Facetten des Menschen: Zur Anthropologie Moses Mendelssohns. Diss. [1 ed.] 9783787318827, 3787318828

Diese Studie stellt Moses Mendelssohns (1729 - 1786) OEuvre als einen einzigartigen Denkansatz in der sich neu herausbil

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German Pages 632 [634] Year 2009

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Facetten des Menschen: Zur Anthropologie Moses Mendelssohns. Diss. [1 ed.]
 9783787318827, 3787318828

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ANNE POLLOK Facetten des Menschen

STUDIEN ZUM ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 32

FELIX MEINER VERLAG · HAMBURG

ANNE POLLOK

Facetten des Menschen Zur Anthropologie Moses Mendelssohns

FELIX MEINER VERLAG · HAMBURG

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Rothschild Foundation Europe. Die vorliegende Arbeit wurde 2007 von der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-1882-7

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2010. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT

Einleitung ......................................................................................................

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Kapitel I: Die Bestimmung des Menschen I.1 Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹? ........ I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog .....................................................

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Kapitel II: Theorie der Sinnlichkeit II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept ............................ 117 II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen« ...... 154 II.3 Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie .......... 191 Kapitel III: Erkennen und Handeln III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns .................. 245 III.2 Leidenschaft und Meeresrauschen. Die Nutzbarmachung des Gefühls 290 III.3 Zwischen Erkennen und Begehren. Das Billigungsvermögen ............. 334 Kapitel IV: Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur IV.1 Lebendige Überlieferung oder toter Buchstabe. Mendelssohn über Sprache ................................................................ IV.2 Das Individuum im Spannungsfeld von Geschichte und Gesellschaft ................................................................................ IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff ...................... IV.4 Toleranz statt Assimilierung: normative Konsequenzen der Glaubenswahrheiten ..........................................................................

355 390 426 469

Kapitel V: Metaphysik als ›subjektive‹ Theodizee V.1 »Der Mensch ist bloß ein unaufhörliches Zeitliches …« Mendelssohns Theorie der Unsterblichkeit ......................................... 499 V.2 Die Seele als Münzensammler. Mendelssohn und Herder im Dialog 531 Schluss: Ansätze zu einer rationalistischen Anthropologie ................................ 575 Abkürzungs- und Siglenverzeichnis ................................................................. Bibliographie ................................................................................................. Personenregister .............................................................................................. Sachregister ....................................................................................................

585 587 613 619

»Meine Maxime ist, ich lasse mir kein Vergnügen entgehn, das mit irgend einer Vorstellungsart verbunden ist. Meine Vernunft muß nicht spröde thun, und mir die unschuldigen Vergnügen dieses Lebens verleiden wollen. Die Philosophie soll mich glücklicher machen, als ich ohne dieselbe seyn würde, und dieser Bestimmung muß sie treu bleiben. So lange sie eine gute Gesellschafterin ist, und mich auf eine angenehme Weise unterhält, bleibe ich bey ihr. So bald sie vornehme, frostige oder gar saure Geister macht, und üble Laune bekömmt, laße ich sie allein, und spiele mit meinen Kindern.« Moses Mendelssohn an Sophie Becker, 27. Dezember 1785; JubA XIII, 332 f.

»Die Dunkelheit hat in den Schriften einen Vorzug vor der Deutlichkeit, indem das Dunkle eine große Erwartung des Inhalts erregt, so wie im Dunklen alle Gegenstände größer aussehen. Es giebt Schriftsteller, die durch Dunkelheit glänzen (wenn es kein Widerspruch ist); denn indem Niemand ihre Schriften durchdringen kann, bleiben ihre Fehler unentdeckt.« Immanuel Kant, Menschenkunde (WS 1781/82), AA XXV, 874

»What kind of a project is it that had to be invented by later commentators who needed a dead dog to kick with impunity, in order to blame it for a desease which they believe it had passed down to them?« Robert Wokler, »The Enlightenment Project and its Critics«, in: The Post-modernist Critique of the Project of Enlightenment, ed. Sven-Eric Liedmann, Atlanta 1997, 18

»Denn ich kenne die Deutschen: sie wollen wie die Metaphysiker alles von vorn an wissen, recht genau, in Großoktav, ohne übertriebene Kürze und mit einigen citatis.« Jean Paul, Hesperus

EINLEITUNG »Die Teutschen haben sich durch die Naturgeschichte gewöhnt, alles zu klassifiziren. Wenn sie mit den Gesinnungen und Schriften eines Mannes nicht recht fertig werden können; so ergreifen sie den ersten den besten Umstand, bringen den Mann in eine Klasse, und machen ihn zum -isten, als wenn damit alles übrige schon gethan wäre.« Mendelssohn, An die Freunde Lessings, JubA III/2, 189 »Mendelssohn ist ein Denker der Nuancen.« Goetschel 1997, 205

Der anthropologische Diskurs ist ein Charakteristikum des Aufklärungszeitalters. Die Bedingungen für den Gebrauch des eigenen Verstandes, die Anwendung und Verfeinerung menschlicher Erkenntnis- und Handlungskategorien bildete einen Untersuchungsschwerpunkt seiner wichtigsten Vertreter und bestimmte so disziplinenübergreifend die Debatte. Dabei ist jedoch aufgrund der Vielfalt der in diesem Diskurs vertretenen Ansichten nicht immer klar, welche Art Anthropologie jeweils gemeint war. Ein prominentes Beispiel hierfür mögen Friedrich Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) sein. In ihnen wird der Versuch einer »transzendentalphilosophischen« Begründung des Schönen unternommen, der nicht nur bei den Zeitgenossen, sondern auch in der Forschungsliteratur immer wieder auf Befremden gestoßen ist. Gerade vom Standpunkt der von Schiller als Untersuchungsgrundlage angeführten Transzendentalphilosophie, sei sie nun Fichteanischer oder Kantianischer Prägung, ist der von ihm eingeschlagene Weg zur Aufdeckung innerseelischer Gesetzmäßigkeiten unverständlich.1 Ein Hinweis des Autors selbst bietet einen Ausweg aus dem Dilemma, denn er bezeichnet seine Analyse als eine »vollständige anthropologische Schätzung« (NA 20, 316, Hervorhebung A.P.), was schon in sich einer strengen Auslegung nach transzendentalphilosophischen Gesichtspunkten widerspricht. Was Anthropologie in diesem Zusammenhang meinte, scheint weitgehend unklar zu sein. Jedoch ließe sich im Hinblick auf die zeitgenössische Diskussion über Anthropologie und damit unter Rückgriff auf Autoren wie Moses Mendelssohn, die – über Jacob Friedrich Abel vermittelt – im Hintergrund von Schillers Philosophie stehen2, zeigen, dass Schiller hier auf einen bestehenden Diskurs zurückgriff, 1 Vgl. zur Unangemessenheit einer solchen ausschließlich auf die Kantische Philosophie abstel-

lenden Lesart Riedel 1998, 155. 2 Vgl. dazu umfassend Riedel 1985 (zum Zusammenhang mit der Bestimmungsdebatte v. a. S. 156–76) und 1998, sowie Alt 2000. Die Schriften des jüdischen Aufklärungsphilosophen waren Schiller seit der Karlsschulzeit bekannt, natürlich v. a. der Phädon (1767 u. ö.), aber sicherlich auch die Philosophischen Schriften (1761/71). Dass Schiller sich in der »Theosophie des Julius« an den erwähnten Werken orientierte, hat zuletzt Riedel 1985, 160–63 gezeigt. Auch andere Texte mögen hier einschlägig sein, ob Schiller sie nun im Original oder aus Diskussionen kannte. Während sich

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Einleitung

den näher zu erklären er für unnötig hielt. Um jedoch heutzutage das Konzept der »ausgeführten Bestimmung« (NA 20, 353) des Menschen im Genuss des »schönen Scheins« (ebd., z. B. 412) angemessen zu verstehen, ist die Kenntnis der in der Aufklärungszeit regen Debatte über die Bestimmung des Menschen von großer Wichtigkeit. Nun wurde aber gerade diese Form des Anthropologiediskurses in den 1770er und 80er Jahren von anderen Ansätzen, die frühestens mit Ernst Platner ihren festen Rahmen bekamen und sich mehr und mehr den sich herausbildenden Naturwissenschaften zuwandten, überformt und ist damit für die nachfolgenden Generationen weitgehend unkenntlich. Ein anderer, mit Johann Gottfried Herder assoziierter Strang entwickelte sich dagegen zur Ethnologie3, die die metaphysischen Konzepte der Aufklärungsphilosophie ebenfalls nachhaltig durchbrach. Beiden Ansätzen steht ein holistisch oder auch kulturtheoretisch geprägter, aber grundlegend der rationalistischen Philosophie verpflichteter Versuch einer »Bestimmung des Menschen« gegenüber, der erst in jüngerer Zeit wieder in den Blick der Forschung geriet. Er ist leibnizianischer Provenienz und das verbindende Glied so unterschiedlicher Ansätze wie desjenigen Christian Wolffs, Johann Georg Sulzers, Gotthold Ephraim Lessings oder auch Mendelssohns. Sein lebendiger Einfluss, so meine Vermutung, erstreckt sich bis auf Schillers Versuch einer »anthropologischen Schätzung« und zeigt den Einfluss des hochaufklärerischen, in gewissem Sinne noch vorkantischen Denkens im späten, bereits idealistisch geprägten 18. Jahrhundert. Wenn also gezeigt werden kann, was ›Anthropologie‹ zu Anfang der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war und sein sollte, lässt sich ein tieferer Einblick in das Denken der nachfolgenden Generation gewinnen, die, wie Schiller, auf diesen Diskurs zurückgriff und ihn mit später entwickelten Elementen zu kombinieren versuchte. Mendelssohns Philosophie stellt nur eine Form und Station in diesem ›Konzert‹ dar, doch ihr Einfluss ist kaum zu überschätzen, wie bereits Manfred Kuehn (1995, 197) in seiner Studie über die Rezeption der schottischen Common-Sense Philosophie in Riedel also auf die metaphysischen Wurzeln von Schillers frühen Schriften konzentriert, wird hier darauf verwiesen, dass Schillers philosophische Schriften nach der Kant-Lektüre auch aus popularphilosophischer Sicht betrachtet werden müssen, um ihre Komplexität und ihr eigentümliches Schwanken zu verstehen (vgl. Riedel 1985, V und Pollok 2008). 3 Vgl. Garber 2002, 163: Die aufklärerische Ethnologie »verhält sich zur Anthropologie wie eine Lehre der Lebenspraxis (physischer Standort, pflanzlich-tierische Ressourcen, gesellschaftlicher Organisationsgrad) zu einem (abstrakten) vollständigen Inventar aller Eigenschaftsformen des Menschen.« In Anlehnung an Johann Gottfried Herder tritt die Lehre von der Gleichwertigkeit der Kulturen als je eigenwertiger Ausbildungen menschenmöglicher Vollkommenheit als Forschungsprämisse hinzu (vgl. Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, 1774, Werke 4, 34 ff.). Seit 1770 ist der Terminus der »Kulturgeschichte« für dieses Gebiet bekannt (Garber 2002, 168). Wichtige Ressourcen dieser Forschungsrichtung sind u. a. Reiseberichte, physische Geographie, Menschheits- und Tierentwicklungslehre, wie v. a. Herder, aber auch Immanuel Kant und Carl Philipp Moritz hervorheben.

Einleitung

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Deutschland festhält: »Moses Mendelssohn was one of the most important German philosophers of the late German enlightenment. Indeed, it would be no exaggeration to say that he was one of the dominant forces on the German philosophical scene between 1755 and 1785. Especially his work in aesthetic theory and on the nature and role of sensibility was very influential, and it would be difficult to evaluate the development of German thought from Wolffian rationalism to Kantian idealism without paying close attention to Mendelssohn.« Aufgrund dieses weitgehend geteilten Urteils ist eine nähere Betrachtung von Mendelssohns ›Anthropologie‹ ein lohnenswerter und fruchtbarer Versuch, um die »anthropologische Schätzung« des 18. Jahrhunderts in ihren vielfältigen Facetten angemessener zu verstehen. Die vorliegende Arbeit ist dabei mit der Grundlegung einer solchen Untersuchung durch die Rekonstruktion einer ›rationalistischen‹ Anthropologie in Mendelssohns Œuvre, nicht dem darüber hinausgehenden Versuch einer Nachzeichnung ihrer Rezeptionsgeschichte befasst. Sie ist darüber hinaus kein Erklärungsversuch eines spezifisch ›jüdischen‹ Verständnisses von Anthropologie oder Philosophie, sondern folgt in diesem Sinne dem von Mendelssohn selbst ausgegebenen Diktum, dass die eigene Religion angesichts der aus Vernunftgründen darzulegenden Wissenschaft Philosophie zurückzustehen habe. Dennoch soll nicht geläugnet werden, dass seine Perspektive auf die Philosophie, nicht zuletzt in ›wissenschaftspolitischer‹ Sicht, durch seine Herkunft entscheidend geprägt ist. Verfasserin hält sich eine nähere Besprechung dieses Problemkomplexes für einen späteren Zeitpunkt vor; zudem sei auf die ausgezeichneten Arbeiten in dieser Hinsicht verwiesen.4 1784 resümiert Mendelssohn in seiner Beantwortung der Frage: »Was heißt aufklären?«: »Ich setze allezeit die Bestimmung des Menschen als Maaß und Ziel aller unserer Bestrebungen und Bemühungen, als einen Punkt, worauf wir unsere Augen richten müssen, wenn wir uns nicht verlieren wollen.« (JubA VI/1, 115 f.) Eine befriedigende philosophische Begründung dieses Ziels bleibt er – nicht nur im Aufklärungsaufsatz – schuldig. Mehr noch, es ist vor der Hand nicht leicht, den Inhalt dieses Konzepts einer »Bestimmung des Menschen«, wie Mendelssohn es verstanden wissen will, zu erfassen. Dennoch scheint der Mensch ein zentraler Begriff in seiner Philosophie zu sein.5 Wenn man Mendelssohns ›Auffassung vom Menschen‹ als den ruhenden Punkt annimmt und die weit gefassten Themengebiete als um diesen Punkt angeordnet interpretiert, lässt sich, so meine These, ein umfassenderes und zugleich kohärenteres Bild von Mendelssohns philosophischem Interesse und dessen Ausformulierung gewinnen, als es bisher vorliegt. Dabei ist als ein wichtiger Grundsatz 4

U. a. Altmann 1969, 1973, 1981, Arkush 1994, Bourel 2007, Sorkin 1996. Vgl. dazu bereits Altmann 1973, 12: »In dem reichen Œuvre Mendelssohns tritt uns seine Auffassung vom Menschen in vielen Variationen, aber ohne Schwankungen und Inkonsistenzen entgegen.« 5

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Einleitung

Mendelssohns eklektischer Umgang mit Referenzautoren beachtenswert, der nicht eine regellose Kombination fremder Elemente, sondern die Auswahl nach einem Kriterium verlangte.6 Ernst Cassirer hat in seiner Darstellung von Mendelssohns Philosophie deren einheitlichen Charakter betont, der sich über einen verbindenden Grundgedanken erhält. Alle seine Arbeiten sind demnach »von einem einheitlichen Geiste beseelt und beruhen auf der Durchführung ein und desselben systematischen Grundprinzips. [Dieses Prinzip] besteht in der Voraussetzung, daß die Wirklichkeit in ihrer Struktur und Fügung der Fügung des Gedankens genau entspricht und von ihr in keinem einzigen Zuge abweichen kann.« (Cassirer 1929, 42 f.) Mit dieser alles umfassenden Annahme einer durch und durch rationalen Einrichtung der Welt gemäß der leibnizschen Metaphysik ist allerdings noch nicht das gesamte Spektrum von Mendelssohns Denken bezeichnet. Zum einen erscheint ihm der Aspekt menschlicher Affektivität als ein zusätzliches wichtiges Untersuchungsgebiet, das sich zumindest dem ersten Anschein nach nicht nach diesen rationalen Gesetzmäßigkeiten richtet. Zum anderen nimmt er nicht an, dass diese rationale Weltstruktur allein gegeben ist, sondern, dass sie vom Menschen immer wieder rational wie emotional erfasst werden muss. Zu Recht formuliert daher Altmann als wichtigstes Anliegen von Mendelssohns Philosophie, die kognitiven und emotionalen Kräfte des Menschen auszubalancieren7, was wiederum der von ihm unterstellten Betonung eines auf Kohärenz ausgelegten Menschenbildes in Mendelssohns Denken entspricht. Dieser Auffassung des harmonischen Menschen als einer lebenslangen Forderung entsprach auch Mendelssohns Wissenschaftsideal: Zur wahren Erkenntnis gehört 6

Im Anschluss an Albrecht 1994, 19 f. und 577 definiere ich Mendelssohns Auffassung der Eklektik als eine »Auswahl« des Gegebenen nach einem bestimmten Prinzip. Nach den Studien Schneiders (1968, 5 und 1983, 86), an die Albrecht sich ausdrücklich anschließt, ist der entscheidende Punkt der Eklektik jedoch nicht in der Auswahl zu suchen – was ihren Begriff denn auch allzu beliebig erscheinen ließe –, sondern in der durch sie vermittelten Freiheit. Denn das Kriterium der Auswahl, die Frage, was ›passend‹ sei, wird dabei nach der eigenen Vernunft, nach den gewussten besten Gründen, und nicht nach einer vorab für wahr befundenen dogmatischen Lehrmeinung gewählt (in diesem Sinne auch in Anlehnung an Wolff, der sich nicht für einen Eklektiker, sondern Systematiker erklärt, jedoch daran festhält, dass jede gefundene oder ausgewählte Wahrheit selbständig verstanden werden muss, um überhaupt in die eigene Philosophie / das eigene System integrierbar zu sein; vgl. Albrecht 1995, 532). Obgleich Mendelssohn selbst sich abwertend über die neueren Eklektiker äußert, die »zu keiner Fahne [schwören], auch nicht einmal zur Fahne der Vernunft« (JubA V/1, 20. LB: 1. März 1759), hat er selbst doch, wie Albrecht 1994, 577 f. zu Recht betont, an der vernunftgemäßen Variante dieser Denkrichtung festgehalten. »Ich wähle auch aus den Systemen der Weltweisen immer dasjenige, was mich glücklicher und zugleich besser machen kann.« (an Sophie Becker, 27. Dezember 1785, JubA XIII, 333) Mit seiner philosophischen Methode des Dialogs zeigt er, wie der Weg zu einem wahren Gedanken entdeckt werden kann. 7 »The deepest concern of Mendelssohn’s philosophy: to bring the cognitive and emotional forces of the soul into harmony.« (Altmann 1971, 29) Siehe zum Modell der Harmonie im Gegensatz zu einem Balancemodell unten Kap. IV.3, 442 f., FN 169.

Einleitung

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nicht nur deren rationale Entwicklung, sondern auch die Bereitschaft, einmal angenommene Wahrheiten immer wieder zu überprüfen, sich mögliche Gegengründe bewusst zu halten und sich der Wahrheit der Sache immer durch eigene Begründung, nicht bloßes Vorurteil zu versichern.8 In diesem Sinne versuchte er auch, strenge Gedankenführung und Fasslichkeit des Ausdrucks zu einer – richtig verstandenen – Popularphilosophie zu verbinden: »Die Bestimmung des Menschen überhaupt ist: die Vorurtheile nicht zu unterdrükken, sondern sie zu beleuchten.« (JubA VI/1, 141)9 Vorbild für diese dynamische Auffassung menschlicher Vollkommenheit in der Vervollkommnung einer zugleich sinnlichen wie rationalen Welterkenntnis war nicht nur Leibniz, sondern waren auch so unterschiedliche Denker wie Sulzer, der nach den rational verborgenen Mechanismen menschlicher Welterfassung fragte, und Shaftesbury, der die menschliche Würde den höchsten Punkt seiner Betrachtung nannte.10 Auch die Forschungen der »philosophischen Ärzte«11 nach den Gesetzmäßigkeiten und Folgen des psycho-physischen Zusammenspiels als Konstituenten der menschlichen Natur spielen eine wichtige und derjenigen der empiristisch geprägten Common-Sense-Philosophie britischer Provenienz gleichzustellende Rolle. Mendelssohns Denken ist, ohne dass ihm das selbst vollständig bewusst zu sein schien, ein Philosophieren an einer Schwelle. Er selbst hielt in seiner »Nacherinnerung an Lavater« von 1770 fest: »Neue metaphysische Warheiten sind, wenn man will, seit Jahrhunderten nicht erfunden worden.« (JubA VII, 45) Doch heißt dies nicht, dass er sich lediglich an vorhandene Ergebnisse anschloss. Vielmehr versucht er sie im Lichte eines eigenen Ansatzes zu interpretieren. Sein vermeintliches ›Abschreiben‹ war ein »subtiles Umschreiben« eines Kernpunktes, der auch mit dem Begriff einer »anthropologischen Wende« innerhalb der Aufklärung bezeichnet werden kann.12 Dass diese ›Wahrheiten‹ während seiner Schaffenszeit noch eine ganz 8

So Mendelssohns Kommentar zu Baumgartens Einleitung in die dritte Auflage seiner Metaphysica, LB 21: 1. März 1759, JubA V/1, 14 f. Die Rezension bezieht sich auf die vierte Auflage von 1757, die die Vorreden der Auflagen 1739, 21742 und die »bei weitem ausführlichste« (Kommentar Engels in JubA V/3b, 548) von 31749 enthält. 9 In seinem Artikel Soll man der einreißenden Schwärmerei durch Satyre oder durch äußerliche Verbindungen entgegenarbeiten? für die Berlinische Monatsschrift 5 (1785), 133 ff. 10 Neben Mendelssohns Übersetzungsversuch von Shaftesburys Charakteristicks, den er zusammen mit Abbt und Nicolai unternahm (siehe JubA VI/2, LV), sowie den zahlreichen Bezugnahmen auf Shaftesbury in den frühen Schriften (vgl. Kap. II.2 und 3) ist dieser auch ein häufiger Referenzautor in Mendelssohns Rezensionen. Siehe bspw. LB 194: 12. November 1761, JubA V/1, 454, oder LB 194 f. (plus Beschluss) vom 12. und 19. November 1761, JubA V/1, 454–60. Mendelssohn hat sich zeitlebens, trotz stilistischer Kritik, seine Bewunderung für Shaftesbury erhalten. 11 Vgl. dazu umfassend Schings 1977, Geyer-Kordesch 1977, Riedel 1985, 11–17 und Zelle (Hg.) 2001. 12 Zitat bei Goetschel 1996, 164. Vgl. zur »anthropologischen Wende« und deren Datierung Riedel 1985 und 1994a und b, Zelle 1987 und 2001. Die schönste Zusammenfassung von Mendelssohns Werk und seinem subtilen Wirken (denn viele seiner Ideen wurden schlicht – und unge-

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Einleitung

andere, nämlich kantisch-kopernikanische Wende erlebten, steht dabei (wie auch Mendelssohns Unvermögen, mit diesen Umwälzungen umzugehen) auf einem anderen Blatt. In der vorliegenden Arbeit ist die Annahme leitend, dass Mendelssohn zwar mit den theoretischen Ressourcen der zeitgenössischen Ästhetik, Metaphysik und auch rationalen und empirischen Psychologie arbeitet, insofern er seine Untersuchungen in Termini dieser Disziplinen durchführt, dass aber der eigentliche Fluchtpunkt seines Arbeitens eine Anthropologie darstellt. Dabei erweist sich, wie bereits erwähnt, seine Auffassung als von der geschichtsphilosophisch-hermeneutischen Perspektive Herders ebenso unterschieden wie von Platners physiologisch orientierter Anthropologie (1772). Es soll in dieser Arbeit gezeigt werden, dass Mendelssohns Untersuchung des Menschen sich nicht in einer generellen Bezugnahme auf die (der »Bestimmungsliteratur« verwandten) Theologie erschöpft,13 sondern vielmehr einen eigenen Weg der Bestimmbarkeit des Menschen festhält, indem sie die menschliche Doppelnatur aus Seele und Körper sowie die sich daraus ergebende normative Ebene einer leib-seelischen Welterfassung und -erfüllung zueinander in Beziehung setzt, gerade ohne auf eine bestimmte theologische Theorie hinzuarbeiten. Unter dem hier nicht weiter zu verfolgenden Aspekt der Rezeption dieses Gedankens betrachtet, ist Mendelssohns Anthropologie prima facie kein ›Sieger‹ in der Philosophiegeschichte; hat sich doch ein anders gelagerter Anthropologiebegriff durchgesetzt. Dennoch vermag seine Perspektive einen umfassenderen Begriff der gerade erst aufkeimenden Debatte über die disziplinäre Ausgestaltung einer Anthropologie im 18. Jahrhundert bieten. Nicht zuletzt die erwähnten metaphysisch-anthropologischen Versuche Schillers, aber auch die Philosophie der symbolischen Formen Cassirers und die Forderung nach einer Philosophie der menschlichen Kultur in der sich an Cassirer anschließenden Forschung haben hier ihren Vorläufer.14

nannt – als neue Paradigmen aufgenommen) hat Goetschel zu Beginn des zweiten Teils in Spinoza’s Modernity geliefert, siehe ebd. 2004, 85–88. 13 In ihrer Studie zum Anthropologiebegriff im 18. Jahrhundert hat Mareta Linden gerade die auch von Mendelssohn vertretene Vorstellung von Anthropologie, die in einem engen Zusammenhang mit der »Bestimmung des Menschen« steht, aus diesem Grund ausgeklammert; vgl. Linden 1976, III. 14 Dass einige Grundtheoreme der rationalistischen Philosophie auch nach dem Siegeszug der Kantischen Philosophie in gewissen Formen erhalten bleiben, zeigt J. Heinz 1996, 38–47, v. a. mit Bezug auf die Neue Anthropologie (1790) von Platner sowie Christian Gottlieb Schaumanns Psyche oder Unterhaltungen über die Seele (1791), wobei ersterer das Vollkommenheitsparadigma, letzterer die Vermögensphilosophie samt ›Vorstellungsmechanik‹ wiederbelebt.

Vorgehen

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Vorgehen Mit einer Bestimmung des Menschen ist Mendelssohn zufolge zweierlei verbunden: zum einen gilt es, die Natur des Menschen zu erklären, bzw. die menschliche Determination15 festzusetzen. Zum anderen enthält der Bestimmungsbegriff auch den Aspekt menschlicher Zwecke, seiner Destination. Bevor er diese beiden Ebenen getrennt behandelt, charakterisiert er die ihnen gemeinsame Struktur der Perfektibilität, also der menschlichen Fähigkeit sowie Aufgabe, sich zu vervollkommnen. Der von Mendelssohn formulierte Grundsatz lautet dabei: »Die eigentliche Bestimmung des Menschen hienieden, die der Thor und der Weise, aber in ungleichem Maaße, erfüllen, ist also die Ausbildung der Seelenfähigkeiten nach göttlichen Absichten; denn hierauf zielen alle seine Verrichtungen auf Erden.«16 Damit setzt er die Perfektibilität als Gegenstand sowohl menschlicher Determination sowie Destination fest. Die »offene« Anlage des Menschen, also die Notwendigkeit, sich und seine Fähigkeiten erst zu entwickeln, wird zugleich durch ein zu realisierendes Ziel, die Erfüllung göttlicher Absichten, eingegrenzt. Die individuell wie auch im zwischenmenschlichen Miteinander erworbene Aus-Bildung findet ihren Platz in einem umfassenden Ganzen. Etwas differenzierter ausgedrückt ist aber Perfektibilität als ein ›Vermögen‹ zuerst Voraussetzung und Prozess; Vollkommenheit als ein Zustand des Individuums wie auch der Menschheit insgesamt ist das Ziel. Die individuelle Bestimmung soll dabei mit der metaphysischen Prämisse Leibniz’ von der besten aller möglichen Welten vereinbar sein, oder, anders formuliert: Gemäß Mendelssohns Adaption von Leibniz’ Metaphysik müssen das menschliche Wesen und die menschliche Geselligkeit als fundamental abhängig von dem universellen Zweck, also ihrer letztendlichen Einpassung in die beste aller möglichen Welten, verstanden werden und dennoch ihren Eigenwert bewahren. Damit steht aber eine ›rationalistische‹ Anthropologie vor folgendem Problem: Das Ziel, die philosophische Begründung menschlicher Entwicklung, wird über einen möglicherweise unbefriedigenden Weg, nämlich über ein bestimmtes metaphysisches System entwickelt; der Mensch selbst droht dabei aus dem Blick zu geraten. Es besteht also zum einen die Gefahr, dass mit Abweis der leibnizianischen Prämissen das gesamte Projekt Mendelssohns in sich zusammenfällt. Zum anderen steht ein auf leibnizianischen Prämissen aufruhendes Menschenbild unter einer internen Spannung, indem in ihm eine in sich vollkommene Welt mit einem sich erst vervollkommnenden Menschen ›synchronisiert‹ werden muss. Mendelssohn versucht dies15

Dies ist der von Mendelssohn selbst favorisierte Begriff; mögliche Synonyme sind Konstitution oder Definition. 16 Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend, JubA VI/1, 20 (siehe Kap. I.2); in der Evidenzschrift von 1763 wird dies auch (ganz im Sinne Wolffs) als Ziel der Moral ausgewiesen.

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Einleitung

bezüglich zu zeigen, dass die Komponenten Mensch und Welt bzw. Vervollkommnung und Vollkommenheit miteinander in Wechselbeziehung stehen. Damit steht nicht nur das Menschenbild unter metaphysischen Voraussetzungen, sondern umgekehrt ruht auch das rationale System auf einem spezifischen Menschenbild auf und wird durch es verwirklicht. Metaphysisch betrachtet erscheint für Mendelssohn der Mensch stets, d. h. unabhängig vom Entwicklungsstand seiner Anlagen, eingepasst in eine vollständig determinierte Welt; der Gedanke einer Vervollkommnung erübrigt sich unter dieser Perspektive. Jedoch von der phänomenalen Seite aus – und dies betont den anthropologischen Blickwinkel – nimmt sich der Mensch notwendig als ein unfertiges, strebendes Wesen wahr. Das statische metaphysische Gerüst kontrastiert hier mit einem dynamisch zu verstehenden Modell individueller Strebsamkeit, das deutlich bereits in Leibniz’ Monadenkonzeption enthalten ist.17 Nicht umsonst setzt Mendelssohn deshalb einen Antagonismus von Kräften und Entwicklungslinien als notwendige Bedingung für menschliche Kultur, den es philosophisch zu erfassen und zu begründen gilt. Die menschlichen Fähigkeiten der Erfassung und Realisierung von Vollkommenheit behaupten also ein Gegengewicht zur Metaphysik, das Mendelssohn auszutarieren bemüht ist. Dabei konzentriert er sich gerade nicht auf die Entwicklung eines tragfähigeren metaphysischen Fundaments; in dieser Hinsicht hat er sich vornehmlich an Leibniz, Baumgarten und Wolff angeschlossen. Vielmehr betrachtet er darauf aufbauend das Phänomen Mensch und versucht zu zeigen, wie der Mensch in dieses metaphysische System eingepasst ist. Seine Schriften prägt zum einen das Vertrauen in die generelle Richtigkeit des zugrunde liegenden Systems und zum anderen die Frage, was dies für den Menschen konkret bedeutet und wie er es zu erkennen bzw. praktisch umzusetzen in der Lage ist. Es ist der Versuch, die Praktikabilität einer leibnizianischen Weltordnung zu erweisen.18 Zugleich möchte Mendelssohn die Grundwahrheiten einer metaphysischen wie rational gesicherten Welterkenntnis leibnizianischer Provenienz nicht aufgeben und unternimmt daher den Versuch einer Verbindung beider Pole. Das Modell eines zugleich statisch wie dynamisch zu verstehenden Welt- und Menschenbildes bestimmt deshalb im Folgenden den Gang der Untersuchung. Da17

Die Analyse dieser Wendung von einer »statischen« zur »dynamischen« Theorie des Vergnügens findet sich bei Cassirer 1932, 304–7 und Altmann 1969, 101, der sie zwischen Wolff und Sulzer ansetzt. Übernommen wurde sie von Martino 1972, 91 f., Kondylis 1981, z. B. 325–42; vgl. auch Zelle 1987, 296 f., J. Heinz 1996, 74. Nach Martino sind zwar beide Theorien der Lust schon bei Leibniz angelegt, jedoch sollte für die Durchsetzung der dynamischen Theorie der Einfluss Dubos’ nicht unterschätzt werden. Man könnte es vielleicht so formulieren: eben weil Ansätze zu einer dynamischen Wendung der Lusttheorie bereits bei Leibniz vorhanden waren, konnten die ›Rationalisten‹ den emotionalen Dynamismus eines Dubos in ihre Philosophie integrieren. 18 Vgl. Altmann 1982, 26: »Das 17. und 18. Jahrhundert hatte den Menschen als Menschen entdeckt, und Mendelssohn war ganz von dieser Sicht beherrscht.«

Vorgehen

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bei betont Mendelssohn immer wieder die Bedeutung individueller Entwicklung, die jedoch nicht isoliert von gesellschaftlichen Strukturen möglich ist. Besonderes Gewicht misst er bei der Analyse dieser Entwicklung und der Begründung ihrer Konstituenten einer befriedigenden philosophischen Rekonstruktion menschenmöglicher Welterfassung in theoretischer, praktischer und nicht zuletzt ästhetischer Hinsicht bei.

Kapitel I: Die Bestimmung des Menschen Unter der Heuristik, dass Mendelssohns philosophisches Interesse auf eine (begrifflich näher zu bestimmende) Anthropologie fokussiert, sollen die Mendelssohns Werk prägenden Themenfelder umrissen werden. Nach einer detaillierten Diskussion der sogenannten ›Bestimmungsdebatte‹ als eines Aspekts der sich neu formierenden Anthropologie setzt die Untersuchung chronologisch inkorrekt mit der Debatte über die Bestimmung des Menschen zwischen Mendelssohn und Thomas Abbt um 1764/66 ein, um vor diesem Hintergrund die einzelnen Themenstränge sowie Mendelssohns Grundverständnis einer Philosophie vom Menschen zu entfalten. Von dieser erstmaligen expliziten Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bestimmung des Menschen ausgehend, sollen in den folgenden Kapiteln Mendelssohns Grundsätze einer Definition des Menschen ausgewiesen werden, bevor im letzten Kapitel der Bogen zu den in der Bestimmungsdebatte aufgeworfenen Fragen um die menschliche Zweckbestimmung, seiner Destination, geschlagen und der Untersuchungsrahmen damit geschlossen wird. Dort erfolgt abschließend die Auswertung der Resultate, die Mendelssohn v. a. im dritten Gespräch des Phädon (zuerst 1767) und in den 1782 veröffentlichten Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz unternimmt. Die Bestimmung der menschlichen Konstitution allerdings ruht auf Ergebnissen seiner Überlegungen zu ästhetisch-sinnlichen, epistemologischen und moralischpraktischen Bereichen auf, die in den vorangehenden Kapiteln II bis IV entwickelt werden. Die Diskussion der grundlegenden Auseinandersetzung über die Bestimmung des Menschen, die im ersten Kapitel durchgeführt wird, soll die Strukturierung des zur Verfügung stehenden Materials ermöglichen. Dabei lassen sich in einer ersten groben Einteilung drei Ebenen einer Anthropologie Mendelssohns ausmachen: einer Bestimmung der menschlichen Natur steht eine Untersuchung zur menschlichen Geselligkeit zur Seite, die beide in die Reformulierung eines menschlichen – individuellen wie gattungsgemäßen – Zwecks münden bzw. von ihm getragen werden.

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Kapitel II: Theorie der Sinnlichkeit In seinem Frühwerk behandelt Mendelssohn die psychologischen wie physiologischen Grundlagen der menschlichen Welterfassung. Bestimmend ist hierbei eines der wichtigsten Anliegen der Aufklärung: die Rehabilitierung der Sinnlichkeit19 durch ihre Einbindung in metaphysische Prämissen. Körper und Geist, Neigungen und moralische Forderungen sollen in Übereinstimmung gebracht werden. Die körperliche und sinnliche Konstitution des Menschen wird dabei als ein fundamentaler Faktor seiner Welterfassung dargestellt und in Anschluss an Leibniz das Unbewusste als ästhetische wie moralische Kategorie fruchtbar gemacht.20 Grundlage hierfür ist die Entwicklung einer ästhetischen Theorie, die ihre integrierende Funktion auch in epistemologischen und praktischen Kontexten entfaltet. Es ist vermutlich kein Zufall, dass die weitestgehenden Revisionen – oder zumindest deren deutlichste Fassung – der hier einschlägigen Sammlung der Philosophischen Schriften Mendelssohns erst nach der Bestimmungsdebatte mit Abbt zu verzeichnen sind. Die Bestimmungsdebatte fand Mitte der 1760er Jahre statt, die zweite Auflage der genannten Philosophischen Schriften erschien 1771. Deren Themenvielfalt und die erwähnten, erst hier deutlich werdenden charakteristischen Modifikationen21 zeigen, dass es Mendelssohn nicht primär um einen gesonderten Wissenszweig geht, sondern der Blick auf ein – noch unklares – Ganzes, eben den Menschen, gerichtet ist. Besonders interessant ist dabei sein Umgang mit den Umbrüchen und Entwicklungen innerhalb der Psychologie.22 Lag ihr Schwerpunkt noch zu Beginn des Jahrhunderts auf der rationalen Abhandlungsmethode, so wurde dieses Konzept, auf dem auch ein Großteil von Mendelssohns Moralphilosophie zu ruhen scheint, sukzessive von der empirischen Psychologie abgelöst, welche wiederum bei verschiedenen Denkern in eine Form der Anthropologie überging. Diese von Christian Wolff initiierte 19

Mit dem Versuch einer Integration von Sinnlichkeit und Rationalität, das Kondylis 1981, Kap I.1 schlagwortartig unter der »Rehabilitierung der Sinnlichkeit« zusammenfasst, befindet sich Mendelssohn in einer das 18. Jahrhundert insgesamt prägenden Bewegung. 20 Entgegen der Feststellung Oberhausens (2002, 127) erscheint es mir zweifelhaft, dass Philosophen wie Leibniz, Wolff, Baumgarten einen »differenzierten Begriff vom Unbewussten« hatten. Die Bestimmungen einer dunklen Vorstellung sind keineswegs völlig uniform und führen nicht immer zu übereinstimmenden Ergebnissen. Die dunkle Vorstellung hat eher die Funktion eines Grenzbegriffs, explizit positive Bestimmungen finden sich kaum. 21 Dabei ist hervorzuheben, dass die Grundzüge der Theorie der vermischten Empfindungen u. a. sich bereits in der Auflage von 1761 finden. Erst mit der zweiten Auflage von 1771 jedoch werden diese Neuerungen durch weitere Ausführungen, Ausstreichungen und Umstellungen explizit hervorgehoben. 22 Erste »Anthropologien« legen eine starke Verbindung dieser beiden Disziplinen ohnehin nahe; siehe bspw. Magnus Hundt: Anthropologium de hominis dignitate, natura et proprietatibus. 1501 und Otto Casmann: Psychologia anthropologia sive animae humanae doctrina; Secunda pars anthropologiae: hoc est: Fabrica humani corporis. 1594–96; vgl. dazu J. Heinz 1996, 118.

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und von Alexander Gottlieb Baumgarten verfolgte empirische Untersuchungsrichtung befasst sich mit ›sicheren‹ Tatsachenwahrheiten seelischen Wirkens und Erlebens und soll der sie begründenden Disziplin der rationalen Psychologie, die sich mit der Aufdeckung der Gesetze dieser Wirkungen beschäftigt, gewissermaßen zuarbeiten. Auch Mendelssohn hat sich in seinen psychologischen und ästhetischen Arbeiten mit dieser besonderen Art Empirie auseinandergesetzt. Doch bilden Einsichten der rationalen Psychologie zweifellos das Rückgrat der Bestimmungsdiskussion sowohl im Phädon als in den daran anschließenden Schriften. Auch hier zeigt sich Mendelssohn als ein Denker einer Übergangszeit, der unterschiedliche Untersuchungsstränge und -methoden verfolgt, um ein umfassendes Bild des Menschen zu zeichnen. Gerade sein Frühwerk weist unter einer ästhetisch-psychologischen Perspektive deutliche Charakteristika dieses Umbruchs auf. Mendelssohns ästhetisch-psychologische Theorie der menschlichen Natur ist Gegenstand des zweiten Kapitels. In drei Teilkapiteln erfolgt eine Annäherung an die ästhetische Bestimmung des schöpferischen Menschen über dessen generelle Perfektibilität sowie die in Termini der zeitgenössischen Psychologie konzipierten sinnlichemotionalen Vermögen, die einer rationalen Welterfassung zuarbeiten bzw. diese vervollständigen sollen. Von besonderer Bedeutung sind hier Mendelssohns Überlegungen zur Rolle und Gestalt menschlicher Perfektibilität als Motor und Ziel menschlicher Entwicklung, denen das erste Teilkapitel gewidmet ist. Im Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing in Leipzig, einer Nachschrift seiner Übersetzung von Rousseaus Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1756), skizziert Mendelssohn, herausgefordert von Rousseaus Kulturkritik, wichtige Grundlinien seiner Sicht einer Definition des Menschen. Thema ist dabei auch die von Mendelssohn immer wieder verteidigte Güte der menschlichen Natur, die über die Kulturentwicklung zwar verbessert, niemals hingegen allein pervertiert werden könne. Die Initialzündung für seine weiteren Untersuchungen besteht meines Erachtens in der Entdeckung und Ausformulierung der Theorie des Vergnügens und der vermischten Empfindungen, die Mendelssohn zuerst in den 1755 erschienenen Briefen über die Empfindungen seinen Überlegungen zugrunde legt und in nachfolgenden Schriften (Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften, Ueber das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften und Rhapsodie) differenziert und erweitert. Dabei verfolgt er nicht allein die Explizierung einer Theorie der Vervollkommnung des ganzen Menschen über die Sinnlichkeit und deren Engführung mit einer verständigen Aufklärung, sondern versucht ebenfalls zu zeigen, dass den Menschen die Fähigkeit auszeichnet, etwas als unvollkommen zu erfassen und dennoch zur eigenen Bewertungsfähigkeit in einen fruchtbaren Bezug zu setzen. Mit der zugrundeliegenden Vermutung, dass auch eine gewisse Art des Abscheus zur menschlichen Vervollkommnung beitragen kann, ergänzt er die Natur menschlichen Vergnügens

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als eines wichtigen Faktors menschlicher Perfektibilität um prima facie negative Gefühle. Damit wird jedoch, nicht zuletzt aufgrund des der Theorie zugrunde liegenden positiven Menschenbildes, eine Modifikation der Gesetzmäßigkeiten ästhetischer und psychologischer Wirksamkeit von Vorstellungen erforderlich (Teilkapitel II.2 und II.3).

Kapitel III: Erkennen und Handeln Neben den ästhetisch-moralischen Überlegungen enthält bereits das Frühwerk den Versuch einer Konzeption von der Wirksamkeit und Beeinflussbarkeit menschlicher Erkenntnismodi. Zwar ist, das scheint Mendelssohn unbestreitbar, das Spezifikum des Menschen dessen Fähigkeit zum Vernunftgebrauch, doch ist dieser nur eingeschränkt praktikabel. Was ist also zu tun, um die moralischen Wahrheiten zu einiger Evidenz zu bringen und damit das Handeln des Menschen über die Verbesserung seines Wissens zu stärken? Deutlich geht es Mendelssohn weniger um eine Begründung der Erkenntnis noch der Moral, sondern um eine Theorie ihrer Anwendungsbedingungen. Daneben musste er sich mit einem neuen Wissenschaftsideal auseinandersetzen, das das Bewusstsein einer Krise der rational-deduktiven Begründung von Wissen aufkommen ließ. Auslöser war die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich zu verzeichnende Zuwendung zu einer empiristischen Methodik, insbesondere Experiment und Beobachtung, was laut Zammito (2002, 225) zu einer Umwertung des Wahrheits- bzw. Überzeugungsbegriffs führte. Dieser wurde anthropologisch gewendet und fand in der Wahrscheinlichkeitstheorie seinen Ausdruck. Mendelssohn entwickelte, wie das erste Teilkapitel zeigen soll, seine Version von ihr in Auseinandersetzung mit ›Hume’s problem‹, der philosophischen Begründung von Kausalität und der Frage nach der allgemeinen Gültigkeit von Induktionsschlüssen. Zum einen verteidigt er in den dazu einschlägigen Schriften die erfahrungsunabhängige Geltung der rationalen Prinzipien menschlicher Erfahrung. Zum anderen versucht er menschenmögliche Einsichten mit einer Wahrscheinlichkeitstheorie des Wissens zu erklären: Angestrebt wird in Hinsicht auf ›Alltagswissen‹ nicht unbedingte Wahrheit, sondern eine möglichst hohe Sicherheit, gewonnen anhand einer kohärenten Erfahrung sowie deren Übereinstimmung mit Ergebnissen anderer Quellen. Diese Wahrscheinlichkeitstheorie soll aber, anders als bei Hume (wie Mendelssohn ihn versteht) nicht psychologischer, sondern rationaler Natur sein. Approximative, induktiv gewonnene Sicherheit ist, wenn sie rationalen Prinzipien entsprechend gewonnen wird, immer noch rational begründetes Wissen. Daneben versucht Mendelssohn die Wahrscheinlichkeitstheorie auf praktischem Gebiet für die Erklärung und Verwirklichung moralischer Handlungen fruchtbar

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zu machen. In der die Preisschrift Ueber die Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften (1764) wie auch die Rhapsodie (1761/71) bestimmenden Frage nach der handlungsbestimmenden Evidenz der Moral spielt die an Baumgartens Metaphysik23 und Sulzers Psychologie angelehnte Nutzbarmachung des Unbewussten eine große Rolle (zweites Teilkapitel). Freie Handlungen sind innerhalb einer Theorie des auch unbewusst-sinnlich bestimmten Menschen möglich; sie unterliegen allerdings bestimmten Anforderungen, die ihrerseits begründet werden müssen. Noch immer war das Skandalon des Handelns wider besseres Wissen, dass durch die Theorie des Unbewussten erklärbar gemacht werden sollte, nicht gelöst. Mendelssohns Ansatz einer moralaffinen Schulung der unbewusst wirksamen Sinnlichkeit sollte hier anscheinend Abhilfe verschaffen. Doch auch die weitere Ausformulierung eines moralisch geschulten Sinns und seiner Verortung im menschlichen Vermögensapparat, zu dem sich das dritte, neben Verstand und Gefühl stehende Billigungsvermögen etabliert, kann das Problem der Willensschwäche und der bösen Handlung nicht befriedigend lösen (s. drittes Teilkapitel).

Kap. IV: Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung, Kultur Mendelssohns von persönlichen Anfeindungen initiierte Hinwendung zur politischen und Gesellschaftsphilosophie erscheint, abgesehen vom biographischen Aspekt, insbesondere deshalb konsequent, da zu einer Vervollständigung der Theorie des Menschen die Berücksichtigung menschlicher Gesellschaft und Kultur unabdingbar ist. So benennt er als Voraussetzung für ein gutes Leben nicht nur die individuelle Tugend, sondern auch den sozialen Charakter des Menschen. Er fasst diesen als eine Neigung, den Austausch mit Anderen zu suchen und Gesellschaften zu bilden. Die im ersten Teilkapitel explizierte Grundlage ist dabei die in Auseinandersetzung mit Rousseaus Thesen zur Entwicklung der Sprache durchgeführte Reflexion auf die Bedingungen gesellschaftlichen Austauschs. Mendelssohn sieht in der Sprache bzw. der Fähigkeit, Zeichen zu geben und zu verstehen, das Fundament menschlicher Rationalität und Kultur. Dabei soll jedoch die

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Insbesondere in Bezug auf dessen Theorie des fundus animae; vgl. dazu Oberhausen 2002 und Adler 1988. Laut Oberhausen (2002, 130) schlägt Baumgarten mit der Verwendung des fundus animae als eines Begriffs der pietistischen Mystik zugleich eine Brücke zwischen »der überwiegend dunklen und immer nur partiell erhellten menschlichen Erkenntnis und dem völlig deutlichen göttlichen Wissen von allen Dingen der Welt« (ebd.). Problematisch an einer solcherart angestrebten unio mystica wäre allerdings, dass es kein philosophisches, sondern lediglich ein dunkles Wissen von der göttlichen Durchdringung der Welt gäbe. Dies scheint weder Baumgartens noch Mendelssohns Erklärungsziel gewesen zu sein.

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Sprache durch eine an (rituellen) Handlungen gebundene Tradition vor Missbrauch geschützt werden. Mit einer verfeinerten Theorie menschlicher Entwicklung und der sie bestimmenden Konstituenten wendet sich Mendelssohn auch gegen gängige geschichtsphilosophische Konzepte, insbesondere dasjenige Lessings (zweites Teilkapitel). Das Gegen- und Miteinander menschlicher Bestrebungen, Interessen und Fähigkeiten macht einen wichtigen Faktor menschlicher Bestimmung aus; das sich daraus entwickelnde gesellige Leben, Handeln und die daran orientierte Entwicklung des Einzelnen im Austausch mit anderen werden als Alternative zu einer teleologischen Struktur menschlicher Geschichte, die die menschliche Glückseligkeit der Gattung mit einem Verlust des individuellen Werts erkauft, verstanden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der in den Diskussionen der Mittwochsgesellschaft konturierte Bildungsbegriff, den Mendelssohn als Kern seines Aufklärungsaufsatzes ausweist. Wie im dritten Teilkapitel gezeigt werden soll, ist ihm zufolge die Synthese aus Aufklärung und Kultur auf der Grundlage eines Antagonismus der menschlichen Fähigkeiten und damit gegenläufigen Bestrebungen, sowie deren Ausbalancierung die konstituierende Bedingung menschlichen Lebens und seiner Entwicklung. Damit führt er die Gesetze gesellschaftlicher Entwicklung wiederum auf die des Individuums zurück. Am deutlichsten lässt sich diese Tendenz am Jerusalem ablesen, insofern er hier die Bedingungen der Trennung zwischen Recht und Religion begründet und Ansätze zu einer auf der Entwicklung der Individuen, nicht der Gattung basierenden Geschichtsphilosophie skizziert. Eine allen Individuen gemeinsame, rational begründbare Menschennatur wird dabei unterstellt und argumentativ zu stützen versucht. Um dies angemessen nachzuzeichnen, werden ebenfalls kleinere Schriften der 1770er und 80er Jahre berücksichtigt, die sich mit der Ausformulierung der politischen Dimension der Aufklärung und insbesondere mit dem Toleranzgebot befassen. Wie im vierten Teilkapitel gezeigt werden soll, sind Mendelssohns auch für die tatsächliche rechtliche Besserstellung der Juden in Preußen relevanten Überlegungen seiner Zeit weit voraus. Das von ihm verfochtene positive Menschenbild trägt hier zur Formierung des Konzepts einer offenen, toleranten Gesellschaft bei, ohne die Unverfügbarkeit eines persönlichen Glaubens zu verletzen.

Kapitel V: Metaphysik als eine »subjektive« Theodizee Der letzte Teil der Arbeit schlägt, wie erwähnt, noch einmal den Bogen zu den in der Bestimmungsdebatte aufgeworfenen Fragen zum Zweck menschlichen Lebens. Abbts drängende Fragen nach einer eindeutigen metaphysischen Definition menschlicher Bestimmung hat Mendessohn mit den stärker metaphysisch-spekulativ ausgerichteten Arbeiten wie dem Phädon, seinen Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher

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Correspondenz und den Morgenstunden zu beantworten versucht. Es sind allerdings, und dies ist ein alle Kapitel durchziehender Aspekt, weniger die inhaltlichen als die formalen Aspekte seiner Antworten, die das Interesse am »Anthropologen« Moses Mendelssohn begründen könnten. Seine spekulative Begründung einer eindeutigen Festlegung und Garantie der Erfüllbarkeit menschlicher Bestimmung eignet hingegen weitaus eher, sich die Grenzen seines Denkens zu verdeutlichen. Mendelssohns Beantwortung von Abbts Zweifel im Orakel war, wie das erste Kapitel zeigte, noch unzureichend. Die Zielgerichtetheit menschlicher Bestimmung, die Erfüllung menschlicher Vervollkommnung im Jenseits und der Erweis einer ausgleichenden Gerechtigkeit konnte, so zumindest Mendelssohns Diagnose, nur mit einer anspruchsvolleren Theorie menschlicher Unsterblichkeit, verstanden als das Fortleben einer personal verstandenen Seele, gerechtfertigt werden. Diesem Unternehmen war sein wohl berühmtestes Werk, der Phädon (zuerst 1767), gewidmet, der sich zu großen Teilen der Auseinandersetzung mit Abbt verdankt. Diese Grundlinie soll im ersten Teilkapitel nachvollzogen werden. Das zweite Teilkapitel wendet sich dem Erbe dieser Debatte in der brieflichen Diskussion mit Herder zu und weist auf die abschließenden Überlegungen Mendelssohns in den Anmerkungen hin. Hier wird deutlich, wie weit eine Anthropologie herderscher Provenienz von den rationalistischen Prämissen Mendelssohns entfernt ist. Mendelssohn verteidigt nach wie vor die Idee einer sich gleich bleibenden, jedoch immer klarer und deutlicher zu sich selbst kommenden Menschennatur, die in jedem Individuum ihren Repräsentant findet und zugleich in einem umfassenden Weltentwurf aufgehoben ist. Die Unhintergehbarkeit des menschlichen Werts gründet sich dabei nicht, wie Herder argumentiert, auf einem prärationalen Gefühl, sondern auf seiner Eingebundenheit in einer durchgehend rational, vom Prinzip des guten, weil zureichenden Grundes bestimmten Welt. Es bleibt jedoch fraglich, ob eine solcherart gefundene »göttliche Beruhigung« das argumentative Gewicht, das Mendelssohn ihm auferlegt, zu tragen vermag. So läuft zwar die Argumentation des letzten Kapitels darauf hinaus, Mendelssohns umfassenden Anspruch, die Verfasstheit des Menschen als eines sich prinzipiell auch über den Tod hinaus vervollkommnenden Wesens bewiesen zu haben, zu begrenzen. Die Qualität des Mendelsohn’schen Ansatzes liegt auf einem anderen Gebiet, wie sich bereits in den vorangegangenen Überlegungen zur Determination des Menschen zeigen sollte. Das materiale Interesse an der »menschlichen Verbesserung« wie auch seine undogmatische, ja bisweilen rhapsodistische Methodik, so meine These, zeichnen den Aufklärer 24 und den Popularphilosophen Mendelssohn aus, der nicht materialiter, sondern v. a. formal innovativ oder zumindest belebend wirkte. 24

Mendelssohn wie Kant ging es um den selbständigen Gebrauch der (eigenen) Vernunft; dementsprechend findet sich in Mendelssohns Werk kein Hinweis etwa auf die von Georg Friedrich Meier in dessen 1744 erschienenen Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt

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Zum einen: Die menschenmöglichen Erkenntnismodi sowie die dem Menschen angemessenen Lebensweisen sind, so ließe sich die Entwicklung seiner Philosophie resümieren, nur unter Einbeziehung metaphysischer, ästhetischer, psychologischer, aber auch politischer, judaistischer und sogar mathematischer Untersuchungsgebiete zu begründen, die die prinzipielle Offenheit menschlichen Erlebens ›erfüllen‹. Und, zum anderen, bedarf eine Philosophie für den Menschen einer spezifischen Darstellungsweise. Sie soll in einer fassbaren, auch unter ästhetischen Gesichtspunkten zu würdigenden Form überzeugen und die Richtung menschlichen Strebens entscheidend (zum Guten) bestimmen. Ein wahrhaft aufgeklärter Mensch ist Mendelssohn zufolge nicht derjenige, der seine Sinnlichkeit besiegt, sondern der sie integriert. Deshalb strebt er auch keine reine, die überlieferte rationalistische Systematik lediglich verfeinernde Theorie an, sondern versucht, den Reichtum an Beispielen und die damit einhergehende lebenspraktische Nähe auch empiristischer Theorien auf eine rationale Grundlage zurückzuführen und mit Verwendung einer anschaulichen philosophischen Methode für die Verbesserung des Menschen nutzbar zu machen. Zwar kennzeichnet das Neben- und auch versteckte Gegeneinander von rationaler Metaphysik und den daran einzupassenden Beobachtungen menschlicher Wirklichkeit sein Werk. Zugleich zeigt es sein Bemühen, in ihm Probleme zu dialogisieren und in einer ihnen gemäßen Form nicht nur einer Lösung zuzuführen, sondern ihre Lösbarkeit dem Einzelnen, dem Leser, zu ermöglichen. Sein Philosophieren setzt dabei immer auf die Freiheit und Klugheit des Rezipienten; es spielt mit den Erwartungen und fordert so eigene Entscheidungen heraus. Mit dem Versuch, den theoretischen Konstruktionen von Leibniz und Baumgarten lebendige Kontur und damit Praktikabilität zu verleihen, ging sein Blick mehr auf die (Lebens-)Welt denn auf ein kohärentes System, was bisweilen die Stringenz der Argumentation empfindlich stört. Darüber hinaus war Mendelssohn nicht unabhängig von seinen Wurzeln. Ihre Berücksichtigung verdeutlicht, unter welchen Gesichtspunkten der eklektisch vorgehende Philosoph die zeitgenössischen Theorien bearbeitete; ja, sie macht überhaupt erst bestimmte Folgerungen, die er in den eigenen Schriften zog, einsichtig. Die Fundierung zahlreicher spezifischer Theoreme wie der Perfektibilität in einer rationalistischen Metaphysik leibnizscher Provenienz offenbart nicht zuletzt, in welchem Ausmaß er diesem Denkkreis verhaftet blieb und ihn, beispielsweise in Richtung eines Kantischen Kritizismus oder gar seines Transzendentalidealismus nicht überwinden konnte. So ruht der abschließende Satz der »Vorerkenntnis« in den Morgenstunden: »der Mensch forschet nach Wahrheit, billiget das Gute und Schöne, will alles Gute und tut das Beste.« (JubA III/2, 66) auf starken propagierte Nutzbarmachung anderer Menschen für eigene Zwecke. Die »Kunst der Menschenbeherrschung und politische Klugheit« (J. Heinz 1996, 26) gehörten nicht zu seinem Interessengebiet. Siehe dazu Kap. IV.3.

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metaphysischen Voraussetzungen, die die Folgezeit nicht oder nur sehr bedingt mit ihrem Vordenker teilte. Die indikativisch formulierte Beruhigung in der Vernunft stellte bei näherer Betrachtung in seinem Werk ein Problem dar, gerade in Hinblick auf die Untersuchung menschlicher Bestimmung. Es soll jedoch gezeigt werden, dass Mendelssohns Anthropologie abseits dieses Indikativs durchaus Überlegungen enthält, die seinen Ansatz interessant und fruchtbar machen.

Methodik Die vorliegende Arbeit soll keine umfassende und chronologische Werkexegese liefern25, sondern diejenigen Bereiche umreißen, die zu einer Formulierung von Mendelssohns »rationalistischer Anthropologie« sinnvoll erscheinen. Auch deshalb orientiert sich die Auswertung der Textzeugnisse an den inhaltlichen Befunden des ersten Kapitels: Mendelssohns Werk wird in den Kontext der Bestimmungsdebatte des 18. Jahrhunderts eingeordnet und die noch offenen Fragen der Bestimmungsdebatte an die folgenden Schriften ›weitergegeben‹. Die Textzeugnisse werden in folgender Abstufung26, die sich an den Kriterien der Authentizität sowie der Publizität der Texte orientiert, zum Beleg von Aussagen herangezogen: 1) Den Schwerpunkt der Untersuchung bilden die Schriften, die Mendelssohns imprimatur besitzen. Hier spielt die interne Entwicklung spezifischer Theoreme eine wichtige Rolle, die sich beispielsweise aus den unterschiedlichen Fassungen der in den Philosophischen Schriften versammelten Aufsätze, sowie in den Anhängen und Zusätzen der Bestimmungsdebatte im Phädon bzw. den Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz ablesen lässt. 2) Neben einer Analyse der »großen« Abhandlungen sind auch die z. T. zu Lebzeiten anonym oder gar nicht veröffentlichten oder auch nur fragmentarisch erhaltenen kleineren Schriften zu berücksichtigen. Sie geben nicht nur ebenfalls über die Entwicklung von Mendelssohns Ansichten Auskunft, sondern zeigen darüber hinaus zahlreiche weiterreichende Anknüpfungspunkte der dort entwickelten Theoreme an andere Teildisziplinen dessen, was man als Mendelssohns ›Anthropologie‹ bezeichnen kann. Eine weitere wichtige Quelle stellt 3) Mendelssohns Korrespondenz dar, die über seine Lektüre und deren Einschätzung bzw. Aufnahme ins eigene Werk Auskunft gibt. Dementsprechend werden

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Zu diesem Zweck sei vielmehr auf die äußerst umfangreiche Arbeit Bourels (2007) verwiesen, die minutiös die biographischen und historischen Zusammenhänge nachzeichnet. Für philosophisch ergiebiger halte ich allerdings nach wie vor die überragende Biographie Altmanns (1973). 26 Vgl. Reinhard Brandt: Die Urteilstafel. Kritik der reinen Vernunft. A 67–76; B 92–101. Hamburg 1991, 16.

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der »Briefwechsel über das Trauerspiel« mit Lessing und Nicolai27 sowie die brieflichen Debatten mit Abbt und Herder eingehend berücksichtigt. Ein vorsichtigerer und eingeschränkter Gebrauch wird 4) von Rezensionen und Beiträgen zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend (1759–65), die er zusammen mit Lessing und Friedrich Nicolai herausgab, und für die Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1756–59), zu deren Herausgebern er ebenfalls gehörte28, gemacht. Wie nicht nur Albrecht (1983, 68) feststellt, machen die Kritiken zwar einen gewichtigen Teil in Mendelssohns Gesamtwerk aus. Dies sollte jedoch nicht dazu verführen, ihr interpretatorisches Verhältnis zu den Mendelssohn eindeutig zuschreibbaren Schriften überzubewerten. Die Beiträge erschienen anonym, zum Schutze des Verfassers, aber auch in der Hoffnung, durch das Absehen von Personen eine unvoreingenommene Diskussion herbeiführen zu können.29 Es ist nach wie vor nicht eindeutig zu klären, welche Artikel Mendelssohn tatsächlich verfasste und welche in Zusammenarbeit mit anderen Autoren entstanden bzw. von Mendelssohn lediglich redigiert worden sind.30 Deshalb kann eine hier geführte Argumentation nur mit der gebotenen Vorsicht auf solche Rezensionen zurückgreifen und wird immer auch mit eindeutig Mendelssohn zuschreibbaren Texten zu stützen gesucht. Ist dies nicht möglich, wird ausdrücklich darauf hingewiesen. Ebenfalls sind 5) Notizen aus dem

27 Zuerst unter dem Titel Gelehrter Briefwechsel zwischen D. Johann Jacob Reiske, Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing. Theil 1. Hg. von K. G. Lessing. Berlin 1789 erschienen. 28 Nach 1765 hat sich Mendelssohn angeblich aus dem Rezensionswesen zurückgezogen; siehe seinen Brief an Abbt vom 14. Juni: »Litteraturbriefe schreibe ich nicht mehr; die Bibliothek gehet mich nichts an.« (JubA XII/1, 90) Doch auch diese briefliche Aussage ist nicht unkritisch anzunehmen. 29 Es sei dahingestellt, ob die sichere Anonymität nicht auch gegenteilige Ergebnisse zeitigte – denn unter dem Schutz eines irreleitenden Namenskürzels ließen sich wissenschaftliche Fehden ausfechten. Dies mag Mendelssohn nicht praktiziert haben, jedoch ist es als ein Manko dieser Form der Rezensionskultur festzuhalten. So ist es auffällig, wie häufig sich Autoren, wenn sie negativ rezensiert wurden, als das Opfer einer solchen Fehde zu inszenieren wussten. Letztlich wäre wohl der von Kant geforderten Freiheit der Feder das Freiheitsrecht hinzuzufügen, eine gerechte Kritik unter dem eigenen Namen veröffentlichen zu können. 30 Die unter Mendelssohns Mitherausgeberschaft erschienenen Rezensionsorgane waren bei den Zeitgenossen ebenso angesehen wie gefürchtet. Zum Einfluss der Literatur und Periodika auf das (bürgerliche) Selbstverständnis im 18. Jahrhundert siehe Michelsen 1981, v. a. 111 ff. Mendelssohn im Besonderen erreichte durch seine Artikel in zweierlei Hinsicht eine Fortentwicklung und Aufwertung der Literaturkritik (vgl. Meyer 1965, XVI). Zum einen setzten die zumeist scharfsinnigen, so freundlich wie ehrlich gehaltenen Besprechungen neue Standards der Rezensionskultur: ihre auf das Grundsätzliche ausgerichteten Darlegungen galten bald als methodisch vorbildlich. Zum anderen erregte die Person Moses Mendelssohn selbst nicht nur Aufmerksamkeit und Anerkennung unter Fachgelehrten, sondern es erforderte auch von der breiten Leserschaft eine Revision althergebrachter Vorurteile, dass ausgerechnet ein Jude wegweisende Beiträge zur deutschen sowie europäischen Literatur und Philosophie leisten konnte. Vgl. dazu umfassend Eva J. Engels Einleitung zu den einschlägigen Bänden in JubA V/1.

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handschriftlichen Nachlass (Kollektaneen) und Übersetzungsfragmente eine wertvolle Quelle zur Einschätzung von Mendelssohns Entwicklung. Sie sind jedoch nur unzureichend überliefert (die meisten Originalmanuskripte gelten seit dem zweiten Weltkrieg als verschollen) und z. T. nur ungenau datierbar. Im gegebenen Zusammenhang, in denen ein Rückgriff auf diese Notizen fruchtbare Einsichten verspricht, wird auf die Datierungsfrage jeweils in Orientierung an die Ergebnisse der ausgezeichneten editorischen Arbeit der Herausgeber der Jubiläumsausgabe, aber auch auf darüber hinausgehende Vermutungen, die sich anhand flankierender, gesicherter Daten (wie bspw. Entstehungsdaten zitierter Werke) ergeben, eingegangen. Es wird hinsichtlich des Nachvollzugs von Mendelssohns intellektuellem Hintergrund und der Diskussionskontexte auch auf das nach seinem Tod erstellte Verzeichniß der auserlesenen Büchersammlung des seeligen Herrn Moses Mendelssohn, Berlin 1786 (im Folgenden Bücherverzeichnis, mit Angabe der Buchnummer/Seitenzahl), das zwecks Versteigerung des Mendelsohn’schen Nachlasses angefertigt wurde, zurückgegriffen. Aufgelistet sind 1089 Titel, die einen Überblick über Mendelssohns weit gespannte Interessen bieten. Es findet sich Mathematisches, Judaistisches, Literarisches und Ästhetisches sowie Abhandlungen zu anthropologischen Fragestellungen im weitesten Sinne. Die Tatsache, dass ein bestimmter Titel verzeichnet ist, bedeutet natürlich nicht zwangsläufig, dass Mendelssohn dieses Werk vollständig zur Kenntnis nahm, noch, dass er keine frühere Ausgabe kannte, was bspw. bei den Longin-Übersetzungen sicher der Fall ist (siehe Kap. II.3). Auch ist es durchaus möglich, dass er ein Buch weitaus später las, als es das Erscheinungsdatum anzeigt. Zuletzt kann auch die Tatsache, dass ein bestimmter Titel nicht im Verzeichnis auftaucht, nicht beweisen, dass Mendelssohn dieses Buch nicht zur Kenntnis genommen hätte. Zum einen ist das Verzeichnis unvollständig, da es lediglich die Hinterlassenschaft katalogisiert und damit eine Momentaufnahme bietet; zum anderen hat Mendelssohn rege Bücher ausgeliehen und sich solcherart ebenfalls neue Forschungshorizonte erschlossen. Aufgrund alles dessen kann der Hinweis auf diese Bücherliste nur illustrieren und zu Spekulationen einladen, die immer als solche gekennzeichnet sind. Es spiegelt in jedem Fall wider, wie rege Mendelssohn am Geistesleben seiner Zeit Anteil nahm und anscheinend alle bereits zu seiner Zeit »kanonischen« Denker kannte. Am schlechtesten vertreten ist vielleicht das christliche Mittelalter, das tatsächlich auf Mendelssohns Argumentationen, zumal allenfalls vermittelt über die Leibnizschen Schriften, einen geringen Einfluss ausübt. Um seine Denkweise angemessen zu erfassen, und dies ist auch hinsichtlich seiner Bewertung als Anthropologe von Bedeutung, muss Mendelssohn als ein Denker in Kontexten verstanden werden. Ich lehne mich dabei im weiteren Sinne an die von Dieter Henrich initiierte Konstellationsforschung an. Ihr zufolge macht die Erkenntnis, dass philosophische Werke innerhalb bestimmter Gesprächs- und Forschungskonstellationen zustande kommen, klar, »dass die philosophiegeschicht-

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lichen Forschungen, die sich innerhalb jenes Kraftfeldes nur an den Werken einer einzelnen Person orientieren, den Aufgaben einer Verständigung über die theoretischen Prozesse dieser Periode und somit auch über die Werke der einzelnen Personen selbst gar nicht gewachsen sein können. Trotz der großen Bedeutung persönlicher und freundschaftlicher Verständigungen für den Gang des philosophischen Denkens in dieser Zeit waren zwar die philosophischen Konzeptionen immer Leistungen von einzelnen. Innerhalb dieser Konzeptionen wirken sich aber viele Faktoren aus, die nur in Beziehung auf das gegenüber den Konzeptionen vorgängige Kraftfeld eine Erklärung finden können. Zu ihnen gehören etwa: die Dringlichkeit, die einzelnen Problemen und Perspektiven zuerkannt ist, eine Bereitschaft zur Umorganisation des eigenen Standpunktes, die sich von Kraftlinien innerhalb jenes jedermann vertrauten Feldes herleitet, Aussichten auf die synthetische Behandlung von Problemlinien, die sich aus der Verfassung des Feldes heraus öffnen.« (Henrich 1991, 12) Problematisch hierbei ist, wie der Fixpunkt einer solchen Untersuchung festgestellt werden soll, wenn es nicht doch das einzelne Werk ist. Henrich nennt als anvisierten Punkt dieses »vorgängigen Kraftfelds« den »Denkraum«, der die genannten Modifikationsfaktoren aufzeigen soll. Zur Bestimmung dieses »Denkraums« muss jedoch wiederum auf Textzeugnisse zurückgegriffen werden.31 In diesem Sinne werde ich mich an dem Kontakt, den Mendelssohn mit den Theoretikern und damit auch Theorien seiner Zeit pflegte, orientieren, denn die Rede allein von den Werken und auch dem persönlichen Austausch vorgängigen »Kräften« sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei immer, gerade im Jahrhundert des intellektuellen Austauschs und des sentimentalen Freundschaftskults durch eine Fülle an Dokumenten gut nachvollziehbar, um personale Beziehungen handelt, vermittelt durch Gespräche, Rezensionen und vor allem Briefverkehr, in dem sich Problemfelder durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Konzepte und damit verbundener, oft unausgesprochener Prämissen in deren Artikulation – und dem dabei oft auftretenden Missverständnis und der gegenseitigen Fehlinterpretation – herausbildeten. So geht zwar »[d]er Konstellation von Personen in den Debatten und den Lebensproblemen, die ihnen gemeinsam waren, […] immer eine Konstellation von philosophischen Problemen und von zueinander gegenläufigen philosophischen Entwürfen voraus […], die in den Debatten geklärt, vertieft und gelöst werden sollten« (Henrich 2005, 23), die Untersuchungsrichtung geht zur Reformulierung dieser Probleme jedoch notwendig den umgekehrten Weg. So kann im Kapitel I.1 zur Bestimmungsdebatte zwar anhand einer Vielzahl an Schriften und Äußerungen ein solches Diskussionsumfeld, das die bestimmenden Ideen auch für Mendelssohns Werk bereitstellt, herausgearbeitet werden. In der Untersuchung selbst jedoch lassen sich diese Entwürfe nur über eine 31

Etwas undeutlich fasst dies Stamm: »Diese Denkräume werden durch ihren jeweiligen theoretischen beziehungsweise argumentativen Kern bestimmt.« (Stamm 2005, 31)

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Reflexion auf diesen persönlichen Austausch und seine Konstituenten erschließen und nachweisen. Das Verhalten der an der Diskussion Beteiligten zu diesen Problemen führt wiederum zu neuen Argumentationslinien und Denkmustern, die sich im vorliegenden Fall exemplarisch nachzeichnen lassen. Zu diesem Zweck werde ich Mendelssohns einschlägige Schriften nicht isoliert, sondern in dem sie strukturierenden und prägenden intellektuellen Umfeld, und das heißt auch in Bezug auf die seine Ansichten prägenden Schriften anderer Autoren, explizit ohne Anspruch auf vollständige Berücksichtigung aller jemals genannten und gekannten Werke und Personen, untersuchen. Viele seiner Werke entstanden in direkter Auseinandersetzung mit einer bestimmten Position, wie bspw. die Briefe über die Empfindungen in ihrer Form auf Shaftesbury, inhaltlich v. a. auf Sulzer und Dubos verweisen, oder sein Phädon als eine ›verbesserte Übersetzung‹ des platonischen Dialogs firmiert. Schon im ersten Kapitel wird Mendelssohns Theorie einer Bestimmung des Menschen im Zuge der Auseinandersetzung mit der Position Thomas Abbts interpretiert; in den Folgekapiteln werden die lebendigen Einflüsse Rousseaus, Lessings, Kants, Humes und Herders berücksichtigt, um nur einige zu nennen. Dabei lassen sich die Stränge der Auseinandersetzung begrenzen; je nach Kontext bestehen vorherrschende Einflüsse, die es erlauben, das jeweilige Diskussionsgebiet angemessen zu durchmessen. Dabei ist keine umfassende Beleuchtung des intellektuellen Hintergrunds in Form der Rückführung jedes Gedankens auf seinen Ursprung anvisiert – denn dann wäre eine Abhandlung über den Einfluss des Epikureismus und der Stoa auf die Philosophie der Aufklärung vonnöten – sondern es geht um die Klärung spezifischer Einflüsse, um den »Denkraum«, in dem sich Mendelssohns Anthropologie bewegt, zu charakterisieren. Diese bestimmenden Linien erschließen sich wiederum nur über die Berücksichtigung von Briefen und Notizen, in denen dies am offensichtlichsten zutage tritt. Direkte und indirekte Zitate, sowie das auffällige Hinzutreten neuer Positionen in überarbeiteten, veröffentlichten Werken bieten ebenfalls wichtige diesbezügliche Indikatoren. Zugleich sind die ›Generalbässe‹ seines Denkens, Leibniz und Wolff, sowie in begrenztem Maße auch Shaftesbury und Spinoza32, in jedem Aspekt der

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Spinoza ist als Quelle von Mendelssohns Ideen mit Vorsicht zu behandeln. Wie nicht nur Mendelssohns öffentlichen Einlassungen im Zuge des Pantheismus-Streits oder seine »Rettung« Spinozas in den Philosophischen Gesprächen (1755) zeigen, steht er ihm zwar offen und bisweilen gar affirmativ gegenüber; er verneint jedoch gerade dessen Konzept der Substanz, also ausgerechnet den Grundzug von Spinozas Metaphysik. Andere spinozistische Gedanken dennoch zu einer durchgehend spinozistischen Philosophie Mendelssohns zu kompilieren, halte ich in diesem Sinne für mindestens missverständlich. Zu Recht charakterisiert Ursula Goldenbaum in einem diesbezüglichen Aufsatz, der die Bezugnahmen Mendelssohns auf Spinoza untersucht, schon im Titel das Verhältnis von Mendelssohn und Spinoza als »schwierig« (vgl. Dies. 2002). Dennoch lässt sich insbesondere mit Goetschel 2004 überzeugend dafür argumentieren, dass Mendelssohns Philosophie – abgesichert vom Leibnizianisch-Wolffianischen Rahmen – auch als ein »Dialog« mit

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Einleitung

Untersuchung präsent. Im Vordergrund steht aber immer Mendelssohns spezifische Zusammenstellung der Themen und Prämissen, die auch zu Modifikationen der Ursprungstheorien führen kann. Um die hier angeführten Überlegungen mit der oben genannten Qualifizierung der Verwertbarkeit des vorliegenden Materials in Übereinstimmung zu bringen, sei letztlich jedoch hervorgehoben, dass zwischen einer Version von Anthropologie, die Mendelssohn zwar indirekt, aber doch im veröffentlichten Werk zur Diskussion stellt, und einem im Hinblick auf das gesamte Datenmaterial gewonnenen Einblick, der Vermutungen bezüglich darüber hinausreichender Argumentationsstränge erlaubt, zu unterscheiden ist. Beide Aspekte sollen in der vorliegenden Arbeit untersucht werden; soweit möglich, ohne sie unentwirrbar miteinander zu vermischen. Zuletzt: Die einheits-, fast schon systemstiftende Perspektive dieser Arbeit sollte nicht über einen wichtigen Punkt hinwegtäuschen. So stellt sie zwar eine rekonstruktive Annäherung an Mendelssohns Denken dar, jedoch sollte sie nicht Einheit heischen, wo dieser selbst keine fand. Seine Versuche einer Bestimmung des Menschen sind Schritte auf einem Weg, den er nicht umfassend und befriedigend zu Ende gegangen ist. Schon mit den ersten expliziten Versuchen einer Bestimmung der Bestimmung des Menschen im Briefwechsel mit Abbt, die seltsam abgelöst von Mendelssohns bisherigen ›Ergebnissen‹ scheint, kann man nicht zufrieden sein und auch in der Folgezeit gelingt kein überzeugender theoretischer Gesamtentwurf. Die Formulierung einer Anthropologie auf der Grundlage seiner Ansätze mag eine interessante Alternative zu anderen, gängigeren Entwürfen sichtbar werden lassen. Doch strebt diese Arbeit nicht an, die Geschichte der Anthropologie neu zu erzählen, sondern der Betrachtung der Geburtsstunde der Anthropologie eine interessante – und in Hinblick einer Diskussion über menschliche Kultur und Bildung vielleicht sogar fruchtbare – Facette hinzuzufügen. Mein Ziel wird also erreicht sein, wenn man das philosophisch zentrale Problem Mendelssohns – nicht schon dessen Lösung – besser versteht als zuvor und damit einen neuen Zugang zu seinem Werk und dem ihn umgebenden anthropologischen Denkraum erhält. Für die Entstehung dieser Arbeit bin ich vielen Menschen zum Dank verpflichtet. Mein erster Dank gilt aber einer Institution, der Studienstiftung des deutschen Volkes, gleichviel wie den großartigen Menschen, die hinter dieser Institution stehen und mit denen ich in den Jahren meines Studiums wie der Promotionszeit in Kontakt stand. Die Stiftung und die von ihr initiierten Aktivitäten, allem voran natürlich die Sommerakademien (und hier insbesondere Alpbach 2004) haben mir Spinoza verstanden werden kann (vgl. insbesondere Goetschel 2004, 89 f.). Ich komme in Kap. IV eingehender darauf zurück.

Methodik

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eine ganze Welt eröffnet. Verpflichtet bin ich auch dem Leo Baeck Fellowship Programme, in dessen Förderzeit als Postdoctoral Fellow ich u. a. die Endredaktion dieses Manuskripts unternehmen konnte. Desweiteren möchte ich meinen akademischen Lehrern, insbesondere Reinhard Brandt, Manfred Kuehn und Jutta Osinski (Universität Marburg) sowie Michael Pauen (Magdeburg/Berlin) danken. In academia gilt mein besonderer Dank jedoch Jürgen Stolzenberg, der mich immer unterstützt hat und mir eine großartige Arbeitsatmosphäre zur Entstehung dieser Arbeit verschaffte. Ich danke Lanier Anderson, Michael Friedman, Graciela De Pierris und Allen Wood. Die Gespräche mit ihnen, wie auch die generell enorm bereichernde und anregende Atmosphäre an der Stanford University 2006/07, die sie mir mit einer Einladung als Visiting Scholar verschafften, wobei wiederum auch ein Kurzstipendium der Studienstiftung entscheidende finanzielle Entlastung gab, sind ein essentieller Teil dieser Arbeit geworden. Ein herzliches Dankeschön an Dr. Marion Lauschke und Marcel Simon-Gadhof für ihre so fachkundige wie freundliche Begleitung durch den Drucklegungsprozess. Zugleich entschuldige ich mich für all die Arbeitsverzögerungen, die verworrene Geisteswissenschaftler bisweilen auslösen. Ich danke meiner Familie und meinen Freunden für ihre Unterstützung. Und ich danke, last but never least, Konstantin Pollok für unsere Gespräche, die zur näheren Konturierung der dieser Arbeit zugrunde liegenden Idee führten, sowie für seine unermüdlichen kritischen Nachfragen, die wohl einige Unsicherheiten erst ins Licht meiner Aufmerksamkeit rückten. Ob ich sie habe beseitigen können, liegt selbstverständlich allein in meiner Verantwortung.

KAPITEL I Die Bestimmung des Menschen

I. Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹? »Es ist doch einmal der Mühe werth, zu wissen, warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll?« J. J. Spalding, Bestimmung des Menschen (71763), 5

Die Facetten des Menschen, ihre nähere Bestimmung und Einordnung in ein umfassendes Konzept der menschlichen Natur und seiner Einpassung in die ihn umgebende Welt ist ohne Zweifel von jeher eines der vitalsten Interessen der Philosophie und ihr verwandter Forschungszweige gewesen. Mit dem Hinweis auf den Menschen als dem »Maß aller Dinge« (Aristoteles) oder aber auch mit der generellen Aussage, dass das »Studium des Menschen« die edelste Angelegenheit menschlicher Beschäftigung sei, sind quer durch alle Epochen die philosophischen Schriften und Lehrbücher versehen. Dennoch ist das achtzehnte Jahrhundert als die Geburtsepoche der Anthropologie als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin zu benennen.1 Im folgenden Teilkapitel soll dargelegt werden, inwiefern diese Ansicht zu rechtfertigen ist. Es wird sich dabei zeigen, dass mit der ersten Benennung eines Untersuchungsfeldes noch nicht sein genauer Umfang bestimmt ist, sondern es sich unterschiedlichen Möglichkeiten der Fortentwicklung gegenüber offen zeigt. Der hier gewählte, auf das Werk eines einzelnen Philosophen bezogene Ansatz soll diese Fülle von Ansätzen kanalisieren und begrenzen; er dient in diesem Sinne jedoch nicht dazu, der Geschichte der Anthropologie eine eindeutige Richtung zu geben, sondern weist auf das enorme Potential während der Herausbildung des Anthropologiebegriffs hin, der sich auch in der Entstehung weiterer Disziplinen, wie der Geschichts-, Sozial- und Kulturphilosophie im weiteren Sinne, im Anschluss an die Aufklärung niederschlägt. Mendelssohn ist als ein Vater dieser Denkrichtungen zu verstehen. Um diese Perspektive zu verdeutlichen, wird im zweiten Abschnitt dieses Teilkapitels der Fokus der Betrachtung auf ein schärfer begrenztes Teilgebiet gelenkt: die Bestimmung des Menschen. Hier ist, so die These auch des nachfolgenden Teilkapitels I.2, die Wurzel zu Mendelssohns Beschäftigung mit dem Menschen zu suchen. Seine 1

Auch wenn es bis heute ernstzunehmende Stimmen gibt, die die Etablierung der wissenschaftlichen Anthropologie erst in den Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Arbeiten Gehlens, Schelers, Plessners verlegen; vgl. Marquard 1971, 362.

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

Überlegungen zu diesem Themengebiet, das er erstmals explizit und öffentlich um 1765 mit Thomas Abbt durchmaß, zeigen die Grundlinien seines philosophischen Interesses auf, weshalb die dort aufgeworfenen Differenzierungen für die daran anschließende, auf Mendelssohns gesamtes Oeuvre zurückgreifende Analyse, an deren Ziel die Formulierung eines Ansatzes zu seiner impliziten »rationalistischen Anthropologie« steht, leitend sind.

1. Was ist Anthropologie? Bestimmung eines Untersuchungsfeldes Um zu legitimieren, warum Mendelssohns Philosophie als eine Anthropologie gelesen werden kann und weshalb eine solche Lesart vorteilhaft ist, obwohl Mendelssohn selbst diesen Terminus nicht explizit erwähnt, bedarf einer Erläuterung. Ein erster Ansatzpunkt ließe sich unter Bezugnahme auf Cassirers umfassende Darstellung der Philosophie der Aufklärung (1932) reformulieren: Ziel dieser Philosophie, zu dessen führenden Köpfen Mendelssohn zweifellos gezählt werden kann2, sei es letztlich, »die Logik, die Moral, die Theologie in bloße Anthropologie aufzulösen.« (ebd., 155) Die pejorative Färbung des Ausdrucks »bloße Anthropologie« bezieht sich im betreffenden Kapitel von Cassirers Abhandlung auf eine damalige Tendenz, die Genese der Erkenntnis auch als das Kriterium ihrer Gültigkeit aufzufassen. Diese Tendenz ist jedoch für Mendelssohn nicht einschlägig; es ist vielmehr ertragreicher, mit Cassirers Spezifizierung des einleitenden Kapitels zu arbeiten: Ein generelles Charakteristikum der Aufklärungszeit sei die Bestrebung der eigenen Standortbestimmung und die Berücksichtigung der Methode, die zu ihr führte. »Die Epoche […] fühlt sich von einer mächtigen Bewegung ergriffen und vorwärts getrieben; aber sie kann und will sich nicht damit begnügen, sich dieser Bewegung einfach zu überlassen, sondern sie will sie in […] ihrem Ursprung und ihrem Ziel begreifen. Dieses Wissen um das eigene Tun, diese geistige Selbstbesinnung und diese geistige Vorschau, erscheint ihr als der eigentliche Sinn des Denkens überhaupt und als die wesentliche Aufgabe, die ihm gestellt ist.« Solche Neugier und Entdeckerfreude geht aber nicht allein auf die Erschließung der Welt, sondern auch auf den Menschen selbst: »Noch tiefer ergriffen und noch leidenschaftlicher bewegt fühlt er sich von der anderen Frage, was er selbst ist und was er selbst vermag.« (ebd., 3, vgl. 123) Dieses Anliegen wiederum wirkte zurück auf die Tendenz der Umschreibung bisheriger Er-

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Vgl. Bachmann-Medick 1989, 8. Die für die Popularphilosophen kennzeichnende »Abwendung von der strengen Systematik und Dogmatik des Leibniz-Wolffschen Rationalismus« (ebd., 12) ist bei Mendelssohn jedoch lediglich für die Popularisierung der Form (die mit derjenigen des Leibnizschen Spätwerks durchaus verwandt ist) zutreffend, nicht für den Inhalt seiner Überlegungen, der eher auf eine Begründung der Akzeptanz dieser Lehren ausgerichtet war.

I.1 Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹?

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kenntnisse in spezifisch anthropologische Theoreme, die in diesem Sinne nicht als eine Reduktion, sondern eine Bereicherung des bisherigen Welt- und Menschenbildes verstanden werden können. Dabei wurde nicht allein das Wissen und Denken des Menschen Gegenstand der Untersuchung, sondern auch sein Gefühl. »The Enlightenment […] was as much an Age of Feeling as an Age of Reason, and for the most part it saw its purpose in the reconciliation of the two.«3 Anthropologie ist somit nicht nur als eine sämtliche ehemals metaphysische Theoreme dominierende Denkrichtung und damit bloß modischer Sammelbegriff verständlich, sondern erhält zugleich eine inhaltliche Richtung: Es geht um eine Verbindung zwischen den Theorien von menschlichem Gefühl und Sinnlichkeit mit den Betrachtungen vom erkenntnistheoretischen Standpunkt des geistbegabten Wesens Mensch in der Welt, kurz um eine Theorie der Verbindung zwischen Körper und Geist, zwischen Gefühl und Wissen und zwischen Einzelwesen und Gattungsbestimmung. Mendelssohn geht es dabei nicht um die schlichte Naturalisierung des Menschen (und seines Gottes); sondern er ist bemüht, dessen prekäre, auszubalancierende Position zwischen Himmel und Erde angemessen zu reflektieren und damit praktikable Lösungen zur Führung eines auf Vollkommenheit und Glückseligkeit hin ausgerichteten Lebens zu erfassen, ohne die Glaubenswahrheiten seiner Generation aufzugeben. Der Terminus »Anthropologie« taucht erstmalig im 16./17. Jahrhundert auf 4, doch bezeichnet er noch kein eindeutig umrissenes Forschungsgebiet. Neben einer immer wieder verteidigten theologischen Betrachtungsweise untersuchen schon diese frühen Schriften das Gebiet der menschlichen Seele, des Körpers und ihrer beiderseitigen Verknüpfung in physiologischer Hinsicht und präfigurieren damit die im 18. Jahrhundert verstärkt aufkommende Diskussion. Verkürzt gesagt, so auch Schings (1977, 25), leiten letztlich diese Versuche eine Ablösung von Metaphysik wie Theologie als alleinige Erklärung und normative Festlegung der »Natur des Menschen« ein. Diese emanzipierenden »Anfänge« dehnen sich bis ins 19. Jahrhundert aus und erhalten eine immer spezifischere Richtung. Insgesamt entfernt sich die Disziplin Anthropologie entschieden von ihren Wurzeln, nicht zuletzt indem ihre Vertreter zunehmend einen nichtmetaphysischen, naturalistischen Ansatz verfolgen. Mit ›Naturalismus‹ ist hier, relativ unspezifisch, um die Bandbreite seiner Zuordnungen 3

Duncan 2003, 48; vgl. auch Vierhaus 1995, 158 f., der in seinem Überblicksessay die Gleichzeitigkeit verschiedenartiger Entwicklungen im Aufklärungszeitalter darstellt und analysiert. 4 Marquard 1971, 363 nennt als erste Autoren, die den Begriff Anthropologie in der auch in Mendelssohns Zeit ungefähr gebräuchlichen Bedeutung verwendeten, Magnus Hundt, Otto Cassmann, C. Buthelius, Johannes Valentin Rethe und S. Gvenius. Allgemein zur Anthropologie des frühen 18. Jahrhunderts siehe Schings (Hg.) 1994, Moravia 1973, Proß 1987, Nowitzki 2003, J. Heinz 1996 und, obwohl im Bereich der vorkantischen/vorkritischen Popularphilosophie etwas dünn, Marquard 1965.

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

rechtfertigen zu können, eine »Einordnung des Menschen in einen Naturzusammenhang« (Proß 1987, 1133) gemeint. Diese Blickrichtung überformte immer mehr den angenommenen göttlichen Bezug des Menschen und wertet ihn schließlich in den Kategorien der Naturwissenschaft, nicht (mehr) der Metaphysik, Theologie oder Moralphilosophie. Neben einer so verstandenen medizinischen bzw. rein physiologischen Anthropologie und ihrer Spielarten in Biologie und Psychologie lassen sich noch weitere Tendenzen feststellen, die nicht allein die naturhafte Bildungsfähigkeit des Menschen, sondern auch sein kulturelles Vermögen in den Blick nehmen; die Ethnologie5, aber auch die spekulativen Tendenzen der Psychologie (Tiefenpsychologie, freudianische Theorien und ihre Vorläufer), die Geschichts- und sogar die Literaturwissenschaft sind hier zu nennen. Letztlich stehen sich, vereinfacht ausgedrückt, naturwissenschaftliche und humanistische Bestrebungen gegenüber, was sich schon im Ausgangspunkt der Anthropologie-Debatte im 18. Jahrhundert widerspiegelt. Mendelssohns Schaffenszeit befindet sich damit in einem Zwischenraum, in dem der Terminus Anthropologie selbst noch für mehrere Bedeutungs- und damit Untersuchungsebenen wie Methoden offen ist. Eine Anthropologiedebatte im Sinne einer methodischen Suche nach der Selbstdefinition des Menschen und seiner »Natur« findet somit mit unterschiedlichen Gewichtungen bereits statt, bevor noch die Begriffsextension klar bestimmt ist. In der 1732er Auflage von Zedlers UniversalLexicon ist von der Anthropologie als »Special-Theil der Physic« (Bd. II, Sp. 522) die Rede.6 Wie bereits Wolfgang Riedel (1985, 14) betont, beschreibt die erste Auflage von Johann Georg Walchs Philosophischen Lexicon von 1726 dagegen die Anthropologie konjunktivisch als die Lehre von der »gedoppelten Natur« (der physischen und moralischen) des Menschen; grenzt jedoch mit Hinweis auf den »Sprachgebrauch« die Verwendungsweise des Begriffs allein auf seine »medicinische«, also physische Dimension ein. Diese Definition wird in den folgenden drei Auflagen unverändert beibehalten. Erst die vierte Auflage von 1775 gibt die Platner folgende Beschränkung des Anthropologiebegriffs auf das Zusammenwirken von Körper und Geist wieder 5

Diese wurde besonders durch die aufkommende Reiseliteratur gefördert, als deren aufregendstes Ergebnis sich Darwins Evolutionsbiologie bezeichnen lässt. Diese war im übrigen weniger von rein biologistischen, sondern auch von ästhetischen Überlegungen eines Edmund Burke geprägt (diesen Hinweis verdanke ich einem Vortrag von Winfried Menninghaus, Stanford, 11. Januar 2007). Daneben sind auch Georg Forster und Alexander von Humboldt zu nennen. Von dieser Forschungsrichtung profitierte u. a. auch Kants »physische Geographie«, die als Pendant zu den Anthropologievorlesungen gehalten wurde (vgl. Brandt 1998, 9). 6 Generell verwiesen zu Beginn des Jahrhunderts nur wenige Lexika auf dieses »neue« Gebiet, was sich erst gegen Ende des Jahrhunderts grundlegend änderte (vgl. Linden 1976, 161–70). Nicht nur in Lexika, sondern auch in einschlägigen Monographien wird Anthropologie in verschiedene Richtungen spezifiziert. Dies ist schon in der jeweiligen Titelei sichtbar. Für einen Überblick siehe das Inhaltsverzeichnis in Linden 1976. Es ist deutlich, dass es einen »Konsens hinsichtlich ihres Umfanges […] ganz offensichtlich nicht zu geben« scheint (ebd. 161).

I.1 Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹?

