondern daß sie sich auch inhuman über menschliche Wünsche, ja über die menschliche Würde hinwegsetzt.«1613 Lebensformen bilden: Schließlich und drittens enthält der Kul­ turbegriff selbst einen anthropologie-, das heißt kulturkritischen Sinn: Im (axiologischen) Postulat von Kulturalität als Künstlichkeit gewinnt er eine kritische Distanz zu seiner eigenen Bestimmung des Kulturellen als ›zweiter Natur des Menschen‹.1614 Allzumal sofern die Vernatürlichungstendenz des Kulturellen einem Bedürfnis des – von ihm ohnehin nur analytisch trennbaren – Menschen entgegenkommt, 1612 Landmann: Andersheit des Judentums [Brief an Herr Müller Gangloff]. In: Kom­ munität. Vierteljahreshefte der evangelischen Akademie 6 (1962), S. 142. 1613 Landmann: AgV, S. 53. Vgl. auch EdI, S. 205. 1614 Der Begriff von Kultur als ›zweiter Natur‹ des Menschen geht bis auf Poseidonios zurück: »Poseidonios benutzt auch – möglicherweise als erster Philosoph – den Aus­ druck ›zweite Natur‹ als zentralen Begriff seiner Anthropologie- und Kulturentste­ hungslehre« (Hans Lenk: Zur Anthropologie des metasymbolischen Wesens. Über Cassirer und Landmann hinaus. In: Grundner et al. (Hg.): Exzerpt und Prophetie, S. 237).

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richtet sich die Kritik des Kulturbegriffs auch auf dieses Bedürfnis des Menschen und verortet ihn ›unverrückbar‹ in einer spannungsrei­ chen Mitte: Ob wir zu Materie sinken oder zu Göttern steigen, das bleibt fast gleich, denn »der Mensch in ihrer Mitte« ist beidemal aufgegeben. […] [P]ositive und negative Extraposition unserer Sehnsucht, Freiheit und Schicksal abzustreifen für Notwendigkeit von innen und Unbe­ rührbarkeit durch das Außen. Die negative Extraposition (zur Natur) ist die warnende, der Sehnsucht nicht nachzugeben, die positive (zu den Göttern) die verführende, uns mit ihr zu identifizieren.1615

Mit der anthropologischen Begründung und axiologischen Postulie­ rung des Menschen als Kreativ- und Plurallebewesen leistet Land­ manns Philosophie einen unverzichtbaren Beitrag für »die unabseh­ liche Arbeit der Menschheit«, von der Georg Simmel dachte, sie würde »immer mehr, immer mannigfaltigere Formen aufbringen […], mit denen die Persönlichkeit sich bejahen und den Wert ihres Daseins beweisen wird.«1616 Diese ›Arbeit der Menschheit‹ begrei­ fen wir als Bildung des Menschen, womit eine anthropologische Notwendigkeit ebenso gemeint ist wie ein individual- und kulturge­ schichtlicher Prozess gefasst werden kann. Dieser Prozess lässt sich folgendermaßen charakterisieren: 1. Die Bildung des Menschen hat ihre Voraussetzung in seiner Freiheit, die positiv in der Fähigkeit zur kreativen Selbstvollendung, ›negativ‹ in der kulturellen Geprägtheit durch die Umkultur besteht. 2. Sie hat ihren Zielhorizont in der kulturellen Pluralität, die selbst faktische Grundlage sowie anthropologische und axio-logische Voraussetzung einer Selbstbestimmung des Menschen zur bzw. als Individualität ist. 3. Formal besteht der ›Inhalt‹ bzw. der ›Stoff‹ der Bildung im Menschen als solchen, das heißt aber: in seinen zeitlich und räumlich variierenden kulturellen Lebensformen. 4. Die Bildung des Menschen vollzieht sich geis­ tig als dialektischer Prozess zwischen Entfremdung als Entstaltung (Entkreation) und Familiarisierung als Gestaltung (Rekreation bzw. Rekonstellierung). Den formalen Horizont bildet die ›Vermittlung‹ von Allgemeinem (Kulturalität, Geschichtlichkeit, Werthaftigkeit) und Besonderem (Kulturen, Geschichten, Werten) sowie von (ver­ meintlich) Fremdem und (vermeintlich) Eigenem. Diese Vermittlung eröffnet dem Einzelnen in seinem reflexiven Selbstverhältnis einen 1615 1616

Landmann: FA, S. 184. Simmel: Grundfragen der Soziologie, S. 149.

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Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen

kritisch-problematisierenden Zugang zur Vorurteilsstruktur seines eigenen Welt- und Menschenbildes und damit eine rekreative Arbeit an seinen Vorurteilen. 5. Die Bildung des Menschen vollzieht sich praktisch als Gestaltung konkreter Lebensaufgaben, durch die sich dem Einzelnen die Sorge und das Gelingen als Dimensionen des menschlichen Lebens per se eröffnen und durch die er in der Sorge um das Gelingen-können dessen, was ihm seinerseits als Selbstbild und als Form seines Lebens vorschwebt, einen positiven, d.h. produktiven Anhaltspunkt gestalterischer Lebenspraxis erhält. Die allgemeine Herausforderung besteht in der Vermittlung der heterogenen, teils konfligierenden bis antinomischen Anforderungen der ihn umgeben­ den Kulturbereiche mit seinem eigenen Anspruch auf Identität, Indi­ vidualität und Personalität. Den formalen Zielhorizont spannt hier der Entwurf eines pluralen Selbst, in dem der Einzelne ebenso seine innere Pluralität kreierend entwirft und organisierend gestaltet wie seine so gewonnene Lebensgestalt wiederum offen und fluide hält. Es ist der umfassende Sinn von Michael Landmanns Philosophie, die kulturell-geistige Ausgangssituation einer solchen theoretisch wie praktisch anspruchsvollen Bildung zur Kultur einer Pluralität des Menschen, in der seine Bildungs- und Kulturphilosophie ihre dichte Formel hat, ebenso nüchtern-realistisch wie subtil-aussichtsreich bestimmt zu haben. Der moderne Mensch darf weder das, was aus der Vergangenheit zu ihm herüberragt, schlicht wiederholen, denn er hat sich nicht nur zeitlich davon entfernt, noch will er dem »Traum vom besseren Leben« so sehr nachhängen, daß er sich durch ihn um sein Erbe bringt. Jede der beiden Haltungen enthält sowohl ein bonum wie ein malum. Indem sie das malum der andern kompensiert, setzt sie sich zugleich deren bonum gegenüber ins Unrecht. Wir können den Romantiker in uns und den Aufklärer in uns nicht synthetisieren, nicht zum Ausgleich bringen, sondern müssen in der Spannung zwischen beiden leben, die eine neue Möglichkeit des Daseins bildet.1617

Hier spricht der unermüdliche Dank des Epigonen – zu uns, auf dass wir ihm kritisch folgen: In jeder Spannung, die wir in uns nicht ausgleichen können, sondern aushalten müssen, liegt jeweils eine solche neue Möglichkeit verborgen, zu der wir uns nicht anders als: bilden können. 1617

Landmann: JM I, S. 42.

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