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(vgl. Mauser 2001, 49). Überlegungen zum Themenkomplex finden sich allerdings auch, und zwar schon früher, unter den Schlagworten »Psychologie«, »Seele«, »Bestimmung des Menschen« und »menschliche Natur«. Den letztgenannten Begriff bezeichnet Zammito in seiner Studie zu Kant, Herder, and the Birth of Anthropology, als eine »Obsession« des 18. Jahrhunderts7; auch sein Umfang ist schillernd und reicht von moraltheoretischen zu medizinischen Überlegungen. Neben der außerordentlichen Bedeutungsvariation war der Begriff der Anthropologie von großer internationaler Reichhaltigkeit. Obwohl er v. a. im deutschsprachigen Raum seine Ausprägung erfuhr, war er der Sache nach schon lange auch in Frankreich und England Gegenstand des Interesses, wie überhaupt die anthropologische Forschung sich europäisch, nicht auf Nationen begrenzt, entwickelt. Hinsichtlich ihrer Wurzeln in Frankreich wäre Montaigne als Begründer der »beobachtenden Lebenswissenschaft«, wie Meiners es ausdrückte, zu nennen (vgl. Zammito 2002, 223). Aber auch die materialistisch geprägten Überlegungen von Condillac, Lamettrie, d’Helvétius u. a. sind für die Herausbildung der physiologischen Orientierung der anthropologischen Forschung auch im deutschen Sprachraum, wie die Untersuchungen der »vernünftigen Ärzte« zeigen, von Bedeutung.8 In Britannien der Neuzeit war es v. a. Bacon, der dieses neue Interesse formulierte und dessen ›Nachfolger‹ v. a. des Scottish Enlightenment, die Bacons Erbe weiter tradierten und systematisierten.9 Einflussreich waren aber vor allem die Schriften Anthony Ashley Coopers, Third Earl of Shaftesbury, und David Humes Treatise of Human Nature von 1739.10

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»a foremost obsession of the eighteenth century« (Zammito 2002, 228) Siehe dazu die ausführlichen Analysen in Nowitzki 2003 und Zelle 2001. 9 Wobei sich diese Richtung wiederum durch enge Verbindungen zu Frankreich auszeichnete. Neben Hume sind bspw. Francis Hutcheson, Thomas Brown, Adam Ferguson, Adam Smith, Thomas Reid und Alexander Gerard zu nennen. Siehe dazu v. a. die umfassende Studie Kuehn 1987. Er charakterisiert den Einfluss der britischen Philosophie wie folgt: »Kant, Mendelssohn, and their contemporaries tried in various ways to effect a synthesis of »British empiricism« and »German rationalism«. This shows, among other things, that the foreign, and especially British, influence extended much farther than to mere matters of style. Thus the Germans until this time had been occupied mainly with the rational side of man, or with logic and metaphysics, and they had neglected almost completely his sensitive aspects (or simply treated it »in analogy to reason«.). But the works of the British philosophers brought the importance of man’s sensitive nature most forcefully home to them. Accordingly, the younger German philosophers tried to supplement the Wolffian theory by relying on British observations, or they simply rejected Wolffianism altogether. Psychology and anthropology, aesthetic and educational theories based upon more empirical methods began to replace logic and metaphysics as the key disciplines for an understanding of the world and man’s place in it.« (Kuehn 1987, 39 f.) 10 Von ihm ist auch Condillacs Traité des sensations von 1754 beeinflusst, der mit einer Paraphrase von Humes Treatise beginnt; vgl. Proß 1987, 1152. Mendelssohn war das Werk in Garves Übersetzung zugänglich, jedoch hat er sich allem Anschein nach weitaus eingehender mit dessen Enquiry auseinandergesetzt, siehe Kap. III.1. 8

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

Diese beiden Wurzeln in der französischen und britischen Aufklärung zeigen darüber hinaus, dass die im Begriff des Menschen jeweils angelegte Spannung unterschiedliche Gewichtungen in der Betrachtung ermöglichte: ein Schwerpunkt konnte auf den physiologischen Gegebenheiten, ein anderer auf den moralischen Erfordernissen11 des Menschen liegen; ihre enge Verflechtung zeigt darüber hinaus freilich, dass sich diese Strömungen niemals gänzlich unabhängig voneinander entwickelten. Der Versuch zur Etablierung einer ganzheitlichen Betrachtung, wiederum mit unterschiedlichen Schwerpunkten, ist in nahezu allen Richtungen der aufkommenden »Anthropologie« zu verzeichnen. Mendelssohns Werk ist nur ein Beispiel, wie die auch in anderen Ländern sich formierenden Strömungen aufgenommen wurden. Im Folgenden soll nicht umfassend auf einzelne Vertreter dieser Richtungen eingegangen, sondern lediglich die Zeittendenz umrissen werden, vor der sich Mendelssohns spezifisches Interesse artikulierte. Was ist die integrative Kraft der »Anthropologie«, an der nicht wenige Denker der Aufklärungszeit derart interessiert schienen? Der Studie Lindens zufolge, in der der Anthropologiebegriff im 18. Jahrhundert erstmals eingehend untersucht wird, zeigt sich eine derartige Fülle an Ansätzen, dass dieser Name kaum geeignet scheint, eine einheitliche Disziplin zu kennzeichnen.12 Vielmehr muss man die Anthropologie als einen Sammelbegriff oder als ein Abgrenzungsversuch verstehen, der in der Hauptsache darauf abzielt, die menschliche Konstitution und ihr Weltverhältnis in unterschiedlichsten Hinsichten zu problematisieren. Unter diesem Oberbegriff lässt

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Hier wäre als ein Hauptvertreter in der deutschsprachigen Philosophie Christian Garve zu nennen, der sich als »deutscher Hume« bezeichnete, vgl. Versuche über verschiedene Gegenstände, Bd. 3, Breslau 1797, 91. Dazu Bachmann-Medick 1989, 13 und 163–241. Ihre fundierte Untersuchung zum popularphilosophischen Verständnis der Verbindung von Handlungs- und ästhetischer Theorie ist im gegebenen Rahmen allerdings von geringerem Interesse. Zum einen ist sie hauptsächlich auf Garve und Engel beschränkt, zum anderen deckt sie einen Zeitraum ab, der v. a. durch die Auseinandersetzung mit Kants Kritischer praktischer Philosophie definiert ist. Mendelssohn nimmt an dieser Diskussion nicht mehr teil. 12 Dies formulierte in polemischer Hinsicht Johann G. Gruber: Über die Bestimmung des Menschen. Für das gebildete Publikum. 2 Bde. Zürich, Leipzig 1800 (21809), VIII f. »Wenn dieser den Menschen zu einem Gotte zu erheben suchte, so würdigte ihn jener zu einem Pavian herab; wenn dieser ihn deshalb glücklich pries, weil er im Fortschritt der Kultur zum Philosophen und Künstler sich aufzuschwingen fähig gewesen, so behauptete der andere, dies sei nur Fluch für ihn, und nur in kindlicher Unbefangenheit und Einfalt gedeihe die zarte Pflanze seines Glückes; wenn nach diesem der Mensch in seinem Staate nur Heil und Segen fand, so zeigte gleich ein anderer, daß nur die Staaten der pestilenzianische Sumpf seien, aus dem alles Elend über die Menschheit sich ergieße; wenn dieser die Menschen als Engel schilderte, so malte jener sie als Teufel ab; wenn der eine darzuthun sich bemühte, der Mensch sei zur Tugend und Unsterblichkeit geboren, so lehrte bald ein anderer, nur zum frohen Genusse des Lebens sei er da; wenn dieser die Tugend als das höchste Gut des Menschen pries, so pries jener die Glückseligkeit dafür, und ein noch anderer Glückseligkeit und Tugend im Verein.«

I.1 Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹?

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sich dann ebenso ein eher physiologisch orientierter Versuch der Einordnung der menschlichen Spezies in die »Kette der Wesen«13, als auch der leibnizianische Versuch einer logisch-metaphysischen Erläuterung des Leib-Seele-Zusammenhangs einordnen. »Anthropologie« lässt sich damit als ein umfassendes Untersuchungsfeld verstehen, was auch die Fülle der um 1800 möglichen Komposita, die insgesamt »Kategorien der Selbstverständigung des Menschen« (Mauser 2001, 50) darstellen sollen, zeigen. Eine »philosophische Anthropologie« befasste sich mit dem Menschen als einem vernünftigen Wesen; die psychologische behandelte dessen seelischen, die medizinische Anthropologie den leiblichen Teil. Die praktische oder pragmatische Anthropologie fokussierte den Menschen als ein moralisches Wesen, die Ethnologie (als: »Rassen-Anthropologie«) behandelte ihn in biologischen Kategorien. Soziale Anthropologie nahm das gesellschaftliche, historische Anthropologie das geschichtliche Wesen in den Blick, die Kulturanthropologie wandte sich dem schöpferischen Mensch zu. Für den Beginn der Debatte lässt sich jedoch mit Adler zwar ungenauer, aber zutreffender von einer »offenen Anthropologie« sprechen14, was auch das Bemühen um eine die disparaten Gebiete verbindenden Theorie bezeugt. Mauser benennt das herrschende anthropologische Interesse, selbst wenn dem Namen nach nicht von ihr die Rede ist, als eine »Ausbreitung lebensweltlicher Deutungskategorien«15, die sich

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Dieser Aspekt ist bereits umfassend von Lovejoy (zuerst 1936, dt. 1986) aufgearbeitet. Die genannte Zusammenstellung ohne Anspruch auf Vollständigkeit findet sich bei J. Heinz 1996, 19. Vgl. Adler 1994. 15 Mauser 2001, 50; wobei dieser letztlich den von den »vernünftigen Ärzten« geprägten, ganzheitlichen Anthropologiebegriff der Frühaufklärung (am Beispiel Krügers) verfolgt, die v. a. den Wert physiologischer Betrachtungen zur Begründung von Psychologie und auch Moralistik betonen (vgl. ebd., 57, 61) und damit der Anthropologie die vornehmliche Richtung der Erfahrungs- und Körperlehre geben. Ein weiteres, prominentes Beispiel für ein solches Deutungsmuster mag der Begriff der »Melancholie« bieten, der im 18. Jahrhundert eine Konjunktur erfuhr. »Wer Anthropologie treibt – die gesamte Popularphilosophie tut dies und mit ihr nicht wenige Literaten –, bekommt es mit der Melancholie zu tun.« (Schings 1977, 11) Mit Mendelssohn setzt sich Schings jedoch nur in wenigen Anmerkungen auseinander, was auch dem Umstand geschuldet ist, dass das Gebiet der Melancholie für Mendelssohn nur in enger Verbindung mit anderen Inhalten (Selbstmord, Bestimmung des Menschen, Genie) eine Rolle spielte. Es ist hier ebenfalls zu betonen, dass die Ausweitung lebensweltlicher Deutungsmuster auch für die Kategorie der »Popularphilosophie« allgemein von Bedeutung ist, wobei hiermit mehr eine Untersuchungs- und Darstellungshaltung, denn ein inhaltlich unterschiedenes Programm gemeint ist. In einer groben Differenzierung ließe sich die Popularphilosophie als stärker auf die Erfassung und Erklärung moralischen Verhaltens zum Zwecke der Menschheitserziehung ausgerichtet verstehen, während anthropologische Untersuchungen im weitesten Sinne auf die Einordnung des Menschen in einen Natur- oder Weltzusammenhang ausgerichtet waren. Es spricht jedoch nichts dagegen, einen Popularphilosophen auch als Anthropologen zu bezeichnen, was sich aus den Überschneidungen der Charakteristika beider Forschungsrichtungen erklärt und gerade für die Person Mendelssohn zutrifft. 14

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

als Charakteristika einer philosophischen Disziplin am besten im Rückgriff auf eine geteilte Methodik kennzeichnen lassen16: 1. Insgesamt ist das Interesse am Menschen durch einen verstärkten Rückgriff auf empirische Untersuchungen neben metaphysischen Erklärungsmodellen gekennzeichnet, was zu einer Problematisierung sowohl metaphysischer Prämissen als auch der empirischen Methoden und der Gültigkeit daraus zu ziehender Folgerungen führte. 2. Es findet eine Neubewertung der Sinnlichkeit im Anschluss an Baumgarten und die Affektenlehre Meiers statt, was dem monistischen Ansatz Leibniz’ schärfere Kontur verleiht. Andererseits boten die neuartigen Verbindungen von Physiologie und Psychologie, wie sie die »vernünftigen Ärzte« wie Haller, Unzer, Krüger versuchten, Möglichkeiten der Erklärung physisch-psychischer Phänomene, die zumindest von spezifischen metaphysischen Prämissen absehen konnten. Das Primat des Interesses verschiebt sich von Letztbegründungen hin zu pragmatisch, medizinisch oder psychologisch-moraldidaktisch erklärbaren Teilproblemen. Die Gewichtung der Erklärungsparameter entschied darüber, welchem übergeordneten System man sich zuordnete (Materialismus, Sensualismus, Spiritualismus etc.). 3. Daneben wird auf die thomasische Eklektik zurückgegriffen; ähnlich wie auch die die Interessengebiete anders wertende Popularphilosophie, die einen Schwerpunkt auf die Moralistik setzte, bediente sich die anthropologische Forschung der Methodenvielfalt, um empiristische, sensualistische und rationalistische Erkenntnisse zu verbinden.17 Anthropologisches Forschen meint ein integratives Vorgehen, abgezweckt auf die Verbindung verschiedener Disziplinen zur Untersuchung des »ganzen Menschen«. 4. Ebenfalls im Anschluss an Thomasius wurde mit einem erweiterten Sittlichkeitsbegriff gearbeitet, der weniger eine Begründung der Moral, als vielmehr deren Praktikabilisierung betonte und hierzu Mechanismen suchte (vgl. Mauser 2001, 62–66). Damit war ein herausragendes Kennzeichen der popularphilosophisch geprägten, »anthropologischen« Untersuchungen eine verstärkt didaktische und anschauliche, mit Anleihen aus der Literatur operierende Schreibweise. Die Untersuchung des Menschen sollte mit seiner Verbesserung einhergehen; diese Verbesserung war, so die allgemein geteilte Ansicht, nur mit der angemessenen Aufnahme der 16

Diese Auflistung greift mit Modifikationen auf Zelle 2001a, 11 zurück; dort im Bezug auf die Hallenser Medizin der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis in die 1760 Jahre, also klar vor Platners Anthropologie und symptomatisch auch für andere anthropologische Theorieversuche. 17 Den Einfluss von Thomasius’ Denken betonen Heinekamp 1986, 5, Zammito 2002, 10. Auf dessen Forderung, wahre Wissenschaft / Philosophie solle »schöngeistig betrieben« werden, die er in der Schrift Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen sollte? (verf. 1687, veröff. 1721) vertrat und damit auf die Verbindung von Inhalt und Wirkung pocht, weist Strube 1990, 142 ff. hin.

I.1 Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹?

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neuen Erkenntnisse möglich und erforderte eine dementsprechend anschauliche Darstellungsart.18 Die Hinwendung zur Lebenswelt sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Versuchen um eine umfassende Anthropologie zumeist auch um die Erklärung der Verbindungsmöglichkeit von Empirie und Metaphysik – in einem menschlichen Maß – handelte. Der menschliche Gottesbezug löste sich nicht zwingend in einem Zuge mit seiner »Naturalisierung« auf, sondern wandelte sich. In dieser Hinsicht spielt das Theodizee-Problem zu Beginn der anthropologischen Wende der Philosophie eine bedeutende Rolle, bei dem sich der Problemhorizont zunehmend von einer göttlichen zu einer anthropozentrischen Perspektive verschob.19 Die moralische Stellung des Menschen in der Welt wurde zu einem Problem, zu dem unterschiedliche Lösungsstrategien versucht wurden. An der konzeptionellen Offenheit der Anthropologie als Wissenschaft in der Mitte des 18. Jahrhunderts änderte auch ein wichtiger, bereits öfter erwähnter Referenztext, Ernst Platners 1772 erschienene erste Auflage der Anthropologie für Aerzte und Weltweise, die schon in ihrem Titel die beiden sie bestimmenden Linien – Medizin und Metaphysik – zusammenbrachte, vorerst nichts. Mehr noch, ist Platners Werk selbst kennzeichnend für das noch immer vorhandene konzeptuelle Schwanken. Zwar schränkt er das Gebiet der Anthropologie explizit auf das Problem des Commercium mentis et corporis ein und definiert sie als Wissenschaft von »Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachte[t]«.20 Ausdrücklich klammert er die Psychologie, »oder welches einerley ist, Logik, Aesthetik und ein großer Theil der Moralphilosophie« (Platner 1772, XVI) als relevante Untersuchungsgebiete aus, da sie nur auf den seelischen Aspekt allein eingingen. An dieser Aussage ist nicht nur der umfassende und integrative Wert der noch jungen Disziplin der Psychologie interessant, der belegt, dass sie die bisherige »erste Philosophie«, Metaphysik bzw. Ontologie zu ersetzen beginnt. Hatte 18

Siehe dazu umfassend Heinrich Küntzel: Essay und Aufklärung. Zum Ursprung einer originellen deutschen Prosa im 18. Jahrhundert. München 1969. 19 Dazu allgemein Müller 2004, Lorenz 1997, Costazza 1999, die insgesamt zwar einen Bedeutungsverlust der theologischen Variante, jedoch die deutliche Zunahme des Interesses an anthropozentrischen Lösungen des Problems des Bösen konstatieren – der Gottesbezug soll zunehmend aus menschlicher Perspektive erklärbar und zu rechtfertigen sein; vgl. Kap. I.2 und Kap. V. 20 Platner 1772, XVII. Dabei wandte sich Platner explizit von der Vermögenslehre ab und versuchte stattdessen eine »Kausalerklärung psychischer Akte aus physiologischen Prozessen zu liefern«, ein Verfahren, das »repräsentativ für die medizinische Anthropologie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist« (John/Zantwijk 2001, 199). Jedoch ist eine solche Theorie immer darauf verwiesen, als ihre Grundlage das commercium-Problem ein für allemal zu lösen; was keiner von ihnen befriedigend gelang. Die Einführung des »influxus physicus« wird von John/Zantwijk sehr treffend als »Verlegenheitslösung« bezeichnet (ebd.), die den Boden der empirischen Wissenschaft verlässt und damit ihren Vorteil gegenüber der rationalen Vermögenspsychologie verspielt.

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

diese letztere im Wolffschen Schema noch den obersten Stellenwert eingenommen, wird ihre Rolle im Zuge der Entwicklung der Anthropologie platnerscher Provenienz herabgestuft. Zugleich wird diesem ganzen philosophischen Zweig, nun unter »Psychologie« zusammengefasst, die Zuständigkeit für die Erklärung des Zusammenspiels zwischen Körper und Geist und damit des ganzen Menschen genommen und allein der neu zu entwickelnden Anthropologie zugestanden, die damit – zusätzlich zum Abweis der Physiologie – seltsam »ortlos« erschien. In seiner Vorrede definiert Platner allerdings zur Frage »Was ist Philosophie?« ein umfassenderes Konzept: »Ich denke mir nichts anders dabey, als die Wissenschaft des Menschen und anderer Körper und Geister, welche zu seiner Natur ein Verhältnis und auf seine Glückseligkeit eine Beziehung haben.« (Platner 1772, III) Der Mensch, als der Gegenstand dieser Wissenschaft, wird wiederum ganz im Sinne der vorher definierten Anthropologie als eine »Harmonie« zwischen Seele und Körper verstanden (Platner 1772, IV). Der Philosoph ist nicht auf einen der beiden Bereiche allein eingeschränkt, wie es der Arzt und der »Moralist« sind (Platner 1772, IV)21, sondern er befasst sich mit beiden Bereichen; hier durchdringen sich Körperlehre, Moralistik, Pneumatik und letztlich Metaphysik zu einem auf den Menschen zentrierten Gesamtkonzept, wobei zu beachten ist, dass sich Platner insgesamt an die Ergebnisse der psychologisch orientierten Revision der Philosophie (1772) von Christoph Meiners hält und Philosophie zu einem Feld der Betrachtung und Analyse menschlicher Denk- und Empfindungstätigkeit erklärt.22 Hatte Platner vorher die Anthropologie als ein Teilbereich dieser Betrachtung definiert, so schleichen sich im Zuge der Untersuchung Aspekte des letztgenannten Gesamtkonzepts »Philosophie« mit ein, was der Forschungsrichtung einen umfassenderen Rahmen verleiht. Diese unklare und schwankende Ausführung der neuen Disziplin mag auch daran liegen, dass sich Platners Interesse nicht auf die genaue Art der Bestimmung des Commer-

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Wiederum ein Zeichen der bereits erwähnten Verflechtung zwischen Moralphilosophie und früher Anthropologie (vgl. Vollhardt 1994, 116 mit weiteren Nachweisen). Dies spiegelt sich auch in der älteren Forschung zur Anthropologie wider; siehe z. B. Jürgen von Stackelberg: Französische Moralistik im europäischen Kontext. Darmstadt 1982, 2 f.: »In der älteren Forschung war es üblich, von Anthropologie zu sprechen, wenn das gemeint war, was wir heute Moralistik nennen – oder richtiger: das, war wir so bezeichnen, war einmal ein Teil der so benannten Wissenschaft vom Menschen.« Im gegebenen Zusammenhang soll es aber um das übergeordnete Gebiet der »Suche nach dem Menschen« gehen. 22 Vgl. Nowitzki 2003, 178 f. S. 175 weist Nowitzki darauf hin, dass Platner mit dieser Engführung die Charakterisierung des guten ›philosophischen Arzt‹ anstrebte, der sich gerade durch das Ineinander von philosophischer und physiologischer Erkenntnis auszeichnet. Kernbereich von dessen Forschungsgebiet bleibe dennoch allein die Physiologie, wohingegen die Philosophie in den Bereich des Laienwissens fällt. Schwierig an dieser Sichtweise ist freilich, dass ein solcherart laienhafter »Arzt-Philosoph« weitreichende Entscheidungen über die Zusammenwirkung von Leib und Seele zu treffen hätte.

I.1 Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹?

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ciums zwischen Körper und Seele23, sondern vielmehr auf die Folgen dieser Zusammenstimmung, welcher Art sie auch sei, bezieht und damit sogleich den Blick auf die Gesamtheit menschlicher Tätigkeitsbereiche lenkt. Auch wenn die genaue Art des Zusammenspiels für den Menschen nicht beobachtbar ist, so ist dennoch eine Philosophie des Menschen, basierend auf »klaren Erfahrungen und Empfindungen« (Platner 1772, XII f.) ihm zufolge möglich, die ihn seinem Ziel einer sinnvollen Darstellung dieser Folgen näher bringt. Interessanterweise geht er bei seinem Vorgehen hinter die physiologischen Erkenntnisse der »vernünftigen Ärzte« zurück und vertritt ein den Menschen dualistisch trennendes, »antinomistisches Mechanismus-Animismus-Konzept«, um im weiteren Verlauf der Untersuchung die empirische Beobachtung der metaphysischen Spekulation unterzuordnen.24 Versuche einer Synthese der unterschiedlichen Anteile menschlichen Wesens und Lebens werden in dieser Sichtweise wiederum voneinander getrennt. Nowitzki führt die nur eingeschränkte Praktikabilität des Platnerschen Anthropologiebegriffs dementsprechend auf seinen starken Bezug auf eine bestimmte Denkschule zurück: indem Platner die menschliche Natur als eine eingeschränkte Dualität auffasst, die nur eine bestimmte Art der Vermittlung erlaubt, kann er umfassenderen Konzepten gegenüber seinen eigenen Anthropologiebegriff nicht recht begründen.25 Dem stand beispielsweise die auch in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch lebendige Schule des an Stahls Forschungen orientierten, umfassenden Animismus entgegen, die von einem »influxus animae« ausgeht und die Nerven als »gespannte Saiten« annimmt, die den Impuls über Schwingungen weitergeben. Der physiologische Mechanismus wird dabei schon im eigenen Gebiet mit einem umfassenden Vitalismus kombiniert und macht die platnersche Trennung – und damit auch ihren anthropologischen Vereinigungsversuch – überflüssig. Dieses psycho-dynamische Konzept war es allerdings, das in modifizierter Form von Krüger und Sulzer übernommen wurde; auch Mendelssohn schloss sich ihm in Maßen an. Die Seele gilt hierbei als das Bewegungsprinzip des Menschen, was wiederum die konzeptionelle Nähe dieser Forschungsrichtung zur Psychologie erklärt. Diesem Vitalismus hatte Platner so nicht zugestimmt. Nowitzki (2003, 179 f.) zufolge ist bei ihm Anthropologie nicht die Grund-, sondern letztlich eine Hilfswissenschaft der Psychologie, die die notwendigen Lücken in der Verbindung zur Physiologie erklären können soll. Die nachfolgenden Theoretiker schienen dies anders zu sehen, obwohl sie sich durchaus nicht durchgehends mit Stahls Gegenmodell einverstan23

Er spricht sich allerdings im 2. Hauptstück, 11. Lehre aufgrund seiner bisherigen Erkenntnisse für einen »reellen« Einfluss des »Nervensaftes« auf die Seele aus. Zu Platners Unschlüssigkeit siehe auch Nowitzki 2003, 185 f. 24 Zu den Verschiebungen und Abwandlungen dieses Konzepts siehe ausführlich Nowitzki 2003, 165, 173, 181. 25 Vgl. Nowitzki 2003, 181 und Dürbeck 1998, 120 f. Diese mechanistische Auffassung der Nerventätigkeit ist auch für Malebranche, Tissot und Haller kennzeichnend.

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den erklärten. Der genaue Umriss einer Anthropologie stand also nach wie vor zur Debatte; allein ihr Gebiet: die Erklärung des körperlich-seelischen Zusammenspiels aller Lebens- und Wertungsäußerungen des Menschen, wurde zunehmend allgemein akzeptiert. Obwohl Mendelssohn nicht direkt auf Platner zu sprechen kommt, wird ihm dessen Anthropologie aus eigener Lektüre26 und auch durch Berichte seines Freundes Marcus Herz bekannt gewesen sein. Herz verfasste eine der umfänglichsten Rezensionen von Platners Anthropologie in der Allgemeinen deutschen Bibliothek (1773, 25–51), die u. a. die fehlende Berücksichtigung des Einflusses der Seele auf den Körper, die Ausweitung des Anthropologiebegriffs auf metaphysische Lehrstücke und auch die fehlende Erklärung unbewusster Seelenzustände kritisiert (vgl. Nowitzki 2003, 200 ff.). Folgerichtig schloss sich Herz selbst einem anderen Projekt an, das sich ebenfalls der zeitgenössischen Anthropologiedebatte verdankt: es war die Etablierung der »Erfahrungsseelenkunde« als eines Betätigungsfelds der »moralischen Ärzte« in den 1780er Jahren.27 Unter Berücksichtigung der empirischen Erfahrung des Zusammenwirkens von Körper und Geist, das der Erfahrungsseelenkundler eben nicht aus einem vorhergehenden System entnahm, sondern über die genaue Beobachtung, die Aufmerksamkeit auf das »Klein Scheinende« (Moritz, Werke III, 93 f.), erhielt, wollte der Begründer dieser Lehre, Carl Philipp Moritz, einen befriedigenderen Weg anthropologischer Forschung erschaffen. Die wichtigste Forderung ist das delphische Motto »Erkenne Dich selbst«, das dem aus dieser Lehre resultierenden Magazin seinen Titel gab und das Marcus Herz in seinen 1771 erschienenen Beobachtungen aus der spekulativen Weltweisheit gefordert hatte: »Denn wenn Wissenschaften und Künste einzig dahin zielen, uns zu vergnügen, unsere Geselligkeit zu befördern, so muss die Erkenntnis unserer selbst allerdings vor denselben vorhergehen.« (Herz 1995, Vorrede, 5). Der zur Selbsterkenntnis beitragende Erfahrungsseelenkundler erreichte also über den Weg der beobachtenden Therapie – und damit der Wiederherstellung einer Leib-Seelischen-Harmonie – die Verbesserung des Menschen in persönlicher wie sozialer Hinsicht. Anthropologie war die Grundwissenschaft, von der ausgehend die Ziele der Moralistik erreichbar wurden. Beide, Herz wie Moritz, orientierten sich dabei auch an Mendelssohns Überlegungen. Schon rein biographisch lässt sich ihre Nähe aufzeigen. Moritz, der sich 1778 zweiundzwanzigjährig in Berlin niederließ, suchte Mendels26

Im Bücherverzeichnis sind die Anthropologie [582/48], die Philosophischen Aphorismen (1776, 1784) [245/31, 319/36] aufgelistet, ebenso wie andere einschlägige Werke zur Nervenphysiologie, z. B. Hallers Abhandlung von den empfindlichen und reizbaren Theilen des menschlichen Körpers (1756) [203/13], Unzers Medicinisches Handbuch (2 Bde., 1770) [204/ 29], Krügers Versuch über die Experimental-Seelenlehre (1756) [363/39]. 27 Davies 1985, 21 siehe auch ebd., 23: »Furthermore, Moritz’s Erfahrungsseelenkunde assumes that the term ›illness‹ applies to both moral and physical ills.«

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sohns Kontakt und wurde über ihn auch mit Herz bekannt.28 Die von ihnen geteilte und gemeinsam weiter entwickelte Definition der Krankheit als eines »widernatürlichen Zustandes des Körpers«29 erforderte die Einbindung physiologischer wie psychischer Momente; die empirische Durchdringung körperlicher Funktionen hatte zugleich auch den metaphysischen Mehrwert, dass sie dem vollkommenen Verständnis des ganzen Menschen diente.30 Getragen wurde diese von allen dreien geteilte Denkweise durch die letztlich auf Shaftesbury31 zurückgehende, aber auch mit einer leibnizianischen Metaphysik in Übereinstimmung zu bringende Voraussetzung, dass die nach empirischer Methode erfolgte Aufdeckung der Bedingungen von Krankheit resp. Gesundheit letztlich die universelle Harmonie alles Geschehens zeigte.32 Die mit der »Erfahrungsseelenkunde« propagierte »empirische« Methode war nicht die des naturwissenschaftlichen Experiments, wie es Lambert im Neuen Organon, 1. Bd., »Dianoiologie oder Lehre von den Gesetzen des Denkens«, 8. Haupt-

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Vgl. Davies 1985, 15, 17 f.. Mendelssohn steuerte sogar einen Aufsatz über das Stottern und einen über Laune im Magazin für Erfahrungsseelenkunde (JubA VI/1, 163–84, abgedr. im Magazin Bd. 1.3 und 2.3, 1783 f.), an dessen Namensgebung er nicht zuletzt entscheidend beteiligt war (vgl. JubA VI/1, XXXIV, Davies 1985, 23), bei. Einer von Mendelssohns frühen Biographen, sein Sohn Georg Benjamin Mendelssohn nennt Moritz mit Engel, Herz und Friedländer als den engeren Kreis um seinen alten Vater (vgl. G. B. Mendelssohn 1843, 53). Die Forschungen des Mediziners Herz, der sich u. a. für den Einfluss der Seele auf die Genesung des Körpers interessierte, verdanken sich höchstwahrscheinlich auch diesem Diskussionskreis um den späten Mendelssohn. 29 Vgl. Mendelssohns Brief an Herz vom 11. und 28. Februar 1780 (JubA XII/2, 171–75). So Herz in seinem Grundriss aller medicinischen Wissenschaften, 3: »Die Kunst Krankheiten zu heilen, die Medizin, ist die Kunst den widernatürlichen Zustand des Menschen in den völligen und bestmöglichen natürlichen Zustand zu verwandeln, und zwar vermittelst körperlicher Veränderungen.« Neben den körperlichen wollten sie jedoch auch seelische Veränderungen untersucht wissen, wofür v. a. Moritz’ Werk steht. Der »natürliche« Zustand wurde in Anschluss an Wolffs Vorstellung des gesunden Körpers als eines »corpus organicum compositum« verstanden (vgl. Davies 1985, 24 f.), wobei die Art der Zusammensetzung gerade zur Diskussion stand. 30 Davies 1985, 25 weist in dieser Hinsicht auf das Selbstverständnis dieser »moralischen« Ärzte als »Second Maker under Jove«, wie Shaftesbury im Soliloquy den Künstler charakterisiert, hin (vgl. Characteristicks, 1. Bd, Treatise III, 136). Die Ärzte, so zumindest ihre Auffassung, erschaffen erst den wahren, in sich harmonischen Menschen. 31 Über Shaftesburys Einfluss in Deutschland siehe Wolfgang H. Schrader: Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral-sense-theorie von Shaftesbury bis Hume. Hamburg 1984 (=Studien zum achtzehnten Jahrhundert 6) und Oskar F. Walzel: »Shaftesbury und das deutsche Geistesleben im 18. Jahrhundert«, in: GRM 1 (1909), 416–437 sowie dessen Aktualisierung durch Lothar Jordan: »Shaftesbury und die deutsche Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts«, in: GRM 44 (1994), 410–24. 32 Vgl. Davies 1985, 30 f. in seiner Analyse von Moritz’ und Herz’ Schriften, die sich methodisch auf Lamberts Neues Organon, in ihren Prämissen v. a. auf Shaftesbury stützen. Letztlich betonen beide mit ihren Untersuchungen, dass der teleologische Gedanke sich in der Realität manifestiert.

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stück, umrissen hatte33, sondern der genauen (medizinischen) Erfahrung verpflichtet. Sie sollte im individuellen Fall die vollkommene universelle Ordnung entdecken, »weg von der Typologie, der man den Makel der Abstraktion vorwarf, weg von den ›Kompendienmenschen‹ und hin zum individuellen Fall, der möglichst voraussetzungslos beobachtet und beschrieben werden sollte, unter zumindest vorläufiger Aussparung von Urteil und Theorie«34. Die vorurteilsfreie Entdeckung des Seelenlebens war jedoch, wenig verwunderlich, so nicht durchzuhalten. Entweder der Erfahrungsseelenkundler verlor sich in Auflistungen immer weiterer Fälle, für die sich kein Zusammenhang und Oberbegriff finden ließ; oder der Beobachtende brachte schon zu Beginn seiner Analyse die nicht durch die Beobachtung zu begründenden Prämissen mit ein. Es soll hier jedoch nicht weiter um die Bedingungen und das Scheitern einer spezifischen Ausprägung des »Interesses am Menschen« am Ende des 18. Jahrhunderts gehen. Vielmehr sollte damit exemplarisch aufgezeigt werden, dass dieses Interesse eine Vielfalt an umfassenden metaphysischen Entwürfen, materialistischen Ideen bis hin zu vorgeblich individuellen Fallgeschichten und damit eine immense Bandbreite an Varietäten hervorbrachte, das bis zum Ende des Jahrhunderts verhinderte, die eine einheitliche und konsistente Anthropologie als wissenschaftliche Forschungsrichtung zu etablieren. Insgesamt lässt sich in Bezug auf die Herausbildung der Disziplin »Anthropologie« feststellen, dass sie aus einem zunehmenden Interesse an der Spezifität und Wirkungsweise der Seele in Verbindung mit ihrem Körper hervorging und zugleich das Bedürfnis artikulierte, die sich herausdifferenzierenden einzelnen Wissenschaftszweige unter ein umfassendes Gesamtkonzept zu bringen. Hintergrund der Frage nach den Funktionsbedingungen des Doppelwesens Mensch war der Versuch, eine Theorie zur fruchtbaren Einordnung menschlicher Spezifität zu erreichen. Wie ließ sich der Mensch, seine Konstitution, angemessen erfassen? Wie ließ er sich von der 33

Siehe Nachdr. Olms, S. 348–86: er unterscheidet hier Erfahrung, Beobachtung, Experiment; vgl. Davies 1985, 27. 34 Schings 1977, 28. Siehe auch Davies 1985, 30 sowie Moritz’ Vorrede zum Anton Reiser, Werke I, 120: das ungeordnet Scheinende löst sich letztlich bei genauer Beobachtung und Einordnung in ein harmonisches Ganzes, ein alles umfassendes individuelles Leben, auf. Deutlich firmiert hier Mendelssohns Ausspruch in den Hauptgrundsätzen: »jede Regel der Schönheit ist zugleich eine Entdeckung in der Seelenlehre« als Ausgangspunkt (vgl. Schings 1977, 33), auf den noch zurückzukommen ist (Kap. II.3). Auffällig ist damit aber auch, dass die Nähe zur Ästhetik und der mit ihr verknüpften, an Shaftesbury anschließenden Forderung nach anschaulicher Erkenntnis des Weltganzen der Erfahrungsseelenkunde einigen theoretischen Ballast aufbürdete, unter dem sie letztlich zusammenbrach. Siehe dazu Zelle 1989, der im Schlusskapitel auf die Ästhetisierung des Schrecklichen durch Moritz hinweist, sowie Osinski 1995 und Adler 1994, 13: »Im gleichen Zuge aber, in dem Moritz den Menschen in psychologischer Hinsicht als selbstzweckliches und ganzheitliches Wesen begreift, entwirft er eine Ästhetik mit dem Schönen als dem »In sich selbst Vollendeten« und führt Anthropologie, Ästhetik und Ontologie in einem grandiosen Gemälde einer rastlos metabolisch tätigen Natur zusammen, in der alles zugleich Zweck und Mittel ist.«

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Mineralien-, Pflanzen- und Tierwelt unterscheiden (Linné, Buffon), und was hielt ihn von der Sphäre des Göttlichen fern? Ist die Seele sein konstituierender, sein einziger oder ein bloß phänomenal anhängender Bestandteil? Das Primat der Seele, wie es sich bei Mendelssohn, aber auch bei den eher an psychologischen Phänomenen interessierten Philosophen wie Sulzer und später Moritz zeigte, wies diese Richtung einer Philosophie vom Menschen von Anfang an über die bloß physiologischen Erkenntnisse der »Ärzte« hinaus, wobei die Riege der »Vernünftigen Ärzte«35 durchaus an den Verbindungsmöglichkeiten von physis und psyche interessiert waren und dementsprechend rege von Denkern wie Mendelssohn, Lessing, Herder und den »Popularphilosophen« wie Garve, Feder, Iselin u. a. rezipiert wurden. Hinweise auf die Schriften Hallers, Boerhaaves, Krügers und Unzers gehörten in der Mitte des 18. Jahrhunderts durchaus zum guten Ton36, ebenso wie der Verweis, dass es zu einer wahren Begründung menschlichen Wesens noch weiterer Aspekte bedürfe. »Although truly conceived as a ›natural history of man‹, eighteenth-century anthropological discourse required and presupposed a discourse of the soul, and especially about its union with the body.« (Vidal 2000, 426) Die bestimmenden diesbezüglichen Überlegungen in Deutschland orientierten sich zumeist an den Lehren des Rationalismus, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem mit den Werken Gottfried Wilhelm Leibniz’ und Christian Wolffs verknüpft war. Während das Ansehen Wolffs als wichtigsten Leibniz-Schülers und großen Systematisierers der Aufklärung verstärkt in den 1760er Jahren ihren Niedergang nahm, setzte mit der Neuherausgabe der Werke 1768 durch Louis Dutens eine Leibniz-Renaissance ein, die sich u. a. auch der Tatsache verdankte, dass mit Kenntnis der Primärtexte die Verflechtungen und Unterschiede zwischen Leibniz’ und Wolffs Philosophie sichtbarer wurden (vgl. Kondylis 1981, 578, 588 f.). Zwar setzt sich Mendelssohn selbst nicht explizit mit diesem Aspekt auseinander; doch ist seine sich verstärkende Hinwendung zu Leibniz auffällig.37 In Hinsicht auf stilistische Anforderungen an einen gu35

Nach Zelle 2001a, 10. Damit sind in erster Linie die Hallenser Mediziner wie Unzer und Krüger gemeint, die ihre Influxus-Theorie als einen Mittelweg zwischen Animismus (Stahl) und Mechanismus (Friedrich Hoffmann) entwickelten. Indirekt wird sich auch Platner an diese Richtung anschließen. 36 So Mendelssohn selbst in den Briefen über die Empfindungen (1755); siehe ansonsten bspw. die Untersuchungen von Adler 1990, J. Heinz 1996, Bachmann-Medick 1989, Nowitzki 2003, Dürbeck 1998, 123. 37 Vgl. Buschmann 1989a, 70. Mendelssohns Bücherverzeichnis enthält die folgenden Schriften: Leibnitii opera omnia, Bd. VI, 1768 [38–43/7], Leibnitii & Bernoullii commercium philosophicum & mathematicum (1694–1716) 1745 [65 f./8], die Acta eruditorum [155–75/12] und deren supplementa [175–77/12], Oeuvres philosophiques latines & francoises de feu Mr. de Leibnitz tirees de ses Manuscripts un se conservent dans la Bibliotheque royale à Hannovre, & publiees par Raspe. [307/19], Nouveaux Essais [307/19], Leibnitz philosophische Werke nach Raspens Sammlung übersetzt von Ulrich, 1ter Band 1778. [397/46], Leibnitii episotlae ad diversos, theologici, juridici, medici,

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ten philosophischen Stil ist seine Absetzung gegenüber Wolff in der Zurückweisung der mathematischen Methode und der syllogistischen Schreibart beachtenswert.38 Es ist nicht nur die Frage der Darstellung, weniger das Ideal geometrischer Wissenschaftlichkeit im Geiste Descartes’ oder Wolffs, das Mendelssohn verfolgte, als ein auf Leibniz’ Monadenkonzeption beruhender Humanismus39, der die Seele des Einzelnen als ein unhintergehbares Weltzentrum begreift. In dessen Versuch einer umfassender Welterklärung kommt auch dem spezifisch menschlichen Ineinander von tierlicher und göttlicher, dunkler und deutlicher »Erkenntnis«, ein prominenter Platz zu. Wenngleich es verfehlt wäre, Leibniz’ umfassenden metaphysischen Entwurf als eine Anthropologie darstellen zu wollen, so wirkte sich sein Konzept dennoch in diese Richtung auf die anthropologischen Entwürfe der Folgezeit aus. Dabei beschränkte man sich vornehmlich auf die Betrachtung von Leibniz’ Vorstellungstheorie, die die menschlich erfahrbare Palette möglicher Vorstellungsgrade ausmisst und auf allgemeine Prinzipien bringt. Mit den Monaden als individuellen Kraftzentren, die die Welt gemäß ihrem Standort in Abstufungen der Klarheit repräsentieren, waren die Grundprinzipien einer Vorstellungspsychologie gegeben, auf die aufruhend die grundlegenden menschlichen Fähigkeiten, ihre Aufgehobenheit in einem Gesamtentwurf sowie deren »Verbesserung« (siehe dazu auch Abschnitt 2) untersucht und formuliert werden konnten. Mit der Monadenkonzeption hatte Leibniz zugleich, wie Buschmann (1989a, 45) betont, die Moralphilosophie als eine der Körperlehre gleichwertige Wissenschaft rehabilitiert: auch sie war bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die sich beschreiben und begründen ließen und mit denjenigen der Körperwelt harmonierten. Damit war die Grundlage der Anthropologie aus einer spezifischen Form der Psychologie geschaffen, die sich aus der Metaphysik herschrieb, aber v. a. auf deren Teilgebiet der empirischen Psychologie

philosophici, mathematici & philologici argumenti. Lipsio 1734. [397/42] und Leibnitii epistolae ad diversos volumen IV. & ultimus. Lipsiae 1742. [421/42] 38 In diesem Sinne ist die Einschätzung Braschs simplifizierend, wenn auch in der Tendenz korrekt: »Im Gegensatze zu diesen Wolfianern ist es überall sein Bestreben, auf die ursprüngliche Quelle des Systems selbst, auf Leibniz zurückzugehen, wie er auch da, wo er neuen philosophischen Schriften kritisch gegenüber verfährt, meist den ursprünglichen Maßstab von Leibniz anlegt, indem ihm dieser dem schriftstellerischen Charakter nach weit näher steht als der mathematischdemonstrative Wolf, dessen ›barbarisches Gewäsch‹, wie er sich einmal in einem Briefe an Abbt über den Stil seines Jus naturae ausdrückt, dem ästhetischen Stilkünstler und dem Meister des klaren und gerundeten Ausdrucks zuwider sein musste.« (Brasch 1880, LXXXIII f.) 39 Gegen diese anthropozentrische Sichtweise mag sich eine biologistisch-mechanistische Leibniz-Interpretation verschließen (vgl. Lovejoy 1936, 227 ff., Wilson 1995, 447). Die Zusammenstimmung aller Teile im Weltganzen ergibt sich jedoch auch in Leibniz’ Philosophie nicht allein über den mechanistischen Gedanken von ineinander greifenden Bestandteilen, sondern über einen vitalistischen Kraftbegriff, der den Appetitus der Monaden antreibt und so die Welt in ihrer dynamischen Gestalt erhält.

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berief.40 Diese hatten Baumgarten wie auch Wolff gegenüber der rationalen Psychologie abgegrenzt, wobei die erstere das Wissen von der Seele des Menschen aus der »Erfahrung« ableitet, letztere »aber erkläret alles aus der Natur und dem Wesen der Seele und zeiget von dem, was man observiret, den Grund darinnen« (Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, § 79).41 In monistischer Lesart ist Erfahrung nur graduell von intellektuellem Wissen unterschieden (darauf wird zurückzukommen sein); die empirische Psychologie also letztlich gleichwertig, nur einer anderen Methode folgend und – ihr großer Vorteil – für den noch »ungeübten« Verstand eingängiger.42 Der mit ihr verfolgte Zweck einer Erklärung psychischer Phänomene über die Erfahrung und ihrer gleichzeitigen Fundierung in einer darüber hinausreichenden Metaphysik ging mit einer verstärkten Konzentration auf den inneren Sinn einher.43 40

Siehe auch Baumgarten, Meditationes, § 115: Da die Logik des unteren Erkenntnisvermögens bislang zu wenig beachtet wurde, herrsche hier Nachholbedarf. Eine Beschäftigung mit der sensitiven Erkenntnis fordere aber gerade die Psychologie. Vgl. dazu eingehend Sommer 1892, 1–57. 41 Riedel macht gerade in Wolffs Konzeption der Psychologie eine Wiederaufnahme der cartesianischen Substanzentrennung aus: »Freilich, was Wolff (und hier ist von der Psychologia rationalis auszugehen, die methodisch und inhaltlich der Psychologia empirica vorausgeht und ihr übergeordnet ist) unter dem Titel ›Psychologie‹ traktierte, war der Sache nach nichts anderes als Pneumatik und methodisch und begrifflich eine an Descartes geschulte Theorie des Geistes als des Anderen den Körpers.« (Riedel 2004, 5) Es ist auch aus diesem Grund wichtig, bezüglich Mendelssohns Rückgriffen auf Leibniz wie Wolff mit einer generalisierenden wie verfälschenden Bezeichnung einer »Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie«, der Mendelssohn angeblich anhing, vorsichtig zu sein. Zwar ist es durchaus nicht zwingend, den genannten Terminus ersatzlos zu streichen, allein weil ihn Wolff ablehnte und auch Leibniz in dieser Form sicher nicht angenommen hätte (vgl. Wilson 1995, 445); beinhaltet er doch eine im 18. Jahrhundert einflussreiche philosophische Strömung (vgl. Adler 1992, 12). So argumentieren viele sogenannte Popularphilosophen mit einer Mischung aus Leibnizianischem und Wolffianischem Gedankengut, ohne die spezifischen Differenzen beider Denker zu berücksichtigen. Auch zeigen zeitgenössische Abhandlungen, dass der Begriff durchaus gebräuchlich war; bspw. Georg Volckmar Hartmanns Anleitung zur Historie der Leibnitzisch-Wolffischen Philosophie (1737) und Carl Günther Ludovicis Neueste Merckwürdigkeiten der Leibnitzisch-Wolffischen Weltweisheit (1738). Jedoch ist im gegebenen Zusammenhang immer auf die genaue Anschlussstelle von Mendelssohns Überlegungen hinzuweisen; es wird sich herausstellen, dass Mendelssohns Psychologie näher an den Gedanken Leibniz’ und Baumgartens, als an denen Wolffs orientiert und damit in der Grundlinie spekulativer ist. 42 So Wolff im genannten Paragraphen. Philosophie als Anthropologie zu verstehen heißt damit ebenfalls, den Grad ihrer Fasslichkeit als ein Qualitätskriterium zu werten (siehe oben, Punkt 4). Dies hält auch Mendelssohn fest, der die Rede von der »pragmatischen Erkenntnis« als einem handlungseffektiven Wissen begründete (vgl. JubA I, 413 und Brandt/Stark 1997, XIV f.). 43 Vgl. Sturm 2001, 176. Unter Rückgriff auf Lockes Begriff der »reflection« bemühen sich Wolff und Baumgarten um eine Systematisierung des inneren Sinns, der nicht nur Daten des psychischen Verhaltens, sondern auch Aufschluss über die Funktionsgesetze des inneren Sinns bieten soll »in terms of laws or of human faculties governed by laws.« (Sturm 2001, 176) Sturm verzeichnet weiterhin (ebd., 177) die dem Introspektionismus gegenüberstehenden Modelle, die

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Die Abgrenzung der empirischen Psychologie von ihrer – höher stehenden – Schwester, der rationalen Psychologie, geschah vor allem in Hinblick auf ihre Methodik. Es ist allerdings zu bemerken, dass die empirische Psychologie durchaus nicht allein auf einem wie auch immer gearteten beobachtenden Verfahren gegründet war, sondern ihre Ergebnisse ebenfalls mit den metaphysisch abgesicherten Kriterien des Satzes von ausgeschlossenen Widerspruch und des Satzes vom zureichenden Grunde entdeckt. Ihre Ziele waren 1) das Wissen der menschlichen Seele von sich selbst auf deutliche Begriffe bringen, 2) die in der Seele wahrgenommenen Veränderungen nach den genannten Prinzipien zu begründen und 3) aus den aufgeklärten, vormals dunklen und verworrenen Begriffen der Seele von sich selbst, die Grundbegriffe der Logik, Moralphilosophie und Politik entwickeln.44 Ein Problem einer solchen Psychologie war, dass sie lediglich die widerspruchsfreien Äußerungen der Seele erfassen und erklären konnte. Handelt man aus einem unzureichenden Grund, so ist dies in Wolffischer Terminologie nur noch in Termini der fehlgeleiteten Abweichung aufgrund unzureichender Erkenntnis zu deuten.45 In dieser Hinsicht erfolgte auch Sulzers Kritik an Wolff, dieser habe die dunkle Seite der Seele vernachlässigt. Eine wahre und umfassende Psychologie habe sich, in Sulzers Lesart, »hauptsächlich dreier Themen anzunehmen (mit deren Behandlung denn auch der pneumatische Denkraum bewußt verlassen wird): erstens des Komplexes der ›dunklen‹ oder, wie sie später heißen werden, unbewußten Vorstellungen (ideae obscurae); zweitens der Störungen und Dysfunktionen der Wahrnehmungs- und Verstandeskräfte; drittens der Zusammenhänge ›zwischen dem Zustand des Leibes und der Seele‹ (commercium mentis et corporis), und zwar nicht mehr auf der Grundlage einer zweifelsfrei geltenden Substanzentrennung.« (Riedel 2004, 7) Mendelssohn wendete sich den von Sulzer angesprochenen und die Psychologie entscheidend auch um sinnlich-körperliche Aspekte erweiternden Punkten ebenfalls zu, worauf noch umfassend einzugehen ist (Kap. II.2 und III.2). Hinsichtlich der Frage nach der Substanzentrennung allerdings finden sich bei ihm keine klaren Äußerungen. Er geht allgemein von der Notwendigkeit eines einheitlichen Bewusstseinsraums des Menschen aus, dem der Körper als ein »Sensorium« beigegeben ist und kümmert sich weiter nicht um die metaphysische Erklärung der »Hypothesen, nach welchen man den Einfluß zwischen Seele und Körper zu erklären sucht« (JubA ein Verständnis der menschlichen Psyche (auch) über empirische Methoden sowie Hirnphysiologie anstrebten. Auf ersterer Seite stand, neben Wolff und Baumgarten, Johann Nikolaus Tetens (alle drei mit entscheidendem Einfluss auf Kant) – auf der anderen Charles Bonnet, David Hartley, Ernst Platner u. a. 44 Ich folge hier der Auflistung bei Zandwijk 2001, 46–49. 45 Diese Kritik äußerte z. B. Joachim Georg Darjes, siehe Zantwijk 2001, 58 – dort wird allerdings nicht auf dieses Interesse an einer auch die dunkle Seite menschlicher Psyche beachtenden Anthropologie hingewiesen.

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VI/1, 93). So betont er in seinen Anmerkungen zu den Termini der Logik Maimonides’: Zwar gebe es vielleicht einen Nervensaft, der aufgrund seiner Beschaffenheit näher am Geistigen sei – aber er »ist im Raum enthalten und in den drei Dimensionen eingeschlossen, und er bewegt sich in räumlicher Bewegung von Ort zu Ort« (JubA II, 200); dies ist bei der Seele nicht der Fall, sie ist raum- und zeitenthoben. Mendelssohn gesteht angesichts der Frage, wie ein solcher Übergang von einem ins Andere möglich sei, schlicht seine Unwissenheit und lässt es unter dem Hinweis auf die größte Plausibilität des Theorems der prästabilierten Harmonie bewenden.46 Ihn interessieren vielmehr die Gesetzmäßigkeiten des Zusammenspiels unterschiedlicher Vorstellungsqualitäten und ihre Folgen auf menschliche Erkenntnismöglichkeiten, Handlungen und Empfindungen. Dennoch ist die Entscheidung dieser Frage für die Anthropologiedebatte relevant. Nowitzki geht in seiner groß angelegten, sich jedoch auf die medizinische Anthropologie beschränkenden Untersuchung in dieser Hinsicht von einer Ersetzung des psychophysiologischen Parallelismus durch die Influxus-Theorie schon für die Mitte des 18. Jahrhunderts aus (vgl. Ders. 2003, 26 f., ähnlich J. Heinz 1996). Die Theorien orientierten sich damit zunehmend von einer metaphysisch orientierten Sicht weg hin zu einer eher ›naturwissenschaftlichen‹ Vorgehens- und Betrachtungsweise. Jedoch stand diese Verschiebung nicht von Beginn an fest47, noch wurde sie durchgehend akzeptiert. Dafür argumentieren auch die Herausgeber Brandt und Stark in ihrer Einleitung zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht im Band 25 der Akademieausgabe (1997, XVII f.): das commercium-Problem ist letztlich nur eines von vielen, dessen Beantwortung durch eine philosophische Definition des Menschen versucht wurde. Es wurde von Wolff und Baumgarten nur kurz abgehandelt und auch von Locke und Hume aus der näheren Betrachtung ausgeschlossen. Gerade diese Autoren sind jedoch ebenfalls für die Entwicklung einer rationalistischen Anthropologie, wie sie Mendelssohn verfolgte, von Bedeutung. Dementsprechend nennt Riedel in seinem Überblick über die Entwicklung anthropologischer Fragestellungen drei verschiedene Bastionen des Widerstandes gegen das Bestreben der Spätaufklärung, den »ganzen Menschen« auf den Körper und damit die Metaphysik auf die Physiologie zu reduzieren48: 46 Mendelssohn schließt sich damit der Wolffischen Vorgehensweise an, vgl. Deutsche Metaphysik, §§ 765 ff., 812–15. Laut Dürbeck 1998, 38 könnte dem bloßen Wortlaut nach hier zwar auch eine influxistische Lesart vermutet werden, jedoch liegt es aufgrund der umgebenden Ausführungen nahe, von einer strikten Trennung der beiden Entitäten und ihrer harmonischen Entsprechung auszugehen, vgl. bspw. ebd., §§ 778 f. 47 Wie Nowitzki 2003, 27 zeigt, wehrte sich auch Baumgarten gegen die Akzeptanz der Influxus-Theorie, die entscheidende Leibnizsche Theoreme unterwandert. An ihn schließt sich nicht nur Georg Friedrich Meier, sondern auch Mendelssohn an. 48 Vgl. Riedel 1994a, 110, siehe auch Schings 1977, 20–24.

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

1. Bis ca. 1781, also dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft, übte die Schule der »metaphysischen Anthropologie« der Popularphilosophen großen Einfluss aus. Wichtigster Grundsatz dieser Lehre war die substantielle, freie und unsterbliche Seele und ihre damit begründete Gottähnlichkeit. Die diese Richtung vertretenden Denker gingen vom Postulat der ewigen Selbstvervollkommnung des Menschen – im Gegensatz zum Tier – aus und richteten die Theorie des Menschen nach diesen Grundsätzen aus, was eine generelle Abwertung physiologischer Erkenntnisse bedeutete. Als wichtigste Vertreter nennt Riedel Spalding, Mendelssohn und Schiller. An diesem Punkt wird vor allem der Versuch einer »Bestimmung des Menschen« ansetzen (siehe Abschnitt 2), der sich jedoch nicht so körperfeindlich darstellt, wie man annehmen möchte. 2. Daneben bietet die Physiognomie auf Grundlage der Theologie eine Umkehrung des medizinischen Bestrebens: es wird ein fundamentaler und unumkehrbarer Einfluss der Seele auf den Körper festgestellt und aus diesem Zusammenhang Rückschlüsse auf menschliche Bestimmung und Zwecksetzung gezogen. Wichtigster Vertreter dieser Richtung ist Lavater; illustrer ist seine Gegnerschaft, bei der sich neben dem gemäßigten Mendelssohn Denker und passionierte Streiter wie Lichtenberg, Schiller und Abel finden. Keiner argumentiert dabei schlicht umgekehrt für die Einprägung körperlicher Eindrücke auf die Seele; vielmehr nehmen sie einen vermittelnden Standpunkt ein. Es wird in Bezug auf Mendelssohn darauf zurückzukommen sein. 3. Eine Sonderrolle nimmt Kant ein. Er legt »in seiner Anthropologie die Probleme des Commerciums als unlösbar ad acta«49 und widerlegt mit seiner kritischen Philosophie zugleich den metaphysischen, substantialistischen Seelenbegriff (vs. Mendelssohn) zugunsten eines transzendentalen Einheitspunktes aller Erfahrung, der psychologisch nicht weiter analysierbar ist. Damit ist die Seelensubstanz der Psychologia rationalis zwar endgültig abgewiesen; jedoch rettete Kant mit seinem transzendentalphilosophischen Ansatz die grundlegendsten Faktoren, Autonomie und Vernunft, zumindest, so Riedel, nur »für knapp drei Generationen«50. In der Anthropologie

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Riedel 1994a, 110. So den Worten nach auch Platner, der seine diesbezügliche Zurückhaltung jedoch schon im Gang der Anthropologie wieder zurücknimmt und für den »reellen« Einfluss des »Nervensaftes« auf die Seele, also influxus physicus argumentiert, vgl. hier FN 72. Zu Kant siehe Brandt/Stark in AA XXV, XVII: Noch 1798 hielt Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht fest, dass das Commercium-Problem nicht den ersten Rang in der Anthropologie beanspruche; »Als pragmatische Disziplin hat sich die Anthropologie offiziell von dieser Last befreit; sie untersucht die Motive und Zwecke des Handelns, aber nicht deren physiologische Ursachen.« 50 Riedel 1994a, 110. Aus heutiger Sicht würde man sagen, dass ein kantianischer Normativismus wieder hochaktuell ist, wie u. a. die Arbeiten Robert Brandoms belegen mögen.

I.1 Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹?

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betont Kant die Wichtigkeit der »Weltkenntnis«, der ihr auch ihren »pragmatischen« (und damit eben nicht streng wissenschaftlichen) Charakter verleiht.51 Neben diesen von Riedel referierten Ansätzen lassen sich in Mendelssohns unmittelbaren Umfeld noch weitere Positionen ausmachen, die im Laufe der hier zu entwickelnden Anthropologie Mendelssohns noch eine wichtige Rolle spielen werden; es sind v. a. Thomas Abbt, Johann Gottfried Herder und Carl Philipp Moritz, die sich jeweils in ihrem Interesse auf historische bzw. psychologische Spielarten der Anthropologie konzentrierten. Gemeinsam ist allen genannten Richtungen, dass sie stärker philosophisch, oder auch metaphysisch orientiert waren. »Nicht, daß ihre Verfasser die Bemühungen in ›Naturgeschichte‹, Physiologie, Medizin, physischer Geographie und in anderen Disziplinen der Naturwissenschaften zu jener Zeit nicht gekannt hätten, allen voran Herder und Kant. Gemeint ist vielmehr, daß der beharrliche Versuch, die Natur des Menschen allein auf Grund deskriptiver und womöglich klassifizierbarer, wenn nicht sogar quantifizierbarer Beobachtungen zu bestimmen, ohne nach Grund und Bestimmung zu fragen, zurückgewiesen wurde, daß, kurz, die Naturwissenschaften zwar zur Anthropologie Zulieferdienste leisten, nicht aber eine Leitfunktion übernehmen [sollten].« (Adler 1994, 135 f.) Damit wurde Anthropologie nicht als eine reine Beschreibung des Menschen und seiner Einordnung in einen naturalen Gesamtzusammenhang verstanden, sondern vielmehr musste die Verortung des menschlichen Zwecks eine wichtige Rolle in der tatsächlich möglichen Erforschung der menschlichen Natur spielen. Formuliert man den hier interessierenden anthropologischen Ansatz, um ihn innerhalb dieses begrifflich schwankenden Umfelds näher zu fassen, in ein damals populäres Schlagwort um, so bietet Mendelssohns Diskussion der »Bestimmung des Menschen« einen ersten Ansatzpunkt. Es soll in dieser Arbeit anhand eines personenzentrierten Vorgehens dafür argumentiert werden, dass diese Frage nach der Bestimmung des Menschen als eine originär anthropologische Fragestellung bezeichnet werden kann und im Gesamtzusammenhang anthropologisch-philosophischer Untersuchungen einen wichtigen Platz in der Philosophiegeschichte einnimmt. Dabei soll eben nicht die Verwandtschaft der Anthropologie mit der Medizin oder anderen eher physiologisch orientierten Untersuchungsfeldern, sondern ihre Nähe

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Kant sieht, so seine Vorrede, ihr vornehmliches Ziel darin, zu zeigen, was der Mensch aus sich qua freien Wesen machen soll (vgl. AA VII, 119). In diesem Sinne ist die Interpretation konsequent, dass Kant selbst die Anthropologie durch ihre allzu große Nähe zur Ethik überflüssig machte (vgl. Marquard 1971, 366). Jedoch zeigt seine Untersuchung an, dass er sie gerade in dem Bereich der »Kompensation« bloß physiologischer Untersuchungen sah: seine Ausführungen zu den Temperamenten und Charakteren soll auch aufweisen, was der Mensch auf der Grundlage seines auch physiologisch bestimmten Wesens aus sich machen kann.

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

zu einer ganz anderen Disziplin, der Ästhetik, betont werden.52 Wie auch die Etablierung der Ästhetik als Wissenschaft bzw. Spezialgebiet innerhalb der Philosophie, so war auch die junge Anthropologie von methodischen Spannungen, begrifflichen Unsicherheiten und konträren Festlegungen wie transportierten Weltbildern gekennzeichnet.53 Es ist kein Zufall, dass weder Platner als ›Vater‹ der Anthropologie, noch Baumgarten als Begründer der Ästhetik nach der Etablierung ihrer jeweiligen Disziplin eingehender rezipiert wurden. Sie hatten einen Namen und eine abgrenzbare Disziplin geschaffen, aber nicht ihre Gestalt abschließend bestimmen können. Vielmehr waren sie, als Ausgangspunkte, noch den Paradigmen anderer Disziplinen verpflichtet. Nach der ersten Konstituierungsphase, die mit einschneidenden Verschiebungen und Umwertungen bisher fest angelegter Begrifflichkeiten einherging, folgten mehr oder weniger konstante Phasen der Konsolidierung parallel verlaufender, miteinander unvereinbarer Untersuchungsstränge, die das neue Vokabular verfestigten und deren ursprüngliche Konnotation bisweilen fast vergessen machten.54 So war es bei der Ästhetik die sinnliche Erkenntnis mit noch starkem Bezug zur Wurzel, der Aisthesis und damit die Kunst, schön wahrzunehmen und schön zu denken, die immer mehr von sensualistischen, idealistischen und normativistischen Positionen überformt und schließlich nicht mehr als Teil der eigentlichen Ästhetik gewertet wurde. Der ästhetische Diskurs hat sich als eine Philosophie der Kunst vom erkenntnistheoretischen oder auch psychologischen abgespalten; Baumgartens Projekt einer notwendigen Erweiterung menschlicher Erkenntnismodi hatte zu einer 52 Zelle 2001, 5–24 spricht in dieser Hinsicht von einer »Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie«, vgl. Nowitzki 2003, 371, Marquard 1965, 227 f., Sauder 1974, 107, Zelle 1999, 40. Vgl. auch Dürbeck 1998, 180, die die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzende Tendenz zur Betrachtung individueller Fälle, und damit der Abkehr von rationalen Systemen bzw. der Hinwendung zur empirischen Beobachtung betont. Das Individuelle wird, wie bei Moritz, zum Fall eines induktiv zu erschließenden Felds, nicht zum Beispiel deduktiv erworbenen Wissens. 53 Vgl. Marquard 1971, 364; Hinske 1966, 421: »Die Unsicherheit der Methode aber, die ihre Anfänge charakterisiert, hat die Geschichte der philosophischen Anthropologie tiefgreifend bestimmt.« 54 Zur Schwierigkeit mit Fachbegriffen im 18. Jh. siehe Nowitzki 2003, 28: »Die wissenschaftliche Terminologie des 18. Jh. war noch nicht, wie heute, definitorisch eingeschmolzene geschichtslose Begrifflichkeit, die den alltagssprachlichen Bezug im Bewußtsein der Sprecher verloren und sich zu einer bloßen Ansammlung von termini technici gewandelt hat. Ganz im Gegenteil, sie schillert noch in einer verwirrenden semantischen Vielfarbigkeit und ist alles andere als jedweden metaphorischen Nebensinns entkleidete, nackte, sog. klare Terminologie, und als solche objektive Wahrheit generierende Begrifflichkeit.« Damit einhergehend ist eine gewisse, den späteren Leser verwirrende »terminologische Konservativität« zu verzeichnen – Kant verwendete bisweilen denselben Begriff wie Wolff, meint aber etwas ganz anderes. »Das Neue zeigt sich hier wie dort [im popularphilosophischen wie belletristischen Schrifttum] stets im Alten, für den heutigen Leser nur erkennbar an feinsten, kaum spürbaren Nuancierungen, was es mitunter äußerst kompliziert macht […], gerade die innovativen Momente in der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, von Altem und Neuem aufzuweisen.« (ebd.)

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Diversifizierung geführt, in der sich Erkenntnistheorie, Psychologie und Ästhetik als Theorie des Schönen oder Kunstphilosophie weiter voneinander entfernten. Ähnlich erging es dem »anthropologischen« Diskurs.55 Wäre eine einheitliche Rekonstruktion einer so zu nennenden Debatte angestrebt, so müsste gerade für die Anfangsphase mit der Unterstellung gearbeitet werden, die betreffenden Protagonisten seien sich tatsächlich bewusst gewesen, für welches künftige Weltbild sie die Vorarbeit leisteten. In dieser Lesart ist Anthropologie »schon immer« physiologisch, naturwissenschaftlich, anti-metaphysisch und anti-theologisch orientiert. Es steht jedoch anhand der im vorangegangenen erwähnten anderweitigen Strömungen zu vermuten, dass sich die Lage innerhalb dieser Konstituierungsphase anders darstellte. Damit schließt sich diese Arbeit an die Kritik von Garber und Thoma an: Es ist misslich, die »anthropologische Wende« der Aufklärungszeit »vorwiegend als Empirisierungs- bzw. Naturalisierungsvorgang« zu deuten, da somit »die in Anthropologie- und Naturdeutung eingelassene normative bzw. kulturelle Dimension« vernachlässigt wird.56 Aus der Perspektive einer methodisch und inhaltlich ausgereifteren Wissenschaft wie der modernen philosophischen Anthropologie mag es daher im Rückblick seltsam erscheinen, auch die Philosophie Moses Mendelssohns mit in ihre Geburtsstunde aufzunehmen, war doch der Berliner Aufklärer eher für seinen metaphysischen Rationalismus oder allenfalls seine Arbeiten zur Ästhetik bekannt. Die These, Mendelssohns Philosophie sei als eine Anthropologie zu verstehen, kann also nur im Rückgriff auf die Ausgangslage der anthropologischen Debatte verstanden werden. Wenn im Folgenden der Versuch unternommen wird, Mendelssohns »Suche nach dem Menschen« als eine Anthropologie zu beschreiben57, heißt dies nicht, dass sie an den Inhalten der schließlich etablierten wissenschaftlichen 55

Siehe dazu zwei grundlegende Untersuchungen: J. Heinz 1996 befasst sich mit der ästhetischen Dimension des anthropologischen Diskurses im spätaufklärerischen Roman; Nowitzki 2003 untersucht die »genuinen Wurzeln« der Anthropologie in den Theorien der »Vernünftigen Ärzte« (er bespricht u. a. Krüger, Unzer und Platner, um schließlich Wezels Versuch über die Kenntniß des Menschen (1784/85) als ein Gegenmodell, das »einen in seiner Zeit singulären holistisch-sensualistischen Anthropologiebegriff« (Nowitzki 2003, 9) entwickelt, hervorzuheben). Die von Nowitzki 2003, 11–27 ausgemachten Problemfelder anthropologischer Forschung: das Konzept der »Maschine«, das Commercium-Problem und die Methodenbestimmung anthropologischer Forschung sind jedoch für die Richtung, die Mendelssohns Denken verfolgt, kaum paradigmatisch, sondern engen den Anthropologiebegriff von vornherein auf physiologisch dominierte Positionen ein. Mareta Lindens Begriffsgeschichtlicher Untersuchung von 1976 und den Arbeiten über den Problemkomplex der »Bestimmung des Menschen«, der ebenfalls in Versuche einer Philosophie des Menschen mündet, folgend, soll hier jedoch ein weiterer Begriff von Anthropologie grundlegend sein. 56 Im Vorwort des Sammelbands Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen 2004 (=Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 24), VIII mit Bezug auf Schings 1994. 57 Dies wurde u. a. von Ebeling/Zelle 1992, 149 als ein Desiderat der Mendelssohn-Forschung herausgestellt.

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

Disziplin gemessen wird. Vielmehr wird zu zeigen sein, welche Bestandteile nach Mendelssohns Philosophie für eine »vernünftige«, »rationalistische« oder »philosophische Anthropologie«58 letztlich essentiell wären, die sich durch ihr Interesse an der menschlichen Kultur auszeichnet. Sein Bemühen geht weder auf die Erfassung menschlicher Vielfalt in einer synchronen Betrachtungsweise – wie es für die Geburt der Ethnologie aus Disziplinen wie Kants physischer Geographie der Fall ist – und auch nicht allein auf eine diachrone geschichtsphilosophische Betrachtung, sondern setzt am Individuum und die es konstituierenden natürlichen und kulturellen Bestimmungen an. Das macht seine Sichtweise bisweilen etwas naiv, unterstellt sie doch eine unwandelbare, aus göttlicher Hand stammende Menschennatur. Doch zugleich scheint sie ein wichtiges Korrektiv für grassierende Biologismen bzw. euphorisch teleologische Fortschrittsmodelle darzustellen, indem sie die zwar kulturverbundene, aber letztlich an eine umfassende Rationalität gebundene Bildungsfähigkeit des Menschen zu durchdringen versucht. In einer solchen Untersuchung gilt es, bei aller Sympathie für den Gegenstand, den historischen Rahmen zu wahren59 und also Mendelssohn im Kontext seiner Zeit und auch seiner Zeitgebundenheit zu betrachten. Zugleich sollen Tendenzen, die eine »rationalistische Anthropologie« nachvollziehbar und anschlussfähig machen, reflektiert werden. »For Mendelssohn to philosophize is to look for appropriate distinctions within and across various phenomena, but with a confidence – in his eyes, as rational as it is devout – that there is a harmony to the real differences underlying those distinctions.« (Dahlstrom 2002, 618) Diese Grundeinstellung beinhaltet zwei Prämissen: zum einen die generelle Übereinstimmung zwischen Welt und Wahrnehmung60, zum anderen die positive hermeneutische Einstellung, zuerst Rationalität zu unterstellen und sie zu suchen, wo andere ein Chaos vermuten. Zusätzlich verpflichtet diese Ansicht zur analytischen Methode, wie Mendelssohn in seiner 1764 erschienenen Preisschrift ausführt. Letztlich lässt sich, so seine Voraussetzung, die Wahrheit durch Analyse verworrener Ideen oder Empfindungen herausarbeiten: Forschen ist Aus-Wickeln und Entdecken, nicht aber, abgelöst von den Gegebenheiten etwas Eigenes zu erfinden. Autonomie im strengen Sinne ist Mendelssohns Weltverständnis fremd; vielmehr bedeutet Wissen die Aufklärung verworrener Ideen, die Zurückführung des (ärmeren) Abstrakten in Konkretes, Vielschichtiges. Eine solche vielschichtige Idee ist die »Bestimmung des Menschen«, die Mendelssohns anthropologisches Interesse formt und leitet. 58

Vgl. Adler 1994, 134, der sie einer »theologischen« Spaldings und einer »sozialen Anthropologie« Abbts entgegensetzt. 59 »Wird der Mendelsohn’sche Diskurs aus seiner spezifischen Positionierung innerhalb der im 18. Jahrhundert akzeptierten Alternativen herausgerissen, so muß sein metaphysisches Gewand notwendig in sich zerfallen und man mag dahinter Altzopfigkeit und Apologie wittern.« (Goetschel 1997, 204) 60 So Cassirer 1929, 42 f.; vgl. hier Einleitung, 10.

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2. Die Bestimmung des Menschen Die grundlegenden Charakteristica Die »Bestimmung des Menschen« ist ohne Zweifel eine »Basisidee«61 der deutschen Aufklärung. Spaldings erbauliche Schrift dieses Titels erfreute sich außerordentlicher Auflagenstärke und großer Beliebtheit, und nahezu jeder Denker, der etwas auf sich hielt, führte diese Vokabel im Munde oder Buchtitel.62 Doch so einfach die Worte, so schwer deren nähere Erklärung, denn über die Extension der Bestimmungsfrage war man sich uneins. Dies zu übersehen verhindert ein angemessenes Verständnis des zuerst offenbarungstheologisch und metaphysisch, später anthropologisch und historiologisch geprägten Themenfelds.63 Deshalb ist hinsichtlich von Spaldings, Abbts und Mendelssohns Überlegungen zur Bestimmung des Menschen auch nicht von der Herausbildung der Anthropologie schlechthin, sondern einer Anthropologie zu sprechen (vgl. Nowitzki 2003, 19–27 m. w. V). Begriffsgeschichtlich von der i. S. v. einer einzigen Anthropologie im 18. Jahrhundert auszugehen, ist, wie die vorangegangenen Überlegungen zeigen sollten, ohnehin nicht möglich; zu mannigfaltig und einander diametral entgegengesetzt waren die Ansätze. Hier wird als Spezifizierung die »Bestimmungsdebatte« gewählt, um eine bestimmte Richtung des Diskurses über den Menschen anzudeuten. Nicht nur seine physiologische, sondern auch seine moralische und erkenntnistheoretische Bestimmtheit kommt damit verstärkt in den Blick.64 Insgesamt steht jede Arbeit über ›Anthropologie‹ im 18. Jh. vor dem Problem, nur einen Ausschnitt einer umfassenden Debatte liefern zu können. Der Begriff der jeweiligen Anthropologie entsteht damit erst im Durchgang durch die Themenfelder – die Gefahr dabei ist natürlich, sich die jeweils passende anthropologische Fragestellung zurechtzulegen und gegenläufige Entwicklungen zu ignorieren.

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Hinske 1999, 3. Zum Ge- und Missbrauch dieser »griffigen Formel« vgl. auch Jannidis 2002. Auch versteckte Anleihen waren möglich; so bezeichnete Kant in einer Vorlesung Tetens 1777 erschienene Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung als »Bestimmung des Menschen« (1784/85 in Anthropologie-Mrongovius, AA XXV, 1322). 63 Das wissenschaftliche Interesse an der Bestimmung der »Bestimmung des Menschen« ist rege; dafür spricht nicht zuletzt der von Norbert Hinske herausgegebene Band 11.1 (1999), der neben einschlägigen Untersuchungen auch einen Nachdruck der neunten Auflage (1768) von Spaldings Werk enthält, sowie das Themenheft Aufklärung und Anthropologie, Bd. 14 (2002) der Halbjahresschrift Aufklärung. 64 Es ist hierbei auch mit Bödeker 1981, 228 gegen Linden 1976, III darauf hinzuweisen, dass der Diskurs über die menschliche Bestimmung nicht allein theologische Elemente enthielt, sondern sich gerade in der »anthropologischen Wende« von diesem umfassenden Gebiet entfernte. Der Hinwendung zur Lebenswelt (Bödeker: diese Fragen konvergierten »auf seine Menschennatur, auf sein Verhalten, auf die Gestaltung seiner Lebenswelt«) ist jedoch nicht absolut. Immer bleibt ein bestimmender Aspekt, was an der menschlichen Natur auch auf seine »Jenseitigkeit« verweist. 62

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Auch deshalb wurde in dieser Arbeit ein personengebundener Ansatz gewählt. Es soll gezeigt werden, wie Mendelssohn die Frage nach dem Menschen auffasste, welche Antworten er zu geben versuchte und gegen wen er sich abgrenzte bzw. wem er sich anschloss. Dass ein aus Mendelssohns Philosophie extrahierter Anthropologiebegriff nicht gänzlich an der Realität des 18. Jahrhunderts vorbeiging, zeigen ›holistische‹ Definitionsversuche des Menschen im letzten Drittels des Jahrhunderts65, die sich mit Mendelssohns Position in Verbindung bringen lassen. Die Frage nach der menschlichen Bestimmung ist so alt wie die Philosophie selbst. Nicht zuletzt die mannigfaltigen Rückgriffe auf antike Quellen – zumeist in schlichter Zitatform – zeigen66, so auch Hinske (1999, 5 f.), dass ihre Aspekte in der Aufklärungszeit nicht allein in theologischen, sondern in ebenfalls an die Antike anknüpfenden naturphilosophischen Fragestellungen zu suchen sind. Auch die Diskussion zwischen Mendelssohn und Abbt, angestoßen von Abbts Versuch einer Rezension der siebten Auflage von Spaldings Schrift, zeigt diese Doppelsinnigkeit (siehe Kap. I.2). Dabei betont Hinske zu Recht, dass die anscheinende Vermischung der Zeitebenen und Themengebiete durch den Rückgriff auf antike Quellen nicht einfach eine »historische Arabeske« war. »Er ist vielmehr zugleich von hohem sachlichem Interesse. Er führt aufs anschaulichste vor Augen, daß die Antwort auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen zuerst und zunächst nicht etwa im Felde der Offenbarungstheologie, so wichtig diese auch sein mag, zu suchen ist. Die Antwort hat sich vielmehr zunächst auf die Bauform des Menschen zu gründen, auf charakteristische Merkmale seiner Existenz, die sich durch die verschiedensten Epochen in dieser oder jener Form durchhalten.« (Ders. 1999, 6) Das Gebiet der Bestimmungsdebatte entspricht also weitaus mehr demjenigen der zeitgenössischen Anthropologie, als dies prima facie den Anschein hat. Um einen Überblick über den Bedeutungsgehalt und die eingehenden Implikationen der Frage nach der »Bestimmung des Menschen« in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu geben, sei diese in Anlehnung an die begriffszentrierte Arbeit Jannidis’67 in drei Teilbereiche aufgespalten:

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Mit Hinweis v. a. auf das Werk Wenzels und sich daran anschließender Schriften siehe Nowitzki 2003, 24 ff.; Linden 1976, 192–200; dort auch S. 200–15 zu einem entsprechenden Anthropologiebegriff in der Zeitschriftenkultur des späten 18. Jahrhunderts. 66 So beginnt auch Abbt in einer Anspielung auf Spalding, aber auch auf Shaftesbury (Miscellaneous Reflections III.1, in Characteristicks 2, 254) mit einem Zitat aus den Satirae von Aulus Persius Flaccus [III, 67]: »Quid sumus? et quidnam victuri gignimur?« – Was sind wir? und was ist unsere Bestimmung im Leben? (Übers. JubA VI/1, 220; siehe zu den weiteren Nachweisen Schwaiger 1999, 13) Er hebt mit dem Hinweis auf Shaftesbury auch hervor, dass der Mensch sich nicht in Bereichen, die ihn am nächsten angingen, dem Denken Anderer überlassen dürfe. 67 Vgl. Jannidis 2002, 81, 83 u. 84. Ähnlich auch D’Alessandro 1999, 21 f. Es ist hier hervorzuheben, dass Jannidis sich v. a. mit der Frage nach der Verwendung des Phraseologems »Bestim-

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a) Natur des Menschen b) Mensch und Menschheit c) Zweck des Menschen Alle diese Bereiche stellten, verstärkt ab ca. 1750, die Zentren der Bestimmungsdebatte dar; die in ihnen enthaltenen Fragestellungen und Antworten unterliegen einer starken Dynamik, die sich nur schwerlich nachvollziehen und angemessen fassen lässt. In einer ersten Annäherung sollen daher lediglich die zur Diskussion stehenden Bereiche umrissen und ihre jeweilige interne Dynamik wenigstens in Stichpunkten reflektiert werden. Da die vorliegende Untersuchung auf Moses Mendelssohns Philosophie als einer Suche nach dem Menschen und einer Beschreibung von dessen »Facetten« konzentriert ist, wird von allzu kühnen – und in Anbetracht der nahezu unübersehbaren Sachlage auch vermessenen – weitergehenden Urteilen abgesehen.

a) Menschliche Natur Dieser Untersuchungsstrang ist am engsten mit dem im vorherigen Abschnitt exponierten Begriff der Anthropologie verwandt. Das, was Mendelssohn später (explizit 1782) als »Bestimmung« im Gegensatz zu seiner »Wiedmung« abgrenzt, ließe sich auch in einem ersten Schritt als die Frage nach der menschlichen Determination bzw. Definition und damit dem Bedeutungsgehalt des Begriffs »menschliche Natur« auffassen.68 Welche Rolle spielten die Aspekte der Körperlichkeit, des Denkens und Fühlens und inwiefern wirken diese verschiedenen Konstitutionsebenen zusammen? Neben der rein geistigen Dimension der Überlegungen und zumeist des Überlegungsgegenstandes wurde dabei auch die körperliche Dimension des Menschen in den Blick genommen; die oben genannten Ebenen anthropologischer Fragestellungen sind also ebenfalls relevant. Die Besonderheit innerhalb der Bestimmungsdebatte war, dass die Überlegungen hinsichtlich physischer und psychischer Konstitution des Menschen immer auch auf die alles überlagernde Dimension seiner Zweckhaftigkeit hin mung des Menschen«, nicht mit seinem begrifflichen Umfeld auseinandersetzt. Deshalb sind die Ergebnisse seiner Studie tatsächlich für den philosophisch relevanten Fragekomplex nach dem begrifflichen Umfang der Bestimmung des Menschen nur als eine Vorstudie anzusehen, wie er selbst festhält (Jannidis 2002, 78, 80). 68 Bei Tetens war die Beantwortung dieser Frage ebenfalls grundlegend für jede weiter anthropologische Untersuchung: »Allemal aber kann die Frage: was kann aus dem Menschen werden, und was und wie soll man es aus ihm machen? nur gründlich und bestimmt beantwortet werden, wenn die theoretische: was ist der Mensch? was wird er und wie wird ers in den Umständen und unter dem Einflusse der moralischen und physischen Ursachen, unter denen er in der Welt sich befindet? vorher bestimmt und deutlich beantwortet ist.« in: Ders.: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. II, 373.

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interpretiert wurde. Die leitenden Fragestellungen gingen also schon an dieser Stelle über das allein Vorfindliche hinaus und lassen sich auf die Frage hin konzentrieren, auf was die menschliche Natur deute. Gibt es hier überhaupt einen verlässlichen Verweisungszusammenhang zwischen dem, was der Mensch ist und dem, was er sein soll, oder sein kann? Oder hat man es in dieser Hinsicht gar mit einander widerstreitenden »Hinweisen« zu tun? 69 Dabei avancierte auch in der deutschsprachigen Debatte der Begriff der Perfectibilité zu einem Kernkonzept, das Lessing und Mendelssohn in ihrer Debatte über Rousseaus zweiten Discours einführten.70 Lessing verdeutschte ihn zwanglos zur Perfektibilität, Mendelssohn bezeichnete ihn etwas umständlicher, dabei seinen damit verbundenen Rückgriff auf Leibniz stärker betonend, als Vervollkommnungsfähigkeit.71 Die Anwendung des Perfektibilitätskonzepts spiegelt die zweifache Hinsicht einer auf den Menschen zentrierten Forschung wider. Zum einen wird der Mensch als ein unvollkommenes Wesen verstanden, das mit der Geburt weniger fertige Eigenschaften, als seine nahezu universelle Adaptionsfähigkeit mitbringt. Zum anderen zeigt diese Offenheit zur Vervollkommnung der Anlagen – so zumindest die gängige Ansicht – eine bestimmte Richtung, die zumindest über die Einstufung des Menschen als eines bloß sensitiv bestimmten Naturwesens hinausweist. Damit enthält der Begriff auch eine normative Dimension, indem er auf die grundlegenden Konzepte der Aufklärung: Mündigkeit, Selbsttätigkeit und Selbstvervollkommnung angewendet wurde und den sich vervollkommnenden Menschen auf seine Aufgabe, die Verteidigung der sinnstiftenden Instanzen, festzulegen versuchte.

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Es ist auffällig, dass auch Platner in seiner Anthropologie (1772) diesen Ausgangspunkt wählt. Gleich der erste Paragraph bietet, so hält auch Nowitzki 2003, 184 fest, einen »teleologischen Ansatz«: wenn man etwas über die Natur des Menschen sagen wolle, müsse man sein Ziel – bzw. das Ziel Gottes bei der Erschaffung des Menschen – kennen. Menschlicher Zweck sei seine Glückseligkeit, zu deren Erreichung Gott den Menschen mit Vernunft begabt erschaffen habe. 70 »Aber die neuerdings aufgestellte These, daß schon Leibniz das für die Aufklärung so wichtige Schlüsselwort der Perfektibilität ›eingeführt‹ habe, hält einer Nachprüfung nicht stand. Die frühesten Belege, die sich bei Lessing, Mendelssohn, Reimarus und Tetens finden, zeigen vielmehr, daß der Perfektibilitätsbegriff erst während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus Rousseaus Schriften in den deutschen Sprachraum übernommen wurde.« (Hornig 1980, 224) Dennoch ist im deutschen Sprachraum die an Leibniz’ Denken angelehnte Interpretation der Vervollkommnungsfähigkeit augenfällig. Vgl. Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, 3. Aufl. 1766 und 4. Aufl. 1772. Dieser fasst Perfektibilität nicht, wie Lessing, als »ruhende Eigenschaft oder bloße Potenz«, sondern als »wirksame Seelenkraft« auf (Hornig 1980, 226). Johann Nikolaus Tetens Schrift Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (1777) bezeichnet »den Grundcharakter des Menschen als ›Perfektibilität an Selbstmacht‹, als ›perfektible Selbsttätigkeit‹ und als ›Perfektibilität der menschlichen Seele‹« (Hornig 1980, 227). Die Verweise auf den Aspekt der Selbsttätigkeit der Monade sind deutlich. 71 Oder auch »Fähigkeit, sich zu vervollkommnen« (vgl. JubA VI/2, XXXVIII, 102).

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Insgesamt jedoch wurde die Vervollkommnungsfähigkeit im Zusammenhang mit ihrer Grundlage, der Vollkommenheit selbst, zusammengedacht und manifestierte den anthropologischen Aspekt des aufklärerischen Fortschrittsoptimismus. Auch die »Nachwirkungen des Vollkommenheitsbegriffs der antiken Philosophie und die Einflüsse von christlichen Glaubensvorstellungen« (Hornig 1980, 222) waren dabei virulent, indem die sich in der Geschichte zeigende menschliche Entwicklung als ein Verbesserungs- oder gar ein Heilsgeschehen reformuliert wurde. Mendelssohn übernimmt Teile dieser Elemente spätestens mit dem Rückgriff auf Leibniz’ Philosophie.72 Vollkommenheit, als das Prädikat Gottes (oder gar als ein göttliches Prädikat), ist kein Ausdruck quantitativer, sondern qualitativ absoluter Größe. Eigenschaften, von denen keine Schranke denkbar ist, können der Vollkommenheit zugerechnet werden.73 Zugleich bildet der Begriff der Vollkommenheit auch den Ausdruck der Realität einer Sache, denn »wenn ein existierendes A gedacht wird, wird mehr an Realität gedacht, als wenn ein mögliches A gedacht wird.«74 Die Kriterien, die Leibniz für die Vollkommenheit festlegt, sind auch für die Interpretation von Mendelssohns Denken von großer Wichtigkeit: Vollkommenheit ist Realität (Mendelssohn nennt dies: bejahende Eigenschaften), Kraftäußerung und Zusammenstimmung der Eigenschaften zu einem gemeinsamen Endzweck und damit Zusammenstimmung in einer Einheit. Von Wolff wurde sie handhabbar definiert als »perfectio est consensus in varietate, seu plurimum a se invicem differentium in uno« (»Vollkommenheit ist die Übereinstimmung in der Mannigfaltigkeit oder des Vielen, das unter sich different

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Am elaboriertesten verteidigt und begründet Leibniz diese Konzeption in der Theodicée und in der von der Erklärung der Monaden zum »Gottesstaat« (§§ 85 f.) aufsteigenden Monadologie bzw. in den Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison. 73 Vgl. Monadologie § 41. In der an die Theodicée angeschlossenen Abhandlung Über den Ursprung des Übels (S. 422) weist Leibniz auf die Möglichkeit einer menschlichen Gottesvorstellung hin, »daß die Gottesidee aus der Idee von uns selbst durch die Aufhebung der Schranken unserer Vollkommenheiten entsteht, wie die Ausdehnung im absoluten Sinne in der Idee einer Kugel inbegriffen ist.« Dies heißt nicht, dass die Gottesidee durch diesen Abstraktionsvorgang etabliert wird, sondern dass das über die menschlichen Grenzen hinausweisende Vermögen der Vorstellung einer Vollkommenheit auf diese Vollkommenheit selbst verweist. Vgl. Leibniz, Discours de métaphysique (1686), (Ders., Hauptschriften II, 343). Die Attribute Gottes sind vollkommen, wenn sie »vortrefflich« und »allen Forderungen, die man nur stellen kann, gemäß« sind. Wichtig ist allerdings, dass nicht die Vollkommenheit Gottes seine Taten gut macht (»Denn wie sollte man ihn für das, was er geschaffen, loben, wenn er gleich lobenswert wäre, falls er das Entgegengesetzte geschaffen hätte?«, ebd., 344), sondern sein Handeln gemäß des SvG es dem Menschen überhaupt erlaubt, von Güte zu sprechen. Güte und göttliche Handlung fällt damit ineins; es meint letztlich: bestbegründete Handlung innerhalb eines Systems ausweisbarer, rationaler Gründe. 74 »Patet etiam Existentiam esse perfectionem, seu augere realitatem, id est, cum concipitur A existens, plus realitatis concipi, quam cum concipitur A possibile.« Brief an A. Eckhard, in: GWL 1, 266. Vgl. Th. S. Hoffmann in Ritter, Bd. 11, 2001, 1115–32, hier 1127.

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ist, in Einem«, Philosophia prima, sive Ontologia (1730), § 503). Gerade über diesen Kriterienkatalog bestand allerdings auch zu Mendelssohns Zeit große Uneinigkeit. Angesichts von dessen Übernahmen der leibnizschen und leibnizianischen Philosophie möchte ich dafür argumentieren, dass er diese Kriterien der Vollkommenheit als eine Zusammenstimmung nach (Vernunft)Gründen versteht und zugleich auf die ontologische Verfasstheit der Welt ausdehnt. Indem er nämlich allein mit spekulativen Überlegungen die gesamte Wirklichkeit adäquat zu erfassen vermeint, so sind die flankierenden Bedingungen dieses Denkens zugleich Gesetze dieser Wirklichkeit. Die Vorstellung einer vollkommenen Zusammenstimmung beruht dabei auf der universellen Gültigkeit des Satzes der Identität bzw. vom ausgeschlossenen Widerspruch (SvW) und auf dem Prinzip des zureichenden Grundes (SvG).75 Gelten diese nicht, so ist weder rationale Welt- noch Gotteserkenntnis möglich; handelt Gott ohne zureichenden Grund, können wir dieses Handeln nicht zureichend beschreiben, erklären und begründen. Indem aber rational argumentiert wird, finden die genannten Prinzipien Anwendung. Wo immer Überlegung und Begründung auftritt, müssen sie gelten – sonst ist Überlegung und Begründung selbst nicht möglich.76 In seiner universellen Anwendung auf das oberste Prinzip der Vollkommenheit zeigt sich die normative Grundlage rationalistischen Denkens: Nur das kann als wahr gelten, für das es einen zureichenden Grund gibt. Die Rede von Wahrheit ist damit immer auch die Rede von einer begründbaren Wahrheit. Leibniz’ Philosophie kann so als der groß angelegte Versuch gelten, Tendenzen der Zersplitterung und Vereinseitigung seiner Zeit wieder unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Der Satz vom zureichenden Grund sollte noch einmal die vielen Begriffe der »causa« zusammenführen: er ist zugleich ein Prinzip logischer Erklärung wie auch das Gesetz der in sich zufälligen Ereignisse (vgl. Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison, Abschnitt 11.) Die traditionellen Begründungsansätze 75

Siehe Leibniz, De libertate, Hauptschriften II, 654–60; ebenso Monadologie, §§ 31 ff., Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison, Abschnitt 7, Theodicée, Discours préliminaire, 34 f. (Abschnitt 2) und Teil I, § 44. Wolff definiert das Prinzip folgendermaßen: »Per rationem sufficientem intelligimus id, unde intelligitur, cur aliquid sit.« (Unter einem zureichendem Grunde versteht man das, aus dem eingesehen wird, warum etwas ist.) Um daran sogleich anzuschließen: »Nihil est sine ratione sufficiente, cur potius sit quam non sit.« (Nichts ist ohne zureichenden Grund, warum etwas eher ist als nicht ist. Ontologia, § 70). 76 Vgl. damit die Funktion des frühaufklärerischen Gottesbegriffs, der laut Buschmann 1989a, 53 »als höchste Instanz der Rationalität im Sinne einer Vernünftigkeit des Weltprozesses« fungiert. Gott ist ein (logisches) Prinzip, das die Welt davor bewahrt, neben dem Verstand zu existieren. Mit einem solchen Gottesbegriff ist die Welt zugleich immer – je nach Verstandesleistung – dem Denken zugänglich und durch es vollständig nach Prinzipien beschreibbar. Mendelssohn hat diese grundsätzliche Applizierbarkeit auch als Quelle der rationalen Begründung von physiologischen, psychologischen, moralischen und anthropologischen Gesetzen genutzt. So Leibniz in der Théodicée (Hauptschriften IV, 4): »Gott ist die Ordnung selbst, in ihm herrscht strenge Folgerichtigkeit der Beziehungen und er ist mit der universellen Harmonie identisch.«

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werden von ihm damit als unterschiedliche Anwendungsfälle eines logischen Prinzips reformuliert »und die logische, ontologische, kausale und teleologische Begründung [erweisen sich] bloß als verschiedene Aspekte derselben Sache«77, nämlich der Rationalität Gottes. Dieser erschuf die beste aller möglichen Welten nicht deshalb, weil sie die einzig mögliche war, sondern weil sie dem göttlichen Wohlgefallen am besten Prinzip am vollkommensten entsprach. Dass damit die normativen Prinzipien auch ontologische werden, wurde dabei nicht nur von Kant, sondern auch von Abbt, Herder und anderen kritisiert. Ich werde in den gegebenen Kontexten darauf zurückkommen. Es liegt mir in meiner Arbeit jedoch nicht daran, diesen Beweis und seine Widerlegungen zu untersuchen oder gar neue Beweise vorzulegen; hier ist m.E. die Kantische Wende eindeutig und unumkehrbar vollzogen. Vielmehr soll das Prinzip als eine grundlegende Hypothese in Mendelssohns Philosophie über die rationale Einrichtung der Welt angenommen werden, an das sich – so der Versuch – ein möglichst lückenloses Netz anderer rationaler Sätze anschließen sollen. Wie in Kants transzendentaler Deduktion wird damit nicht ein Rückgang auf erste Gründe unternommen, sondern, dem juristischen Sprachgebrauch der Zeit gemäß, der Erweis einer Berechtigung formuliert, indem die Bedingungen der Möglichkeit erwiesen werden78; es entsteht ein menschlich einsehbares Begründungsnetz, und kein gottgegebener Katalog einander unverbundener Grundsätze – in Bezug auf dessen fundamentale Geltung ohnehin die Frage nach unserer diesbezüglichen Einsichtsfähigkeit und der Berechtigung unserer Festlegung auf sie entstünde. Mendelssohns Annahme der Gültigkeit rationaler Prinzipien soll also insofern geteilt und daraufhin befragt werden, inwiefern die Geltung dieser Prinzipien die menschliche Erkennbarkeit der Welt zu begründen und das Vollkommenheitspostulat auch aus anthropologischer Sicht zu stützen vermag. Dies heißt noch nicht, dass die ontologische Geltung der rationalen Grundsätze erwiesen ist (dies hat auch Mendelssohn so nie zu zeigen versucht, auch wenn er dies indirekt durch die von ihm unternommenen Gottesbeweise abzusichern suchte), sondern lediglich, dass sich mit diesen Grundsätzen ein konsistentes System gewinnen lässt – das allerdings in letzter Instanz den Schritt zur wahren Geltung nicht vollziehen kann. Die Fragen, inwieweit 77

Hans-Jürgen Engfer: Artikel »Principium rationis sufficientis«, in: Ritter 7, 1325–36, hier

1327. 78 Kant spricht in der zweiten Auflage der KrV in der Deduktion von einer Parallelisierung mit dem Recht (das schon durch die grundlegende Frage »quid juris?« von der der empirischen Deduktion »quid facti?« abgegrenzt wird) von einer Anzeige der »Rechtmäßigkeit«, die festlegt, woraus der »Besitz« an einer Sache entsprungen ist (KrV B 117=A 85) und wonach im vorliegenden Fall nicht nachzuweisen ist, dass es Kategorien gibt, sondern dass diese die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, und zwar der begrifflichen wie anschaulichen, sind. Vgl. zur Struktur dieses »juridischen« Beweises Dieter Henrich: »Kant’s Notion of a Deduction and the Methodological Background of the First Critique,« in: Kant’s Transcendental Deductions. The Three Critiques and the Opus Postumum. Ed. by Eckart Förster. Stanford 1989, 29–46.

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sich mit einem solchen System als rationale Prämisse arbeiten lässt und inwiefern das Vollkommenheitspostulat damit befriedigend reformuliert werden kann, sind in diesem Sinne leitend für die vorliegende Untersuchung. Ebenfalls ist hier von Belang, dass die feststehende (im Sinne einer statischen) Definition von Vollkommenheit und eine normativistische Auffassung der sie konstituierenden Gesetze im Verständnis der rationalistischen Auffassung menschlicher Perfektibilität zusammenhängen. Ohne Zweifel beinhaltet der Begriff der Vervollkommnung einen dynamischen Aspekt, der sich im Begriff der Vollkommenheit – als einer idealtypischen Beschreibung – so nicht ohne weiteres findet. In Bezug auf die Erklärung menschlicher Natur jedoch zeigt sich das dynamische Potential der Vollkommenheitsphilosophie als Lehre von der Vervollkommnung. Offensichtlich unterschied sich die göttliche Perspektive einer harmonisch zusammenstimmenden Welt von derjenigen des Menschen, der sich einem widersprüchlichen Gespinst unterschiedlichster Ereignisse ausgesetzt sah. Leibniz unterschied in diesem Sinne zwischen den Vernunft- und den Tatsachenwahrheiten. Erstere waren logisch notwendig und gehorchten dem SvW; letztere jedoch beschrieben die kontingenten, faktischen Wahrheiten, die sich im Modell einer vernünftigen und auf das Beste eingerichteten Welt aus dem Prinzip des zureichenden Grundes ergaben.79 Zugleich wirkt die Geltung des principium rationis sufficientis als Begründung der Vollkommenheit der Welt: da Gott nach dem besten Grund handelt und daher die beste aller möglichen Welten geschaffen hat, so ist sie vollkommen eingerichtet. Diese Vollkommenheit spiegelt sich in den in ihr herrschenden Prinzipien ebenso wider wie in den sie repräsentierenden Lebewesen. Hier greift auch die leibnizsche Vorstellung von der Doppelfunktion der monadischen Repraesentatio: Vorstellung und Darstellung sind eins, indem die Vorstellung der Monade zugleich die Verwirklichung der Welt in der Vorstellung bedeutet – immer aber aus individuellen Gesichtspunkten, je nach Standpunkt im Weltganzen. Der Blick auf die immer bestehende Vollkommenheit wird damit perspektiviert und dynamisiert, indem alle Monaden aus ihrem individuellen Standpunkt zum vollkommenen Einheitspunkt hinstreben und erst durch dieses Streben die Vollkommenheit verwirklichen. Dies zeigt auch Leibniz’ Definitionsversuch der Vollkommenheit, wie dieser ihn umfassend in der Abhandlung »Von der Weisheit« erläutert und zugleich mit anderen Schlüsselbegriffen des rationalistischen Denkens in Zusammenhang bringt: »Vollkommenheit nenne ich alle Erhöhung des Wesens, denn wie die Krankheit gleichsam eine Erniedrigung ist und ein Abfall von der Gesundheit, also ist die Vollkommenheit etwas, so über die Gesundheit steiget; die Gesundheit aber selbst

79

Vgl. Altmann 1982, 140. Siehe Leibniz Theodiée, Discours préliminaire, 34. Vorausbestimmung, Präformation ist »von richtender, niemals von nötigender Art« (30 und 34 (Abs. 2).

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bestehet in Mittel und in der Waage, und leget den Grund zur Vollkommenheit. Gleichwie nun die Krankheit herkommet von verletzter Wirkung, wie solches der Arzneiverständige wohl bemerket, also erzeiget sich hingegen die Vollkommenheit in einer gewissen Kraft zu wirken, wie denn alles Wesen in einer gewissen Kraft bestehet, und je größer die Kraft, je höher und freier das Wesen. Ferner bei aller Kraft, je größer sie ist, je mehr zeiget sich dabei Viel aus einem und in einem, indem Eines viele außer sich regieret, und in sich vorbildet. Nun die Einigkeit in der Vielheit ist nichts anders, als die Übereinstimmung, und weil eines zu diesem näher stimmet, als zu jenem, so fließet daraus die Ordnung, von welcher alle Schönheit herkommet, und die Schönheit erwecket Liebe. Daraus sieht man nun, wie Glückseligkeit, Lust, Liebe, Vollkommenheit, Wesen, Kraft, Freiheit, Übereinstimmung, Ordnung und Schönheit miteinander verbunden, welches von Wenigen recht eingesehen wird.« (Leibniz, Hauptschriften II, 651, Hervorhebungen A.P.) Auffällig ist die Definition der Vollkommenheit nicht nur in ihrer vielfältigen Ausprägung, die die Verbundenheit der einzelnen auch Mendelssohns philosophische Position bestimmenden Faktoren anzeigt, sondern auch die aktivische Beschreibung: Vollkommenheit ist die Erhöhung des Wesens, nicht seine bereits erreichte Erhabenheit. Damit ist die Welt nicht allein ein Mannigfaltiges, das zu einer Einheit, der Idee Gottes, übereinstimmt, sondern zugleich ein Mannigfaltiges, das diese Übereinstimmung immer wieder herstellt. Jahrzehnte später hat Christan Garve mit seiner – kritischen – Definition des Vollkommenheitsbegriffs in der wolffianischen Schulphilosophie eine in dieser Hinsicht interessante Anmerkung gemacht. In seiner Übersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre (zuerst 1798)80 benennt er Wolffs Definition der Vollkommenheit als »die Uebereinstimmung des in einem Dinge vorhandenen Mannigfaltigen zu Einem« (Garve 1986, 178 f.) und bemerkt dazu in einer Fußnote: »Ich bediene mich hier des bey den Wolfianern gewöhnlichen Ausdruckes: ob er gleich etwas dunkel ist. Es soll die Uebereinstimmung zu einem gemeinschaftlichen Endzwecke, oder zur Unterstützung der 80

Darüber hinaus stellt Garve in seiner – sehr kurzen – Darstellung der Wolffianischen Vollkommenheitslehre fest, dass Vollkommenheit nicht allen (auch leblosen) Dingen zukommen kann, sondern nur Menschen und Tieren, die als »lebendige und vernünftige Wesen […] ihrer selbst bewußt sind« (Garve 1986, 178). Dinge sind nur vollkommen in Bezug auf uns, was ein »Rationalist« oder »Wolffianer« wie Mendelssohn gar nicht bestritten hatte. Im zweiten Gespräch des Phädon beispielsweise legt er das oberste Prinzip der Einheit in die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in der Seele. Nach Garve jedoch haben die »Wolffianer« und Leibniz-Adepten allein auf die Ordnung der Dinge achtgegeben, nicht aber auf die sie zusammenhaltenden Prinzipien. Garve selbst gründet in Anlehnung an Kant, dem das Werk gewidmet ist, alles in das vereinigende Prinzip des Ich denke; allerdings scheint seine Interpretation dieses obersten Prinzips »subjektivistischer«, als Kant dies intendierte.

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Thätigkeit eines gewissen Hauptteils, oder zur Hervorbringung einer gewissen Form, oder alles dieß zugleich anzeigen. Vielleicht aber ist diese Unbestimmtheit des Ausdrukkes selbst das beste Kennzeichen von dem Werthe der Definition.« (Garve 1986, 179, Hervorhebungen A.P.)81 Mit der letzten Bemerkung muss nicht – wie bei Garve intendiert – allein das Defizit dieser Definition bezeichnet sein, sondern auch ihre Offenheit gegenüber verschiedenen Lesarten. Durchaus ist es also möglich, in der Vollkommenheit »an sich« auch ein Bestreben zur Vollkommenheit enthalten vorzustellen. Auf die Mehrdeutigkeit dieser Definition hatte auch Mendelssohn bereits 1755 in Anmerkung l) (1771: Anm. r) der Briefe über die Empfindungen hingewiesen. Dort kontrastiert er die Definition Leibniz’ von der Vollkommenheit der Seele als dem Grad der Klarheit ihrer Vorstellungen (was Leibniz mit »Realität« übersetzt) mit der Wolffschen Festlegung, dass Vollkommenheit vielmehr ein »Bestreben etwas gemeinschaftlich zu erhalten« sei (vgl. Theologia naturalis, Bd. 2, § 15) und versucht, beide miteinander zu vereinbaren. Ihre jeweilige Gültigkeit gewinnen sie über die Bestimmung ihres Gegenstandsbereiches; Leibniz lege den Schwerpunkt, so drückt Mendelssohn dies hier vereinfachend aus, auf einfache, Wolff auf zusammengesetzte Gegenstände. Der Grad der Vollkommenheit der einfachen Entität »Seele« als die Klarheit ihrer Vorstellungen kann somit zugleich mit dem Grad der Vollkommenheit des zusammengesetzten Wesens »Mensch« als eines Wesens, das bestrebt ist, seinen Vorstellungen eine Einheit zu geben, bestehen. Vollkommenheit wird demnach in der rationalistischen Schulphilosophie, um sie einmal mit einem solchen schlichten Sammelbegriff zu benennen, nicht allein als ein allgemeines Seinsprädikat verstanden (vgl. Baumgarten, Metaphysica, §§ 94–100). Mit inbegriffen ist auch ihre dynamistische Wendung im Begriff der Vervollkommnung, die zwar als Begriff erst mit der Rousseau-Rezeption auch in Deutschland ihren Siegeszug antritt (vgl. Kap. II.1), aber der Sache nach auch von Leibniz, Wolff und Baumgarten angedacht wurde. Wie erwähnt, haben sich Mendelssohn und Lessing in ihrer Rousseau-Interpretation explizit dieser Richtung zugewandt. Schon in der Definition der Vollkommenheit scheint damit die Vervollkommnung ebenfalls erfasst. So auch die Interpretation Cassirers: »Die Leibnizische ›Monade‹ ist dynamische Einheit […] und ist nur, sofern sie tätig ist. […] Und niemals ist 81

Garve selbst zielt im betreffenden Abschnitt seiner Schrift auf die Begründung der Moralität im Vollkommenheitsparadigma ab. Ihm zufolge müsse die genannte, rein formale Definition der Vollkommenheit bereits die moralische Güte des Menschen voraussetzen, könne sie aber nicht begründen. Definiere man auch die ästhetische Vollkommenheit derart, dann sei bloß das Nützliche benannt, denn in ihm müsste ebenfalls alles zu einem gemeinschaftlichen Endzweck zusammenstimmen (Garve 1986, 180). Leider behandelt Garve diese Problematik so kurz wie polemisch; sich an Wolff anschließende Denker wie Mendelssohn tauchen gar nicht auf und werden durch diese Überzeichnung auch nicht adäquat getroffen.

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einer dieser Momente dem andern schlechthin gleich; niemals läßt er sich in dieselbe Summe rein statischer ›Eigenschaften‹ auflösen. Jede Bestimmtheit, die wir hier vorfinden, ist vielmehr nur im Übergang zu fassen. Ihre Erkennbarkeit, ihre rationale Erfaßbarkeit beruht nicht darauf, daß wir sie in einem einzelnen Merkmal fixieren können, sondern daß wir die Regel dieses Übergangs ins Auge fassen, daß wir ihn in seiner spezifischen Gesetzlichkeit vergegenwärtigen können. […] An die Stelle jener analytischen Identität, wie sie für Descartes und Spinoza gilt, ist hier das Prinzip der Kontinuität getreten. Auf ihn baut sich Leibniz’ Mathematik und seine gesamte Metaphysik auf. Kontinuität bedeutet Einheit in der Vielheit, Sein im Werden, Beharrlichkeit im Wandel. Sie besagt einen Zusammenhang, der sich nur im Wechsel und in der stetigen Andersheit von Bestimmungen ausdrücken kann – der daher die Mannigfaltigkeit ebenso notwendig, ebenso ursprünglich und wesentlich wie die Einheit fordert.« (Cassirer 1932, 38 f.) Die das Weltganze auch im verworrenen repräsentierende und sich vervollkommnende Monade erkennt nach dem SvG ihre Welt – auch Mendelssohns an dieses Konzept angelehnten anthropologischen Überlegungen lassen sich als eine Ausformulierung dieses Prinzips benennen. Dass Leibniz’ Metaphysik in einer derart dynamistischen Lesart, wie sie hier stellvertretend für viele Cassirer vorstellt, überhaupt lesbar erscheint, mag nicht zuletzt an ihm nachfolgenden Philosophen wie Mendelssohn liegen. Im Begriff der Monade, ihrem eigentlichen Wesen, liegt damit bereits in ihrer Definition als Kraftzentrum »von Beginn an das Moment der Entwicklung«82. Diese Entwicklung auf ein Ziel hin und aus einer bereits existierenden Einheit heraus prägt die Vorstellung menschlicher Determination in der Diskussion um die Bestimmung des Menschen. Dabei ist zuletzt auch der eudaimonistische Aspekt der Monadenkonzeption nicht zu übergehen, der zugleich auf die menschliche Destination hinweist: die Erfüllung der Vorstellungstätigkeit, die Verbindung der Vorstellungen zu einer möglichst klaren und deutlichen Einheit wird mit Lust erlebt und erweckt Vergnügen; schlussendlich macht erst dies glückselig.83 Dieser nexus zwischen Vollkommenheit, Vergnügen und Glückseligkeit findet sich auch in den leibnizianisch bestimmten Vorstellungen von Moral- und Staatsphilosophie wieder: Zweck des Menschen ist eine bestimmte, »wahre« – weil rationale,

82

Paetzold 1983, XVI f. und Totok 1986, 182. Lessing und Mendelssohn weisen auch in Pope, ein Metaphysiker! (1756) auf die dynamische Komponente in Leibniz’ Monadenkonzept hin. 83 Die bloße Synonyma-Häufung von »Vollkommenheit« in der Schrift Von der Weisheit (vgl. Hauptschriften II, 651) hat Leibniz in den systematischer orientierten Vernunftrinzipien der Natur und der Gnade, der Metaphysischen Abhandlung und v. a. der Monadologie geordnet. Dabei wird die zur Glückseligkeit leitende Lust nicht mehr schlicht der Vollkommenheit beigestellt, sondern erhält einen funktionalen Aspekt, indem sie als das Strebensmoment der Monade begriffen wird, das ihre Kraft/Vorstellungsäußerung steuert. Siehe Monadologie, §§ 10–19.

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nicht allein emotive – Form der Glückseligkeit; sie ist Voraussetzung seines Handelns und der Verbindungen zu anderen Menschen.

b) Mensch und Menschheit Neben der Betrachtung des Menschen als einem noch zu spezifizierenden Wesen trat die Untersuchung der Menschheit als Gattung. Die Frage nach der menschlichen Natur führte, spätestens nach Rousseaus zweitem Discours 84, das Problem mit sich, von welchem Standpunkt aus diese in den Blick genommen werden musste. Dabei bildete sich als methodologische Ausgangsbasis der Rückgriff auf einen »Naturzustand« des Menschen heraus. Der Mensch als ein Mängelwesen85 an Instinkt, soviel schien klar, konnte nicht als ein Einzelwesen allein, sondern musste als ein geselliges, lernfähiges und -bedürftiges Wesen betrachtet werden. Unklar allerdings war, ob die individuelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit auch auf die Gattung Mensch als Ganzes übertragen werden konnte. Befand sich die gesamte menschliche Gattung auf dem Weg zur Vervollkommnung, oder kam diese Entwicklung nur dem Einzelnen zu, ja, störte die gesellschaftliche Einbindung seine Entwicklung gar? Musste ein einmal erreichter Entwicklungsstand immer neu erkämpft werden – und war damit immer in Gefahr, Rückschläge zu erleiden? Anders formuliert: bewirkte das menschliche Telos auch ein historisches? Oder beinhaltete die menschliche Perfektibilität nicht zugleich die fundamentale Gefahr seiner Korruptibilität86, so dass sich

84

Mendelssohn übersetzte dieses Werk schon 1756, also nur ein Jahr nach dessen Erscheinen. Mit Rousseau wird die Frage nach der menschlichen Natur wie seiner Bestimmung virulent; sei es in »anthropologischer«, moralphilosophischer oder staatstheoretischer Hinsicht; vgl. dazu ausführlich Kap. II.1. 85 In Anlehnung an den zentralen Begriff Arnold Gehlens; er ist der Sache nach in den Konstruktionen des Naturzustands, z. B. bei Rousseau, schon deutlich vorhanden. 86 Das weitgehende Fehlen dieser notwendigen Ergänzung des beherrschenden Begriffs der Perfektibilität bemerkt Jannidis 2004, 9. Hornig 1980, 225 hält fest, dass der kontradiktorische (also die Perfektibilität ausschließende) Begriff derjenige der »Imperfektibilität« sei, was allerdings eine Unveränderlichkeit impliziere. »Korruptibilität« dagegen könne »von den gleichen Personen, Phänomenen oder Institutionen ausgesagt werden, von denen auch die ›Perfektibilität‹ behauptet wird. Wie sich etwas vervollkommnen kann, so kann es sich auch verschlechtern und degenerieren.« Im Gegensatz zu Jannidis, aber auch mit Blick auf einen größeren Zeitrahmen, spricht Hornig von der »schon frühzeitig nachweisbare[n] Bildung der Gegenbegriffe« (ebd.). Als prominentes Beispiel nennt er (S. 227) Georg Christoph Lichtenbergs Streitschrift gegen Lavater: Über Physiognomik (1778), die Mendelssohn durch seine Einmischung in diesen Streit (Ueber einige Einwürfe gegen die Physiognomik, und vorzüglich gegen die von Herrn Lavater behauptete Harmonie zwischen Schönheit und Tugend, erschienen im Deutschen Museum 1778 unter Rückgriff auf ältere Notizen, vgl. JubA III/1, LIV ff. und 321–28) bekannt war. Später nahm auch Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784) dieses Begriffpaar – und damit einhergehend dessen kritische

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tatsächlich jeder äußerliche Fortschritt bei näherer Betrachtung als Pervertierung »ursprünglich reiner« Triebe herausstellte? Die Wiederentdeckung Leibniz’ und Shaftesburys und des daran anschließenden Gedankens der allumfassenden »Kette der Wesen«, die auch den Zusammenhalt menschlicher Gesellschaften sowie deren Relevanz zur Erfüllung individueller Glückseligkeit fundierte, führte innerhalb der Hochaufklärung zur Herausbildung generell optimistischer gesellschaftstheoretischer Konstrukte, in denen die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft und als Diener eines allgemeine Fortschritts, in dem sich immer auch das gesamte Universum widerspiegelte, festgeschrieben wurde.87 Gegen Rousseau wurde der ursprünglich soziale Wesenszug des Menschen verteidigt und die Gesellschaft als eine notwendige Bedingung seiner Glückseligkeit verstanden. Begriffsgeschichtlich hat sich damit die Bedeutung der faktischen und menschheitsumgreifenden Vervollkommnung gegenüber der bloß individuell vorhandenen Anlage der Vervollkommnungsfähigkeit immer mehr durchgesetzt.88 Dadurch »gewinnt der Perfektibilitätsbegriff je nach Anwendungsbereich eine größere anthropologische, geschichtsphilosophische, religionsphilosophische, theologische, pädagogische oder politische Relevanz. Diese Feststellung gilt auch für den Fall, daß der geschichtliche Vervollkommnungsprozeß als ›unendlich‹ bezeichnet, als progressus in infinitum verstanden und als solcher von dem Gedanken der stetigen Annäherung an das Ziel einer absoluten Vollkommenheit losgelöst wird.« (Hornig 1980, 249) Diese Entwicklung kommt allerdings erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Fahrt. Mit der dort vertretenen Sicherheit eines umfassenden Fortschritts geht zugleich, wie Bödeker (1981, 222 ff.) treffend hervorhebt, eine in den gebildeten Schichten der Aufklärungszeit erfahrene Ungeschütztheit und gesellschaftlicher Isolierung einher. Fortschrittskonzepte wurden so zu Kompensationsmodellen der eigenen politischen Ohnmacht, oder sie verlagerten die goldene Zeit in eine unbestimmte Zukunft, die die Menschheit erst durch das Bezwingen von herrschenden destruktiven Strukturen erringen musste. Die sich zum Ausgleich des Verfalls sicherer sozialer Gefüge bildenden aufklärerischen Gesellschaften, wie die Berliner Mittwochsgesellschaft oder die Montagsgesellschaft, befassten sich dementsprechend mit der Etablierung einer

bis skeptische Implikationen – auf (vgl. ebd., Werke 6, 337 und Hornig 1980, 228). Dass dabei der offene Begriff der Perfektibilität durch den ebenfalls unbestimmten des »Humanismus« ersetzt wird, führt freilich zu weiteren Schwierigkeiten. 87 Zur Aufnahme Leibniz’ und Shaftesburys vgl. Kondylis 1981, 576–95, insbesondere 589. Indem der Einzelne im leibnizianischen Monadenmodell als der »Typ« des Ganzen angesehen wurde, konnte sein generelles Aufgehobensein in seiner Gesellschaft, seiner Geschichte und Kultur als gegeben angenommen werden. Dem stehen zugleich andere Tendenzen wie bspw. diejenige Herders gegenüber, die in Kap. V.2 zu thematisieren ist. 88 Vgl. Hornig 1980, 243 und 249. Als ersten Vertreter dieser Richtung wertet Hornig den Kantianer Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772–1838).

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neuen Kultur der Gebildeten, die sich weder über Glauben noch Macht, und daher auch nicht aus der Professorenschaft an Universitäten, Mitgliedern der Akademie oder kirchlichen Kreisen rekrutierte, sondern vielmehr eine von allen erwerbbare Bildung als ihre Grundlage begreift. Damit sollte der unterschwellig vorhandene Fortschrittsgedanke verstetigt und institutionalisiert, sowie das Modell einer den Einzelnen angemessen fördernden Gesellschaft erprobt werden. Mendelssohns hier einschlägige Gedanken zu Bildung und Aufklärung werden in diesem Zusammenhang zu thematisieren sein (vgl. Kap. IV.3).

c) Menschliche(r) Zweck(e) Es war Voraussetzung der systematischen Entwicklung anthropologischer Theoreme innerhalb der Bestimmungsdebatte, inwiefern sie eine Antwort auf die Erfüllung des Zwecks resp. der Zwecke menschlicher Entwicklung geben konnten (vgl. Linden 1976, 135). In diese Richtung geht auch die deutlich später vorgenommene, aber auch vorher geäußerte Bedenken zusammenfassende Kritik Hegels an der Unbestimmtheit des Perfektibilitätsbegriffs. »In der That ist die Perfectibilität beinahe etwas so Bestimmungsloses als die Veränderlichkeit überhaupt; sie ist ohne Zweck und Ziel, wie ohne Maaßstab für die Veränderung: das Bessere, das Vollkommenere, worauf sie gehen soll, ist ein ganz Unbestimmtes«.89 Wie auch immer Hegel selbst mit dieser Problematik umgegangen sein mag, fest steht, dass seine Kritik einige Berechtigung hat. Die Versuche, der Vervollkommnung auch einen begründbaren Begriff der Vollkommenheit als ihr Ziel zur Seite zu stellen, kennzeichnet die Debatte um die menschliche Bestimmung. Dabei geraten die Pole der Diskussion, also die menschliche Natur und deren übermenschlicher Zweck in ein starkes Spannungsverhältnis. Welche Wege gab es, einem irdischen Wesen einen umfassenden Zweck beizulegen, ohne die Grenzen einer anthropologischen Untersuchung zu sprengen? Das zunehmende Bewusstsein für die menschliche Perspektive und deren immanenter Grenzen brachte es mit sich, metaphysische Prämissen wiederum zur Disposition zu stellen, wenn sie eindeutig einen menschenmöglichen Erfahrungshorizont überschritten. Die 89

Werke VII, Stuttgart 1964 (4. Aufl.), 447. »Da Hegel selbst die Geschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit deutet, wird man sagen können, daß seine dialektische Geschichtsphilosophie wesentliche Elemente des mit dem Perfektibilitätsbegriff gemeinten Sachverhalts in sich aufgenommen hat.« (Hornig 1980, 244) Siehe aber auch schon frühere Kritiker wie Herder, der in seiner Geschichtsphilosophie von 1774 auf den relativen Charakter der »Glückseligkeit« als Ziel einer Vervollkommnung hinweist: Die »menschliche Natur [ist] kein Gefäß einer absoluten, unabhängigen, unwandelbaren Glückseligkeit, wie der Philosoph sie definiert«, »sondern das Bild der Glückseligkeit wandelt mit jedem Zustande und Himmelsstriche« (Werke 4, 38).

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psychologia empirica erbrachte keine rationalen Prinzipien, sondern diese mussten ihr vorgeschaltet werden – oder man musste auf allgemeingültige, rationale Erklärungsmuster generell verzichten. Autoren wie Spalding und auch Mendelssohn arbeiteten hier mit einer »rationalistischen Intuition«, indem sie die unterstellte Zweckhaftigkeit der Welteinrichtung und den Theodizeegedanken zum Beweis der unendlichen menschlichen Vervollkommnung, und damit zum Beweis der Unsterblichkeit der individuellen Seele, auszuweiten suchten. Es ist vielleicht wenig erstaunlich, dass die »Liste der Begriffe, die als Bestimmung des Menschen gedacht werden«, sehr kurz und eigentlich wenig innovativ ist. »Zu den häufigsten Antworten zählen Sittlichkeit bzw. Tugend und Glück. Um 1800 kommen Humanität und Bildung dazu.«90 Eine Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Zweck war freilich in der jeweiligen Theorie von der dort angegebenen menschlichen Konstitution abhängig. Der Mensch als sinnliches Wesen sucht die Glückseligkeit in der Lust, als ein vernünftiges erreicht er seinen Zweck in Erkenntnis des Wahren und Guten, oder, was damit häufig synonym gesetzt wurde, in einer vollkommenen Sittlichkeit. Die Ausformulierung eines Ziels problematisierte zugleich – v. a. im Zusammenhang mit theologischen, religiösen Überlegungen – den Sinn irdischen Daseins. Denn offensichtlich erreichten nicht alle die angemessene Stufe der Vollkommenheit, die sie verdient hätten – oder, schlimmer noch, Vielen blieb schon ein erster Schritt in diese Richtung verwehrt. Das hier prominenteste Beispiel dürfte das Säuglingssterben sein, das ebenfalls in der Diskussion zwischen Abbt und Mendelssohn eine Rolle spielen wird. Ein Zweck macht, auch als Handlungsdirektive, wenig Sinn, wenn er weder ›verdient‹ noch eigentlich erreicht werden kann. Es wurde versucht, in den verschiedenen und mannigfaltigen Entwürfen einer Theodizee diese Lücke zu schließen, die – dem anthropozentrischen Ansatz gemäß – zunehmend die Perspektive des Subjekts, nicht eines rational geordneten Weltganzen befriedigend erklären musste. Eine Möglichkeit war die Verknüpfung des Perfektibilitätsgedankens mit dem Unsterblichkeitspostulat: das eigentliche »Wesen« des Menschen sei seine Vernunft, diese jedoch ist ewiger – und damit auch: jenseitiger – Vervollkommnung fähig (vgl. Jannidis 2002, 84). Ein anderer Weg war, die Vervollkommnung selbst bereits in den Zweckgedanken aufzunehmen; der Mangel an dieser Sichtweise ist allerdings, dass die prinzipielle Offenheit einer solchen Vervollkommnung (wenn nicht ihre prinzipielle Begrenzung gezeigt werden kann, z. B. unter Rückgriff auf einen umfassenden Weltbegriff) aus dem Blick verliert, dass damit der Sehnsucht nach einer Geschlossenheit oder besser formuliert Abgeschlossenheit dieser Vervollkommnung nicht Rechnung getragen wird. Darüber hinaus ließe sich bloße Vervollkommnung 90

Jannidis 2002, 84. Es liegt auf der Hand, dass Mendelssohns Aufklärungsaufsatz von 1784 sowie Herders Humanitätsbriefe (1793–97) hier einflussreich waren.

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nicht nach sicheren Kriterien beurteilen – letztlich wäre auch die Ausbildung der Fähigkeit, zu stehlen, eine Vervollkommnung, jedoch in einer Hinsicht, die sich kaum als auf einen höheren Zweck hinweisend verstehen ließe. Die Formen dieser Beziehung – und ihrer möglichen gegenseitigen Beeinflussung und Abhängigkeit, die sich in dieser groben Formel kaum begründen lässt – sollen in den folgenden Kapiteln in Bezug auf Mendelssohns Philosophie untersucht werden.

Die ›Bestimmung des Menschen‹ als Formel Das erfolgreichste Werk mit dem Titel Bestimmung des Menschen ist dasjenige Johann Joachim Spaldings, eines Hauptvertreters der deutschen Aufklärungstheologie. Es war zuerst 1748 erschienen und erlebte bis 1794 mindestens elf 91 legale Neuauflagen, dazu kommen noch unzählige Raubnachdrucke. »Die stete Veränderung und fortschreitende Vermehrung (die letzte Auflage ist ein ganz anderes Buch als die erste) spiegelt an einem zentralen Thema eindrucksvoll auch den Wandel im Selbstverständnis der deutschen Aufklärung wider.« (D’Alessandro 1999, 22) Ab der siebten Auflage von 1763 nimmt der Umfang der Abhandlung auch deshalb signifikant zu, da Spalding die Überlegungen noch durch Anhänge erweitert, die ebenfalls separat veröffentlicht wurden. Offensichtlich hatte er mit der Wahl des Titels den Nerv seiner Zeit getroffen und auf eine eingängige Formel gebracht (vgl. Eibl 1996, 140). Ganz davon abgesehen, wie er sie im Einzelnen ausführte, so war schon mit dieser »Schlagwortschöpfung« sein Einfluss auf die »geschichtlichen Basisprozesse« der Folgezeit enorm.92 Allein im hier einschlägigen Zeitraum von 1750–85, Mendelssohns »Studien«- und Schaffenszeit, fallen vierzehn Werke (jeweils nur die erste Auflage gezählt), die sich dem Titel nach mit der »Bestimmung« des Menschen auseinanderset-

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Nicht, wie oft angegeben, dreizehn, siehe Beutel 2006, XXV. Er zählt (XXVI f.) insgesamt 29 nachweisbare Auflagen und Übersetzungen zu Spaldings Lebzeiten. 92 Eibl 1996, 140. Wie auch Jannidis 2002, 80 und Schwaiger 1999 bestätigen, waren gerade die Denker der »zweiten und dritten Reihe« für die Entwicklung und Aufnahme von Ideen relevant. Sie dienten als eine konsensfähigere Folie als »die komplexen Entwürfe der ›großen Denker‹« (Jannidis 2002, 80). Die eher schwer zugänglichen und auch nur bedingt allgemeinverständlichen Systeme »sickern nicht hinab in die Allgemeinkultur, sondern aus dem Angebot von solchen Denkern wird durch die alltägliche Verwendung ausgewählt und das Ausgewählte in eigener Weise typisiert und weitergegeben.« Bei der Tradierung solcher komplexer Begriffe spielt also weniger ihre spezifische Ausformulierung innerhalb eines philosophischen Systems, sondern vielmehr von ihnen abgeleitete, vereinfachte und »habitualisierte Konzepte« (ebd. 79) eine Rolle. In der Studie Jannidis’ steht allerdings die gesellschaftliche Breitenwirkung als »Selektionsfaktor« des Phraseologems »Bestimmung des Menschen« noch vor einer Untersuchung eines direkten Einfluss’ auf andere philosophische Entwürfe (vgl. ebd. 2002, 80); hier wird ein anderer Weg gewählt, der dennoch auf die durch die Person Mendelssohns bestimmte Umgebung beschränkt bleiben soll.

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zen.93 Noch deutlicher wird Mendelssohns Verflechtung in diese Debatte, wenn man zum einen die Autoren, und zum anderen die Erscheinungsdaten berücksichtigt. a) Von den bei Jannidis angegebenen Autoren ist einer Mendelssohn selbst. Streng genommen käme mit den vier Auflagen des Phädon, den separaten Veröffentlichungen der Bestimmungsdebatte in den Litteraturbriefen sowie in der Werkausgabe von Abbts Schriften, zuerst 1771 und in der zweiten Auflage von 1782, mit einem erläuternden Anhang versehen, noch sieben einschlägige Veröffentlichungen hinzu. Als weiteres Werk wird Abbts Zweifel genannt, der im nächsten Teilkapitel I.2 behandelt wird, sowie ihr gemeinsamer Bezugstext von Spalding. Ein weiterer Autor ist August A. von Hennings, Mendelssohns Briefpartner der 1770/80er Jahre, auf den er ohne Zweifel einigen Einfluss ausübte94, und zuletzt noch – Mendelssohn vermutlich immerhin durch Lessing bekannt – der Hamburger Pastor Johann Melchior Goeze, dessen Text sich wiederum direkt an Spalding anschließt.95 Ein guter Teil der veröffentlichten Literatur zur Bestimmungsthematik musste Mendelssohn also bekannt gewesen sein. b) Desweiteren zeigen die Veröffentlichungsdaten der noch verbliebenen Schriften ein ebenso interessantes Bild. Vor der Bestimmungsdebatte mit Abbt finden sich lediglich – abgesehen also von Spaldings und Goezes Werk – nur zwei Veröffentlichungen, die diesen Titel enthalten. Eine davon mag bei genauem Hinsehen jedoch nicht einschlägig gewesen sein, es ist Christoph Christian Sturms Die Bestimmung des Menschen beym Landleben (1764). Das andere Werk ist demgegenüber keine eigenständige Schrift, sondern nimmt schlicht Spaldings Werk in »nutzlichen Anhängen« auf 96 und forciert so deren Rezeption. Der barocke und nicht wenig selbstbewusste Titel dieses weit auseinanderliegende Theoreme vereinigenden Sammelwerks des Pietisten Friedrich Christoph Oetinger lautet: Die Wahrheit des Sensus Communis, 93

Ich stütze mich in einer ersten Annäherung auf die von Jannidis 2002, 88–93 angeführte Liste, die, das sei wiederum betont, lediglich diejenigen Werke verzeichnet, die explizit die Bestimmung des Menschen im Titel führen. Es ist natürlich unbestritten, dass sich Werke dieses Themenkomplexes auch anderer Titelformeln bedienten; vgl. Jannidis 2002, 78 f. Eine umfassende Berücksichtigung auch dieser Schriften sprengte zweifellos den hier gewählten Untersuchungsrahmen. 94 Dessen 1785 erschienenes Werk Ueber die wahren Quellen des Nationalwohlstandes, Freiheit, Volksmenge, Fleiß, im Zusammenhange mit der moralischen Bestimmung der Menschen und der Natur der Sachen Jannidis 2002, 86 als eine »nach heutigen Begriffen weitgehend volkswirtschaftliche […] Schrift« bezeichnet, enthält den an Mendelssohns Aufklärungsaufsatz erinnernden Passus, dass die schlimmsten Übel den Menschen entstünden, wenn sie »das Wichtigste, ihre Bestimmung, aus den Augen verlieren« (ebd. V, zit. nach Jannidis 2002, 86). 95 Die zweite, von Spalding autorisierte Auflage seiner Bestimmung des Menschen findet sich in Goezes Gedanken über die Betrachtung von der Bestimmung des Menschen. Halle 1748, in der Goeze eine »streitbare Entgegnung« verfasst hatte; vgl. Beutel 2006, XXXIV–XLIX. 96 Diesen Hinweis verdanke ich Reinhard Breymayer; Jannidis 2002 erwähnt diesen Umstand nicht.

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in den nach dem Grund-Text erklärten Sprüchen und Prediger Salomo, oder das beste Hauß- und Sitten-Buch für Gelehrte und Ungelehrte, samt nutzlichen Anhängen: I. Frantzösisch- und teutscher Extract aus dem Buch les moeurs oder die Sitten. II. Tractat von der Bestimmung des Menschen, worinn alles aus dem sensu communi hergeleitet ist. III. Ubersetzung des englischen Buchs des Grafen Schafftesbury [sic], sensus communis, samt dessen Leben. IV. Erklärung der zehen Gebotte, und eine Anzeige von dem gantzen Leben Jesu nach den zehen Gebotten. V. Anweisung, die Jugend zu gesundem Verstand anzuführen (1753, 21781).97 Ein weiteres Werk, das den Bestimmungs- als Erziehungsgedanken betont, ist der Versuch einer Theorie von dem Menschen und dessen Erziehung (1753). Dieses von Friedrich Engel anonym in Berlin veröffentlichte Werk, das eine Vorrede von Nathanael Baumgarten98 enthält, schien sehr populär gewesen zu sein und wurde 1755 ins Englische übersetzt (A New Theory of Human Nature, with a correspondent System of Education). Lessing rezensierte es vor der Bekanntschaft mit Mendelssohn am 3. Mai 1753 in der Berlinischen Privilegierten Zeitung (Lessing, Werke 2, 499) und bemängelte allein die unklare Ausdrucksweise, die es auch verhindere, genaue Auskunft über den gesamten Inhalt des Buches, das sich v. a. um eine Theorie der Kindheitsentwicklung bemüht, zu geben. Die weiteren von Jannidis erfassten Werke wurden erst nach der Bestimmungsdebatte 1765 verfasst. Hervorzuheben bleibt: vor der Bestimmungsdebatte lassen sich kaum einschlägige Werke verzeichnen; der Großteil folgt erst in den 1780er Jahren – ein Einfluss Mendelssohns und Abbts auf diese auffällige Belebung ist neben dem alles beherrschenden Spalding durchaus nicht auszuschließen. 97

Auffallend ist hier zusätzlich der Verweis auf den »sensus communis«: zum einen war auch Mendelssohn an einer Shaftesbury-Übersetzung, und zwar ebenfalls des Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humour (1709) interessiert (siehe JubA VI/2, 213–23). Es ist allerdings zweifelhaft, ob er zu diesem Zweck eine bereits vorliegende Übersetzung zu Rate zog, noch dazu er des Englischen mächtig war. Laut der Einschätzung Engels in JubA VI/2, L war Oetingers Schrift Mendelssohn 1754 nicht bekannt; dies spricht jedoch nicht dagegen, dass er später von ihr Kenntnis genommen hat, selbst wenn das Bücherverzeichnis sie nicht auflistet. Da jedoch letztlich unklar ist, ob Mendelssohn das Werk überhaupt je zu Gesicht bekommen hatte, sollen hier weiter keine diesbezüglichen Spekulationen angestellt werden. Allerdings kannte Mendelssohn Oetinger zumindest über einen Brief von diesem vom 7. September 1770 (JubA XII/1, 227 f.), dem auch dessen Werk Metaphysik in Connexion mit der Chemie (1770, siehe Bücherverzeichnis 266/33) beigefügt war. Eine Antwort Mendelssohns ist nicht erhalten. Vielleicht lag ihm dessen »biblizistische Apologetik und pietistische Neo-Mystik« (Riedel 1985, 166, differenzierter 77–85 mit Verweis auf Oetingers Rezeption von Carl Casimir von Creuz’ und Claude-Nicolas Le Cats Theorie des »Mitteldings«, der Seelenkraft als einer Art »Amphibium« zwischen Körper und Geist) allzu fern. 98 Siehe Mendelssohns Bücherverzeichnis 409/43. N. Baumgarten wiederum war der Lehrer Goezes und der theologische Hauptberater des Verlegers Johann Justinus Gebauer in Halle, der 1748 die zweite Auflage der Bestimmung des Menschen samt Goezes Gegendarstellung herausbrachte, vgl. Beutel 2006, XXXVI f.

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Der Erfolg der Formel ist auch durch seine immense Variationsbreite gesichert. Laut Jannidis (2002, 85) konnte mit ihr, die »Sinnstiftung mit empirischem Wissen verknüpfte«, ein stabil bleibendes Interesse der Zeit seinen Ausdruck finden, wie es Oetingers Titel so schön zusammenfasst. Hier wurde ein jeder mit allem angesprochen. Es gab schließlich eine Fülle an »compendiösen« Werken, die sich im weitesten Sinne mit der Bestimmung des Menschen auseinandersetzten. Im Kontext der Gebildeten allerdings rief diese Breite, die schließlich kaum mehr einem systematischen Zugriff eignete, ein Bedürfnis nach Spezifizierung in bestimmtere Disziplinen wach. So mag es kein Zufall sein, dass die Anthropologie wie die Ästhetik und sogar die Biologie sich auch dem von den »Bestimmungsdebatten« beherrschten zeitgenössischen Diskurs verdankten, aber doch rasch von ihm abkoppelten. Insgesamt steht die Formel »Bestimmung des Menschen« zunehmend für ein festes, an die Anthropologie ebenso wie die Theologie angelehntes Untersuchungsfeld: »die Festlegung des Lebensziels eines Menschen ausgehend von der menschlichen Natur insgesamt« (Jannidis 2002, 87).

Spaldings ›Bestimmung des Menschen‹ Um die Diskussion zwischen Mendelssohn und Abbt über die Bestimmung des Menschen angemessen zu erfassen, ist ein kurzer Blick auf die Diskussionsgrundlage, also Spaldings Schrift, unerlässlich.99 Das leibnizianische Vervollkommnungsmodell wird hier mit einer an der Idee des altruistischen Grundtriebs und der damit verbundenen Glückseligkeitslehre von Hutcheson und Shaftesbury kombiniert100 – 99

Als Zitiervorlage dient die Kritische Ausgabe von Albrecht Beutel 2006. Siehe darüber hinaus die Zusammenfassungen von Hinske 1994, 138 f. und Altmann 1982, 99 f. Zur näherer Einordnung in den historischen Kontext und die möglichen, auch für Mendelssohn bestimmenden Einflüsse vgl. Altmann 1973, 132, der das Werk als Widerspiegelung des Leibniz-Wolffschen Gedankenguts interpretiert. Dagegen bspw. Giorgio Tonellis Rezension von Altmann, in: International Studies in Philosophy 6 (1974), 222 f. und Joseph Schollmeier: Johann Joachim Spalding. Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung. Gütersloh 1967, 16 ff., die den Einfluss der britischen Philosophie, insbes. Shaftesburys betonen. So auch Adler 1994, 126 und 128 f., der darauf hinweist, dass die Methode der meditativen Selbstversenkung und der Selbstevidenz vernünftiger Überlegungen bei Spalding eine Rezeption des common sense darstellt; Hutcheson, Hume, Shaftesbury werden von Sauder 1981, 153 und M. Heinz 1992, 264 (diese betont, dass Spalding selbst auch auf den an Leibniz angelehnten Vollkommenheitsgedanken zurückgreift) ebenfalls als Quellen dieser Ansicht hervorgehoben. Spalding kannte Shaftesbury nachweislich und betrieb dessen Übersetzung (Eibl 1996, 139, Beutel 2006, XXVIII). Riedel 1985, 167 bezeichnet wiederum das Werk als aufruhend auf eine »Metaphysik säkularer, genauer leibnizianischer Herkunft«. Schwaiger 1999, 8 ff. schließlich gesteht beiden Denkern, Leibniz und Shaftesbury, ihren Anteil an der »geistigen Erweckung« Spaldings zu. 100 Vgl. Altmann 1982, 99, Riedel 1985, 166–73 und M. Heinz 1992, 264.

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Denkrichtungen, die auch in Mendelssohns Werk eine bedeutende Rolle spielen. Die Differenz zu Mendelssohn liegt in der Auffassung von der Rolle der Religion. Ausdrücklich wollte Spalding zwar ein Werk der vernünftigen Selbstversenkung und keine theologische Abhandlung geschrieben haben. Er bleibt aber als Neologe dem Christentum stark verbunden. Sein Abweis einer reinen Vernunftreligion ist bei der Interpretation seiner Aussagen also immer zu bedenken. Durch methodische Selbstbeobachtung und meditative Versenkung sucht Spalding in seiner Schrift den Weg von der Natur des Ich zu seiner »Bestimmung« über die Wahrnehmung eines Bestrebens, das sich inhaltlich verschieden füllen lässt und mit unterschiedlichen Graden der Befriedigung erlebt wird. Ausgehend vom sinnlichen Vergnügen, das sich jedoch – auf Dauer betrachtet – als schal herausstellt (vgl. Spalding 7/1763, 10 ff.), bewegt er sich über die Betrachtung der »Vergnügungen des Geistes« (ebd., 12–17) und des Handelns für die menschliche Gattung (»Tugend«, ebd., 17–31) schließlich zu dem, was auch diese zu transzendieren vermag und ihnen einen »höheren« Sinn gibt: zur Erkenntnis Gottes (»Religion«, »Unsterblichkeit«, ebd. 32–56). Der Weg über eine ›vernünftige‹ Beobachtung, das Sich-leiten-Lassen von einem ›gesunden Menschenverstand‹ lag dabei durchaus im Geist der Zeit.101 Die innere Wahrnehmung der Fähigkeit, Ordnung zu empfinden und sie zu begründen (vgl. Spalding 7/1763, 12) ist dabei die entscheidende, von einem vernünftigen, aber dennoch unbefriedigenden Sinnengenuss hinausführende Beobachtung, denn sie zeigt, dass der Mensch auf die Erkenntnis der Vollkommenheit angelegt ist. Der sich Beobachtende entdeckt außerdem, dass er nicht nur sich selbst zu fühlen imstande ist, sondern ebenfalls ein grundlegendes Gefühl für den »Anderen« in sich verspürt, das, so Spalding in Anlehnung an die schottische Moralphilosophie, nicht egoistischer Herkunft scheint (Spalding 7/1763, 18 ff., 23). Erst der Bezug auf die Vervollkommnung Anderer weist dem forschenden Ich den Weg zu den »Regeln des Rechts und der moralischen Ordnung« (Spalding 7/1763, 36) als den Gesetzen der »Schönheit, Uebereinstimmung und Vollkommenheit in den Gesinnungen und Handlungen freyer verständiger Wesen« (Spalding 7/1763, 19 f.).102 Durch das Erreichen des Ziels, die eigene Natur und die Ordnung der Welt zu verstehen, sei diesem Bestreben als einer fortdauernden Liebe nach »Wahrheit« und »Güte« kein 101 Vgl. Jannidis 2004, 8: Spaldings Weg der Introspektion trifft mit der Konjunktur derjenigen anthropologischen Denkmodelle zusammen, die den Weg zur Erkenntnis des Menschen über die beobachtbaren Phänomene gehen. 102 In der neunten Auflage von 1768 hat Spalding diesen Passus stark erweitert (vgl. Spalding 9/1768, 19–29). Eventuell hat ihn die Bestimmungsdebatte zwischen Abbt und Mendelssohn zu dieser Modifikation animiert. Die Betonung der Bestimmung zur »theilnehmenden Geselligkeit« nimmt dabei Bezug auf die Überlegungen Abbts, siehe JubA VI/1, 14; ebenso wendet er sich gegen Abbts Polemik, doch in die Wälder zurückzukehren (vgl. Spalding 9/1768, 24 f.); vgl. dazu Kap. II.2.

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Ende gesetzt. Aus dieser dem Streben nach Erkenntnis innewohnenden Tendenz zur Unendlichkeit erkennt das meditierende Ich, dass es für eine höhere Welt, für die »Ewigkeit« gemacht ist: »Ich spüre Fähigkeiten in mir, die eines Wachsthums ins Unendliche fähig sind.« (Spalding 7/1763, 46 f.) Das bloße Wissen um diese Aufgehobenheit in Gott wirkt ebenfalls als Beruhigung, dass letztlich die eigene menschliche Glückseligkeit auch angesichts widriger Umstände nicht restlos zerstört werden kann. Die Gottesbetrachtung wiederum weist die Bestimmung und das Sein des Menschen auf, denn sie zeigt ihm, dass er eben dieser Gottesbetrachtung und Sinnsuche fähig ist; der Gegenstand der Betrachtung allein adelt diese als höchste Form menschlicher Tätigkeit. Er ist zwar nur ein Bewohner eines kleinen Planeten im »Sonnenwirbel«, bzw. eines Punkts im »Sandkorn« (vgl. Spalding 7/1763, 37), aber: »das macht mich noch zu etwas, daß ich die Ordnung empfinden, und in derselben bis zu dem Anfange aller Ordnung hinaufsteigen kann.« (ebd.) Doch nicht nur dies; versichert ihn die Gotteserkenntnis auch allererst der Gültigkeit und Sinnhaftigkeit der Moral. Wenn es eine Ordnung gibt, so gleicht Gott erlittenes Unrecht wieder aus (vgl. Spalding 7/1763, 42–45).103 Diese Kompensationstheorie göttlicher Vorsehung (im Gewand einer Theodizee) war ein Stein des Anstoßes der Bestimmungsdebatte zwischen Mendelssohn und Abbt. Spalding versucht also, in der Bestimmung des Menschen die zwei Säulen des göttlichen Trosts für den unvollkommenen, aber suchend strebenden Menschen zu beweisen: a) Zum einen zeigt die prinzipielle Entwicklungsfähigkeit des Menschen nicht Armut, sondern ein Versprechen. Die Bedürftigkeit des Menschen ist zugleich ein Hinweis auf die Erfüllung dieser Bedürftigkeit – wenn es einen gütigen Gott gibt. Spalding setzt dies für seine Argumentation bereits voraus und zeigt lediglich, dass die prinzipielle Offenheit menschlicher Entwicklung den Absichten dieses Gottes gemäß ist. Nicht zu unrecht hat schon Goeze Spaldings Argumentation eines logischen Fehlers bezichtigt: er schließe vom Möglichen aufs Wirkliche, wenn er die Möglichkeit der unendlichen Vervollkommnung als Beweis für die Wirklichkeit der Unsterblichkeit – und damit die Erfüllung der Vervollkommnung – verstehe (so Goeze 1748, 9, nach Beutel 2006, XXXIX). Hinzu tritt in der Argumentation Spaldings das Postulat der Einheit der Seele, das den Menschen nicht nur zum unhintergehbaren Zentrum seiner Wahrnehmungen, Urteile und Bestrebungen macht, sondern auch darauf hinweist, dass dieses Zentrum den Strom der Zeit überdauern wird. Der Tod wird damit einer Veränderung auf

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Lorenz 1997, 199 weist darauf hin, dass in dieser Lehre der »Bruch mit der ›sola-gratia‹Lehre des Altprotestantistmus« vollzogen wird.

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der phänomenalen Ebene gleich gestellt und verliert den Charakter einer absoluten Schranke104. b) Zum anderen wird die mit dieser Offenheit einhergehende Gefahr eines Fehlgehens, der Sünde oder des physischen Unglücks mit dem Verweis auf die Erfüllung menschlicher Unvollkommenheit im Jenseits und dem Verweis auf die Bestrafung irdischen Fehlens und der Belohnung irdischen Wohlverhaltens neutralisiert; wie erwähnt vertritt Spalding in Hinblick auf die Theodizee-Problematik eine Kompensationstheorie, in der Diesseits und Jenseits gegeneinander wägbar gedacht werden und die auch, darauf wird Abbts Kritik zielen, den Vergeltungsgedanken nicht unberührt lässt (vgl. Spalding 7/1763, 45). Alle Beruhigung, die Spalding aus diesen Tröstungen gewinnt, ist durchaus in Zweifel zu ziehen. Da wir Gott und das wahrhaft gute Leben erkennen können, so Spalding, dürften wir davon ausgehen, dass diese erkannte vernünftige Weltordnung wahr sei und jede Durchbrechung dieser Ordnung diese Voraussetzung nicht vernichte, sondern bestätige. Unglück kann letztlich nur eine Prüfung sein (vgl. Spalding 7/1763, 46). Solche Prüfungen wiederum machen nur Sinn, wenn es tatsächlich einen Gott gibt, der das Wohlverhalten lobt und Vergehen straft. Und diese Ausgleichstheorie wiederum ist nur sinnvoll, wenn von einem Weiterleben der Seele nach dem Tode, von einer fortdauernden Vervollkommnung ausgegangen wird. So greifen die Perfektibilitätstheorie und die Ausgleichstheorie, beide »Tröstungen«, ineinander: Die Einrichtung der Welt wäre vergeblich und damit ebenfalls sinnlos, wenn sie nicht diese Instanz der Vervollkommnungsgelegenheit und Prüfung wäre, und die Vernichtung der Seele mit dem Tod würde die bis dahin erfolgte Übung der Seelenkräfte ad absurdum führen. Spalding schließt sich hier nicht einer Vernunftreligion leibnizianischer Provenienz an, obwohl er das Handeln Gottes als »nach den strengsten Regeln und nach den edelsten Absichten« eingerichtet beschreibt (Spalding 7/1763, 47), die auf die leibnizianische Gottesvorstellungen hinweisen. Dennoch weist er der vernünftigen Erkenntnis Gottes nicht denselben Stellenwert zu wie dem Offenbarungsglauben (vgl. Spalding 7/1763, 60, 66 f.). Er setzt damit den letztgültigen Beweis seiner Hoffnungen auf die göttliche Offenbarung. Noch einmal betont er dies in einem ersten Anhang, der als Antwort auf die Streitschrift Goezes in der dritten Auflage von 1749 erscheint105, sowie in seinen Ausführungen zur »Religion« im dritten Abschnitt: die Seele soll auf die göttliche Offenbarung »aufmerksam […] seyn« (Spalding 7/1763, 104

Der Begriff der »Schranke« wird hier anachronistisch verwendet; ich orientiere mich dabei an Kants Definition der Schranke in den Prolegomena (1783) als »bloße Negation« und damit dasjenige, was nicht mehr Bestandteil des Gegenstands ist; im Gegensatz dazu kennzeichnet die Grenze die äußersten Punkte einer Sache, gehört aber noch als positives Element zu dieser (z. B. die den Kreis bezeichnende Linie); siehe AA IV, 354. 105 Vgl. Beutel 2006, XLVI, Spalding 1749, Anhang 1, 202.

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38) und sich der Gottesbetrachtung hingeben. Jeder andere Weg führt »in Irrgänge voll Dunkelheit und Schrecken« (Spalding 7/1763, 46). Darüber hinaus hat Spalding selbst festgehalten, dass die vorgebrachten Beweise auch falsch sein könnten (Spalding 1748, 24 f.), und er würde sie dennoch glauben wollen, denn »es ist mir zuviel daran gelegen, daß sie wahr sey[en].« In der Version von 1763 ist der besagte Passus nicht mehr aufgenommen (vgl. Spalding 7/1763, 55); allerdings ist nach wie vor von der »alles versüßenden Vorstellung« (ebd., 56) göttlicher Offenbarung die Rede, die den Zweifelnden mit der Gewissheit des Todes versöhnt. Beutel bezeichnet dies als eine »regulative Idee« von »transzendentalphilosophischer Relevanz« (Beutel 2006, XXXIV und XLII): Spalding verlange keine streng theologischen oder philosophischen Beweise, sondern will sich auf die menschliche »Selbstvergewisserungsfähigkeit« verlassen. Einer theologischen, vorkritischen Position jedoch den Kern der Transzendentalphilosophie zuzuschreiben, mutet im gegebenen Zusammenhang mindestens waghalsig an. Es liegt weitaus näher zu vermuten, dass Spalding mithilfe der Einsichten des common sense die theologische Lehre unterstützen wollte, worauf auch die Argumentation im ersten Anhang der dritten Auflage, der auch in der siebten Auflage enthalten ist (vgl. Spalding 7/1763, 57–68), schließen lässt. Gegen diesen Vorstoß werden sich Abbt und auch Herder zur Wehr setzen, während Mendelssohn versucht, auf dieser philosophisch letztlich doch recht schwachen Vorlage, verbunden mit eigenen Ideen, eine Philosophie für den Menschen, die sein Handeln und seine Existenz in der Welt erträglich und erklärbar machen, zu entwickeln. Beide Parteien sind sich jedoch darüber einig, dass die Bestimmung des Menschen keinesfalls in eine körperfeindliche Wendung jenseitiger Verklärung führen darf, sondern die Bedürfnisse des hiesigen Lebens ernst nehmen muss. In diesem Sinne gehen sie über Spalding hinaus, der zwar von einander einschließenden Stufen der Vervollkommnung spricht, aber dessen Modell keinen Raum für eine vernünftig begründbare ›jenseitige Sinnlichkeit‹ lässt. Jannidis fasst den bereits vollzogenen Prozess, der in der vorliegenden Arbeit nicht vorauszusetzen, sondern zu erklären ist, wie folgt zusammen: »Die Formel von der Bestimmung des Menschen in einem Buchtitel ist spätestens um 1800 so konventionalisiert, daß sich die vom Leser geforderten Erwartungen beschreiben lassen: Es handelt sich prototypischerweise um einen Text für ein gebildetes Publikum von Selbstdenkern. Aufgerufen wird ein Themenfeld, nämlich die Festlegung des Lebensziels eines Menschen ausgehend von der Kenntnis der menschlichen Natur insgesamt. Daraus lassen sich moralische, pädagogische, erbauliche Überlegungen ableiten. Diese Sinnstiftung ist mit einer Aura von besonderer Relevanz und Wichtigkeit umgeben. Fünf Aspekte werden durch den Titel aufgerufen: die Natur des Menschen; der Fortschritt der Kultur; Mensch und Gesellschaft; Unsterblichkeit und

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das Lebensziel des Menschen: Glückseligkeit, Tugend, Humanität oder Bildung und Individualität.« (Ders. 2002, 87) Die Bedeutungsvielfalt wurde durchaus nicht mit Spaldings Schrift allein gewonnen, sondern erforderte u. a. die Überlegungen Abbts und die daran anschließenden Ausführungen Mendelssohns als »Väter« dieser umfassenden Form einer »Anthropologie«.

I. Mendelssohn und Abbt im Dialog »Ich habe dieses halbe Jahr wieder über Ontologie und Cosmologie gelesen. Der Himmel aber weis, daß ich von den drey begriffen Substantia, Substantiale, und Vis, worauf doch endlich alles herauskömmt, wenig erbauet bin. Denn was weis ich endlich, wenn ich mir die Kraft als den Grund von der inhaerentia eines accidentis vorstelle, und diese rationem wieder als das ex quo aliquid cognosci potest. Kein Mensch begreift, wo diese Kraft sitze, und ob sie zum composito, oder simplici gehöre, und am Ende wissen wir also doch nicht, was Materie, oder Geist sey.« Thomas Abbt an Mendelssohn, 6. März 1765, JubA XII/1, 78 f. 106 »[…] so wählen Sie die Philosophie des Menschen. The proper study of mankind is man.« Mendelssohn an Abbt, 9. Februar 1764, JubA XII/1, 35

Die Diskussion zwischen Mendelssohn und Abbt, angestoßen von Abbts Versuch einer Rezension der 1763 erschienenen siebten Auflage von Spaldings Schrift107, kann als ein Paradefall der zeitgenössischen Suche nach der Bestimmung des Menschen gelesen werden. Sie wurde zwischen 1764 und 1782 allein vier Mal veröffentlicht108

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Mendelssohn antwortet darauf nur kurz und äußert sein Beileid, dass dieser sich mit solchem »metaphysische[n] Gewäsche« abgeben müsse (Brief vom 26. März 1765, JubA XII/1, 88). Eine wirkliche Auseinandersetzung mit »Kraft und Substanz« verschiebt er allerdings – bis 1782, Anm. z), JubA VI/1, 60; siehe hier Kap. III, 1, 281 und Schluss, S. 576. 107 Jedoch lag dazu bereits im 277. Litteraturbrief eine Rezension Resewitz’ vor (18. Stück, vom 29. März und 5. April 1764, 3–24; vgl. JubA VI/1, XV). Bödeker 1981, 229 hat diese Rezension irrtümlicherweise Abbt selbst zugewiesen. Dies ist m. E. aus einigen Gründen unwahrscheinlich. Zum einen weist das Kürzel am Ende des Textes auf Resewitz als Autor hin (vgl. andere ihm zugesprochene Rezensionen unter http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/brieneulit/index. htm; dort ist der Artikel ebenfalls Abbt zugeordnet). Darüber hinaus lässt sich inhaltlich jedoch zum einen argumentieren, dass Abbt nicht seinen Zweifel hätte schreiben müssen, wenn er die Rezension hätte veröffentlichen dürfen, oder dass er zumindest in dieser Rezension Gedanken des Zweifels ebenfalls geäußert hätte. Zum anderen, wichtiger noch, ist der Rezensent im 277. LB, anders als Abbt, mit Spaldings Ausführungen in weiten Teilen zufrieden. Insbesondere die von diesem entdeckte »Wahrheit«, »daß der Tugendhafte nach diesem Leben eine glückliche Ewigkeit geniessen wird« (Beschluss vom 5. April 1764, 19) weist eindeutig in eine andere als die von Abbts Zweifel eingeschlagene Richtung. 108 Zuerst erschienen im 287. Litteraturbrief vom 21. und 28. Juni, 5. und 12. Juli 1764; 1767 zusammen mit dem Phädon (»Vermehret mit den Zweifeln und dem Orakel, über die Bestimmung des Menschen«). 1771 wird der Briefwechsel plus Zweifel/Orakel im dritten Band von Abbts Vermischten Werken von Nicolai publiziert; 1782 erscheinen Mendelssohns Anmerkungen in einer Neuauflage von Abbts freundschaftlicher Correspondenz. Die einschlägigen Materialien gesammelt und angeordnet hat Oscar Fambach: Der Aufstieg der Klassik in der Kritik der Zeit. […] Berlin 1959, 120–61 (=Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik 1750–1850. Ein Lesebuch und Studienwerk

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und stieß auf ein vornehmlich positives Echo. Wie im vorangegangenen Teilkapitel gezeigt wurde, ließe sich auch die aufkommende Mode der Bestimmungsbücher auf diese populäre Fortsetzung der Spalding’schen Schrift zurückführen. Doch auch für Mendelssohns Werk ist die Debatte von großer Bedeutung, wird hier doch zum ersten Mal explizit die menschliche Bestimmung thematisiert. Sie zeigt die im vorangegangenen Teilkapitel untersuchte Vieldeutigkeit, die Mendelssohn erst in den 1782 erschienenen Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz spezifiziert. Dort benennt er in Anmerkung k) zwei Seiten des Ausdrucks »Bestimmung des Menschen«, indem er zum einen nach dessen Wesen, zum anderen nach seinem Zweck fragt (vgl. JubA VI/1, 35), also zwischen Determination, einer Definition des Menschen, und der Destination, der Zweckbestimmung, unterscheidet. Fraglich ist, auch in der Debatte zwischen Mendelssohn und Abbt, wie sich die beiden Bereiche zueinander verhalten. Lässt sich aus der (deskriptiven) Untersuchung menschlicher Natur auf eine (auch präskriptive) Festsetzung seines Daseinszwecks schlussfolgern? Geht ein menschlicher Zweck überhaupt über sein irdisches, und damit empirisch wahrnehmbares und bestimmbares Leben hinaus, oder muss er in ihm gesucht werden? Vor der Hand bietet Mendelssohn lediglich eine differenziertere Verwendung des Vokabulars: »Die Zweydeutigkeit im Deutschen zu vermeiden, mag Bestimmung für determination bleiben, destination aber gebe man durch Beruf, Wiedmung [wieder].«109 (JubA VI/1, 35) In seinen eigenen Arbeiten zur menschlichen Bestimmung unterläuft er die eigene Differenzierung, indem er wiederholt von Bestimmung spricht, wenn er »Wiedmung« meint (vgl. Anmerkung r), JubA VI/1, 43–48, v. a. 47). Dies verkompliziert zwar die Interpretation, sollte aber zur Vermeidung von voreiligen Schlüssen auf Mendelssohns angeblichen Dogmatismus110 in der Bestimmungsfrage vorerst als eine Ungenauigkeit der Ausdrucksweise berücksichtigt werden. Darüber hinaus weist dieser ›Rückfall‹ im Gebrauch des Begriffs »Bestimmung« im Sinne von Zweck und nicht Definition auf die enge Verflechtung beider Gebiete hin. Gerade in Bezug auf Mendelssohn ist zu bemerken, dass er mit der »Bestimmung/Wiedmung« eine Fülle von Themengebieten zu integrieren und

Bd. 3). Allerdings geraten bei seiner Anordnung die Zeitebenen durcheinander, so dass die erst 1782 erschienenen Anmerkungen wie zeitnahe Zusätze wirken. In der vorliegenden Arbeit wird auf den Abdruck in der Jubiläumsausgabe zurückgegriffen. 109 Diese Aufteilung hielt sich, in unterschiedlichen inhaltlichen Ausprägungen, bis ins 19. Jahrhundert, vgl. Vollhardt 1994, 113 f., der auf Christoph Meiners Allgemeine kritische Geschichte der ältern und neuern Ethik oder Lebenswissenschaft […]. Erster Theil. Göttingen 1800, 270 hinweist: »Die Lebenswissenschaft besteht […] aus zwey Hauptstücken: aus Untersuchungen über die menschliche Natur, oder das, was der Mensch ist; und dann aus Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen, und die Mittel, diese Bestimmung zu erreichen: oder aus Betrachtungen über das, was der Mensch werden soll, und wie er es werden kann.« 110 So Lorenz 1997, 195; hierauf wird im Fazit näher eingegangen.

I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog

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in ein sinnvolles und sinngebendes Ganzes einzubetten versucht, was wiederum die Verortung spezifischer Theoreme erschwert. Der Stellenwert dieser Debatte liegt nicht darin, dass in ihr tatsächlich Fragen beantwortet würden, sondern dass anhand der in ihr aufgeworfenen Diskussionsbereiche das Feld, das Mendelssohn für eine tatsächlich befriedigende Lösung zu bearbeiten hatte, aufgezeigt wird. Die Analyse wird also keine Antworten, sondern präzisere Fragestellungen angeben und das Untersuchungsgebiet konturieren. Es wird sich zeigen, dass gerade in den Bereichen, in denen Mendelssohns Reaktionen auf Abbts Anstöße unzureichend scheinen, andere Schriften einen elaborierteren Lösungsvorschlag bieten. Auch dies impliziert nicht, dass Mendelssohn im Gesamtwerk zu einer eindeutigen und befriedigenden Lösung kommt. Jedoch war er sich der Problematik einiger Theoreme weitaus mehr bewusst, als seine nahezu dogmatische Einstellung in der Bestimmungsdebatte vermuten lässt. Dass der veröffentlichte Teil der Debatte zwischen den beiden Freunden auch von Zeitgenossen geschätzt wurde und auf sie Einfluss hatte, zeigt neben den in Kap. I.1 angegebenen Rezeptionslinien u. a. eine Bemerkung Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs in der zweiten Sammlung seiner Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur von 1766 (S. 99 f.): »Ich empfehle Ihnen vor allem die Zweifel nebst dem Orakel über die Bestimmung des Menschen, die nicht nur das schönste Stück in den Berlinischen Briefen [die neueste Litteratur betreffend, A.P.], sondern eine der feinsten Compositionen sind, die ich je bey einem Alten oder Neuern gefunden.«111 111 Zit. nach Lorenz 1997, 195. Dazu auch Zammito 2002, 167: Die Veröffentlichung der Debatte »was received immediately and has been regarded historically as one of the most significant moments in the intellectual debate of the German Aufklärung.« So auch in einem Brief Iselins vom 13. Brachmonat [Juni] 1764: »Darf ich Sie fragen wer der Verfaßer der in den Litteraturbriefen von Schinznach angegebenen Stücke über Hn Spaldings Bestimmung des Menschen ist. Ich habe dieselben mit einem wahren Vergnügen gelesen – obgleich unsere Freunde von Zürich etwas böse darüber geworden sind.« (Frison 1976, 262) Im folgenden Brief vom 8. August 1765 vermeldet Iselin seine Werbetätigkeit: »Das nächste mal da ich etwas an des Prinzen Ludwigs D[urch]l[aucht] schicken werde: sollen auch die Zweifel über die Bestimmung des Menschen mitgehen. Ich rechne es Schinznach zur Ehre daß dieser Ort disen zwey vortrefflichen Stücken vorgesetzet ist.« (Frison 1976, 263) Die Angabe im Titelblatt »Gedruckt zu Schinznach, 1763« ist allerdings bloße Fiktion (vgl. Altmann, JubA VI/1, XV), das aber nicht ganz der Anspielung entbehrte: dort hielt die aufklärerisch-politische Helvetische Gesellschaft ihre Jahrestreffen ab, in denen sie ihre Überlegungen zur aufgeklärten Umbildung der Gesellschaft innerhalb des bestehenden Systems formulierte. Die Bestimmungsdebatte erhält dadurch die Aura einer Befreiungs- und Aufklärungsschrift im konservativen Sinne, was anscheinend durchaus nicht nur mit Begeisterung aufgenommen wurde. Es ist, dies sei nur am Rande erwähnt, interessant, welche Namen Nicolai für die Verfasser in der vorangeschobenen »Nachricht« in den Litteraturbriefen wählt. Der Vorschlag stammte von Mendelssohn selbst; siehe dessen Brief an Abbt vom 9. Februar 1764, JubA XII/1, 32 f. Abbt nennt sich daraufhin in seiner Antwort »Aristipp«; vgl. dessen Schreiben vom 20. Februar 1764, JubA XII/1, 37, was allerdings nicht in die Druckfassung übernommen wird. Vielmehr heißt Abbt dort

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Jedoch entstand diese »feine Composition« aus Abneigung. Zu ihren Anstößen gehörte nicht allein die Kritik an Spalding, sondern auch die Auseinandersetzung mit der damals gärenden Theodizee-Problematik, sowie den neuen Ansätzen in der Debatte um Nationalidentität112 und Geschichtsphilosophie. In einem Schreiben vom 2. November 1762 hatte Mendelssohn Abbt auf David Humes Geschichte von England hingewiesen und an ihr die angemessene Behandlung des Stoffs gelobt, da Hume nämlich »beydes die gute und schlechte Seite seiner Charaktere, die vorher bestimmlichen und zufälligen Ursachen einer jeden Begebenheit [behandelt], und […] jene so vermischt, und diese so in einander verflochten vor[stellet], wie sie in der Natur zu seyn pflegen.« (JubA XI, 357 f.) Abbts Antwort darauf in einem Brief vom 10. November 1762 ist abweisend: »[…] ich fange an die Historie zu hassen. Was für eine Erde? Was sollen wir zur Bestimmung des Menschen sagen?[113] Ich glaube immer, daß wir, nach meinem Begriffe, nichts davon wissen […].« (JubA XI, 360). Es wäre besser, so Abbt weiter, sich auf die diesseitige »Tugend« zu konzentrieren. Diese Aussage bekräftigt er in einer Rezension von Johann Süßmilchs Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode, und der Fortpflanzung desselbigen erwiesen (2. Auflage, Berlin 1762), die er in den Litteraturbriefen 245–50 zwischen dem 29. Juli und 19. August 1762 veröffentlichte.114 Dort kritisierte er u. a. Süßmilchs Versuch, auch den Tod von Kindern und Säuglingen durch die göttliche Vorsehung zu rechtfertigen115, wobei sich seine Kritik nicht darauf bezieht, dass der Kindstod mit der göttlichen Vorsehung in Verbindung gebracht wird, sondern vielmehr auf das Problem anspielt, diese Aussage als eine Euphranor, Mendelssohn Theodul – dies mag mehr oder weniger deutlich eine Anspielung auf die Briefe über die Empfindungen sein, in deren zweiter Fassung der vernünftige Engländer Theokles den schon 1755 unter diesem Namen auftretenden, schwärmerischen deutschen Euphranor belehrt. Siehe dazu Kap. II.2 und 3. 112 Siehe dazu v. a. im Hinblick auf die Montesquieu-Rezeption in Deutschland Vazsonyi 1999. Das Zusammenspiel zwischen Universalität (Menschsein) und Partikularität (Angehöriger einer »Nation«, Gruppe, und auch: Individuum zu sein), bezeichnet Vazsonyi (ebd., 229) hier mit Henry Vyverberg: Human Nature, Cultural Diversity, and the French Enlightenment. New York 1989 als »Conundrum« der Aufklärung. Auch die Bestimmungsdebatte ließe sich als an dieser Leitlinie orientiert verstehen. 113 Es liegt nahe, dass beiden zu diesem Zeitpunkt schon eine frühere als die die Debatte anscheinend bestimmende siebte Auflage von Spaldings Schrift vorlag (vgl. Hinske 1994, 141, FN 19). Das Bücherverzeichnis 249/32 nennt lediglich die neunte Auflage von 1774. 114 Zit. nach der elektronischen Version (scan der Originale) unter http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/brieneulit/index.htm. 115 Siehe den 250. Litteraturbrief vom 19. August 1762, 126. Zammito (2002, 168) ist der Auffassung, dass Abbt hier gegen Süßmilchs Apologetik göttlicher Ordnung das »Chaos« und die schreiende »Ungerechtigkeit« der Welt beklage. Jedoch ist dessen Sichtweise in der Rezension so streng nicht. Vielmehr spricht er von der Möglichkeit, Gott in Demut angesichts noch verbleibender Ordnung anzubeten (ebd., 127 f.). Was er bezweifelt, ist die menschliche Fähigkeit, das »Warum« (ebd., 128) dieser Ordnung einzusehen.

I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog

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befriedigende Antwort auf die Frage menschlicher Bestimmung zu werten. Ähnlich wie später im Zweifel formuliert er es auch hier: die Absichten Gottes hinsichtlich des Sterbens von Kindern sind uns vollkommen undurchsichtig. Doch: »Selbst die Offenbarung lehrt uns nicht unsre eigentliche Bestimmung. Sie zeigt uns Mittel zu unsrer Vollkommenheit. Aber die Bestimmung des Menschen heißt nicht seine Vollkommenheit überhaupt, sondern das Quantum, welches er zur Vollkommenheit des Ganzen beytragen soll, woraus sich auch seine Würde bestimmen läßt, so fern er seinen Beytrag seiner Freyheit gemäß entrichtet.« (250. LB, 126) Eine exakte Bestimmung dieses Quantums hält Abbt in seiner Rezension für unmöglich, ja, für Hybris angesichts einer Fragestellung, »über welche sogar Seraphim ein tiefes Schweigen beobachten« (ebd., 127). Die menschliche Vernunft könne den kleinen Bestandteil, den das menschliche Leben – oder gar: ein menschliches Leben – im Verhältnis zum Ganzen ausmacht, nicht erkennen. Bisweilen sei es zwar möglich, die Erscheinungen von Veränderungen nachzuvollziehen; niemals jedoch könnten die Menschen zureichende Gründe dafür vollständig angeben (vgl. ebd., 128). Dies bedeutet Abbt zufolge nicht, dass der Mensch jeglicher Hoffnung, die göttlichen Gebote zu erfüllen, entsagen müsste – denn in praktischer Hinsicht sieht er »genug«, um seine Handlungen seiner Bestimmung gemäß einzurichten. Dennoch ist die Frage nach dem genauen Quantum ein Stachel im Fleisch der Aufklärung, der immer wieder zu Untersuchungen in diese Richtung anhält. Die Bestimmungsdebatte gehört eindeutig in dieses Umfeld und Abbt ist es auch, der den Streit immer wieder in diese Richtung drängt. In der Rezension Süßmilchs präsentiert er lediglich eine grobe Idee seiner Fragestellung. Letztlich bedeutet die dort festgestellte Unmöglichkeit der Festsetzung einer menschlichen Bestimmung, dass die Metaphysik an ihr Ende gelangt sei, noch bevor sie die Grundsätze, die allen Menschen am wichtigsten sein müssten, entdecken könne. Gerade bei der Antwort auf die Frage, wozu der Einzelne da sei, müsse sie sich zurückziehen und der allein praktisch relevanten, aber nur intuitiv erkannten Tat das Feld überlassen.116 Folgerichtig wendet sich Abbt der praktischen Philosophie zu: »Man mag dieses Jahrhundert im Scherze oder im Ernste das philosophische nennen: so viel bleibt immer gewiß, daß, wenn wir auch in spekulativen Materien noch nicht soweit sind, als wir wünschen, und doch immer weiter, als Ausländer wissen, die nur lesen und nicht lernen wollen: daß nichts destoweniger die politische Philosophie so grossen Fortgang unter uns zu gewinnen scheint, als sie nicht leicht vorher gehabt hat.« (Beschluss des 245. LB, 67) Er scheint hier v. a. auf die erstarkende Debatte um 116

Nicht umsonst behandeln Abbts Hauptwerke, Von dem Tode für das Vaterland (1761, 2. Aufl. 1770) und Vom Verdienste (1765, 2. Aufl. 1766), die Möglichkeiten und Vorteile der Vita activa. Beide Werke »bildeten wesentliche Anstöße eines umfassenden Politisierungsprozesses der Aufklärungsgesellschaft.« (Bödeker 1981, 225)

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Montesquieus L’esprit des lois (1748), v. a. durch deren Aufnahme in Johann Georg Zimmermanns Von dem Nationalstolze (1758) – später zusätzlich durch Friedrich Carl von Mosers Von dem deutschen National-Geist (1765) – anzuspielen. Sein Interesse an einer nicht zuerst politisch, sondern metaphysisch gültigen Bestimmung des Menschen bleibt jedoch erhalten und äußert sich in bestimmtester Form in seinem Zweifel sowie den daran anschließenden Briefen an Mendelssohn.

1. Abbts »Zweifel« Zur Eröffnung der Debatte bietet Abbt eine andere Binnendifferenzierung in der Frage nach der Bestimmung des Menschen, als dies Mendelssohn getan hatte. Sie lässt sich in Anlehnung an Altmann (1982, 101) als subjektive bzw. objektive Perspektive auf die menschliche Bestimmung darstellen. Abbt formuliert dies folgendermaßen: »Die Bestimmung des Menschen! soll dies so viel heissen: wie sich der Mensch zu diesem oder jenem Verhalten, um glücklich zu werden, bestimmen soll? oder soll es heissen: der bestimmte Platz für den Menschen in der Beziehung auf das ganze angeordnete Weltgebäude? Nach der letztern Bedeutung wird die Beantwortung der Frage schwerer. Doch dies schadet nichts: meine Frage ist auch erheblicher […].« (JubA VI/1, 10)117 Anders formuliert kann also die Bestimmung des Menschen entweder als eine Frage des persönlichen Glücks, oder in Bezug auf eine universelle Dimension gedeutet werden. Die metaphysisch und damit, so Abbt, »schwerer« zu beantwortende objektive Dimension der Bestimmungsfrage lautet auch: gibt es überhaupt ein sinnvolles, gottgewolltes Weltganzes? Sie ist deshalb »erheblicher«, da sie die subjektive Dimension und damit die Frage nach dem individuellen Glück mit umfassen soll. In diesem Sinne steht hinter der objektiven Dimension, der Einordnung des Menschen in ein »Weltgebäude«, auch, ob in diesem Ganzen die individuelle Glückseligkeit Raum erhalten und was genau der Einzelne zu dessen Verwirklichung beitragen kann. Zu ihrer Beantwortung sind die von Mendelssohn angegebenen Momente der Konstitution wie Destination zu berücksichtigen, oder, mehr noch, stehen die Momente menschlichen Seins und menschlicher Zweckhaftigkeit in einem spezifischen Abhängigkeitsverhältnis. Dieses ist in Bezug auf Abbts Zweifel, die Bestimmung des Menschen betreffend herauszuarbeiten. Es wird sich zeigen, dass Mendelssohn und

117

Vgl. damit Abbts Brief an Mendelssohn vom 20. Februar 1764 (also vor der Debatte, wie sie in den Litteraturbriefen veröffentlicht wurde), JubA XII/1, 38, Punkte 1 und 2 sowie bzgl. einer ähnlich gelagerten Unterscheidung, die in Bezug auf die subjektive Perspektive die Notwendigkeit der Berücksichtigung des gesellschaftlichen Wesens des Menschen festhält den LB 179: 30. Juli 1761, 20.

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Abbt in Hinsicht auf dieses Verhältnis unterschiedliche Gewichtungen vornehmen, was entscheidenden Einfluss auf ihre Bewertung von Spaldings Schrift bzw. der Beantwortbarkeit der Frage menschlicher Bestimmung hat. Obwohl Abbt dabei der objektiven Dimension größeres Gewicht zugesprochen hatte, wird er vielmehr Gründe dafür angeben, weshalb sich auch die Philosophie mit der subjektiven Dimension begnügen sollte. Getragen wird Abbts Zweifel von einer durchweg skeptischen Distanz gegenüber den Verteidigern des sogenannten »Optimismus«, denjenigen Philosophen (und Theologen) also, die eine Erklärung aller weltlichen Übel durch einen Verweis auf die letztlich guten göttlichen Absichten zu leisten versuchten. Die Gründe zur Erklärung empirisch nachweisbarer Übel wurden dabei der traditionellen Metaphysik oder auch der Offenbarung entlehnt, während die Gegner dieser Ansicht darauf verwiesen, dass die Besinnung auf umfassende rationale Strukturen dem Leid des Individuums Hohn sprächen. Im Spannungsfeld der Diskussion steht also der Widerstreit zwischen individueller, empirischer Erfahrung und universeller, rationaler Überlegung, die jeweils um ein tragfähiges Konzept des Menschen und seiner Stellung in der Welt ringen. Im erwähnten Brief an Mendelssohn vom 10. November 1762 zeigt Abbt, welcher Seite des Streits er zuzuordnen ist. Die Betrachtung der Historie zumindest habe ihm hinlänglich gezeigt, dass es keinen Zweck hat, sich auf die Überzeugung göttlicher Fügung in menschlichen Schicksalen zu verlassen; allzu leicht lasse sich dieser Gedanke durch das faktische historische Geschehen widerlegen. Sein jetziger Vorstoß im Zweifel richtet sich darüber hinaus gegen Spaldings Schlussfolgerung in dessen Bestimmung des Menschen: dass letztlich die jenseitige – und erwartbare – Glückseligkeit den Menschen schon im Diesseits trösten solle. Wie es Adler (1994, 129) polemisch ausdrückt, bietet dies für Abbt allein »Trost durch Vertröstung«. Gegen diese Spalding’schen Tröstungen wendet er sich vehement.

a) erster Trost: menschliche Offenheit Abbt gibt seiner Kritik ein allgemeines Gesicht, indem er zu Beginn des Textes in Form einer Parabel die optimistische Grundstimmung von Spaldings Werk unterminiert und zugleich Grundlinien seiner eigenen Ansicht vorgibt. Mit der Parabel reagiert er auf Spaldings »ersten Trost«. Dieser hatte auf den dynamischen Charakter menschlicher Vervollkommnung hingewiesen, die sich schon im Diesseits abzeichne und, bei »vernünftiger« Betrachtung, dem Menschen die Zweckhaftigkeit irdischen Daseins offenbare. Abbt hält dagegen, dass die Offenheit der Entwicklungsfähigkeit nicht prinzipiell ihre Erfüllung im Jenseits in sich enthielte; noch, dass dies rational erkennbar sei. Zwar ist es vorstellbar, dass alles einen Sinn und eine Fortsetzung im

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Jenseits findet und sich damit letztlich zum Guten und Passenden fügt. Aber der Mensch weiß dies nicht und sollte sich dementsprechend nicht auf die Wahrheit dieser Hoffnung verlassen. Leben ließe sich vielmehr als eine Aufgabe verstehen, das Abwesende oder Unerkennbare nicht mehr zu befragen und es stattdessen mit einem diesseitig orientierten Sinn zu füllen. Diese Aufgabe soll nun aber nicht die Religion, sondern die (praktisch verstandene) Philosophie lösen.118 Auf Abbts Antwort auf Spaldings »zweiten Trost«, die Kompensationstheorie, wird in Abschnitt b) näher eingegangen. Die Parabel, die Grundlage des ersten Aspekts seiner Kritik, entnimmt Abbt vorgeblich einer »Beschreibung von dem Marsche einiger Kriegsvölker, und was für lustige Begebenheiten sich dabey zugetragen. Strasburg 1586« (JubA VI/1, 11). Ob man die Gespräche einiger Teilnehmer dieser Märsche auch als eine solche »lustige Begebenheit« bezeichnen sollte, lässt Abbt offen. Er schildert die ihn interessierenden »mancherley Reden und Muthmaßungen« (ebd.) verschiedener Gruppen: zum einen die in den Tag hineinlebenden Soldaten, von denen einige des Nachts spurlos verschwinden, ohne dass ihre Mitstreiter wüssten, aufgrund welchen Befehls und wohin sie abgeordert worden seien. Zum anderen die gemäßigten und immer abmarschbereiten Oberste und Offiziere, die jedoch ebenso wenig wie ihre Untergebenen von den »geheimen Absichten des Soldherren unterrichtet« sind.119 Man rätselt neben dem Verbleib einiger Soldaten auch über die künftige Kriegsplanung; alle sind ungewiss über Richtung und Sinn des Krieges, sogar darüber, ob überhaupt einer stattfindet, oder es sich um eine anders geartete Mission handelt. Ebenso herrscht Unsicherheit über die Kriterien von Belohnung bzw. Bestrafung durch den Soldherrn. Die Abberufung der Soldaten jedenfalls geschieht dem Anschein nach völlig unmotiviert. Die Aufschlüsselung der Parabel ist so deutlich, dass abgesehen von ihrer skeptischen Botschaft auch ihre ironischen Spitzen ins Auge stechen. So gäbe es zwar einige »Soldaten«, die angeblich Briefe der verschwundenen Waffenbrüder erhielten – doch 118

Abbt Suche nach philosophischen Lösungen der Bestimmungsfrage reflektieren zwei stoisch geprägte Äußerungen in seinem Aufsatz »Vom rechten Studium der Philosophie« (um 1760; Fragment): »Das Geschäft der Philosophie ist: Unser Leben einzurichten, zu ordnen, zu verschönern; und zu lehren, das Widrige stark, das Gute mäßig und ruhig zu ertragen; im Unglück unser Trost zu sein, im Wohlstand uns etwas nieder zu halten […] Jede Kenntnis, die beiträgt, Glückseligkeit durch Vernunft zu erlangen, ist folglich Teil der Weltweisheit […]« (Abbt, Werke VI, 155) »Der letzte größte Endzweck aber ist: daß die Philosophie uns zeigen muß, wie wir durch Vernunft, aus der Kenntnis unserer selbst und anderer Dinge außer uns, unser Leben bestimmen und unserer Glückseligkeit erlangen sollen.« (ebd., 99 f.) 119 Deutlich sichtbar wird hier auch die soziale Dimension von Abbts Kritik, wie sie Adler 1994, 131 ff. weiter ausführt. So auch Herder in seinem Torso von 1768: »[…] seine ganze Schrift vom Tode fürs Vaterland […] ist von einem Manne, der als Mensch fühlte, als Bürger dachte, als Untertan schrieb.« (Herder, Werke 2, 582)

I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog

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gerade dies seien »Leute, an die am letzten unter allen jene [Waffenbrüder] würden geschrieben haben« (JubA VI/1, 11). Übersetzt heißt dies wohl, dass all diejenigen, die behaupten, Kenntnis über den Verbleib der Verschwundenen (=Verstorbenen) und damit eine Ahnung über Art und Weise des zur Frage stehenden Einsatzes zu haben, ausgerechnet solche Personen seien, denen sich die Verschwundenen niemals anvertraut hätten. Oder, noch deutlicher: diejenigen, die die Offenbarung für sich reklamieren, erscheinen ihrer am unwürdigsten. So Abbts Polemik. Letztlich bietet sich den Soldaten kein einziger verlässlicher Anhaltspunkt für den Sinn und Zweck ihres Unternehmens. Selbst wenn bereits eine Strafe zu erleiden ist, ließe auch diese keine Einsicht in die weiter gehenden Absichten des »Soldherren« erkennen. Ebenso wenig lässt sich daraus ableiten, ob nach dem Einsatz noch weitere Strafen folgten. Die »Soldaten« sind mit bloß unsicheren Hinweisen auf ihrem Einsatz allein gelassen. Interpretiert man die Parabel als ein Bild menschlichen Lebens, so wissen Abbt zufolge die Menschen über nähere Zwecke ihres »Soldherren« Gott nichts und jeder Erklärungsversuch scheitert an der nackten Kontingenz der Ereignisse. Wie soll man nun mit der Unkenntnis über seine eigentliche Aufgabe auf Erden leben? Schlimmer noch: was, wenn es gar keinen eindeutigen »Marschbefehl« gibt, keinen obersten »Soldherren«? Abbts Antwort ist die des Verzichts: man solle sich feste Regeln für die unmittelbare Gegenwart, also unangesehen des Unwissens über die weitere Bestimmung, machen. Alle darüber hinausgehenden Fragen sind sinnlos. In diesem Sinne radikalisiert er die subjektive Seite der Bestimmungsfrage: aufgrund der fundamentalen Unsicherheit bzw. Unbeantwortbarkeit der Frage nach einem außerweltlichen Zweck besteht die Notwendigkeit zur Etablierung einer vom »Soldherren« unabhängigen Tugend. Bloßes Hoffen auf jenseitige Sinngebung und Besserung, also Spekulationen über mögliche Pläne Gottes sind fruchtlos, gar schädlich. Letztlich hat Abbt damit ausgesprochen, was er schon im ersten diesbezüglichen Brief vom 10. November 1762 festhält: »Aber was können wir nun auf der Erde davon [dass wir angeblich zu einem »grösseren Plan gehören«, ebd.] nützen? Weiter nichts als dieses, deucht mir, daß jeder Mensch sein eigenes Glück durch seine Tugend machen müsse, und daß sich die Vorsicht weiter in keine Belohnungen und Strafen mische, als in so ferne sie ihren Plan durchsetzen muß.« (JubA XII/1, 360) Schon der letzte Satz zeigt allerdings, dass sein Abweis der Existenz einer »Vorsehung« durchaus nicht so radikal ist, wie es den Anschein hatte. Vielmehr wollte er mit der Parabel betonen, dass ein trostvoller Blick des Einzelnen auf ein sinnstiftendes Ganzes unmöglich ist und deshalb der Offenbarung überlassen werden muss.120 Schweigt diese, so ist die Möglich120

So M. Heinz 1992, 266. Lorenz 1997, 202 f. (FN) betont dagegen, dass Abbt hier die Trennung zwischen der jenseitigen Bestimmung, die der Offenbarung bedürftig sei, und der Erkennbarkeit der Bedingungen diesseitigen Wohlverhaltens stärkt.

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keit einer Kenntnis des Menschen und seines Gottes prekär. Abbts Ausweg ist, nach Bedingungen zur Erfüllung diesseitiger menschlicher Bestimmung zu fragen. Über den Fideismus, den Verzicht rationaler Begründung und dem Rückzug auf einen schlichten Glauben hinaus fordert er hier Besinnung auf das Menschenmögliche: Denn da die Offenbarung, wie die Parabel zeigen sollte und auch die SüßmilchRezension anklingen ließ, hinsichtlich der Spezifizierung menschlicher Bestimmung schweigt, so muss sich der Mensch mit seinen allein diesseitigen Zwecken, soweit er sie erkennen kann, begnügen. So unklar also die allgemeinen Weltzusammenhänge und –gesetzlichkeiten auch sind, so könne man doch durch die Besinnung auf eine diesseitige »Tugend« die spezifisch menschlichen Erfordernisse letztlich erreichen. Ausgehend von »dem allgemeinen Endzwecke aller erschaffenen Dinge« (JubA VI/1, 15) sollen »Lebensregeln« gefolgert werden, »die auch richtig und zur Erreichung meiner möglichsten Glückseligkeit hinlänglich wären.« (ebd.) Die Untersuchung der Bedingungen diesseitigen Glücks sei für den Menschen erreichbar und benötigte gar keinen Rückgriff auf irgend einen Glauben: »Und so ist es klar, daß der Mensch, vor dem die Thüre seines Einganges in dieses Leben, und die Thüre seines Ausganges aus demselben mit Wolken verdecket ist, daß dieser Mensch, sage ich, doch Licht genug hat für den Weg, den er wandeln soll.« (JubA VI/1, 15) 121 Allerdings erfordert die tröstliche Ansicht – die deutlich auf den von Abbt verehrten Epos Alexander Popes, Essay on Man (1734), anspielt (vgl. Redekop 2000, 135) –, nämlich dass dem Menschen genug Licht für die Erfüllung seiner irdischen Bestimmung bleibe, mehr, als die Parabel selbst und Abbts weitere Ausführungen hergeben. So scheint in der Parabel die Lage weniger hoffnungsvoll, da noch nicht einmal die sichtbaren Anzeichen sich zu einem sinnvollen und lebbaren Ganzen zusammenfügen wollten. In den darauf folgenden Ausführungen des Zweifels hingegen klingt es so, als sei – hätte man erst einmal seinen Fragehorizont auf weltimmanente Fragen begrenzt – »hienieden« eine befriedigende Lösung erreichbar und eine umfassende, auf eine »Vorsehung« hin deutende Ordnung zu erkennen. Abbts Skeptizismus ist nicht universell, sondern gilt für das Bedingungsverhältnis zwischen der objektiven Bestimmung, nämlich der Einpassung des Menschen in eine nicht gänzlich zu erkennende, aber als vollkommen unterstellte Schöpfung, und der subjektiven Seite, der Erreichbarkeit menschlichen Glücks. Er beantwortet letztlich also nicht 121

Abbt verwendet dieses Bild in etwas variierter Form auch in seinem Entwurf Vom rechten Studium der Philosophie (1760): »Das Geschäft der Philosophie ist: unser Leben einzurichten, zu ordnen, zu verschönern; uns zu lehren, das Widrige stark, das Gute mässig und ruhig zu ertragen; im Unglück unser Trost zu seyn, im Wohlstand uns etwas niederzuhalten; und endlich, am Ende der Laufbahn, durch gutes Bewußtseyn uns aufzurichten; und wenn sie auch beym Eintritt ins andere Leben die Fackel nicht vorträgt, doch in etwas die Dunkelheit zu erleuchten.« (Werke 6, 115) Hier herrscht eine stoische Philosophiekonzeption vor, die zwar nicht das Jenseits beleuchtet, jedoch den Trost eines ewigen Lebens zu versprechen scheint.

I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog

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die »erheblichere« Frage der objektiven Dimension, sondern weist auf die Gründe hin, weshalb der Mensch mit der subjektiven Dimension vorlieb nehmen muss, um zugleich mit der Abkehr vom Eudaimonismus, da individuelles menschliches Glück kaum erreichbar erscheint, noch der Einzelne seine Glückvorstellung seinen Nebenmenschen unterstellen dürfe, eine Rückbesinnung auf einen gesellschaftszentrierten Tugendbegriff zu fordern.122 Damit übergeht Abbt jedoch ein Problem, das er in der Parabel geäußert hatte: Denn offensichtlich erscheint die Welt voller verwirrender und den sich aufs Diesseits beschränkenden Menschen in die Quere kommender Ereignisse, die diesen aus seiner Selbstgenügsamkeit hinaustreiben und die Fragen: »Warum gerade ich? Warum gerade jetzt?« in ihm wachrufen. Dieses Bedürfnis hatte er mit der Parabel beschworen, um es nun als haltlos abzuweisen, indem er auf die notwendige Beschränkung auf innerweltliche Angelegenheiten verweist. Eine Begründung der »Tugend« und ihrer Kriterien, die den Gottesbezug abzulösen in der Lage wäre und den derart Fragenden tatsächlich beruhigen könnte, unternimmt er hier aber gerade nicht. In den an die Parabel anschließenden Abschnitten des Zweifels kritisiert Abbt Spaldings Vorgehen direkt. Durch die meditative Versenkung erhalte man keine allgemeingültigen Ergebnisse, sondern eine (ungenaue) »Bestimmung aller Geschöpfe«, aber nicht diejenige des Menschen (vgl. JubA VI/1, 12 und Lorenz 1997, 201). In seinem monologischen, meditativen Vorgehen verliere Spalding ebenfalls die Vielfalt menschlicher Charaktere aus dem Blick.123 Insbesondere sei nicht ausgemacht, dass tatsächlich jeden bei der bloß epikuräischen Befriedigung seiner Sinnlichkeit das »dunkle Gefühl eines Mangels« beschleiche, das über die bloß sinnliche Sphäre des Menschen hinausverweise (vgl. Spalding 7/1763, 10 ff.). Letztlich also sind Abbt zufolge menschliche Lebensziele disparater, als Spalding dies annimmt. Jedoch erfordert eine derartige Untersuchung neben einer »uninteressierten und vorurteilsfreien Vernunft« (M. Heinz 1992, 266) nicht nur die Selbstbeobachtung, sondern auch die Kenntnis fremder Völker und der Geschichte124 und damit einen umfassenden Blick auf sämtliche individuelle Ausprägungen des Menschseins. Fehlt dies, so sind die gewonnenen Ergebnisse zu ungenau, um dem Menschen wirkliche Orientierung

122

Redekop 2000, 134 weist hier auf den Einfluss Helvétius’ De l’Esprit hin, der die tugendhaften Konzepte als Konstrukte zum Erhalt von Gesellschaft (und damit letztlich dem Eigeninteresse dienlich) bezeichnet hatte. 123 Die Beschränkung auf den »Denker«, der sich allein der Erkundung menschlicher Bestimmung widmen könne, trug nach Jannidis 2002, 86 nicht unerheblich zu der »Auratisierung« des Begriffs »Bestimmung des Menschen« bei. Ein Problem dieses Vorgangs ist freilich, dass damit zugleich eine Deutungshoheit angemeldet wird, die mit Rückgriff auf diese Formel nicht mehr zu rechtfertigen ist. Auch in diesem Sinne ist Abbts Kritik daran der Aufklärung verpflichtet. 124 Vgl. JubA VI/1, 10. Wobei allerdings Abbt die Schwierigkeit, inwiefern eine vorurteilsfreie Kenntnis dieser fremden »Menschengeschlecht[er]« möglich sein soll, ebenso wenig beantwortet.

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

zu bieten. Das offensichtliche Problem, wie mit einer allgemeinen Überlegung jede spezifische Individualität erfasst werden soll, verschweigt Abbt dabei, noch bietet er Ansätze zu dessen Lösung. Darüber hinaus seien die von Spalding verwendeten Begriffe wie »Glück«, »Strafe«, »Ewigkeit« etc. allzu unbestimmt und relativ, um eine eindeutige Antwort darzustellen. Indem Spalding zwar auf die Destination des Menschen ziele, aber dessen spezifische Konstitution nicht berücksichtige, könne er auch gar keine Schlüsse auf »die Geheimnisse der Gottheit über« den Menschen ziehen (JubA VI/1, 15). Abbt betont zu Recht die logischen Lücken, die Spaldings Schluss einer angeblichen unendlichen Vervollkommnung offen lässt. So ist es kaum möglich, das Gefühl einer unendlichen Vervollkommnung nach menschlichen Maßstäben zu beweisen125; ebenso gut könnte es schlicht auf einem vagen Wunsch basieren. Was berechtigt den Menschen dazu, sich selbst zu »dem Subjekt [zu machen], an dem diese Durchsetzung [des Guten] geschehen muß?« (JubA VI/1, 17) Eine Hoffnung auf Unsterblichkeit gesteht Abbt zwar zu, hält jedoch weder ihre genaue Ausgestaltung noch ihren Beweis für durchführbar – also können auch keine »Lebensregeln« auf Unsterblichkeit gebaut werden. Alle dahingehenden Bemühungen sind letztlich der Gefahr des menschlichen »Eigendünkels« ausgesetzt, der dazu tendiert, anzunehmen, »daß Ordnung hier fehle, so bald wir sie nicht fühlen.« (JubA VI/1, 18, Hervorhebung A.P.) Spalding führe die Spekulation sogar noch weiter, indem er über einen weiteren Sinn nachdenke, der sich womöglich nach dem Tod, also dem wahrscheinlichen Verlust der anderen fünf Sinne, ergebe. Dies sei ebenso unzulässig, wie zum Beweis bestimmter Vorgänge einen sechsten, oder siebten Sinn anzunehmen: mit einer solchen Argumentation komme man bis ins Unendliche, nur nicht zu einem gültigen Schluss. Letztlich pocht Abbt hier auf den Grundsatz, dass die Vermutungen mit Erfahrungen belegt werden müssen, um nicht in fruchtlose Spekulation auszuarten: »Sobald ich diesen [den Körper, also die Sinnlichkeit, A.P.] ganz wegfallen lasse; so verliere ich den dünnen Faden, der mich auf die Spur des Denkens leitet.« (JubA VI/1, 17) Eine genauere Untersuchung der menschlichen Natur wäre also als Grundlage weiterer Überlegungen erforderlich. Darüber hinaus ist der Beweis einer jenseitigen Vervollkommnung der Bestimmung, wie Spalding ihn vorbringt, nur zu halten, wenn »das menschliche Geschlecht an das übrige Weltgebäude weiter gar nicht gebunden sey.« (JubA VI/1, 17). Spalding argumentiere also erst mit dem Hinweis auf die göttliche Harmonie, um sie zur Erfüllung des vage gefühlten Wunsches individueller Vervollkommnung wiederum 125

Abbt nennt, hier ganz Empirist, als Beispiel die Unzulänglichkeit des Gedächtnisses; vgl. JubA VI/1, 17. »Versuche, die man gemacht hat, beweisen, daß es wenigstens im gegenwärtigen Körper einen Stillstand habe.«

I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog

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zu verletzen, kurz, ihm misslinge es, die subjektive und objektive Ebene konsistent miteinander zu vereinbaren.

b) Zweiter Trost: unendliche moralische Vervollkommnung Abbts Kritik an Spalding hat, wie erwähnt, noch einen weiteren, auf die Ausgestaltung einer Moralphilosophie bezogenen Aspekt. Mit seinen Argumenten gegen die moralische Validität einer ›Vergeltungstheorie‹ bezieht er sich kritisch auf Spaldings ›zweiten Trost‹. Wie die Soldaten der Parabel nach völlig willkürlich erscheinenden Gesichtspunkten ›abberufen‹ werden, so ist Abbt zufolge in der menschlichen Geschichte kein Hinweis auf eine gerechte Verteilung von Glückseligkeit ersichtlich. Spalding verweist hier auf einen notwendigen Ausgleich irdischer Ungerechtigkeit im Jenseits. Die Voraussetzung dafür ist aber zum einen das Unsterblichkeitspostulat, zum anderen eine auf ›Vergeltung‹ und ›Ausgleich‹ angelegte Moral. Beides findet Abbts Kritik. Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele könne man zum einen in Hinblick auf die allgemeine metaphysische Lehre »keine Substanz wird vernichtet« (JubA VI/1, 15 f.) zu beantworten suchen. Damit ist allerdings noch nicht geklärt, ob die individuelle Seele im Jenseits zu ihrem Recht kommt. Darüber hinaus ist aber die spezifischere Frage: »Gehört wohl zu meiner Existenz auf der Erde noch eine Fortdauer mit angeknüpftem Faden der Begebenheiten unter zurückerinnerndem Bewußtseyn«?126 (JubA VI/1, 15), darauf spielte die Parabel an, nicht beantwortbar. Dies führt Abbt v. a. bezüglich Spaldings Morallehre aus. Der spezifisch menschliche, individuelle Zweck, »zu dessen Erreichung der Mensch an die ihm zugewiesene Stelle gekommen ist« (JubA VI/1, 16), kann eben nicht mit Verweis auf jenseitige Kompensation beantwortet werden. Das Diesseits als Prüfung und entsprechend das Jenseits als Ausgleich und Entschädigung dessen zu verstehen, sei wohl kaum eine verlässliche Erklärung, da diese sich wiederum auf eine Hoffnung gründe, die schon in Bezug auf die unendliche Vervollkommnung zurückgewiesen wurde. Nur weil es dem Menschen so erscheint, dass ihm Unrecht geschehen sei, könne man darauf nicht ein Wissen gründen, dass dieses Unrecht im Jenseits ausgeglichen werden müsse. Vielmehr charakterisiert Abbt Spaldings Glaubensweise als eine fromme, jedoch unbegründete Hoffnung. Dementsprechend lautet sein Resümee knapp und abschlägig: »Allein es giebt Artikel, die einer dem andern ohne Gedanken nachbetet, blos weil man froh ist, etwas, das man vortragen kann, zu haben« (JubA VI/1, 17). Solange diese 126

Ebenso behandelt Leibniz in der Theodicée die Frage nach der Unsterblichkeit in zwei Teilen: neben der Unverweslichkeit muss auch die Fortgängigkeit des »Bewusstseins« bewiesen werden; Mendelssohn wird dieses Schema im Phädon übernehmen; vgl. Kap. V.1.

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»Glaubensartikel« nicht bewiesen sind, steht ein darauf gebautes Moralsystem auf tönernen Füßen. Ist die Perspektive allein auf das Diesseits beschränkt, fällt die ungerechte Verteilung von Glück und Unglück ins Auge; und auch der Trost, dass der skrupellose Tyrann eigentlich nicht glücklich sein kann, hypostasiert lediglich die ganz persönliche Vorstellung von Glückseligkeit als die einzig mögliche (vgl. JubA VI/1, 16).127

Abbts Ausweg: Diesseitige Moral Was ist aber nun Abbts Ausweg aus dieser verzweifelten Lage? Die Zweifel daran, ob das menschliche Leben womöglich nicht teleologisch eingerichtet und gerechtfertigt ist, sind ihm zufolge kein Einfallstor für umfassenden Nihilismus oder Tatenlosigkeit, sondern weisen den Menschen auf die ihm angemessene Konzentration auf seine »Bestimmung«: er soll »[z]uerst anbeten! und dann wohl thun!« (JubA VI/1, 18) Dies ließe sich so paraphrasieren, dass der Mensch sich bescheiden (und glauben) und damit auf die ihm möglichen, diesseitigen Handlungen konzentrieren solle. Nicht um einer irgend gearteten jenseitigen Belohnung willen, sondern weil er doch trotz aller Zweifel eines innerweltlichen Zwecks gewärtig werden könne: »Dis kann ich erkennen, daß ich mit allen Geschöpfen zur Ordnung und Eintracht geschaffen bin, und daß bey Zerstörung derselben mein Glück nicht bestehen könne.« (JubA VI/1, 18) Dieses Glück, das einzig begründbare, besteht aus der innerweltlichen, gesellschaftlichen bzw. geselligen Ordnung zwischen den Menschen, wobei die höchste Stufe der Tugend, die altruistische Neigung zum Mitmenschen, eben nicht angeboren sei, sondern erworben werden müsse (vgl. JubA VI/1, 14).128 Der Ausweg aus 127

In seiner Rezension von Süßmilch in LB 245: 1. Juli 1762, 68 benennt Abbt dieses Problem bereits: Der Mensch ist nicht Mittelpunkt und Maß aller Dinge – »welches wohl einer der grössesten und allgemeinesten Irrthümer seyn dürfte« (ebd.) – und dürfe deshalb nicht vergessen, dass er seine Erkenntnisse von einem bestimmten Standpunkt aus gewinne. 128 Vgl. Vom Verdienste 1766, 349 f.: »Bey dem Wohlwollen würde es nun wohl in die Augen leuchten, daß, da es entweder durch philosophische Gründe, oder durch gewisse Verordnungen, Grundsätze oder Triebfedern dem großen Haufen müßte beygebracht werden, daß, sage ich, nur solche Verfassungen, worinn dergleichen angelegt worden, auch dieses zum Verdienst nöthige Wohlwollen erreichen: daß hier die Religion ungemeine Dienste leisten könne, und daß die eingeschärfte Pflichten der Allmosen, der Gastfreyheit und Leutseligkeit gegen Fremde auch bey dem stärksten Despotismus recht gute wohlwollende Herzen schaffen können; daß sogar die gesetzliche Ceremonien der Chineser, und die ehrwürdige Verhältnisse zwischen jedem Mandarin und seinen Untergebenen, wie zwischen Vater und Sohn ein solches Wohlwollen gleichfalls ins Herz prägen können; daß aber freylich nur in den Republiken, wo jeder / dem andern als Gleicher und als Bruder erscheint, ein solches Wohlwollen zur Triebfeder des ganzen Staates, unter dem Namen der Tugend könnte angewandt werden; daß der Grundsatz der Ehre eigentlich das Wohlwollen ausschließe, und wenn gar Ueppigkeit sich zu dem erstern gestellet [sic], dasselbe vollends ermorde,

I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog

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der Parabel ist damit ein zweifacher. Zum ersten ist es die Mahnung, sich hinsichtlich philosophischer Erkennbarkeit auf diesseitige Verhältnisse zu beschränken. Der zweite Ausweg ist die Konzentration auf das entsprechende Moralsystem, das seinen Fokus auf die humane Einrichtung menschlicher Gesellschaften und nicht auf einen wie auch immer geordneten, jenseitigen ›Ausgleich‹ richtet. Nach Lorenz (1997, 201) ist der ganze Zweifel Ausdruck von Abbts »Überzeugung von der Möglichkeit einer provisorischen, nicht-theonomen Moral«. Dem entspricht die Verneinung der möglichen Formulierung einer Vorsehung, die dem Menschen schon auf Erden über seine Bestimmung – auch die jenseitige – belehrte und die Forderung nach einer neuen Begründung des tugendhaften Handelns. Allerdings fehlen diesbezügliche positive Ausführungen. In seiner Rezension von Mosers Beherzigungen (1761) in den Litteraturbriefen lässt sich ein Ansatz in diese Richtung verzeichnen, indem Abbt dort die Unterscheidung zwischen politischen und religiösen Tugenden durchführt.129 Wiederum meint diese Unterscheidung nicht, dass politische Tugend auf anderen Grundlagen basiert, sondern sie ist struktureller Natur: die Befolgung politischer Tugenden erfordert eine andere Art des Gehorsams als diejenige religiöser Tugenden. In der letzteren ist Unterwerfung unter Gottes Gebot die höchste Maxime, die erstere jedoch gebietet republikanisches und damit auch freies und eigenverantwortliches Handeln zur Beförderung allgemeiner Wohlfahrt, nicht fragloses Gehorchen (vgl. Abbts Rezension in LB 179, 15 ff.). Über die Begründung dieser Tugenden ist damit nichts gesagt, im Gegenteil, erwähnt Abbt hier ausdrücklich die sich aus der gesellschaftlichen und naturhaften Ordnung der Welt ergebende Ahnung auf dessen göttlichen Urheber, dessen »Ehre zu befördern« die Menschen schuldig sind (ebd., 19) und führt die Tugenden wiederum auf eine alle vereinigende »Welttugend« (mit Verweis auf Shaftesbury, ebd., 20 f.) zurück. Aufruhend auf der »moralischen« Tugend ergäben sich die »Societätstugenden«, die zur Aufrechterhaltung eines Gemeinwesens notwendig seien. Es geht ihm also nicht um eine »Befreiung« der Politik von Moral und Glauben, sondern um eine angemessene Differenzierung. Diese soll es ermöglichen, die empirisch-historisch evidente, tugendhafte Haltung auch derjenigen Staatsmänner zu erklären, die nicht dem christlichen Glauben (v. a. an die Unsterblichkeit, daß in solchen Fällen die Religion um destomehr zu verstärken sey, zumal da die Philosophie nur auf wenige wirket; daß aber diese auch, wo sie sich zeiget, in jeder Verfassung ihre Wirkung thun könne.« 129 Mit Mosers Beherzigungen setzt sich schon LB 178: 30. Juli 1761, 3–14 allerdings lediglich in stilistischer Hinsicht auseinander, während die daran anschließenden Briefe 179 f. (inkl. Beschlüsse und Nachschriften bis zum 13. August 1761), 14–38 mit der Frage nach spezifisch politischen Tugenden und ihrem Verhältnis zu den moralischen Tugenden befasst sind. Redekop 2000, 148 f. hält Abbts Trennung zwischen Politik und Moral hier für stärker, als es der Text m. E. zulässt.

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vgl. 29 ff.) anhingen und dennoch nicht zwangsläufig allen moralischen Geboten zuwider handelten. Abbt geht es in seiner Kritik eher um die Unterscheidung der wohlfeilen Proklamation des Christentums auf der einen, und dem tugendhaften Ausrichten der Handlungen nach Grundsätzen auf der anderen Seite. – Letzteres ist auch dem nichtchristlichen Staatsmann möglich. Jedoch sind seine Ausführungen eher empirischer als philosophischer Natur, da er eine glaubensunabhängige Begründung dieser moralischen Grundsätze eben nicht unternimmt, weder hier noch in seinen Hauptwerken.130 Unübersehbar ist in diesen zwar der generelle Zug, zur Verbesserung der menschlichen Gesellschaft beizutragen.131 Jedoch vermögen beide die Begründungslast nicht vollständig zu tragen – im Gegenteil, verweist Abbt in ihnen ausdrücklich auf den der Legitimation eines »Verdienstes« vorangehenden Gottesbegriff, der den Ausführungen zugrunde liegt132; auch wenn bisweilen »Seelenstärke« erforderlich sei, sich angesichts einer verwirrenden Welt dem Glauben hinzugeben.133 Im vierten Kapitel »Vom Erwerb des Verdienstes« in Vom Verdienste (ebd., 336–50) betont er darüber hinaus den Wert der Religion für die bürgerliche Gesellschaft (v. a. Vom Verdienste, 349 f.), die dem »gemeinen Mann« verständlich sei und deshalb der Tugend nicht nur ihren Wert, sondern auch die angemessene Durchschlagkraft gäbe. »Kurz, weder die Metaphysik über das menschliche Herz, noch das alberne Zeug ohne Philosophie über dasselbe ist für den gemeinen Mann zugerichtet. Er braucht beydes nicht. Treu und fleißig in seinem Berufe wandeln; seinen Obern gehorchen; seinen 130

Redekop 2000 150 ff. unternimmt eine solche Begründung in Hinblick auf Abbts Abhandlung Vom Verdienste (1765), die einen an utilitaristischen Standards ausgerichteten Begriff einer guten, i. S. v. dem Allgemeinwohl dienlichen Handlung etabliert und diese als von einem (noch auszubildenden) Publikum anhand des ›common sense‹ beurteilbar vorstellt, vgl. dazu auch Kuehn 1987, 251 ff. Der Übergang zwischen dem Selbstinteresse und dem gesellschaftsbezogenen Interesse, sobald der Einzelne in Gesellschaft tritt und bemerkt, dass man zusammen mehr erreichen könne (LB 179 und Beschluss, 16 ff.), wird allerdings nicht begründet und erscheint philosophisch lückenhaft. Vor allem kann dieser Ansatz das Konzept des ›Trittbrettfahrers‹ nicht erklären, der sich zwar in Gesellschaft begibt und alle zum geselligen Handeln anregt, selbst jedoch weiterhin egoistische Motive verfolgt. Zum anderen ist unklar, wie ein ›natürliches‹ Eigeninteresse durch den bloßen Eintritt in die Gesellschaft zu einem Interesse am Erhalt dieser mutiert und sich sogar soweit ausbildet, dass Handlungen gegen das Eigeninteresse möglich werden. All dies mag empirisch feststellbar sein; begründet ist es damit nicht. 131 Vgl. dazu Redekop 2000, 123–67, der Abbts Modell einer Etablierung eines aufgeklärten und politischen Publikums nachzeichnet. Abbts Ziel sei es »to lead readers to locate themselves and their well-being in an enlarged societal frame« (ebd. 123), wobei sein Fokus auf der Etablierung einer von die freie Meinungsäußerung unterdrückenden Tendenzen des Staates befreiten öffentlichen Sphäre liegt. 132 So wird bspw. S. 169 die »Nachahmung der Gottheit« weitaus höher gewertet als Gegenstände, die sich »blos als eine Folge der Menschheit« erweisen. 133 Vgl. Vom Verdienste 1766, 104 (gegen den Selbstmörder), auch S. 108: »Die Stärke der Seele besteht also in der Leichtigkeit, diese zum Vortheile wichtiger Ideen nöthige Herrschaft über den Willen zu erhalten.«

I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog

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Lüsten und Begierden nicht fröhnen; auf Gott vertrauen; in ihm seine Freude und Beruhigung suchen; einer fröhlichen Zukunft des Herrn in einem ehrbaren Wandel der Seinigen warten mit gutem Gewissen! diß muss er lernen […]« (Vom Verdienste, 289) Von der Skepsis des Zweifels ist hier wenig zu merken.134 Er beschließt sein Werk mit dem Satz: »Die unentbehrlichste Wissenschaft für jeden ist, zeitig genug zu erfahren, nicht nur, wozu er tauglich sey; sondern auch, wozu er tauglich zu seyn, Erlaubniß und Beruf habe.« (Vom Verdienste, 351) Für die – Lorenz’ Vermutung stützende – Interpretation, dass dieser »Beruf« rein weltimmanent zu verstehen sei, gibt es kaum Anhaltspunkte. Es ist in dieser Hinsicht auch interessant, dass die briefliche Diskussion zwischen Mendelssohn und Abbt, die unmittelbar an die Bestimmungsdebatte anschließt, zwar Abbts Werk Vom Verdienste zum Gegenstand hat, allerdings nicht eine dort irgend angelegte, von göttlicher Vorsehung unabhängige Moral berührt.135 Worum es Abbt in seinem Werk vielmehr ging, scheint eine an Shaftesburys Essay Sensus Communis: An Essay on Wit and Humour (1709, ersch. 1711 in Bd. 1 der Characteristicks) angelehnte Etablierung eines allen zugänglichen common sense zu sein, der sich weder in hochtrabenden philosophischen Abhandlungen, noch absolutistischem Staatsgebaren, sondern in der Besinnung auf die Erfordernisse des einzelnen, einfachen Menschen entdecken lässt. Der Gottesbezug, so scheint es mir zumindest, ist dabei nicht der wichtigste Aspekt, sondern wird als eine Möglichkeit des einfachen Glaubens aufrechterhalten. In diesem Sinne ließe sich die über die irdische Begrenzung hinausgehende Frage »wohin gehen sie denn?« (Abbt an Mendelssohn am 21. Mai 1764, JubA XII/1, 47) auch so reformulieren, dass der Mensch keine über seine Erkenntnismöglichkeiten hinausgehenden Fragen an Gott stellen solle, sondern glauben müsse. Dass es aber diese Ordnung gebe, und dass sie in einer diesseitigen Ordnung erkennbar sei, davon schien Abbt, entgegen der Proklamationen des Zweifels, auszugehen. Abschließend zusammengefasst, erscheint Abbt nur die subjektive Dimension der Bestimmungsfrage – ob und wie der Einzelne glücklich werden könne – beantwortbar; unter Einschränkung auf das Diesseits. Damit gibt er einem möglichen moralischen Verhalten zur individuellen und gesellschaftlichen Verbesserung einen innerweltlichen Bezug, ohne diesen allerdings selbst positiv ausführen oder begründen zu können. 134

Auch Redekop 2000, 157 weist hinsichtlich dieser Stelle darauf hin, dass es verfehlt sei, dem »tugendhaften Mann« in der Abbtschen Theorie einen Zug gegen das Christentum zu unterstellen. 135 Siehe die Briefe ab dem 11. August 1764, JubA XII/1, 54–69. Es soll damit allerdings nicht gesagt werden, dass Abbts Werk sich unkritisch zum Christentum verhielt. Vielmehr wandte es sich gegen die herrschende Spielart des Pietismus (vgl. auch Bödeker 1981, 233): Der Bürger sollte tätig und nützlich sein und nicht »in der unthätigen Wachsamkeit über seine innere Kampfveränderung verharren« (Vom Verdienste, 276).

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

Letztlich soll zwar, und dafür sprechen auch seine beiden Hauptwerke, »Tugend« nicht Gottgefälligkeit, sondern gesellschaftliches Engagement sein.136 Die darüber hinausgehende tatsächliche und nicht regulative Beantwortung der objektiven Frage bedürfe dahingegen der Offenbarung. Der einzige Weg für die Philosophie, über die beschränkte Sicht des Einzelnen hinauszugelangen, wird daher in die Begründung einer innergesellschaftlichen Moral verlegt.137 Allerdings übersieht eine solche Interpretation die der Bestimmungsdebatte folgenden Briefwechsel zwischen Mendelssohn und Abbt. Immer wieder äußert Abbt darin seine Hoffnung, doch noch eine überzeugende Antwort auf die Bestimmungsfrage zu erhalten – in dem Wissen, dass eine solche Antwort mehr verlangt als eine innerweltlich zum Besten aller geordnete Staatsform und eine diese ermöglichende Menschenliebe. Auch ist ein Schwanken hinsichtlich der Beurteilung diesseitigen Lebens festzustellen. Auf der einen Seite herrsche moralisches Chaos, in dem der Einzelne weder Gerechtigkeit noch Zielgerichtetheit feststellen könne. Zum anderen jedoch, so Abbts Postulat, fühle der Mensch, dass er zu »Ordnung und Eintracht« mit seiner Umwelt geschaffen sei und zur Erfüllung dieser Ordnung den Erkenntnisumfang besitze, der ihm dafür zukomme. Zwar will er den Schritt über diese gottgewollte innerweltliche Teleologie der diesseitigen Welt hinaus nicht machen, doch benötigt schon seine gemäßigte Position stärkeres argumentatives Rüstzeug, als er es in seinem Zweifel ausführt. Die von ihm angemahnte Verbesserung der Kenntnis von der menschlichen Natur, um von dort aus die Vervollkommnungsfähigkeit auf eine tragfähigere Basis zu stellen, wird im Laufe des Briefwechsels ebenso wenig befriedigend gelöst, wie es im Zweifel geschah. Über den bloßen Textbestand hinausgehend wäre dennoch mit Abbt zu fragen, welche von bestimmten Glaubensinhalten unabhängigen Kriterien eine menschliche 136

Vgl. Bödeker 1981, 231. Dieser hebt v. a. die Differenzierung Abbts zwischen Mensch und Bürger hervor; dies ist allerdings nicht in der Bestimmungsdebatte expliziert worden, sondern in den politischen Schriften. Dort spöttelt Abbt über die um sich greifende Empfindsamkeit. Die Empfindung für Andere sollte zur aktiven Verbesserung der jeweiligen Lage der betreffenden Person motivieren. Zwar ist dies öfter nicht leicht möglich, doch sollte dies nicht zu einer Verzärtelung des Gefühls führen (vgl. Vom Verdienste, 158 f.), das sich schon von vornherein des Handelns enthoben sieht. »Weinen ist leichter, als Hand anlegen, und wünschen leichter als helfen.« (ebd., 159) Es ist auch weniger verdienstvoll, wie Abbt auch in einem Brief an Mendelssohn vom 20. Februar 1764 (JubA XII/1, 39) festhält: »So groß ist der Unterschied zwischen tadeln und selbst Hand anlegen. Beym letztern bricht der Schweiß aus.« 137 Es ist allerdings irreführend, Abbt eine ›rein‹ republikanische, sogar pazifistische Denkart zu unterstellen. So hält die Einschätzung M. Heinz’ 1992, 267: »Die Herstellung einer Gesellschaftsund Staatsform, die Krieg und Unterdrückung, die aus der Gesellschaft selbst erwachsenden Übel, vermeidet, wird für Abbt zum vordringlichen Ziel […]« dem Befund nicht durchgehend stand, da Abbts eigene Ausführungen im Vom Tode für das Vaterland ebenso unmissverständlich wie die an Montesquieu angelehnten Überlegungen zur Tugendhaftigkeit in unterschiedlichen Staatsformen in Vom Verdienste zeigen, dass er auch anderen politischen Konzepten gegenüber offen war. Vgl. dazu Redekop 2000, 158 f.

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Moral und ein menschliches Selbstkonzept zu begründen vermögen. Schon für Abbt selbst müsste die Beantwortung der Frage zu einigen Schwierigkeiten geführt haben. So ist auch bei ihm kaum ein Bewusstsein für die Trennung zwischen der Ebene der »physischen« und derjenigen der »moralischen Übel«138 zu verzeichnen. Die Frage nach der göttlichen Vorsehung angesichts eines toten Kindes (infolge eines Naturereignisses) ist aber eine andere als die, was die moralische Güte eines Menschen bzw. eine böse Handlung ausmacht, bzw., um im Bild zu bleiben: eines ermordeten Kindes. Die deskriptive Ebene einer Naturbestimmung und die normative Ebene einer Moralbestimmung sind hier kaum zu unterscheiden, was im Übrigen nicht nur auf Abbt, sondern auch seinen Briefpartner zutrifft. Dennoch wäre zu fragen, ob dessen Ansätze einer Beschreibung menschlichen Wesens und menschlichen Sollens fruchtbare, »nicht-theonome« Lösungsvorschläge für Abbts Zweifel darstellen.

2. Mendelssohns »Orakel« Im Spannungsraum der Bestimmungsdebatte geht Mendelssohn auf eine andere Alternative zum Offenbarungsglauben ein. Im scharfen Gegensatz zu Spalding, der die natürliche Religion für unzureichend hielt139, unternimmt er es in seinem Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend (JubA VI/1, 19–25), die von Abbt gestellten Fragen aus der Vernunft zu beantworten und damit deren transzendenten Bezug zu betonen, wobei er, wie dies auch Spalding in Maßen getan hatte, die Legitimität der objektiven Dimension menschlicher Bestimmung auf der Grundlage einer leibnizianischen Metaphysik verteidigt. So sehr die Ausführungen dieser Metaphysik verpflichtet sind, so ist die Tendenz des Orakels und aller daran anschließenden Schriften dennoch auch innerhalb der Aufklärungsdebatte zukunftsweisend in ihrem Vertrauen auf die Kompetenzen menschlicher Vernunft und in ihrem Insistieren auf die menschliche Entwicklungsfähigkeit. Mendelssohn will zeigen, dass Abbts Erklärungsansatz einer menschlichen Bestimmung zu kurz greift bzw. ihrer tatsächlichen Begründung noch entbehrt. Wie aber kann die Frage nach der menschlichen Bestimmung angemessen gefasst werden? Grundtenor ist, wie das Folgende zeigen soll, eine Voraussetzung: der Mensch muss als ein bildungsfähiges und bildungsbedürftiges 138

Ein Grundsatz, den Leibniz zur philosophischen Begründung der Freiheit Gottes anführt; siehe Theodicée (darin Discours préliminaire) und Discours de métaphysique, Abschn. 13. 139 Dies als ein Argument für die Eigenständigkeit von Mendelssohns Argumentation, das sich bei Hinske 1994, 141 so nicht findet. Sichtbar wird Spaldings Position u. a. in der Grundannahme des »Anhangs bey der dritten Auflage« von 1749: »daß unsere Vernunft für sich und ohne alle Anweisung gänzlich unvermögend ist, sich über die sinnlichen Dinge und bis zu den Wahrheiten der Religion zu erheben« (Spalding 7/1763, 57–68, hier 60). Der »Anhang« lässt sich insgesamt als eine Verteidigung des Christentums gegen alle anderen Offenbarungsreligionen lesen.

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

Wesen verstanden werden, das sich nach seiner Sinnlichkeit und Vernunft ausrichtet. Zu begründen ist die Erfüllung der Vervollkommnung zwar durch eine der menschlichen Konstitution vorgelagerten Metaphysik, die sich aber, wie zu zeigen ist, als dem einzelnen Menschen angemessen erweisen soll. Den Ausgangspunkt formuliert Mendelssohn zu Beginn seines Orakels mit einem an Spaldings Argumentation erinnerndes Bekenntnis zur Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen: »Die eigentliche Bestimmung des Menschen hienieden, die der Thor und der Weise, aber in ungleichem Maaße, erfüllen, ist also die Ausbildung der Seelenfähigkeiten nach göttlichen Absichten; denn hierauf zielen alle seine Verrichtungen auf Erden.«140 (JubA VI/1, 20) Die Verwendung des Terminus »Bestimmung« ist hier doppeldeutig. Die »Ausbildung«, oder auch Vervollkommnung ist dem Menschen eigen, sie ist seine Fähigkeit und sein Wesen und gehört damit zum Themengebiet der »Determination«. Zugleich jedoch wird Mendelssohn dafür argumentieren, dass diese Vervollkommnungsfähigkeit nicht nur, statisch betrachtet, auf das Ziel eines »vollkommenen Menschen« angelegt ist, sondern sich darüber hinaus schon im Akt der Vervollkommnung, also unter einem dynamischen Aspekt, verwirklicht. Anders formuliert: die menschliche »Tendenz zur Vervollkommnung«141 ist bereits im Vollzug eine Vollkommenheit und entspricht damit seiner Destination. Sie ist damit subjektiv immer schon in der reinen Entwicklung eingelöst und zeigt zugleich die menschliche Einbindung in einem harmonischen Weltganzen. Es geht Mendelssohn um eine Theorie menschlicher Bestimmung auf Erden, oder, wie er es auch ausdrückt, »hienieden«, die menschliche Determination und Destination in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und diesseitigen, vernünftigen Erkennbarkeit aufzeigen und begründen soll. Um dies als eine Antwort auf Abbts Zweifel nachvollziehbar zu machen, soll in Anlehnung an dessen Zurückweisung der beiden Spalding’schen Tröstungen auch Mendelssohns Antwort im Orakel und die Fortsetzung des daran anschließenden Briefwechsels dargestellt werden.

a) Erfüllte Offenheit Seinen Argumentationsgang eröffnet Mendelssohn im Orakel, indem er das Bedingungsverhältnis von objektiver und subjektiver Dimension menschlicher Bestimmung betont. Dabei bleibt er in argumentativer Nähe zu Spalding, verstärkt aber die Tendenz der zugrunde liegenden leibnizianischen Metaphysik zur Dynamisierung.

140

Vgl. zu den Anleihen an Leibniz und Wolff Kap. I.1, Abschnitt 2. Tomasoni 2004, 283: »tendency to perfection«. Vgl. zu dieser doppelten Struktur zwischen Statik und Dynamik schon in Leibniz’ Argumentation Kondylis 1981, 582–89. 141

I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog

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Die objektive Seite umfasst nicht nur den Menschen, sondern die gesamte Natur – also den Menschen nicht qua Menschsein, sondern als Naturwesen. So ließe sie sich auch als eine »allgemeine« Bestimmung bezeichnen, an der nicht nur alle Menschen, sondern alle Wesen in der Natur Anteil haben müssen (vgl. JubA VI/1, 19). Die subjektive Bestimmung dagegen meint die Perspektive und die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen als Menschen. Sie berücksichtigt das, was dem Menschen »eigenthümlich« (JubA VI/1, 19) ist. Mendelssohns Unternehmen im Orakel und den thematisch daran anschließenden Schriften ist es, das Abhängigkeitsverhältnis dieser beiden Aspekte zu klären. In einem ersten Schritt weist er die Skepsis Abbts hinsichtlich der Erkennbarkeit des menschlichen Zwecks zurück, indem er unter Rückgriff auf Leibniz’ Postulat einer vernünftig und harmonisch geordneten Welt142 die Einbindung des Menschen in diesen Gesamtzusammenhang und seine Möglichkeit der Einsicht darin darzulegen versucht. Objektiv betrachtet steht diese Einbindung unter metaphysischen Prämissen; die Möglichkeit der subjektiven Einsicht darin hingegen setzt einen Schwerpunkt auf die spezifisch menschliche Erkenntnisfähigkeit. So ist die objektive Bestimmung des Menschen laut Mendelssohn für sich betrachtet völlig unabhängig vom menschlichen Wollen und menschlicher Erkenntnis; sie lässt sich womöglich, das gibt er Abbt zu, vom eingeschränkten menschlichen Verstand gar nicht vollständig erfassen. Dies heißt allerdings nicht, dass der Mensch durch den Verstand keinen Zugriff auf eine gottähnliche Erkenntnis der objektiven Bestimmung hätte, da er in der Lage sei, die bestimmenden Strukturen zu erkennen. Im Sinne Leibniz’ sei die gesamte Natur als ein Zeichen Gottes143 zu lesen, das menschlicher Erkenntnis, und zwar auch über das bloß sinnliche Erfassen der Welt zumindest in den Grundzügen zugänglich ist. Beides, subjektives menschliches Empfinden wie auch die Vernunft führten den Menschen immer über sich hinaus und wiesen ihn auf die objektive Bestimmung, seine Einpassung in das Weltganze hin. Von dieser Warte aus betrachtet ist der Mensch eingebunden in die »grosse Harmonie« der gesamten Schöpfung: er bildet wie »die gesammte Natur […] die Gedanken des Allmächtigen« ab (JubA VI/1, 19). Es ist die eigentümlich menschliche Bestimmung, dieses System zu erkennen, sich selbst als darin eingepasst wahrzunehmen 142 Vgl. bspw. Discours de métaphysique, 1–5; Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison, §§ 9 f.; Monadologie §§ 46, 53–55; Theodicée I, 8–10, 25. 143 Adler spricht mit Bezug auf Mendelssohns Äußerung: »Die gesammte Natur bezeichnet die Gedanken des Allmächtigen, aber durch Zeichen, die die Sachen selbst sind.« (Juba VI/1, 19) von einem poietischen bzw. semiotischen Prozess: die »Sachen« bezeichnen die »Gedanken Gottes«, sie sind sein Werk und zugleich für den Menschen Zeichen. »Wenn Natur und Geschichte in diesem Sinne poietisch sind, dann ist die Anweisung zu ihrem Verständnis eine Philosophie auf semiotischer Grundlage – eine Poetik der Schöpfung.« (Adler 1994, 133) Ich komme auf diesen Aspekt der ›Weltpoetik‹ und ihren menschlichen Bezug in Kap. II.3 zurück.

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

und zu verhalten. Wohlgemerkt hatte auch der skeptische Abbt von einer natürlichen Einsicht in den Zusammenhang der Geschöpfe gesprochen – an diesen Aspekt lehnt sich Mendelssohn hier an. Oftmals geschehe diese Erkenntnis ohne explizierbares, begriffliches Wissen. Dies bekräftigt Mendelssohn noch einmal in seinem Schreiben vom 26. März 1765: »[Die Menschen] hören, sehen, fühlen, vergleichen, üben sich und denken unaufhörlich, und mit grosser Begierde; nur daß sie die allgemeine Notionen nicht haben, von Zweck, Daseyn, Mittel u.s.w., um dasjenige, was sie unaufhörlich empfinden und thun, in einen logischen Satz zu verwandlen.« (JubA XII/1, 88) Menschen haben damit ›Kenntnis‹ von einer sinnvoll geordneten Welt, ohne diesen Sinn explizieren zu können. Ihre Bestimmung, sei es in Hinblick auf Determination oder Destination, ist die Geschichte einer Suche, in der die den Einzelnen umgebende Umwelt und auch er selbst voller Hinweise steckt, die ›entziffert‹ sein wollen. Das Kriterium dieser Vervollkommnungsbewegung liegt in der nicht empirisch, sondern metaphysisch begründeten Annahme einer »vollkommenen Ordnung«, die an sich feststeht, in phänomenaler Hinsicht jedoch noch zu entdecken ist. Diese bloß subjektive Einsichtsmöglichkeit des Menschen macht ihn zu einem Geschöpf, dessen Einbindung in das ›objektive‹ Universum auf phänomenaler Basis immer auch prekär bleibt. Sie muss durch Regeln erst hergestellt und im Zuge menschlicher Tätigkeit ausgeführt werden. Dabei geht Mendelssohn im Orakel nur andeutungsweise auf den Aspekt der körperlichen Entwicklung als Vervollkommnung ein144, sondern behandelt v. a. den Aspekt der geistigen, intellektuellen Verbesserung. Die menschliche Natur bietet dabei eine Ausgangsbasis, die jedoch durch den Vernunftgebrauch über ihre bloße Naturhaftigkeit hinausweist. Da der Mensch – objektiv betrachtet, aber auch sinnlich wahrnehmbar – in den Kosmos eingebunden ist, so kann und soll er aus seiner eigenen Wesensbestimmung diese objektive Dimension erkennen. In diesem Sinne weist die Determination auf die Destination; im Gegensatz zu Abbt, der dies nur hypothetisch formulierte, scheint für Mendelssohn dieses Verweisungsverhältnis jedoch 144

Vgl. dazu auch das Plädoyer für die Sinnlichkeit, besonders betont in der zweiten Fassung der Rhapsodie (1771), JubA I, 393 (in Modifikation der Abtrennung der »Wollust« von der sinnlichen Lust in den Briefen über die Empfindungen (zuerst 1755), z. B. JubA I, 56, 66 und dessen teilweise erfolgten Revidierung im 10. Brief, 81–84). Mit der Einbeziehung der sinnlichen Dimension geht Mendelssohn über die so häufig vertretene wie einseitige Auffassung, der Mensch finde wahre Vollkommenheit nur im Streben nach Sittlichkeit, hinaus. Bei Spalding finden sich zwar Ansätze zu diesem umfassenderen Blick, siehe die Abschnitte »Sinnlichkeit« und »Vergnügen des Geistes« in der Bestimmung (vgl. Kap. I.1, und Spalding 7/1763, 9 ff.). In der hierarchisierenden Anlage der Schrift gehen diese Ansätze allerdings nahezu unter. So entwickelt er im Gegensatz zu Mendelssohn keine über die bloße Feststellung der Wichtigkeit körperlicher Erhaltung und Vervollkommnung hinausgehende Theorie, ja mehr noch, wird letztlich der Körper als ein abzustreifender Zusatz betrachtet, der der Seele »niedrig und klein« vorkäme angesichts der wahren Gottesschau, vgl. Spalding 7/1763, 87.

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festzustehen und es ist eine Forderung an den Menschen, sich dieser Eingebundenheit angemessen klar zu werden. An dieser Stelle wird aus dem metaphysischen ein umfassend normatives System. Dies hängt aber nicht nur von der Gültigkeit der objektiven Dimension, sondern auch der Unhintergehbarkeit der subjektiven Dimension ab. Subjektive Erkenntnis der Ordnung ist nicht auf das für objektiv gehaltene Ordnungsgefüge reduzierbar. Im Erkenntnis- und Bildungsprozess des Menschen ist der Einzelne zwar auf Vorvermutungen einer allgemeinen Ordnung angewiesen, um überhaupt den Mut und die Motivation zu haben, seinen Weg zu gehen. Aber er muss diesen tatsächlich selbst zurücklegen: das Ereignis ist dabei ebenso wichtig und vollkommen wie sein Ergebnis. Zwar muss also der Mensch ohne sein Ziel zu kennen »absegeln«145. Aber er wird nicht ohne Hinweise und Hilfe gelassen – die der Sache nach vorausgehende, aber erst noch zu erkennende metaphysische Grundlage erschließt sich ihm nur über die gerichtete Ausbildung seiner Kräfte, die wiederum dynamischer Aspekt dieser Vollkommenheit ist. Mendelssohn führt dieses Bild einer geleiteten Entwicklung weiter aus: Die gesamte menschliche Konstitution, selbst menschliche Leidenschaften wiesen den Menschen auf seine positive Bestimmung hin, indem sie auf Ausübung und Ausbildung drängten. Wie bereits erwähnt, ist dieses Bestreben aus der je subjektiven Perspektive betrachtet immer auch fallibel, da die verworrenen, unsicheren Vorstellungen, denen mehr ein Gefühl als eine Erkenntnis entspricht, zumindest anfangs überwiegen. Der Mensch muss eine der objektiven Bestimmung gerecht werdende Ausführung seiner Tätigkeiten erst suchen, ohne viel mehr als die Hauptzüge dieser objektiven Bestimmung zu kennen bzw. zu fühlen. Die Charakterisierung dieser »Eigenthümlichkeit« gewinnt Mendelssohn mit Blick auf die menschliche Tätigkeit, bzw. der Anlage dazu: denn es sei offenkundig, dass der Mensch nicht von Anfang an aller Handlungen fähig ist, sondern seine Seelenkräfte üben muss, um sie auszuführen. In diesem Sinn betont er die Notwendigkeit, dass die menschliche Vollkommenheit unter einem dynamischen Aspekt zu betrachten ist, »er unterwirft die menschliche Vollkommenheit der Entwicklungsfähigkeit (und der Entwicklungsbedürftigkeit).«146 Dies hatte Mendelssohn schon 1755 in

145

Damit lehnt sich Mendelssohn an das von Abbt im Zweifel gewählte Wortfeld an, vgl. JubA VI/1, 18. 146 Zöller 2002, 484. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass die Entwicklungsbedürftigkeit einen wichtigen Part in Mendelssohns Überlegungen zu spielen beginnt. Stärker wird dieser Aspekt noch im dritten Gespräch des Phädon (vgl. JubA III/1, 111) betont. Allerdings ist diese Idee an sich nicht neu; das ›Instinktmängelwesen‹ Mensch war im 18. Jahrhundert ein breit diskutierter Gegenstand. Neu mag hier vielmehr sein, dass Mendelssohn diesen Gegenstand explizit in den metaphysischen Gesichtskreis stellt und so die eigentliche Aufgabe anzeigt, beides miteinander zu vereinbaren, um nicht einem blinden Spiritualismus oder leeren Materialismus zu verfallen.

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den Briefen über die Empfindungen mit der Stimme Palemons (später Theokles) formuliert: »Allein der innere Mensch ist unbebauet. In jedem Jahrhunderte betreten andre Menschen die Szene des Lebens. Sie müssen alle an ihrer Besserung arbeiten, unermüdet arbeiten.« (JubA I, 63)147 Fraglich ist allerdings, wie der Mensch seine Aufgabe, sich selbst in der Entwicklung zu verwirklichen, erfüllen soll. Mendelssohn äußert sich in dieser Hinsicht im Orakel nicht eindeutig. Zum einen scheint die Entwicklung der Seelenfertigkeiten nahezu von selbst abzulaufen: der Mensch wird geboren, mit der Welt und ihren Eindrücken konfrontiert – und kann gar nicht anders, als sich im Umgang mit diesen Einflüssen zu verändern und zu entwickeln. Damit scheint die Fallibilität sowie die subjektive Seite der Bestimmungsfrage letztlich ausgeklammert: der Mensch kann gar nicht fehlgehen, da er immer im Universum ›aufgehoben‹ ist und sich durch schlichte Entwicklung verbessert. Diese verläuft in Mendelssohns Lesart letztlich blind. Mehr noch, scheint eine qualitative Bewertung unterschiedlicher Entwicklungsformen gar nicht möglich. Wenn auch der »Wilde« seine Seelenkräfte angemessen übt, indem er im Wald sitzen bleibt, fragt Abbt spöttisch im ersten auf das Orakel folgenden Brief, warum sollen andere Menschen mühevoll ihre Verstandesfähigkeiten verbessern (vgl. JubA XII/1, 48)? Zum anderen aber bietet die Argumentation des Orakels einen Ansatzpunkt, um die Regulierung der Entwicklung angemessener zu beschreiben als eine bloß blinde Erfüllung eines angeborenen Programms. Denn neben der reinen Übung der Seelenkräfte ist die Rolle der sinnlichen Empfindungen, des Körpers und der Leidenschaften ein weiterer wichtiger Aspekt menschlicher Bestimmung. Prima facie sind sie zwar ein Element menschlicher Begrenztheit. Mendelssohn fordert aber nicht ihre Überwindung, sondern eine Harmonie der »sinnlichen Gliedmaaßen« (JubA VI/1, 20) mit dem Geist.148 Gesund und zuträglich ist damit nur eine Ausbildung der »Seelenfertigkeiten«, die die sinnlichen Empfindungen berücksichtigen; andernfalls ist das Ergebnis ein bloß tierischer Mensch, oder ein überfeinerter Geist. Triebfedern der Entwicklung sind damit auch die im Menschen angelegten »Begierden, Wün147 Siehe dazu meine Edition dieses Textes (Mendelssohn 2006, 27), da gerade an der angegebenen Stelle in der JubA unvollständig wiedergegeben ist. 148 Vgl. dazu auch die früheren Briefe über Kunst (ca. 1758), JubA II, 166: »Du räumest mir ferner ein, daß diese Glückseligkeit nicht bloß in der Zufriedenheit, – welches die Glückseligkeit eines Schlafsüchtigen ist; nicht bloß in einer kaltsinnigen und begierdelosen Gemütsart, – welche auch die Glückseligkeit eines Steinbildes genannt werden kann; und endlich nicht bloß in dem Genusse des Vergnügens, welchen wir mit Tieren und Insekten gemein haben, sondern in einem ununterbrochenen Fortgange zu höheren Vollkommenheiten bestehen müsse. Die Vollkommenheit des Menschen bestehet, trotz allem, was die Verächter der Weisheit dawider spotten mögen, außer dem Wohlbefinden des Körpers in einem gereinigten Verstande, einem rechtschaffenen Herzen, und in einem feinen und zärtlichen Gefühl der wahren Schönheit, oder in der Übereinstimmung der untern Seelenkräfte mit den obern.«

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sche, Leidenschaften« (JubA VI/1, 20). Das Drängen der »Naturtriebe«149 (JubA VI/1, 21) auf Entfaltung der angelegten Fähigkeiten kann durchaus fehlgehen, da ihre natürliche Grenze dem Menschen nicht bewusst ist. Letztlich kommt es darauf an, sie, bewusst oder unbewusst, in die ›richtige‹, nämlich in den harmonischen Gesamtbau eingefügte Richtung zu lenken; Triebe mit vernünftigen Erwägungen in Übereinstimmung zu bringen. Die Proportion und Harmonie in der Ausbildung der Seelenkräfte kann also für die individuelle Entwicklung nicht vorausgesetzt werden, sondern ist seine Aufgabe, die letztlich auch unter subjektiven Gesichtspunkten lohnenswert ist, da sie dem Einzelnen einer wahrhaft angenehmen, gar lustvollen Ausübung seiner Fähigkeiten versichert. Mendelssohn vertritt im Orakel damit die wohlbekannte These, dass zur bestmöglichen Erfüllung dieser Aufgabe der menschliche Verstand geübt werden muss, um die sinnlichen Kräfte, die allein dem Menschen ein wahres, weil dauerndes Vergnügen bereiten können, in angemessene Bahnen zu lenken. Erst derjenige, der sich an der göttlichen Vollkommenheit orientiert, kann die wirklich harmonische Zusammenstimmung zwischen sich und der ›Welt‹, zwischen Körper und Seele genießen. Sich allein von Leidenschaften treiben zu lassen, kann dagegen kein dauerhaftes Glück versprechen. In dieser Hinsicht vertritt Mendelssohn ebenso wie Abbt einen »feineren Epikureismus« (JubA VI/1, 13). Die vernünftige Einsicht im Zusammenspiel mit einer sich ebenfalls ausgebildeten Sinnlichkeit bietet letztlich die höchste Form menschlichen Wesens, indem es befähigt, das dunkel Wahrgenommene zu beurteilen und sich zu ihm evaluativ und zielgerichtet zu verhalten. Erst die Berücksichtung dieser Stufe macht die Notwendigkeit der Ausbildung des Vernunftvermögens einsichtig. Vom »dunklen Fühlen […] zum geistigen Begreifen« (JubA VI/1, 20) muss ein Weg geebnet werden, der nicht auf eine Vernichtung des »dunklen Fühlens«, sondern seine Aufnahme und gleichzeitige Leitung abzielt.150 Diese Art der Vervollkommnung ist, angewandt auf das zugrunde liegende leibnizsche Monadenmodell, ein Gang von bloßen Perzeptionen zur vollkommenen Apperzeption. Interessanterweise wird dies bei Mendelssohn v. a. mit Rückgriff auf die gesellige Dimension des Menschen ausformuliert: »Der vernünftige Mensch besiegt 149

Auch Shaftesbury berücksichtigt diesen Aspekt, wenn er in seinen Miscellaneous Reflections (III.1, in den Characteristicks Bd. II, 253) als grundlegende Fragen formuliert: »Who or what he is; whence he arose or had his being; to what end he was designed; and to what course of action he is by his natural frame and constitution destined« – wobei sein Hymnus an die Natur immer auch ein Lobgesang der menschlichen natürlichen Einpassung in die göttliche Schöpfung ist: »… and the sum of philosophy is, to learn what is just in society and beautiful in nature and the order of the world.« (ebd., 255). Das Ineinanderdenken von Natur und Kultur übersehen weder er noch Leibniz in dieser Hinsicht durchaus nicht, wie Schwaiger 1999, 14 befürchtet, sondern führen es geradezu als Grundbedingung ihres Denkens aus. Zur großen inhaltlichen Nähe zwischen Leibniz und Shaftesbury siehe Schwaiger 1999, 17, Walzel 1909, 419–21. 150 Vgl. Altmann 1972, 18 f. und zur Verteidigung des Eigenrechts beider Modi S. 24.

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diese widerstrebende Neigungen [Trägheit und Unwillen, anderen mit allen Mitteln ebenfalls zur Glückseligkeit zu verhelfen] durch Ueberlegung und anhaltende Uebung, und vermehret durch die nehmlichen Mittel die Kraft der geselligen Meinung.« (JubA VI/1, 25) Es ist demnach den menschlichen Fähigkeiten gemäß, sich nach seiner »vernünftigen Erkenntniß« (ebd., 23) zu vervollkommnen. Der Rückgriff auf die »gesellige Meinung« ließe sich darüber hinaus auch als ein Zugeständnis an Abbt verstehen, der diese soziale Dimension ebenfalls als für den Menschen erkennbar klassifiziert hatte. Problematisch ist jedoch, dass Mendelssohn dies im Zuge der Argumentation wiederum abschwächt. Die grundlegende Entwicklung vom Embryo zum Kleinkind, die doch allererst zu menschlicher Vervollkommnung prädisponiere, verläuft naturhaft, ohne bewusste Entscheidungen oder Zwecksetzungen. »Der Unendliche hat nicht einmahl die Stillung des Hungers auf unsere Vernunft ankommen lassen, geschweige die Erfüllung seiner Hauptendzwecke.« (JubA VI/1, 24, Hervorhebung A.P.) Letztlich erreicht jeder durch die bloße Tätigkeit und Ausbildung der Seelenfertigkeiten, wie die Gestirne, seine jeweilige Bestimmung – ohne es zu wissen, ja, mehr noch verbleiben viele Menschen auf dieser ›unbewussten‹ Stufe, und erfüllen dennoch ihre Bestimmung. Ein überzeugendes Modell vernünftiger Bildung zum ganzen Menschen ist Mendelssohns Theorie zumindest in dieser Ausformulierung nicht, denn bei einer weitgehend unbewussten Entfaltung der Fähigkeiten wird man kaum von spezifisch menschlicher Entwicklung sprechen wollen, sondern muss die subjektive Vervollkommnung auf einen metaphysisch bestimmten, objektiven Vollkommenheitsrahmen bezogen denken. Mendelssohns Sicht ist hier deutlich ambivalent. Abbt ist folgerichtig mit dem bloßen Rekurs auf die Ausbildung der Seelenfertigkeiten als Destination des Menschen unzufrieden. Dies zeigen auch seine dem Orakel nachfolgenden Briefe: Allein der Verweis auf die Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten ist ohne die Beantwortung der Frage »wozu?« nicht genug. Damit habe Mendelssohn lediglich die erforderlichen formalen Elemente genannt, nicht jedoch die inhaltlichen, die eine Reformulierung subjektiver Vervollkommnung benötige. Zum einen also: was sollen die Menschen »mit ihrer Entwicklung insbesondere anfangen«? (Abbt am 6. März 1765, JubA XII/1, 78) Und was ist mit ihnen, wenn sie nicht zu der Stufe gelangen, auf der sie tatsächlich über ihre spezifische Widmung nachdenken können? »Denn, wenn Sie gleich sagen, daß der Fortgang von der ersten Empfindung des foetus bis zum ersten klaren Begriff weiter sey, als vom a, b, c, des Schulknaben bis zum problemate binomiali des Newton[151]; so 151

So Mendelssohn im Orakel, JubA VI/1, 20. In der ersten der Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz von 1782 (JubA VI/1, 32) weist er diesbezüglich darauf hin, dass zu jeder menschlichen Tätigkeit »Witz, Vernunft und Einbildungskraft« notwendig seien – fehlten diese, so sei auch die primitivste Handlung oder Reflexion nicht möglich. Der Rückgriff auf Newton mag

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deucht mir doch, daß der Zweck der Entwicklung nur alsdann erreicht sey, wenn der die Entwicklung leidende, weiß, warum er da ist.« (ebd.) Schon vorher hatte er die Frage ganz ähnlich formuliert. In seiner brieflichen Reaktion auf das Orakel vom 21. Mai 1764 (JubA XII/1, 46–48, hier 46) merkt er an, dass diese Entwicklung wohl menschliche Bestimmung, aber nur im Sinne eines »Werkzeugs« zur »Wiedmung« heißen könnte.152 Die eigentlich anvisierte Frage: »wohin gehen sie denn?« sei damit noch nicht beantwortet (vgl. JubA XII/1, 47). Dies, so Mendelssohn darauf, müsse die Philosophie aber gar nicht leisten. Vielmehr steht es ihr an, die allgemeinen Bedingungen menschlicher Vervollkommnung mit einer gültigen Beschreibung menschlicher Natur zu verbinden. Dabei kann nicht jedes Individuum berücksichtigt werden, sondern allein das, was den Menschen als Menschen auszeichnet. Eine darüber hinausgehende Frage »wozu Leben?« ist in diesem Sinne zu kurzsichtig gestellt. Bei der Betrachtung einer Fliege zu fragen, ob sie ihren Körperbau deswegen habe, um im nächsten Augenblick von einer Spinne gefressen zu werden – dass also ihr Zweck sei, die Fresslust der Spinne zu reizen – ist schlicht zu kurz gegriffen.153 Der zuerst benennbare »Zweck« sei das »Leben des Thierchens«. Weitergehendes Fragen und die damit einhergehende Sprachlosigkeit sind darüber hinaus eher der menschlichen Kurzsichtigkeit geschuldet. Oder, wie im folgenden Brief vom 14. Juni 1765 formuliert: »Nur müssen wir nicht übereilt schliessen, wie[:] wir wissen nicht wie, also wissen wir auch nicht ob, [oder:] wir wissen nicht alles, also wissen wir gar nichts.« (JubA XII/1, 92) Er verteidigt damit seine Ansicht, dass wir etwas über den menschlichen Zweck sagen können, aber sicherlich nichts über dessen individuelle, spezifische Zwecke, die über die Ausübung seiner Fähigkeiten

daneben auch – als literarisch-philosophische Remineszenz – der Lektüre von Bonnets Palingénésie (1769) und vor allem Alexanders Popes Essay on Man (1733/34), der schon Gegenstand von Mendelssohns und Lessings satirischer Preisschrift Pope, ein Metaphysiker! (1756) war, geschuldet sein. Beide hatten auf Newton als ein herausragendes Beispiel menschlichen Geistes hingewiesen, das dennoch in den engen Grenzen der menschlichen Begrenzung verbleiben müsse: »Superior Beings, when of late they saw / A mortal Man unfold all Nature’s law, / Admir’d such wisdom in an earthly shape, / And shew’d a Newton as we shew an Ape.« (Pope 1964, 59 f.) Auch Herder weist im Vierten Kritischen Wäldchen, [Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Leipzig 1990], 460 in deutlicher Anlehnung auch an Mendelssohns Theorie der Gewohnheit als »Verdunkelung« klarer und deutlicher Schlüsse (vgl. hier Kap. III.2) auf die generelle Gleichartigkeit eines Kleinkindes und eines Newton hin. Ebenso verneint Herder im Wäldchen die Frage nach dem Grund eines Daseins, sondern nennt das ursprüngliche, allem vorgängliche Faktum (qua dunkler Wahrnehmung ein »Gefühl«) des Ich-Bewusstseins. 152 Lorenz fasst dies als eine Frage nach dem inhaltlich bestimmten Ziel der Gattung auf (vgl. Ders. 1997, 205 f.). Es verwundert dann allerdings, warum Abbt im Folgenden auf eine Erklärung negativer Umstände der Individuen beharrt. 153 So in seinem Schreiben vom 26. März 1765 (JubA XII/1, 86 f.) Altmann 1973, 138: »What he [Mendelssohn] objected to was the narrowly utilitarian outlook of these champions of teleology, who were given the final coup de grâce by Kant.«

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

hinausginge. Damit ist Vervollkommnung als ein allen Menschen eigener Modus zu betrachten, an der jeder einzelne auf je unterschiedliche Weise teil hat; philosophisch aber die »Werkzeuge« und die allgemeine Zielrichtung angegeben und gesichert werden können. Die genaue Untersuchung der allgemeinen Möglichkeiten menschlicher Vervollkommnung hat Mendelssohn hier nicht vorgenommen – sie lassen sich jedoch als zentrale Themen seiner Überlegungen ausmachen, in denen er sich mit den hier genannten Konzepten des Vergnügens, der Sinnlichkeit, des moralischen Handelns und der Erkenntnis auseinandersetzt. In allen Bereichen, so die Ausgangshypothese, müsste sich die Ausformulierung des hier nur skizzierten Entwicklungskonzepts finden. Wie die Hinweise auf die auch unbewusst verlaufenden Entwicklungsmomente zeigen, wird ein wichtiger Punkt hierbei die Theorie der unbewussten Perzeptionen und ihr Verhältnis zur klaren und deutlichen Erkenntnis sein. Es ist nun wiederum aus menschlicher, forschender Perspektive offensichtlich, dass – wie Abbt sich ausgedrückt hatte – nicht alle Menschen die Chance haben, überhaupt in Grundzügen zu begreifen, »warum sie da sind«.154 Hier liegt die gängige Frage der Theodizee nahe, ob man unter solchen Umständen tatsächlich von einer vernünftig und gut eingerichteten Welt sprechen könne, die den Einzelnen zum bloßen Mittel der Vollkommenheit des Ganzen degradiere. Wie das vorangegangene zeigen sollte, soll und kann der Mensch sich Mendelssohn zufolge zur höchstmöglichen Form des Vernunftwesens entwickeln. Alle seine Kräfte seien darauf hin ausgelegt, wie es auch seine offenkundige Entwicklungsbedürftigkeit, sein Mangel an Instinkt zeige. Allerdings hatte er ebenfalls dafür argumentiert, dass eine nur unzureichende Entwicklung des Keims dieser Kräfte schon ausreiche, um die jeweilig individuelle, konkrete Bestimmung in der Welt zu erfüllen. Von der »objektiven« Warte auf gesehen ist eine größtmögliche Ausbildung von Seelenfertigkeiten in alle Richtungen und ohne Schranken ohnehin unmöglich. Durch die Einpassung in das Weltganze ist die allgemeine Richtung der Entwicklung vorgegeben: Alle Dinge sind füreinander und zueinander ausgerichtet und erfüllen erst im Zusammenklang ihre auch individuelle Bestimmung: »In der göttlichen Ordnung herrscht Einheit des Endzwecks« (JubA VI/1, 21), bei großer Mannigfaltigkeit der individuellen Ausprägungen. Damit ist Mendelssohns Argumentation streng an die objektive Dimension der Bestimmungsfrage gebunden: Der einzelne Mensch ist immer als Teil eines Kosmos zu verstehen, der als in sich harmonisch und zum Besten geordnet verstanden werden muss. Der Definition der Vollkommenheit wird er allerdings nicht gerecht, wenn er viele gleichartige Teile zu einem Aggregat zusammenfügt. Vielmehr erfordert der Begriff der Vollkommenheit neben der Mannigfaltigkeit den der Einheit, der sich hier aus einer Anordnung auf einen gemeinsamen 154

Vgl. Abbt am 6. März 1765, JubA XII/1, 78, dort im Singular.

I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog

107

Endzweck hin ergeben soll: »die Einheit der Absicht erfordert Mannigfaltigkeit in den Bestimmungen der Theile« (JubA VI/1, 24). Auf die Welt angewandt, ergibt diese Formulierung nach wie vor ein problematisches Bild: Der Tod des Säuglings und der des Wissenschaftlers unterscheiden sich in Bezug auf ihre individuelle Vollkommenheit prima facie grundlegend, denn nur letzterer hat zum gegebenen Zeitpunkt die nötige Einsichtsfähigkeit erreicht, um das Weltganze mit seinem Verstand zu umfassen. Jedoch nach letztgenannter Lesart sind beide der menschlichen Bestimmung, jeder auf seine Art, vollkommen gerecht geworden. Was phänomenal verstanden in bestimmten Hinsichten eine nur defizitäre Entwicklung ist, soll in Hinblick auf das Weltganze Entfaltung der Vollkommenheit sein. Problematisch dabei bleibt, dass diese Vollkommenheit nur objektiv – und damit mit Bezug auf ein »Weltganzes«, zumindest auf die menschliche Gattung in ihrem Zusammenhang – verstanden werden kann, obwohl Mendelssohn zuvor den Menschen als Selbstzweck beschrieben hatte. Letztlich erscheint das Individuum hier nur als ein ästhetisch relevanter Zulieferer für Mannigfaltigkeit, dessen Einheit als Vollkommenheit sich nur unter Absehung seiner individuellen Würde und Glückseligkeit erfüllt. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich Mendelssohn anscheinend in zwei einander ausschließende Positionen155 begeben hat: unterstellte individuelle Vollkommenheit streitet mit der Rücksichtnahme auf ein »mannigfaltiges« Ganzes, das nur zulässt, sich seine Bestandteile im Sinne einer Stufenfolge der Vervollkommnung vorzustellen und damit einzelne Sprossen als unvollkommen, als Vor-Stufen erfasst.156 »Allein die göttlichen Absichten erstrecken sich sowol auf jedes einzelne als aufs Ganze, und [s]ie werden im Ganzen auf das vollkommenste, im Einzelnen aber nur in Rücksicht auf das Ganze erfüllet.« (12. Juli 1764, JubA XII/1, 50 f.) Wenn tatsächlich alle einzelnen Glieder des Ganzen sich zur gleichen Höhe an Vollkommenheit aufschwingen könnten, so sei der göttlichen Schöpfung ihre Vollkommenheit genommen; Ord155

Vgl. Altmann 1973, 137. Über die Gefahr einer solchen Vorgehensweise vgl. Hinske 1966, 419: »Bezieht sie [die Anthropologie] die Frage nach der ›Natur des Menschen‹ und seiner ›eigentümlichen Stelle in der Schöpfung‹ in den Umkreis ihrer eigenen Fragestellungen ein, so läuft sie Gefahr, die divergierendsten Tendenzen und Interessen in sich zu vereinigen und so beispielsweise ständig zwischen Beobachtungslehre und Wesensbestimmung des Menschen hin- und herzuschwanken.« 156 Diese Sichtweise radikalisiert Mendelssohn 1782 in Anmerkung u) (JubA VI/1, 54 ff.), indem er umgekehrt Abbt vorwirft, dass dieser zugunsten einer allseits gleichartigen Ausbildung vorhandener Geistesfähigkeiten das Eigenrecht von »vernünftigen Wesen von geringerer Fähigkeit« (ebd., 56) verneint habe. Mannigfaltigkeit sei gerade nicht ästhetisch zu verstehen, sondern erfordere, die gegebenen Bestandteile als harmonisch und zueinander kompatibel in ein Ganzes eingeordnet zu verstehen. Vom subjektiven Standpunkt fragt sich allerdings wiederum, ob nicht das Insistieren auf einer objektiven Perspektive letztlich einem metaphysischen Ästhetizismus huldigt.

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

nung würde durch »Chaos« (ebd. 51) ersetzt.157 Abbts Verlangen nach individueller Vollkommenheit sieht Mendelssohn nur in Hinblick auf ein Fortleben der Seelen nach dem Tod erfüllt; der »hienieden« erreichte Grad an Vollkommenheit wäre dementsprechend auf der individuellen Ebene nicht zwingend der letzte. Die auf Erden vollzogene bzw. begonnene Vervollkommnung der Seelenkräfte ist nicht die endgültige Stufe; was das Individuum auf Erden erworben hat, ist nach dem Tod nicht verschwunden: »Nichts ist ohne Früchte verloren.« (JubA VI/1, 22) Das verbindende Glied zwischen den Welten sei die »Erinnerung« (ebd.) an das bereits Erworbene. Darüber wie die Seele im Jenseits sich weiter vervollkommnen wird, könne Mendelssohn zufolge der Mensch mangels Einsichtsfähigkeit nicht vernünftig philosophieren. Zu der Hoffnung, dass Gott diese höheren Zwecke mit dem Menschen verfolge, sei er dennoch berechtigt, denn »Gottlob! wir Menschen sind kein Rindvieh, wir laufen mit unter den Geistern.«158 (JubA XII/1, 52) Bis hierher allerdings ist es eine Hoffnung, auf die sich auch Mendelssohns Position, ebenso wie diejenige Spaldings, baut und die nur unter Zuhilfenahme von metaphysischen Voraussetzungen bestehen kann, die Abbt mit seinem Zweifel gerade bestritten hatte. Noch immer ist die Frage, warum der Einzelne einen Eigenwert haben sollte, wenn er lediglich als ein Bestandteil des harmonisch eingerichteten Weltganzen verstanden wird, nicht beantwortet. Mit Abbts Worten: »[Ich] halte es immer für schöner, wenn mir der Tischler ein halb Dutzend ganz einförmiger und ausgemachter Lehnstühle bringt, als wenn er um mehrerer Schönheit willen, dem einen einen Rücken, dem andern einen Arm, dem dritten einen Fuß hätte fehlen lassen.« (Abbt am 6. März 1765, JubA XII/1, 78) Dem begegnet Mendelssohn in seiner Antwort vom 26. März 1765 lediglich mit einer Bekräftigung des Unsterblichkeitspostulats. Auch weist er darauf hin, dass Abbts Vergleich nur eine Momentaufnahme biete; der menschliche wie auch universelle Zweck sich jedoch nicht in einem statischen Gefüge, sondern durch einen Prozess erfüllt. Auch wenn das Individuum für den Moment, d. h. im hiesigen Leben seine Anlagen nicht entwickeln könne, seien sie nicht umsonst. Die Dispositionen gehen, werden sie nicht entwickelt, nicht per se verloren, »sie hören nicht auf zu seyn«, sondern sie sind immer in die objektive Bestimmung eingepasst: »sie hören nicht auf, die Absichten Gottes zu erfüllen, die bis ins unendlich-kleine herabsteigen,

157

Dieses Argument hat Mendelssohn im zweiten Gespräch des Phädon, JubA III/1, 90 ebenfalls verwendet – wahrscheinlich war dieses Gespräch schon zur Zeit der Bestimmungsdebatte in den Grundzügen ausgeführt (s. Kap. V.1) und Mendelssohn konnte auf es zurückgreifen. Die Abhandlung Die Seele (veröff. 1787) schließt mit der lapidaren Feststellung: »[…] die Welt ist unmöglich ohne Rangunterschied.« (JubA III/1, 233) 158 Vgl. dazu die Unterscheidung bei Leibniz, auf die Mendelssohn hier zweifellos anspielt, zwischen Tieren und Vernunftwesen resp. Geistern im § 5 der Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison.

I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog

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und würden wahrscheinlicherweise, wenn ihre innere Organisation nicht so wäre, wie sie ist, diese Absichten nicht haben erfüllen können« (JubA XII/1, 86 f.) Aus einem Gefüge von Zweckhaftigkeiten würde, um im Bild zu bleiben, die bloße Ansammlung unterschiedlicher, aber tatsächlich in sich zweckloser, weil unbrauchbarer Stühle herausfallen, wenn nicht die Annahme gälte, dass diese Stühle wiederum gerade zu sinnvollen Sitzgelegenheiten bearbeitet werden. Die Vollkommenheit der Welt ist demnach kein zufälliges Aggregat von Verschiedenheiten, sondern ein Gefüge von Substanzen, die ihre jeweilige Eigenständigkeit und ihren Platz innerhalb des Gefüges behaupten, der sich erst über die gesamte Dynamik erschließt. Dies hebt die Mannigfaltigkeit der Welt auch von einer ästhetisch verstandenen Mannigfaltigkeit ab. Anders formuliert: In der Welt gibt es keine halben Monaden, sondern nur sich vervollkommnende, aber zugleich vollkommen zusammenstimmende Bestandteile, die noch dazu zwei Dimensionen besitzen: eine gleichbleibende, vielleicht ›absolut‹ zu nennende; und eine phänomenale Seite, die sich mit ›Menschenleben‹ und ›Erfahrung‹ bezeichnen ließe. Mendelssohns Anthropologie kennt beide Seiten: die dem Menschen phänomenal zugängliche Seite seiner Entwicklung gelangt in dieser Hinsicht zu einem Eigenwert, dem das harmonische Weltganze nicht entgegenstehen soll. Damit ist allerdings noch immer die Frage nach dem Eigenwert des diesseitigen Lebens nicht gelöst.

b) Affirmation der unendlichen Verbesserung Neben der Frage nach der rationalen Vervollkommnung des Menschen ist Mendelssohn auch an den Bedingungen einer Verbesserung des moralischen Wesens Mensch interessiert.159 In Anlehnung an Spaldings Position vertritt er ein positives Menschenbild, demzufolge der Mensch die höchste Stufe der Schöpfung darstellt, die der Vollkommenheit Gottes zwar nicht erreiche, ihr aber immerhin am nächsten komme. Er ist darüber hinaus nicht nur ein sich mechanisch entwickelndes, sondern ein geselliges Wesen; ein »zoon politicon«. In der Argumentation des Orakels kommt Mendelssohn wiederholt auf die Frage nach der ursprünglichen geselligen und gütigen Natur des Menschen zu sprechen. Alle Neigungen und Begierden, so seine Minerva160, seien letztlich nicht an sich 159

»Mendelssohn understood by the »true vocation« of man his perfection as a rational and moral being.« (Altmann 1973, 136) 160 An diesen Stellen ›spricht‹ Mendelssohn sozusagen durch zwei Medien gleichzeitig: er ruft, als Gegenspieler zu Abbts Sprachrohr Bayle, Leibniz auf den Plan, der wiederum Minerva als Göttin der Weisheit für sich sprechen lässt (Vgl. JubA VI/1, 21 ff.). Wie im Phädon vermeidet Mendelssohn in seiner Figurenwahl Anspielungen auf die christliche oder gar jüdische Überliefe-

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

schlecht, sondern als gute Keime in uns vorhanden, die durch falsche Übung und Gewohnheit pervertiert werden könnten. Ginge man von einem grundsätzlich bösen Menschen aus, so gäbe es keine Hoffnung auf irgendeine Besserung, aber auch keine Hinweise auf gute menschliche Taten: »So wenig eine willkührliche Bewegung, wo kein Muskel ist, durch Uebung und Gewohnheit hervorgebracht werden kann; eben so wenig kann eine künstliche Neigung erzeugt werden, wo keine natürliche zum Grunde liegt.« (JubA VI/1, 23, wiederholt in Anmerkung n), JubA VI/1, 37) Es müssen also gutartige Keime im Menschen angesiedelt sein, die lediglich in falscher Hinsicht entwickelt werden können. Jedoch: rechtfertigt dies die Behauptung, der Mensch sei an sich und ausschließlich gut? Woher kommen dann die »Widerstände«, die man beim rohen und ungebildeten Menschen findet und die ihn von der wahren Ausbildung seiner Kräfte abhalten? Mendelssohn gibt hier lediglich eine Perspektive auf die Umgehung dieser destruktiven Kräfte durch Aufklärung und »Uebung« (vgl. JubA VI/1, 25). Dabei soll der Widerstand als eine äußerliche Kraft verstanden werden, der allein eine Hemmung durch falsche »Uebung und Gewohnheit«, nicht eine widerstreitende, angeborene schlechte Anlage darstellt. Im Umkehrschluss ist freilich auch menschliche Güte ein Vermögen, das erst durch Ausbildung zur Ausübung gelangen kann; die Anlage an sich ist lediglich ein Ausgangspunkt dafür. Diese Sicht vertritt Mendelssohn im Zusatz zur zweiten Auflage des Phädon von 1768: »Genug, daß denken und wollen […] Grundthätigkeiten sind. Nun können alle natürlichen Kräfte nur Bestimmungen abändern, nur Modifikationen mit einander abwechselnd machen, niemals aber Grundeigenschaften und für sich bestehende Thätigkeiten der Dinge in Nichts verwandeln […].« (JubA III/1, 134) Das Denken und Wollen können sich nicht – über eine in sich böse, das heißt auch negative Anlage – in nichts verwandeln, sie können höchstens mangelhaft ausgebildet sein. Damit ist wiederum die Entwicklungsbedürftigkeit des Menschen betont: ›an sich‹ ist die menschliche Güte lediglich eine Anlage, die sich erst herausbilden muss, doch ist sie notwendige Voraussetzung. Der allgemeine »gesellige, uneigennützige Trieb, ein Grundtrieb zum allgemeinen Besten« (JubA VI/1, 25) begründet Mendelssohn also zum einen durch die Eingebundenheit des Menschen in die aufeinander ausgerichtete ›allgemeine Weltordnung‹. Zum anderen schließt er sich Abbts Kritik an Spaldings zweitem Trost an. Auch die von Spalding angewandte ›Vergeltungstheorie‹ kann letztlich nur jedes Handeln als egoistisch motiviert beschreiben: man handelt gut, um nicht bestraft zu werden. Dies sei eine unzureichende Begründung menschlicher Handlungen. rung. Es ist jedoch zu beachten, wann Mendelssohn ›selbst‹ spricht und wann er die »Schatten« anderer beschwört. In dieser Hinsicht ist nicht ganz ersichtlich, wieso die Berufung auf Leibniz eine »grundsätzliche Zustimmung« Mendelssohns zu den Argumenten des Lutheraners (wohlgemerkt ist das nicht gleichbedeutend mit Leibnizianers) Spalding bedeuten soll (so Hinske 1994, 142).

I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog

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Wahrhaft moralisch wären diese vielmehr dann, wenn die jeweilige Tat um ihrer selbst willen geschähe und der Handelnde seine Glückseligkeit in der Ausübung der Tugend selbst fände (vgl. JubA VI/1, 23). Wo die Ausübungsmöglichkeiten auf Widerstand stoßen, würde dieser Mensch weder die tugendhaften Handlungen (wegen mangelndem Erfolg) einstellen, noch würde er denen, die ihn behinderten, Böses wünschen. Weder im Orakel, noch im folgenden Briefwechsel ist dieser Aspekt befriedigend ausgeführt. Auch später, in der Anmerkung o) der Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz, kommt er nur kurz auf diesen Punkt zurück: Der enge Zusammenhang der eigenen Glückseligkeit mit derjenigen meiner Mitmenschen lade immer dazu ein, das auf den anderen gerichtete Wohlwollen letztlich als einen egoistischen Zug zu reformulieren, da es ja zur eigenen Vervollkommnung beiträgt. Mendelssohn charakterisiert hier die Bezeichnung eines solchen Verhaltens mit »Eigennutz« als eine »feine Grübeley« (JubA VI/1, 38), die an der Realität vorbeigehe. Entscheidendes Differenzierungsmerkmal sei das unmittelbare Bewusstsein der Handlung. Dies merke man auch an den Folgen des eigenen Verhaltens auf den Gemütszustand; handle man mit der Intention, unmittelbar jemandem – nicht der eigenen Vervollkommnung – nützlich zu sein, so entstehe das Gefühl »der Selbstzufriedenheit, des Adels und der Erhabenheit der Seele« (ebd.). Diese Handlungen, da sie unbestreitbar auch zur eigenen Verbesserung führten, eigennützig zu nennen, nehme der Sprache lediglich die Möglichkeit, valide, der Sache nach vorhandene Differenzierungen zu benennen. Mendelssohns Ansicht von der Güte bzw. ›Unschuld‹ menschlicher Triebe schließt sich damit deutlich an die Rousseau-Debatte mit Lessing (Kap. II.1) und die Ausformulierung der Theorie der vermischten Empfindungen (Kap. II.2 und 3) an. Außerdem, so Mendelssohn in Übereinstimmung mit Abbts weitergehender Kritik an Spalding, sei auch das Unsterblichkeitspostulat nicht deswegen notwendig, um einen ›Ausgleich‹161 diesseitig erlittenen Unrechts zu garantieren. Vielmehr bemüht er sich, den Vergeltungsgedanken im Sinne der Vervollkommnungslehre ins Positive zu wenden, indem er in der Annahme eines Jenseits den Schwerpunkt nicht auf Strafe, sondern auf Erziehung legt. Gäbe es kein Jenseits, in dem sich die bereits erworbenen Fertigkeiten weiter – und zwar zum Guten – entwickelten, so sei all 161 Gegen die »Vergeltungs- und Bestrafungstheorie« auch in der (hebr. verfassten) Abhandlung Die Seele (veröff. 1787), JubA III/1, 231 f.: Warum sollte Gott als Vergeltung zu üblen Taten Übles hinzufügen? »Nach meiner Ansicht gibt es keine Strafe ausser zum Nutzen des Sünders, zu seiner Erziehung. Ich meine damit: da die Quelle der Sünde die Unkenntnis des Guten und Schlechten ist, so erkennt der Verstand durch die Verknüpfung der Strafe mit der Sünde, dass er das Gute verworfen und das Schlechte gewählt hat; und dies ist der Zweck der Strafe.« Strafe als Abschreckung (ebd., 232) ist zusätzlich möglich und gerecht, denn dann ist die Strafe nicht nur nützlich für den Sünder, sondern auch für die Gesamtheit – allerdings dürfe sie nicht unverhältnismäßig sein: »Gott […] beugt nicht das Recht des Einzelnen zum Nutzen der Gesamtheit […].«

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

denen, die in ihrem irdischen Leben ihre Entwicklung in die falsche Richtung getrieben hätten, auf immer die Chance auf Verbesserung ihrer Einsichten verwehrt. »Alle Züchtigung hat Besserung zum Endzwecke […].« (20. Juli 1764, JubA XII/1, 53) Auch dieser Ansatz betont das Konzept einer dynamischen Entwicklung; es ist in Bezug auf Mendelssohns Bildungsbegriff darauf zurückzukommen (Kap. IV.3).

3. Offene Enden Konnte Mendelssohn mit seinem Orakel und den anschließenden Briefen Abbts Zweifel auflösen? Um im Bild der Parabel zu bleiben, so dürfte es wohl kaum ausreichen, den Soldaten zu bescheiden, sie müssten nur die Befehle abwarten, dann würde sich ihnen der Gesamtsinn schon erschließen. Das geschilderte Problem war ja gerade, dass die Soldaten den einen Tag auf den Marsch, den anderen zum »Muschelsammeln« (Mendelssohns Beispiel) geschickt werden und erst angesichts dieser offenkundigen Verwirrung und Sinnlosigkeit zu zweifeln beginnen. Diese Frage hat, wie der erste Teil dieses Kapitels zeigen sollte, auch Abbt mit seiner Forderung nach Bescheidenheit nicht beantworten können. Mendelssohns Antwort auf diesen Zustand lautet vorerst: ›Schaut doch (so, wie Spalding in sich hineinhorcht) genau hin, dann seht ihr die offenkundige Vollkommenheit, der ihr nachstrebend sollt!‹ Abbt hingegen hält, geht man allein von der Parabel aus, dem entgegen: ›Ihr fragt falsch! Schaut nicht auf einen kosmischen Sinnzusammenhang, denn diesen zu begreifen seid ihr zu klein, sondern seht darauf, eure täglichen Verrichtungen gut zu erledigen!‹ Sein von dieser Selbstbescheidung abweichendes Fragen nach dem »wozu?« in den Briefen an Mendelssohn darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass er mit dieser Lösung selbst nicht zufrieden war, sondern darüber hinaus die Zweckhaftigkeit einzelner Verrichtungen wiederum infrage stellte. Auf Mendelssohns Brief vom 26. März 1765, der die Harmonie des Universums auf eine metaphysische (nicht ästhetische) Basis zurückzuführen versucht hatte, hat Abbt anscheinend (sein Antwortschreiben ist verloren) geantwortet, dass eine solche Lösung »demütigend« für den Menschen sei. Mendelssohn in seiner Antwort darauf vom 14. Juni 1765 sieht dies nicht (vgl. JubA XII/1, 92). Nun hält er die irdische Selbstbeschränkung hoch: In der Tat ist die menschliche Erkenntnis mangelhaft. Aber immerhin wüssten die Menschen, dass sie eine Bestimmung hätten. Ob dies Abbt glücklicher gemacht hätte, sei dahingestellt. Wohl zu Recht hält Lorenz fest: »Das Mißliche am metaphysischen Optimismus ist, daß sich das leidende Gemüt nur vermittels der allgemeinen Reflexion darauf trösten kann, daß das vorfindliche Übel Teil des besten Systems sei: Der Nachweis, wie und warum es dies sei, gelingt, obwohl theoretisch immer (und für den unendlichen Verstand Gottes stets und immer) möglich, fast nie.« (Ders. 1997, 96)

I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog

113

Mendelssohn und Abbt argumentieren deutlich auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Lorenz hat zur Charakterisierungen solcher Situationen, wie sie sich im 18. Jahrhundert häufig in den Rollen Bayles und Leibniz’ fanden, das treffende Bild zweier Schwerhöriger zitiert, die ihre Position, taub gegen Argumente, auch dann verteidigen, wenn das Gegenüber noch spricht (vgl. ebd., 83). Ist eine positive, optimistische Beantwortung der menschlichen Bestimmung nur unter Rückgriff auf ein starkes metaphysisches Postulat wie die Unsterblichkeit der Seele und die »Vorsehung« Gottes möglich? Oder sind diese Begriffe letztlich nicht viel mehr als eine »göttliche Beruhigung« (JubA VI/1, 23)? Im Brief an Abbt vom 9. Februar 1764 jedenfalls betont Mendelssohn die Wichtigkeit der Argumentationsgrundlagen: »Der Mensch, seine Kräfte und seine Fähigkeiten, Sitten, Rechte und Obliegenheiten bilden ein unermeßliches Meer von Erkenntnissen. Wer sich ohne das Steuer einer gesunden Metaphysik[162] auf dieses Meer wagt, der scheitert.« (JubA XII/1, 35, Hervorhebung A.P.) Diese Metaphysik soll Sicherheit in der Frage nach der immer weiter fortschreitenden Vervollkommnung der menschlichen Seele auch nach dem Tod liefern. Mendelssohn kann daher im Orakel allein Abbts Zweifel nicht ausräumen. Um die Zeichenhaftigkeit der Welt und die Unsterblichkeit der Seele – beide als Funktionen göttlicher Vorsehung – einsichtig zu machen, ist eine tragfähigere Basis nötig. Diese zu entwickeln ist das Projekt von Mendelssohns Reformulierung menschlicher Bestimmung. Eine Theorie menschlicher Natur soll zeigen, wie er sich in die Welt einzupassen in der Lage ist; seine Destination jedoch weist, so wird Mendelssohn im Phädon argumentieren, über allein empirische Beobachtung hinaus. Er versucht damit, dem metaphysischen Optimismus Leibniz’ eine Richtung auf eine anthropozentrische Betrachtungsweise zu verleihen, indem er Rückschlüsse auf die menschliche Moral, seine Sinnlichkeit und Erkenntnisfähigkeit zieht. Damit versucht auch er, einem allgemeinen Trend des 18. Jahrhunderts folgend, die »Lesbarkeit der Welt«, also die Physikotheologie, mit dem leibnizianischen Konzept der Vernunft zu verbinden.163 Diese »Lesbarkeit« soll auch mit Bezug auf den neuralgischen Punkt der Bestimmungsdebatte, das Perfektibilitätstheorem, erfüllbar sein. Mendelssohn zieht die Bedeutungsebenen der Perfektibilität – nämlich die Vervollkommnungsfähigkeit und die faktische Vervollkommnung – zusammen und benennt damit die menschliche Anlage, eine Fähigkeit, mit demselben terminus wie den sich faktisch vollziehenden 162

Im vorangehenden Absatz des Briefes nennt Mendelssohn alternativ »den blumigten Wegen der Geschichte, Moral und Politik, oder […] die Anhöhen der Mathesis« (ebd.). 163 Vgl. Lorenz 1997, 97 f. mit Verweis auf Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 1989, siehe dort 250. Eine mit Bezug auf Mendelssohn höchst aufschlussreiche Debatte des Wolffianischen Konzepts einer solchen »Lesbarkeit« via natürliche Zeichen, der sich Mendelssohn anschließen wird, gibt Wellbery 1984, 24–30. Siehe auch Mendelssohns hier einschlägige Äußerungen im Jerusalem, JubA VIII, 160 ff.

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

Prozess (vgl. Hornig 1980, 248, 224). Damit ist die eingangs angesprochene Gefahr, selbst eingeforderte Differenzierungen nachträglich zu verwischen, gegeben. Mendelssohn hatte, wie erwähnt, zwischen der menschlichen Definition und seiner Destination unterschieden und die prinzipielle Offenheit für Entwicklung als Definition, die Erfüllung dieser Offenheit im menschlichen Denken, Handeln und Empfinden als Destination bestimmt. Zugleich hat er mit der Zuschreibung von Vollkommenheit für beide Zustände diese Differenzierung wiederum verdunkelt. Dies ist, so meine Vermutung, für die Unklarheit seiner Argumentation mitverantwortlich. Der ›Rationalist‹ Mendelssohn hat durchaus mehr zu bieten als die »göttliche Beruhigung« in der Selbstversicherung einer vollkommenen Weltordnung, die letztlich weder beweisbar ist, noch das menschliche Bedürfnis nach einem individuell gelungenen Leben befriedigt. Dass dies eine unvollständige Interpretation von Mendelssohns Werk bedeutete, soll in dieser Arbeit gezeigt werden. In der Korrespondenz mit Abbt wird die erste Bedeutungsdimension des Menschen, also seine Determination, zumindest dem ersten Anschein nach nicht extensiv thematisiert. Sie bleibt aber immer eine Argumentationsgrundlage. Die spezifische Wesenheit des Menschen, die Mendelssohn in seine Entwicklungsfähigkeit legt und diese mit der synonym verwendeten Bezeichnung Vervollkommnungsfähigkeit sogleich einem teleologischen Muster unterwirft, führt zurück auf die psychologischphysiologischen Betrachtungen in den sogenannten ästhetischen Schriften der 50er bzw. 60er Jahre. Altmann zufolge hatte Mendelssohn die Thematik schon in den Briefen über die Empfindungen (1755) und der Preisschrift Ueber die Evidenz (1764) berührt. Die Diskussion mit Abbt kam ihm nun umso gelegener, da er einen »focal point« für seine Ausarbeitung des Phädon benötigte. »For two and a half years164 the Vocation of Man formed a major topic in the correspondence between Mendelssohn and Abbt, the significance of which for the completion of Mendelssohn’s Phaedon cannot be overestimated.«165 Die Bestimmungsdebatte weist damit zum einen zurück auf Mendelssohns Frühwerk; sie zeigt zum anderen auch die künftige Entwicklung an. Die beiden zuerst genannten Schriften, die Briefe wie die Evidenzschrift, gehören dabei unterschiedlichen Themenfeldern an. Untersucht Mendelssohn in den ersteren die Natur und Ausrichtung menschlichen Vergnügens, so fügt dem die 1764 erschienene Preisschrift weitere Ausführungen zur menschlichen Fähigkeit des Bewertens und Handelns hinzu. Worüber kann es sicheres Wissen geben? Was sind die Kriterien dieser Sicherheit? Wenn dem Menschen ein Großteil der Welterfassung nur über 164

Also vom ersten diesbezüglichen Brief Abbts an Mendelssohn vom 10. November 1762 (JubA XI, 359 f.), bis zu Abbts plötzlichen Tod am 3. November 1766 (Abbts letzter Brief an Mendelssohn datiert vom 28. August 1766 (JubA XII/1, 120 f.). 165 Altmann 1973, 131. Siehe auch dessen Aufsatz zur »Entstehung des Phädon« in Altmann 1982, 84–108.

I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog

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die verworrenen Vorstellungen zugänglich ist, so muss sich dieses Feld mithilfe einer angemessenen Theorie menschlicher Wissenserlangung und dessen Absicherung bestimmen lassen. Der modus der klaren und verworrenen Empfindungen als ein wichtiger Bestandteil menschlicher Welterfassung hat seinen Platz deshalb nicht nur in der Erklärung angenehmer Empfindungen (Kap. II), sondern wirkt auch auf theoretische Überlegungen und praktische Erwägungen (Kap. III). Der Unterschied zwischen einem »Tierchen«, einem Kind und Newton, ebenso wie zwischen Mensch und Engel, soll somit in einer umfassenden Theorie erklärbar werden. Mit der in ästhetischer Hinsicht entwickelten Theorie der vermischten Empfindungen wiederum versucht er, auch das movens zu moralischen Handlungen, und damit die in der Bestimmungsdebatte angesprochene Übung, sowie den Sinn verständiger Verbesserung zu begründen. Darüber hinaus hat sich Mendelssohn verstärkt nach 1770, im Zuge des Lavater-Streits und angesichts der Möglichkeiten politischer Öffentlichkeit in Berlin, der Frage der Bestimmung des Menschen in der Gesellschaft zugewandt, die auch Abbt in der Bestimmungsdebatte angesprochen hatte. Diesbezügliche Überlegungen weisen Mendelssohns Verständnis einer menschenmöglichen, -notwendigen und politisch verantwortlichen Bildung aus (Kap. IV.3). Abbts Fragen und Mendelssohns zeitnahen Antwortversuche sind darüber hinaus für die sich etablierende Geschichtsphilosophie bedeutsam (Kap. IV.2).166 Mendelssohn formuliert das von Abbt angesprochene Problem der historischen Perspektive der Menschheitsentwicklung universalistisch und zugleich konzentriert auf das Individuum. In Bezug auf die subjektive Dimension der Bestimmung verschiebt sich der Fokus vom Blick auf die Menschheitsgeschichte als Gattungsgeschichte zur Geschichte je individueller Entwicklungen, ohne dies derart einzugrenzen, dass sie nur noch für die betreffenden Individuen lesbar wäre.167 Doch wie die vorangegangene Analyse zeigte, liegt die Befürchtung nahe, dass Mendelssohn die Abgrenzung zwischen einer Weltgeschichte (objektive Dimension) und der des Individuums (subjektive Dimension) nicht immer durchhalten wird. Die Frage, wie der Mensch – angesichts einer als sinnlos wahrgenommenen Gattungsgeschichte – sich dennoch selbst zur Glückseligkeit bestimmen soll, wird von ihm letztlich unter Ausschluss einer historischen Perspektive geführt, die den Menschen konstituierenden Eigenschaften als universell gültig und gleichbleibend aufgefasst. In einer umfassenden Betrachtung von Mendelssohns im 166

Nach Hinske 1994, 145–56 ist auch Kants 1784 veröffentlichte Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ebenfalls als Antwort auf die Bestimmungsdebatte zu verstehen (siehe Kap. IV.2, Abschnitt 5, S. 416 passim). Damit prallen in den Gestalten von Abbt, Herder, Mendelssohn und Kant vier unterschiedliche Konzepte aufeinander. 167 Dies trägt auch die später in Ueber die beste Staatsverfassung (in den 1780er Jahren entstanden, zuerst gedruckt in GS IV/1 (1844), 150–53) gemachte Aussage, dass der Fortschritt der Menschen durchaus mit einem Rückschritt der Menschheit einhergehen könne; siehe JubA VI/1, 145–48, hier 156 und Kap. IV.2.

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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen

Orakel vertretenen Auffassung ergibt sich eine paradox anmutende Folgerung: zwar macht er gegen eine gattungsgeschichtliche Betrachtung die individuelle Ausbildung der Vermögen geltend, doch impliziert das eine nur eingeschränkt ›individualistische‹ Sicht auf die Bestimmung des Menschen. Vielmehr lässt sich, so Mendelssohns Annahme, menschliche Konstitution nach allgemeinen Gesetzen beschreiben. Der Weg zur Vervollkommnung ist argumentativ an das Postulat einer vollkommen aufgebauten, d. i. harmonischen Welt und einem in seinen Grundzügen konstanten Begriff von den wesentlichen Eigenschaften des Menschen gebunden. Auch der Hinweis, dass die »Naturtriebe« nach göttlichem Plan funktionierten – überlässt man sich ihnen, könne man nicht fehlgehen – spricht für diese Lesart (vgl. JubA VI/1, 20 f.). Letztlich steht Mendelssohns Ansicht im Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit der Berücksichtung eines sozial und geschichtlich bestimmten Individuums und dessen gattungsspezifischer Merkmale.168 Seine Erklärungsabsicht geht damit auf den Menschen als einen je individuellen Vertreter der Menschen als Gattung; das Individuum ist die einzigartige Ausprägung einer allgemeinen Menschennatur und gliedert sich dennoch immer in ein harmonisches Weltganzes ein (Kap. V). Doch es ist weniger dieses harmonische Weltganze als die Ausformulierung des Entwicklungsgedanken selbst, die Mendelssohns Position interessant und wertvoll macht. »Enlightenment itself, he believed, lost its value when passed around as a readymade commodity instead of being the result of ever-renewed search and testing.« (Altmann 1973, 32) Die Möglichkeit des Menschen, sich der Bestimmung durch Ausbildung der eigenen Vernunft und Sinnlichkeit in immer neuen Anläufen bewusst zu werden, nimmt der hier vertretenen Position ihre Statik. Allerdings erfordert die Ausformulierung dieser Theorie eine Berücksichtigung der sie konstituierenden Bestandteile, die er ebenso wenig wie Abbt in der im gegenwärtigen Kapitel interpretierten, kurzen Debatte angemessen hat ausführen können. Das im Teilkapitel I.1 angesprochene teleologische Element in der Beschreibung menschlicher Natur innerhalb der Bestimmungsdebatte, aber auch die Konstituenten der Perfektibilität und ihr Zusammenhang mit der menschlichen Vernunftfähigkeit wurden von beiden Kontrahenten vielmehr vorausgesetzt. Diesen Aspekten, sowie den sich darauf ergebenden Folgerungen auf die komplexe menschliche Natur als eines gemischten Wesens, widmen sich die nun folgenden Kapitel. »However, the publication of these two essays did not conclude the debate by any means.« (Altmann 1973, 131) 168

So erscheint »Bildung« als eine Grundfunktion, wird aber nicht individuell gedacht (vgl. Jannidis 2004, 10). Altmann 1982, 118 ff. weist diesbezüglich auf Lessings Sicht hin, die sich auch gegen Leibniz’ Causa Dei richtet: nicht die Verdammung (der Gottlosen), sondern »das Einzel[-]ich [als] die einzige metaphysische Realität in der Geschichte« sollte philosophisch relevant sein. Ob Lessing selbst diese Ansicht konsistent vertreten hat, ist Gegenstand von Kap. III.2.

KAPITEL II Theorie der Sinnlichkeit

II. Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept »How should an Aufgeklärter philosophize in the aftermath of Rousseau?« Zammito 2002, 1

Wie das Interesse an der Bestimmungsdebatte zeigt, war das 18. Jahrhundert nicht nur ein Jahrhundert der neuen Disziplinen, sondern auch eines der Krisen. Mit der Herausbildung eines neuen Selbstverständnisses erwuchs zugleich auch die Unsicherheit über vertraute Wahrheiten, wie Abbts Zweifel widerspiegelte. Martino weist in seiner Studie der »dramatischen Theorien« auf eine der umfassendsten dieser Krisen hin, die »Krise der Vernunft«.1 Wie er jedoch festhält, bezeichnet dieser Ausdruck keine Krise der Rationalität an sich, sondern vielmehr ist sie der Ausdruck eines Misstrauens gegen die Verunreinigung des vernünftigen Wissens durch ungesicherte Zusätze, »Pseudowissen und Vorurteile« (ebd.). Mit dem Bemühen um Sichtung und Prüfung angeblich vernünftiger Urteile ging ebenfalls eine Aufwertung der Sinnlichkeit und ihre Einordnung in einem umfassenden Konzept vom Menschen einher. Menschliche Konstitution als eines komplexen Zusammenspiels sinnlicher und intellektueller Aspekte, wie auch die Annahme seiner Entwicklungsbedürftigkeit führte zu einer Besinnung auf seine Wurzeln, sowie auf seine irrational erscheinenden Bedürfnisse und Fehler. Diese Krise der Vernunft, die auch die Umbesetzung ihres begrifflichen Gehalts andeutete, fand in dem solcherart charakterisierten Rahmen wohl am einschneidensten in der Auseinandersetzung mit einem ihrer schärfsten Kritiker, Jean-Jacques Rousseau, ihren Ausdruck, der nicht zuletzt die von Mendelssohn in der Bestimmungsdebatte verteidigte Perfektibilität scharf angegriffen hatte. Zwar stellte dessen Ansicht eine klare Kritik fortschrittsgläubiger Aufklärung dar, war jedoch, in Über1

Martino 1972, 114 f. Die Rede von einer »Krise« hat jüngst Zelle 1999, 99 f. wieder aufgegriffen. Ihm zufolge artikulieren die zahlreichen Texte zum Genuss am Schrecklichen in der Aufklärung ein Wissen um eine »Dialektik der Aufklärung«, das »das Bewusstsein ihrer aufklärerischen Verfasser übersteigt« (ebd.). ›Krise‹ ist damit der Ausdruck einer probleminduzierten, in ihren Anfängen aufgrund des destruktiven Potentials verdrängten Bewusstseinslage innerhalb des jeweiligen Umfelds, das bestimmten Schwierigkeiten mit nur unzureichenden theoretischen Mitteln Herr werden kann. Versuche vorsichtiger Revision stehen hierbei »alleszermalmenden« Tendenzen gegenüber; Lagergrenzen verschärfen sich.

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

einstimmung mit Martinos Einschätzung, keine generelle Absage an die ratio per se. Er strebte vielmehr innerhalb seiner Schriften zu einer differenzierteren Sichtweise auf die problematischen Aspekte menschlicher Entwicklung. Das Studium des Menschen, nicht einer göttlich kalten Vernunft sei es, so Rousseau, das der höchsten Aufmerksamkeit philosophisch-anthropologischer Forschung bedürfe. Mit inbegriffen in diese Forderung war eine Neubesinnung auf die Methode, um einer Erfassung des Menschen habhaft zu werden. Rousseaus »Anthropologie«, wie er sie in den beiden Discoursen vorgetragen hat, ist dabei v. a. durch Opposition gegen gängige Tendenzen bestimmt; erst in den späteren Werken scheint er eine konstruktivere Ansicht zu vertreten.2 Jedoch soll im gegebenen Rahmen nicht auf diese, sondern auf den zweiten Discours eingegangen werden, von Mendelssohn zu Beginn seiner philosophischen Karriere übersetzt und mit starkem Einfluss auf sein Denken, wie zeitnahe Diskussionen, insbesondere mit dem Freund der frühen Berliner Jahre, Gotthold Ephraim Lessing, belegen. Das Nebeneinander und die gegenseitige Beeinflussung von wolffianischen und leibnizianischen Gedanken mit Rousseaus Kritik führte schon früh zu einer internen Spannung von Mendelssohns philosophischen Grundbegriffen, ohne dass diese vehement an die Oberfläche trat. Vielmehr lässt sich in einer eingehenderen Analyse der vom Rousseau-Interesse bestimmten Schriften zeigen, inwiefern dessen Skepsis an einer allumfassenden Vernunft auch Mendelssohn zu einer Verfeinerung seiner Ansichten zur Vervollkommnung des Menschen durch eine differenzierter verstandene Vernunft führte. Die Aufgabe dieses Teilkapitels ist mit der Frage bestimmt, was Mendelssohns Begriff der Perfektibilität umfasst und welches Menschenbild dieser trägt. Ebenfalls werden die laut Rousseau im Menschen ursprünglich wirksamen Kräfte der Freiheit und Mitleidsfähigkeit im gegebenen Zusammenhang diskutiert. Es wird sich zeigen, dass Mendelssohn bestrebt ist, alle diese Momente in einer umfassend wirksamen Menschenvernunft, die auf den Ausgleich von Überlegung und Leidenschaft, sowie Eigeninteresse und Mitgefühl zielt, zu verbinden.

2 Zum Verhältnis einer ›negativen‹ Kulturphilosophie der beiden Discourse und der dem entgegenstehenden ›positiven‹ Auffassung im Contrat Social und im Émile (beide 1762) siehe (im Anschluss an Kants Einschätzung, AA VIII 116) u. a. Fetscher 1981, 905 m.w.Vw. Ihm zufolge ist diese Gegenüberstellung ohnehin fragwürdig; vielmehr ließe sich die ›positive‹ spätere Kulturphilosophie nicht als ein Widerruf, sondern als ein Versuch des Umgangs mit dem unvermeidlichen Niedergang lesen. »Die Aufgabe des Politikers und Volkserziehers ist es – nach Rousseau –, ›den Fortschritt zum Übel‹ wenigstens zu verlangsamen, obwohl er im Grunde unaufhaltsam ist.« (Fetscher 1981, 905) Eine eingehende Rezeption der später veröffentlichten Schriften Émile und Contrat Social ist daneben in Mendelssohns Spätwerk kaum nachweisbar; vgl. Kap. IV.1 und 3.

II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept

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Vorbemerkungen: Mendelssohns Herangehensweise an Rousseaus zweiten Discours Mendelssohns Übersetzung3 dieser gerade 1755 erschienenen und die aufgeklärte, wissenschaftsoptimistische Gesellschaft der deutschen Philosophen auf- und abschreckende Schrift erfolgte zeitnah: schon 1756 erschien sie anonym unter dem Titel: Abhandlung vom Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen und worauf sie sich gründe 4, versehen mit einem Sendschreiben an den Herrn Magister Leßing in Leipzig, in dem Mendelssohn die ihm am wichtigsten erscheinenden Punkte einer kritischen Erörterung unterzog. Damit schloss sich Mendelssohn einer in Deutschland verbreiteten Linie an: die Reaktionen auf Rousseau erfolgten dort generell außerordentlich rasch. Eine weitere Besonderheit der deutschen Rousseau-Rezeption ist aber nicht nur die Schnelligkeit der Aufnahme bzw. Ablehnung von dessen Werk, sondern auch deren Heftigkeit. Beide Discourse wurden als ein Angriff auf die Aufklärungsphilosophie gewertet – ergo fühlten sich alle Rezensenten dazu aufgerufen, sie entschieden zu widerlegen. Die einheitliche Linie der allzu pauschalen Rousseau-Ablehnung durchbrachen erstmals die Rezensionen Lessings, zuerst in der April-Ausgabe 1751 in der Beilage zu den Berlinischen Staats- und Gelehrten Zeitungen: Das Neueste aus dem Reiche des Witzes, später am 10. Juli 1755 in der Berlinischen Privilegirten Zeitung, die vielmehr zu einer ernsthaften und vorurteilsfreien Lektüre des provozierenden Autors aufrufen. Eine ähnliche Intention scheint auch Mendelssohn mit seiner Übersetzung verfolgt zu haben. Wie Ursula Goldenbaum in ihrem Vorwort der jüngsten Edition dieses Werks zeigt, rief sie ein durchweg positives Echo in der Kritik hervor und diente sogar noch bis ins vergangene Jahrhundert als Grundlage für Neuübersetzungen.5 Auf der anderen Seite spiegelt sich Mendelssohns Skepsis gegenüber Rousseau in einer satirischen Paraphrase beider Diskurse in der Wochenschrift Der Chamäleon (JubA II, 133–43), die trotz der überzeichnenden Tendenz einen für seine Sicht auf Rousseaus Ideen charakteristischen Zug enthält: Es gäbe auch in der Gesellschaft genug Mitglieder, die eben nicht entarteten, sondern zur Erreichung der wahren Glückseligkeit der Gesellschaft bedürften. Ihre moralischen Eigenschaften erfüllen »ihre Seele mit einer göttlichen Beruhigung, die von der dummen Zufriedenheit eines wilden Menschen eben so weit, als die Glückseeligkeit eines Engels von der ein3

Sie war wohl zu Anfang als eine Übung seiner Deutschkenntnisse geplant, vgl. Altmann 1973, 39, 48 f., jedoch ging das Interesse von Mendelssohn und Lessing an Rousseaus Ideen tiefer, wie ihr Briefwechsel zu dieser Zeit zeigt (Briefe in JubA XI, Nr. 10, 12, 16 ff.) 4 Wiederabgedr. in JubA VI/2, 61–202. Im Folgenden nach dieser Fassung zitiert unter Discours, S. 5 Zur Geschichte der Reaktionen auf Rousseaus Werke allgemein siehe Goldenbaum 2000, 14–19, zu Mendelssohns Übersetzung ebd., 38–44.

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

geschränkten Glückseeligkeit eines Menschen entfernt ist. Alle ihre Bedürfnisse sind Triebe zur Glückseeligkeit; und wenn sie diesen Genüge leisten wollen. so müssen sie sich die Unbequemlichkeiten gefallen lassen, die von dem gesellschaftlichen Leben, als dem einzigen Mittel zu ihrer Glückseeligkeit, unzertrennlich sind.« (JubA II, 139) Bis hierher entspricht dies auch der im Orakel vertretenen Sichtweise (vgl. Kap. I.2); durch die darauf folgenden Überlegungen darüber, mit welchen »vernünftigen Einrichtungen«, die Gesellschaft vor Übertretungen des allgemeinen Wohlwollens geschützt werden könne, schlägt die Besprechung in Satire um. Denn zur Besserung der Zivilisation sollten alle Sünder zuerst durch eine grausame Spezialbehandlung wieder zu dummen Tieren gemacht werden, um anschließend zu diesen, »mit welchen sie die meiste Aehnlichkeit haben« (JubA II, 142), in die Wälder geschickt zu werden, um dort die natürliche Güte zurückzuerlangen (JubA II, 140–43). »This rather cruel satire hardly agrees with Mendelssohn’s gentle nature, nor does it represent his true understanding of Rousseau. But it suited the moralizing tone of the Chamäleon and was made for entertaining reading.« (Altmann 1973, 80) Der Erfolg bei seiner Leserschaft dürfte ebenfalls dem allgemein geteilten Unbehagen an Rousseaus Kritik entsprechen. Wie seine unterschiedlichen, veröffentlichten Reaktionen zeigen, stand der junge, erst vor wenigen Jahren in Berlin angekommene Mendelssohn dem zweiten Discours ambivalent gegenüber. Tubach spricht gar von einer Widersprüchlichkeit in Mendelssohns Haltung: im Sendschreiben bekundet er, »… dass ich nicht selten gewünscht habe, der Verfasser hätte mit seiner göttlichen Beredsamkeit eine bessere Sache vertheidigt…« (JubA II, 83). In einem Brief an Lessing vom 26. Dezember 1755, also nahezu zeitgleich, aber heißt es: »Ich kann in sehr wenig Stücken mit Rousseau uneins seyn…« (JubA XI, 27)6 Einige Hinweise sprechen jedoch dafür, dass die öffentliche Bekundung der Uneinigkeit im Sendschreiben ein rhetorischer Trick ist, um dann mit Rückgriff auf Rousseau selbst zu zeigen, wie sich das Werk dennoch sinnvoll interpretieren lässt. Liest man auch das aus dem Brief angeführte Zitat in seinem Zusammenhang, ergeben sich bezüglich der generellen Zustimmung zu Rousseau, die Tubach hier ausgemacht haben will, zwei Einschränkungen. Zum einen macht Mendelssohn deutlich, welcher Disziplin er Rousseaus Werk zuordnet, und grenzt damit die Gültigkeit der Untersuchung auf ein bestimmtes Gebiet ein: »Ich kann in sehr wenig Stücken mit Rousseau uneins seyn, und mich kann nichts mehr ärgern, als wenn ich in einer philosophischen Staatskunst erwiesen sehe, daß alles nach der Vernunft so hat seyn müssen, wie es bey uns ist.« (JubA XI, 27, Hervorhebung A.P.) Der Discours wird also nicht als eine metaphysische oder moralphilosophische Abhandlung, sondern als ein Werk der »philosophischen Staatskunst« gewertet. Von 6

Vgl. Tubach 1960, 146. Die genaue chronologische Reihenfolge beider Stellen ist allerdings unklar; das Sendschreiben entstand 1755 und ist auf den »2ten Jenner 1756« (JubA II, 96) datiert.

II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept

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diesem erwartet Mendelssohn keine Apologetik des jetzigen Zustandes, noch eine umfassende Welterklärung, sondern kritische Auseinandersetzung mit den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten, zu denen eine Rekonstruktion der Gesetzmäßigkeiten menschlicher Entwicklung nur eine Zugabe ist. Mendelssohns zweite Einschränkung, bereits auf seine Kritik von Rousseaus Perfektibilitätskonzept anspielend, folgt schon im nächsten Satz: Rousseau spreche in seinem Werk »dem gesitteten Menschen […] alle Moralität ab […]. Für diese bin ich aber allzu sehr eingenommen.« (JubA XI, 27) Die Einschätzung wird im Sendschreiben wiederholt: »Sollte Rousseau […] eine Meinung angenommen haben, die aller Sittlichkeit schnurstraks zuwider zu laufen scheinet?« (Sendschreiben, JubA II, 83) Die Intention von Mendelssohns Lektüre, die er im Sendschreiben zusammenfasst, geht gerade in die Richtung, zwar Rousseaus Kritik aufzunehmen, aber dessen Auffassung menschlicher Moralität zu korrigieren. Mendelssohn fasst also den Discours als eine Aufklärungsschrift auf und ist in dem Sinne mit der Absage an den gegenwärtigen Zustand und der Diagnose einiger gesellschaftlicher Defizite und den Formen der Unterdrückung, die Rousseau dahinter ausgemacht hat, »nicht uneins«. Er lehnt aber darüber hinausgehende generelle Aussagen gegen jedwede Form menschlicher Natur, Moralität und Gesellschaft ab.7 7

Vgl. JubA II, XXI f. und die Nachschrift zum Sendschreiben, JubA II, 98 f. Kant reformuliert in den 1770er Jahren Rousseaus Kulturkritik ebenfalls (vgl. Anthropologie Friedländer, WS 1775/76, AA XXV, 684 f. und Anthropologie-Pillau, WS 1777/78, ebd., 846 f.): letztlich ist es nicht eine Verneinung des gesellschaftlichen Standes, der bürgerlichen Gesellschaft an sich, sondern eine Kritik an der herrschenden Gesellschaft. Die Frage, die Rousseau aufgeworfen habe, sei also nicht, wie man jedwede Form von Kultur oder Gesellschaft vermeiden könne, sondern wie diese Entwicklungen in größtmöglichen Einklang mit der menschlichen Natur zu bringen seien. Im Naturzustand sei der Mensch weder moralisch guter noch böser Handlungen fähig; ihm fehlten sowohl die Laster als auch die Tugenden. Insofern gibt Kant auch Rousseaus Analyse recht, dass die Ehrsucht und Selbstliebe ein Resultat menschlicher Vergesellschaftung ist. Im Discours, 15. Anm, JubA 188 f. unterschied dieser Selbstliebe (bzw. Liebe zu sich selbst) als eine natürliche Neigung (amour de soi) von Eigenliebe aber einem »gemachten Begriff«, der die (verderbliche) Quelle des Ehrgefühls ist (amour propre). Kant formuliert dies im Sinne einer negativ verstandenen Freiheit als Abwesenheit von Lastern (vgl. AA XXV, 686 f. und 798): »Freyheit ist die negative Bedingung aller Hindernisse unserer Willkühr; oder wenn uns nichts hindert, uns unserer Freyheit zu bedienen. […] Die Freyheit ist nichts anders als die Unabhängigkeit, von andrer ihrer Neigung und Gewalt. Ich muß glücklich seyn nach meiner Meynung; wenn ich Glückseeligkeit genießen soll; Die Freyheit giebt mir eine hohe Meynung von mir, oder macht mich stoltz, das heist hier, sie giebt mir meine wahre Würde zu erkennen.« Im Naturzustand ist diese Freiheit jedoch von besonderer Qualität: »Demnach lebt der Mensch im natürlichen Zustande unschuldiger, als im bürgerlichen. Er lebt glücklich und unschuldig wie ein Kind. Dieses ist aber kein positives Glück, aber auch kein positives Unglück […].« (AA XXV, 688, Hervorhebung A.P.) Deshalb ist auch eine »Rückkehr« in den Naturzustand kaum möglich: »Kein Volck ist aus dem gesitteten Zustande in die Wildniß [als Zustand seiner »Kindheit«, A.P.] gegangen, es ist also dieses kein Fortgang zur Vollkommenheit der Menschheit, sondern vielmehr ist der Fortgang aus der Wildheit in die bürgerliche Verfaßung, und daß also in der Vollkommenheit der bürgerlichen Verfaßung die Vollkommenheit des Zustan-

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

Auch sein Versuch, die Zueignungsschrift, die er ebenfalls in die Übersetzung aufnimmt (JubA VI/2, 65–77), als einen Schlüsseltext zur Entschärfung oder gar Umwandlung von Rousseaus Thesen zu lesen, spricht für dieses Interesse (vgl. Goldenbaum 2000, 20, 27 und 41). Indem sich nämlich Rousseau in der Zueignungsschrift positiv über zumindest eine Form menschlicher Gesellschaft äußere – diejenige der Stadt Genf – so könne er sie gemäß Mendelssohns Interpretation gar nicht rundheraus verneinen. Der in der Zueignung beschriebene zwischenmenschliche Zusammenschluss ist allem Anschein nach der für die menschliche Natur bestmögliche (vgl. Discours, 72). Und damit, so führt Mendelssohn den Gedanken weiter, auch besser als ein erträumter und ungeselliger Naturzustand. So bräche sich in dieser Zueignungsschrift »die angebohrne Liebe zur Geselligkeit« (Sendschreiben, JubA II, 85) Bahn.8 Damit hat Mendelssohn prima facie eine Richtung eingeschlagen, die viele Zeitgenossen bevorzugten: Rousseau nachzuweisen, dass seine Theorie von seiner eigenen Lebenspraxis abginge. Er geht aber darüber hinaus, indem er diese Divergenz nicht dazu benutzt, den Autor insgesamt zu desavouieren. Vielmehr versucht er die sich im Werk (und nicht zwischen Werkaussage und dem Leben des Autors) zeigende Spannung zu nutzen, um Rousseaus genereller Kritik einen rationalen Kern abzugewinnen. Mendelssohns grundlegende Frage lautet damit: Inwiefern kann Rousseaus Position genutzt werden, eine konstruktive Kritik an der bestehenden Gesellschaft zu

des der Menschen zu setzen sey.« (ebd., 689) Rousseau habe eigentlich nicht sagen wollen, dass der Mensch gar nicht den Kulturzustand suchen solle, sondern, dass er dafür nicht den ganzen Naturzustand aufgeben dürfe. »Nur im bürgerlichen Zustande allein entwickelt der Mensch seine Talente.« (ebd. 690) Damit zeige Rousseau letztlich, »daß in uns die Keime der Ausbildung zu unserer Bestimmung liegen; und daß wir deswegen die bürgerliche Verfassung nöthig haben um die Zwecke der Natur zu erfüllen; Wenn wir aber in der bürgerlichen Verfassung jetzt stehen bleiben, so wär es besser in den Stand der Wildheit zu kehren. […] Wenn das menschliche Geschlecht seiner Bestimmung näher kommen soll, so gehört dazu, eine vollkommne bürgerliche Verfassung, gute Erziehung, und die besten Begriffe in der Religion.« (ebd., 847) So beendete Kant, den Nachschriften gemäß, seine Anthropologie-Vorlesung 1777/78, was wiederum den hohen Stellenwert betont, den Rousseau für ihn einnahm; dieser habe ihn »zurecht gebracht«, wie Kant in einer Anmerkung in den Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764–65) schreibt (AA XX, 44). Kants Rousseau-Lektüre ging in dieser Hinsicht allerdings auch auf den Émile und Contrat Social. 8 Dabei rückt Mendelssohn Rousseaus ebenfalls geäußerte Kritik an Genf in den Hintergrund; vgl. Strauss 1969, 253 f. m.w.Vw. Allerdings stellt auch dieser eine Spannung fest zwischen Rousseaus Plädoyer für die Rückkehr in den Naturzustand bzw. seine Lobeshymne an die Polis, eine Gesellschaft freier Menschen (vgl. ebd.). »Rousseau believed to the end that even the right kind of society is a form of bondage.« (ebd., 255) Der absolute Maßstab, an dem er also alles, auch die Gesellschaft misst, ist die Freiheit; sie ist die höchste Legitimationsinstanz. Strauss geht allerdings über den hier gewählten Rahmen hinaus, indem er auch das Früh- aus dem Spätwerk miteinbezieht. Dies ist zur Rekonstruktion von Rousseaus Position insgesamt richtig; im gegebenen Zusammenhang jedoch soll nicht auf Material zurückgegriffen werden, das Mendelssohn zum Rezeptionsund Reaktionszeitpunkt nicht kennen konnte.

II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept

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reformulieren und menschliche Gesetzmäßigkeiten dabei aufzuzeigen, die – entgegen der geäußerten Kritik am Vervollkommnungsgedanken – dennoch einem richtig geleiteten gesellschaftlichen Fortschritt dienen? Er versucht damit, Rousseau gegen sich selbst anzuwenden, um den Perfektibilitätsgedanken zu retten. Diese Uminterpretation wird dahingehend ›geadelt‹, dass sie sozusagen mit Rousseaus indirekt in der Zueignung ausgedrücktem Segen geschieht. In der Beschäftigung mit dieser umstrittenen Abhandlung, namentlich im Sendschreiben, sind schon in nuce die Konstituenten von Mendelssohns Auseinandersetzung mit der Bestimmung des Menschen festgelegt, in denen er sich auf die Kernpunkte Mitleid und Perfektibilität konzentriert.9 Es liegt auf der Hand, dass diese eigenen Konzepte leibnizianischer Natur, und damit deutlich optimistischer sind. Vervollkommnung soll dabei, übereinstimmend mit dem Befund der Bestimmungsdebatte, die sich auch aus den Überlegungen zu Rousseau speist, als ein Vollzugsmoment der Vollkommenheit definierbar werden; die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu einem Zweck wird auf die Entwicklung von Welt und Mensch, auf die Entfaltung des Individuums auch im notwendigen Austausch mit seinen Mitmenschen bezogen gedacht. Damit stellt er sich Rousseaus Aussage diametral entgegen, der den Niedergang des Menschen durch die Ausbildung zur Gesellschaft diagnostiziert hatte. Es scheint daher müßig, sich mit einem ganz anderen Gedankengang bei Rousseau zu befassen, der schon in den Grundzügen den rationalistischen Prämissen einer ›vernünftigen‹ Welteinrichtung entgegensteht. Doch Mendelssohns Umgang mit dieser ihm fremden Theorie, die er frei handhabte und auf die er seine Ansicht der Vollkommenheit applizierte, trägt dazu bei, sein eigenes Konzept zu konturieren. Es mag sein, dass er der eigentlichen Intention des Discours nicht gerecht wurde. Festzuhalten aber ist, dass er zumindest den Versuch unternahm, sein kritisches Potential produktiv zu nutzen. Im Folgenden werde ich unter dem Stichwort Perfektibilität10 die Diskussion über Vollkommenheit, Vervollkommnung und ihre Erfordernisse, sowie die Stellung des Theorems innerhalb einer Philosophie vom Menschen und seinen vernünftigen wie sinnlichen Vermögen analysieren (1). Damit einher geht die Frage nach dem 9

Vgl. Goldenbaum 2000, 25. Mendelssohns Kritik an der Naturzustandslehre soll hier nur gestreift werden. 10 Zur Begriffsentwicklung im französischsprachigen Raum (im Zuge der »Querelle des Anciens et des Modernes«, in Anlehnung an Turgot etc.) vgl. Müller 1997, 94: »Den Rahmen bilden der innere Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung in Raum und Zeit und die Weitergabe wichtiger Errungenschaften, vor allem in der Bewältigung des praktischen Lebens, von Generation zu Generation in den Mitteln von Sprache und Schrift.« Siehe auch R. Baum / S. Neumeister in Ritter, Bd. 7, 238–41, sowie Jean-Luc Guichet: Rousseau. L’animal et l’homme. L’animalité dans l’horizon anthropologique des Lumiéres. Paris 2006, der die Wurzeln von Rousseaus Unterscheidung von Mensch und Tier in den Überlegungen (und in Abgrenzung zu) Descartes, Diderot, Buffon, d’Helvétius, Condillac untersucht.

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Stellenwert der Freiheit, Rousseaus zentralem Anliegen, im Spannungsverhältnis zur menschlichen Vernunft, sowie des Theorems des Fort- oder Rückschritts menschlicher Gesellschaft. Ein weiterer Punkt ist die Auseinandersetzung mit der »natürlichen« Anlage des Menschen zum Mitleiden (2). Mit Rousseau verteidigt Mendelssohn die ursprünglich gute Konstitution des Menschen; gegen ihn fundiert er den Mitleidsbegriff in einer tiefer als die Selbstliebe liegenden Tendenz zur Vollkommenheit und greift damit auf das Theorem der Perfektibilität zurück, das er nicht wie Rousseau als der Freiheit entgegenstehend, sondern als mit ihr vereinbar formuliert. Dem ordnet Mendelssohn in Absetzung zu Rousseau einen grundsätzlichen Zug zur Geselligkeit bei und verteidigt den Grundsatz, dass die Vollkommenheit des Einzelnen niemals losgelöst von der Vollkommenheit Anderer erreichbar ist. Wichtig sind also vorerst die Grundbegriffe Rousseaus, Perfektibilität und Mitleid, die bei Mendelssohn eine spezifische, schon auf die Bestimmungsdebatte hindeutende Interpretation erfahren. Weitergehenden Fragen nach dem Zusammenhang von menschlicher Natur und seiner Soziabilität und, damit zusammenhängend, der menschlichen Sprachfähigkeit und einer (kulturell bedingten) Sprachentwicklung ist das Kapitel IV.1 gewidmet.

1. Was ist Perfektiblität – und wie groß ist ihr Schaden? Rousseaus Kritik an Vernunft und Vervollkommnung Wie Rousseau sogleich mit den ersten Sätzen verkündet, ist das Ziel des zweiten Discours’ die vertiefte Kenntnis des Menschen, wie er an sich sei, um die Ursprünge der Ungleichheit aufdecken zu können. Diese, so setzt Rousseau voraus, liege gerade nicht im Wesen des Menschen selbst, sondern müsse über die Konstruktion eines Naturzustandes und dessen Überformung durch menschliche Kultur nachvollziehbar gemacht werden.11 Die Rekonstruktion eines ursprünglichen Zustands des Menschen unternimmt er dabei in Anlehnung an das Konzept des »inneren Sinns« aus Buffons Histoire Naturelle (ersch. Paris 1749–89, siehe Discours, 157 f.). Dieser sei, so Rousseaus Interpretation, eben so wenig auf die Ausbildung des äußeren und äußerlichen Menschen konzentriert wie um das Bild des Einzelnen in den Augen der Anderen besorgt, sondern vertiefe, selbst im Status der Zivilisation davon unberührt, die Kenntnis des eigenen 11

Vgl. Discours, 79 f. Damit stellt sich Rousseau auch gegen die noch junge Tradition der Naturzustandskonstruktion, die laut Altmann 1982, 182 bislang vornehmlich zur Legitimierung des bestehenden Staates, nicht zu einer Absage an ihn genutzt worden waren.

II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept

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Wesens.12 Rousseau wendet ihn zur Auffindung der das menschliche Leben bestimmenden Gesetzmäßigkeiten an. Diese sollen als »Naturgesetze« reformulierbar sein, die nicht qua Vernunft normativ binden, sondern mit der Kraft von Naturgewalten wirken (vgl. Discours, 81). Ein Charakteristikum solcher »Naturgesetze« muss es sein, dass ihre Allgemeingültigkeit für jeden einsehbar ist und sie somit unmittelbar mit der Stimme der Natur zum Menschen sprechen, wenn er in der Lage ist, den Ballast der falschen Zivilisation abzuwerfen. Allein solche Gesetze, die für alle und immer einsichtig wirksam sind, dienen zur wahren Verbesserung des Menschen: »Man hat also nicht nöthig, den Menschen erst zum Philosophen zu machen, bevor man ihn zum Menschen machet.« (Discours, 83) Was also ist der Mensch, oder mit Rousseau: was war er vor den verfälschenden, kulturellen Einwirkungen? Rousseau macht hier zwei Grundtriebe aus, die er als die »allerersten und einfachsten Würckungen der menschlichen Seele […], die vor aller Vernunft hergehen« (Discours, 83, Hervorhebung A.P.) bestimmt: Selbstliebe und Mitleid. Die Annahme einer ursprünglichen Geselligkeit ist dabei nicht nötig, denn selbst das Mitleid, das man prima facie in Hinsicht auf das soziale Wesen des Menschen zu interpretieren geneigt ist, wird vielmehr in Hinblick auf eine Form der Selbstliebe im Anderen begründet; ich komme später (s. 2. Abschnitt) darauf zurück. Von diesen grundlegenden Prinzipien ausgehend, sucht Rousseau den Ausgang des Menschen aus einem imaginierten, ›unschuldigen‹ Naturzustand zu erklären und greift dabei auf zwei weitere Eigenschaften zurück: »das Vermögen zu wollen, oder vielmehr zu wählen, und das Bewußtseyn von diesem Vermögen sind blos Handlungen des Geistes, die sich durch keine mechanischen Gesetze begreifen lassen« (Discours, 102) – also Freiheit – sowie das »Vermögen sich vollkommener zu machen« (ebd.): Perfektiblität. Beide stellt Rousseau den tierlichen Vermögen gegenüber, letztere allerdings mit mehr Nachdruck.13 Im ›reinen‹ Naturzustand scheint folgerichtig gerade die letztgenannte Vervollkommnungsfähigkeit nicht im vollen Umfang wirksam zu sein. Der zufriedene Wilde habe noch kein Zeitbewusstsein und denkt also nicht über den Tag hinaus, da er alle drängenden Bedürfnisse ohne weitere Planungen erfüllen könne. Rousseau setzt da12

In den ersten Anmerkungen wird Rousseau dennoch (v. a. IV ff., VIII) nicht auf den inneren Sinn, sondern auf aus Buffons Werk entlehnte biologische Erkenntnisse über physische Funktionen des menschlichen Körpers im Vergleich zum Tier eingehen. Dem korrespondiert jedoch sein Vorhaben, zuerst das physische, dann das metaphysische oder moralische Wesen des Menschen zu untersuchen; siehe Discours, 101. 13 »Wenn man auch wider diesen Unterschied zwischen Menschen und Thieren noch Schwierigkeiten machen könnte; so gibt es dennoch eine besondre Eigenschaft, dadurch sich diese Arten unterscheiden, und die ausser allem Streit ist; Ich meine, das Vermögen sich vollkommener zu machen.« (Discours, 102) Letztlich ist der Freiheitsbegriff im zweiten Teil des Discours eher eine Äquivokation: dort geht es um die Souveränität des Menschen, während die hier genannte Freiheit mit der Perfektibilität näher verwandt ist, aber deren Strebensmoment entbehrt.

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mit dessen Selbstgenügsamkeit fest: »sein Hertz fordert nichts« (Discours, 104). In diesem Zustand ist »weder Erziehung, noch Besserung« (Discours, 120), da beides zum Überleben unnötig erscheint. Allerdings muss der Mensch als ein Mängelwesen an Instinkt diesen durch Lernen ausgleichen. Er ist damit ein situationsoffenes Wesen, dessen Fähigkeiten sich nicht nach einem irgend gearteten Plan, sondern gemäß äußeren Erfordernissen entwickeln. Rousseau scheint sich vorgestellt zu haben, dass eine solche Entwicklung im Naturzustand ihr natürliches Ende in der Erlangung reiner Funktionstüchtigkeit finden kann, ohne weiter reichende Bedürfnisse mit sich zu bringen. Der tatsächliche Abfall vom Naturwesen erfolgt nach Rousseaus Rekonstruktion nicht durch dieses – auch mit der bloßen Freiheit, ohne Instinkt zu leben, kompatible – Lernen, das ihm lediglich einen angemessenen Gebrauch seiner körperlichen Kräfte zur Stillung aller natürlichen Bedürfnisse erlaubt, sondern vielmehr sollen es äußere Katastrophen und Zwänge gewesen sein, die den Menschen dazu veranlasst hätten, sein selbstgenügsames Leben aufzugeben, um sich in die schützende, aber auch Abhängigkeitsverhältnisse generierende Gesellschaft mit Anderen und den damit einhergehenden Kampf um Eigentum und Ansehen zu begeben.14 So unklar die Erklärung des Übergangs vom Naturzustand in die Kultur auch erscheint, so ist doch eine einflussreiche Ansicht Rousseaus hervorzuheben: Zum einen hängt die bloße Möglichkeit eines solchen Übergangs von der menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit ab, die ihn über das bloß vor ihm Liegende hinausführt. Zum anderen besteht die Gefahr dieses Vermögens gerade darin, dass es als eine naturhafte Lernfähigkeit und kulturbildende Kraft nicht teleologisch strukturiert ist. Es dient nicht, wie gemäß einer leibnizianischen Lesart zu vermuten wäre, einer generellen Verbesserung, sondern führt zur unruhestiftenden Differenzierung der im natürlichen Zustand einander gleichen Menschen. Diese Ansicht versucht Rousseau mit einer näheren Untersuchung der physiologischen, sowie der »metaphysischen und moralischen Seite« (Discours, 101) des Menschen zu belegen. Explizit stellt er dabei der Perfektibilität die Freiheit entgegen, und trennt damit die jene regierende Ratio von diesem zweiten Grundvermögen. Verstand gilt, zumindest im zweiten Discours, als eine rein instrumentelle Kraft ohne innere normative Kriterien. Es liegt auf der Hand, dass ein solcherart ambivalentes Vermögen auch eine gefährliche Instanz der inneren Gesetzgebung ist.15 Darüber hinaus ist sie, so Rousseau gegen die »Sittenlehrer«, entscheidend von den Leidenschaften und letztlich Bedürfnissen abhängig, die ihr ihre Strebensrichtung vorgeben. Letztlich ist selbst das Ziel intellektueller Bestrebungen durch Leidenschaften infiziert und jeder auch intellektuelle Antrieb findet seine Befriedigung in einem sinnlichen Genuss: »Wir suchen Einsicht, weil 14

Einem ähnlichen Muster folgt Rousseaus Spekulation zum Ursprung der Sprachen (vgl. Discours, 126, 130; Velkley 2002, 31). S. hier Kap. IV.1. 15 Vgl. Forst 2003, 368, der dieses Konzept auch für den Émile (1762) aufweist.

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wir geniessen wollen« (Discours, 103). Anmerkung IX verdeutlicht das tief sitzende, entzweiende Potential einer derart auf Genuss angelegten Ratio: da sie auf Klugheitserwägungen beschränkt ist, so wird sie auch einander widersprechende Ratschläge erteilen und den Menschen ohne ein Kriterium lassen, demgemäß er seine Entscheidungen einrichten sollte. Dem Einzelnen gebietet sie Mitleid, in Rücksicht auf seiner Teilhabe an der Gesellschaft jedoch zugleich die Vernichtung oder zumindest Erniedrigung des Anderen zwecks Verbesserung des eigenen Status’ (vgl. Discours, 166 f., sowie ebd. Anm. XV, 188 f.). Wird die natürliche Eigenliebe (amour de soi) von »Vernunft[16] geleitet und von dem Mitleiden eingeschränket«, so wird sie »Tugend und Menschlichkeit« (ebd., 188 f.) hervorbringen; vermischt mit dem Blick nach außen im Stand der Geselligkeit jedoch pervertiert sie zur amour propre, der Selbstsucht. Der Verstand allein kann für die Richtung einer möglichen Auswirkung kein Kriterium zu bieten, sondern ist von äußerlichen Zielen abhängig.17 Im Übergang von Natur zu Kultur verfällt der Mensch zur vermeintlichen Verbesserung seines Zustandes auf »eine Art von Ueberlegung oder mechanischer Klugheit« (Discours, 127, Hervorhebung A.P.), die ihn weit von seiner ihn eigentlich auszeichnenden Freiheit entfernt, sondern in die Fesseln unnatürlicher ›Bedürfnisse‹ und Zwangsverhältnisse bringt. Rousseau weist wiederholt auf die Gefahr des solcherart entstehenden künstlichen Blick von außen hin: »Ein jeder bemerkte alle andere, und hatte Lust wiederum von ihnen bemerkt zu werden. […] Der wilde Mensch lebet in sich, der gesellige hingegen ist immer ausser sich, und lebet nur in der Meinung, die andere von ihm haben.« (Discours, 131, 155) Es entstehen Stolz, Beleidigung und Rache. Und über das verstärkte Gefühl für, oder gar die Selbstdefinition über den Blick des anderen entsteht auch die Neigung zum Schein: »Seyn und Scheinen wurden zwey ganz verschiedene Dinge« (Discours, 136), wobei der Schwerpunkt in der Kultur auf dem letzteren liegt. Durch ihn ließen sich die Menschen auch für die Interessen einiger Weniger einspannen und erschufen so den modernen Staat: »Die Gesetze und die Gesellschaften, die auf diese Art entweder wirklich entstanden, oder wenigstens haben entstehen können, hielten die Armen noch fester im Raume, und den Reichen legten sie neue Kräfte bey, richteten unsere natürliche Freyheit ohne Rettung

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Es fällt auf, dass Mendelssohn »raison« an den pejorativ konnotierten Stellen zumeist mit »Verstand« übersetzt, während er in Hinblick auf Rousseaus Erwähnung von ihren positiven Seiten (nicht durchgängig) »Vernunft« setzt; siehe neben der zitierten Stelle v. a. Discours, 146 (Vernunft verbindet zur Erhaltung des Lebens), 156 (durch das »Licht der Vernunft« lässt sich der menschliche Verfall erklären). Insgesamt jedoch ist zu betonen, dass auch Mendelssohn selbst beide Begriffe zumeist synonym verwendet (Goldenbaum 2000, 43 f.) 17 Velkleys Folgerung: »Reason cannot establish a secure correspondence between human willing and natural order because all rational efforts bring about disequilibrium« (Velkley 2002, 55) ist jedoch in ihrer Absolutheit auch für Rousseau anzuzweifeln, wie ich mit Hinweis auf die ambivalente Verwendungsweise des Begriffs »raison« schon andeutete.

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zu Grunde, setzten das Gesetz des Eigenthums und der Ungleichheit auf Ewig fest, verwandelten eine geschickliche Usurpation in ein unwiederrufliches Recht und […] verdammeten […] das gantze menschliche Geschlecht zur Arbeit, Dienstbarkeit und Jammer.« (Discours, 140) Hätte ein jeder seine Freiheit bewahrt, anstatt sich den irrlichternden Gesetzen einer fehlgeleiteten Ratio anheimzugeben, so wäre ihm dies erspart geblieben. Wie aus einem Schreiben an Voltaire hervorgeht, ist sich Rousseau der schwierigen Position der raison und einer damit verbundenen Vervollkommnung durchaus bewusst. Sie ist nicht prinzipiell fehlgeleitet (dagegen sprechen die großen Meister der Antike), sondern vielmehr stark irrtums- oder fehleranfällig, was sich bei zunehmender Entfernung vom Naturzustand dramatisch verstärkt, je mehr der Blick nach außen geht. Nicht die schlichte Unwissenheit sei es demzufolge gewesen, die zum Niedergang menschlicher Kulturen geführt habe, sondern der primär von Eitelkeit geleitete Irrtum, womit Rousseau die eingangs erwähnte »Krise der Vernunft« genau trifft.18 »Suchen wir den ersten Ursprung der Wirren der Gesellschaft, so werden wir entdecken, daß alle Übel der Menschen eher vom Irrtum als von der Unwissenheit stammen. Was wir nicht wissen, schadet uns viel weniger, als was wir zu wissen vermeinen.«19 Indem die Menschen sich mit vermeintlichem Wissen und Halbbildung zufriedengäben, hätten sie also gerade an ihrer Verschlechterung gearbeitet: Bedürfnisse und Leidenschaften fanden über diese schlechte Wissenschaft Eingang in das gesellschaftliche Leben und wurden durch eine solcherart »faule Vernunft« verfestigt. Dieser Auffassung nahe steht eine der abschließenden Passagen im ersten Discours. Mit Hinweis auf einige Genies wie Baco, Descartes, Newton als »Lehrer des Menschengeschlechts« räumt Rousseau dort ein, dass der Mensch durchaus fähig ist, wahre Erkenntnisse zu erlangen. Doch der Weg zu diesen Erkenntnissen ist nicht durch eine ununterbrochene historische Abfolge aus Lehr- und Lernverhältnissen zu verstehen. Gerade diese Männer mussten nicht an eine sorgfältig und ununterbrochen tradierte Schulbildung anschließen, die vielmehr ihr Genie eingeengt hätte. Rousseaus Forderung an Genies dieser Art ist vielmehr intellektuelle Selbständigkeit: »Muß man schon einigen Menschen erlauben, sich dem Studium der Wissenschaften und Künste zu widmen, so nur denen, welche die Kraft in sich spüren, allein auf ihren Pfaden zu wandeln und sie weiterzubringen, das heißt jener kleinen Zahl, die Monumente zum Ruhm des menschlichen Geistes errichtet.« (Rousseau, erster Discours, in: Ders. 1995, 55, Hervorhebung A.P.) Vervollkommnung geschieht – wenn überhaupt – demnach eben nicht in kontinuierlich aufeinander aufbauenden Stufen einer umfassenden Vernunftentwicklung, sondern sprunghaft. Die wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritte werden nicht als eine stetige Entwicklung und Vertie18 19

Die Nähe zu Bayles Position ist hier greifbar, vgl. Cassirer 1932, 214 ff. Rousseau an Voltaire am 10. September 1755, in: Rousseau 1995, 313.

II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept

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fung von Wissen verstanden, sondern als Erkenntnisse Einzelner. Wogegen Rousseau hier streitet, ist der Versuch, durch die Herausbildung einer Wissenskultur diese Stufenfolge verstetigen zu können. Für ihn ist jede Tradierung wiederum Tendenz zur Verfälschung und Einbruchstelle für von Machtansprüchen geleitete Interessen, die zu Instrumentalisierung und Unterdrückung Anderer, oder auch der gesamten Menschheit, führen. Zusammengefasst gesagt, bestreitet Rousseau letztlich nicht den Wert der Vernunft per se, sondern weist auf ihre Fehleranfälligkeit und Verführbarkeit hin, die letztlich zu einer Verfestigung der negativen Tendenzen des Gesellschaftszustands führe und die ursprüngliche, natürliche Souveränität des Menschen vernichte. Nur ein freier, nicht durch Machtverhältnisse bzw. Eigentumsinteressen gesteuerter oder durch Vorurteile verfälschter Gebrauch von ihr kann ihren schädigenden Einfluss verhindern. Ohne das Für und Wider von Rousseaus Gesellschaftsentstehungslehre und -kritik an dieser Stelle eingehend diskutieren zu können, was neben den erwähnten Aspekten auch seine Eigentumstheorie berühren müsste, lässt sich in Hinblick auf die Vervollkommnungsfähigkeit und ihrer Verbindung zur menschlichen Vernunft folgendes festhalten: Rationalität wird in ihrer Verbindung mit Perfektibilität als der Grund menschlichen Unglücks verstanden. Die Ratio besitzt keine eigenen zielsetzenden Prinzipien, sondern dient vornehmlich Klugheitserwägungen, die über unterschiedliche Zielsetzungen verwirrt werden und den Menschen als ein zugleich für sich und andere sorgendes, aber auch seine Stellung in der Gesellschaft verteidigendes Wesen entzweit. Eine solche Gesellschaft zerrissener und uneigentlicher Individuen vernichtet alle natürliche Ordnung und Gleichheit und macht den Menschen zum Sklaven des (mitunter lediglich imaginierten) Anderen sowie der abstrakten Bedürfnisse der Gesellschaft. »[M]it seiner Vervollkommnungsfähigkeit und seinem wachsenden Vernunftgebrauch erzielt der Mensch zwar einen zivilisatorischen und wissenschaftlich-technischen Fortschritt, ist aber zugleich dazu verdammt, ständig Verfall und Niedergang, Korruption und Verbrechen mitzuproduzieren«.20 Die Forderung Velkleys, »If perfectibility is the source of all ills, then to be free of it should be good« (Ders. 2002, 44), mag damit noch nicht die Lösung des Problems darstellen. Doch Rousseaus Zeitgenossen, die diese Kritik ernst nahmen – und Mendelssohn ist zu ihnen zu zählen – stellte sich die Aufgabe, die Rolle der Vervollkommnung eingehender zu untersuchen, bzw. sie zu legitimieren.

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Hornig 1980, 250 und auch 256 f. Er verweist darüber hinaus auf die Aufnahme des Perfektibilitätskonzepts im 20. Jh. unter Berufung auf die Aufklärungsphilosophie. Siehe v. a. Reinhart Koselleck: »›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹ – Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe«, in: Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema. Hg. v. R. Koselleck und Paul Widmer. Stuttgart 1980 (=Sprache und Geschichte 2), 227.

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Rousseaus Absage an die Kultur hat jedoch einen weiteren Aspekt, der auch für Mendelssohn von Bedeutung war. Mit inbegriffen in diese Absage ist nämlich die These, dass sich der kulturelle Mensch von dem prärationalen und präsozialen Wesen eines historischen oder konstruierten Naturzustandes radikal unterscheidet. Die Auffassung von einem sich selbst ewig gleich bleibenden Menschen wandelt sich zu einem sich unter komplexen historischen Bedingungen entwickelnden Wesen.21 Der Einwurf Mendelssohns im Sendschreiben, was man denn nun tun solle, wo doch der Abfall von der ursprünglichen Unschuld bereits geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen sei (vgl. Sendschreiben, JubA II, 83 f.), ist in diesem Sinne durchaus berechtigt. Wenn das Vermögen der Perfektibilität einmal angeregt und die Bahn der historischen Entwicklung beschritten sei, so sei der Naturzustand endgültig verlassen und unwiederbringlich verloren. »Unsere ursprüngliche, und wenn man will, beglückte Dummheit ist nunmehr gebrochen. […] Die Sehnsucht, unsern Zustand vollkommener zu machen, ist in uns rege geworden. Warum will man uns verhindern, an der Besserung zu arbeiten, wenn das Verlangen darnach nicht mehr unterdrückt werden kann?« (JubA II, 84, Hervorhebung A.P.)22 Rousseaus Analyse kann kaum als der Aufruf zur Rückkehr auf die Bäume verstanden werden, sondern setzt vielmehr die herrschenden Umstände einer generellen Kritik aus, die zugleich die Bedürftigkeit des Menschen nach Kultur und Entwicklung ernst nehmen muss. Ganz im Gegensatz zum prima facie offen liegenden Ergebnis einer Absage an den kulturell geprägten Menschen ist also eine fruchtbare Fortentwicklung von Rousseaus Gedanken nur in der Kultur möglich. Dabei leistet Rousseaus Theorie nicht allein die Analyse dieses Zustandes, sondern weist durch die Feststellung, dass es die Gesellschaft, und keine Erbsünde o. ä. ist, die die Wurzel des Schlechten darstellt, zugleich auch einen Weg über den faktischen, schlechten Zustand hinaus.23 Der

21

Vgl. Müller 1997, 132 f. Der Naturzustand dient ihm zufolge als eine »Folie«, auf der erst die Menschheitsentwicklung als Fortschritt oder Depravation gewertet werden kann. In diesem Sinne ist auch Rousseaus Ansatz einer Anthropologie als ein Schritt zur Entwicklung der historischen Sichtweise zu werten; anders interpretiert dies Mühlmann 1984, 51, der sich allein auf die unzureichenden anthropologischen Methoden zur Entwicklung der Naturzustandstheorie bei Rousseau bezieht. 22 Schiller hat dieses Dilemma später mit dem Begriff des Sentimentalischen umschrieben, ohne jedoch die grundsätzliche Ausweglosigkeit dieser Situation zu umreißen – vielmehr etablierte er die Erfüllung der Sehnsucht nach »Arkadien« im »Elysium«, ohne erklären zu können, wie dies mit dem entzweienden Verstand möglich sei, vgl. Pollok 2008. 23 Vgl. Marks 2005, 16 f., Melzer 1990, 84, Velkley 2002, 57, Cassirer 1932, 209: wenn es der Verstandesgebrauch ist, der das Böse in die Welt bringt, so liege es auch in seiner Macht, dieses wiederum zurückzunehmen. Das Böse ist kein Produkt der Natur, sondern der menschlichen Freiheit und steht damit dem Menschen zur Verfügung: sein Sündenfall ist nicht metaphysischer, sondern empirischer Natur, seine Freiheit die Fähigkeit der Selbstkorrektur. Erst mit Rousseau erfolge damit die eigentliche Vollendung der Aufklärung: »The good that humans seek and the evil

II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept

131

Mensch ist ein Wesen, das der richtigen Kultur bedarf. Diese wiederum kann nun, mit Rousseau, als veränderungsbedürftig als auch als veränderungsfähig verstanden werden und setzt auch den Menschen jenseits des Naturzustandes in die Lage, sich auf seine Wurzeln zurückzubesinnen, um die Richtung des Fortschritts zu korrigieren. Darauf deutet ebenfalls der Schluss von Rousseaus zehnter Anmerkung hin, in der er sich der Frage zuwendet, was der einmal kultivierte Mensch tun könne, um seinen gegenwärtigen Zustand zu verbessern. Explizit fordert er hier nicht, sich wieder auf alle Viere fallen zu lassen, wie es Voltaire in seinem Brief, den Mendelssohn ebenfalls in die Übersetzung aufnimmt, sarkastisch anklingen lässt (vgl. JubA VI/2, 199). Vielmehr – und hier erfüllt sich Mendelssohns Interpretationsversuch des Discours’ als eine Aufklärungsschrift, die letztlich auf einen geläuterten Gesellschaftszustand zielt – sollen die Einzelnen versuchen, ihre Gesetze einzusehen, sie zu erfüllen und sich dabei auf die grundlegenden Fähigkeiten der vernünftigen Selbstliebe, begrenzt durch das Mitleid, zu besinnen (vgl. Discours, 172 f.).24 So unzureichend diese ›Lösung‹ des Problems von Rousseau sein mag, hat er doch in der generellen Anlage seines Werks eine neue, fruchtbare Richtung eingeschlagen. In diesem Sinne ist auch Velkleys Aussage zu verstehen: »Since Rousseau, the analysis of human experience in the humanities and social sciences has been mostly in terms of culture and history, not nature.« (Ders. 2002, 31) Die historische Rekonstruktion und der Aufweis ebenfalls historischer Begebenheiten führt eine neue Betrachtungsweise in die Rechtsund Staatsphilosophie, aber auch in die des Menschen in Geschichte, Gesellschaft

that they despise are not to be grounded in something alien to the human soul.« (Velkley 2002, 57) Cassirer geht in seiner Deutung noch darüber hinaus, indem er Rousseaus Ausführungen als eine weitere Lösung der Theodizee versteht (Ders. 1932, 204–11): wenn das Übel aus der menschlichen Entwicklung und Vergesellschaftung erwachsen ist und die Lösung dieses Problems wiederum in der Hand der Menschen liegt, so ist Gott für diese Entwicklungen nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen. Das damit zu eröffnende große Feld der Freiheitsproblematik im Zusammenhang mit der menschlichen Verantwortung des Bösen in der von Gott gegebenen Freiheit soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. 24 Oder, um es schärfer in Rousseaus Worten auszudrücken: Die Menschen sollten wieder lernen, auf die »übernatürlichen Lehren« (ebd., 173) ihrer Väter zu gehorchen. Denn letztlich habe »die göttliche Stimme [die für jeden gleich gültig sei, A.P.] das ganze menschliche Geschlecht zu den Einsichten und zu der Glückseligkeit der himmlischen Geister gerufen« (ebd.), ohne dass allerdings dieses »himmlische« Geschenk in den vorangegangenen Abschnitten begründet worden wäre. Nach einem solchen eher vernunftreligiösen Gesetz sollen die Menschen die »heiligen Bande der Gesellschaft« ehren, solange diese nicht auf die Verteidigung des Besitzes geht, sondern lediglich Gesetze zur Verhinderung »jener Menge von Misbräuchen und Uebeln« (ebd.) enthält. Diese Passage ließe sich freilich ebenfalls als eine Absicherung Rousseaus gegen mögliche Anklagen lesen. Ihr explanatorischer Wert ist nicht zuletzt auch deshalb eingeschränkt, weil sie unverbunden neben den ihr entgegenstehenden Argumenten steht. Mendelssohn jedoch konnte, geleitet durch seine Interpretation der »Zueignung«, durchaus eine daran angelehnte Lesart vermuten. Für ein ähnliches Konzept in späteren Werken Rousseaus argumentiert Forst 2003, 370 f.

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

und Selbstkonstitution ein. Rousseaus fulminante Absage an die Kultur wurde als die Absage an die bestehende Kultur reformuliert, um sich auf bessere Bedingungen zu besinnen. Damit wurde versucht, der aktiven Veränderung des status quo geeignete Mittel an die Hand zu geben.

Mendelssohns Verteidigung der Notwendigkeit individueller Vervollkommnung Die Frage nach den Grundkonstanten menschlicher Entwicklung war im Zusammenhang mit der Reflexion menschenmöglicher und notwendiger Verbesserung für Mendelssohn in den Jahren zwischen 1755–65 von großem Interesse. Es ist auffällig, dass er sich, oft in Auseinandersetzung mit Lessing, gerade in dieser Zeit intensiv mit der Stellung des Individuums und den Determinanden seiner Vervollkommnung befasste.25 Damit verbunden ist das Bewusstsein einer gewissen Ambivalenz, der insgesamt dem Perfektibilitätsbegriff schon zu Beginn seiner Karriere in der deutschsprachigen Philosophie eigen ist. Wie bereits in Kap. I.1 erwähnt, wurde er zwar von Rousseau und durch Lessing und ihn vermittelt in den deutschsprachigen Raum aufgenommen. Dabei wurde er jedoch sofort mit leibnizianischen Elementen überformt. Das Element der Entwicklung als Aufklärung dunkler Vorstellungen, sowie das Konzept des »appetitus« als movens der Monaden, von einer Perzeption zur anderen überzugehen und damit ihr Wesen als Kraft zu äußern, ist aus dieser Lehre kaum wegzudenken und lässt daher die Idee einer Korrumpierung des Menschen gerade durch dieses Vermögen widersprüchlich erscheinen. Ebenfalls wird nach leibnizianischer Lesart die Vervollkommnungsfähigkeit als an die Freiheit gebunden verstanden. Appetitus ließe sich, so Leibniz, in Bezug auf den Menschen mit »Wille« übersetzen (vgl. Monadologie § 15). Das Moment der Entwicklung ist in diesem Verständnis also bereits normativ besetzt. Weder Tugend noch Vollkommenheit, aber auch Freiheit sind ohne diesen Willen denkbar. Auch Mendelssohn hat vor diesem Hintergrund Rousseaus Ansicht einer natürlichen Tugend im Naturzustand – ohne die ihm innewohnende und deswegen für ihn nicht zu verneinende Tendenz, diesen zu verlassen – zurückgewiesen.26 Was sich im na-

25

Dies zeigt auch die einschlägige Lektüre Mendelssohns in dieser Zeit; u. a. las er Shaftesbury, Hutcheson, Mandeville, Burke (vgl. JubA VI/2, XLIV) 26 Dabei ist es bis heute umstritten (vgl. Müller 1997, 34, 52 f. m.w.V., Fetscher 1975, 27, 62 f.), ob Rousseau tatsächlich eine historische Rekonstruktion anstrebte. Hier soll nur Mendelssohns Auffassung von Rousseaus Werk interessieren (Jacobs 2001, 68 f. deutet an, dass Rousseau selbst zwischen einer logischen Konstruktion und einer historischen Feststellung schwankte – aus »Faszination«, so Jacobs, an der eigenen Idee). Immerhin kann, so auch Müller 1997, 53, ein hypothetischer Urzustand, wenn er sich als zweckmäßig erweist, um den Zustand des Menschen mit

II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept

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türlichen Menschen zeige, können allenfalls Potentiale sein, nicht jedoch bereits vorliegende Fertigkeiten, die es zu konservieren gälte (vgl. Sendschreiben, JubA II, 91 f.). In den Litteraturbriefen hat er sich ebenfalls wiederholt und durchgehend kritisch zur Naturzustandsfiktion geäußert. Zum einen weist er dort auf die notwendige Kompliziertheit eines sich entwickelten Staatswesens hin und enthüllt die Sehnsucht nach einer »natürlichen«, unschuldigen »ersten Einfalt« in einem überschaubaren Gesellschaftswesen als töricht (LB 67: 8. November 1759, JubA V/1, 102). Zum anderen betont er dort den notwendig fiktionalen Charakter dieser Konstruktion: Er sei »nichts anders als eine bequeme Erdichtung der Sittenlehre, um die erworbenen Rechtsame, die zugezogenen Pflichten und Obliegenheiten von den Ursprünglichen zu trennen.« (LB 22: 1. März 1759, JubA V/1, 17) Zugleich berücksichtigt Mendelssohn den naiven Menschen, eine Personifizierung eines Rousseauischen, unschuldigen Naturzustands, als eine legitime Manifestation der Vollkommenheit, jedoch eher als eine Illustration denn ein Ziel menschlichen Lebens. Das an sich »ungesucht«, also natürlich erscheinende Gute ist in Maßen realistisch darstellbar, aber es deckt nicht die ganze Skala einer Veranschaulichung des Vollkommenen ab, sondern ist ein Teil des umfassender zu verstehenden Erhabenen. Letztlich ist es eben so prekär wie der idealisierte Naturzustand für Menschen, die ihre Vernunft entwickeln: Überzeugt die Naivität von Kindern auch als innere Einstellung, so kann der erwachsene Mensch sich der Naivität nur im Ideal, oder eben der Anschauung nähern. Die bewundernswürdige Naivität, die Mendelssohn als einen Aspekt des Erhabenen in der Kunst reformuliert, soll damit weder konservativ noch rückwärtsgewandt zu verstehen sein, wie man es als Rousseauist meinen könnte, sondern bildet eine Kategorie der Ästhetik, die den Menschen vervollkommnen soll, ohne ihm ein Bild der mit sich einig seienden Natur vorzuenthalten. Naivität ist damit Veranschaulichung, nicht Zweck. Mendelssohns Ausführungen dazu werden ihre Fragilität offenlegen (vgl. Kap. II.3). Mendelssohns an Leibniz angelehnte Kritik von Rousseaus Ansicht des negativen Verbunds von Ratio und Perfektibilität lässt sich anhand seiner Vorarbeiten27 zum Sendschreiben exemplarisch nachzeichnen: Nach einigen kurzen Sätzen über die unterschiedliche Auffassung vom Vergnügen beim Wilden, beim »Wollüstling« und einer Analyse seiner Grundfähigkeiten zu verbinden, als »Ausgangspunkt für die spätere historische Entwicklung« gewertet werden. »Da bestimmte Wesenszüge der menschlichen Natur auf ihren verschiedenen Entwicklungsstufen herausgearbeitet werden sollen, müssen gewisse Grundmerkmale auch historisch-genetisch beglaubigt erscheinen.« (ebd.) 27 Die Entstehungszeit dieser Notizen in den Kollektaneenbüchern spricht für diese Einschätzung, vgl. JubA II, X f. Dennoch ist bei der Handhabung dieser Notizen Vorsicht geboten: der Abdruck ist keine Übertragung aus einem solchen Kollektaneenbuch, da diese bereits zur Drucklegung der ersten Bände der Jubiläumsausgabe nicht mehr in Gänze existierten. Die zitierten Notizen entstammen aus einem sogenannten »Notizbuch I«, einer Abschrift aus Mendelssohns Heft.

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

beim »gemäßigten Menschen«28 kommt er zum Kern seiner eigenen Sichtweise, in der er versucht, den Zusammenhang zwischen Bedürfnis und Entwicklung zu klären, um die Vervollkommnung näher zu bestimmen: »Entweder unser Daseyn ist ein Uebel; oder wir werden vollkommener, je mehr Fähigkeiten sich bei uns entwickeln und je mehr Bedürfnisse wir zu stillen haben.« (JubA II, 7) Auf Rousseaus Bestandsaufnahme bezogen heißt dies, dass das jetzige Dasein im Zustand der Kultur entweder – mit Rousseau – schlecht ist, oder dass – gegen Rousseau – die Vervollkommnung zwar Bedürfnisse weckt, jedoch zugleich eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustands bedeutet. Diese Argumentation übernimmt Mendelssohn auch im Sendschreiben (vgl. JubA II, 88 f.), um dann an Leibniz’ Theodicée anknüpfend festzustellen: auch wenn »neue« Übel durch die Vervollkommnung des Menschen aufgetaucht seien, so seien diese immer noch geringer, als es das Übel gewesen wäre, sich nicht zu vervollkommnen. »Allein das Gute, das dadurch [durch die Vervollkommnung, A.P.] erhalten wird, muß nothwendig das wenige Uebel überwiegen; sonst wären solche Geschöpfe, wie die Menschen sind, nimmermehr da gewesen.« (JubA II, 88) Was aber ist ein Bedürfnis? Ist es derart negativ zu werten, wie Rousseau dies getan hatte? Dazu hält Mendelssohn fest: »Eine jede Fähigkeit gebiert ein Bedürfniß; denn die Fähigkeiten sind Modificationen der ursprünglichen Kraft, und müssen dahin streben, ihren Zustand zu ändern.« (JubA II, 7) Eine Zunahme an Fähigkeiten, oder ihre Entwicklung, versteht er vor dem Hintergrund der Vollkommenheit als eine größere Mannigfaltigkeit (an Eigenschaften) unter der Einheit einer Person. Wenn diese Person Eigenschaften entwickelt (oder: die entsprechenden Anlagen in sich aufklärt), so wird sie desto mehr ihrer Defizite gewahr und wird bestrebt sein, auch diese auszugleichen. Woraus letztlich folgt: »Jedes Bedürfniß ist ein Trieb zur Vollkommenheit.« (ebd.) Damit ist die Rolle des Bedürfnisses nicht, menschliche Unvollkommenheit und Abhängigkeit zu kennzeichnen, sondern es ist der Motor der Kraftäußerung der menschlichen Seele, sei es bewusst oder unbewusst. Ohne diesen Antrieb – der zumeist erst ins Bewusstsein gelangt, wenn er als ein Mangel erscheint – ist keine Entwicklung denkbar, aber streng genommen auch kein Leben. Dies wiederum bedeutet: »Wir müssen einen Theil unserer Bedürfnisse nicht zu dem Zwecke unsres Daseyns machen; sondern alle zusammen in einer einträchtigen Harmonie machen unsre Vollkommenheit aus.« (JubA II, 7) Mendelssohn stimmt Rousseau darin zu, dass die Verabsolutierung der Bedürfnisse schlechte Folgen nach sich zieht. Jedoch folgt daraus nicht, dass sie für sich abzulehnen wären oder sich verhindern ließen, 28

Mendelssohn versucht mit dieser Dreiteilung auch zu zeigen, dass Rousseaus Disjunktion zwischen dem Wilden und dem Kultivierten unvollständig ist. Diese Argumentation findet sich auch im Sendschreiben, siehe JubA II 93 f.

II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept

135

indem der Mensch im »Naturzustand« verbleibt, sondern dass sie in eine bestimmte Ordnung gebracht werden müssen. Und auch Rousseau habe dies eigentlich gemeint, denn: »Rousseau selbst wünscht sich nicht den Zustand der Wildheit.« (JubA II, 8) Wichtig ist für Mendelssohn, dass die Richtung der Bedürfnisse ihre Bewertung bestimmt: »Die Bedürfnisse unseres Körpers, insoweit sie nur dem Körper zugehören, gehen uns nichts an.« (JubA II, 7, Hervorhebung A.P.) Es geht eben nicht um ein nur sinnliches Gleichgewicht29, sondern vielmehr: »Wenn die Zufriedenheit [also eben dieses sinnliche Gleichgewicht] das höchste Gut wäre, so würde Rousseau Recht haben. Allein das Gesetz der Natur verbindet uns nicht nur, zufrieden zu seyn, sondern hauptsächlich, uns vollkommener zu machen.« (ebd.) Anvisiert ist nicht nur ein bloß angenehmes Gefühl unbeschwerten Daseins, sondern die Berücksichtigung der auch rationalen Kräfte. Vollkommenheit und Vervollkommnung liegen in diesen Sätzen am Beginn, nicht am Ziel der Argumentation. Mendelssohn hat hier nicht das Bedürfnis nach Vervollkommnung begründet. Vielmehr nimmt er es zusammen mit Rousseau als eine grundsätzliche Eigenschaft des Menschen an und versucht, es in eine positive Auffassung menschlicher Entwicklung einzuordnen. Grundlage seiner Argumentation ist dabei die dynamistische Lesart von Leibniz’ Begriff der Vollkommenheit, wie sie in Kap. I.1 dargelegt wurde. Damit wendet er sich gegen Rousseaus Charakterisierung des Naturzustandes als ursprünglich selbstgenügsam und leidenschaftslos, in dem die Perfektibilität nicht zur bestimmenden Ausübung käme. Der natürliche Mensch, so Mendelssohn im Sendschreiben, kann nicht ein Wesen ohne menschliche Züge sein – dies setzt Vernunftgebrauch und damit schon eine Realisierung der Perfektibilität voraus.30 Also kann kein »Zustand« des Menschen, sei er nun historisch oder systematisch gemeint, korrekt mit ›ungerichtet‹ und ›leidenschaftslos‹ beschrieben werden. Sollte der natürliche Mensch bereits das Vermögen, sich vollkommener zu machen, besitzen, so müsste er es auch ausüben. Sobald er es ausübe, sei er auf die Bahn der Entwicklung getreten, die dann jedoch nicht einseitig zu verdammen wäre, wenn nicht die Menschheit insgesamt verneint werden soll.

29

Für die Ablehnung einer allzu starken Betonung physischer Bedürfnisse spricht in diesen Notizen auch, dass Mendelssohn sich in ihnen vornehmlich gegen Rousseaus Folgerungen aus den körperlichen Besonderheiten ausspricht (vgl. JubA II, 8). 30 So auch die Interpretation Velkleys: auch der Mensch im Naturzustand ist nicht völlig arational, sondern in gewisser Weise an Rationalität gebunden. »The idea of the best life derives from our original nature, but we discover that our original nature must contain at least the seeds, or the earliest forms, of rationality. The earliest man is inconceivable without some reflection, and therewith some ›bondage‹ to reason.« (Velkley 2002, 33) Nach Tubach greift Mendelssohn in seiner Auffassung von der natürlichen Fähigkeit der Perfektibilität, die bei angemessener Erfüllung erst die »Quelle menschlichen Glücks« sein kann, auf diese ursprüngliche Bindung zurück (vgl. Tubach 1960, 147).

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Die allein körperliche Verbesserung zum Ausgleich fehlenden Instinkts, wie Rousseau dies im ersten Teil seiner Abhandlung beschreibt, kann als Zugeständnis einer Vervollkommnung im Naturzustand ebenfalls nicht genügen, da dies einer unausgewogenen Sicht auf den ganzen Menschen entspringe. Polemisch fragt Mendelssohn: »Soll er [der Mensch] diese thierischen Fähigkeiten auf den Gipfel der Vollkommenheit bringen, und die Seele, diesen herrlichsten Theil des Menschen, diese Blume der Schöpfung, in ihrer Knospe verwelken, und niemals zum Aufbruche kommen lassen?« (Sendschreiben, JubA II, 89) Die Vollkommenheit des Menschen, so auch die 1757/58 entstandene Notiz Verwandtschaft des Schönen und Guten, die ebenfalls seiner Auseinandersetzung mit Rousseau entstammt, »bestehet aus der Vollkommenheit seiner einzelnen Kräfte und Fähigkeiten, und aus ihrer Übereinstimmung zum Ganzen.« (JubA II, 182) Dies zu erreichen, erfordere eine rationale Einsicht in das Wesen der Dinge ebenso wie eine harmonische Ausbildung der menschlichen Sinnlichkeit.31 In diesem Sinne stellt Mendelssohn diese Vervollkommnungsfähigkeit als eine Funktion vor, die Leidenschaften des Menschen (als dunkle Vorstellungen) sowie seine unterschiedlichen Bedürfnisse auszutarieren und damit seine innere Harmonie zu erhalten. Die Erweiterung der Möglichkeiten durch eine Erweiterung der Fähigkeiten führt, wie bereits erwähnt, immer auch neue Begrenzungen vor Augen. »Eine jede Entwickelung unserer Kräfte ist eine Erweiterung unseres Daseyns; denn je mehr Kräfte sich bey einem Dinge äussern, desto grösser ist der Grad seiner Wirklichkeit. Wird nun unser Daseyn erweitert; so kommen auch gewisse neue Schranken zum Vorscheine, die vorher noch mit der blossen Fähigkeit in der Grundbildung gleichsam zusammengewickelt gelegen haben.« (Sendschreiben, JubA II, 87) Die Vervollkommnungsfähigkeit kann nur extern, nicht durch andere im Menschen bereits angelegten Fähigkeiten konterkariert werden, wenn nicht der Mensch als ein in sich hoffnungslos entzweites Wesen vorgestellt werden soll, was das Dasein zweifellos als »von Übel« erscheinen lassen würde. Vernunftgebrauch in diesem Sinne ist damit kein Beginn des Verfalls; der Mensch schreitet im Zuge der Vervollkommnung voran, nicht zurück. Diesen teleologischen Zug hat Lessing zu entschärfen versucht. In einem Brief an Mendelssohn vom 21. Januar 1756, der seine »wichtigste[n] Feststellungen gegenüber Rousseaus zweitem Diskurs«32 enthalte, legt er der Perfektibilität eine andere 31

In diesem Sinne erscheint es unverständlich, dass Fick (1993, 150) Mendelssohns angebliche Tendenz, die sinnlichen Vorstellungen aufzuklären, und damit in verständige Vorstellungen umzuwandeln, betont. Harmonische Entfaltung der Seelenkräfte ist eben keine »Erkältung« der Gefühle, sondern umfasst ebenfalls ihre Akzeptanz als Gefühle. 32 Tubach 1960, 147. Es ist jedoch aus der Perspektive der Forschung zu bedauern, dass Lessing eine weitere Diskussion »auf unsre mündliche Unterredung« verschiebt (JubA XI, 33). Am Rande sei darauf hingewiesen, dass Herder in seinen Humanitätsbriefen Lessings Auffassung zustimmend reformuliert (vgl. zweite Sammlung, 25. Brief, in: Werke 7, 123).

II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept

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Bedeutung bei. Ihm zufolge ist Vervollkommnung »eine Beschaffenheit, welche alle Dinge in der Welt haben, und die zu ihrer Fortdauer unumgänglich war.« (JubA XI, 34) Damit will er den aktivischen, strebenden Aspekt, den Mendelssohn mit der »Bemühung, sich, vollkommener zu machen« (ebd.) betont hatte, wieder zurücknehmen und das Vervollkommnungsprinzip nicht als prospektiv, sondern als konservativ festsetzen. So kann »das Vernunftprinzip auch im Naturzustand als gültig« (Tubach 1960, 148) betrachtet werden, ohne dass es notwendig mit dem Niedergang des Menschen einhergehen muss. Vervollkommnung dient so nicht der Verbesserung, sondern der Erhaltung. Der Mensch »erhielt also die Perfectibilität nicht deswegen, um etwas beßres als ein Wilder zu werden, sondern deswegen, um nichts geringers zu werden.« (JubA XI, 34) Perfektibilität ist damit kein leibnizianisch zu verstehendes Streben, sondern eine Eigenschaft »alle[r] Dinge in der Welt« (ebd.), auf ihrer jeweiligen Stufe zu bleiben. In diesem Sinne ist sie zwar als ein auch im Naturzustand wirksames Vernunftprinzip erklärbar in dem Sinne, dass dieser nicht verlassen werden muss, um sie zugleich als wirksam anzusehen. Der Mensch nutzt seine Lernfähigkeit, um seinen mangelnden Instinkt auszugleichen und also sein Leben zu erhalten. Es wird jedoch nicht recht klar, ob Lessings Lesart die Ausführungen Rousseaus zum menschlichen Niedergang durch die Vervollkommnungsfähigkeit angemessen erfasst; denn seinem Modell zufolge kann es zu gar keiner fehlgeleiteten Entwicklung kommen. In diesem Sinne knüpft Lessing hier durchaus an Leibniz’ statischem Modell der Weltvollkommenheit an. Darüber hinaus ist es nicht einsichtig, warum eine solche Auffassung der Vervollkommnung – als bloße Lebensherhaltung – nicht zu weitergehenden Bedürfnissen führen soll. Dass sein Standpunkt wenig überzeugt, hat Lessing selbst gesehen. »Ich zweifle, ob ich mich deutlich genug ausdrücke; und zweifle noch mehr ob mein Einwurf Stich halten würde, wenn ich ihn auch noch so deutlich ausdrückte.« (JubA XI, 34) Mendelssohn scheint eine ähnliche Meinung gehegt zu haben33; zumindest ist über diesen Punkt keine weitere schriftliche Diskussion zwischen den beiden nachweisbar, auch wenn einige Streitpunkte über Rousseau, wie prominent die Bewertung des Mitleids, zwischen den beiden virulent bleiben.

33 Indirekt lässt sich dies in einem Brief an Jacob Hermann Obereit vom 13. März 1770 zeigen, wenn man unter dem kritisierten (von Cochius verwendeten) »Ausdehnungstrieb« der Seele Lessings Einschätzung der Vervollkommnung versteht: »Eine richtige Zergliederung dieser Begriffe würde manche Untersuchung erleichtert haben. Mit dem Ausdehnungstriebe, dünkt mich, hat es seine Richtigkeit: wenn man darunter auch den Trieb versteht, das Erworbene nicht zu verlieren. Sonst gehen alle Triebe offenbar auf eine Übung und Beschäftigung unserer Geisteskräfte; und diese sind allezeit von der Entwickelung und Vervollkommnung der Begriffe nicht zu unterscheiden, oder haben diese vielmehr zum Endzwecke. Der Ausdehnungstrieb scheint mir mit dem Vollkommenheitstrieb vollkommen einerlei.« (JubA XII/1, 217)

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Darüber hinaus weisen auch Mendelssohns Überlegungen an anderen Stellen auf eine sich durchhaltende Lesart der Vervollkommnungsfähigkeit als ein positiv zu verstehendes, prospektives und einheitliches Vermögen hin. So betont er in den Notizen zu Sulzers Essai sur le bonheur 34 die Unmöglichkeit, mehrere einander widerstreitende »Vollkommenheiten« im Menschen, sowie in der gesamten Schöpfung anzunehmen, ohne dass dadurch die Möglichkeit von unterschiedlichen Hinsichten von Vollkommenheit ausgeschlossen wäre. Im Hinblick auf die Theodizee-Problematik vermerkt Mendelssohn: »Der Herr Prof: wollen es hier nicht zu geben, daß 2 Regeln der Vollkommenheit in einem Werke Gottes mit einander sollten streiten können, und am Ende Ihrer Schrift, scheinen Sie es anzunehmen, indem Sie gestehen, daß manches Uebel zur Vollkommenheit des Gantzen beförderlich sey – Und in Warheit, wenn sich Gott auch nur ein eintziges Intreße vorgesetzt hat, das aus dem Gantzen entspringen soll; kann dieses allgemeine Intereße sich nicht in verschiedene Regeln trennen, nachdem es auf die verschiedene Theile dieses Gantzen angewendet werden soll?« (JubA II, 31) Auf die Bestimmungsdebatte bezogen: es kann durchaus verschiedene Ausdrucksweisen einer Vollkommenheit geben. Dies kann die vollkommene Weltordnung sein, in der alles harmonisch zusammenhängt. Zugleich ist aber auch die Vollkommenheit in der Entwicklung, die die Repräsentation der vollkommenen Weltordnung aus der Perspektive der individuellen Seele in den Blick nimmt und von ihm aus auf eine individuelle Vervollkommnung zielt, mit angedacht. Diese ist – im Gegensatz zur Vollkommenheit in objektiver Hinsicht – immer in gewisser Weise eingeschränkt und damit zugleich mit einem Strebensmoment versehen. »[D]er Stand der vollkommenen Glückseeligkeit, nach welcher wir uns sehnen, führt immer noch das Siegel der Endlichkeit an sich, indem er nichts anders ist, als ein ununterbrochener Uebergang von einer Vollkommenheit zur andern.« (JubA II, 32) Jeder Zustand der Seele ist in dem Sinne Vollkommenheit, dass er eine Mannigfaltigkeit der Vorstellungen unter der Einheit der Seele darstellt; zugleich jedoch ist der Grad der Klarheit der jeweiligen Vorstellungen immer einer weiteren Vervollkommnung fähig. Vollkommenheit in diesem Sinne ist ein uneigentlicher Ausdruck, da nicht deren objektive Dimension als vollkommene Verfasstheit der Welt, sondern die subjektive Hinsicht einer personalen Weltperspektive gemeint ist. Während die einzelne Seele zur vollkommenen Klarheit strebt, ist das Weltganze ›immer schon‹ ein in sich stimmiges Gebilde. Zwei Prinzipien der Vollkommenheit,

34

Sulzer veröffentlichte den Essai zuerst in der Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles Lettres, Berlin 1756, 399–417; dann in den Vermischten philosophische Schriften, I, 323–47 unter dem deutschen Titel »Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen«. Mendelssohn bezieht sich auf die Seite 416 (der Ausgabe 1756), bzw. 346 (der Ausgabe 1773). In der Einleitung zur JubA II weist Bamberger darauf hin, dass Mendelssohn vermutlich Sulzers Schrift im Manuskript vorlag und die Notizen einen Briefentwurf an Sulzer darstellen könnten, vgl. ebd., XI ff.

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Streben und Statik, stehen hier, wie später in der Debatte mit Abbt, nebeneinander. Mendelssohn versucht, beides zu vereinen, indem er das Dasein des Individuellen als einen Grad von Vollkommenheit, dem zugleich ein Bestreben beigegeben ist, diesen Grad zu erhöhen, beschreibt (womit freilich der Ausdruck ›Vollkommenheit‹ einen relativen Zug bekommt). Jede Stufe der durch das Streben eingeleiteten Entwicklung soll wiederum Übergang und Selbstzweck zugleich sein. So weit ist er damit nicht von Lessings Auffassung der Perfektibilität entfernt, denn dieser hatte von einem Bestreben gesprochen, seine Fähigkeiten zu entwickeln, um die Vollkommenheit der Welt in eben dem Zustand – nämlich einem vollkommenen – zu erhalten. Es wäre in dieser Lesart widersprüchlich, einen Zustand vollkommen zu nennen und zugleich seine Vervollkommnung zu fordern. Dies hat auch Mendelssohn nicht im Sinn; vielmehr möchte er zeigen, dass es das Phänomen der gefühlten Unvollkommenheit des Einzelnen ist, worum es im Begriff der Perfektibilität geht. Entwicklung ist bei Mendelssohn wortwörtlich zu denken und meint das Phänomen der sich langsam über sich selbst klarer werdenden Seele. Die ursprüngliche Vollkommenheit ist nur denkbar in der objektiven Perspektive: die höchste Vollkommenheit ist immer schon in der Monade enthalten, allerdings in unterschiedlichen Graden der Klarheit. In der subjektiven Perspektive wird Vollkommenheit gerade erfahrbar im Fortschritt, in der schrittweise erfolgenden Aufklärung. Die Rolle der Vervollkommnungsfähigkeit gewinnt in Mendelssohns Philosophie zunehmend an Bedeutung. So formuliert er in einem Antwortschreiben auf einen verloren gegangenen Brief von Jacob Hermann Obereit vom 13. März 1770 die wichtige Rolle der individuellen Entwicklung zur Entwicklung der Tugend. »Der höchste Endzweck der Tugend ist, was verbessert werden kann, zu verbessern; und beim Menschen ist das ganze Genus sowohl als jedes Individuum eines unendlichen Fortgangs fähig.« (JubA XII/1, 215) Auf die politischen und gesellschaftstheoretischen wie geschichtsphilosophischen Folgerungen aus diesen Beobachtungen im Jerusalem werde ich später (Kap. IV) eingehen. Hier soll jedoch vorwegnehmend festgehalten werden, dass eine der zentralen Bestimmungen dieses Textes, die Auffassung der »Ewigkeit« des Menschen als »ein unaufhörliches Zeitliche[s]«35 (JubA VIII, 108) in der schon in den 1750er Jahren sich herausbildenden Auffassung der menschlichen Vervollkommnung gegründet ist.

35

Diese Aussage halte ich für eine der wichtigsten, die Mendelssohn zur Charakterisierung des Menschen gefunden hat.

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Die freie Äußerung der Perfektibilität Kommen wir vorerst auf Mendelssohns Auseinandersetzung mit Rousseau zurück. Während dieser die Perfektibilität als ein den natürlichen Menschen entzweiendes Moment und damit Kultur als eine Verfallsstufe auffasst, versucht Mendelssohn, diese Folgerung zu umgehen. Der Mensch entwickelt sich in natürlicher Weise mithilfe der vernunftgerichteten Perfektibilität aus dem Naturzustand zur Kultur und erreicht damit einen höheren Grad der Vollkommenheit (vgl. Tubach 1960, 147). Diese Lesart impliziert darüber hinaus, dass der Verstand als nur ein möglicher Motor der Vollkommenheit verstanden wird, die zugleich durch die Forderung nach Harmonisierung aller menschlichen Triebe sowie einem noch zu erläuternden Zug zur Geselligkeit, den Mendelssohn gegen Rousseau verteidigt, geleitet und begrenzt wird. Die Rolle des Verstandes hält Mendelssohn auch hinsichtlich des zweiten menschlichen Vermögens, der Freiheit, hoch. Vergleicht man seine Notizen und das Sendschreiben (JubA II, 97) mit Rousseaus Abhandlung, so wird deutlich, dass Mendelssohn in der Reformulierung von Rousseaus Position der Fähigkeit zur Vervollkommnung lediglich das Moment der körperlichen Bedürfnisse entgegengesetzt, es aber nicht mit der Freiheit kontrastiert. Er hat damit wenn nicht verkannt36, dann doch übergangen, »dass Rousseau nicht die Vernunft, sondern die Freiheit für die spezifisch menschliche Eigenschaft ansah, kraft derer der Mensch das Leben nicht nur bestand, sondern auch schöpferisch meisterte.« (JubA VI/2, XXXVII) Allerdings hat er diese Thematik in der Nachschrift zum Sendschreiben aufgegriffen. Von der Freiheit spreche Rousseau, so seine Formulierung hier, als der »edelsten Gabe des Himmels« (JubA II, 98). Aber ist sein Freiheitsbegriff auch in sich konsistent?37 Um dies zu untersuchen, definiert Mendelssohn Freiheit zuerst im Anschluss an Leibniz’ Auffassung der Willensfreiheit als »das Vermögen eines Geistes, nach überlegten Bewegungsgründen zu handeln« (Nachschrift, JubA II, 99), was den Bezug zur Vernunft sogleich offenlegt. Dies könne allerdings kaum dem Menschen im Naturzustand, wie Rousseau ihn beschreibe, zukommen, da er von seiner dafür notwendigen Vernunft keinen angemessenen Gebrauch machen könne. Darüber hinaus ist zu einer freien Handlung auch das Bewusstsein von ihrer Freiheit erforderlich. Der »Wilde« handelt nach einem blinden Trieb, jedoch »ohne innerliche Ueberzeugung von der Richtig36

Siehe die unterschiedlichen Wertungen in JubA II, XXII und VI/2, XXXVII. Mendelssohn differenziert die Feststellung Rousseaus, dass der Mensch frei sei, mit der Disjunktion: »moralisch frei«, oder, »die Freyheit darinn ein thierisches Geschöpf lebet?« (Sendschreiben, JubA II, 99, vgl. JubA VI/2, XXXVII) Die Dimensionen von Rousseaus Freiheitsbegriff, der in seiner nichtmetaphysischen, sondern vielmehr politischen und gesellschaftsphilosophischen Dimension hier deutlich an Voltaire anschließt (Cassirer 1932, 336 ff.), können hier nicht angemessen berücksichtigt werden. 37

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keit seiner Handlung« (JubA II, 100). Neben der moralischen Forderung des Bewusstseins von der rechten Handlung entwickelt Mendelssohn noch einen weiteren Aspekt wirklicher Freiheit. Aber auch dieser zweite, rechtliche Freiheitsbegriff, der »einen äußerlichen politischen Zustand[38], darnach sich alle Vernünftigen sehnen, und ohne welchen das Leben dem allergeduldigsten Menschen kaum erträglich seyn kann« (JubA II, 99) meint, ist ohne Vernunftgebrauch nicht denkbar. Denn nach dem Modell des Naturzustandes ausgeführt, bedeutet diese »Freiheit« allein, ohne Zwang etwas tun zu können – also auch die »Freiheit«, »ungestraft die Negers überfallen und umbringen zu können« (JubA II, 99), wie es auch Rousseau in Anm. 10 über die »Pongos und Ourang-outangs« gesagt habe. Freiheit aber als ein »Zustand, darinn wir von keinem äusserlichen Zwange abgehalten werden, unsern wahren Bedürfnissen auf einer unschuldigen Weise ein Genüge zu leisten« (JubA II, 100), erfordert eine Abwägung darüber, was eigentlich »unschuldig« ist. Hinzu kommt hier die generelle Reziprozität der politischen (und auch moralischen) Freiheit: So, wie der natürliche Mensch frei von Zwang sein soll, seine Bedürfnisse zu erfüllen, verbindet ihn dieses Recht von Anfang an auch zu bestimmten Pflichten, wie eben der, die Freiheit des Anderen und damit dessen Bedürfnisbefriedigung zu akzeptieren.39 Nur so kann eine freie Handlung ihren Beitrag zur größten Glückseligkeit des Einzelnen und der Gesellschaft beitragen, wobei die eine Sphäre die andere bedingt und begrenzt. Dass die Sphäre des Einzelnen auch bezüglich der Freiheit nicht ohne den Anderen gedacht werden kann und damit die Glückseligkeit des Einzelnen immer auch in seinem Wohltun für andere und deren verbesserten Zustand liegt, erklärt Mendelssohn aus der schlichten Unmöglichkeit, in einer ›monologisch-solipsistischen‹ Welt überhaupt irgendeiner Form der Glückseligkeit teilhaftig zu werden. Was er hier übersieht ist allerdings, dass Rousseaus Problematisierung der Freiheit nicht auf die Willensfreiheit bezogen ist, sondern dass er hiermit die Frage nach der möglichen Souveränität des

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Die Anspielung auf einen politischen Zustand zeigt auch die Anlehnung an Wolffs Definition der Freiheit im Naturzustand als eine Freiheit von obrigkeitlichen Zwängen: »Hinc Libertas definiri potest, quod sit independentia hominis seu actionum ipsius a voluntate alterius hominis cuiuscumque. Ut adeo homo liber non dependeat in agendo ab ullo alio homine nisi a seipso.« (Ders.: Jus naturae, I 1, § 153). Mendelssohn unterwandert hier wiederum Rousseaus Begriff des Naturzustands, indem er schon in ihm eine Urform der Geselligkeit annimmt und in ihr Normen, die den Gebrauch der Freiheit Anderen gegenüber regeln, für gültig erachtet. Siehe dazu die Analyse Altmanns 1982, 164–91, sowie Kap. IV.3. 39 Vgl. Altmann 1982, 187. Dieser betont darüber hinaus den festen Zusammenhang dieser Freiheitsauffassung, unter ihrer »Subsumtion« als »Bestimmung des Menschen«, mit der Auffassung der »Menschenrechte«, wie sie Mendelssohn in seinen politischen Schriften verfolge. Es erstaunt nicht, dass ein Philosoph, dessen oberstes Interesse die Bestimmung des Menschen war, auch die unveräußerlichen und ersten Rechte, die Menschenrechte, zu seinem Thema machte. Dass als ein biographischer Grund für dieses Interesse auch in dem miserablen rechtlichen Status der Juden gegründet war (siehe Altmann 1982, 166), liegt auf der Hand; vgl. hier Kap. IV.4.

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Menschen im Gesellschaftszustand fragt.40 Den Begriff gesellschaftlicher Kontrolle und Unterdrückung nimmt Mendelssohn nicht in seine Diskussion auf, wie sich auch in Bezug auf die gesellschaftlichen Dimensionen des Menschen, die in Bezug auf den Jerusalem zu diskutieren sind, zeigen wird (s. Kap. IV).Er verteidigt vielmehr »seine Auffassung von der Natur des Menschen als einer untrennbaren Einheit von Selbstliebe und Wohlwollen gegenüber anderen« (Altmann 1982, 188), die er in der gesellschaftlichen Konstellation tatsächlich kollidierender Vorstellungen nicht reflektiert. Um diese Erweiterung der Vollkommenheit auf Vernunft, Freiheit und Affektionen zu verstehen, ist allerdings als ein weiterer Aspekt von Mendelssohns Rousseau-Kritik zu berücksichtigen: die Rolle des Mitleids.

2. Mitleid als zentrale Kategorie in Kunst und Kultur Laut Rousseau vernichten ratio und Zivilisation, da sie Ungleichheit produzieren auch die natürliche Fähigkeit des Mitleids (Discours, 116 f.) als ein vorrationales Moment der Identifikation. Pitié bewirkt, »daß wir kein empfindendes Wesen, und vornehmlich keines von unsersgleichen, ohne Widerwillen untergehen oder leiden sehen können« (ebd., 116). An anderer Stelle formuliert er es sogar in Begriffen der zeitgenössischen Psychologie: »Die Gewogenheit und die Freundschaft selbst entspringen […] aus einem beständigen Mitleiden, das auf einen besondern Gegenstand geheftet ist: denn was heißt das Verlangen, daß ein anderer nicht leiden soll, anders, als ein Verlangen, daß er glücklich seyn möchte; Gesetzt, das Mitleiden sey nichts, als ein Gefühl, das uns an die Stelle des Leidenden setzet, ein Gefühl, das bey einem Wilden dunkel und lebhaft, bey dem gesitteten Menschen hingegen aufgeklärt, aber schwach seyn muß[41]; wird nicht eben dieser Begrif, demjenigen, was ich gesagt habe, noch mehr Nachdruck geben?« (Discours, 116, Hervorhebung A.P.) An die Stelle des Mitleidens tritt in der Kultur die von Rousseau pejorativ gemeinte vernünftige Eigenliebe – deren Vernunftgehalt weniger auf das geregelte Maß dieser Eigenliebe geht, sondern nach Rousseaus Auffassung der ratio vielmehr eine Instrumentalisierung des Anderen intendiert und damit Mitleid im empathischen, altruistischen, sowie im für den Menschen zuträglichen Sinne abschwächt und zu einer reinen Instrumentalisierungsfunktion verkommen lässt. In einer extremen Ausformung benennt Rousseau 40

»The problem that vexed Rousseau was the problem of freedom in its limited sense of sovereignty, that is, the extent to which man controls his own life and the respective powers of the state and the individual.« (Rotenstreich 1966, 33) 41 Im Original »sentiment obscur et vif« vs. »développé mais faible« (vgl. Rousseau 1995, 174). Das Mitleid, das der Zuschauer für das Geschehen in der Tragödie verspürt, ist damit ein Überrest dieser eigentlich starken und grundlegenden Empfindung. Schings 1980, 27 nennt dies ein »Indiz« für das Überdauern der Menschlichkeit »selbst unter fatalen Umständen«.

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dies mit dem Weltweisen, der sich so weit von Seinesgleichen entfernt hat, dass man unter seinem Fenster sogar morden könne: er wird sich »den Finger in das Ohr […] stecken und ein wenig Vernunftschlüsse« machen, um sich zu beruhigen – helfen wird er nicht (Discours, 116). Der Verlust der intuitiven Mitleidsfähigkeit ist damit ein deutliches Zeichen menschlichen Niedergangs und pervertiert die Identifikation zu Hass und einer aus Selbstsucht resultierenden Befriedigung am Leiden Anderer. Wie das Zitat zu Beginn dieses Abschnitts zeigt, begeht Rousseau nicht den Fehler, das Mitleiden auf die Erhaltung des Anderen gerichtet zu beschreiben, denn dann wäre es das Gefühl einer grundlegenden, positiv zu verstehenden Geselligkeit. Vielmehr ist es »ein Gefühl, das uns an die Stelle des Leidenden setzet« (Discours, 116) und damit generell von der Selbstliebe abhängt. Es ist in dem Sinne ein Gesetz, mit dem die Natur Gebrauch der vorrationalen Empfindlichkeit des Menschen macht: Mitleid wirkt nur, insoweit es noch nicht durch den Verstand gebrochen ist. Es dient dem Zweck, die »Wirksamkeit der Eigenliebe« zu mäßigen und so, als Naturgesetz, das menschliche Geschlecht zu erhalten (vgl. Discours, 117). Es ist damit eher ein negatives42 Gesetz, das sich unter Berücksichtigung des ersten Gesetzes, das auf Selbsterhaltung zielt, als eine »natürliche Abneigung, seinesgleichen mehr Schaden als nötig zuzufügen« (Discours, 83) paraphrasieren lässt: ›Schade deinem Nebenmenschen nicht mehr, als zu deiner Selbstsorge nötig ist.‹ In der Kultur müsse dieses natürliche Gefühl durch künstliche Normen ersetzt werden – es liegt nahe zu vermuten, dass diese Substitution nicht ohne Wirksamkeitsverlust vonstatten geht. Genau dies scheint Rousseau mit der Formulierung »aufgeklärt, aber schwach« gemeint zu haben.43 Für Mendelssohn dagegen entsteht Mitleid aus Liebe, ist also in sich und zuerst positiv.44 Letztlich wendet er sich dabei in erster Linie gegen Bernard de Mandeville, 42

Vgl.. Fetscher 1981, 911 und Melzer 1990, 16, wobei laut Melzer Rousseau dem natürlichen Menschen auch ein »rudimentäres« empathisches Gefühl für den Anderen zugesteht. Dann wäre allerdings wiederum die Absage an eine ursprüngliche Geselligkeit problematisch. 43 An diesem Punkt ist Altmanns Analyse von Mendelssohns und Rousseaus Einschätzung des Verhältnisses von Mitleid und Selbstliebe etwas ungenau. Beide stimmen in der »Bejahung der Selbstliebe« überein (Altmann 1982, 189); jedoch ist der Status des Mitleids bei Mendelssohn stärker und spezifiziert damit die von Rousseau vertretene Alleingeltung der Selbstliebe nicht bloß von negativer Seite (Mitleid als Begrenzung), sondern auch positiv (Mitleid als ein Gefühl eigener Geltung). 44 Vgl. Erlin 2002, 90. Ähnlich argumentiert auch Sulzer in seiner Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen 1751/52 (Verm. Schriften I, 1–98, vgl. auch Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen, (zuerst 1754), in Vermischte Schriften I, 323–47): »Weil also die Idee des Guts oder Übels eben die Eindrücke auf uns macht, als das Gute oder Übel selbst […], so ist deutlich, da[ß] auch das Gute anderer Menschen, vermöge seiner Natur die angenehme, und ihr Übel die unangenehme Empfindung in uns erregen muß. Woraus die Wahrheit meines Grundsatzes erhellet: daß wir einen natürlichen Hang haben, an dem Guten und Übel anderer Theil zu nehmen.« (86) Für Sulzer folgt die Unmittelbarkeit der Einfühlung also

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der in der Fable of the Bees, einem Mendelssohn wohlvertrauten Werk, das Mitleid vielmehr als eine Schwäche der Vernunft benennt, wogegen der Egoismus die eigentliche gesellschaftstragende und fortschrittschaffende Kraft sei.45 Der wichtigste Aspekt von Mandevilles Denken im gegebenen Zusammenhang lässt sich jedoch mit Rousseaus Kulturkritik parallelisieren: Gute Taten geschehen laut Mandevilles Analyse bzw. im Rousseauischen Kulturzustand nicht um ihrer selbst, sondern um des eigenen Ansehens willen bzw. um die Mitmenschen zu übervorteilen. Sie sind also bloßer Schein, ihr Gebrauch ist instrumenteller Natur und ihre Geltung ebenso relativ wie Kleidermoden. Allerdings bietet Rousseaus Auflösung dieses Befundes in eine historisch umdeutbare Analyse bessere Angriffspunkte, um dem eine alternative Entwicklungsmöglichkeit des Menschen entgegenzuhalten. Genau dies scheint Mendelssohns Ziel gewesen zu sein. Mandevilles Kritik dagegen speist er mit dem Hinweis, dass sie auf einer Übertreibung eines Gedankens beruhe, relativ kurz ab. Die Liebe zum Anderen, die sich im Mitleid manifestiert, sieht Mendelssohn in der Neigung zur Vollkommenheit, nicht in einer Übertragung des eigenen Gefühls auf einen anderen Menschen begründet.46 Wenn es diesen Anderen schlecht ergehe, so vermische sich die grundlegende Liebe zu ihnen mit dem Unlust, ihren Zustand als eingeschränkt zu erleben – Mitleid ist damit mit der menschlichen Soziabilität eng psychologisch aus der Tatsache, dass moralisch besetzte Ideen ebenso unmittelbar wirken wir sinnliche. Vgl. dazu Dürbeck 1998, 198 f., die allerdings auch dem widersprechende Stellen nennt und die Rolle der Einbildungskraft, die hier für die nötige Eindringlichkeit sorgt, betont. 45 Gegen Mandeville wendet sich auch Rousseau, vgl. Discours, 114 ff. Vgl. Sendschreiben, JubA II, 101 und Schings 1980, 22–33). »Pity, tho’ it is the most gentle and the least mischievous of all our passions, is yet as much a Frailty of our Nature, as Anger, Pride, or Fear. The weakest Minds have generally the greatest Share of it, for which Reason none are more Compassionate than Woman and Children. It must be own’d, that of all our Weaknesses it is the most amiable, and bears the greatest Resemblance to Virtue; nay, without a considerable mixture of it the Society would hardly subsist: But as it is an Impulse of Nature, that consults neither the publick Interest not our own Reason, it may produce Evil as Well as Good.« (Mandeville I, 56) Zur »Provokation Mandeville« und deren Folgen für den aufklärerischen Moralapriorismus siehe Jacobs 2001, 38 ff. 46 Damit verwandt ist Mendelssohns Grundgedanke über die Einheitlichkeit der Seele, wie er ihn auch in den Hauptgrundsätzen formuliert (JubA I, 428): die Grundkraft der Seele muss eine einzige sein, sonst wäre die Seele ein zusammengesetztes Wesen. Freude und Leid gründen sich somit gleichermaßen in der (erfüllten oder versagten) Sehnsucht nach Vollkommenheit (vgl. hierzu die Theorie der vermischten Empfindungen (Kap. II.2), seine Illusionstheorie (II.3), sowie die metaphysische Ausformulierung des Einheitspostulats im Phädon, Kap. V.1). Insgesamt ist das Mitleid bei Mendelssohn auch nicht, wie es Schings 1980, 31 formuliert, eine »untergeordnete, ableitete, ja defiziente Form« der Liebe zur Vollkommenheit, sondern ihr vollkommener Ausdruck. Schings identifiziert Mendelssohns Vollkommenheitsphilosophie mit einer steril erscheinenden Vorliebe für Harmonie und Ordnung; Mendelssohn selbst scheint aber vielmehr auf eine Zusammenstimmung von Vernunft und Gefühl zu dringen, die das Gefühl für Vollkommenheit eben nicht instrumentalisiert, sondern es in ein umfassendes Konzept einzugliedern versucht. Berücksichtigt man neben dem Sendschreiben auch die Briefe über die Empfindungen wird diese Miteinbeziehung der Sinnlichkeit umso deutlicher.

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verbunden und verlangt diese grundlegende Mitfühlung per se. Schon bevor amour de soi in amour propre ausartet, empfindet der Mensch das Gebot des Mit-Fühlens und damit der Ausrichtung aller seiner Handlungen auch auf den Anderen. Letztlich ist laut Mendelssohn der Begriff des Mitleids in Verbindung mit der Annahme einer grundsätzlichen Ungeselligkeit des Menschen bei Rousseau inkonsistent. Mitleid resultiert wie Selbstliebe aus der umfassenden Neigung zur Vollkommenheit; es kann dementsprechend mit der ›richtigen‹ Ausbildung der Vernunft auch in menschlichen Gesellschaften nicht zwangsläufig pervertiert werden. Mit Lessing diskutiert Mendelssohn dieses Problem am Rande des sogenannten Trauerspielbriefwechsels, einer durch die Frage nach Beschaffenheit und Zweck der Tragödie zusammengehaltene Brieffolge, zu der zeitweise auch der gemeinsame Freund Friedrich Nicolai hinzutrat.47 Der Disput ist einer ausgeglichenen Analyse jedoch nicht immer zugänglich, denn er forderte beide Seiten zu extremen Positionen heraus, die beide in der Folgezeit modifizierten und erweiterten.48 Darüber hinaus erschwert der Umstand, dass die Beteiligten nicht über das Mitleid an sich, sondern das durch die Kunstform der Tragödie hervorgerufene Mitleid diskutieren. Im gegebenen Zusammenhang ist allerdings allein auf das Verständnis von der Rolle des Mitleids im menschlichen Gefühlshaushalt einzugehen. Wie auch immer man die Rollen der drei »Kombattanten« bewerten will, eines scheint geteilter Standpunkt zu sein: »In the limited scopes of metaphysics and psychology he [Mendelssohn] was probably surer of himself than Lessing in any one field of his more extensive interests, with the exception of classical philology.« (Nolte 1931, 311) Gerade die Überlegungen zur Tragödie eignen sich tatsächlich, um die psychologischen Grundlagen von Mendelssohns Menschenbild zu beleuchten; wurde doch die Poetik »in einer immer ausschließlicher psychologisch ausgerichteten Ästhetik«49 fundiert und greift explizit auf das Bild eines natürlich guten Menschen zurück. 47

Siehe zu diesem Aspekt v. a. Nolte 1931, Michelsen 1966 bzw. 1990, Heidsiek 1979, Schillemeit 1984, Schings 1980. Auf den Einfluss Rousseaus auf die Debatte über Mitleid vs. Bewunderung im sogenannten Trauerspielbriefwechsel gehen allein Schillemeit (81 ff.) und Schings ausführlich ein. 48 Vgl. Goetschel 2004, 101. Schillemeit 1984, 85 macht zu recht darauf aufmerksam, dass bei der Interpretation der jeweiligen Texte auf die unterschiedliche Intention zu achten ist. So stellen die Briefe über die Empfindungen eine Empfindungstheorie allgemein, die Briefe zum Trauerspiel eine Theorie der affektiven Wirkungen der Tragödie auf. Die Verwendungskontexte sind nicht völlig deckungsgleich – also ist es auch wenig erstaunlich, dass bspw. das Element der Bewunderung in den Briefen bzgl. des Trauerspiels keine große Rolle spielt. Nichtsdestotrotz ist diese Kategorie dort immer präsent und wird auch im Umkreis der Diskussion über das Erhabene wieder eingeholt: die Bewunderung für den Künstler (bzw. im Beschluss der Briefe für den jeweiligen Akteur, der die erste Art des Mitleids kennzeichnet, vgl. JubA I, 108) ist ein feststehender Gedanke in Mendelssohns Werk. Vgl. Kap. II.2 und 3. 49 Michelsen 1966, 550. Nicolai, Lessing und Mendelssohn lehnten sich dabei auch an die von Michelsen 1966, 552 so bezeichneten »erste[n] radikal subjektivistischen Ästhetik« in Dubos’

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Mitleid wird in der Trauerspieldebatte als eine spezifische Form von Leidenschaft gewertet. Überhaupt entzündete sich die Debatte vornehmlich50 an Nicolais Abhandlung vom Trauerspiele, wobei sich diese Abhandlung explizit auch auf Mendelssohns 1755 in den Briefen über die Empfindungen entwickelte Mitleidstheorie (vgl. Nicolai, Abhandlung, 17 sowie JubA I, 108–12) anlehnt. Beide vertreten den Grundsatz, dass es der Zweck der Schaubühne sei, Leidenschaften zu erregen (JubA I, 94 f.). Was Nicolai nicht behandelt, ist eine Erklärung des Umstands, warum der Zuschauer an den Trauerspielen, die dem von ihm nahegelegten Grundsatz folgen, tatsächlich Vergnügen hat.51 Man ist dazu vornehmlich auf die Anmerkungen zur Psychologie des Vergnügens, die Mendelssohn in den Briefen vorträgt, verwiesen. Im »Beschluss« der Briefe hatte Mendelssohn auf die Wurzel des Mitleids als einer theatralischen Leidenschaft par excellence als ein dunkles (und daher sinnliches) Bewusstsein von einer zugleich empfundenen Liebe für eine Person und Abscheu gegen ein ihre Vollkommenheit einschränkendes Ereignis bestimmt. Mitleid vereinigt in sich Lust und Unlust; man ist für eine Person positiv eingenommen, empfindet also Wohlwollen und bedauert deshalb umso mehr ihr Unglück. Selbst wenn wir angesichts einer Katastrophe (als ein Beispiel firmiert in den Briefen der vielzitierte Schiffsuntergang, der entweder in der Gemäldegalerie, oder gar vom sicheren Ufer mit Vergnügen betrachtet wird) erschrecken, sei dies ein »Mitleiden, das uns schnell überrascht« (JubA I, 110). Der Grund des Vergnügens am Mitleid liege, so bescheidet Mendelssohn knapp, »in der Natur unserer Empfindungen«52, ihre Wirkung sei aus der menschlichen Neigung zur Vollkommenheit erklärbar. Damit ist die Opposition gegen Rousseau bereits umrissen. Jedoch ist es im Trauerspielbriefwechsel überraschenderweise nicht Mendelssohn, sondern Lessing, der den Wert des Mitleids vehement verteidigt, während Mendelssohn die Bewunderung hervorhebt.53 Mitleid, so Lessing, sei die wichtigste und eigentlich auch einzige Lei-

Réflexions critique sur la Poésie et la Peinture (1719) an, um sich damit zugleich implizit gegen die Poetiken Gottscheds zu stellen. Vgl. dazu Pollok 2008. 50 Obwohl das Thema schon vorher von Mendelssohn angesprochen wurde, siehe seinen Brief an Lessing vom 26. Dezember 1755, JubA XI, 28: »Was halten Sie dafür? kann uns die Großmuth Thränen auspressen, wenn sich kein Mitleiden ins Spiel mischt?« Erst mit Nicolais Abhandlung über das Trauerspiel kommt die Debatte allerdings in Gang. Schings 1980, 33 weist zu Recht darauf hin, dass zu einem vollständigen Verständnis der Debatte die vorangegangene Auseinandersetzung mit Rousseau (und Mandeville) von großer Bedeutung ist. 51 Vgl. die spärlichen Hinweise in Nicolai, Abhandlung, 13. 52 Im Zuge der Modifikation seiner Theorie, die in die Ausgestaltung der vermischten Empfindungen mündet, wird Mendelssohn es unternehmen, diese Gesetzte der »Natur unserer Empfindungen« genauer auszuarbeiten, siehe die anschließenden Teilkapitel. 53 Mitleid ist für Lessing weder »ästhetizistischer Formalismus«, noch allein um des Selbstgefühls willen angestrebt. Vielmehr vergrößert die Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, die »empfindsame Kompetenz« des Menschen, wie Lessing im Anschluss an Hutcheson, dessen Inquiry into the Origi-

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denschaft, die die Tragödie erwecken könne. So reformuliert er in Anlehnung an Mendelssohn den Schrecken als ein Mitleiden, was uns schnell überrascht und die Bewunderung, weniger überzeugend (so auch Nolte 1931, 323 f. und 328), als das »entbehrlich gewordene Mitleiden« (November 1756, nach JubA XI, 66). Während die anderen Gefühle auf spezifische Situationen gerichtet seien und als Affekt erlöschen, sobald der Tragödienbesucher das Schauspielhaus verlässt (vgl. Brief vom 18. Dezember 1756, JubA XI, 92 f.), so wirke das Mitleid universell und verfeinere die menschlichen Empfindungen. Zweck dieser unterschiedlichen Ausprägungen des Mitleids ist die Erhöhung menschlicher Gesellschaftsfähigkeit: »Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Grossmuth der aufgelegteste.« (JubA XI, 67, siehe auch Goetschel 2004, 101) Intendiert ist damit eine Absage an den von Mendelssohn und Nicolai formulierten Grundsatz der Leidenschaftserregung als Zweck der Tragödie. Lessing zufolge ist die Erregung der Leidenschaften auf dem Theater nicht Endzweck, sondern Mittel, den Menschen zu bessern.54 Dies kann nur erfüllt werden, wenn die einzige anvisierte Leidenschaft der Schaubühne eben das moralisch relevante Mitleid ist. Mit Mendelssohn und damit kritisch gegen Rousseau betont Lessing darüber hinaus, dass diese Verbesserung der ›Gefühlskompetenz‹ eine bessere Form der Geselligkeit her-

nal of Our Ideas of Beauty and Virtue (1729) er unter dem Titel Sittenlehre der Vernunft gerade 1755 (angeben ist 1756) übersetzt und herausgegeben hatte, formuliert (vgl. Kimpel, 1982, 279 f. und Schings 1980, 25). Ästhetisches Mitleid zeigt an, dass die Rezipienten eine Fertigkeit zum Mitleiden überhaupt besitzen – und so auch im ›wirklichen Leben‹ anwenden können. Lessing versucht damit das Problem zu beantworten, wie abstrakte moralische Prinzipien überhaupt in die praktische Umsetzung überführt werden können. Mit Hutcheson argumentiert er dabei für die Unabhängigkeit dieses Gefühls von Verstand und Willen. Nach der These Heidsieks ist es nicht Rousseaus, sondern vor allem Hutchesons Mitleidsbegriff, der Lessings Ansichten prägt (vgl. Heidsiek 1979, 13). Hutcheson will zeigen, dass es nicht nur die Selbstliebe ist, die den Menschen antreibt, sondern auch ein entgegengesetzter, ebenfalls nach dem Grundprinzip der Lustmaximierung und Schmerzminderung funktionierender Grundtrieb: »nämlich das zu befördernde Glück des Mitmenschen« (Heidsiek 1979, 15). Für Heidsieks Interpretation spricht, dass Lessing diesen zweiten Trieb nicht weiter problematisiert, was er unstreitig tun müsste, wenn er von Rousseaus Mitleidskonzeption allein ausginge. Es soll im weiteren aber nicht um Lessings, sondern Mendelssohns Begründung der Mitleidstheorie gehen. Dass dieser an dem ›Problem Rousseau‹ interessiert blieb, zeigen seine Schriften deutlich. Für Mendelssohns Beschäftigung mit Hutcheson (mal zustimmend, mal ablehnend) spricht, dass dessen Inquiry als eine explizite Verteidigung der Gedanken Shaftesburys gegen Mandeville konzipiert war (siehe dessen vollständigen Titel). 54 Es ist hier zu betonen, dass allein Lessings Auffassung zur Zeit des Trauerspielbriefwechsels berücksichtigt wird. Darüber hinaus ist der Bemerkung Gleissners (1988, 37) zuzustimmen, das »[d]ie in Äußerungen aus den Anfängen seiner kritischen Tätigkeit noch häufiger begegnenden moraldidaktischen Bestimmungen der Aufgaben von Romanen, Dramen und Lehrgedichten […] mit den Jahren seltener und auch schwerer greifbar« werden. Auf den Einfluss Mendelssohns auf Lessing geht Gleissner nicht ein (was der germanistischen Tradition, eine Einflussmöglichkeit nur auf umgekehrten Wege zu vermuten, durchaus entspricht).

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vorruft. Indirekt hat damit auch er Rousseaus Naturzustand um eine grundlegende Tendenz zur Geselligkeit erweitert, jedoch dessen Kritik an der Ratio beibehalten. Nicht der denkende, vernünftige, sondern der Mitleid fühlende Mensch ist Endzweck theatralischer Darstellung. Mit dieser Einschränkung auf das Mitleid unterscheidet sich Lessing Standpunkt grundlegend von demjenigen Mendelssohns, der ein umfassendes Konzept der ästhetischen Wirksamkeit intendiert, in dem das Mitleid als eines der durch die Schaubühne erregten Affekte mit der Vernunft in Zusammenhang gebracht werden soll; wohlgemerkt ist dieser Zusammenhang kein Bedingungs-, sondern ein freies55 Verhältnis. In Auseinandersetzung mit Rousseau nimmt hier die Perfektibilität die Rolle der Vernunft ein; sie ist das Moment der umfassenden Verbesserung, die nicht durch den Intellekt gestört, sondern notwendig auch von ihm getragen werden muss.56 Wie in den Briefen über die Empfindungen (JubA I, 110) formuliert er seine Theorie des Mitleids auch im Sendschreiben: Mitleid resultiert aus Liebe, diese ist ein Vergnügen, Vergnügen stützt sich auf Vollkommenheiten. Auch diese sinnlich erfahrbaren Vollkommenheiten führten letztlich auf die umfassende Verbesserung des ganzen Menschen.57 Gemeint ist aber damit nicht seine moralisierende Aufwertung des Verstands, sondern die Begründung der positiven Wirkung des Mitleids durch den Rückgriff auf eine Theorie des Eigen55

Auch Goetschel 2004, 102 betont diesbezüglich die Eingebundenheit des Mitleids in einen Funktionszusammenhang der Affekte. Da er diesen aber aus Spinozas Affektenlehre der Ethica (1677) ableitet, sehe ich nicht, wie der Aspekt der Freiheit bei ihm aufrecht erhalten werden kann. Hinzu kommt, dass eine spinozistische »Veraffektierung« der Vernunft in Bezug auf Mendelssohns Theorie m. E. nicht haltbar ist, da er, mit Leibniz, Affekte und Vernunft gerade von der anderen Seite her, aus Sicht der Vernunft, betrachtet (deshalb auch das Argument vorgebracht in JubA XI, 102 (Brief an Lessing) gerade die Ansicht stützt, dass die Affekte die Vernunft als das Fundament, dass nicht mit ihnen gleichzusetzen ist, benötigen; sie mögen frei spielen, doch müssen als letzten Grund der Ratio folgen, nicht umgekehrt. Dies hat Mendelssohn auch gegen Sulzer hochgehalten; siehe Kap. II.2). 56 »Mendelssohn is less directly governed by moralistic principles than Lessing, but his outlook is essentially metaphysical, and ethical considerations are strongly implied.« (Nolte 1931, 315, Hervorhebung A.P.) Noltes Erklärung der Leibnizschen Vorstellungstheorie und ihrer ästhetischen Implikationen ist allerdings irreführend. Gegen Baumgarten folgert er: Einfache Vorstellungen sind die unterste Form der Vervollkommnung; »the more abstract you become, the closer you get to reality.« (Nolte 1931, 316) Dies hätte weder Leibniz, und noch weniger Baumgarten unterschrieben, der vielmehr die Klarheit der Gedanken als durch einen Abstraktionsverlust erkauft ansah: »Quid enim est abstractio, si iactura non est?« »Was ist Abstraktion, denn ein Verlust?« (Aesthetica § 560) Nolte folgert darüber hinaus, dass Mendelssohns Ziel in den Briefen über die Empfindungen gewesen sei, die einfachen Empfindungen zu überwinden. Das Gegenteil scheint der Fall: Seine Theorie der Empfindungen lässt sich vielmehr als der Versuch lesen, ihre Quellen nachzuvollziehen und jeder von ihnen ihr Recht zukommen zu lassen. 57 Ähnlich in einer Mendelssohn zugeschriebenen Rezension von Fergusons Grundsätzen der Moralphilosophie, in AdB 17.2, 1772 (JubA V/2, 156–73, hier 166): Die drei nach Ferguson obersten Prinzipien der Selbsterhaltung, gesellschaftlichen Neigung und Neigung zur Vollkommenheit ließen sich allein auf die letztere zurückführen.

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werts menschlichen Empfindens überhaupt. Damit geht Mendelssohns Auffassung deutlich über die Verstandeslastigkeit hinaus, die ihm oft attestiert wird. »Sinnliche Vollkommenheiten« meinen gerade dunkle bzw. verworrene Vorstellungen von Vollkommenheiten, die zur Erhöhung der Wirksamkeit gar nicht aufgeklärt werden müssen, sondern ihren Eigenwert behalten. Dass die Seele sich über die ›tatsächliche‹ Qualität dieser Vollkommenheiten täuschen kann, steht auf einem anderen Blatt – diese Möglichkeit ist Mendelssohn mit Wolff durchaus bewusst, ohne dass er dieses Defizit nutzte, um eine umfassende Aufklärung alles Dunklen zu fordern. Vielmehr will er, sozusagen in idealer Anhängerschaft an Spinoza58 – den er hier nicht nennt – und Baumgarten59 den Eigenwert sinnlicher Empfindungen aufweisen, die sehr wohl mit der Vernunft, nicht aber gegen sie bestehen können. Aus diesem Grund hält er die Bewunderung als eine Bedingung der Einfühlung überhaupt hoch; höher vielleicht, als er es in einer ausgeglichenen Gesamtschau der von ihn vertretenen Positionen tun müsste.60 Doch ist dies nicht unbedingt ein Ausdruck des Abweises jeglicher Mitleidstheorie, im Gegenteil. Vielmehr soll der bewunderte Mensch die Vorbedingung zum Mitleiden sein. »[E]s geht darum, die menschliche Seele von dem Verdacht einer ursprünglichen, wenn auch mehr oder weniger entwickelten[61] oder latenten Anlage zur Schadenfreude freizusprechen. Oder abstrakter und Mendelssohn näher formuliert: es geht darum, die Meinung zurückzuweisen, die Seele könne am Anblick irgendwelcher Unvollkommenheiten als solcher Vergnügen finden.« (Schillemeit 1984, 87; ähnlicher Auffassung ist auch Zelle 1987, 319) Die Bewunderung vorausgesetzt, ist dieser Versuch allerdings ernsten Schwierigkeiten ausgesetzt. Wenn

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Goetschel 2004, 103 weist hier auf den Einfluss von Spinozas Affektentheorie der Ethica (1677) hin. Allerdings ist es fraglich, ob Mendelssohn der Ansicht, dass die bloße Gewalt der Affekte zugleich eine Verstärkung der Ratio als »strongest and most permanent affect« (Goetschel) bedeute, zustimmen würde. Der Ausgleich dieser beiden Pole menschlicher Psyche scheint ihmzufolge weitaus komplizierter. 59 Den er zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht eingehend studiert hatte, wie die signifikanten Änderungen in den Hauptgrundsätzen zeigen; siehe Kap. II.3. 60 In seiner Interpretation, die Mendelssohn einen Bruch mit seinen das Mitleid positiv wertenden Ansätzen in den Briefen über die Empfindungen attestiert, übersieht Schings, (1980, 34 f.), dass Mendelssohn in den Folgejahren nicht von seiner Hochschätzung des Mitleids abrückt. Dies hätte er zweifellos getan, wenn es tatsächlich zwischen den Briefen und dem Trauerspielbriefwechsel einen fundamentalen Bruch gegeben hätte – denn dass sich die Kontrahenten nicht gegenseitig überzeugen konnten, zeigt der Verlauf bzw. Abbruch der Diskussion (vgl. Nolte 1931, 309) an. Vielmehr scheint Mendelssohn im Briefwechsel um der schärferen Kontrastierung willen vorerst allein die Bewunderung hochgehalten zu haben. Zu einer angemessenen Interpretation des Status des Mitleidsgedankens auch in Mendelssohns späteren Schriften kann deshalb nicht gänzlich auf einschlägige Überlegungen vor der Trauerspieldebatte verzichtet werden. 61 Vgl. damit die unterschiedlichen Stadien der Mitleidsfähigkeit je nach Erziehung und Gewohnheit, wie sie Mendelssohn im Beschluss der Briefe über die Empfindungen erwähnt (JubA I, 108 ff.).

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der bewunderte Mensch ins Unglück gerät, so scheint die Emotion, mit der der Zuschauer diesen Fall begleitet, nichts anderes als Schadenfreude, vielleicht sogar Sensationslust zu sein. Mendelssohn möchte die Bewunderung jedoch dazu einsetzen, dass sie solche negativen Gefühle gerade verunmöglicht, weil der Bewunderte als ein Maß des Guten unsere Anerkennung erworben hat. Folglich könne sein Fall uns nur deshalb interessieren, weil wir ihn um seiner selbst willen wieder glücklich zu sehen wünschen. Der dem Mitleid zugrunde liegende Trieb soll also in der Empathie und der Akzeptanz des Anderen wurzeln, nicht in der heimlichen Freude, dass dieser bewunderte Charakter doch nicht so bewundernswert (und damit beneidenswert) ist, wie wir anfangs annahmen – und so sein Fall doch eher unserer Selbstliebe schmeichelte, die dann den Grund für das Vergnügen am Mitleid bildete. Im Jerusalem formuliert Mendelssohn diesen grundsätzlich empathischen Standpunkt schließlich so: »Der Mensch kann ohne Wohlthun nicht glücklich sein, nicht ohne leidendes, aber eben so wenig ohne thätiges Wohlthun. Er kann nicht anders, als durch gegenseitigen Beistand, durch Wechsel von Dienst und Gegendienst, durch thätige und leidende Verbindung mit seinem Nebenmenschen, vollkommener werden.« (JubA VIII, 116)62 Die Verbindung zu den Nebenmenschen soll ihn nicht allein auf sich selbst, sondern auf das Menschliche in ihm zurückführen. Indem er das »Wohlthun« mit einer Forderung nach einer entsprechenden inneren »Gesinnung« verbindet, deutet es in seiner Struktur bereits über das Selbstinteresse des Einzelnen hinaus auf eine affektive Einbeziehung des Anderen. Mit der Berücksichtigung der beiden Gefühlsqualitäten will er den nexus von Affekt und Vervollkommnung festigen. »Das Mitleiden rührt unser Herz, die Bewunderung erhebt unsere Seele.« (JubA XI, 129) formuliert er es unter der Rubrik »Streitigkeiten« in einem Zwischenresümee vom 14. Mai 1757. Beides, daran hält er mit Nicolai fest, sind Ausdruck der »sittlichen Empfindlichkeit« (ebd., Nachsatz von Nicolai, 131). Gegen Lessing behauptet Mendelssohn also die Irreduzibilität von Bewunderung auf Mitleid und argumentiert vielmehr für deren gemeinsame Wurzel in der Vollkommenheit, wobei beide Gefühle jeweils eigenständige Ausprägungen von dieser darstellen. Lessing geht auf diesen Standpunkt ein und hält nun seinerseits fest, dass diejenige Person, die das Mitleid am meisten errege, zugleich auch diejenige sein müsse, die unser Mitleid am meisten verdiene. Welche könnte dies sein, wenn nicht diejenige, die wir (auch) bewundern, die also eine sinnlich wahrnehmbare Vollkommenheit repräsentiert? Deutlich wird hier das Bemühen, beide Empfindungen zu »koordinieren« (Nolte 1931, 322 und 324 ff.) – ein Vorhaben, das in der Trauerspieldebatte nicht mehr zur Ausführung kommt. Dessen Ende ist mehr ein bloßes 62

Auf eben diese Argumentation greift er auch in den Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz 1782 zurück, siehe Anmerkung o (JubA VI/1, 38 f.); vgl. Kap. I.2.

II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept

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Anhalten, als dass es auf eine Lösung geführt hätte. Das Zusammenspiel dieser Leidenschaften ist aber in Hinblick auf die Bewertung von Rousseaus Auffassung des Mitleids bei Mendelssohn klar: wie die Bewunderung als ein positives Gefühl für den Anderen dem Selbstinteresse vorausgeht, so wird auch das Mitleid nicht als eine sublimierte Form des Selbst-Mitleids verstanden. Deutlich formuliert Mendelssohn dies in einer Kritik an Lessings Aristoteles-Interpretation in einer Fußnote der Rhapsodie, die er erst 1771 einfügt: Wenn auch Aristoteles, nach Lessings Interpretation, mit Furcht (anstatt Schrecken) »dasjenige, was wir für uns selbst […] empfinden« (JubA I, 396) meint63, so sei damit zwar die Aristoteles-Interpretation in sich stimmig, erreicht aber keine angemessene Reformulierung tragischer Wirkung. Mendelssohn will das erschreckte Mitleid – an der Parallelisierung von Schrecken/Furcht und Mitleid hält er durchgehend fest – als altruistisch verstanden wissen. Es geht dabei lediglich um eine Modifikation in Nuancen, die die Interpretation des Mitleids und Charakterisierung der es auslösenden Faktoren durchgängig bestimmen soll: Mitleiden bedeutet nicht, einen Zustand auf die eigene Person zurückzuführen, sondern eine affektiv gesteuerte Besinnung auf das allen menschlichen Wesen Gemeinsame, das der Einzelne nur in sich fühlen, aber auf andere übertragen kann. In Mendelssohns Formulierung: Mitleid wird nicht gestärkt durch die Rücksicht auf uns selbst, sondern durch das »lebhaftere Selbstgefühl eines ähnlichen Uebels« (Rhapsodie, JubA I, 396). Er erklärt den Effekt damit psychologisch: Mitleid ist als Gefühl in die Vergangenheit gerichtet: es ist die dunkle Erinnerung an ähnliche eigene Empfindungen, was das Sympathisieren mit dem Leidenden psychologisch betrachtet erleichtert.64 In einem Brief an Lessing verdeutlicht er seine Vorbehalte: »Dieses aber möchte ich von Ihnen wissen, ob Sie diese Furcht des Aristoteles für wahr, für Natur und Erfahrung gemäß halten? Nichts würde, meines Erachtens, das Spiel der Illusion [hier gemeint: die Wirksamkeit des Theaters; A.P.] so sehr verderben, als diese Rücksicht auf unsre eigne theure Person.« (JubA XII/1, 162) Das ›Erinnern‹ an eigene ähnliche Empfindungen ist ein emotionaler, nicht vernunftgesteuerter Prozess. Wir »vergessen, wer, was und wo wir sind, was für Angelegenheiten wir haben, und was für Begegnisse uns angenehm oder unangenehm seyn dürften« (ebd.). Diese »dunkle Erinnerung« (ebd.) verstärkt das Netz aus Assoziationen, das der Zuschauer mit dem Geschehen auf der Schaubühne verbindet, was er aber nicht selbst verständig durchschauen kann. Die Geschehnisse müssen in irgendeiner Form in die eigene Erlebniswelt transformierbar sein. Die Kunst der Tragödie soll eine anschauende Erkenntnis 63

In Lessings Worten, »[…] es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt« (Lessing, Werke 6, 556). 64 »Schrecken« ist in diesem Sinne nach wie vor dieselbe Empfindung, die »schnell überrascht«. Die in diesem Zusammenhang bedeutsame Rolle der Illusion, die jedoch mehr den technischen Aspekt der künstlerischen Verwirklichung dieser Forderung bedeutet, wird in II.3 eingehender diskutiert.

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

von ihnen bieten.65 Es ist allerdings zu beachten, dass diese Transformation nicht in eine inhaltliche wie formale Gleichheit von Bühne und Realität münden muss. In der Rhapsodie betont Mendelssohn, dass wir Mitleid und Furcht für die Figuren in Situationen empfinden, in die wir selbst niemals gekommen sind und kommen werden. Auch dies spricht gegen eine Identifizierung im Sinne einer innerlichen Gleichsetzung mit den bemitleideten Personen, sondern qualifiziert die theatralische Täuschung lediglich als eine psychologische Vorbedingung zum »Selbstgefühl« des fremden Unglücks. Mitleid ist also eine Bedingung menschlicher Vervollkommnung; nicht indem sie auf das Individuum und seine Interessen verweist, sondern indem es über das Gefühl einer gemeinsamen Natur – und damit letztlich einem Gefühl für die Vollkommenheit – seine Wirksamkeit entfaltet. Damit versucht Mendelssohn, Rousseaus Auffassung des Mitleids einen grundlegend geselligen Zug zu verleihen, der auch der Vervollkommnungslehre gegenüber offen ist. Eine verbesserte Vernunft kann solcherart die Mitleidsempfindung gar nicht stören, sondern sie nur bereichern. Die psychologischen Voraussetzungen seiner Position sind dabei in den auf Rousseau bezogenen Schriften noch nicht deutlich genug gefasst; sie sollen im folgenden Teilkapitel erläutert werden. Mendelssohns Beharren auf der wichtigen Rolle eines Gefühls für die Vollkommenheit, sei es nun in der eigenen Seele oder im fremden Glück, betont jedoch deutlich seine Opposition. Seine Ansicht einer philosophischen Humanität ist an die leibnizianische Metaphysik und ihren Vollkommenheitsbegriff gebunden. Das Bestreben zur Vervollkommnung, das Wolff als ein Natur- bzw. Vernunftgesetz bezeichnet (vgl. Deutsche Ethik, §17, 20 und 23)66, bezieht seine normative Kraft aus der Voraussetzung, Vernunft sei per se auf Vervollkommnung ausgelegt und nur durch ihre Ausübung tatsächlich eine »Realität«. Dies erfordert auch, dass menschliche Vernunft mit göttlicher Vollkommenheit tatsächlich kompatibel ist; eine Frage, die Mendelssohn schon in der Bestimmungsdebatte nicht befriedigend hatte beantworten, son65

Nebenbei weist Mendelssohn in dieser Hinsicht auch auf eine angemessene Anwendung der »Zeichen« in der Kunst hin; »Der Zuschauer kann die innern Regungen des Herzens nicht sehen, sondern er muß sie aus äusserlichen Zeichen schließen. Je fester die Zeichen mit den Regungen durch die Association der Begriffe verknüpft sind, desto lebhafter, feuriger und anschauender wird die sympathische Regung, die den Zeichen entspricht. Niemals aber können die Zeichen eine so lebhafte Wirkung thun, als wenn wir die bezeichnete Sache selbst gefühlt […] haben«. (JubA XII/1, 162 f.). Die Anwendung der Zeichen im Sinne in der – nach Mendelssohn: Leidenschaften erwekkenden – Kunst richtet sich hinsichtlich ihres Gelingens auch nach dem Betrachter; dessen Erfahrung ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Kunstprozesses, der in diesem jedoch aus einer bloß egoistischen auf eine allgemein-menschliche, aber anschaulich verständliche Ebene gehoben wird. 66 Goetschel 2004, 96 verweist hier wiederum auf Spinoza als Quelle; es liegt jedoch nahe, auch die rationalistische Schule zu beachten, noch dazu, da Wolff ausdrücklich die Vervollkommnung der Mitmenschen in sein »Naturgesetz« aufnimmt.

II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept

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dern nur voraussetzen können. Auch Wolff kann dies nicht, sondern beschränkt die Neigung zur Vollkommenheit auf ein Vernunftkonstrukt, das sich zirkulär aus der Vollkommenheit, nicht aber aus der menschlichen Natur herleitet. Mendelssohn hat versucht, eine ›menschliche‹ Philosophie zu entwickeln, die das subjektive Empfinden des Einzelnen und seine Affekte ebenso berücksichtigt wie eine rein affektive, aber nicht selbstbezogene Übertragungsleistung der eigenen Erfahrung auf Andere. Freiheit, Vervollkommnung, Mitleid und Vergnügen sollen so in der Vorstellung von einem in sich ruhenden und zugleich empathisch seiner Umgebung zugewandten Menschen zusammengenommen werden; die Tragödientheorie bringt hierbei eine Facette dieser Auffassung zur Geltung. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Mendelssohn zufolge ist Rousseaus Bestimmung des Menschen durch zwei Grundvermögen unzureichend, noch dazu, da dieser die genannten Vermögen nur in ihrer unentwickelten Form als Vollkommenheiten auffasst. Für ihn, Mendelssohn, liegt demgegenüber die Vollkommenheit der menschlichen Natur gerade in der Anlage, sich selbst und andere zu vervollkommnen; also in ihrem Streben, in freier Überlegung über ihren »Urzustand« hinauszugelangen. Die ratio ist zugleich in der Perfektibilität und in der menschlichen Freiheit ansiedelt. Vernunft firmiert damit sowohl als Instanz der Erkenntnis wie auch als Garant freier Handlungen. Sie ist im Zusammenspiel mit dem Gefühl, das auch die Selbstliebe und das Mitleid – als einer Liebe und Akzeptanz des Anderen als notwendiger Teilhaber an der gesamten Vollkommenheit – umfasst, ebenso präsent wie in der metaphysischen Erkenntnis und drängt immer, affektiv bestimmt oder kalkulierend, über den aktuellen Zustand hinaus. Dieser Ansatz, der Affekte und Ratio in ein umfassendes Gesamtkonzept zu integrieren versucht, erfordert die Einbeziehung sinnlicher Forderungen, Leidenschaften und emotionaler Aspekte in die menschliche Vernunft, die über die Theorien Wolffs hinausgeht. Dadurch gewinnt zugleich die dynamistische Ausformulierung der Vollkommenheit als Vervollkommnung breiteren Raum.

II. Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen« Die Briefe über die Empfindungen und die Rhapsodie »umfassen den Menschen in seinem weiten Inbegriff vermischter Natur, und gäben, noch genauer nach Quantität bestimmt, eine sehr Philosophische Theorie der vermischten Empfindungen. In ihnen aber ein System der Ästhetik suchen wollen, ist so, als wenn Swifts Mondabenteurer unter den seligen Seleniten nach Golde fragte…« Herder, Viertes Kritisches Wäldchen (1769/1846), Werke 2, 392 f.

In Absetzung zu Rousseau hatte Mendelssohn das Theorem der Perfektibilität als ein zugleich emotionales wie vernunftgeleitetes, Freiheit ermöglichendes und kulturschaffendes Vermögen zu verteidigen versucht. Als eine wichtige Grundlage zu einer vollständigen Theorie menschlicher Selbstvervollkommnung, die neben einer sozialen Verbesserung der Menschen als Mitglieder einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft steht (dazu Kap. IV), ist das weite Feld der menschlichen Emotionalität und ihres Zusammenhangs mit rationalen Überlegungen, Entscheidungen und Handlungen, wie es im Trauerspielbriefwechsel nur unzureichend anklang, von Bedeutung. Es soll, diesen Aspekt vorbereitend, im Folgenden um Mendelssohns psychologische Theorie des Vergnügens, die dieser schon von Beginn seiner philosophischen Überlegungen an verfolgt und mit ästhetischen Implikationen zu verbinden versucht hat, gehen. Seine Überlegungen erweisen sich hierbei als der Versuch einer Brücke zwischen den beiden Polen rationalistischer und empiristischer67 Theoreme. Aus67

Im gegebenen Rahmen sollen beide Begriffe zunächst unspezifisch verwendet werden: es geht Mendelssohn um die Verbindung zwischen Vernunft und Erfahrung, oder, anders formuliert, die Verbindung von Prämissen einer Leibnizianischen Metaphysik mit empirischen Beobachtungen. Dabei wird der Empirismus jedoch vornehmlich als Ideengeber benutzt, die Mendelssohn in ein rationales System einzupassen versucht. Demgegenüber ist kaum erweisbar, dass er den Grundgedanken des englischen Empirismus v. a. im Aufbau seiner Psychologie und Ästhetik mit der Präferenz der induktiven Analyse gefolgt sei, wie Cassirer 1929, 41 und Zammito 2002, 39 es darstellen (vgl. zur Methode hier Kap. III.1, 261 passim). Dennoch wäre eine Diskussion von Mendelssohns Auseinandersetzung mit den Repräsentanten des Empirismus, wie des Scottish Enlightenment (als ihre Vertreter bspw. Hutcheson, Reid, Smith und Hume) ein lohnenswertes, weiterführendes Untersuchungsgebiet. Siehe dazu auch Kuehn 1987; auf die dortigen Ergebnisse aufbauend ließe sich eine Untersuchung der ästhetischen Theorie Mendelssohns und ihrer Anleihen bei den schottischen Philosophen angliedern. Siehe ebenfalls Heidsiek 1983. Dessen These, dass Lessings Mitleidsbegriff vornehmlich durch Hutcheson (vgl. S. 124–127), wie auch durch Adam Smith (S. 127 ff.) beeinflusst ist, wäre im gegebenen Rahmen hinsichtlich der Frage interessant, ob auch Mendelssohn sich an Smith (dessen Mitleidsbegriff, basierend auf der »Sympathy« als »common bond between people in society« (ebd.), dem seinen ähnlich ist) orientierte. Heidsiek macht darüber keine Angaben; Mendelssohn selbst leider auch nicht. Insgesamt scheint mit sein Begriff der Sympatie zu unspezifisch, um ihn eindeutig einer bestimmten Quelle zuordnen zu können.

II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«

155

gangspunkt ist wiederum eine Verortung des Vergnügens und der Sinnlichkeit allgemein im Vollkommenheitsparadigma. Gerade dessen dynamische Ausformung als Vervollkommnung greift an vielen Stellen auf empirische Beobachtungen zurück, die einem rein spekulativen, statischen Vollkommenheitsbegriff entgegenstehen und integriert sie in ein umfassendes Konzept, wobei Mendelssohn sich vor allem auf Leibniz stützt und auch, durchaus kritisch, auf Spinoza zurückgreift. Mendelssohns Geist und Körper umfassende Theorie des Vergnügens wird dabei von wichtigen Erkenntnissen der auch in die Überlegungen anderer Anthropologen einfließenden Theorien über Nerventätigkeit und Physiologie gespeist. Doch ist immer das Bestreben zu bemerken, am Primat des Geistes festzuhalten. Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, warum er sich nicht an die gängigen, eher physiologisch orientierten Überlegungen zur Möglichkeit der gegenseitigen Einflussnahme von Geist und Materie anschließt, sondern sich vielmehr, hierin Platner ähnlich, auf die Folgen der Miteinbeziehung körperlicher Bedürfnisse in die Vervollkommnungslehre konzentriert.68 Die Ausformulierung der Theorie der vermischten Empfindungen zwischen den 1750er und 1770er Jahren ruht dabei, so meine These, auch auf der Ausformulierung seines Menschenbildes auf. Die Explizierung der entscheidenden Erweiterungen in dieser Hinsicht finden sich auffälliger Weise erst 1771, wobei hier gezeigt werden soll, dass auch die 1760er Jahre bereits Anklänge an diese Ausformulierung bieten, die auf Mendelssohns differenzierte Sicht auf den Menschen hindeuten. Man ist geneigt, einen Großteil von Mendelssohns Veröffentlichung zwischen 1755 und 1771 als ›ästhetische Schriften‹ zu bezeichnen.69 Doch damit wird ein wichtiger Sachverhalt vereinfacht, da die Etikettierung dazu verführt, ihre inhärente Themenvielfalt zu übergehen. Generell ist dies für die ›Ästhetik‹ dieser Zeit charakteristisch. Sie entstand aus dem Ungenügen an der empirischen Psychologie und damit »an der Peripherie der Erkenntnislehre« (Adler 1992, 1), um das Bild vom ›ganzen Menschen‹ zu erweitern und zugleich zu festigen.70 Als ein Teil der Psychologie, Erkenntnislehre oder der Metaphysik zielte sie damit nicht zuerst auf eine Philosophie der Kunst ab, sondern sollte die theoretische Erfassung des gesamten menschlichen Vorstellungsvermögens leisten; sie war damit als eine ›Ergänzungswissenschaft‹ zur Logik konzipiert, sollte aber nicht diese nur begleiten, sondern ihr gleichberech68

Dürbeck 1998, 54 spricht in diesem Sinne von einem an Shaftesbury und Joseph Addison angelehnten »dialogischen« Verhältnis der oberen und unteren Erkenntnisvermögen. 69 So auch die Edition Pollok 2006, die der Übersichtlichkeit halber eine Reihe von Schriften unter diesem Titel versammelt. 70 Dazu auch Wellbery 1984, 46 f. und 52 f. Das Paradigma des ästhetischen Repräsentationalism erfasst demgemäß den Menschen zum einen als ein rational wie sinnlich bestimmtes Subjekt und weist zugleich auf seine Partizipation in der Klasse der Humanität hin. Standard der ästhetischen Beurteilung ist damit der Mensch, in seiner partikularen wie universellen Bestimmtheit.

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

tigt zur Seite gestellt werden. Laut Baumgartens Programm der Aesthetica (1750/58) sollte dies eine Philosophie der dunklen oder sinnlichen Erkenntnis sein, wobei die Rolle der dunklen Empfindungen sich von derjenigen der sinnlichen (klaren und verworrenen) Erkenntnis unterschied. Chronologisch betrachtet, bilden erstere den Subtext der ästhetischen und psychologischen Überlegungen bei kritisch an Wolff anschließenden Philosophen wie Sulzer und Mendelssohn, während die ›Karriere‹ der sinnlichen, also klaren und verworrenen Vorstellungen bereits mit der breiten Aufnahme von Leibniz’ diesbezüglichen Explizierungen beginnt. Um den Menschen erkenntnistheoretisch wie psychologisch zu erfassen und damit seiner Besonderheiten gerecht zu werden (ob dies nun als Vorstufe zur vollständigen Welterkenntnis oder als Selbstzweck gedacht wurde), war man – und das wurde im Verlauf der Herausbildung der Ästhetik als einer Wissenschaft immer deutlicher – in weiten Teilen auf die dunklen Regionen der Seele als ein Deutungsmoment angewiesen. Eine sich nur den klaren und deutlichen Vorstellungen zuwendende Philosophie konnte keine ausreichende Erklärung dieser Bereiche bieten. Eine Verabsolutierung des ›Dunklen‹ erschien freilich ebenfalls kontraproduktiv, sondern gerade eine Einordnung und theoretische Durchdringung der unteren Stufen bzw. Grade menschlicher Erkenntnis und damit auch des menschlichen Weltbezugs sollte eine Wissenschaft der unteren Vermögen, eine Gnoseologia inferior leisten, die sich erst im Laufe der Zeit, im Verbund mit Rhetorik und Poetik, zu einer Disziplin der Kunstphilosophie wandelte (vgl. Adler 1990, IX). In der Bewertung der Sinnlichkeit liegt auch die Art und Weise ihrer entsprechenden Ausdeutung für psychologische, erkenntnistheoretische wie auch genuin kunstphilosophische Theorien: »Die Leistung der Sinne hat in ihrer Anerkennungsgeschichte den Weg vom Störfaktor über den des Problems bis hin zu einem der konstitutiven Elemente des Humanitätskonzepts durchlaufen.«71 Mendelssohn steht am Anfang dieser Entwicklung, doch die Idee der Sinnlichkeit als ein konstitutives Moment menschlicher Bestimmung ist ihm, mit Spinoza, durchaus bewusst.72 Seine Überlegungen zur Theorie des Vergnügens und den Mechanismen menschlicher Welterfassung laufen so nicht zwangsläufig und allein auf eine tatsächlich eigenständige Kunstphilosophie hinaus, wie dies Herder im

71

Adler 1992, 1 (Hervorhebung A.P.). Adlers grundsätzlicher Ansatz, Herders Philosophie unter einem meiner Fragestellung ähnlichen Blickwinkel zu betrachten erscheint mir sehr stringent. Auch bei Herder sind – allerdings unter anderen Gewichtungen – Gnoseologie, Ästhetik und Geschichtsphilosophie in einer eng miteinander verzahnten Betrachtung des Menschen und seiner spezifischen Welterfassung verbunden; vgl. Kap. V.2. 72 Auch Wolff geht mit der Betonung der sinnlichen Erkenntnis als Initiierungsmoment von Erkenntnis überhaupt in diese Richtung, was für die Beeinflussung Wolffs durch den Empirismus Lockescher Provenienz spricht. »[…] die Leistung Wolffs besteht in dieser Hinsicht darin, den Ort der Sinne durch systematische Betrachung zum Gegenstand differenzierter philosophischer Behandlung gemacht zu haben.« (Adler 1992, 20)

II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«

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als Titelmotto gewählten Zitat feststellt. Im Gegenteil, erscheinen doch gerade seine kunsttheoretischen Überlegungen als eher traditionell und sind, für sich betrachtet, nicht immer überzeugend. Ich schließe mich auch aus diesem Grund der von Wellbery und Goetschel vertretenen Skepsis an, ob Mendelssohn in seiner »Kunsttheorie« tatsächlich eine reine Ästhetik begründen wollte und ob dieses Theorem darüber hinaus durch den ›modernen‹ Zug der Ersetzung ›objektiver‹ durch ›subjektiver‹ Kategorien gekennzeichnet sei.73 Weitaus relevanter sind seine diesbezüglichen Arbeiten für die Klärung der Frage, wie sich die menschliche Sinnlichkeit und das menschliche Vergnügen zur menschlichen Bestimmung, der Vervollkommnung verhalten; objektive wie subjektive Aspekte spielen in diesem Unternehmen nahezu zwangsläufig zusammen, um ein umfassendes Bild des Menschen und seines sinnlichen Weltverständnisses zu zeichnen. Relevant ist für einen Nachvollzug dieser Entwicklung in Mendelssohns Oeuvre zum ersten seine Theorie des Vergnügens und ihre psychologischen wie moralischen Implikationen, die hier im ersten Abschnitt behandelt werden sollen. Zum zweiten führt Mendelssohn diesen Themenkomplex eng mit der Frage nach einer angemessenen Reformulierung menschlichen Vergnügens auch an moralisch unzureichenden Gegenständen, was die Entwicklung der Theorie der vermischten Empfindungen initiiert (Abschnitt zwei). Mit einem Schwerpunkt auf der Ästhetik als Kunstphilosophie ist sodann zum einen die Frage nach der Spezifität der ästhetischen Wahrnehmung (Illusionstheorie) und einer Theorie des Künstlers als einem »second maker under jove« (Genie, Erhabenes) von Bedeutung. Diesen Aspekten, als der tatsächlichen Kunstphilosophie Mendelssohns, im Kontext seiner Anthropologie gelesen, wende ich mich im Teilkapitel II.3 zu.

1. Mendelssohns Theorie des Vergnügens Vorläufer und Quellen Mendelssohns Theorie des Vergnügens, die meiner Ansicht nach eng mit seiner Konzeption menschlicher Bestimmung (in beiden Bedeutungen) zusammenhängt, ist nicht eine bloß psychologische Überlegung, sondern verbindet ethische, psychologische und metaphysische Aspekte. Damit steht Mendelssohn durchaus nicht allein. Der wichtigste Vorläufer dieser Verbindung ist ohne Zweifel Leibniz, der das Modell der unterschiedlichen Vorstellungsgrade und ihres Zusammenhangs mit der

73

Vgl. Wellbery 1984, 49, Goetschel 2004, 112 ff.

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

Erkenntnis in den Meditationes de cognitione, veritate et ideis (1684) entwickelt74, welches in der Folgezeit, mit jeweils spezifischen Abwandlungen, von Wolff 75 sowie Baumgarten tradiert worden ist. Desweiteren ist Spinozas Affektenlehre der Ethica (1677) von einigem (subkutanen) Einfluss.76 Es ist anzumerken, dass Leibniz die in den Meditationes vorgenommene Differenzierung der Erkenntnismodi durchaus nicht schlicht von Descartes übernahm, sondern sich von dessen diskontinuierlichen Modell kategorialer Unterschiede zwischen den einzelnen Stufen abwandte und für eine Abstufung, also ein kontinuierliches Modell argumentierte. Damit wertete er die Rolle der dunklen, sowie der klaren und verworrenen Vorstellungen auf. Wolff wird zumindest diese Aufwertung der dunklen Vorstellungen etwas zurücknehmen: sie sind ihm zufolge ein Defekt. »Ex adverso obscuritas atque defectus perceptionum est id, quod Tenebrarum nomine in anima venit.« (Psychologia Empirica, § 36, vgl. Deutsche Logik, 1. Cap., § 12) Mendelssohn folgt wiederum Baumgarten und Sulzer in der erneuten Zuwendung zu diesem Themenkomplex und verbindet ihn auf innovative Weise mit (auch) spinozistischen Überlegungen. Baumgarten hatte dafür mit seinem Werk (seinen Meditationes (1735), dem Abschnitt »empirische Psychologie« der Metaphysica (1739)

74

Vgl. desweiteren Discours de métaphysique, 24; Monadologie, §§ 13–28; Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison, §§ 4 f.) Zur wichtigen Rolle der Meditationes siehe auch Adler 1992, 3 m.w.Vw. Dass Mendelssohn Leibniz’ Konzeption der dunklen Vorstellungen spätestens 1759 zur Kenntnis genommen hatte, legt der 34. LB: 19. April 1759 nahe: »Vielleicht hat der Tadler Leibnitzens [gemeint ist Glissonius] die dunkeln Vorstellungen, die dieser Weltweise den einfachen und wahren Substanzen beylegt, für das Leben der Materie genommen.« (JubA V/1, 44) 75 Vgl. bspw. Wolff: Deutsche Logik, § 9 ff. und Psychologia Empirica, § 31 ff. Laut dem Vorwort Arndts in der Deutschen Logik hat gerade die letztgenannte leibnizsche Schrift einen starken Eindruck in Wolffs Werk hinterlassen (vgl. ebd., 19). 76 Vgl. Goldenbaum 2002 und Goetschel 2004, 54–52 und 85–118. Goetschel hebt in seiner umfassenden Untersuchung zur Rezeption Spinozas bei Mendelssohn, Lessing und Heine darauf ab, dass gerade die Aspekte, die Mendelssohn scheinbar nicht von Leibniz und Wolff übernahm, sondern denen er eine eigene Wendung gab, spinozistisch gelesen werden können. Namentlich die Theorie der Affekte und ihrer internen Dynamik sowie deren Wirkung auf die Vernunft sei hier zu betonen, wobei Goetschel durchaus nicht beansprucht, dass diese Rezeption tatsächlich bewusst geschehen sein muss, sondern sich auch über die von beiden geteilte Perspektive – zum einen als Juden angesichts der christlich geprägten europäischen Geistesgeschichte, zum anderen in ihrem Interesse auf eine umfassende Philosophie des Menschen – erklärbar ist (vgl. ebd., 910 f.). Das größte Problem einer spinozistischen Lesart ist, m.E. ihr naturalistischer Einschlag (vgl. ebd., 46), der sich nur schwerlich mit Mendelssohns Position zur Deckung bringen lässt. Auch die von Goetschel konstatierte Statik im Leibnizianischen Modell (z. B. ebd., 95) sehe ich so nicht. Es steht zu vermuten, dass ein »geläuterter Spinozism«, wie ihn Mendelssohn für Lessing im Streit mit Jacobi postuliert, seiner eigenen Ansicht weitaus näher kommt und damit wiederum Spinoza seine Stacheln nimmt – und in eine durchaus Leibnizianische Lesart zurückführt.

II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«

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und nicht zuletzt seiner Aesthetica (1750/58)) für eine Verwissenschaftlichung des »fundus animae« (Metaphysica, §511) bzw. der gegenseitigen Durchdringung und Beeinflussung des »Reichs des Lichts« und dem der »Finsternis« (Metaphysica, § 522) den Grundstein gelegt. Sulzer forderte in der zweiten Auflage seines Kurzen Begriffs aller Wißenschaften (1759), § 206, das Instrumentarium der Psychologie durch die Berücksichtigung der dunklen Empfindungen wieder zu verfeinern. Beide gehen damit implizit hinter die Wolffsche Psychologie zurück, der die dunklen Bereiche der Seele Ausgangspunkt und Abgrenzungsmoment, nicht Gegenstand sind (vgl. Adler 1992, 16 f., 24 ff., 41). Schließlich hatte auch Spinoza in der Ethica den Parallelism von Körper und Geist zugunsten eines psychosomatischen, umfassenden Ansatzes der menschlichen Natur, betrachtbar aus zwei Perspektiven, aber in sich eins und auf Selbstverwirklichung durch angemessene Kraftäußerung angelegt, zurückgewiesen (vgl. ebd. Buch 3, Prop. 2). Leibniz’ Aufsatz erscheint angelegt als ein Klärungsversuch oder eine abschließende Bestimmung dessen, was »Vorstellungen«, »Ideen«, »Repräsentationen«, allesamt »denkbar weit gefasste gnoseologische Termini«77, überhaupt sind. Wichtig ist, dass er diese Begriffe als grundlegend metaphysisch und damit in Abgrenzung zu einer empiristischen oder sensualistischen Auffassung verwendet, indem er letztlich Vorstellungen nicht als ›Eindrücke‹ äußerer Einflüsse, sondern als Operationen oder Aktivitäten der Seele selbst formuliert. »Der Psychologie der ›Sensation‹ tritt jetzt eine reine Funktionspsychologie gegenüber.«78 Dies zeigt sich ebenfalls in den darauf folgenden Positionen. Nach Baumgartens Definition in Metaphysica § 506 ff. ist eine Vorstellung »der Inbegriff dessen […], was die Seele gemäß der Stellung des Körpers an weltbezogenen Bewusstseinsinhalten aufweist« (Paetzold 1983, IX ). Ähnlich bezeichnet sie auch Wolff: eine perceptio ist der »actus mentis, quo obiectum quod-

77

Paetzold 1983, IX; dort im Singular gebraucht; vgl. auch zur ebenfalls weitgefassten Verwendungsweise bei Wolff Dürbeck 1998, 37. Es sei hier betont, dass Kants Unterscheidung dieser Begriffe in einer »Stufenleiter« (zur Bestimmung der »Idee«) in der KrV (A 320/B 376 f.) mit dieser Rangfolge nicht übereinstimmt. In Kants Einteilung kommt sein Diskontinuitätsargument, dass er gegen Leibniz und Wolff vorbringt, zur Geltung, so dass bspw. die Aufklärung einer »Empfindung (sensatio)« niemals über deren Selbstbezug als Modifikation meines Zustands auf eine »Erkenntnis (cognitio)« als »objektive Perzeption« hinausgehen kann. Sich diesen kategorialen Unterschied zwischen Kants und Mendelssohns Philosophie gewärtig zu bleiben ist auch deswegen unerlässlich, weil er vor einer Uminterpretation lediglich äquivok verwendeter Begriffe schützt. 78 Cassirer 1932, 161. In der Vorstellungskraft sind diese Phänomene als ihre jeweils besondere Operation gekennzeichnet: »Wenn der Geist sich zum Spiegel der Wirklichkeit macht, so ist und bleibt er hierbei ein lebendiger Spiegel des Universums; ein Inbegriff nicht von bloßen Bildern, sondern ein Ganzes von bildenden Kräften. Diese Kräfte aufzuweisen, sie in ihrer spezifischen Struktur kenntlich zu machen und ihr Ineinandergreifen zu verstehen: das wird fortan die eigentliche Grundaufgabe der Psychologie und Erkenntnislehre.« (ebd., 166)

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cunque sibi repraesentat« (Psychologia Empirica, § 24). Sie ist damit das Resultat der Tätigkeit des Repräsentierens und grundlegend dynamischer Natur.79 Wolffs wie Baumgartens Begriffsgebrauch lässt sich unter Rückgriff auf den erwähnten Aufsatz von Leibniz besser konturieren. Dessen ›dynamische Bewusstseinstheorie‹ unterschied die Grade der Bewusstheit nach der Klarheit ihrer Inhalte, was sich auf ihre Gesamtheit sowie auf die sie konstituierenden Merkmale bezieht. In den Meditationes benennt Leibniz darüber hinaus auch die Aspekte der zeitlichen wie qualitativen Erfassungsmöglichkeit von Vorstellungen und stellt so ein nicht nur analytisches Vokabular, sondern auch ein auf die Gegebenheiten menschlicher Vorstellungsmöglichkeiten zentriertes Modell bereit. Bestimmendes Moment der erstgenannten Einteilung ist die Wiedererkennbarkeit einer Vorstellung (vgl. Baumgarten, Meditationes, § 13): wenn sie nur dunkel ist, lassen sich keine Einzelheiten ausmachen. Dementsprechend ist die Vorstellung kaum von anderen abgrenzbar, da sie dazu einige spezifische Merkmale als Unterscheidungskriterium aufweisen müsste. Eine klare Vorstellung hingegen ermöglicht es, eine vorgestellte Sache anhand der sie bestimmenden Merkmale zu identifizieren. Allerdings können Teilbereiche der Vorstellung noch verworren sein. Eine klare und verworrene Vorstellung ist also klar in Bezug auf das Ganze, verworren in ihren Teilen. Die höchste Stufe, die klare und deutliche Vorstellung bzw. Erkenntnis, ist gegeben, wenn die dem Gegenstand zugeschriebenen Merkmale sich in der Betrachtung vollständig zergliedern lassen.80 In diesem für den Menschen seltenen Fall, so betont es Leibniz81, werden die Vorstellung als Ganzes mit den konstituierenden Merkmalen vollständig begrifflich erfasst, sie kann erinnert, mitgeteilt und vollständig definiert werden. Desweiteren kann eine Vorstellung, insbesondere wenn sie in sich komplex ist, adäquat bzw. inadäquat sein. Eine klare und deutliche Erkenntnis ist dann inadäquat, wenn die Konstellation der sie konstituierenden Merkmale zueinander lediglich verworren erkannt und also die bestimmenden Merkmale lediglich aufgezählt 79

Die ›Übersetzung‹ von Vorstellung in Empfindung bzw. Erkenntnis wird in Abhängigkeit mit ihrer qualitativen Bestimmung nach dem hier angegebenen Schema erfolgen. 80 Siehe dazu auch Adler 1992, 3 ff.: In den Meditationes verdeutlicht Leibniz dieses Verhältnis über die Erkenntnis zusammengesetzter Gegenstände. Diese lassen sich bis auf die Ebene der Elemente (auch Merkmale oder »nota«) zergliedern. Die Möglichkeit dieser Zergliederung und des erinnernden Wieder-Zusammensetzens beschreiben dementsprechend den jeweiligen Erkenntnismodus. Es wäre allerdings anzumerken, dass die Dynamik sich bei Wolff als eine rein »aufwärts« ausgerichtete versteht – im Gegensatz zu Spinoza, Leibniz, Sulzer und Mendelssohn hielt Wolff wenig von einer Wechselbeziehung zwischen klaren und deutlichen, wie verworrenen oder gar dunklen Vorstellungen. 81 Leibniz, Meditationes, 13; siehe auch Wolff, Psychologia Empirica, § 315, Deutsche Metaphysik, § 285. Zu Leibniz vgl. Adler 1992, 5 ff. Bei Proß 1987, 874 findet sich eine übersichtliche Graphik zum Verhältnis der Vorstellungsarten.

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werden können (vgl. Meditationes, 10 f.). Eine durchgängige Bestimmung der Merkmale – nicht hinsichtlich ihrer Beschaffenheit, sondern ihrer Beziehung zueinander – ist dann nicht möglich. Über eine bloße Nominaldefinition (als Aufzählung von Merkmalen) hinaus lässt sich über die Realität eines inadäquat erkannten Gegenstandes keine gültige Aussage treffen. Der Idealfall einer adäquaten Erkenntnis ist dabei zumeist der göttlichen Perspektive vorbehalten. Je nach Grad der Inadäquatheit allerdings lässt sich auch von zureichender menschlicher Erkenntnis sprechen, wenn nämlich diejenigen Teile, die einen Schluss auf Widerspruchsfreiheit und interne Verträglichkeit der Merkmale zulassen, hinlänglich deutlich sind. Menschliche Vorstellungen sind damit zumeist hinreichend adäquat, dringen aber nicht bis ins letzte Detail in die Komplexität des Vorstellungsinhalts ein. Die vollständige klare und deutliche Erkenntnis ist für den Menschen nicht nur deshalb schwer erreichbar, weil sein Erkenntnisapparat eingeschränkt aufnahmefähig, sein Gedächtnis nicht göttlich-unendlich ist, sondern auch, da seine Erkenntnis generell perspektivisch gemäß seiner individuellen Stellung in der Welt organisiert ist – ein Aspekt, den auch Baumgarten in der Metaphysica (§ 512) betont. Es sind aber ›Umwege‹ denkbar, die eine Welterfassung auf indirektem Wege ermöglichen. In diesem Sinne differenziert Leibniz zwischen »symbolischen« und »intuitiven« Vorstellungen, wobei die erstgenannte die menschliche Gedächtnisleistung berücksichtigt. Intuitiv und adäquat ist das klare und deutliche Erfassen einer komplexen Vorstellung mit einem Mal (vgl. Leibniz, Meditationes, 11). Dadurch, dass dabei die Analyse entfällt, ist dieser Vorstellungsmodus außerordentlich leicht – aber nach menschlichen Maßstäben so gut wie unmöglich. Der Mensch muss sich entweder mit der cognitio primitiva, dem Äquivalent auf der niedrigeren Stufe der Erkenntnis des Einfachen, zufriedengeben, was Mendelssohn als ein »sinnliches Vergnügen« reformulieren wird, oder aber über den ›Umweg‹ der symbolischen Erkenntnis. In ihr werden Zeichen verwendet, »Worte, deren Sinn mir zum mindesten dunkel und ungenau gegenwärtig ist, für die Ideen selbst, da ich mich entsinne, daß ich ihre Bedeutung kenne, ihre Erklärung aber jetzt nicht für nötig halte.« (Leibniz, Meditationes, 11) Damit bleiben in der Vorstellung selbst zwar einige Aspekte unanalysiert, werden aber als potentiell auflösbar angenommen.82 Alle Merkmale und konstituierenden Beziehungen der Merkmale untereinander in einer komplexen Vorstellung gegenwärtig zu haben würde menschliche Erkenntnisfähigkeit überlasten; der Symbolgebrauch erleichtert dies, obgleich er eine wirklich intuitiv adäquate Erkenntnis damit auf die virtuelle Ebene verschiebt.

82

Vgl. Leibniz, Meditationes, 11. Adler (1992, 7) zufolge könne man deshalb »die symbolische Erkenntnis als pragmatische oder als anthropologisch bedingte Abbreviatur der adäquaten Erkenntnis auffassen.«

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

Den Eigenwert einer verworrenen Erkenntnis betonend, fügt Baumgarten dieser Theorie einen weiteren Aspekt hinzu, indem er zwischen extensiver und intensiver Klarheit differenziert.83 Ihm zufolge ist die Empfindungsqualität der verworrenen Vorstellungen die eigentlich »poetische« (vgl. Baumgarten, Meditationes 84 § 14). Intensiv klare Vorstellungen sind solche, bei denen die einzelnen Bestandteile analytisch aufgeklärt und damit immer differenzierter vor Augen geführt werden. Extensiv klar dahingegen sind solche, bei der die Qualität der Verworrenheit nicht aufgehoben wird – in diesem Sinne sind es unhintergehbar sinnliche Vorstellungen –, aber mehrere (ebenfalls verworren erkennbare) Merkmale in dieser Vorstellung enthalten sind; die Nähe zur symbolischen Vorstellung nach Leibniz ist offenkundig, legt aber einen Schwerpunkt auf die Fülle (ubertas, siehe Metaphysica, § 515; dazu Schweizer 1983, XIII f.). Um sich der extensiven Klarheit bewusst zu sein, muss lediglich eine gewisse Klarheit – bezüglich des Bewusstseins, dass mehr Merkmale wahrgenommen werden, wie auch immer sie realiter (das heißt, in einer klaren und deutlichen Vorstellung) bestimmt seien – gegeben sein. Das heißt, die Vorstellung ist nicht qualitativ deutlicher, sondern es werden verworren quantitativ mehr Eigenschaften wahrgenommen. Eine extensiv klare Vorstellung ist nach Baumgartens Verständnis reichhaltig, bzw. lebhaft (vgl. Meditationes §§ 17, 20, Metaphysica, § 515). Ihr ästhetischer Wert ist darüber hinaus irreduzibel. So könne zwar der Beschreibungskatalog der griechischen Schiffe in Homers Illias auf die Bezeichnung »Flotte« verkürzt werden; er würde dann aber der sensitiven Erkenntnis entzogen, wie auch das Grün nicht mehr vorhanden ist, wenn man es auf seine klar und deutlich erkennbaren Bestandteile Gelb und Blau reduziert.85 Auch aus diesem Grund wird eine deutlichere, aber weniger lebhafte Vorstellung, die Abstraktion, als ein »Verlust« bezeichnet (Aesthetica, § 560.). Die Unhintergehbarkeit der solcherart reichen sinnlichen Erkenntnis begründet darüber hinaus die von Baeumler (1975, 212) so benannte »Logik des Individuellen«: 83

Vgl. Meditationes, § 16, Metaphysica § 531, sowie Paetzold 1983, 13 ff. Dürbeck (1998, 185 f.) weist auf die Aufnahme dieser Bestimmung auch in Meiers Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744, § 40) hin. Mendelssohn jedoch nahm Meier v. a. als ›Übersetzer‹ der Baumgartenschen Aesthetica (mit dessen Anfangsgründen), weniger als eigenständigen Philosophen wahr; vgl. Pollok 2006, 300 f. m.w.Vw. 84 Die angemessene Übersetzung des Titels von Baumgartens Dissertationsschrift Meditationes philosophicae de nonnullis ad Poema pertinentibus (Halle 1735)s gibt Adler 1992, 27 unter Rückgriff auf Baumgartens eigene Übersetzung in seiner Antrittsvorlesung (Alexander Gottlieb Baumgartens, Ordentl. Lehrers der Philosophe zu Frankfurth, Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall auf Academien, Wonebst er zu seiner Antrits-Rede und ersten Frankfurthischen Lese-Stunden eingeladen. [zuerst 1740] Zweyte vermehrte Auflage. Halle 1741, 19) mit: Philosophische Gedanken von einigen zum Gedicht gehörigen Stücken an. 85 Vgl. Meditationes, § 19, scholium in Anlehnung an Leibniz’ Meditationes, 15: »So nehmen wir bei einer Mischung von Teilchen des Gelben und Blauen die grüne Farbe wahr: und obwohl wir dabei nur Gelb und Blau in innigster Vermischung empfinden, bemerken wir dies nicht und denken uns irgendeine neue Wesenheit aus.«

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die Ästhetik achtet auf die Fülle von Merkmalen, die eine bestimmte Vorstellung ausmachen, nicht ihr abstraktes »Wesen«. »Logik und Ästhetik verfahren gegenläufig in dem Sinne, daß die Logik von dem Individuum abstrahierend zur Spezies usw., die Ästhetik konkretisierend, das heißt nach Baumgarten ›in mehrerer Bestimmung betrachtet‹ [Metaphysica, § 149, Anmerkung] zum Individuum tendiert.« (Adler 1992, 44) Alle diese Vorstellungsarten orientieren sich am Begriff der Vollkommenheit. So vereinigt z. B. »eine extensiv klare Vorstellung […] in sich das Moment des Vielen (Fülle der Merkmale) und zugleich das Moment der Einheit (Identifizierbarkeit der Gesamtvorstellung)« (Paetzold 1983, XX) und ermöglicht damit, Vollkommenheit auch in einem gnoseologisch inferioren Bereich zu erreichen. Immer, dies ist im Hinblick auf Mendelssohns Aufnahme dieser Überlegungen wichtig, wird mit dieser Differenzierung eine jeweils individuell nach Graden bzw. Perspektive bestimmte Vollkommenheit in den Blick genommen. Der Grad an Deutlichkeit der Vorstellungen unterscheidet sich Leibniz’ Ansicht zufolge durch die Perspektive, die die betreffende Monade einnimmt. Empfindungsqualität ist damit nicht zuletzt eine Frage des Standpunkts. Und sie ist Kennzeichen einer unhintergehbaren Individualität. Der Lehre von den Graden der Vorstellungen ist darüber hinaus eng verbunden mit ihrer Beziehung zu den (im weitesten Sinne) Affekten des Vorstellenden sowie der damit verknüpften Wirkung auf dessen Willen. Jede Vorstellung ist mit dem appetitus der vorstellenden Instanz verknüpft – sie wirkt auf das Begehrungsvermögen und führt zum Übergang zu weiteren Vorstellungen, das mit einem Gefühl der Erfüllung, oder auch: des Vergnügens verbunden ist. Letztlich äußert sich darin die den Seelen innewohnende Kraft: diese Bewegung ist ihr Leben. Dabei sind die enge Verknüpfung von Erkenntnis und Vergnügen und die erst auf das Urteil über den Gegenstand, bzw. dessen Güte folgende Hinwendung zu ihm von Bedeutung. Diese Abfolge entnimmt Baumgarten wie Mendelssohn der Wolffschen Philosophie, »derzufolge die menschlichen Begehrungen stets ein gnoseologisches Implikat enthalten. Allen Willensstrebungen muss eine kognitive Leistung vorangehen, welche dem Willen vorstellt, auf was er aus ist (vgl. Wolff, Psychologia Empirica, § 509: »…ex cognitione nascitur primum voluptas, inde porro judicium de bonitate objecti, ac hinc demum resultat appetitus…«.)«.86 Man kann dies auch so formulieren: jedes »gnoseologische Implikat« ist mit einem emotionalen Element verknüpft. Eine Seele in Tätigkeit erfüllt ihr Wesen, erhöht ihre Vollkommenheit und ist darüber ›vergnügt‹. Erst dies disponiert sie überhaupt dazu, zur Herausbildung des Willens ein86

Cognitio benennt Wolff hier ausdrücklich als das »fundamentum totius philosophiae moralis« (ebd.). Siehe zum engeren Zusammenhang zwischen Vervollkommnung und Glückseligkeit v. a. Wolffs Deutsche Ethik (1720), §§ 40–47 und Philosophia practica universalis, methodo scientifica pertractata (1738), Bd. 1, § 374, Bd. 2. , § 28.

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schlägige Urteile zu fällen und diese mit einem entsprechenden Gefühl verbunden zu erleben. Bei Spinoza wird die »Freude« an einer Erkenntnis darüber hinaus nicht allein mit dem Willen, sondern mit den Affekten generell verknüpft (vgl. Ethica Buch 5, Prop 3 und Prop 4 Schol). Auf all dies, in einer spezifischen Gemengelage, hat Mendelssohn deutlich zurückgegriffen. Bezüglich der Verbindung zwischen Vergnügen, Lust und Vollkommenheit hat Schwaiger auf die Bedeutung des Briefwechsels zwischen Leibniz und Wolff hingewiesen, in dem der Begriff des Vergnügens modifiziert wird. Eine erste Definition der »Lust« lautete bei Wolff noch schlicht: »angenehme Empfindung«, was ihm die Kritik von Leibniz einbrachte87, dem diese Wolffsche Bestimmung nichtssagend schien. Ein endliches Wesen, so Leibniz, könne in der Welt gar nicht letztgültig glücklich werden, sondern es könne sich höchstens in der fortschreitenden Vervollkommnung bzw. Entfaltung seiner Kräfte glücklicher machen. »In der Sache weiter führt erst die Einsicht, dass jedem Lustgefühl bewusst oder unbewusst die ›Empfindung einer Vollkommenheit‹ (sensus perfectionis) zugrunde liegen muss.« (Schwaiger 2000, 64) Leibniz betont also den internen Zusammenhang von Lust und Vollkommenheit und impliziert damit eine dynamische Komponente. »Diese These vom inneren Zusammenhang zwischen der Entfaltung eigener Talente und der Erlangung echten Glücks macht sich fortan auch Wolff zu Eigen. Das höchste Gut oder die Seligkeit des Menschen bestehe in einem unablässigen Fortgang zu täglich größeren Vollkommenheiten. Erfülltes Dasein ist auf Dauer nicht in einem müßigen Sich-gehen-Lassen oder in passivem Konsum zu finden, sondern in der Anspannung der eigenen Kräfte und im Hinauswachsen über sich selbst.«88 Der Tätigkeitsaspekt wird, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, auch in Mendelssohns Theorie des Vergnügens eine entscheidende Rolle spielen. In der Psychologia empirica erfolgt bei Wolff schließlich eine »stärker visuell-kognitiv gefasste Definition«89 mit Rückgriff auf Descartes: »Voluptas est intuitus, seu cognitio intuitiva perfectionis cujuscunque verae, sive apparentis.«90 Die Betonung der Visualität ist jedoch nicht für alle Phänomene des Wohlgefallens einschlägig,

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Vgl. Schwaiger 2000, 62 f. Wolff hält 1703 in der Dissertation Philosophia practica universalis, methodo mathematica conscripta (1703), Prop. 12, Cor. 4 in Anlehnung an Descartes das glückliche Leben als einen stillen Zustand, dessen höchstes Ziel die Verherrlichung Gottes ist. 88 Schwaiger 2000, 65 f. mit Verweis auf Leibniz’ Brief an Wolff, 21.2.1705 und dessen Brief an Leibniz vom 15.10.1705; siehe dazu Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolff. Aus den Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Hannover. Hg von C.I. Gerhardt. Halle 1860. Reprint: Hildesheim 1971. 89 Schwaiger 2000, 64. Siehe aber auch Deutsche Metaphysik § 827. 90 Lust ist »das Anschauen oder die anschauende Erkenntis irgendeiner Vollkommenheit, mag dies eine wahre oder bloß vermeinte sein« (Psychologia empirica,§ 511, Übers. nach Schwaiger)

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noch kann sie die Bandbreite menschlicher Affektivität befriedigend erklären. Denn damit auch der Genuss den Menschen als ein Vernunftwesen ausweist, muss vorausgesetzt werden, dass der Genießende überzeugt von der wahrgenommenen Vollkommenheit ist. Was hier nicht ins Gewicht fällt sind diejenigen ästhetisch genießbaren Gegenstände, die diese Überzeugung in Reinform gar nicht mehr zulassen, sowie andere Formen sinnlicher Lust, die andere Sinne beanspruchen als den des Gesichts. Jedoch blieb vorerst der Einfluss dieser Sichtweise bestimmend: »Wolff’s conception of pleasure as the sensory cognition of objective perfection completely dominated aesthetic theory in Germany for the next fifty or more years. Some writers looked for criteria to demarcate the aesthetic from other conceptions of goodness or to add special character to it, but none detached it from this general theory of value or subscribed to Hutcheson’s conception of disinterestedness, even though his views were well known in Germany.«91 Auch Mendelssohn schließt sich eher an Wolff und dessen ›Nachfolger‹, als an Hutchesons Theorie eines Gefühls für die Schönheit an, da ihm in letzterer Theorie die Anbindung an ein umfassendes Bild zu fehlen scheint.92 Einen neuen Sinn zu entwerfen (wie Mendelssohn Hutchesons Ansicht, vielleicht simplifizierend, versteht) sei eine allzu einfache Lösung. Anspruchsvoller – und zutreffender – erschien es ihm, den Schönheitssinn aus einem ganzheitlichen Menschenbild heraus zu erklären, ohne dabei den volitiven und leidenschaftsaffinen Elementen die Oberhand zukommen zu lassen. In dieser Hinsicht geht Mendelssohn vielmehr in eine ähnliche Richtung wie Sulzer, an dessen Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen er sich kritisch anschließt. In einer Rezension benennt er dessen Vorzug gegenüber Wolff: »Wolf hat die Würkungen des Verstandes beym deutlichen Denken und Urtheilen fürtrefflich beschrieben. Wenn man auf eben diese Weise [wie Sulzer dies unternimmt, A.P.] das Betragen der Seele bey der undeutlichen Erkenntnis und bey den schnellen Urtheilen, welche aus der anschauenden Erkenntnis folgen, bey allerley Arten der Fälle genau aus einander setzte, so würde dieser Theil der Philosophie noch sehr erweitert werden.« (LB 61: 11. Oktober 1759, JubA V/1, 92) Mendelssohns eigene Behandlung von Sulzers Theorie in den Briefen über die Empfindungen macht deutlich, dass er bereits 175493/55 diese Ansicht hegte, ohne allein der dunklen, schnellen Empfindung das Wort zu reden. Die Aufgabe war vielmehr, dessen spezifische Rolle und 91

Guyer 1993, 83; vgl. gegen Hutcheson als einen Vorläufer des interesselosen Wohlgefallens Rind 2002, 77–81. 92 Siehe dessen Kritik in den Hauptgrundsätzen (JubA I, 429 f., bereits in der Version von 1757 enthalten). Allerdings ist die Idee, Schönheit als eine vom Subjekt ausgehende Attributierung der Dinge zu verstehen, durchaus mit Mendelssohns Theorie verwandt. 93 Die Skizze Von dem Vergnügen, JubA I, 125–31 ist, wie Altmann 1969, 85–110 überzeugend dargelegt hat, als eine Vorstudie zu den Briefen zu verstehen und reflektiert bereits auf Sulzers Ansichten.

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Wert im Gefüge der Empfindungen zu definieren und damit das an Leibniz anschließende Konzept der Vorstellungsmodi nutzbar zu machen. Dabei ist wiederum zu betonen, dass Mendelssohn die theoretischen Schriften des Letztgenannten zu Beginn seiner philosophischen Laufbahn nur bruchstückhaft im Original kannte. Er zitiert neben der Theodicée lediglich den auf der Monadologie beruhenden Kommentar des Wolffianers Michael Gottlieb Hansch: Godefredi Guilielmi Leibnitii Principiae philosophiaa more geometrico demonstrata: cum excerptis ex epistolis philosophi (1728), nicht die Originalwerke.94 Die Bekanntschaft mit diesen wird sich, wie bereits in Kap. I.1 erwähnt, erst mit der Werkausgabe durch Louis Dutens vertieft haben. Ähnlich wie Sulzer95 ging es Mendelssohn 1755 bereits darum, die Quellen des Vergnügens aufzudecken, unabhängig davon, ob es sich um ein moralisches, intellektuelles oder rein sinnliches Vergnügen handelte, und dennoch im Bereich eines leibnizianisch-wolffischen Rationalismus zu verbleiben. Ausgangspunkt ist nicht eine rationale Theorie der Affektenkontrolle, sondern eine umfassende Sicht auf die Variationsbreite der Vorstellungsmodi und ihrer Bezüge zu den menschlichen Vermögen, kurz: auf die ganze menschliche Natur. Sulzer wird später, in seinen Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet (1763)96 in dieser Hinsicht das Verhältnis der Seele zu den Zuständen des Wollens und Erkennens als eine jeweils spezifische Richtung der Aufmerksamkeit der Seele beschreiben: einmal auf Äußeres, einmal auf die eigene Haltung dazu. Einen dritten Zustand, den der »contemplation« (ebd., 236 f.), in dem die ansonsten ewig zwischen diesen zwei Polen geteilte Seele ruhen kann und der also beide Aspekte in sich vereinigt, nennt er am Ende der Schrift, ohne ihn gänzlich konsistent aus dem Vorangegangenen entwickeln zu können; daran scheint Mendelssohn mit seiner Theorie des »Billigungsvermögens« angeknüpft zu haben (siehe dazu Kap. III.3). Die Vorläufertheorie in den Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen von 1751/5297, versucht dagegen noch, die Lust der Seele auf eine deutliche oder nur undeutlich erkannte Lust an Vollkommenheiten zurückzuführen. Demzufolge empfindet der Mensch Vergnügen, wenn »die ursprüngliche Vorstellungskraft zu einer lebhaften Wirksamkeit gereizt« (ebd., 18) 94

Vgl. Altmann 1982, 38 (FN 43): Hanschs Werk »was based on the latin version of the Monadology published in the Acta eruditorum Lipsiensium (Suppl. Vol. III, 1721, Sect. 11, 500– 14).« Mendelssohns Zitat findet sich in Anmerkung l) (1771: r), JubA I, 118. 95 Zu Sulzer siehe die einschlägige Diskussion bei Dürbeck 1998, 197. 96 In: Vermischte philosophische Schriften. Bd. I, 225–43. 97 Wiederabgedruckt (in deutscher Übersetzung) in den Vermischten Philosophischen Schriften, Bd. I, 1–98. Mendelssohn besaß die französische Erstfassung von 1751/52 (siehe Bücherverzeichnis, 83/8 und 273/16).

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wird und dementsprechend Unlust, wenn sich seiner Vorstellungskraft Hindernisse entgegenstellen. Welcher Art dieses Vergnügen ist, bleibt dabei gleichgültig. Alle Vergnügungen der Seele gingen letztlich auf die Vollkommenheit, die hier zu einer eudaimonistischen Glückseligkeitslehre reformuliert wird, und gewährten der Seele leichten, ungehemmten Umgang mit Vorstellungen. Wiederholt betont Sulzer das Bild eines Flusses, der nicht durch Wehre und andere Eingriffe behindert werden dürfe. Diese Ausrichtung auf einen ungehinderten Tätigkeitstrieb der Seele war Mendelssohn zu einseitig. Die Quelle der Empfindungen erfordere eingehendere Differenzierung – es geht also darum, die »Natur des Vergnügens« exakter auszuloten und mit einer Theorie menschlicher Natur und menschlicher Zweckbestimmung zu verbinden.

Mendelssohns Theorie des Vergnügens Bereits mit dem Titel seiner zweiten philosophischen Veröffentlichung, den Briefen über die Empfindungen (1755), kündigt Mendelssohn das Thema an, das ihn bis an sein Lebensende beschäftigen sollte: die Besonderheit und Funktion der vernünftigen und emotionalen Kräfte des Menschen, ihr Zusammenspiel und ihre Operationalisierung. Was sind und wie wirken Empfindungen, und wie verhält sich das Denken dazu? Wie muss der Eindruck eines Gegenstands beschaffen sein, um Vergnügen zu erwecken? Liegt das ›wahre‹ Vergnügen in einer rationalen oder sinnlichen Erkenntnis? Wie lässt sich das intuitiv scheinende Erlebnis des Vergnügens analysieren – und erneut herstellen? Diese Fragen zielen ebenfalls auf die der jeweiligen Empfindung wesentliche Form: nach Descartes wie auch Wolff sei es zum Vergnügen genug, »wenn wir den Gegenstand nur als vollkommen ansehen« (in der Formulierung Mendelssohns, JubA I, 127). Vollkommen sei ein Gegenstand, wenn er ein Mannigfaltiges enthält, das auf einen gemeinsamen Endzweck hin angeordnet ist, also in sich eine Einheit besitzt, auch wenn diese nur verworren wahrgenommen wird. Eine solche Form der inneren Ordnung, so die Theorie, beschäftigt und fördert die Vorstellungskraft des Menschen auf angenehme Weise. In diesem Sinne ist also von einer einfachen Variation einer Kopplung auszugehen: Je klarer und deutlicher eine Vorstellung, desto klarer ist ihre Ordnung und die sie konstituierenden Bestandteile sichtbar, und desto vollkommener ist sie. Vollkommenheiten bereiten der vorstellenden Instanz Vergnügen; ergo ist diejenige Vorstellung am wertvollsten, die Klarheit bietet. Dieses einfache Schema durchbricht schon die differenziertere leibnizianische Einteilung, aber am nachhaltigsten Baumgarten in seiner Dissertation, indem er auch den dunklen und verworrenen, also dem unteren Erkenntnisvermögen zugeordneten Vorstellungen eine eigene Form der Vollkommenheit zuschreibt und damit

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zwischen Sinnlichkeit und Verstand, Vergnügen und Erkenntnis ein reziprokes Verhältnis annimmt.98 Auch Mendelssohn fragt in dieser Hinsicht nach dem Verhältnis von sinnlicher und rationaler Erkenntnis der Vollkommenheit. Den ersten Versuch einer Beantwortung zeigt der Entwurf Von dem Vergnügen, in dem er seine Kritik derjenigen Positionen formuliert, an die er auch in den Briefen über die Empfindungen anknüpft.99 Demgemäß ist das Vergnügen an einer leicht zu entwickelnden Vorstellung zwar dem Menschen nicht abzusprechen, wie er unter Hinweis auf Descartes, Wolff, Pouilly und dem diese Positionen verbindenden Sulzer festhält (vgl. JubA I, 128: Nr. 5). Jedoch ist dieser angenehme Zustand von demjenigen der »Lust« zu unterscheiden (JubA I, 131: Nr. 18): Denn abgesehen von der Annehmlichkeit einer leichten Vorstellung, die auch den Körper harmonisch bewegt, was wiederum die Seele dunkel wahrnimmt, ist die Lust an einer Vollkommenheit komplexer. Sie setzt neben Leichtigkeit und Mannigfaltigkeit eine Erkenntnis des Einheitspunkts dieser Vorstellungsbestandteile voraus und ist so mit einer rationalen Vorstellung der Vollkommenheit vereinbar, ja, sie ist letztlich eine menschenspezifische Spielart von ihr. Letztlich will Mendelssohn hier zeigen, dass alle Vergnügungen an bestimmte Formen der Vollkommenheit gebunden sind. Der Ansatz des Entwurfs geht diesbezüglich allerdings kaum über eine grobe Skizze seiner Gedanken hinaus. Er ist aber auch deshalb defizitär, weil Mendelssohn hier seinen wichtigsten Gegner nicht erwähnt: eine Auseinandersetzung mit Dubos’ skandalöser Theorie der bloßen Gemütsbewegung zur Vermeidung von Langeweile, und damit der Negation jeglicher Vollkommenheitsbindung, findet sich hier nicht; Mendelssohn scheint diese Lektüre erst kurz vor der Niederschrift der Briefe als ebenfalls behandelnswert eingestuft zu haben. In den Briefen lässt er die im Entwurf skizzierten Lösungen von den Freunden Euphranor und Palemon (in späteren Fassungen umbenannt in Theokles) diskutieren.100 98

Vgl. Baumgarten, Meditationes, §§ 3, 7, 9; siehe auch Aesthetica, § 14, Metaphysica, § 662: »Perfectio phaenomenon, seu gustui latius dicto observabilis, est PULCRITUDO.« Übers. Paetzold 1983, XIII: »Die vollkommene Erscheinung, sofern sie durch den Geschmack im weiteren Sinne beobachtet werden kann, ist SCHÖNHEIT.« Interessant an Baumgartens Bestimmung des Gedichts im § 9 der Meditationes (»Oratio sensitiva perfecta est POEMA.«) ist darüber hinaus, dass dessen Vollkommenheit sich vor allem in einem anderen telos als dem der Rede manifestiert. Es ist nicht nur eine sinnlich vollkommene Rede, sondern es soll »sensitive Erkenntnisse rein als solche geschehen lassen« (Paetzold 1983, XIV f., XLV). Das heißt, dass es nicht, wie die Rede (als Oratio), letztlich auf eine Form der Lehre oder Überredung (bzw. Überzeugung) zielt, sondern allein auf die sensitive Erkenntnis. Den nexus zum Vergnügen hat Baumgarten dann allerdings nicht so explizit gemacht, wie dies die erwähnten Ästhetiker in seiner Folge unternehmen. 99 Vgl. zur Rolle Spinozas, der ebenfalls ungenannt im Hintergrund von Mendelssohns Theorie stehen könnte, Goetschel 2004, Goldenbaum 2002 und 1997. Die Gemengelage der Positionen, die Mendelssohn kritisch behandelt, wird von Altmann 1969, Kapitel 2 grundlegend analysiert. 100 Indem Mendelssohn die Form eines fiktiven Briefwechsels wählt, kann er die Frage, welcher der beiden vertretenen Positionen er selbst sich anschließt, vorläufig offen lassen. Wie die späteren Schriften zeigen, ergriff er ohnehin nicht einfach Partei für eine der hier repräsentierten Strömun-

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Die Frage, welche Figur mit was für einem Erfolg welche spezielle Theorie verträte, wird in der Forschungsliteratur immer wieder zu beantworten versucht. So vermutet Geyer-Kordesch, dass Euphranor die Thesen Meiers personifiziert, wohingegen Palemon die Rolle eines so idealtypischen wie trockenen Rationalisten spielt.101 Weitaus verbreiteter ist noch die Ansicht, Palemon/Theokles sei das »Sprachrohr« Mendelssohns102, während Euphranor als bloße Kontrastfolie fungiert. Dies nimmt jedoch kaum Rücksicht auf das stilistische Vorbild Shaftesbury, der im Soliloquy (1710) die Methode des Selbstgesprächs propagiert und ihm in den Moralists (1709) das Ideal des sokratischen Dialogs an die Seite stellt. Dabei ist diese Technik v. a. auf eine gerechte und ausgewogene Darstellung der unterschiedlichen Positionen gerichtet, die zur selbständigen Bewertung und damit einem im wahrsten Sinne aufgeklärten Umgang mit den jeweiligen Gedanken einlädt.103 Programmatisch formuliert Shaftesbury dies folgendermaßen: »We might preadventure be less noisy and more profitable in company, if at convenient times we discharged some of our articulate sound, and spoke to ourselves viva voce when alone. For company is an extreme provocative to fancy[104]; and, like a hot bed in gardening, is apt to make our imaginations sprout too fast. But by this anticipating remedy of SOLILOQUY, we may effectually provide against the inconvenience.« (Shaftesbury, Characteristicks, Bd. I, 106) Wenn in dieses Selbstgespräch der mögliche Andere als ein konstruktiver Gesprächspartner integriert wird, können die Vorzüge beider Überlegungsarten kombiniert werden; so zumindest Shaftesburys wie auch Mendelssohns Kalkül. Mendelssohns Anlehnung an diese Vorgehensweise zeigt, dass seine Position innerhalb der Briefe weder eindeutig als Wolffianisch auszulegen ist105, noch sich

gen, sondern suchte diese einer Synthese zuzuführen. Das Verhältnis der hier dargestellten Charaktere findet sich in ähnlicher Form auch in dem 1757 erschienenen Essay David Humes Of the Standard of Taste (Nr. 22 in Essays Moral, Political, and Litterary I, 226–49). Dort hatte Hume sie als Ausdruck unterschiedlicher Geschmacksausprägung nach dem Lebensalter unterschieden, vgl. ebd. 244: »A young man, whose passions are warm, will be more sensibly touched with amorous and tender images, than a man more advanced in years, who takes pleasure in wise, philosophical reflections, concerning the conduct of life, and moderation of the passions.« 101 Vgl. Geyer-Kordesch 1977, 147. Dies setzt natürlich voraus, dass man die Position Meiers als einen Fortschritt gegenüber Wolff u. a. ansieht. 102 Vgl. Zelle 1987, 320; Terras 1978, 8 f., Michelsen 1966, 556 und Juchem 1970, 33 f. 103 Vgl. die damit übereinstimmenden Analysen bei Bamberger, JubA I, XXVII, Altmann 1969, 110 f., und Pikulik 2001. Auch Geyer-Kordesch 1977, 147 hält diese Möglichkeit fest. 104 Dieser ist, wie auch »humour« und »opinion«, als affektive Seite des Menschen den vernünftigen Vermögen »reason« und »common sense« gegenübergestellt; vgl. Dürbeck 1998, 59 ff. Im »Soliloquy« sollen die beiden Seiten, Affekt (appetite) und Vernunft sich gegenseitig durchdringen und der Mensch sich so über die wahren Motive und Gründe klar werden. In den Moralists zeigt Shaftesbury schließlich, wie so aus einem Zweifler oder einem Schwärmer ein »vernünftiger Enthusiast« werden kann. 105 Wie es Bamberger, JubA I, XXVII f. nahelegt. Er greift allerdings bereits auf die dann von

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schlicht einem der Briefpartner zuweisen lässt. Pikulik spricht treffend und an Shaftesbury anschließend von einer »experimentellen Selbstbefragung des Autors« (Ders. 2001, 18), der durch dieses Manöver »unterschiedliche Ansichten zu Wort kommen lässt« (ebd. 14). Mendelssohn scheint in dem Wechselspiel der Ansichten auch eine Kritik an herrschender Einseitigkeit zu verbergen. Die aktuell vertretenen Thesen in Rationalismus und Empirismus, rationaler und empirischer Psychologie, Medizin oder Metaphysik sollten eben nicht separat, sondern in ihrem gegenseitigen, befruchtenden Widerspiel dargestellt werden. Es ist allerdings letztlich Aufgabe des aufgeklärten und selbstdenkenden Lesers, eine Synthese beider Positionen zu vollenden. Ansatzpunkte dazu bietet Mendelssohn in den Briefen, sowie den anschließenden Schriften zur Genüge. Dabei zeigt sich die tiefgreifende Modifikation der lediglich an einem schulphilosophischen Wolffianismus angelehnten Vollkommenheitsphilosophie ebenfalls in der geschickt versteckten Aufbrechung der Dominanz dieser Lehre durch den Zweifler Euphranor. Dieser vertritt, ausgerechnet als Deutscher, den Part eines schwärmerischen Enthusiasmus’, der sich ganz dem Genuss sinnlicher Empfindungen überlässt und daraus seine anti-rationale »Lehre vom Vergnügen« formuliert. Das Vergnügen werde gerade durch eine »allzusorgfältige Zergliederung« (JubA I, 45) seiner Bestandteile, also einer Umwandlung in eine klare und deutliche Erkenntnis, zerstört. So solle man nicht über die Schönheit einer menschlichen Gestalt nachdenken, denn damit werde das Vergnügen in »trockene Schlüsse aufgelöst«, und die Freude an schönen Augen wird zur deutlichen Erkenntnis eines wässrigen, gallertartigen Organs (vgl. JubA I, 46). Vollends offensichtlich wird die Anleihe an Shaftesburys Thesen im ›Naturhymnus‹ des achten Briefs: in Anlehnung an Palemons Lehren findet Euphranor nun zwar bereits »gedoppeltes« Vergnügen an der klaren und deutlichen Erkenntnis des Weltzusammenhangs, aber die reinste Freude ist doch die vernunftübersteigende oder sie vergessende Hingabe an das bloße Empfinden (vgl. JubA I, 71–75). Der britische ›Rationalist‹ Palemon hält Euphranor beharrlich und über verschiedene Überlegungsstufen hinweg, die Zweifel seines Gegenübers zu integrieren versuchend, das Vergnügen am Denken entgegen, das durch die Analyse nur verstärkt werde und eigentlich die höchste Form menschenmöglichen Genusses darstelle. Damit übernimmt Mendelssohn indirekt die Kritik am Enthusiasmus, die Locke in der vierten Auflage von 1700 seines Essay concerning human understanding formuliert und auf die auch Shaftesbury in den Moralists hinweist106: in seiner schlechten Altmann angeführte Differenzierung in einen statischen und dynamischen Aspekt der zugrundeliegenden Leibnizschen Metaphysik zurück, die, so Bamberger, auch auf Wolffs Philosophie bereits zutreffe. Dies ist allerdings gerade in Bezug auf die Ästhetik zu bezweifeln. 106 Siehe Locke, Essay IV, 16. Vgl. zur generellen Richtung von Shaftesburys auf Henry More zurückgehende Auffassung des Enthusiasmus, Schings 1977, 171, 179–84. Ihm zufolge hatte dieser die Enthusiasmus-Auffassung zunehmend »anthropologisiert«. Shaftesbury ist dabei nicht, wie

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Form spielt der Enthusiasmus als ein Gegenbegriff zur Vernunft deren natürliches Licht der Einsicht gegen ein als übernatürlich und unerklärlich aufgefasstes Gefühl der Begeisterung aus, um sie zu unterdrücken. Die »Gotteserfülltheit« wird so zum Gegenentwurf einer auf die Kraft der menschlichen Vernunft vertrauenden Wissenschaft und liefert den Menschen einem obskuren Glauben aus. Ein solcher Verzicht auf die Verifizierung durch die Vernunft führt letztlich – aus anthropologisch erklärbaren Defiziten wie melancholischer Frömmigkeit oder Bequemlichkeit – dazu, jede Möglichkeit einer Verifizierung zu verneinen.107 Enthusiastische Erkenntnis gewinnt damit eine gefährliche und pathologische Zirkelstruktur, vor der auch Palemon seinen Euphranor zu bewahren strebt. Allerdings deutet sich in Palemons modifizierter Theorie eben keine gradlinige Zurückweisung des Enthusiasmus an, sondern eine Reformulierung zu einer wahrhaft göttlichen, die menschliche Vernunft integrierenden Begeisterung, wie sie auch Shaftesbury vorgeschwebt haben mag. Vergnügen werde demgemäß durch eine klare und deutliche, also rationale Erkenntnis des Vollkommenen wenn nicht erweckt, so doch entscheidend verfeinert und gesteigert. Hat man alle Teile einer Vorstellung überdacht und durchdrungen, werde das Vergnügen ungleich größer sein, als wenn man sich schlicht seinen Eindrücken überlässt. Die Überlegungen sind hier dem Baumgartenschen Konzept der »extensiven Klarheit« sowie die Erfordernisse der intuitiven, nun solcherart diskursivierten Erkenntnis nahe, die das ästhetische Vergnügen bereichern sollen. Zwar ist eine Bekanntschaft mit den Texten Baumgartens zu dieser Zeit nicht nachweisbar; im Gegenteil, scheint eine vertiefte Lektüre erst nach 1757, dem ersten Erscheinen der Hauptgrundsätze, stattgefunden zu haben. Dennoch ist die konzeptuelle Nähe nicht zu leugnen. In Termini des Entwurfs Von dem Vergnügen ist erst mit der rationalen Durchdringung ein Bewusstsein von der Vollkommenheit des Gegenstands gegeben, der den höheren Genuss (als »Lust«) überhaupt entstehen lässt. So soll die Natur des Vergnügens unter Miteinbeziehung der Gesetzmäßigkeiten menschlicher Vorstellungstätigkeit in ihrem Bezug auf eine zugrundeliegende Neigung zur Vollkommenheit erklärt werden. Palemons Paradebeispiel ist die Mathematik (die Mendelssohn selbst übrigens ausgezeichnet beherrschte).108 Sei man den beschwerlichen Weg der Locke, ein strenger Gegner des Enthusiasmus, sondern stellt der schlechten, leidenschaftsbezogenen und vernunftfeindlichen Version einen wahren, ästhetischen Enthusiasmus platonischer Provenienz gegenüber (Schings 1977, 180), den er auch mit »feeling of the Divine Presence« (A Letter Concern-ing Enthusiasm (zuerst 1708), in Characteristicks, Bd. 1, 37) benennt. 107 Vgl. Schings 1977, 172. Auch Leibniz kritisiert in den Nouveaux Essais das »innere Licht« der Enthusiasten. Bedeute dieses nicht letztlich bloß eine Sublimation der sich entzündeten Lebensgeister (also Hörigkeit auf Leidenschaften)? Vgl. Nouveaux Essais IV, 19. 108 Geyer-Kordesch vermutet, dass die Wahl dieses Beispiels als eine implizite Kritik an den Hallenser Medizinern aufzufassen ist. Diese hatten den Mathematiker »als Exempel abstrahierender Gefühllosigkeit dargestellt« (Dies. 1977, 159).

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

Berechnungen zuende gegangen, empfinde man ein umfassendes Lustgefühl, dem keine rein sinnliche Freude gleiche. »Mein Wahlspruch ist: wehle, empfinde, überdenke und geniesse.« (JubA I, 54). Deutlich wird hier Mendelssohns Bestreben, einem rein aus der rationalistischen Tradition argumentierenden Denken durch die Integration der körperlichen und emotionalen Bedürfnisse ein vollständigeres Bild menschlichen Vergnügens zu verschaffen. In gewisser Weise steht er hier zwischen Leibniz und Baumgarten, indem er die klare und deutliche, intellektuelle Durchdringung der Welt feiert, jedoch auch den Rückzug in den sinnlichen Genuss erlaubt. Später, im LB 210 vom 14. Januar 1762 wird er en passant auf die Besonderheit der sinnlichen, schönen Erkenntnis hinweisen, ohne Baumgarten direkt zu zitieren. Er spricht dort, die extensive Klarheit umschreibend, von einer »fruchtbaren und ausgebreiteten Klarheit« (JubA V/1, 488). Allerdings kann er sich nicht zu Baumgartens Diktum, dass die klare und deutliche (menschenmögliche) Erkenntnis zumeist auf einer »armen« Abstraktion beruhe, durchringen. Dies mag mit seiner noch unzureichenden Kenntnis von Baumgartens Werk zu tun haben, die sich, wie erwähnt, erst in den 1760er Jahren vertieft. Wichtiger aber, schien Mendelssohn noch keinen Weg zu sehen, das Primat der Vervollkommnung als allseitiger klarer und deutlicher Durchdringung aller Bereiche (und damit Erreichung höchster »Realität«) argumentativ befriedigend und zureichend mit dem Eigenrecht der Sinnlichkeit zu verbinden.109 In einer ersten Annäherung bietet der 11. Brief eine Synthese beider Positionen, die alle Vorstellungsformen berücksichtigt. Es gibt demnach eine dreifache Quelle des Vergnügens: verständige Vollkommenheit, Schönheit und körperliche Lust.110 Eine Theorie über den Ursprung des Vergnügens ist, so Mendelssohn gegen Wolff und Sulzer (als Vertreter der jeweiligen Extrempositionen) unvollständig, wenn man nur eine dieser Quellen beachtet.111 109

Vgl. Pollok 2006, XXVIII f. und hier Kap. II.3. Auch die einschlägigen Rezensionen sprechen für diese Sichtweise, siehe Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste III.1 (1758), 130–38, JubA IV, 196–201 und IV.1, 438–56, JubA IV, 263–75. 110 »Lust« wird hier wiederum, im Gegensatz zur Skizze Von dem Vergnügen, als die allein körperliche Komponente des Vergnügens verstanden. Die Trias selbst speist sich, wie gezeigt wurde, aus der kritischen Auseinandersetzung mit Sulzers Untersuchung (vgl. Bamberger, JubA I, XXIX ff. und Altmann 1969, 92–110) und – hinsichtlich der sinnlichen Lust – in Anlehnung an Louis Jean Levesque de Pouilly (Bamberger, JubA I, XXXI; Altmann, 1969, 99 f.), sowie die »vernünftigen Ärzte« wie Stahl und Krüger. Es ist unverständlich, wieso Martino 1972, 92 diese Trias als »rein Wolffscher Herkunft« bezeichnet. Dagegen spricht neben den Befunden Bambergers und Altmanns ebenso die Analyse von Goldenbaum 2002, 286 ff., die den Einfluss Spinozas betont, die eigentliche Ausgestaltung der Theorie aber Mendelssohn selbst zuschreibt. 111 Die Ablehnung von Sulzers Theorie soll, so Altmann 1969, 93 ff., den Begriff des Vergnügens wieder – mit Wolff – an die deutliche Erkenntnis binden: besonders deutliche Empfindungen sind nach dieser Lesart mit der meisten Lust verbunden, da sie die höchste Qualität besitzen. Darüber hinaus würde damit auch, so M. Heinz 1994, 120 mit Verweis auf Altmann 1969, 105,

II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«

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Jedes Vergnügen, egal welchen Grad der Klarheit es aufweist, ist damit zugleich an ein allgemeines Vollkommenheitspostulat (vgl. 10. Brief )112 gebunden: Dieser Grad entscheidet auch über die Beschaffenheit der jeweiligen Vollkommenheit. Die wohldurchdachte und geordnete Harmonie aller Bestandteile eines Gegenstands ist in einer klaren und deutlichen Vorstellung erfassbar. Doch auch ein nicht im Einzelnen analysierbarer, verworrener Eindruck kann als eine in sich stimmig scheinende Einheit in die Sinne fallen und begeistern. In diesem Fall kann die wahrgenommene Vollkommenheit realiter durchaus unvollkommen sein – der Schwerpunkt liegt auf ihrem subjektiven Eindruck. Schließlich ist selbst die körperliche Lust eine dunkle Erkenntnis der körperlichen Vollkommenheit im Moment der Empfindung, indem alle Körperfunktionen sich in Aktivität und gleichzeitiger Harmonie befinden. In Hinsicht auf den letztgenannten Aspekt wendet sich Mendelssohn schon 1755 der später von Platner als eigentlich anthropologisch bezeichneten Frage des Zusammenspiels von Körper und Geist zu: eine angenehme Vorstellung oder Empfindung teilt sich, so sein Modell, auch dem Nervensystem mit und ergibt eine sprichwörtlich angenehme Stimmung der »gespannten Nervensaiten«113, die wiederum die Theorie der Lust in die umfassende der leibnizianischen Theodizee eingeordnet. Demzufolge müsste Mendelssohns Theorie des Vergnügens nicht auf sein anthropologisches, sondern sein metaphysisches Interesse verweisen. Das verkennt jedoch zweierlei: zum einen muss Mendelssohns Position nicht deshalb anti-anthropologisch sein, wenn sie den Ursprung des Vergnügens auf etwas anderes als menschliche »Schwachheit« zurückführen will. Zum anderen übersieht diese Interpretation die weiteren Ausführungen Mendelssohns, der das Vergnügen am ›nur‹ dunkel oder verworren Erkannten in seine Theorie integriert, ohne diese zu bloßen Vorstufen der klaren und deutlichen Erkenntnis zu degradieren. Mehr noch: erst mit der Berücksichtigung des Zusammenspiels aller Vergnügens- und damit auch Erkenntnismodi wird eine stimmige Theorie menschlich-affektiv wertenden Verhaltens entwickelt. Weder eine Ausklammerung der Körperlichkeit/Dunkelheit, noch ihre Degradierung lässt sich im gegebenen Zusammenhang belegen. 112 Vgl. Mendelssohns Brief an Karl Theodor Anton Maria Freiherrn von Dalberg vom 5. September 1777: »Ich halte dafür, Einheit sei von Einerleiheit wohl zu unterscheiden. Diese hebt den Unterschied des Mannigfaltigen auf, jene bringt es in Verbindung. Das Einerlei steht dem Mannigfaltigen entgegen; die Einheit aber ist desto größer, je mehr Mannigfaltiges und je inniger es verknüpft wird. Wenn diese Verknüpfung des Mannigfaltigen harmonisch geschieht, so geht die Einheit in Vollkommenheit über, mit welcher sich das Einerlei gar nicht verträgt. In der vollkommensten Einheit ist eine unendliche Mannigfaltigkeit auf das wesentlich unzertrennlichste höchst übereinstimmend verknüpft, und also der höchste Grad der Vollkommenheit.« (JubA XII/2, 94) Dies scheint keine Tendenz zu sein, alles einander anzugleichen, sondern eine »Einheit des Endzwecks« zu finden, eine »Tendenz zur Harmonie des Mannigfaltigen, oder zur Vollkommenheit«, die letztlich auch eine Art des intuitiven Erfassens der Komplexität verlangt. 113 Vgl. JubA I, 82, siehe auch den 12. Brief. Hier im Rückgriff auf Maupertuis, Systéme de la nature, § 14 (Oeuvres, II, Lyon 1756, 147): Tonus als »conatus«, »Konzeption einer Innenspannung oder Kohäsion, die eine Erscheinung als Körper überhaupt zusammenhält« (Proß 1987, 892, der auf die Wurzeln in der stoischen Tradition (Cicero) verweist). Ebenfalls spielt Mendelssohn damit auf die animistische Schule um Stahl an, in der das Nervensystem als ein System gespannter Saiten, nicht als mechanistisches Röhrensystem verstanden wurde. Siehe zu dieser letztgenannten

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

die Seele verworren wahrnimmt. Mit dieser Auffassung der Seele als Beobachterin körperlicher Vorgänge integriert Mendelssohn in ein metaphysisch-psychologisches Grundkonzept auch nervenphysiologische Betrachtungen, die er beispielsweise von Pouilly, Unzer, Krüger, Castel übernimmt.114 Dabei schließt er sich jedoch, auch nach eigenem Bekunden, nicht an eine feststehende Auffassung an. Er schien kaum an der wirklichen Durchdringung der Problematik und damit auch an den Unterschieden zwischen einzelnen Positionen interessiert, was seinen Wert als einen (unfreiwilligen) ›Popularisierer‹ dieser Denkschule wenig wahrscheinlich sein lässt. Zwar wird er einige einschlägige Werke zur Kenntnis genommen haben, doch sind seine diesbezüglichen Verweise in den Anmerkungen zu den Briefen allzu pauschal, um eine eindeutige Positionierung zu den unterschiedlichen Richtungen dieser Schulen feststellen zu können. Vielmehr ist ihm der Eigenwert rein physiologischer Fragestellungen von Beginn an fraglich. So hebt er in seiner Kritik an Charles Bonnet115

Richtung Hallers Schrift über die Nervenirritabilität De partibus corporis humani sensibilibus et irritabilibus (1752); vgl. Dürbeck 1998, 121. Die gesundheitsfördernde Wirkung des Vergnügens hat auch Addison in den Pleasures of the Imagination erwähnt: »Delightful Scenes, whether in Nature, Painting, or Poetry, have a kindly Influence on the Body, as well as the Mind, and not only serve to clear and brighten the Imagination, but are able to disperse Grief and Melancholy, and to set the Animal Spirits in pleasing and agreeable Motions.« (Nr. 411 vom 21. Juni 1712 des Spectator, zit. nach Ross 1982, 370) 114 Vgl. Nowitzki 2003, 372; zu den hier einschlägigen Werken in Mendelssohns Besitz siehe Kap. I.1, FN 26, wobei ersichtlich wird, dass er die unterschiedlichen Schulen recht sorglos miteinander ›vermischte‹. In dieser Hinsicht nähert er sich den nervenphysiologischen Forschungen in ähnlicher Weise wie Sulzer, der sie für seine Theorie der Glückseligkeit einsetzt und daher in seiner Einschätzung der Wirkungsweise der Nerven selbst undurchsichtig bleibt, vgl. Dürbeck 1998, 138 f. 115 U. a. erhalten in einer Rezensionsskizze zu Bonnets Essai de Psychologie (JubA II, 35–42). Geyer-Kordesch (1977, 180) wertet Mendelssohns Auseinandersetzung mit diesem als ein Zeichen der Übernahme der psychologischen Theorie der Hallenser Schule, v. a. Krüger, denen Mendelssohn unter den »vernünftigen Ärzten« die größte Vernunftaffinität zuzuschreiben schien und die ebenfalls die Zusammenwirkung der physiologischen Vorstellungsvermittlung und der dennoch gestalterischen Funktion der Seele ausgehen. Zu Mendelssohns Berücksichtigung der Nervenphysiologie allgemein vgl. Dies., 143–83. Insgesamt ist die Rezensionsskizze in einem fast ätzend arroganten Ton (mit nationalistischen Anklängen versehen; Mendelssohn hat sich nie enthalten können, Franzosen wie Engländern Seichtheit vorzuwerfen) verfasst; vielleicht auch ein Grund, weshalb sie über den Status einer Skizze nicht hinauskam. Eine differenziertere Bewertung von Bonnets Status zwischen Materialismus und Spiritualismus findet sich bei Riedel 1985, 113 ff. Bonnets Analytischer Versuch über die Seelenkräfte (1760, übers. 1770) findet allerdings in Mendelssohns Werk kaum einen expliziten Nachhall. Doch mag die Einsicht, dass Bonnet im nähersteht, als er zuerst annahm, Mendelssohns Erstaunen erklären, als er irrtümlich Bonnet den lavaterischen Bekehrungsversuch zuschrieb (siehe dazu Kap. IV.4). Es sei jedoch noch einmal betont, dass Mendelssohns Anleihen an der zeitgenössischen medizinisch-anthropologischen Forschung zu ungenau sind, um ihn als einen ›Schüler‹ einer bestimmten Denkrichtung zu verstehen. Vielmehr schien er deren Ergebnisse als Material für die eigenen Überlegungen zu verwenden.

II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«

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die Leistung der Empfindungen nicht als passiver, sondern als seelisch-aktiver Instanz hervor: ihm zufolge entstehen sie aus innerpsychischen, nicht -physiologischen Kräften. Die Farb- oder Tonwahrnehmung ist dabei, in Anlehnung an Leibniz, ein Paradefall für die dunkle »Vermengung« der Perzeptionen: dem Objekt der Wahrnehmung entspricht nicht das, was man wahrnimmt. »Wir sind uns niemals des Gegenstandes selbst bewußt, und wir empfinden nicht anders von ihm als die Art, wie er auf die Sinne wirkt[.]« (JubA II, 40) Die Seele mag sich damit, so Mendelssohn, tatsächlich vorstellen, was auf die Sinne wirkt, um dann »aus dieser kleinen Vorstellung« eine Erscheinung zu bilden, die wir Empfindung nennen (vgl. JubA II, 41). Damit sind jedoch die physiologische Reizaufnahme und deren psychische Verarbeitung unterschieden. Deutlich »trennt [Mendelssohn] hier Gegenstand und Wirkung« (Geyer-Kordesch 1977, 182), wie er es in der Folgezeit hinsichtlich seiner ästhetischen und psychologischen Überlegungen weiter ausführen wird. Insgesamt gehen Mendelssohns Ansichten zum Zusammenspiel von Nerven und Empfindungen »mit der Einbeziehung der ›deutlichen Erkenntnis‹ in den dynamischen Prozess der gefühlsmäßigen Erfahrung des Schönen und Vollkommenen« (ebd., 152) in eine andere Richtung als die Überlegungen früher Anthropologen wie der vernünftigen Ärzten der Hallenser Schule. Dennoch hat er die Rolle des Körpers reflektiert und dabei versucht, deren Erkenntnisse aufzunehmen. Die Vermittlung der Wahrnehmungen auch als Funktion körperlicher Organe zu betrachten erschien ihm fruchtbar, doch es geht ihm nie um die Analyse und Erklärung rein körperlicher Phänomene, sondern deren Integration in seine Theorie. Zwar spricht er in animistischer Manier von den »Schwingungen der Nervenfäserchen«; letztlich geht es ihm allein um die Erklärung der Teilnahme der Seele an diesen Vorgängen, wie die Modifikationen seiner Theorie in der Rhapsodie zeigen (vgl. JubA I, 392 ff.). So äußert er sich auch zustimmend zu Pouillys Théorie des sentimens agréables (1749): Jede »Beschäftigung der Nerven, die sie wirksam erhält, ohne sie zu ermüden«, ist angenehm (JubA I, 128). Doch geht er keineswegs auf die mechanistischen Prämissen von dessen Theorie ein, noch konfrontiert er sie mit der vorher vertretenen animistischen Sichtweise. Die Funktion einer Theorie des Vergnügens in Hinblick auf die Nervenphysiologie liegt demnach für ihn allein darin, die Grenzen der Nervenreizung auszuloten und die Bedingungen für ihre ›leichte‹ Beschäftigung aufzufinden. Mendelssohn setzt diese Grenzen in Korrespondenz zu seiner Vorstellungstheorie: dunkle Vorstellungen verwirren allzu sehr, klare und deutliche Vorstellungen sind zu ›starr‹, als dass der Nervensaft in Bewegung geriete bzw. die Nervenfasern in Schwingungen versetzt würden – aber im oszillierenden Zwischenbereich beider Pole ist eine ausgewogene Nervenerregung, gerade durch Kunst, möglich. Die Verbindung dieses Vergnügens mit der Vollkommenheit, die auch Pouilly angesprochen hatte, sieht Mendelssohn als seine Aufgabe an. Vollkommenheit als eine Aus-

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

übung der Seelenfertigkeiten116 ist dabei ebenso wie deren Übersetzung in eine bloße Schwingung von Nervenfäserchen (animistisch) oder ungehemmte Strömung eines Nervensaftes (mechanistisch) allzu schematisch gedacht. Vielmehr soll die erwähnte Theorie der »dreifachen Quelle« des Vergnügens in körperlicher Lust, angenehmer Empfindung und reflexiver Durchdringung der Vollkommenheit diese Ansichten als dynamisch aufeinander bezogen erklärbar machen. Eine darüber hinausgehende Festlegung auf eine bestimmte physiologische Theorie erschien Mendelssohn schlicht unnötig.117 Die Auffächerung des Vollkommenheitsparadigmas soll dabei, wie im 11. Brief ersichtlich, nicht zu einer Aufspaltung der Erkenntnisfunktionen, sondern zur Begründung ihres Zusammenspiels dienen.118 Jedoch gelingt es nicht durchgehend, alle Einwürfe über das Vergnügen, die Euphranor im Briefwechsel vorbringt, gänzlich in eine »umfassendere Sicht« (Altmann 1969, 110 f.) einzuordnen. Zum einen muss Palemon in seiner Theorie weitaus mehr bedenken, als er anfangs siegesgewiss angenommen hatte: erst durch Euphranors Anstöße konnte er die Theorie des dreifachen Vergnügens zureichend entwickeln. Zum anderen zeigen gerade Euphranors Bemerkungen zu den Formen eines möglicherweise »bösen« Vergnügens (und hier knüpft Mendelssohn an die von Dubos eröffnete Problematik an), dass das Gleichgewicht von Palemons rationalistischen Optimismus empfindlich gestört werden kann. Festhalten lässt sich vorerst das Folgende: In seiner Theorie spaltet Mendelssohn den opak erscheinenden psychologischen Akt des Vergnügens in ein komplexes Ge116 So Pouilly bereits in den Réflexions sur les sentimens agréables, et sur le plaisir attaché à la vertu (1736), 194: keine Freude wird mehr bevorzugt als diejenige, »que fait naître dans l’âme l’idée de perfection«. 117 Eine treffende, allerdings zu spät erscheinende Kritik der Briefe lieferte Karl Wilhelm Jerusalem in den von Lessing 1776 herausgegebenen Philosophischen Aufsätzen, in denen er auch auf die Theorie von der körperlichen Quelle des Vergnügens eingeht. Er hebt diejenigen Vergnügungen hervor, die unmittelbar mit dem Bewusstsein einer verschlechterten Leibesbeschaffenheit verbunden sind, wie die Trunkenheit. Allerdings stört dies Mendelssohns Theorie nur, wenn er mit Jerusalem zugibt, dass jede dunkle Vorstellung von einer klaren Erkenntnis verdrängt wird. Dies ist aber laut Mendelssohn, im Anschluss an Sulzer, durchaus nicht immer der Fall. Den Einwand, dass die Seele die verbesserte Leibesbeschaffenheit gar nicht wahrnehmen könne, sondern nur das daraus resultierende Vergnügen – und dass deshalb die Ursache des Vergnügens nicht die Wahrnehmung, sondern das rein körperliche Gefühl des Angenehmen sei, hat Mendelssohn in der 1771er Fassung der Rhapsodie bereits ›beantwortet‹, indem er die harmonische Entsprechung sinnlichen Vergnügens und dunkler Erkenntnis der Seele davon stärker hervorhebt (vgl. JubA I, 393 ff. und auch Lessings Einschätzung, Werke 8, 154–65). Einschlägiger ist für das Folgende vielmehr Jerusalems Kritik an der Theorie der vermischten Empfindungen in den Briefen und der Rhapsodie nach der 1761er Fassung. Siehe dazu den folgenden Abschnitt. 118 »However, the potential for bodily as well as spiritual pleasure in aesthetic response only serves to integrate the aesthetic further into our general sources of value rather than to isolate it.« (Guyer 1993, 89)

II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«

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füge seelischer und körperlicher Vorgänge sowie ihr Verhältnis zueinander auf. Eine schlichte Lösung des Problems ästhetischen Wohlgefallens wird damit vermieden: Weder ein bloßes Vergnügen, noch allein verständige Vollkommenheit, sondern ihr dynamisches Zusammenspiel ist von entscheidender Bedeutung. Deshalb auch, so wird Mendelssohn in den Hauptgrundsätzen gegen Batteux’ Imitatio-Hypothese folgern, ist die bloße Imitation nicht der bedeutende Moment im ästhetischen Wohlgefallen119, noch das reine Gefühl, sondern beiderlei Zusammenspiel. Das gefühlte Vergnügen lässt sich letztlich auf eine jeweils spezifische Form der ›Wahrnehmung‹ von Vollkommenheit zurückführen, die nicht rein visueller Natur sein muss. Indem die Analyse jedes Vergnügens seine Struktur vergegenwärtigt, kann sie sie in ein umfassendes System einfügen, ohne dabei den jeweiligen Formen ihren Eigenwert zu nehmen. Das Vergnügen eines Konzertbesuchers ist immer dunkel, auch wenn gezeigt werden könnte, dass es sich letztlich auf ein unbewusstes Zählen stützt. Die Rolle der sinnlichen Empfindung wie des Körpers und der zugrundeliegenden ›dunklen Masse‹ der Perzeptionen ist irreduzibel und nur in unterschiedlichen Formen der Umwandlung – in ein Symbol oder eine durchdrungene und diskursivierte Erkenntnis – erfassbar. Selbst die Freude des Mathematikers an einer Beweiskette ist nicht im Modus der deutlichen Klarheit möglich, da diese die Erinnerungskraft des Einzelnen übersteigt. Vielmehr treten für das menschliche Empfinden zwei Zeitebenen nebeneinander. Auf der einen hat der Mathematiker Schritt für Schritt den Lösungsweg vollzogen und dabei viele klare und deutliche Erkenntnisse, aber wenig Vergnügen gehabt. Sie ist, in Termini von Leibniz’ Meditationes, adäquat, aber nicht intuitiv. Auf der zweiten Zeitebene versucht der Mathematiker den gesamten Weg in einer intuitiven Vorstellung zu überschauen. Dies geht zwar lediglich verworren, also inadäquat vonstatten, ist aber mit dem angenehmen Gefühl verbunden, dieser ganzen Kette Herr geworden zu sein und die in der Schau verwendeten, abkürzenden Symbole gegebenenfalls übersetzen zu können. Mit der hier skizzierten Methode der diskursiven ›Herstellung‹ einer intuitiven Erkenntnis durch deren Übersetzung in eine zeitliche Ordnung übergeht oder modifiziert er zwar das Spezifikum der Unmittelbarkeit der cognitio intuitiva, wie sie Leibniz intendiert hatte, macht sie aber dadurch handhabbar.120 Über das im Einzelnen zwar für den Moment inadäquate, 119 Zu recht hebt Wellbery (1984, 60 f.) diesbezüglich hervor, dass die bloße Imitationsleistung der Kunst die Begründung des ästhetischen Vergnügens nicht leisten kann, sondern das Problem schlicht verschiebt. 120 Zur Übersetzung in eine zeitliche Ordnung siehe auch Wolffs Psychologia Empirica, §§ 286 ff. Letztlich führt allerdings, so Adler 1992, 19, auch Wolffs Darlegung auf Leibniz’ Auffassung zurück, indem er der göttlichen Erkenntnis allein die Fähigkeit zuschreibt, auch ohne Analyse und Vergleich der Bestandteile zu einer intuitiven Welterkenntnis zu gelangen, siehe z. B. dessen Theologia naturalis, I.1, § 207. Vgl. zum Verhältnis des leibnizschen und wolffschen Systems allgemein Cassirer 1932, 36–45. Das ästhetische Vergnügen wird in Mendelssohns Sinne auch kaum

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

aber intuitive Überblicken des Gedankengangs gewinnt der Mathematiker sinnliches wie reflexiv-anschauliches Vergnügen. Der Theorie der dreifachen Quelle zufolge ist schließlich in dieses Vergnügen auch der Körper mit inbegriffen, indem er von den vorherigen Anforderungen zurücktreten kann und entspannt, was wiederum die Seele als eine harmonischere Nerventätigkeit nach vorheriger Anspannung wahrnimmt. Die abgestuften Klarheitsgrade der Vorstellungen haben dabei den Zweck, die Mannigfaltigkeit einer Vollkommenheit zu erhöhen: der dreifach vergnügte Mensch nimmt mehr wahr als bloßes Gefühl oder reines Denken; seine Wahrnehmung erfasst sämtliche dem Menschen zugängliche Bereiche und beschäftigt und bewegt alle Erkenntnis- bzw. Vorstellungskräfte in einer ihm allein spezifischen und ihn auszeichnenden Weise. Wie weit kann man dieses Bild treiben? Mit Euphranors Beobachtungen des Vergnügens am offensichtlich moralisch Schlechten scheint Mendelssohn eine solche Grenze berührt zu haben. Seine Theorie der Abwechslung und Erweiterung durch Kontrast – die vermischten Empfindungen – zeigt jedoch, dass er auch diese Problematik unter Rückgriff auf die Natur menschlichen Vergnügens gemäß den beschriebenen Vorstellungstheorien zu lösen versucht. Es sind nun aber nicht die bloß ›reinen Empfindungen‹ die interessieren; vielmehr geht es um mögliche Formen des Zusammenspiels verschiedener Perzeptionsebenen und -qualitäten.

2. Vermischte Empfindungen121 Den Weg zu dieser Grenze des Vergnügens verdankte sich, wie bereits erwähnt, der Auseinandersetzung mit Dubos, der in seinen Réflexions critiques sur la poesie et sur la peinture (1719) das Gefallen an schrecklichen Gegenständen mit dem menschlichen Interesse an bloßer Unterhaltung und interessanter Beschäftigung begründet hatte. Die Seele sehnt sich demnach allein danach, bewegt zu werden, gleichgültig, welcher Qualität die bewegenden Affekte überhaupt sind; entscheidend ist allein ihre Stärke

mehr, wie Wellbery 1984, 59 nicht ganz klar zu sein scheint, als intuitives reformuliert werden können. Vielmehr scheint die Herstellung eines Intuitions-Äquivalents Mendelssohns Ziel zu sein. 121 Den Terminus der ›vermischten Empfindung‹ könnte Mendelssohn von Wolff (vgl. Deutsche Metaphysik, § 440; Psychologia Empirica, § 610: »Affectus mixti sunt, qui ex jucundis & molestis constant, seu in quibus voluptas ac taedium invicem permiscentur. Dari affectus mistus ex speciali pertractatione constabit.«) übernommen haben. Zwar ist ihm in dessen Werken keine prominente Stellung zugestanden worden, doch sind Wolff und Sulzer die einzigen, die die vermischten Empfindungen in Termini der Leibnizschen Philosophie darstellen, weshalb Wolff eine gewisse ›Urheberschaft‹ dieses Begriffs nicht abzusprechen ist. Wichtige weitere Stationen der Ausarbeitung benennt Geyer-Kordesch 1977, 163–66 mit Sulzer (1751) und Unzer (1753). Martino 1972, 95 f. bietet einen kurzen historischen Exkurs.

II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«

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und ihr Potential, Langeweile zu verhindern.122 Eine komplizierte Struktur besitzt das ästhetische Vergnügen in einer solchen Suche nach spontaner, möglichst intensiver und abwechselnder Emotion keineswegs, noch weniger weist es den Weg zu einem von Mendelssohn anvisierten Bild eines auf Vervollkommnung seiner selbst (und anderer) angelegten Menschen. In diesem Sinne fragt Euphranor in den Briefen, wieso nicht nur angenehme Dinge wie ein schönes Gemälde, sondern auch unangenehme wie der Anblick eines Schiffsuntergangs, Trauerspiele, lebensgefährliche akrobatische Kunststücke oder gar Hinrichtungen gefallen könnten, wenn sie doch offensichtlich nichts mit Vollkommenheit zu tun hätten, nach der allein doch die Seele der Auffassung Palemons gemäß strebe (vgl. den 4. Brief, JubA I, 56). Was also kann uns an diesen Gegenständen reizen, wenn es nicht das bloße Faktum der Unterhaltung ist? Palemon versucht seine Theorie zu retten, indem er die Struktur der angegebenen Vorstellungen differenziert und mithilfe des ihnen abgetrotzten positiven Aspekts dennoch das Gefallen an einer Vollkommenheit als bestimmendes Moment festhält. Im »Beschluss« nennt er die grundlegende Wertschätzung der vollkommenen Beherrschung einer gefährlichen Situation (des Artisten, der sein Vertrauen auf sein Können dadurch veranschaulicht, dass er über spitze Pfähle springt u.dgl.), sowie die Liebe zur bemitleideten Theaterfigur. Allerdings passt das Vergnügen am Schiffsuntergang, dem keine Phase irgendeiner Einfühlung in die beteiligten Akteure (oder auch: Opfer) vorausging und das auch kein irgend geartetes ›Können‹ verdeutlicht, nicht in dieses Schema. Auch ist nicht klar, warum das Gefallen an einer Vollkommenheit das bestimmende Moment sein soll, und nicht die – anscheinend das Vergnügen initiierende – Lust am Schrecken. Noch ›löst‹ Mendelssohn dieses Problem durch Ignoranz und erwähnt Euphranors Einwurf nicht, scheint aber, wie die Folgezeit zeigt, nicht mit Palemons Ausformulierung der Theorie zufrieden gewesen zu sein.123 In der Trauerspieldebatte 1756/57 mit Nicolai und Lessing entwickelt er daher eine differenziertere Ansicht, die auch den schrecklich, böse oder hässlich erscheinenden Gegenständen ihren Platz in der Theorie des Vergnügens zuweist. In diesen Briefen ringt er um die Möglichkeit einer Erklärung für die Transformation von ›negativen‹ Empfindungen (z. B. Trauer) auf der Bühne zu ›positiven‹ Empfindungen

122

Vgl. ebd., 5. Laut Jacobs 2001, 42 f. fallen für Dubos letztlich »Tragödie und Ragout in dieselbe Kategorie« – der aufklärerische (antisystematische und die Erfahrung ernst nehmende) Impuls schlägt in einen totalen Sensualismus um, der die Vernunftgeltung in Geschmacksfragen generell ablehnt. »Der aufklärerische Wille zu vorurteilsloser Analyse und zur Beschränkung auf empirisch verifizierbare Erklärungen führt hier zu einer nivellierenden Betrachtungsweise, die der Erkenntnisbemühung nicht förderlich ist, sondern eher blockierend wirkt.« (ebd.) 123 Siehe dazu Zelle 1987, 326–30, der Mendelssohns ersten Versuch einer Theorie des Gefallens am Schrecklichen noch zurückhaltend als »brüchig« (329) bezeichnet und zugleich auf das eigentliche Interesse Mendelssohns, die Einbindung des Phänomens ins Vollkommenheitsparadigma, nur nebenbei zu sprechen kommt.

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

(z. B. Freude) beim Zuschauer, ohne ein grundlegend positives Menschenbild aufgeben zu müssen. Dabei erweist sich eine Anregung Lessings als wegweisend: »Darinn sind wir doch wohl einig, liebster Freund, daß alle Leidenschaften entweder heftige Begierden oder heftige Verabscheuungen sind? Auch darinn: daß wir uns bey jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung, eines größern Grads unsrer Realität bewußt sind, und daß dieses Bewußtseyn nicht anders als angenehm seyn kann? Folglich sind alle Leidenschaften, auch die allerunangenehmsten, als Leidenschaften angenehm.« (Brief Lessings vom 2. Februar 1757, JubA XI, 105) Lessing übersetzt also Leidenschaft in einen »größern Grad unsrer Realität«124: erhöhte Vorstellungstätigkeit im Zuge des Verabscheuens eines Geschehens ist damit ein Ausdruck einer positiven Seelenleistung, nicht Schwäche. Indem zwischen dem Mitgerissenwerden durch die Verwicklungen auf der Bühne und der innerlichen Bewertung der Ereignisse als verabscheuungswürdig eine Grenze gezogen werden kann, gewinnt dieses Verabscheuen einen Eigenwert im Sinne einer in sich »positiven Kraft«. Das damit ebenfalls implizierte Festhalten am Vollkommenheitsbegriff scheint an dieser Stelle noch problematisch. Indem das Schreckliche als eine bloße Versicherung der eigenen »Realität« gewertet (und damit entwertet) wird, fällt es schwer, eine Differenz zwischen den Vorstellungsarten auszumachen und nicht alle Vorstellungen unterschiedslos als Beiträge zur Erhöhung eigener »Realität« anzunehmen. Guyer problematisiert die hier drohende Assimilierung von ästhetischen und allgemeinpsychologischen Fragestellungen (was die Differenzierung von bloßer Schaulust und ästhetischem Genuss erschwert), sowie die Beliebigkeit eines solchen Vollkommenheitsbegriffs: »Taken litterally, this argument implies that all representations are pleasing, those produced by works of art no more than any others. And, as ›affirmative realities‹, all real objects should be pleasing as well. This is precisely the kind of shoal on which the rationalist ontology always runs aground because of its description of properties as ›perfections‹.« (Guyer 1993, 136, Hervorhebung A.P.) Mit dem Hinweis auf die positive Kraft der Seele im Abscheu soll das Interesse an schrecklichen Gegenständen jedoch einer größeren psychischen Komplexität zugänglich werden125, indem mit den bloßen Merkmalen noch der Aspekt von deren Zusam124

Auch Leibniz spricht von einer »Lust« an den eigenen »Gemütskräften«, vgl. Von der Weisheit, in: Hauptschriften II, 652. 125 Neben dem Einfluss Lessings spielt sicherlich auch Krügers Versuch einer Experimental-Seelenlehre von 1756 eine Rolle. Dieser bezeichnet die Seele als ein »gewiße[s] intereßirte[s] Wesen« (S. 250), das alle Vorstellungen mit seinem Gefühl der Lust/Unlust in Beziehung setzt. »Diese Lust bzw. Unlust interpretiert Krüger zwar immer noch in rationalistischen Termini von Vollkommenheit und Unvollkommenheit des eigenen Zustandes; beides wird jedoch nicht mehr auf eine objektive Wahrheit der Vorstellungen bezogen, sondern nur auf die subjektive Beziehung, die wir zwischen unseren Vorstellungen und dem durch sie verhießenen Lustgewinn herstellen« (J. Heinz 1996, 77 f.). Es ist jedoch darüber hinaus zu beachten, dass sich Krüger in seiner Naturlehre (1740–49, 3 Bde., zweite Aufl. 1748–55, 4 Bde.) gegen »die Übertragung von metaphysischen

II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«

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menspiel mit dem Vorstellungsvermögen des Rezipienten verbunden wird. »But all that Mendelssohn [der Lessings Anregung übernimmt, A.P.] is really assuming is that there is potential for pleasure in the perception of an object as well as in the object perceived.« (ebd., Hervorhebung A.P ) Gemeint ist mit der dafür nötigen Unterscheidung zwischen Gegenstand und »Vorwurf« (Vorstellung vom Gegenstand) nicht der Unterschied zwischen externem Gegenstand und internem Bild (Vorstellung) davon, sondern Mendelssohn trennt – mit Baumgarten – zwischen einem Gegenstand und der Darstellung eines Gegenstands und löst die starke Objektbindung des Gefallens, indem er es auf letzteres bezieht. Nimmt man das Vergnügen an einem Schiffsuntergang für einen einfachen Vorgang, so zeigt er die menschliche Bosheit: sein Interesse für Ereignisse, die anderen Menschen schaden, sowie sein Gefallen am Sterben Unschuldiger. Anders nimmt sich dies aus, wenn der Untergang per se als eine »Darstellung« wahrgenommen wird. Diese Aufteilung eröffnet den Blick auf das Kunstwerk als einer spezifischen Form von Nachahmung der ›Realität‹; das gerade dadurch einen Eigenwert in Bezug auf die ›Realität‹ des Rezipienten erhält: »On this account, we can enjoy (1) the represented content or theme of the work; (2) the formal properties of the work of art by means of which it represents this object; (3) the skill or artistry which has gone into the production of this work; and (4) the internal representation of all of this as a state of the soul with pleasurable effects on the body as well.« (ebd., 141)126 Das Gefallen ist nicht mehr allein auf ein spezifisches Objekt und seine Bewertung zurückzuführen, sondern es gründet auf einer Gleichzeitigkeit von der Selbstversicherung der eigenen Vorstellungstätigkeit, die von einem auch schrecklich erscheinenden Gegenstand ins Spiel gesetzt wird, dem Gefallen an der innerlichen Zurückweisung des Schrecklichen und der zugleich als angenehm empfundenen leichten Beschäftigung mit einem Objekt, das in seiner Künstlichkeit und dem damit einhergehenden Verweisungscharakter das schreckliche Objekt aus dem aktuellen Wirkungskreis des Rezipienten entfernt. Das Vergnügen ist in sich eine Vollkommenheit, in die eine tragische Verflechtung einige reizvolle Bitternis gießt, nicht anders herum (vgl. Geyer-Kordesch 1977, 169 ff.). Gegen Dubos wird in dieser Hinsicht die notwendige Komponente der als angenehm empfundenen Abwehr des Schrecklichen in die Theorie integriert, damit aber auch die Geltung dieser Differenzierung allein auf die Kunst reduziert. Im Trauerspielbriefwechsel ist diese Gleichzeitigkeit allerdings noch nicht überzeugend herausgearbeitet.

Distinktionen in die Psychologie« ausgesprochen hatte (Proß 1987, 870). An diesen Grundsatz hat sich Mendelssohn nicht immer gehalten. 126 Vgl. damit auch die von Wellbery 1984, 43–47 als spezifischer »theory type« entwickelte Charakterisierung des »representationalism«. Als deren wichtigster Aspekt kann man m.E. deren Bezug zur menschlichen Natur insgesamt werten, der sich sowohl in der Ausrichtung als auch der paradigmatischen Standards zeigt.

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Dass Mendelssohn Lessings Anregung – mit einigen Abstrichen im Detail – in späteren Arbeitsschritten aufnimmt, liegt wohl nicht zuletzt daran, dass sie seinen Ansichten, die er schon in den Briefen (siehe Anm. l (1755), JubA I, 118) vertreten hatte, entspricht oder ihnen zumindest sehr nahe kommt. In einem Brief an Friedrich Gabriel Resewitz vom 15. Mai 1756 setzt er selbst, wenngleich mit Bezug auf die Selbstmordproblematik, fest: »Wo Mängel sind, da müßen auch Realitäten anzutrefen seyn. Das Gefühl der Schmertzen selbst zeiget einen gewißen Grad der Realität […]. Nach meinen Begrifen, werden angenehme und unangenehme Empfindungen durch keine bestimmte Gräntzen getrennt, weil beide nichts als relative Begrife sind […].« (JubA XI, 48) Wie an den unterschiedlichen, in einem Zeitraum von 1755 bis 1771 veröffentlichten Versionen der hier einschlägigen Schriften ablesbar127, hat sich Mendelssohn der Integration dieses Theorieelements zögerlich und in relativ weit auseinander liegenden Schritten angenähert. Die 1771er Fassungen der großen Abhandlungen präsentieren schließlich das ausgereifteste und prägnanteste Bild der Empfindungstheorie. Die Gründe für die erst spät erfolgte Textredaktion sind nicht deutlich und vermutlich auch fachfremden Faktoren, wie der hohen zeitlichen Belastung durch Mendelssohns Tätigkeit in der Seidenmanufaktur geschuldet. Es lässt sich jedoch auch vermuten, dass ihm im Zuge der Bestimmungsdebatte eine genauere Explizierung der vermischten Empfindungen unabdingbar wird, nicht zuletzt, um einen fundamental egoistischen Zug des zugrundeliegenden Menschenbilds abzuweisen. Dazu erscheinen ihm womöglich die in der ersten Ausgabe der Rhapsodie eher en passant angeführten Überlegungen nicht ausreichend.128 Es wird im Vergleich zwi127

Ich beziehe mich v. a. auf die in den Philosophischen Schriften, zuerst 1761, in einer umfassend revidierten Form 1771 in zweiter Auflage erschienen (die Fassung von 1777 ist lediglich ein geringfügig überarbeiteter Nachdruck). Zur Druckgeschichte siehe Pollok 2006, XV–XIX. 128 In einem Schreiben vom 4. Juli 1762, also noch vor der Diskussion über die Bestimmung des Menschen, bittet er Thomas Abbt, der für die Briefe, die neueste Litteratur betreffend eine Rezension der Philosophischen Schriften verfassen soll, um ein »philosophisches Urteil« vor allem über diese Rhapsodie (vgl. JubA XI, 348). Die Rezension Abbts erscheint im LB 333: 20. und 27. Juni 1765, JubA V/1, 670–73. Zu den Briefen über die Empfindungen hat Abbt lediglich zu bemerken, dass Palemons Voraussetzung, das Überdenken der Teile erhöhe das Vergnügen am Schönen, eigentlich nur für hinreichend komplexe Vorstellungen gelten müsste (672). Seine Meinung zur Rhapsodie »geht immer dahin: es wird uns beständig unbekannt bleiben, wie eigentlich eine Vorstellung auf den Willen würke, oder wie das Denken zum Begehren werde: aber wie stark und wie groß das seyn müsse, was vorher gehet, hat bisher noch die Hypothese unsers Autors am besten gezeigt.« (ebd., 673) Zur Wahrscheinlichkeit, über die Mendelssohn ebenfalls ein spezielles Urteil erbat, ebd.: Der Aufsatz sei »zu kurz und ein bisschen zu schwer [..]. Mir deucht, bey der wahrscheinlichen Erkenntniß ist immer der Glaube sehr stark mit einverleibet, und die schnelle Würkung des Glaubens thut mehr als die Würkung des Rechnens. Wenn der Verf. erst mehr über die Materie sagen wird: so will ich auch mehr sagen; oder eigentlich mehr von ihm lernen.« Mendelssohn hat sich diesem Komplex unter dem Stichpunkt der »Gewöhnung« eingehender zugewandt; siehe dazu Kap. III.2, Abschnitt 2 a).

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schen den beiden Fassungen der Rhapsodie ebenfalls offensichtlich, dass ihn nicht alle Anregungen bereits 1761 überzeugt hatten. Seine diesbezügliche Zurückhaltung zeigt beispielsweise eine 1771 eingefügte Fußnote, in der sich Mendelssohn skeptisch zu Lessings Theorie des Mitleids äußert (vgl. Kap. II.1, Abschnitt 2, S. 151). Obwohl er den Anregungen also keinesfalls unkritisch begegnete, nannte er seine eigenen Gedanken auch in einem Brief an Lessing vom 29. Mai 1761 »Embryonen« (JubA XI, 208), die noch zu entwickeln seien. Zwar sind diese Embryonen schon 1761 sichtbar, doch war Mendelssohn erst um 1770 der Belastbarkeit seiner eigenen Position sicher genug, um diesen Modifikationen einen prominenten Platz einzuräumen. Als ein »Embryon« können auch die 1758 entstandenen Anmerkungen zu Burke gelten, in denen die Zielrichtung der von Lessing angeregten Modifikation offengelegt wird: »Die Vorstellung der Unvollkommenheiten scheint, in so weit sie eine Erkenntnis der Schranken ist und in so weit sie die Fähigkeit der Seele Unvollkommenheiten zu verabscheuen, beschäftigt, eine Vollkommenheit des Geistes zu sein.« (JubA III/1, 239) Hier ist die Anknüpfung an Lessing mit Händen zu greifen – und Mendelssohn bittet, noch unsicher ob der eigenen, modifizierten Theorie, darum, diese Gedanken »reiflich zu erwägen« (ebd., 240). Den Ansatz, zwischen dem Objekt der Wahrnehmung und der Wahrnehmung an sich, sowie deren Vollkommenheitspotentialen zu unterscheiden, formuliert er auch, weitaus ambivalenter und vorsichtiger, in seiner Besprechung von Lowth’ De sacra poesi Hebraeorum. Dort betont er mit Nachdruck die angeborene Neigung zum Anderen als ein selbständiges Gefühl. Es ist auffällig, wie stark er hier die Verbindung zwischen Kunst und Sittlichkeit macht; denn erstere ist es, die den Rezipienten dazu veranlassen soll, sittliche Grundsätze anzunehmen. Künste, so Mendelssohn, »können nützlich seyn, wenn sie von der Beschaffenheit sind, daß sie mit der Natur und mit der Wahrheit übereinstimmen, das ist, wenn sie uns das Gute zu lieben, und das Böse zu verabscheuen antreiben. Ein Dichter, der wider diese Vorschrift handelt, misbrauchet seine Kunst auf eine sehr schimpfliche Weise.« (Bibliothek I.1 (1757); zit. nach JubA IV, 41) Jedoch ist die Erregung von Leidenschaften, die zu diesem Zweck dienen, nicht als eine eindimensionale Moralisierung zu verstehen. Vielmehr: »Allein die durch die Kunst erregten Affekten sind auch überaus angenehm. Selbst solche Gemüthsbewegungen, die ihrer Natur nach unangenehm sind, werden in der Nachahmung von einem ungemeinen Vergnügen begleitet, welches theils von der Nachahmung selbst, theils von der Vergleichung herrührt, die wir zwischen unserer Glückseligkeit und anderer Elend anstellen. Größtenteils aber entspringt dieses Vergnügen aus einem innerlichen moralischen Gefühle. Es ist dem Menschen eine gewisse natürliche Großmuth angebohren, die seine Eigenliebe einschränkt, und ihn antreibt an dem Schicksal anderer Menschen Theil zu nehmen. Es ist billig, anständig und dabey angenehm, sich über anderer Wohlergehen zu erfreuen, und sich über Elend zu betrüben, Gütigkeit und Großmuth zu lieben, und Grausamkeit und Unmenschlichkeit

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zu verabscheuen.« (ebd.) Es ist auffällig, wie schwer Mendelssohn eine Ausschließung der Schadenfreude fällt. Sie drängt sich zu Beginn der Ausführungen kurz hervor, bevor er sie mit dem Hinweis auf eine angeborene »natürliche Großmuth« – wenig überzeugend – überstimmt.129 Diese Unentschlossenheit ist kennzeichnend für Mendelssohns Überlegungen der 1750er und 60er Jahre; es scheint jedoch am Einfluss skeptischer Einwürfe wie derjenigen Abbts und Herders zu liegen, dass er sich, aus Sorge um die Folgen der von beiden vertretenen Theorien, mehr und mehr auf die Seite eines stark moralisch aufgeladenen Menschenbildes schlägt und dabei eine im zitierten Aufsatz aus der Bibliothek angelegte Ambivalenz in der menschlichen Natur schließlich gänzlich unterschlägt. Doch bevor diese Frage entschieden werden kann (s. Kap. V), ist eine differenziertere Sicht auf Mendelssohns psychologische und ästhetische Auffassungen nötig. Denn das zu beobachtenden Schwanken ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass dieser von Lessing so genannte Gewinn an »Realität«, wie auch Guyer festhielt, gefährlich blind auf einem Auge ist: eine bloße Ansammlung an Eindrücken führt nur allzu schnell zu einer Empfindungstheorie Dubos’scher Prägung, in der Bewegtheit und Unterhaltung allein anvisiert sind. Eine weitere Gefahr dabei ist eine totale Loslösung vom Objekt des Gefallens, was wiederum einer Ästhetisierung der Welt gleichkäme, die das Vollkommenheitsideal nur noch in solipsistischer Lesart erlaubt. Dagegen setzt sich Mendelssohn vehement zur Wehr. Und auch die weitere Ausarbeitung des Theorems der vermischten Empfindungen spricht für sein Bestreben, der reinen Motion durch Leidenschaften eine strukturelle Verbindung zwischen sinnlicher und sittlicher Vervollkommnung des Menschen beizufügen (vgl. dazu Kap. III.2). Erste Ansätze dieses Bestrebens lassen sich schon in der ersten Fassung der Rhapsodie von 1761 verorten. Anders als Zelle130 129

Vgl. auch Zelle 1987, 340, der jedoch nicht auf Mendelssohns Auseinandersetzung mit Rousseau, sondern allein auf die Tendenz der »Empfindsamkeit«, die sich hier zeige, eingeht. 130 Vgl. Zelle 1987 Kapitel IV, 3, hier S. 348 (FN 108) und 319, 340 ff, sowie daran anschließend Bergengruen 2001, 49. Die Ansätze werden ebenfalls (Zelle 316) erwähnt; dennoch fragt er nach der »rätselhaften Ungleichzeitigkeit« (ebd., 318) von Entdeckung und erst spät erfolgter Ausformulierung (vgl. ebd., 347–53). Allerdings geht Zelle in seiner Diskussion der 1761er Rhapsodie nicht auf eine Passage ein, in der sich die Anregung Lessings bereits findet. Letztlich plädiere ich mit meiner Interpretation der 1761er Rhapsodie dafür, den »Bruch« zwischen 1761 und 1771 vorsichtiger zu behandeln: Die Ausformulierung der Theorie der vermischten Empfindungen ist erst 1771 befriedigend geleistet; dies soll jedoch nicht heißen, dass die Version 1761 keine diesbezüglichen Anhaltspunkte bietet. Damit ist die Beweislast, weshalb Mendelssohn die entscheidenden Anregungen »erst 1771 aufnahm«, gemindert zu der Frage: warum er sie erst 1771 derart stark ausarbeitete. Ein Faktor hierfür ist möglicherweise die bereits erwähnte Kritik Jerusalems gewesen, der eine bessere Differenzierung zwischen subjektiver und objektiver Sphäre der Betroffenheit bei vermischten Empfindungen gefordert hatte (vgl. Lessing, Werke 8, 160). Wie auch Lessing in seinen Nachbemerkungen anfügt, ist dieser Kritik mit der 1771er Version Genüge getan (ebd. 169). Jerusalems Einwürfe erinnern im Übrigen stark an Mendelssohn selbst, bspw. die Gedanken zur »Idealschönheit« im LB 66: 8. November 1759, JubA V/1, 98–101.

II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«

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in seiner Analyse der einzelnen Fassungen der Rhapsodie betont, findet sich bereits dort eine auch auf Lessings Einwurf bezogene Passage: Um die Faszination des durch ein grauenhaftes Schlachtfeld »watenden« Weltweisen zu erläutern, führt Mendelssohn aus: »Was man bey einem solchen Anblick fühlet, beweiset zur Genüge die Gegenwart einer vermischten Empfindung; die […] zwar nicht so angenehm, aber mit unaussprechlichen Reitz verknüpft ist. So bald wir das Böse nicht mehr als den Gegenstand unserer Wahl betrachten; so kommen unzehliche Bewegungsgründe zusammen, die uns reitzen, es anzuschauen. Es ist nicht nur an sich selbst mit vielem Guten untermengt, sondern unsere Einbildungskraft kann durch den Gegensatz auf tausend ergötzende Vorstellungen kommen, und wenn auch beides nicht wäre; so ist die Kenntnis des Bösen selbst, und der lebhafte Abscheu für dasselbe, eine Vollkommenheit des Menschen, und muß ihm nothwendig Vergnügen gewähren.« (JubA I, 571, Hervorhebung A.P.) Die Verabscheuung des Bösen wird hier als eine Ausübung der Seelenfähigkeit reformuliert, die mit Vergnügen begleitet ist, selbst wenn das Gefühl an sich unangenehm erscheint. Dementsprechend heißt es in den um 1770 entstandenen131 Bemerkungen zu den »Philosophischen Schriften«,[von]1761 zu der Aussage der Briefe, dass die Seele generell die Vorstellung einer Vollkommenheit der einer Unvollkommenheit vorzöge, nur noch kurz und bündig: »Falsch! Die Abneigung geht nicht immer auf das Nichthaben der Vorstellung, sondern zuweilen auf die Mißbilligung des Objekts.« (JubA I, 225; vgl. Zelle 1987, 349) Um dies stärker hervorzuheben, wird Mendelssohn seine Theorie der vermischten Empfindungen 1771 sogleich an den Beginn seiner Ausführungen in der Rhapsodie gestellt haben. Indem er mithilfe einer »feinen Betrachtung« Lessings (Brief Mendelssohns vom 2. März 1757, JubA XI, 108) eine »kleine Unrichtigkeit« (so die Fassung 1771, JubA I, 382) zu korrigieren vorgibt, verfeinert er – und zwar schon 1761 – die Bestimmung des Verhältnisses zwischen angenehmen und unangenehmen Empfindungen und formuliert sie in Anlehnung an die erforderliche Differenzierung zwischen dem Objekt und dem Subjekt der Wahrnehmung folgendermaßen: Eine angenehme Vorstellung, also die Wahrnehmung eines an sich positiv bestimmten Gegenstands wollen wir in zweierlei Hinsichten lieber haben als nicht haben. Wir finden nicht nur die Vorstellung selbst angenehm – auch der Gegenstand, den wir vorstellen, gefällt uns. Zu viele angenehme Vorstellungen können allerdings Langeweile, ja »Eckel« hervorrufen (JubA I, 396). In dieser Hinsicht bewegt sich Mendelssohn nah an der Vorlage Dubos’, aber auch Abbt hatte im Zweifel eine ähnliche Ansicht formuliert: »Mir deucht, diese Begierde [nach sinnlicher Lust] könne eben so gut darauf abzielen, der Seele eine Veränderung ihres Zustandes zu verschaffen. Sobald sie an einen Körper gebunden ist, dessen Nervensystem, in einem gewissen Grade erschüttert, ihr entweder angenehme oder schmerzhafte Empfindungen geben muß; so ist jede 131

Siehe die Angaben zur möglichen Abfassung in JubA I, 605.

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Begierde nach einer solchen unschmerzhaften Erschütterung, so lange diese für den Körper nicht zerstörbar ist, in der Existenz der Seele gegründet, und kann auch auf sie selbst zunächst und unmittelbar sich beziehen.« (JubA VI/1, 14, Hervorhebung A.P.)132 Mendelssohn würdigt diese Aussage in den 1781/82 entstandenen Anmerkungen in Anbetracht seiner eigenen Ausführungen mit einem ebenfalls knappen »Richtig!« (JubA VI/1, 39). Im Phädon betont er, vermutlich um den Folgerungen eines Dubos’schen Sensualismus zu entgehen, dass die Einförmigkeit im Sinne eines Fehlens aller Veränderung zugleich die Vernichtung jeglichen Lebens sei. Zur Aufrechterhaltung der Tätigkeit der Monade ist der Wechsel von »Unordnung und Regelmäßigkeit, Harmonie und Mißstimmung, Angenehme[m] und Widrige[m], Gute[m] und Böse[m]« (Phädon, JubA III/1, 108) als Zeichen des Lebens zu bejahen und notwendig. Deshalb auch das Interesse an den nicht nur angenehmen Vorstellungen, die der Langeweile entgegenwirken können. Bei ihnen (Schiffsuntergängen, Gladiatorenkämpfen etc.) stellt sich das Verhältnis zwischen Vorstellung und Gegenstand der Vorstellung komplizierter dar und verspricht also eine größere Reichhaltigkeit der Erfahrung, mehrere Anstöße zur eigenen Bewertung dieser und der damit erfolgenden Veränderung der eigenen Position bzw. deren Bereicherung. Den Gegenstand einer solchen Vorstellung empfinden wir sicherlich nicht als angenehm – die Vorstellung selbst allerdings unter Umständen sehr wohl. Nur wenn subjektive und objektive Seite der unangenehmen Vorstellung ineins fallen wie bspw. beim akuten körperlichen Schmerz, finden wir keinerlei Vergnügen an der Vorstellung. Besteht demgegenüber eine Differenz zwischen dem Gegenstand der Vorstellung und dessen Wahrnehmung, so kann sich ein Spiel zwischen angenehmer und unangenehmer Empfindung, Freude an der Vorstellung und Abscheu gegenüber dem Objekt der Vorstellung entspinnen. Die Intensität dieser vermischten Empfindung richtet sich dabei auch nach der jeweiligen Gemütsverfassung und Erziehung des Rezipienten, sowie seinem Verhältnis zum wahrgenommenen Objekt: »Das Böse […] ist unangenehm von Seiten des Gegenstandes, als Urbild außer uns betrachtet, indem es, in dieser Beziehung, in einem Mangel, in einer Verneinung etwas Sachlichen bestehet; aber als Vorstellung, als Bild in uns selbst betrachtet, das die Erkenntnis- und Begehrungskräfte der Seele beschäftiget, wird die Vorstellung des Bösen selbst ein Element der Vollkommenheit, und führet etwas angenehmes mit sich […].« (Rhapsodie, JubA I, 386) Solange das Böse also tatsächlich nur als »Bild« existiert, muss es uns nicht direkt betreffen, sondern kann sich sogar angenehm auf die Vorstellungstätigkeit auswirken. Damit artikuliert Mendelssohn den Grundgedanken der Re132

Ähnlich formuliert er es im kurzen Aufsatz Einrichtung der ersten Studien eines jungen Herrn von Stande (zuerst 1767, 21780 in Abbt Werke 5, 65): »Unsere Seele ist so beschaffen, daß nur dasjenige einen starken Eindruck und folglich einen dauerhaften bey ihr macht, was sie mit Vergnügen, oder mit Schrecken, sich vorgestellet hat.«

II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«

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zeptionsästhetik: das ästhetisch Gelungene kann »nicht immer in dem Gegenstande außer uns […] gesucht werden.« (Ebd., 389)133 Zugleich jedoch hat er damit das Empfinden für den Anderen in eine Ferne gerückt, die sein Leiden gleichfalls als ein für uns relevantes ästhetisches Erlebnis erscheinen ließe. Mendelssohn versucht dieser Folgerung entgehen, indem er die Wirkung der vermischten Empfindungen eng mit der Wirkung der Kunst koppelt und damit das Vergnügen am Schrecklichen auf den Bereich des Imaginären eingrenzt. Im Falle des über die Schlachtfelder »watenden« Weltweisen muss allerdings zu dieser Bestimmung ein weiterer Aspekt hinzukommen, der erst im Anschluss an eine umfassende Betrachtung der Rolle von Empfindungen für menschliches Handeln und Erkennen reformuliert werden kann (s. Kap. III.3). Vorerst lässt sich festhalten: Das ästhetische Vergnügen konstituiert sich nach Mendelssohn nicht über das bloße Wahrnehmen eines Gegenstands, sondern über eine spezifische Art der Wahrnehmung, die mit der Theorie der vermischten Empfindungen beschrieben werden soll. Der Gegenstand fordert damit sogar, sich evaluativ zu ihm zu verhalten. Die genauere Bestimmung dieser Doppelstruktur aus Genuss und Reflexion kann nun die Grundbedingungen eines »schönen« Gegenstands – und damit die Hauptgrundsätze der ästhetischen Wirksamkeit aufdecken. Wie noch zu zeigen sein wird, stellt sich Mendelssohn diese ästhetische Wirksamkeit als einen paradigmatischen Fall menschlichen Weltverhaltens vor, dessen Grundkonstituenten sich über die ästhetische Theorie auch für andere Gebiete erschlössen. Um jedoch die Besonderheit der Kunstbetrachtung zu verstehen, ist als weiterer Aspekt Mendelssohns Theorie der Illusion näher zu untersuchen, die die weiteren Schritte zur Lösung von der Objektbindung des ästhetischen Erlebens begründen soll (siehe Kap. II.3). Vor der Hand scheint die Theorie der vermischten Empfindungen eine rein explikative Funktion einzunehmen: sie ist eine differenzierte Analyse menschlichen Vergnügens, ohne zugleich dessen Rechtfertigung innerhalb des Perfektibilitätsparadigmas leisten zu können. Das mit ihr benennbare Phänomen hat auch Platon in gewisser Weise schon in der Betrachtung des gleitenden Übergangs zwischen Lust 133

Auch hier ließe sich ein tiefgreifender Unterschied zur (auch vorkritischen) Auffassung Kants ausmachen. In der Anthropologie-Pillau (WS 1777/78), AA XXV, 789 trennt Kant ebenfalls zwischen dem objektiven und subjektiven Aspekt einer Vorstellung. Er betont jedoch nicht deren Bezug auf eine Vollkommenheit oder gar ein Vergnügen (das er als ein bloß den »privat Sinn« angehendes Ereignis qualifiziert, vgl. ebd., 788), sondern vielmehr den Zusammenhang mit einem Urteil: »Die Unannehmlichkeit ist nicht allein in den Sinnen, sondern auch oft noch mehr im Urtheil. z. E. Der Schmutz liegt nicht in den Sinnen, denn er rührt uns gar nicht an, und doch ist es uns unangenehm, wenn wir in ein schmutziges Zimmer kommen.« Dieses Gefühl scheint, nach Kants weiterer Beschreibung, durch die Erziehung zustande zu kommen. Wichtig ist aber vielmehr der Abstand zwischen Ereignis und Urteil: »Unglück ist nicht das Ubel, so wie es selbst ist; sondern was wir von ihm dencken.« (789)

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und Schmerz reflektiert. Im dritten Abschnitt des Phaidon lässt er Sokrates ausrufen: »Wie seltsam, meine Freunde, scheint es sich doch mit dem zu verhalten, was die Leute Lust nennen. In wie sonderbarem Verhältnis steht sie zu dem, was man als ihr Gegenteil ansieht, zu der Unlust. Zusammen mögen sie beide nicht zum Menschen kommen; wenn man aber dem einen nachjagt und es ergreift, so kann man kaum anders als auch das andere mit zu ergreifen: es sind gleichsam zwei verschiedene Wesen, aber mit gemeinsamem Scheitelpunkt.« (60 A) Mendelssohn reformuliert diese Passage in seiner ›Übersetzung‹, etwas pathetischer, folgendermaßen: »O meine Freunde! welch ein seltsames Ding scheinet das zu seyn, was man Vergnügen nennet! Wie wunderbar! Dem ersten Augenblicke nach ist es den Schmerzen entgegen gesetzt, indem kein Mensch zu gleicher Zeit aus einer Sache Schmerz und Vergnügen schöpfen kann; und dennoch kann niemand eine von diesen Empfindungen haben, ohne unmittelbar darauf die entgegengesetzte zu fühlen, als wenn sie an beiden Enden aneinander befestiget wären.« (Phädon, JubA III/1, 43) Damit scheint er noch einmal die eigene Empfindungstheorie betonen und – durch den Mund Sokrates’ – metaphysisch legitimieren zu wollen. Die Nähe zwischen Schmerz und Vergnügen erscheint im Lichte der vermischten Empfindungen tatsächlich den besonderen Wert dieser sensitiven Grenzerfahrungen zu erklären. Dem schlichten Vergnügen hatte sich Mendelssohn schon in den Briefen entgegengestellt: die »Leichtigkeit« in der Entwicklung einer Idee kann, so formuliert er dort gegen Sulzer, nicht allein ihren ästhetischen Wert ausmachen. Vielmehr entwickelt er zum einen durch das Zusammenspiel von rationaler Analyse und übergreifender, aber lediglich verworrener Gesamtschau einen komplexeren Begriff des Vergnügens, dem schließlich mit der Theorie des Genusses an schrecklichen Gegenständen ein wichtiger Aspekt hinzugefügt wird. Es kann nicht allein um die Lust an irgend einer Form der Leichtigkeit gehen, sondern auch um das Vergnügen an der ganzen Palette menschlicher Empfindungsmöglichkeiten, die Schmerz, Grauen und Schrecken ebenso umfasst wie Mitleid, Liebe und Güte. Allerdings sollen diese genannten Pole menschlicher Empfindungsweisen im Begriff der Vollkommenheit, oder genauer: der eigenen wie nach außen gerichteten Vervollkommnung aneinander gebunden werden. In einem Brief an Ludwig Eugen Herzog von Württemberg vom 17. Juli 1767 formuliert es Mendelssohn – in enger zeitlicher Nähe zum Phädon – schließlich so: »Sinnliches Vergnügen und sinnlicher Schmerz entspringen beyde aus einer Quelle, nur daß die Stärke des Eindruks in die Gliedmaßen verschieden ist. Eine gelinde Anstrengung der Nerven verursacht angenehme, eine heftige unang[enehme] Empfindungen; daher können sie gar leicht in einander übergehen. Es wechseln auch bey allen sinnlichen Empfindungen Verlangen und Genuß, Besitz und Beraubung so unaufhörlich mit einander ab, daß Vergnügen und Schmerz nothwendig an einander gränzen müssen.« (JubA XII/1, 136, vgl. auch Phädon, JubA III/1, 81 f.)

II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«

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Diese ewig wechselnde Verbindung erhält das menschliche Leben, das Mendelssohn nicht mit ruhigem Genuss, sondern mit einer vorantreibenden Kraftäußerung im Wechsel der Seelenzustände verbindet. Damit steht er, wie die einleitenden Ausführungen zu den post-leibnizianischen Theorien zum Vergnügen zeigen, nicht allein. Und auch Locke hat in seinem Essay Concerning Human Understanding die Antriebskraft der »Uneasiness« betont und ihr daneben das Gefühl des »delight« an die Seite gestellt.134 Die Ansicht, dass der Schmerz bzw. die unangenehmen Empfindung im weitesten Sinne als eine notwendige Zutat des Lebens fungiere, hat in dieser Tradition – und Mendelssohns Ansicht mag nicht zuletzt aufgrund ihrer Prominenz bis in die 1780er Jahre als ihr Katalysator gewirkt haben – eine spürbare Auswirkung auf die späteren anthropologischen Theorien gezeitigt. Die Ansicht, dass auch das wahre Vergnügen letztlich auf diesem Mechanismus aufbaue, findet sich so u. a. in Pietro Verris Gedanken über die Natur des Vergnügens, das 1777 von Christoph Meiners übersetzt und anonym herausgegeben wurde, aber auch in Kants Anthropologie (1798): »Zufriedenheit (acquiescientia) während dem Leben […] ist dem Menschen unerreichbar: weder in moralischer (mit sich selbst im Wohlverhalten zufrieden zu sein) noch in pragmatischer Hinsicht (mit seinem Wohlbefinden, was er sich durch Geschicklichkeit und Klugheit zu verschaffen denkt). Die Natur hat den Schmerz zum Stachel der Thätigkeit in ihn gelegt, dem er nicht entgehen kann, um immer zum Bessern fortzuschreiten […].« (AA VII, 234 f., Hervorhebung A.P.) Dieser »Stachel« steckt auch in Mendelssohns Äußerungen zu Sinnlichkeit und ›schlechten‹ Empfindungen, also dem Reiz des Bösen. Sinnlichkeit ist keine Defizienzerscheinung des Menschen, sondern wird vielmehr von ihm als »Blume [der] Vollkommenheit« der menschlichen Natur bezeichnet. Er würde, wie er in einem Brief an Herder vom 2. Mai 1769 (JubA XII/1, 183)135 formuliert, »untröstlich seyn«, wenn ihm ein Philosoph (und hier meint er wohl v. a. die Rationalisten) demonstrierte, dass die Sinnlichkeit jemals vollständig überwunden werden könnte. In der Begeisterung für schreckliche Gegenstände sieht er eben nicht eine böse menschliche Natur, sondern die Äußerung von an sich reinen Empfindungen in einem reizvollen Zusammenspiel. So schreibt er in der bereits erwähnten Passage in der Rhapsodie von 1761: »Ich finde hier nichts als den mächtigen Reiz der vermischten Empfindungen, der zwar durch eine böse Gewohnheit, zu verdorbenen Neigungen Anlaß geben 134

Vgl. Locke, Essay II, 7. Siehe auch Platon, Philebos, auf dessen Nähe zu Locke Proß 1987, 1195 hinweist. Verwandt ist Mendelssohns »Behaglichkeit« auch mit Leibniz’ Begriff des appetitus (Proß 1987, 1191), wenn dieser als affektiv neutral betrachtet wird. Auch in Spinozas Überlegungen ist die Betonung des appetitus zu verzeichnen, vgl. dazu Goetschel 2004, 50 f. 135 Herder selbst verwendet diesen Ausdruck, die Sinnlichkeit als »Blume unserer Vollkommenheit« im vierten Kritischen Wäldchen (entst. 1769, ersch. 1846), siehe Werke 2, 273; vgl. Kap. V.2.

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kann, an sich selbst aber so unschuldig ist, wie jeder Trieb, mit welchem uns die Natur hat gebohren werden lassen.« (JubA I, 572, Hervorhebung A.P.) Schließlich verbindet er im § 79 seiner Leibniz-›Übersetzung‹ Sache Gottes (entstanden um 1784/85) diese Ansicht mit den nervenphysiologischen Überlegungen seines Frühwerks: »Der Schmerz ist eine so heftige Empfindung des Gefühls, daß wir dadurch in unsern gewöhnlichen Vorstellungen gehemmt werden. In dem Sinnengliede ist es allezeit eine wirkliche oder bedrohte Trennung des Stetigen im Nervengebäude, und in der Seele wird diese unmittelbare Empfindung unangenehm, weil sie Unvollkommenheit zum Objecte hat, und durch ihre Heftigkeit Hemmung des Ideenlaufs und also auch subjective Unvollkommenheit zur Folge hat.« (JubA III/2, 252) Dieses Übel beruht also auf einer durchgehenden Einschränkung, hat etwas »bloß Negatives« als Quelle (ebd. § 80). Betrachtet man allerdings die Auflösung der körperlichen Natur, die im Schmerz sich darstellt, aus objektiver Perspektive, so zeigt diese Auflösung nicht reine Zerstörung, sondern einen Übergang zu neuer Organisation an (vgl. § 75). »Alles, was die Kräfte des Leibes und der Seele bei Hervorbringung und Empfindung desselben [des Schmerzes] thun, ist wirklich gut. Jede Kraftäußerung ist eine Realität […]«. Doch Mendelssohn bleibt an dieser Stelle, die geeignet scheint, das Strebensmoment einer ausgerechnet durch Schmerz angetriebenen Seele zu verabsolutieren, nicht stehen, sondern fügt hinzu: »aber das Unvermögen, die Hemmung und Einschränkung unserer Kräfte, die dabei mit unterlaufen, machen den Schmerz zum Uebel.« (JubA III/2, 253) Auch deshalb ist eine Theorie des Übergangs zwischen Vergnügen und Schmerz eher geeignet, die menschliche Empfindungs- und Bewertungstätigkeit zu erfassen. Das Hinübergleiten in die ›objektive‹ Perspektive der gottähnlichen (und gottgebundenen) Weltbetrachtung, die wiederum die Realität des Schmerzes als eines persönlichen, reinen Übels anzunehmen erlaubt, zeigt allerdings, wie schnell Mendelssohn bereit schien, den Beweis der Güte aller menschlicher Regungen und ihre Einpassung ins Vollkommenheitsparadigma aus der Metaphysik zu entlehnen. Eine ›subjektive Theodizee‹, die Erklärung des Übels, oder des menschlichen Gefallens am Übel auf der Basis eines sich und seine Umwelt vervollkommnenden Individuums ist solcherart noch nicht erreicht.

II. Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie »Nunmehr ist es Zeit die Grentzen der Vollkommenheit und der Schönheit zu trennen, und beide in ihrer wahren Gestalt zu zeigen.« Mendelssohn, Briefe über die Empfindungen, JubA I, 58

Wie aus dem vorangegangenen Teilkapitel hervorgehen sollte, münden Mendelssohns Überlegungen zur Theorie des Vergnügens als einer Form der Wahrnehmung von Vollkommenheit – oder einer vollkommenen Wahrnehmung – in eine Diskussion über die Theorie des Vergnügens an Gegenständen, die nach ›objektiven‹ oder moralischen/sittlichen Gesichtspunkten eher Missbilligung verdienten. Die Formen ästhetischer Welterschließung erstrecken sich dabei auch, wie die vermischten Empfindungen zeigen, auf ›hässliche‹ oder ›unvollkommene‹ Gegenstände, ja, können darüber hinaus in diesem Bereich sogar eindrücklicher sein. Damit versucht Mendelssohn, der Reichhaltigkeit und gleichzeitigen Ambivalenz menschlicher ästhetischer Welterfassung gerecht zu werden, ohne eine grundlegende Bindung an das Vollkommenheitstheorem aufgeben zu müssen. Hinzu kommt eine Diversifizierung der Anwendungsbereiche des Vollkommenheitsparadigmas in Bezug auf seine Wirksamkeit. Vollkommenheit lässt sich in einer vollkommenen Verfasstheit des Werks, in einer vollkommenen Beschäftigung des Rezipienten, oder in dem Verweis des Werks auf seinen vollkommenen Schöpfer darstellen bzw. erreichen. »Einem jedem endlichen Dinge kömt eine dreyfache Form zu. Eine in dem Geiste des Künstlers, der es hervorbringen will, die zwote in der Natur der Dinge, allwo sie mit der Materie verbunden ist, und die Letzte in dem Geiste des Betrachtenden.« (Zu einem Laokoon-Entwurf Lessings, JubA II, 255, entstanden ca. 1762/63) Diese Dreiteilung der ästhetischen Wirkung, die umfassender für alle Bereiche menschlicher Wahrnehmung gelten kann136, ist für das Verständnis von Mendelssohns Version einer Anthropologie von großer Bedeutung. Im Folgenden soll deshalb seine Auffassung von Kunstwirkung und Kunstrezeption (1), sowie die Bedeutung des Genie-Gedankens (2) herausgearbeitet werden. Die Übersteigerung der Vollkommenheit im Konzept des Erhabenen (3) schließt diese Überlegungen zu einer anthropologisch fundierten Ästhetik ab. Die Diskussion über die Kunst und ihren ›Nutzen‹ war im 18. Jahrhundert ein überaus beliebtes und hart umkämpftes Feld. Hier standen sich nicht nur unterschiedliche Hintergrundmetaphysiken gegenüber, sondern auch divergierende Auf136

Denn auch die Erschließung der Welt erfordert ein Bewusstsein von einem ›Außer-mir‹, das Mendelssohn wie viele andere Zeitgenossen als eine Wahrnehmung der göttlichen Schöpfung auffasste.

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

fassungen von Definition und Determination des Menschen137, die sich letztlich bis in die politischen und gesellschaftstheoretischen Positionen der Teilnehmer dieses Streits niederschlugen. Wiederum sind auch das Erstarken der Psychologie sowie der medizinisch-anthropologischen Physiologie für die Erschließung dieses Kampfplatzes von Bedeutung. Die Neubegründung von Gesellschaft und der damit einhergehenden Frage nach der Rolle der Bürger in ihr, sowie die physiologische Neuentdeckung des Menschen und seiner Motivationsstruktur waren damit zwei Motivationen, sich mit der Rolle der Kunst erneut auseinander zu setzen (vgl. Geyer-Kordesch 1977, 5). Eine ästhetische Anthropologie musste demnach zwei unterschiedliche Antworten auf die Frage nach der Bedeutung des Menschen finden. Mendelssohn war sich dieses prekären Zusammenhangs der Fragestellungen – bzw. ihrer Konkurrenz – durchaus bewusst. Auch seine tiefsitzende Abneigung gegen Formen der Instrumentalisierung wird ihn in dieser Hinsicht motiviert haben, den Streit zwischen naturrechtlich-normativen und physiologisch orientierten Menschenbildern auf seine Art zu beantworten. Programmatisch sind in diesem Sinne die einleitenden Bemerkungen der Hauptgrundsätze zu verstehen, die den Nutzen der Ästhetik für die Lehre vom Menschen und eine positive Nutzung dieser Erkenntnisse explizieren. Mehr noch, bietet die ästhetische Erfahrung, wie im vorangegangenen Teilkapitel bereits anklang, eine exklusive Möglichkeit zur Einsicht in die menschliche Natur: »Die schönen Künste und Wissenschaften sind für den Virtuosen eine Beschäftigung, für den Liebhaber eine Quelle des Vergnügens, und für den Weltweisen eine Schule des Unterrichts. In den Regeln der Schönheit, die das Genie des Künstlers empfindet, und der Kunstrichter in Vernunftschlüsse auflöset, liegen die tiefsten Geheimnisse unserer Seele verborgen. Jede Regel der Schönheit ist zugleich eine Entdeckung in der Seelenlehre. Denn da sie eine Vorschrift enthält, unter welchen Bedingungen ein schöner Gegenstand die beste Wirkung in unser Gemüt tun kann; so muß sie auf die Natur des menschlichen Geistes zurückgeführt, und aus dessen Eigenschaften erklärt werden können. Wenn also der Weltweise die Spuren der Empfindungen auf ihrem dunkeln Wege verfolgt; so müssen sich ihm neue Aussichten in der Seelenlehre auftun, die er sonst durch Vernunftschlüsse und Erfahrungen nie entdeckt haben würde. Die menschliche Seele ist so unerschöpflich als die Natur; das bloße Nachdenken kann unmöglich alles ergründen, was ihr zukommt, und die alltägliche Erfahrung pflegt selten entscheidend zu sein. Die glücklichen Augenblicke, in welchen wir die Natur gleichsam auf der Tat ertappen, entwischen uns niemals so leicht, als wenn wir uns selbst beobachten

137

Vgl. zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie Kap. I.1, 52 f., FN 52.

II.3 Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie

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wollen; und wenn sie da sind, so ist die Seele allzu sehr mit andern Angelegenheiten beschäftiget, als daß sie wahrnehmen könnte, was in ihr selbst vorgehet. Man wird also die Erscheinungen, bei welchen die Triebfedern unsrer Seele in der größten Bewegung sind, sorgfältig zergliedern, und mit der Theorie vergleichen müssen, um auf diese ein neues Licht zu verbreiten, und ihre Grenzen durch neue Entdeckungen zu erweitern. Bei welchen Erscheinungen sind aber wohl alle Triebfedern der menschlichen Seele mehr in Bewegung, als bei den Wirkungen der schönen Künste?« (JubA I, 427 f.. Hervorhebung A.P.) Demnach bietet also die Erfahrung und Untersuchung des Schönen Kenntnisse über den Menschen, die einer auf anderen, abstrakteren Wegen verfahrende Seelenlehre nicht erreichen kann. En passant erteilt Mendelssohn darüber hinaus der Superiorität der »psychologia rationalis« eine Absage. Letztlich zielt seine Untersuchung der Ästhetik auf eine Erhebung des Menschen ab; seine Überlegungen zum Erhabenen werden dies besonders deutlich hervortreten lassen. Es ist allerdings, nimmt man seine als ästhetischen Schriften bezeichneten Werke zur alleinigen Grundlage, unklar, welcher Art der hier anvisierte Mensch sein soll; das vorliegende Kapitel wird dieses Bild näher umreißen. Es geht Mendelssohn im Hinblick auf das Schöne um ein komplexes Phänomen, das sich aus der Konstitution und (Re-)Präsentation138 des Gegenstands, seiner Wirkung und der Art seiner Wahrnehmung in spezifischen Umständen ergibt und für das er auf die Theorie der vermischten Empfindungen zurückgreift, die eine Differenzierung von Konstitution des Gegenstands, Art seiner Hervorbringung und seiner Wirkung auf den Betrachter zulässt. Im vorliegenden Teilkapitel soll die Entwicklung dieses Gedankens in Mendelssohns Werk, sowie in Auseinandersetzung mit benachbarten Ansichten nachvollzogen werden. Wie bereits in Kap. II.2 erwähnt, wird sich eine einheitliche, gar systematische Theorie der Ästhetik in einem bestimmten Werk Mendelssohns kaum finden. Vielmehr lässt sich der Reichtum an Themen und Aspekten, die er immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln zum Gegenstand der Analyse macht, letztlich unter die Frage subsumieren, was das ästhetische Erleben für den Menschen bedeutet. Es geht um Wirkungsmechanismen, um das Zusammenwirken von Emotion und Ra-

138

Es sei an dieser Stelle auf die ausgezeichnete Analyse von Wellbery 1984 verwiesen. Dieser hat die Grundstrukturen einer repräsentationalistischen Ästhetik als eines Paradigmas aufklärerischer Kunstphilosophie auch am Beispiel Mendelssohns herausgearbeitet. Interessant im gegebenen Zusammenhang scheint mir, dass er (ebd., 46) implizit auf den Wert einer semiotisch ausgerichteten Theorie für einen anthropologischen Ansatz hinweist. Ihm zufolge bildet die menschliche Gemeinschaft (»human community«) als eine idealisierte (!) Gruppe (»idealized group«) die Grundlage für das Basistheorem, der Darstellung der Welt durch die Sinnlichkeit, der sich Künstler wie Rezipient bedienen.

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

tio, und schließlich um die freie Form der Welterfassung, die der ästhetische Abstand zu bieten vermag. Die Anbindung an die Vollkommenheitsphilosophie ist dabei bei weitem nicht so eindimensional wie man denken möchte. So vermerkt Mendelssohn entschieden in seinen Anmerkungen zu Sulzers Essai sur le bonheur des êtres intelligens: »Was gehen uns, in so weit wir nur die sinnlichen Vergnügungen betrachten, die Regeln der Ordnung und der Schönheit des Gantzen an?«139 Diese Scheidung der Schönheit von der universellen Vollkommenheit findet sich auch im Diktum der Briefe über die Empfindungen. Demnach musste sich Gott bei der Weltschöpfung durchaus nicht den menschlichen Begriffen der Schönheit anbequemen – vielmehr steht die Welt unter einem umfassenderen Gesetz der Zweckmäßigkeit, in dem die Schönheit ihr begründbares Eigenrecht besitzt (vgl. den fünften Brief, JubA I, 58– 62). Zum einen löst dies die Kunst aus der Bindung eines eindimensionalen Vollkommenheitsparadigmas, das eine Theorie der Kunst auf eine Theorie des Schönen als einer direkten und genauen Abbildung des Vollkommenen (vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik §§ 18, 152, 751, 822) festlegt; zum anderen setzt dies den Blick auf die Vielfalt an Formen der Zweckmäßigkeit, die dem Menschen mehr oder weniger klar zugänglich sind, frei.140 Am deutlichsten hat Ernst Cassirer die Stoßrichtung dieser Ästhetik herausgehoben: »Nach der Seite der Metaphysik hin schließt Mendelssohns Begriffsbestimmung der Schönheit die Folgerung in sich, daß die Anschauung der Schönheit dem Menschen allein vorbehalten sei, ja daß sie es ist, die das eigentlich Charakteristische, das Spezifische der menschlichen Erkenntnisweise und Erkenntnisform ausmacht. Mit diesem Gedanken ist Mendelssohn zu einem der Hauptbegründer jenes ästhetischen Humanismus geworden, der für die deutsche Ästhetik des 18. Jahrhunderts kennzeichnend ist und der seine methodische Rechtfertigung und seinen klassischen Abschluß in Schillers ›Briefen über die ästhetische Erziehung‹ gefunden hat.« (Ders. 1929, 60 f.) Unter Rückgriff auf die angeführte Passage in den Briefen betont auch Cassirer die besondere Position des Schönen für Mendelssohn. Denn bedeutet ihr 139

JubA II, 29. Diese Notizen entstanden um 1755 (vgl. Altmann 1969, 108 f.). Lessings wie Mendelssohns von theologischen Implikaten weitgehend freie »Kunsttheorien zeigen, dass die Differenzen zwischen Kunst und Rationalität nicht zu einer antirationalistischen Ästhetik führen müssen. In diesem Zusammenhang ist auch Mendelssohns These zu sehen, dass der Schöpfer die Welt nicht nach Gesetzen der Schönheit geschaffen habe. Die sinnliche, äußere Schönheit, unter der sich grässliche Gestalten verbergen können, sei nur die anthropozentrische Perspektive, die göttliche könne nur durch Vernunft erfasst werden. Mit dieser Anthropomorphisierung des Schönheitsbegriffs beginnt dessen Emanzipation von der Vollkommenheit.« (Müller 2004, 75) Es sei hier allerdings betont, dass bei Mendelssohn selbst nicht von einer solchen »Emanzipation« gesprochen werden kann, sondern dass vielmehr die Umformulierung des Ästhetik-Paradigmas als schöne Nachahmung (und nicht mehr: Nachahmung des Schönen) samt ihrer emotivpsychologischen Wurzeln in einer dynamischen Lesart der Vollkommenheit als Vervollkommnung wurzelt, vgl. Kap. I und II.1. 140

II.3 Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie

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eingängiges »Einerley des Mannigfaltigen« (JubA I, 58) prima facie einen niedrigeren ontologischen Status als die vollkommene Einheit der Mannigfaltigkeit der Welt, so ist ihr Wert für die menschliche Erkenntnis, die sich im Erleben des Schönen der intuitiven Erkenntnis Gottes nähert, umso größer. »Aber was im absoluten Sinne als Schranke des Menschen angesehen werden muß, das bedeutet andererseits im relativen Sinne erst seine eigene Selbstvollendung.« (ebd., 61) Mendelssohn interessiert der ›menschliche‹ Aspekt des Schönen – ja, mehr noch, ist doch eigentlich das Schöne allein für den Menschen ein Modus sinnlichen Erlebens. Mendelssohns Theorie der Ästhetik ist deshalb, das sei vorab betont, keine Poetik im engeren Sinne. Poetologische Techniken interessierten ihn nur am Rande, abgesehen von einschlägigen Passagen in den von ihm mitherausgegebenen Zeitschriften. Eine Technik hat bei ihm immer einen über sich selbst und ihre bloß affektive Wirkung hinausweisenden Zweck; sie bestimmte niemals in Gänze den Produktionsprozess eines Kunstwerks, den Mendelssohn vielmehr unter Rückgriff auf einen an Shakespeare orientierten Genie-Gedanken und auf die stärkere Betonung des Rezeptionsaspekts reformuliert. Hinsichtlich dieses Schwerpunkts ist es darüber hinaus eher die Kunst, Techniken zu verstecken oder zu überspielen – um sie an geeigneter Stelle in Szene zu setzen und somit wiederum eine psychologisch erklärbare Brechung der völlig blinden, weil der Illusion verfallenden Rezeption zu erreichen, die seine Überlegungen des Produktionsaspekts bestimmten. Techniken dienen als Hinweis auf den Werk-Charakter der Kunst; das wirkliche ästhetische Potential geht aber klar über eine regelgemäße Anwendung spezifischer Techniken hinaus und erschließt sich erst über die Wahrnehmung des ›Schönen‹.141 Um Mendelssohns Überlegungen zur Ästhetik angemessen zu konturieren, ist das Moment der Entwicklung seiner Philosophie von entscheidender Bedeutung (vgl. Pollok 2006, XIV). Er scheint sich zunehmend der besonderen Stellung der Ästhetik, bzw. ihrem differenzierten Verhältnis zur Vollkommenheit und auch zur Vervollkommnung klarer geworden zu sein. Dabei spielen die in Kap. II.2 erwähnten Überlegungen Sulzers, Dubos’, Lessings, aber auch der englischen Empiristen und unter ihnen vor allem Burke eine entscheidende Rolle (vgl. den vorangegangenen Abschnitt in Kap. II.2, S. 183). So ist die Vorarbeit zu einer Rezension von Burkes Philosophical Enquriy into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful (1757), in deren »Beschluß« Mendelssohn skizziert, wie er nach dieser Lektüre die Problematik des Erhabenen abzuhandeln gedenke, von besonderem

141

Hier von einer »Wahrnehmung des Ästhetischen bzw. des ästhetisch Relevanten« zu sprechen, wird aus dem naheliegenden Grund, bloße Tautologien zu produzieren, unterlassen. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass das »Schöne« in Mendelssohns Theorie tatsächlich die Grenzen eines auf das Hübsche, Angenehme und in sich Vollkommene gerichteten Schönheitsbegriffs überschreitet.

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Interesse.142 Die dort entwickelten Gedanken übernimmt Mendelssohn später in die modifizierten Ausgaben der größeren Abhandlungen, die man als die konzentrierteste Fassung seiner Ästhetik werten kann. Dabei sind die Fragen nach der Kunstwirkung (im Modus der Illusion), ihrer künstlerischen Erschaffung sowie der Rezeptionsmechanismen des Komplexes Kunstwerk-Künstler von herausragender Bedeutung. Alle genannten Bereiche erfuhren in den Jahren zwischen 1755 und 1771 entscheidende Veränderungen, die sich nicht zuletzt auf die immer schärfere Konturierung von Mendelssohns Menschenbild zurückführen lassen. Indem der Mensch als ein prinzipiell ›unfertiges‹ Wesen verstanden wird, dem die Vereinbarung der einander diametral entgegengesetzt erscheinenden Forderungen von Sinnlichkeit und Verstand obliegt, erhält auch der Prozess der Vervollkommnung vielfältige Dimensionen. Die Art und Weise seines Ablaufs, wie ihn Mendelssohn in der Bestimmungsdebatte nur unzureichend konturierte, kann mit Blick auf die Ästhetik näher beschrieben werden.

1. Das Illusionspostulat In einer ersten Annäherung an Mendelssohns an die Theorie der vermischten Empfindungen anschließende Kunstphilosophie sind die 1757 erschienenen Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften – sie werden 1761 und 1771 überarbeitet und unter dem Titel Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften in die Philosophischen Schriften aufgenommen – von Bedeutung. In Anlehnung an Batteux’ Intention, einen einzigen Grundsatz der Kunst festzusetzen, befasst sich dieser Text mit der Frage, was die »Hauptgrundsätze« der Kunst sein können. Eine Antwort darauf hängt vornehmlich davon ab, welche Absichten mit einer Theorie der Kunst verfolgt werden. Mendelssohn formuliert seine Grundrichtung, indem er nach den Wirkmechanismen der Kunst fragt und damit zugleich die Perspektive auf den Menschen zurücklenkt, wie die zitierten Eingangsbemerkungen bereits andeuten. Was gefällt in der Kunst und warum? Wie nehmen wir Kunstwerke wahr und wie beurteilen wir ihre ästhetische Qualität? Und welche Rückschlüsse lassen die Art und der Gegenstand des Gefallens auf die Bestimmung des Menschen zu? In Anlehnung an die Argumentation der Briefe über die Empfindungen und die Trauerspieldebatte ließe sich hier zuerst feststellen: Kunst soll Leidenschaften erregen (vgl. Kap. II.1 und 2). Fraglich ist allerdings, wodurch Kunst dies leistet und ob sich hierfür ein universales Prinzip benennen lässt. Dabei greift Mendelssohn auf die in 142

Eine sehr viel ›diplomatischer‹ gehaltene Rezension erschien im selben Jahr in der Bibliothek, Bd. III, 2; vgl. JubA IV, 216–36.

II.3 Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie

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II.2 erwähnte rationalistische Vorstellungstheorie zurück: Eines der Grundvermögen der Seele sei es, Vorstellungen nicht nur einfach zu haben, sondern diese mit »einem bestimmten Grade des Wohlgefallens, oder Mißfallens« zu begleiten (JubA I, 428). In der Vorstellungstätigkeit selbst findet sich also immer das bereits erwähnte evaluative Moment, das als eine Vorstellung »lieben« oder »verabscheuen« empfunden wird und das für den Grundsatz der schönen Künste fruchtbar gemacht werden soll. Zuerst knüpft Mendelssohn 1757 an seine Theorie des Vergnügens an, die er in den Briefen entwickelt hatte: Vergnügen gewinnt die Seele durch einen Eindruck »der Vollkommenheit, der Uebereinstimmung, und des Unfehlerhaften« (JubA I, 430). Eine Vollkommenheit in den schönen Künsten muss ein in die Sinne fallendes, mannigfaltige Teile enthaltendes, aber in sich übereinstimmendes Ganzes sein. Ist diese vollkommene Vorstellung klar und verworren, handelt es sich um eine »anschauende« Erkenntnis, die wir von einem Gegenstand direkt (schöne Natur), oder indirekt vermittelst eines »Zeichens« von dem Gegenstand (nachgeahmte Natur) gewinnen können. Gegen Batteux und auch Gottsched143 plädiert Mendelssohn aber für mehr als eine bloß vollkommen scheinende Naturnachahmung. Ihm geht es vielmehr um eine strukturelle, nicht abmalende Mimesis. Damit stellt er sich auch der Wolffschen Ansicht des ästhetischen Vergnügens als einem Wohlgefallen an der Übereinstimmung zwischen Ur- und Abbild entgegen. Außerhalb des Rezipienten gelegene Erklärungsmomente interessieren ihn dabei wenig, worauf auch seine sich verstärkende Anleihe an Baumgarten hindeutet. Für Mendelssohn ist es das Wesen der schönen Künste, dass sie durch einen »sinnlichen Ausdruck der Vollkommenheit« (JubA I, 170), wie er es 1757 formuliert, Vergnügen bereiten. Die späteren Fassungen zeigen, dass er die hier nur angedeutete Reminiszenz an die Definition Baumgartens vom Gedicht als einer »sinnlich-vollkommene[n] Rede«144 stärker in den Vordergrund rückt. So spezifiziert er in der 1761er Fassung

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Siehe dessen Versuch einer Critischen Dichtkunst (1729), 132: »Die Schönheit eines künstlichen Werks, beruht nicht auf einem leeren Dünkel; sondern sie hat ihren festen und nothwendigen Grund in der Natur der Dinge. Gott hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst auch was schönes hervorbringen will, so muß sie dem Muster der Natur nachahmen.« Mendelssohn fügt dem die »Grundsätze der Seelenlehre« hinzu, um damit eine rezeptionsästhetisch gestützte Kunstbetrachtung näher zu bestimmen. 144 Baumgarten, Meditationes, § 9: »Oratio sensitiva perfecta est POEMA.« Siehe auch Mendelssohns Besprechung von J. A. Schlegels Abhandlung Von dem höchsten und allgemeinsten Grundsatze der Poesie (11751, 21759) im 87. LB vom 28. Februar 1760 (JubA V/1, 147–51). Letztendlich habe alle Differenzierungsarbeit Schlegels, bei rechtem Lichte betrachtet, wenig ausgerichtet. Auch wenn man das poetisch Gute (vgl. S. 150) als einzigen Gegenstand will gelten lassen, wird man diesen wieder als vollkommen sinnlich beschreiben müssen. »Sehen Sie, wie mislich das Unternehmen ist, eine kurze wohlgefügte Erklärung auszudehnen? Man will das Gemälde aufheitern, und giebt ihm ein falsches Licht.« (151)

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der Hauptgrundsätze: »Das Wesen der schönen Künste und Wissenschaften besteht in einer künstlichen sinnlich-vollkommenen Vorstellung, oder in einer durch die Kunst vorgestellten sinnlichen Vollkommenheit« (JubA I, 431) Es ist im Folgenden zu klären, was diese Verschiebung im Hauptgrundsatz, die Berücksichtigung einerseits der Vollkommenheit der Vorstellung selbst sowie andererseits der künstlerischen Darstellung einer Vollkommenheit, bedeutet.145 In der Fassung von 1757 betont Mendelssohn, dass dieser »sinnliche Ausdruck« in der Nachahmung von etwas Vollkommenem liegt. Doch auch die Nachbildung selbst soll vollkommen sein, also »alle Theile des Gegenstandes getreu« (JubA I, 170) abbilden. ›Schön‹ wird der Gegenstand also einerseits durch die Wahl eines schon in der Natur schönen Sujets und andererseits durch seine vollkommenen Darstellung. Allerdings lassen sich die Nachahmungen untereinander noch differenzieren, denn die schlichte Ähnlichkeit mit dem Urbild ist nur eine einfache Vollkommenheit. »Wir finden mehr zu bewundern an einer Rose eines Huysum, als an dem Bilde, das uns jener Fluß, von dieser Königinn der Blumen vorspiegelt« (ebd.). Das heißt, dass eine künstlerische Nachahmung einer bloß künstlichen Spiegelung vorgezogen wird. Vergnügen bereitet die Natur selbst, oder die durch den Künstler hergestellte Schönheit. Bei letzterer bewundern wir nicht nur die reine Ähnlichkeit, sondern auch die Vollkommenheit des Künstlers, der die Nachahmung hergestellt hat. Der Bezug zur Vollkommenheit erweist sich damit als mehrschichtig und reflektiert in der künstlerischen Nachahmung den göttlichen Schöpferbezug. In verschiedenen Anmerkungen der Folgezeit – und parallel zur Ausformulierung der Theorie der vermischten Empfindungen – hat Mendelssohn diesem Tableau ein weiteres Moment hinzugefügt und nimmt damit die Konstitution des Schönen selbst in Hinblick auf ihren emotionalen Effekt in den Blick. In einer später auf Anregung Johann Jacob Engels entstandenen Skizze Von der lyrischen Poesie (um 1778) festigt sich diese Perspektive: »In keiner Dichtungsart kömmt die Natur der Kunst so nahe, als in der lyrischen. Denn wenn der Dichter wirklich in dem besungenen Gemüthszustande sich befindet, so ist er sich selbst Gegenstand, also causa objectiva und causa efficiens zugleich.«146 Die Naturnachahmung geht in ihrer höchsten Form

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Guyer betont in dieser Hinsicht Mendelssohns Rückgriff auf Baumgarten wie Wolff als unterschiedliche Quellen des Vergnügens. Mendelssohn »took up Baumgarten’s tripartite analysis of artistic beauty, with its emphasis on the pleasurable potential of the sign as well as object, but used Wolff’s definition of pleasure an Baumgarten’s definition of beauty interchangeably.« (Guyer 1993, 86; vgl. hier S. 181) Es soll hier gezeigt werden, dass Mendelssohn beide Begriffe nicht nur abwechselnd benutzte, sondern sie zur Spezifizierung bestimmter Kontexte verwendete: er unterscheidet mit ihnen die Vollkommenheit des Gegenstandes von der des Künstlers. 146 Von der lyrischen Poesie. JubA III/1, 337; An diesem Fragment wird, ebenso wie bzgl. der Hauptgrundsätze, Mendelssohns grundsätzliches Interesse an der Verknüpfung von Psychologie und Ästhetik sichtbar. Nicht nur, dass er auch in einer Untersuchung über lyrische Poesie einige

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also gar nicht mehr nach außen, sondern nach innen; geschieht nicht als Abbildung, sondern aus einem Prinzip. Nachahmung ist dann Darstellung und Erweckung eines Affekts. In eben diese Richtung weist schon eine Anmerkung im LB 62 vom 18. Oktober 1759. Sulzer, so heißt es dort, definiert die »Theorie der Malerkunst« als eine Lehre, »wie das Schöne in sichtbaren Gegenständen durch die Zeichnung und Farben auf einen flachen Grund vorzustellen sey« (JubA V/1, 96). Mendelssohn hält dagegen, dass die »in der Natur« nicht schönen, ja, sogar ekelhaften Gegenstände ebenfalls ein mögliches Sujet der Malerei sind. Seine Modifikation der Definition lautet entsprechend: »Die Theorie der Malerkunst lehret, wie die sichtbaren Gegenstände u. s. w. schön vorzustellen sind.«147 Damit wird nicht nur der Rückgriff auf die vermischten Empfindungen, sondern wiederum die stärkere Anbindung an Baumgarten deutlicher: Die Aufnahme der auch schrecklichen Affekte in die Dichtung befürwortet dieser bereits in den Meditationes (vgl. §§ 24–27). Affekte zu erregen, so Baumgarten dort, ist in dem Sinne »poetisch«, als dass eine Fülle an Merkmalen eines Gegenstandes verworren vorgestellt werden und er damit als »extensiv klar« (§ 16) erscheint. Die verworrene Vorstellung von etwas »für uns Gutes oder Schlechtes« ist affektiv (§ 25), und was derart vorgestellt wird, »darin wird für uns mehr vorgestellt, als wenn dies nicht so vorgestellt würde« (§ 26). Wichtig ist hier zweierlei: Zum einen ist ein Affekt in diesem Sinne keine dunkle, sondern eine verworrene Empfindung, die eine diskursive Durchdringung ihrer Komplexität virtuell erlaubt, wenngleich nicht erfordert. Zum anderen ist Baumgarten hier tatsächlich nicht an einer moralisierenden Wirkung des »Gedichts« interessiert, sondern an seinen Konstitutionsbedingungen und dessen ›psychologisch‹ begründbaren Effekten. Die schöne Vorstellung im Sinne von Baumgarten und auch Mendelssohn soll damit v. a. bewegen – und wenn auch in den poetischen Darstellungen prima facie Unvollkommenes enthalten ist. Schön heißt also nun: auf eine spezifische Weise vollkommen. In der Fassung von 1761 hat Mendelssohn den Grundsatz, dass das Wesen der schönen Künste der sinnliche Ausdruck der Vollkommenheit sei, folgendermaßen erweitert: »Die Gegenstände können entweder in der Natur anzutreffen, oder erdichtet seyn. In beiden Fällen muß der Ausdruck, dessen sich die Kunst bedienet, unsere Sinne täuschen. Das heißt, wir müssen eine solche Menge von Merkmapsychologische Betrachtungen voranschickt (ebd., 335 ff.), sondern auch, dass die Gattungseinteilung eben an den Kriterien der Psychologie vollzogen wird. 147 Ebd. Neben diesem Aspekt, der die Wahl des Gegenstandes, aber auch die spezifische Unterscheidung zwischen Gegenstand in der ›Natur‹ und der Kunst (differenziert als »Gegenstand« und »Vorwurf«) beinhaltet, vermisst Mendelssohn auch einen rezeptionsästhetischen Aspekt: den der »Rührung«, der durch das Zusammenspiel von Illusion und vermischten Empfindungen erreicht werden soll. Ich komme im Folgenden darauf zurück.

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len auf einmal wahrnehmen, daß wir die Sache selbst uns lebhafter vorstellen, als die ausdrückenden Zeichen; und zwar um so viel lebhafter, daß unsere Sinne wenigstens einen Augenblick, die Sachen selbst vor sich zu sehen glauben. Dieses ist der höchste Grad der anschauenden Erkenntnis, die man die ästhetische Illusion nennt.« (JubA I, 576 f.; vgl. Von der Herrschaft über die Neigungen, JubA II, 154 f.) Die Zuspitzung ist augenfällig: Kunst ist demnach nicht nur Nachahmung, sondern auch Täuschung, indem das in ihr Dargestellte nicht nur als Natur vorgestellt wird, sondern mit ihr wirkungsäquivalent sein soll. Problematisch bleibt, worauf Lessing Mendelssohn schon im Briefwechsel aufmerksam gemacht hatte, nämlich dass die Durchbrechung der Sinnestäuschung immer einen psychologisch negativen Effekt haben müsste. Lessing formuliert dies augenzwinkernd mit der folgenden Szene (Brief vom 2. Februar 1757, JubA XI, 106): wer das Bildnis einer schönen Frau genießt, sich dann aber der Sinnestäuschung bewusst wird, wird missmutig. Der Liebhaber des Schönen zöge demnach nicht nur immer die ›echte‹ Frau der gemalten vor. Er würde demnach auch keinen Grund haben, schöne Kunstwerke zu betrachten. Gleichzeitig könnte auch die Nachahmung des Hässlichen nicht gefallen, da sie nichts Vollkommenes vorstellt – es gibt allerdings genügend Beispiele an sich hässlicher Gegenstände, die lohnenswerte Sujets der Kunst sind, namentlich in der bildenden Kunst und im Drama. Letztlich sei, so Lessings Fazit, Mendelssohns Erklärung des Gefallens an Kunst noch unzureichend. Aus der Perspektive von dessen anthropologischem Interesse betrachtet scheint es allerdings vielmehr der Fall zu sein, dass Mendelssohns Auffassung auf eine andere Frage antwortet als diejenige seines Freundes. Letzterer hatte sich, zumindest in den frühen 1760er Jahren, für das Postulat der totalen Illusion zur Besserung des Schaubühnenbesuchers ausgesprochen (vgl. Zelle 1987, 332 f.). Mendelssohn hingegen zielt auf ein kompliziertes Zusammenspiel von Täuschung und Illusionsbrechung zur Versicherung eines rein ästhetischen Effekts, der, so paradox dies klingen mag, gerade wegen seiner moralischen Uninteressiertheit umso eingehender zu wirken vermag und den ganzen Menschen erfasst. Mit der Fassung der Hauptgrundsätze von 1761 hat er jedoch nicht nur der Ansicht Lessings, sondern sogar seinem eigenen, in der Abhandlung Von der Herrschaft über die Neigungen vertretenen Grundsatz widersprochen. Bereits dort hatte er nämlich die Ungleichheit von Kunst und Natur betont: Kunst müsse eine Nachahmung der Natur sein, nicht aber diese selbst (JubA II, 155). Soll aber schöne Kunst gefallen, indem sie qua Sinnestäuschung wie Natur erscheint, so verschwimmt dieser Unterschied. In der Fassung von 1771 wird seine Intention schließlich deutlicher, indem er hier das Primat des Wirkungsaspekts stärker hervorgehebt. Damit verschiebt sich die Perspektive: Kunst soll zwar in der Wirkung derjenigen der Natur gleichkommen, die Mittel dazu ergeben sich allerdings auf andere Weise. Denn die Zeichen, mit denen Kunst Leidenschaften hervorrufen will, sind nicht abbildend, sondern eben

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wirkungsäquivalent.148 Was diese Forderung besagen soll, muss unter Berücksichtigung der Rolle der vermischten Empfindungen für die Theorie der Illusion erläutert werden. Weder 1757 noch 1761 erwähnt Mendelssohn die unangenehmen Empfindungen bzw. die Nachahmung des Nicht-Schönen in seiner Theorie der schönen Künste. Erst in der Vorrede zur zweiten Auflage der Philosophischen Schriften von 1771 expliziert er sie als eine wichtige Neuerung und kommt dabei auch auf die Rolle der Illusionswirkung in der Kunst zu sprechen: »Einige Gründe von den Grenzen der ästhetischen Täuschung, die bey dieser Gelegenheit vorkommen, können in der Theorie der schönen Künste und Wissenschaften von nicht geringem Nutzen seyn. Man scheinet noch nicht untersucht zu haben, wie weit der Künstler seine Illusion treiben könne; da es doch offenbar Gränzen geben muß, wo sie aufhört angenehm zu seyn, wo die Nachahmung, wie man zu sagen pflegt, gar zu natürlich wird. Ich schmeichle mir, einige Gründe angegeben zu haben, wodurch diese Grenzen, zum Gebrauche der Kunst, mit einiger Richtigkeit bestimmt werden können.«

148

So auch Baumgarten in den Meditationes, § 12, Scholium: Es geht um das, was der »Sprechende mitzuteilen beabsichtigt. Hier wird also gefragt, welche Vorstellungen der Dichter in einem Gedicht zu verstehen geben möchte«, bzw. »… dass unter Malerei nicht Kunst, sondern Wirkung zu verstehen ist« (§ 39, Schol.). In § 109 fährt Baumgarten demenstprechend fort: »Wenn man sagt, ein Gedicht sei eine Nachahmung der Natur oder der Handlungen, dann muss die Wirkung dem von der Natur Hervorgebrachtem ähnlich sein«. (vgl. §§ 108, 110) Auch in § 68, Scholium und § 71, Scholium betont er, dass Dichtung und Realität analog (nicht: gleich) seien (vgl. Paetzold 1983, XXXIX). Auf die grundlegende Zweideutigkeit des Begriffs Schönheit in Baumgartens Aesthetica (1750/58) und Metaphysica (1739) weist ebenfalls Paetzold 1983, XLVI f. hin: zum einen bezieht sich der Begriff der Schönheit auf die Vollkommenheit bzw. Vervollkommnung der Sinne, ist also auf die Rezeption(sweise) konzentriert (vgl. Aesthetica, § 14: »Aesthetices finis est perfectio cognitiones sensitivae, qua talis. Haec autem est pulcritudo.«). Zum anderen jedoch meint Schönheit eine Qualität in der Welt, die durch die sensitive Erkenntnis erlebt/aufgefasst wird (vgl. Metaphysica, § 662: »Perfectio phaenomenon seu gustui latius dicto observabilis, est PULCRITUDO.« Die Vollkommenheit, sofern sie als Erscheinung dem Geschmack im weiteren Sinne beobachtbar ist, ist SCHÖNHEIT. (Übers. Paetzold)). »Auf der Basis einer solchen ›kosmologischen Ästhetik‹ hat die Kunst eine systematisch nicht auszuzeichnende Funktion. Sie stellt nur die an sich bestehende harmonische Weltordnung sinnenfällig vor Augen. Die Harmonie der Welt ist aber unabhängig von ihrer Vergegenwärtigung durch die Kunst.« (Paetzold 1983, XLVII) Allerdings übersieht Paetzold dabei zum einen, dass die Kunst auch bei Baumgarten nicht die einzige Domäne der Schönheit ist, sondern auch die vollkommen geordnete Natur eben als ihr Vorbild hinzukommt (wobei nicht unterschlagen werden soll, dass es Baumgarten tatsächlich vielmehr auf den Werkcharakter der Kunst ankommt, wobei die Natur lediglich den Fall des vollkommenen Vorbilds, nicht aber einen Ersatz darstellt). Zum zweiten aber ist wichtig, die unterschiedliche Perspektive der beiden Schriften zu beachten – die Aesthetica übernimmt es ja gerade, die Vollkommenheit und die Art ihrer Gegebenheit aus dem Blickwinkel der sensitiven Erkenntnis zu untersuchen. Zielpunkt der Metaphysica ist dies nicht, hier ist die sensitive Erkenntnis nur ein möglicher Fall, der sich aber nicht in Bezug auf die Erklärung der Weltkonstitution von der rationalen Erkenntnis unterscheidet.

202

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(JubA I, 231) Dabei geht es ihm nicht nur um die Grenzen der Rezeptionswirkung in ästhetischer, sondern auch praktischer Hinsicht. Dies verkompliziert die Lage, muss allerdings, um seine Ansicht angemessen zu berücksichtigen, in die Betrachtung mit aufgenommen werden. Es wird sich zeigen, dass mithilfe der Theorie der vermischten Empfindungen und des Illusionspostulats in der Kunst ein spezifischer Abstand zu einer augenfälligen Sittlichkeit, und zugleich damit eine Verbindung zwischen vermischter Empfindung und sittlicher Wirkung begründet werden. Bereits 1761 war Mendelssohn, allerdings nur am Rande der Rhapsodie, auf die in der Vorrede benannte Beziehung und Begrenzung eingegangen; wie bereits erwähnt (Kap. II.2, 182–85) stellen die in der Version von 1771 dem älteren Text vorangestellten Überlegungen eher eine Vertiefung, denn eine absolute Neuerung dar. Dass diese Differenzierung zur Zeit der ersten Auflage der Philosophischen Schriften vorlag, zeigen auch die Litteraturbriefe 82–84 von 1760 (JubA V/1, 130–137) und zwar unter Rückgriff auf Aussagen Batteux’149 selbst: »Batteux redet von den Vorstellungen, die in der Natur unangenehm sind, und dennoch in der Nachahmung den höchsten Grad von Wohlgefallen erregen« (JubA V/1, 130). Denn immer würde in der Kunst etwas darauf hindeuten, dass es sich hier um einen nachgeahmten Gegenstand handele.150 Batteux nun bezeichnet die »nachgeahmten Leidenschaften« als Leidenschaften anderer Art, die dem Zuschauer auch als solche erschienen. Er spricht in diesem Zusammenhang von »sentiments factices«, Dubos von einer »copie d’une passion«151. Die Abschwächung der Leidenschaften durch deren Auffassung als einer Art »Kopie« hat Mendelssohn nun nicht überzeugt, wohl aber lag die Zuwendung zu den von der Kunst schön nachgeahmten unangenehmen Gegenständen – in Verbindung mit anderen Theorieelementen, die in II.2 benannt worden sind – auch in seinem Interesse. Dabei sollten aber die künstlerisch erregten Gefühle ebenso ›echt‹ erscheinen wie diejenigen angesichts einer realen Situation. Mendelssohn argumentiert also nicht für eine Entschärfung der Kunst über das Festhalten an ihrem Verweisungscharakter. Sondern er versucht, das ebenso eindrückliche, künstlerisch gewonnene Gefühl über eine spezifische Brechung zu erklären. Dies bedeutet prima facie, auch negative Empfindungen auf der Bühne zuzulassen. Scheinbar im Widerspruch dazu betont er jedoch sowohl in den Briefen über die Empfindungen und im Trauerspielbriefwechsel, dass allzu starke Eindrücke negativer Art, zu denen er allein offensichtliche Verstöße gegen die Sittlichkeit zählt, gut zu verstecken seien,152 denn 149

Vgl. zur Rolle Batteux’ auch Geyer-Kordesch 1977, 15, die seine Bedeutung »nicht als Initiator neuer Thesen, sondern als Stütze in einer bereits laufenden deutschen Diskussion« hervorhebt. 150 Vgl. JubA V/1, 130. Mendelssohn glaubt darüber hinaus, Batteux’ Ansicht schon bei Aristoteles gelesen zu haben, vgl. ebd. Einschlägig ist hier aber auch Dubos. 151 Vgl. Schillemeit 1984, 91. 152 Expliziter noch findet sich dieser Hinweis bei Nicolai. Martino (1972, 137 f.) geht allerdings mit seiner Folgerung zu weit, dass es sich bei Nicolais Reformulierung der Mendelsohn’schen

II.3 Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie

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ansonsten zerstöre man den Genuss der Zuschauer, die sich nicht mehr mitreißen ließen, sondern, in Nicolais Formulierung, »sich beständig wider ihn [den Dichter, A.P.] empören, und an den Handlungen die wider die Grundsätze, welche ihnen von der Natur eingepflanzt sind, stritten, keinen Anteil nehmen würden« (Nicolai, Abhandlung, 11 f.). Dies ist aber ein technisches Argument, kein sittliches. Wenn man den Genuss des Zuschauers am Dargestellten dadurch stört, dass man seinen moralischen Intuitionen (denn von ihnen scheint Nicolai zu sprechen) widerspricht, ist das nicht in erster Linie moralisch verwerflich, sondern poetologisch betrachtet sinnlos, da man so den Zweck der Leidenschaftserregung nicht erreichen kann. Hat man dahingegen eine tragfähige Illusion auf der Bühne geschaffen – und sich die Zuschauer geschickt ›gefügig‹ gemacht –, so braucht man sich auch nicht um moralische Implikationen zu kümmern.153 Denn mit Lessing spricht sich Mendelssohn durchaus für eine Trennung zwischen dem moralisch und poetisch Bösen aus, die keinesfalls, so hält auch Zelle (1987, 323) fest, parallel zu poetologisch wertvoll und wertlos verläuft. In Anknüpfung an diese Überlegungen betont Mendelssohn in den Hauptgrundsätzen von 1771 – und erst hier stimmen die Ergebnisse der Rhapsodie mit den vorangegangenen Überlegungen völlig überein –, dass der Gegenstand der Nachahmung in der Illusion eine Vollkommenheit ausmachen könne, ganz gleich ob er realiter als gut oder schlecht bewertet werde: »So oft also die Werke der Kunst ein Vorbild in der Natur haben, das sie nachahmen; so wird dieses Vorbild selbst an und für sich so wohl unangenehm, als angenehm seyn, und in beiden Fällen in der Nachahmung Wohlgefallen erregen können.« (JubA I, 432)

Noch ein paar Worte zu beiden genannten Fällen. a) Das Schöne Ist der Gegenstand der Nachahmung »an und für sich« schön, so bedürfe es, wie Mendelssohn betont, einer immerwährenden, perfekten Nachahmung, da andernfalls bei erkannter Täuschung die besagte Ernüchterung eintrete (vgl. JubA I, 431 f.). Allerdings ist diese Forderung illusorisch, denn die künstlerische Darstellung des Schönen beinhaltet immer irgendwelche Nebenumstände, die an ihren »Betrug« erTheorie um eine Zurückweisung von Mendelssohns »Rigorismus« (hinsichtlich einer absoluten moralischen Freiheit der Bühne) handele. Vielmehr hat gerade Mendelssohn selbst in der betreffenden Passage in den Briefen die Einschränkung, dass die Verstöße wider die Sittlichkeit nicht allzu offensichtlich sein sollten, gemacht. 153 Damit gegen die Auffassung bei Nolte 1931, 318 und Michelsen 1966, 557, dass Mendelssohn die Amoralität der Bühne »verstecken« wolle. Vgl. dazu auch Albrecht 1983, 124, sowie Pollok 2008.

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innern (vgl. JubA I, 391).154 Beim Trauerspiel ist es die Bühne, bei der Musik sind es die Töne, die uns, so sehr sie auch mitreißen, doch immer Zeichen für Gefühle, Stimmungen und Leidenschaften sind, nicht diese selbst. Man mag zwar die bezeichnete Sache stärker als das Bezeichnende empfinden, doch völlig vergessen werden kann das Zeichenhafte an sich in der Kunst nicht – am ehesten erfüllt noch die abstrakteste Kunstform, die sich sprachlicher (und damit »unsichtbarer«) Zeichen bedient und damit an die Imaginationskraft des Rezipienten, nicht an ein tatsächliches Objekt gebunden ist (vgl. Wellbery 1984, 68), paradoxerweise diese Forderung. In diesem Sinne hat sich Mendelssohn Lessings Einwurf angeschlossen, dass die Illusion des Naturschönen in der Kunst, die »Erinnerung, dass wir Kunst und nicht Natur sehen« (JubA I, 432), möglicherweise unangenehme Empfindungen hervorrufen kann. Seine Pointe liegt nun darin, dass gerade diese Brechung, die reale Ent-täuschung bzw. das Durchschauen der Illusion155 in Korrelation zur ästhetischen Qualität des Kunstwerks steht: Ästhetischen Wert gewinnt die schöne Illusion nicht allein durch die angenehme Beschäftigung der Leidenschaften, sondern auch dadurch, dass der Rezipient anhand dieser Art der Täuschung Hochachtung vor dem Können des Künstlers empfindet. In diesem Zusammenhang verwendet Mendelssohn nun, ent154

Dass Mendelssohn hier im Anschluss an Dubos argumentiert, betonen Strube 1971, 62 und Zelle 1987, 146. Von Dubos unterscheidet ihn allerdings, dass er die durch die Illusion erregten Empfindungen nicht als bloße »Abbilder« der wirklichen Empfindungen auffasst und darüber hinaus sich nicht an dessen materialistische Auffassung, einer »›naturalistischen‹ Kausaltheorie« der Einprägung materieller Ideen (vgl. Strube 1971, 64) anschließt. Zelle (1987, 141) spricht zwar in Hinblick auf Dubos’ Analyse des Schrecklichen gerade von einer Nivellierung zwischen Kunst und Wirklichkeit, derart, dass in den Réflexions die realen schrecklichen Empfindungen einen breiten Raum einnehmen. Dementsprechend erwähnt Zelle (ebd., 146) die »passions artificielles«, die allerdings nur »graduell« von den »vitalen lebenspraktischen Empfindungen« unterschieden seien, um anschließend jedoch übereinstimmend mit Strube zu betonen, dass Dubos gerade in diesem graduellen Unterschied das Interesse an den künstlich erregten Leidenschaften begründet. Wichtig ist hier im Gegensatz zu vorangegangenen Theorien (Zelle nennt Boileaus Übernahme der aristotelischen Mimesiskonzeption, siehe ebd. 147 f.), dass Dubos die »Kunstdifferenz einerseits und wirkungspoetisch pointierte affektive Urbild-Abbild-Referenz andererseits« zusammendenkt, um damit das Sujet des Schrecklichen in der Kunst emporzuheben, ja, es als das beste Mittel der Unterhaltung zu verabsolutieren (Zelle 1987, 148). Dass Mendelssohn mit diesem Zug Probleme bekommt, liegt auf der Hand. In der Analyse von Gleissner 1988, 34–38 ist in Bezug auf Lessings Illusionstheorie kein Hinweis auf die sich für Lessing ergebende Schwierigkeit zu finden, dass sich die totale Illusion tatsächlich kaum über den Zeitraum eines abendfüllenden Theaterstücks aufrecht erhalten lässt. 155 Das Durchschauen meint nicht zwingend auch die Zerstörung der Illusionswirkung. Vgl. damit Kants Ansichten zum Unterschied von Schein und Illusion in den Nachschriften zur Anthropologie (vgl. Brandt/Stark 1997, XXXVII ff.): Illusion bleibt, auch wenn sie erkannt wird. Sie ist nicht durchweg negativ zu bewerten – allerdings ist ein Wissen um ihre Wirkung nötig, um sie nicht dennoch für Realität zu halten (so auch KrV A 195–98). Gesellschaftliche Illusion ist sogar kulturfördernd, da sie alle Menschen dazu Anreize gibt, diese eines Tages tatsächlich durch einen realen freundlichen gegenseitigen Umgang zu ersetzen.

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gegen den früheren Fassungen seiner Abhandlung, seine Theorie der vermischten Empfindungen dazu, den ästhetisch relevanten Unterschied zwischen dem Gegenstand selbst und der Vorstellung des Gegenstands zu erklären. Bei der Betrachtung des Kunstschönen finden demnach zwei Regungen der Seele statt: Unlust aufgrund der durchschauten Täuschung, Lust an der illusionistischen Kraft des Künstlers.156 Damit ist es für den Genuss eines Kunstwerks sogar notwendig, dass dessen Nachahmungsleistung bemerkbar bleibt. Eine perfekte Abbildung wie beispielsweise in Form lebensechter Wachspuppen (vgl. Rhapsodie, JubA I, 391 f.; Über die Mischung der Schönheiten, JubA III/1, 265 f.) ist nicht erstrebenswert. In diesem Fall werde der Mangel an Leben dem Betrachter unangenehm auffallen, weshalb die künstlerische Darstellung paradoxerweise gerade wegen ihres hohen Grads an Vollkommenheit defizitär erscheine. Es kann beispielsweise nicht der Zweck des Bildhauers sein, mit seinen Statuen das Leben zu ersetzen, denn daran wird er (so er nicht Pygmalion ist) scheitern. Damit bestätigt Mendelssohn den Grundsatz, dass Kunst gerade nicht Natur ist und sein soll, sondern einen eigenständigen Bereich bezeichnet. Gleichfalls stellt er sich gegen Wolffs Ideal der schönen Kunst als der vollkommenen Ähnlichkeit, indem er, diese Forderung durch den Extremfall der Wachspuppen übersteigernd, ihre Schwächen zeigt. Jede gelungene Illusion des Schönen ist demgegenüber immer mit einem Wissen um das Genie des Künstlers verbunden. Erst dann kann der Genuss am Schönen nicht durch Desillusionierung zerstört werden – denn die Illusion ist bereits reflektiert und insofern gebrochen. Die »Rose eines Huysum« (JubA I, 433) gefällt zum einen, weil sie einen schönen Gegenstand nachahmt, und zum anderen, weil sie diesen Gegenstand schön nachahmt. Sie zeigt nicht allein sich selbst, sondern auch die Größe menschlicher Schaffenskraft. Ich komme in Abschnitt 3 auf die Bedeutung des Werkcharakters zurück.

b) Das Hässliche Nicht die Nachahmung des an sich schönen, sondern des an sich hässlichen Gegenstands wird 1771 ins Zentrum der Überlegungen gerückt, denn er gewähre eine »weit vermischtere Empfindung« (JubA I, 432). Nach Mendelssohns Theorie kann er nicht als Gegenstand an sich, aber als angeschaute Illusion Vergnügen bereiten. Dies lässt 156

Einen wenngleich geringen Grad der Lust an dem schönen Gegenstand selbst berücksichtigt Mendelssohn zwar auch; er spielt jedoch eine immer geringere Rolle in seinen Überlegungen. Die Berücksichtung der Nachahmung des »Naturschönen« noch 1771 zeigt darüber hinaus (gegen Zelle 1987, 334), dass Mendelssohn nach Lessings Einwurf des Selbstgenügens der höheren Realität durch Abscheu mitnichten auf seine »Oszillationstheorie« verzichtet hat. Der Wechsel zwischen Wohlgefallen und Irritation ist demgegenüber stärker geworden.

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sich unter Rückgriff auf die oben erwähnten Litteraturbriefe 82–84 und der in ihnen thematisierten Zurückweisung des Ekels als mögliche ästhetische Kategorie durch J. A. Schlegel157, den Mendelssohn ihm Licht seiner vermischten Empfindungen modifiziert, illustrieren. Mendelssohn fragt dort, auf welche Sinne und auf welche Weise eine ekelhafte Vorstellung überhaupt wirkt. Bezüglich des Geschmacks und Geruchs wird Ekel durch eine übermäßige Süßigkeit, über das Gefühl durch eine übermäßige Weichheit und Nachgebigkeit erregt. Durch »Association der Begriffe« werden diese Dinge auch für den Gesichtssinn ekelhaft – »[e]igentlich zu reden aber, giebt es keine Gegenstände des Eckels für das Gesicht.« (JubA V/1, 131) Dennoch stimmt Mendelssohn zu, dass er schon allein aufgrund dieser Assoziationskette auch für die bildende Kunst, die den Gesichtsinn anspricht, auszuschließen ist. Er begründet dies unter Bezugnahme auf die Reflexionsweise der vermischten Empfindungen. Demgemäß spreche der Ekel aufgrund seines hier dargelegten Ursprungs die »allerdunkelsten Sinne« an, die »überhaupt nicht den geringsten Antheil an den Werken der schönen Künste« hätten (JubA V/1, 131). Der pure Ekel, der auf den Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn begrenzt ist, fällt also naturgemäß aus den Künsten heraus, da er in der Wahrnehmung keine Unterscheidung zwischen wirklichem und nachgeahmten Gegenstand zulässt, sondern allein für sich wirksam ist: »Die Vorstellung der Furcht, der Traurigkeit[,] des Schreckens, des Mitleides u. s. w. können nur Unlust erregen, in so weit wir das Uebel für würklich halten. Diese können also durch die Erinnerung, daß es ein künstlicher Betrug sey, in angenehme Empfindungen aufgelöset werden. Die widrige Empfindung des Eckels aber erfolgt, vermöge des Gesetzes der Einbildungskraft auf die blosse Vorstellung in der Seele, der Gegenstand mag für würklich gehalten werden, oder nicht. Was hilfts dem beleidigten Gemüthe also, wenn sich die Kunst der Nachahmung noch so sehr verräth? Ihre Unlust entsprang nicht aus der Voraussetzung, daß das Uebel wirklich sey, sondern aus der blossen Vorstellung desselben, und diese ist wirklich da. Die Empfindungen des Eckels sind also allezeit Natur, niemals Nachahmung.« (JubA V/1, 131, Hervorhebung A.P.) Im Umkehrschluss bedeutet dies natürlich, dass im Falle der vermischten Empfindung eine andere Wirkung eintritt. Die weiteren aufgezählten unangenehmen Empfindungen sind zwar, solange die Illusionswirkung herrscht, ebenfalls unangenehm. Sobald diese in der Rezeption als ein Kunstwerk durchbrochen wird, gesellt sich das positive Gefühl der Erleichterung hinzu, dass der geliebte Gegenstand doch nicht ›wirklich‹ in Gefahr ist. Solcherart vermischte Empfindungen sind immer auch mit positiven Empfindungen wie Hoffnung oder Liebe durchsetzt. Wichtig ist aber, bevor man eine einseitige Herrschaft des rationalen, oberen Erkenntnisvermö157

Johann Adolf Schlegel, Von dem höchsten und allgemeinsten Grundsatze der Poesie (11751, 21759). Der Eindruck des Ekels sei, so fasst der Rezensent zusammen »zu gewaltsam« (JubA V/1, 130) und müsse deshalb vom Gebiet der Kunst ausgeschlossen werden.

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gens vermutet, folgende Anmerkung: »Die Seele hat die Freyheit sich bald bey dem vergnüglichen, bald bey dem widrigen Theile einer Leidenschaft zu verweilen, und sich eine Vermischung von Lust und Unlust selbst zu schaffen, die reizender ist, als das lauterste Vergnügen.« (JubA V/1, 131) Die »Freyheit« der Wahl zwischen der schrecklichen Vorstellung und seiner vollkommenen Darstellung scheint vor allem darauf abzuzwecken, den Gegenstand in eine ›sichere‹ Entfernung zu rücken. Wird damit der Aspekt des Eigenwerts des Ekels oder auch des Schreckens überhaupt angemessen erfasst? Pauen (2006, 219 f.) spricht in dieser Hinsicht von einer auch bei Mendelssohn noch vorherrschenden und das an sich Hässliche ausgrenzenden ästhetischen Theorie, wobei die Bewertung der vermischten Empfindungen auf den Kategorien, an denen das Schöne gemessen wird, basiere und deshalb immer defizitär erscheinen müsse. Eine solche Einordnung der vermischten Empfindungen verweist vornehmlich auf eine Art »ästhetische Distanz«, die es erlaubt, das Hässliche zu messen, zu beurteilen und ästhetisch zu schätzen, es aber zugleich emotional einzugrenzen. Letztlich wird so »offenbar vor allem [eine] Abschwächung der aversiven Kraft des Häßlichen« (ebd., 220) erreicht, nicht aber eine eigenwertige Theorie der Hässlichkeit. Man könnte es sogar härter formulieren mit der Folgerung, dass Mendelssohn die Gesamtheit ästhetischer Phänomene mit seiner Theorie gar nicht in den Blick bekommt. Nimmt man allerdings als sein grundlegendes Interesse, wie es sich in den Briefen und den Hauptgrundsätzen darstellt, nicht eine Kategorisierung des Ästhetischen, sondern eine Theorie der ästhetischen Hinwendung des Menschen an die Welt an, so verschiebt sich das Bild: es geht nicht um die Erklärung und Begründung der ästhetischen Darstellbarkeit (und des Genusses) eines als in sich hässlich vorausgesetzten Gegenstands, sondern es geht um die Durchdringung der beim ästhetischen Genuss beteiligten anthropologischen Kategorien. Die Reformulierung Wellberys, dass in der Darstellung des Gegenstandes (das hier angemessener mit dem englischen »representation« gleichzusetzen wäre) das abwesende Objekt als ein anwesendes vorgestellt wird158, trifft den Sachverhalt in diesem Sinne genauer: zwar besteht eine Distanz, indem das Objekt tatsächlich nicht direkt in die Sphäre des Rezipien-

158

»[…] it renders an absent object as present.« Wellbery 1984, 67, vgl. auch sein Ergebnis bzgl. des Paradigmenwechsels von der Rhetorik zur Mimesis, der Darstellenden zur Repräsentierenden Kunstauffassung: »Poetry is no longer art in language, but language that transcends art in order to reapproach nature.« (ebd. 71 f.) Sprache ist und bleibt damit ein Angelpunkt ästhetischer Darstellung, aber sie wird gerade verwendet, um sich selbst vergessen zu machen (vgl. JubA I, 491; Wellbery (ebd.) nennt dies treffend »the principle of transparency«). Dementsprechend hält auch Mendelssohn fest, dass die (sprachliche) Darstellung die Beste sei, bei der man die Zeichen als solche nicht wahrnimmt, sondern sofort affektiv zum Kern der Sache getragen wird. Dies ist nicht per se Irrationalität (vgl. Haimberger 1975, 37), sondern ein Paradigmenwechsel des Rationalen zum umfassend Anthropologischen.

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ten eingreift – und dennoch ist der Aspekt der (scheinbaren) Unmittelbarkeit des Eindrucks bestimmend. Dies könnte erklären, warum Mendelssohn nicht von einer Schwächung des reinen Affekts spricht, die sich bei der Übertragung des Eindrucks auf ein Artefakt vollzöge, sondern von einem Wechselverhältnis zwischen Affekt und Selbstbezug, der durch ein Werk nur veranlasst wird und letztlich alle ästhetischen Qualitäten eines Gegenstands betrifft. Jede ästhetische Vorstellung lässt sich als Abschwächung reformulieren, wenn betont wird, dass sie in einem Artefakt etwas darstellt und dieses folgerichtig nicht selbst ist. Ein Hinweis auf eine so zu verstehende ästhetische ›Abschwächung‹ qua Darstellung macht Mendelssohns Theorie aber noch nicht unzureichend. Der Affekt und das Interesse an ihm soll in der Reformulierung als vermischte Empfindung gar nicht geschwächt, sondern transformiert werden. Gerade seine prima facie ›naturhafte‹ Wirksamkeit ist vielmehr angestrebt, um das Spiel der Empfindungen einzuleiten. Wenn ich, bildlich gesprochen, vor der gemalten Schlange erst gar nicht erschrecke, so wird sich auch keine vermischte Empfindung, die von diesem ersten schreckhaften Erlebnis abzuhängen scheint, entwickeln. Die Transformation eines Eindrucks in die vermischte Empfindung muss also ihren Ausgangspunkt aus einem als unmittelbar erlebten Eindruck nehmen, der sich in die ästhetische Distanz rücken lässt, ohne dass diese wiederum den Eindruck zerstört. Das Illusionspostulat Mendelssohns lässt sich in zwei Richtungen lesen: zuerst wird die als total erlebte Illusion im ästhetischen Empfinden durch rationale Durchdringung transformiert, die jedoch den Eigenwert des sinnlichen Eindrucks nicht gänzlich aufhebt, sondern ein Zurückgleiten in die sinnliche Involviertheit erlaubt, ja, erfordert. Wie der Mathematiker, der zwischen klarer Erkenntnis einzelner Ergebnisse und verworrener Empfindung des Gesamteindrucks wechselt, hat diese »Freyheit« auch der Tragödienbesucher. Mendelssohns Forderung, dass »die obern Seelenkräfte« überzeugt sein müssen, »daß es eine Nachahmung, und nicht die Natur selbst sey« (Von der Herrschaft über die Neigungen, um 1756, JubA II, 154), besagt nicht, dass auch das Gefühl diese »Überzeugung« teilen muss. Vielmehr stärken und beleben sich sinnliches Erschrecken und rationales Beruhigen gegenseitig. Illusion ist in Bezug auf Mendelssohns Ästhetik nicht ein Bestandteil einer Poetik, sondern eine psychologisch-anthropologische159 Erklärung von der Wirkungsweise von Kunst (weniger für Gesetze ihrer Konstitution) geworden. Was seine Theorie damit leistet, ist der Ansatz zu einer Reformulierung des ›Schönen‹ zum ›ästhetisch Relevanten‹160 in anthropologischen Kategorien des sinnlichen Gefallens und der

159

Vgl. dazu auch die Ausführungen von Gombrich 2002, 29–78 (»Die Grenzen der Ähnlichkeit«); Gombrich argumentiert zwar nicht philosophisch, sondern genetisch-psychologisch, bietet jedoch gute, auch philosophisch relevante Gründe, um vom Vorurteil der Naturabbildung abzurücken. 160 Ein Ansatz, der auch mit Bezug auf Kant weiterhin zu verfolgen wäre; dort allerdings mit

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verständigen Durchdringung in ihrer Durchmischung, entsprechend dem Postulat vom vermischten Wesen Mensch. Das Defizit von Mendelssohns Theorie liegt dennoch in der Nähe des von Pauen genannten Aspekts der Distanzierung und dem damit einhergehenden Versuch der ›Rettung‹ menschlicher Moralität. Das Vergnügen an schrecklichen Gegenständen ist gemäß der Theorie der vermischten Empfindungen nicht nur ästhetisch wertvoll, weil ein solcher ›Gegenstand‹ wie das Kunstschöne als gelungene Kunst wahrgenommen werden kann, sondern weil er die Vorstellungstätigkeit nachdrücklich beschäftigt. Bei hässlichen oder erschreckenden, gar bösen ›Gegenständen‹ erzeugt die Durchbrechung der Illusion keine Enttäuschung, sondern eine Beruhigung. Dennoch kehrt der Rezipient zu diesem Gefühl zurück, und, mehr noch, hat dieser Eindruck ihn allererst zur Hinwendung an dieses Kunstwerk bewogen. Also interessiert auch die Vorstellung des Schrecklichen an sich – sonst wendete man sich freiwillig keinem Schlachtenbild etc. zu, das das Spiel der Empfindungen erst in Gang setzt. Die oben bereits erwähnt Freiheit, zwischen der Hingabe an den »delightful horror«161 und der Versicherung von dessen Künstlichkeit hin- und her zu wechseln, macht hier das besondere Vergnügen aus. Doch Mendelssohn zufolge soll das Schreckliche oder Hässliche nicht der Initiator der Hinwendung zu einer solchen Kunst sein, denn dies stellte die gegen Rousseau verteidigte, grundsätzlich positive Ausrichtung menschlichen Interesses an der Vollkommenheit infrage. Gerade dies ist jedoch in Hinblick auf die Struktur der Illusionswirkung zu vermuten. Mendelssohns Theorie kann die Folgen der vermischten Empfindungen und das Gefallen daran in sein Modell integrieren: die stärkere Erregung der Leidenschaften durch die kontrastreiche Wirkung verschiedener Empfindungen bereitet Vergnügen.162 Dennoch bleibt die Kritik Zelles (1987, 330) bestehen: warum das Schreckliche den Menschen anzieht, hat Mendelssohn damit nicht befriedigend erklären, noch überzeugend zurückweisen können. anderen normativen Grundlagen, die sich eben nicht in der Konstitution des Menschen, sondern derjenigen des ästhetischen Urteils finden lassen müssten. 161 Vgl. Zelle 1987, Kap. II, der die unterschiedlichen Bezeichnungsarten auflistet. Er nennt u. a. Dennis: »delightful horror«; Addison: »agreeable kind of horror«; Fontenelle: »doleur agréable«; Batteux: »terreur agréable«. 162 Dabei hebt Mendelssohn hervor, dass die Entgegensetzung nicht total sein darf; in den Briefen über die Empfindungen, JubA I, 110 spricht er von einer reizvollen Mischung von Süße und Bitternis. Er warnt zugleich, wie in einem Kollektaneeneintrag (JubA III/1, 283) vor einer Vermischung einander »schnurstraks« entgegengesetzten Empfindungen. Damit ist letztlich allein die Vermischung einander immerhin ähnlicher, nicht völlig heterogener Empfindungen angesprochen (vgl. JubA III/1, 283): Mitleid ist Trauer und Liebe zugleich, bzw. es ist Trauer aus Liebe. Aus diesem Grund ist wiederum das Illusionspostulat von großer Bedeutung: denn ohne Identifikation entstehen keine homogen erscheinenden, sondern störend heterogene Empfindungen. Mendelssohns Ausführungen zeigen, dass Empfindungen kontextsensibel sind: über ihre Vereinbarkeit entscheidet ihre Auffassung im Rezipienten.

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

Kommen wir vorerst auf das Illusionspostulat zurück. Von dem Konzept einer vollkommenen Täuschung, wie er 1761 gefordert hatte, ist Mendelssohn zehn Jahre später mit Bezug auf die vermischten Empfindungen deutlich abgerückt. Der ästhetisch relevante Status der Illusion liegt gerade in ihrer Transparenz. Trotzdem ist die Illusion für den ästhetischen Genuss unverzichtbar, denn die angenehme Empfindung des Schönen oder das mitreißende Gefühl des Schrecklichen spricht den Menschen eindringlicher (weil auch sinnlicher) an, als es eine philosophische Abhandlung, die ja ebenfalls auf eine Form menschlicher Schaffenskraft verweist, vermag. Damit stellt Mendelssohn sich – noch einmal – gegen Lessing, der in der Trauerspieldebatte vielmehr eine Stärkung des Illusionspostulats als Täuschung gefordert hatte und damit den Aspekt der Durchdringung vernachlässigt wissen wollte.163 Lessings mitleidigster Mensch ist nur dann der beste Mensch, wenn er seine Gefühle nicht rationalisiert, sondern wenn er ›empfindlicher‹ geworden ist, sich also von den ›richtigen‹ Empfindungen umso stärker ansprechen lässt. Mit Schillemeit (1984, 90) kann man bezüglich des Trauerspielbriefwechsels von einem Dissens über »die Natur der ästhetischen Wirkung überhaupt« sprechen, der sich vor allem am Illusionsstatus des Zuschauers ausmachen lässt: »Der Tragödienzuschauer, den Lessing sich denkt, ist offenbar ein anderer als der bei Mendelssohn (und nicht nur bei ihm) vorausgesetzte: es ist der schlechthin illusionierte, gleichsam ›mit‹ den Figuren des Stücks lebende Zuschauer […].« (ebd.) Mendelssohn denkt an den aufgeklärten, nicht allein mit seinen Leidenschaften, sondern auch seinem Denkvermögen vertrauten Zuschauer – dem es laut Schillemeit unmöglich sei, angesichts von Bühnenwerk, Vorhang und Schminke an das ›echte‹ Leben dort auf den Brettern zu glauben. Dies hat zum einen seine Richtigkeit, wie bereits in Bezug auf die Nachahmung des Schönen ausgeführt wurde. Dabei unterschlägt Schillemeit zum anderen jedoch, dass sich auch Mendelssohns Zuschauer ›wirklich‹ erschrecken kann und soll. Dieser Schrecken ist zwar eingebunden in das oben beschriebene Spiel ästhetischer Illusion als eines Wechsels zwischen Täuschung und deren Durchdringung. Der Schrecken bleibt damit ästhetisch von Belang, indem seine ›Reibung‹ mit der Durchbrechung der Illusionswirkung den Affekt nur verstärkt. Sein Eigenwert als Empfindung soll also auch in Mendelssohns Theorie erhalten bleiben. In einem anderen, ebenfalls wichtigen Aspekt kamen die Freunde überein: für beide bedeutet die Fertigkeit zur Schaffung schöner Illusion auch das Vermögen, einen Ausschnitt der Wirklichkeit ›schön‹ darzustellen. In Über die Mischung der Schönheiten (1776) reflektiert Mendelssohn darüber, was der Begriff der Schönheit eigentlich umfasse. »Nehmen wir aber einmal einen Teil des Charakters der Seele 163

Schillemeit bezeichnet gar die Überlegungen zum Illusionsbegriff als zweite Säule dieser Diskussion, womit die Differenz dieser beiden Denker noch einmal in ein schärferes Licht gerückt wird; vgl. Schillemeit 1984, 87–92.

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mit zum Begriff der Schönheit, so ist keine Grenze mehr, wo wir aufhören müßten.« (JubA III/1, 260)164 Trennt man aber Schönheit von Tugend, wie er es vornimmt, ergeben sich andere Forderungen an die Schönheit, als sie an die Tugend gestellt würden. Für einen ästhetisch guten bzw. schönen Gegenstand ist moralische Güte also nicht erforderlich, sondern vielmehr konzentrierte Totalität. Der Künstler muss das Kunstwerk als ein ›Ganzes‹ konzipieren, in ihm müssen alle Teile zu einem gemeinsamen Zweck übereinstimmen und, um als schön wahrgenommen zu werden, als eine Einheit »in die Sinne fallen«. Was ›schön‹ ist, oder ästhetisch wahrgenommen wird, muss nicht durch Nachgrübeln entdeckt werden, sondern offenbart sich auf einen Blick. Dieser Ansicht sind sowohl Mendelssohn wie auch Lessing in ihrem Briefwechsel, in dem beide die Einheit des Charakters, sowie auch des Kunstwerks fordern (siehe Mendelssohn im Dezember 1756; Lessing am 18. Dezember 1756, JubA XI, 83 bzw. 95 f.). Im 79. Stück der Hamburgischen Dramaturgie hat Lessing dies dann so ausgedrückt: »Aus diesen wenigen Gliedern sollte er [der Künstler; A.P.] ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derenwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge suchen müssen; das Ganze dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein […].« (Werke 6, 577, Hervorhebung A.P.) Damit wird von Lessing und Mendelssohn ein organischer Werkbegriff 165 ins Spiel gebracht, der das in den Briefen genannte »Einerley im Mannigfaltigen« in eine Auffassung (und damit auch Aufwertung) der Kunst als ein organisiertes Ganzes transformiert. Schönheit ist konzentrierte Darstellung der Welt. Dies bedeutet auch, dass, um menschenmögliche Vollkommenheit in der Darstellung zu erreichen, der Künstler das Werk so entwirft, als sei es allein der Zielpunkt der Schöpfung gewesen – 164

Seiner eigenen Angabe zufolge zitiert er hier eine Auffassung Christian Garves. Allerdings hat er den Passus allem Anschein nach nicht richtig erinnert; zumindest findet er sich weder in der Neuen Bibliothek, noch in Garves sonstigen Werken (vgl. JubA III/1, 444). Sei es, dass sich dieser doch irgendwie auffinden lasse, sei es, dass Mendelssohn seine Meinung in der Erinnerung in Garves Artikel hineingedeutet hat: deutlich wird hier, dass das Autonomieverständnis der Ästhetik für Mendelssohn virulent war. 165 Vgl. Fischer 1990, 494 ff.: Ganzheit bei Mendelssohn meint, so argumentiert Fischer auf Grundlage der Briefe und der Hauptgrundsätze, »eine abgeschlossene Ökonomie, an der alle Teile teilhaben«. Die »innere Form« ist ohne die Reflexion des Betrachters allerdings nicht denkbar (ebd., 499). Vgl. als Grundlage die Ansicht Shaftesburys: »Und wenn uns erst einmal die Lust erfaßt, diese bildenden Künste zu pflegen, so wird unser Genius, davon bin ich überzeugt, uns ganz natürlich über die seichteren Vergnügungen hinweggeleiten und uns zu jenem höheren, ernsthafteren und edleren Bereich der Nachahmung führen, der sich auf die Geschichte, die menschliche Natur und die höchste Stufe oder Ordnung der Schönheit bezieht, ich meine jene des vernünftigen Lebens, das sich vom bloß vegetabilen und sinnlichen, wie in Tieren und Pflanzen, unterscheidet, entsprechend jenen verschiedenen Rangstufen und Ordnungen der Malerei […]« (»Ein Brief über das Gestalten«, Stand. Ed. I, 5; 2001, 45ff.)

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und damit die Richtung der Vollkommenheit auf die Einheit der dargestellten Welt, eine künstliche und künstlerische Vollkommenheit, verschiebt. ›Wahre‹ Vollkommenheit ist stets die geordnete Einheit von Teilen unter einem Prinzip, doch ist allein das von Gott geschaffene Naturganze absolute Vollkommenheit, die schlechthin alles umfasst. Dies übersteigt das menschliche, ästhetische Fassungsvermögen. Der Künstler muss daher mit einem Ausschnitt, einem begrenzten Bereich vorliebnehmen, dem er eine in sich vollständige Ordnung gibt. Mendelssohn betont in seiner Konzeption gerade die Grenzen zwischen dem Naturschönen, das Gott, und dem Kunstschönen, das den Menschen zum Schöpfer hat. Im 66. Literaturbrief umschreibt er die Tätigkeit des Künstlers als Idealisierung (JubA V/1, 98–101)166. Auf dieses Konzept greift deutlich sichtbar auch Lessing im 70. Stück der Hamburgischen Dramaturgie zurück: »In der Natur ist alles mit allem verbunden, alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem […]. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern, und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken lenken zu können.« (Werke 6, 533 f.) Der Auffassung des Genies als genuiner Schöpfer ist damit zumindest der Weg geebnet; der auswählende und darstellende Mensch als das Kernstück der Ästhetik festgeschrieben.

Ästhetische Semiotik Neben dem Illusionspostulat ist es auch Mendelssohns Zeichenlehre, die seine Einsichten in die Prozesse ästhetischer Wirksamkeit zeigt und Mittel der geforderten »konzentrierten Totalität« an die Hand gibt. Der hier interessierende Aspekt dieser Lehre bezieht sich auf das Zusammenspiel zwischen Sinnlichkeit (gegeben v. a. mit den »natürlichen Zeichen«) und Ratio (»willkürliche Zeichen«). Im Sendschreiben an Lessing von 1756, in dem sich Mendelssohn hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Rousseau auch mit dessen Sprachtheorie beschäftigt hatte, 166 Mit Idealisierung ist auch die Verschönerung einzelner Wesenszüge für spezifische Darstellungsarten gemeint. Am Beispiel des Schäfergedichts, das Mendelssohn in den LB 85–86 vom 28. Februar 1760 (JubA V/1, 138–47) bespricht, zeigt er die Grenzen der Idealisierung, die im Sujet selbst liegen: »Man hat sie [die Landmenschen] verschönert, dem Ideal näher gebracht, doch so, daß sie ihre Natur nicht ablegen, das heißt, daß sie in ihrer vollkommensten Veredelung noch mit den übrigen Eigenschaften eines Landmannes bestehen können.« (ebd., 146) Im LB 170 vom 18. Juni 1761 (JubA V/1, 382 f.) macht er die Probe aufs Exempel: Rousseaus Nouvelle Héloïse ist zu tugendhaft und wird darum unglaubwürdig – »So gehets mit den übermäßigen Verschönerungen des Ideals. Man will die Bewunderung höher treiben, und wird unglaubhaft.«

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entwickelt er in Anlehnung an Wolff und Locke eine Theorie der natürlichen und willkürlichen (arbiträren) Zeichen, die die Anforderungen der vermischten Empfindungen und die Illusion für eine Einteilung der Künste167, für die Charakterisierung ihres Wirkungspotentials sowie auch für ihren Bezug auf die Realität fruchtbar gemacht werden kann. Mit seiner an dieser Zeichentheorie orientierten Einteilung der schönen Künste in ihre besonderen Klassen wendet Mendelssohn die semiotische Theorie des 18. Jahrhunderts an, um das Wesen der jeweiligen Künste zu beschreiben.168 Ihmzufolge sind natürliche Zeichen gegeben, »wenn die Verbindung des Zeichens mit der bezeichneten Sache in den Eigenschaften des Bezeichneten selbst gegründet ist« (JubA I, 438). Ihr Vorteil ist ihre Unkonventionalität; Grimm (1999, 168) bezeichnet sie sogar als »anthropologische Konstanten menschlichen Ausdrucksverhaltens«, die also gemäß Mendelssohns Ansicht stets gleichbedeutend und universal verständlich sind. Ihre Aufnahme setzt keine hohe Bildung, sondern allein »gesunden Menschenverstand« voraus. Durch ihre Direktheit sind sie unmittelbar-intuitiv, also emotional hoch wirksam. »Der Vorteil der natürlichen Sprache der Gesten, der Mimik und der expressiven, unartikulierten Töne lag für die Gefühlsästhetik der Aufklärung also in der Möglichkeit ihres unmittelbar-intuitiven und emotional betonten Verständnisses gegenüber der mehr rational-begrifflich vermittelten Sprache der willkürlichen Zeichen.« (ebd.) Deshalb auch eignen sich die natürlichen Zeichen so gut zur Illusionierung – sie rufen durch ihre intuitive Eingänglichkeit leicht Emotionen hervor und initiieren den oben beschriebenen Prozess. »Hingegen werden diejenigen Zeichen willkürlich genannt, die vermöge ihrer Natur mit der bezeichneten Sache nichts gemein haben, aber doch willkürlich dafür angenommen worden sind.« (JubA I, 437 f.) Willkürliche Zeichen, die sich mit dem bezeichneten Gegenstand über arbiträre Festlegungen verbinden, vermitteln Inhalte rational-begrifflich oder über die Gewohnheit, einer unbewusst ablaufenden Verknüpfung von Zeichen und Bezeichnetem. Sie sind damit Konventionen unterlegen; ihr Vorteil aber ist ihre Unerschöpflichkeit. Alles kann durch willkürliche Zeichen ausgedrückt werden, wohingegen der Umfang der natürlichen Zeichen begrenzt 167

»Wenn der Sprachgebrauch hier ja schöne Künste und schöne Wissenschaften unterscheidet; so nimmt er vielmehr das Wort Wissenschaft vielmehr [sic] in uneigentlicher Bedeutung. Der Franzose spricht, belles lettres, aber nicht belles sciences. – Die belles lettres verhalten sich zu den beaux arts nicht, wie Wissenschaften zu Künsten; sondern wie Künste, die sich willkührlicher Zeichen, zu Künsten, die sich natürlicher Zeichen bedienen.« (LB 137: 18. Dezember 1760, JubA V/1, 315) 168 Vgl. Wellbery 1984, 62–68. Mendelssohn referiert an oben genannter Stelle auch auf Batteux; dieser hatte die Unterscheidung zwischen einer Sprache der Vernunft und einer Sprache der Leidenschaften betont und nebenbei auch die Musik als eine herausragende Kunst zur Artikulation des Gefühls betont; siehe die Übersetzung Einschränkung der schönen Künste auf einen Einzigen Grundsatz, Leipzig 1751, 224–64 (»Von der Musik und Tanzkunst«); vgl. Riedel 1994b, 432 ff. und Grimm 1999, 167 f.

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ist.169 Natürliche Zeichen entfalten also, so Mendelssohn, durch ihre direkte Vermittlungsfunktion unmittelbarer Empfindungen im Rezipienten, als es die in rationaler Überformung des allein Abbildenden entstandenen willkürlichen Zeichen, die den »Umweg der Reflexion« nehmen müssen. Demgemäß ordnet er den »schönen Künsten« (Malerei, Bildhauerkunst, Musik und Tanzkunst170) die natürlichen171, den »schönen Wissenschaften« (Dichtkunst und Beredsamkeit) die willkürlichen Zeichen zu. Darüber hinaus kann ein »zugleichseiender« bzw. »aufeinanderfolgender« Zeichengebrauch das Ausdruckspotential (Handlungen, Mimik, Gestik etc) und die Ausdrucksintensität der jeweiligen Kunstgattung bestimmen.172 Hier ist der Rezeptionsaspekt entscheidend. So besteht der Tanz aus einer zeitlich geordneten Zeichenabfolge, wohingegen Malerei und Skulptur zwar zugleichseiende Zeichen (in einem Bild, einer Skulptur) bieten, die jedoch ebenfalls in einer zeitlichen Abfolge rezipiert werden müssen. Musik schließlich ist die Königsdisziplin, in der beide Aspekte zusammenkommen. Zeitliche Aufeinanderfolge (Melodik) sowie Zugleichsein der Töne (Harmonik) machen ihren Reiz aus.173 Es herrscht ein »Gleichgewicht verschiedener Wahrnehmungsebenen«, das auch den »Widerspruch zwischen sinnlichem Vergnügen und rationalen Grundlagen« in der Musik auflösen kann (Lütteken 2000, 167). Hierin liegt nach Lütteken der originelle Aspekt von Mendelssohns musiktheoretischen Überlegungen: Es ging ihm nicht nur darum, Musik als Körper und Geist gleichzeitig und gleichberechtigt affizierenden Kunst zu charakterisieren, sondern auch, »das Wesen der Musik gerade als Abfolge von Konsonanz und Dis169 Auf die Frage, wie ein natürliches Zeichen »objektive« Bedeutung erhalten kann, d. h. einen Gehalt, der über die Bekundung subjektiver Befindlichkeiten hinausgeht, hat sich Mendelssohn bereits in der Auseinandersetzung mit Rousseau im Sendschreiben und auch in später niedergeschriebenen Skizzen zu einer Sprachphilosophie auseinandergesetzt; vgl. Kap. IV.1, sowie Pollok 2009. 170 Laut Wellbery (1984, 31) liegt die Wurzel für Mendelssohns Auffassung des Tanzes als eines natürlichen Ausdrucksmediums zweifellos bei Wolff, wobei dieser diesbezüglich auf die einschlägigen Arbeiten Raoul Anger Feuillets (1653–1709; 1700 erschien sein Hauptwerk Choréographie, ou l’art de d’écrire la danse) zurückgreift. 171 Und nur in diesem Sinne kann Mendelssohn hier auch dem Konzept von Baumgartens Definition der Ästhetik aus der Metaphysica folgen, dass die Schönheit zugleich die sinnliche Erkenntnis wie die Darstellung betreffe (vgl. ebd., § 533 im Gegensatz zu Aesthetica, § 1; vgl. Proß 1987, 866 f.): mit natürlichen Zeichen dargestellt, sei – so die Hypothese – Darstellung und Wirkung einander gleich. 172 Desweiteren nennt Mendelssohn noch in den Notizen zum Ursprung der Sprache die »nachahmenden«, in den Anmerkungen zum Laokoon-Entwurf »täuschende« und »nichttäuschende« Zeichen, deren Erklärungspotential allerdings nicht über die oben erwähnten Zeichenarten hinausgeht, sondern einen bereits mit der Illusionstheorie (im rudimentären Sinne, immerhin hatte sie Mendelssohn zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Skizzen noch nicht gänzlich ausgearbeitet) zusammengesetzten Komplex bildet. Vgl. zu Lessings Überlegungen des künstlerischen Zeichengebrauchs Laokoon I, XVI f. (Werke 5/2, 116–29) und die Paralipomena, ebd., 219, 312–17. 173 Haimberger 1975, 41 ff. reformuliert dies so: die Musik bringe Emotionen hervor, ahme aber nicht nach. Mendelssohns Lesart ist dies allerdings nicht, wie das Folgende zeigen soll.

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sonanz zu bestimmen« (ebd., 168). Dies hebt wiederum den dynamischen Aspekt seiner Wahrnehmungs- und Genusslehre hervor, denn das Ineins von intellektuellem und sinnlichem Genuss gelingt in der Musik durch das Zusammenspiel von Spannung und Entspannung, Erwartung und Erfüllung. »Erstmals waren die ›schöne‹ Konsonanz und die ›nicht mehr schöne‹ Dissonanz als gleichgewichtige Bestandteile der Musik produktiv anerkannt.« (ebd.) In der Ästhetik des 18. Jahrhunderts galt Musik generell als das dominierende Medium des Gefühlsausdrucks (so Riedel 1994b, 431), was sie zum idealen Kandidaten zur Exemplifizierung der Theorie der vermischten Empfindungen und von Mendelssohns Zeichentheorie macht. Dabei war das theoretische Niveau beispielsweise der Artikel in Sulzers Allgemeiner Theorie sehr hoch; waren sie doch vornehmlich von führenden Musikern des Berliner Komponistenkreises wie Johann Philipp Kirnberger, Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Abraham Peter Schulz verfasst.174 Grundlegende Frage war, wie eine Theorie der affektiven Effekte der Musik »im Rahmen eines rationalen Ansatzes« bewältigt werden könnte (Lütteken 2000, 168). Mendelssohn nahm das Ausdruckspotential der Musik als außerordentlich weit an, da sich hier nicht nur der freie Zeichengebrauch, sondern auch ein Spiel mit den Zeitebenen der Rezeption anbietet. Musik zeigt mögliche Beziehungen einzelner Töne nacheinander und gleichzeitig untereinander an; sie ist die »Übereinstimmung der einzelnen Töne zum Ganzen« und die »wechselweise Beziehung der Theile aufeinander«, die Einheit des Mannigfaltigen in seiner temporären und abwechslungsreichen Folge. Das Widersinnigste kann in der Musik als verbunden und verbindbar erfahren werden – das ist ihr großes Plus vor Malerei und Plastik. Selbst das Potential des Erhabenen ist in der Musik vollkommen ausgedrückt: Man bewundert die Schönheit der Linienführung, ist überrascht von der Erhabenheit des Genies, das diese Verbindungen schaffen konnte und wird mitgerissen durch einen überwältigenden harmonischen Eindruck. Interessant an dieser Bemerkung ist, dass hier wiederum enge Verbindungen mit der Rhetorik möglich sind, die Mendelssohn eigentlich dem anderen Gegenstandsbereich der Kunst, den schönen Wissenschaften, und damit einem anderen Zeichensystem zugeordnet hatte. Allerdings ermöglicht seine Einteilung auch eine Kombination aus verschiedenen Modellen. Die Musik wirkt subtiler als die Rhetorik, weil sie durch den (emotional betonten) Gebrauch 174

Vgl. Riedel 1994b, 432 f. Riedel zufolge berufen sich dabei alle auf Batteux, sowie Rousseaus Überlegungen zur Sprachphilosophie. Der von ihm genannte Essai sur l’origine des langues erschien allerdings erst postum 1782. Es liegt viel näher, auch einen Einfluss von Mendelssohns Schriften zu vermuten; schließlich galt Mendelssohn seit seiner Skizze Versuch, eine vollkommen gleichschwebende Temperatur durch die Construction zu finden (anonym von Friedrich Wilhelm Marpurg in den Historisch-Kritischen Beyträgen zur Aufnahme der Musik 5.2, Berlin 1761 veröffentlicht; abgedr. in JubA II, 187–96) als ein anerkannter Musiktheoretiker und war darüber hinaus mit den wichtigsten Berliner Komponisten persönlich bekannt; vgl. dazu Lütteken 2000, 160 f. und 169 f.

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der natürlichen Zeichen stärker den Aspekt des sinnlichen Vergnügens nutzt und diesen mit den Wirkungen der willkürlichen Zeichen auf den Verstand kombiniert. Dieses Zusammenspiel soll im Folgenden interessieren, um den Anschluss der Zeichenlehre an Mendelssohns Theorie des Vergnügens zu verdeutlichen. In den Briefen über die Empfindungen hatte Mendelssohn die Instrumentalmusik gefeiert; in der folgenden, um 1757/58 entstandenen Skizze Briefe über Kunst jedoch die Anbindung der Musik an einen Text – und damit auch an willkürliche Zeichen – gefordert. So ließe sich mit Lütteken (1999, 149) »Mendelssohns Ablehnung […] auch verstehen als Rückzug vor einer musikalischen Sprache, die eben nur noch die Sinne anspricht – und die demnach nur ein unvollständiges […] Vergnügen bereitet.« Grimm (1999, 168) hat hier eingewandt, dass diese Kritik vielleicht eher als direkte Schelte des »liebliche[n] Geklingel[s]« zeitgenössischer »Liebhabermusik« gemeint sei, aber nicht generell die Musik unter die Fuchtel der Vernunft zu stellen beabsichtigte. Zwar sprechen für Mendelssohns Wertschätzung der nicht-nur-sinnlichen Musik die interessanten Arbeiten, die aus der Zusammenarbeit von Mendelssohn und Kirnberger erwuchsen175, sowie seine in den Hauptgrundsätzen vertretene Theorie der vermischten Künste wie der Oper; doch rechtfertigt dies allein nicht, von einer generellen Zurücknahme der in den Briefen über die Empfindungen geäußerten Begeisterung für die Instrumentalmusik zu sprechen. Schon die Theorie der vermischten Empfindungen weist darauf hin, dass Mendelssohns Auffassung der Musik nicht an einer moralistischen, abbildzentrierten Ästhetik orientiert war. Die Grundlagen der Schönheit in der Musik liegen in ihrer »Syntax«, also in ihrer der Sprachstruktur verwandten Form: »Die geregelte Syntax ist also nicht das Ziel, sondern der Anfang aller Musik.« (Lütteken 1999, 149) Ihr angenehmer Eindruck beruht aber nicht allein auf Regelhaftigkeit, denn dieses wäre ein allzu leicht zu durchschauendes »Einerley«. Vielmehr muss sie die Seelenkräfte angenehm beschäftigen, indem sie sie aktiviert: beim Musikhören ist die Seele durch »Zweifeln, Vermuthen und Vorhersehen«176 angenehm beschäftigt. Wie die Briefe über Kunst (insbesondere JubA II, 170) zeigen, soll dies jedoch nicht nur durch die Musik allein, sondern auch durch ihre »affektive Ausrichtung am Text« (Lütteken 1999, 157, FN 84) erreicht werden. Fraglich ist allerdings, ob Musik auch absolut, also für sich gilt, oder notwendig in der Verbindung zum Text gesehen werden muss. Vernunft scheint hier ein wichtiges Korrektiv; aber ist die Textgebundenheit dazu das einzige Mittel? Meines Erachtens 175

Lütteken 1999, 153–61 betont die intensive Zusammenarbeit der beiden in den 1770er Jahren, z. B. anlässlich der Psalmenübersetzung und -vertonung. »Die Wahl der Texte, vor allem des 137. Psalms, verrät ein massives [?] Interesse auch an der Darstellung des Schreckens.« (160 f.) 176 Vgl. Lütteken 1999, 149; die Begriffsverwendung erinnert an Baumgartens Ausführungen zum »Vermögen der Voraussicht« in Metaphysica, §§ 595–605 (8. Abschnitt). Allerdings liefert Baumgarten keine Erklärung eines Vergnügens an einer solchen Empfindung.

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ist diese Aussage hinsichtlich von Mendelssohns veröffentlichten Arbeiten zu unsicher, stützt sie sich doch vornehmlich auf die um 1758 entstandenen Briefe über Kunst, die dieser nie fertigstellte. Vielleicht lässt sich mit den folgenden Hinweisen eine Alternative formulieren: Bloße Nachahmung genügt nicht, da sie den Menschen als Vernunftwesen nicht zufriedenstellt. Kunst soll vielmehr auch ein Sinnbild seiner umfassenderen Welterkenntnis sein. Dies ist nur möglich, indem die Kunst ihren künstlichen Charakter wahrnehmbar macht. Sie ist keine Abbildung der Welt, sondern sie idealisiert bestimmte Teile von ihr: sie ist die Darstellung künstlerischer Bewältigung von Welterkenntnis. Dazu solle Musik nicht allein natürliche Lautmuster nachahmen, sondern müsse sich – idealisierend – »über die gemeine Natur erheben« (JubA I, 435; Hervorhebung nur in erster Fassung von 1757, ebd., 171). Denn Schönheit in der Natur liegt letztlich nur in ihrem Gesamtzusammenhang, während der Künstler mit einem begrenzten Bereich Vorlieb nehmen muss. »Die Töne der Natur sind zwar ausdrückend, aber selten melodisch, und der Künstler muß sie verschönern, wenn er gefallen will.« (JubA I, 436) Verschönern bedeutet dabei auch konzentrieren. Ein Teil der Natur als ein in sich vollendetes Ganzes darzustellen ist keine Abbildung, sondern ein künstlerischer Prozess. Musik ahmt Affekte nach, wenn sie ähnliche Affekte hervorruft. Wie das klingt, steht freilich auf einem ganz anderen Blatt. Festzuhalten ist, dass Mendelssohn Musik als ein Extrakt der Affekte verstand, nicht als einen Affekt selbst. So behauptet er in den Thesen Nr. 4–6, 8, 10 in der Skizze Briefe über Kunst, dass der nachzuahmende Gegenstand der Künste nicht schön, sondern dass vielmehr der Geschmack in ihr veränderlich sei, bisweilen bloß auf Wahrscheinlichkeiten beruhe und dass ihre Schönheit in der »Ordnung« bestehe. Alles spricht dafür, dass er hier geneigt scheint, die Musik nicht mehr den schönen Künsten, sondern vielmehr den schönen Wissenschaften zuzuordnen, und damit ihren »Sprachschatz« um den der willkürlichen Zeichen zu erweitern. Wird der Text in die Musik eingebunden, so war dies für Mendelssohn wohl weniger ein Korrektiv, als eine natürliche Erweiterung. Den kalten sprachlichen Symbolen wird eine anschauende Bedeutung beigelegt und modifiziert so deren Richtung. Mendelssohn schien bestrebt zu sein, die »produktive Verbindung« von Konsonanz und Dissonanz durch die Verbindung von Ton und Wort zu erweitern177, nicht rationalistisch einzuengen. 177

Vgl. Lütteken 2000, 182. Die starke Intellektualisierung des Modells einer sprachgebundenen Musik betont Lütteken in Hinblick auf die Anbindung an Kirnbergers Lehre vom »reinen Satz« (Johann Philipp Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, aus sicheren Grundsätzen hergeleitet und mit deutlichen Beyspielen erläutert. Zwei Teile, Berlin, Königsberg 1771 (1), 1776, 1777, 1779 (2)). Dieser verfolgte die Idee einer musikalischen Syntax in Form eines vierstimmigen Choralsatzes, wobei jede Stimme gleichberechtigt und gleichwertig ist (vgl. ebd., 171). Diese Lehre fand ihre erste Umsetzung in einem Choralsatz, der sich einer Übersetzung der Psalmen von Mendelssohn bedient und damit deren erste Veröffentlichung darstellt (ebd., 174). Das beson-

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Dieser Versuch einer gleichberechtigten Kombination aus Text und Affekt als eine subtile Steuerung der Leidenschaften zeigt sich auch in seinen weiteren Überlegungen zum Thema. Er scheint sich sehr wohl der überwältigenden und damit eventuell verfälschenden bzw. zu Agitationszwecken einsetzbaren Wirkung der natürlichen Zeichen in der Kunst bewusst zu sein. Dennoch sind sie ihm zur Erregung der Leidenschaften unverzichtbar. Dementsprechend will er mit seiner Theorie der reflexiven Durchbrechung der Leidenschaften keineswegs letztere zähmen, oder gar von der Bühne verdammen, sondern vielmehr ihre ästhetische Wirksamkeit erhalten. Die »ästhetische Distanz« (Pauen) soll in dieser Hinsicht tatsächlich schützen. Dieser ästhetische Genuss, der Leidenschaften (und nicht ihre Restriktion) erfordert, ist nur möglich, wenn dem Rezipienten ein ästhetischer Freiraum bleibt, der die Miteinbeziehung der (rationalen) Durchbrechung der Illusion bei gleichzeitiger Erhaltung der emotionalen Involviertheit realisiert.178 Mendelssohns Zeichentheorie zielt aus diesem Grund von vornherein an einer reinen Abbildung der Gegenstände vorbei, indem er vielmehr verlangt, dass sie »ästhetisch illudiren« können. Besonders deutlich wird diese Forderung bezüglich der mit willkürlichen Zeichen arbeitenden Künste, also vor allem der Dichtkunst. Sie kann unmöglich intuitiv für Natur gehalten werden. Dennoch besitzt sie eine Illusionswirkung, wenn sie durch die Sprachverwendung die Emotionen der Zuhörer (oder Leser) derart anspricht, dass er eine anschauende Erkenntnis des in willkürlichen Zeichen dargebotenen Gehalts bekommt. Möglich wird dies durch Mendelssohns Annahme einer (stabilen und weithin geteilten) Assoziationskette zwischen Zeichen und Gefühlen. Nachahmung ist damit keine Abbildung, sondern ein psychologisches Spiel der Erinnerung179 – bestimmte Zeichen werden mit bestimmten Inhalten verbunden, auch wenn sie ganz anders ›aussehen‹ als der Gegenstand dieser Erinnerung. Eine gute Nachahmung ist in allen Künsten diejenige, die adäquate Leidenschaften hervorrufen kann, sei es über natürliche oder willkürliche Zeichen. Damit trägt auch die Zeichentheorie zu dem Versuch bei, die Kunst vom Bereich des Rezipienten aus bestimmbar zu machen. Nicht die äußerliche Ähnlichkeit, sondern die Wirkungsäquivalenz ist es, die ästhetisch überzeugt – und dies erreicht die Kunst dere dieses vierstimmigen Satzes ist die starke Verdichtung und Verknüpfung aller, auch dissonant erscheinender Teile: »Die Selbständigkeit der Stimmen garantierte einen Zusammenhang in der Horizontalen auch in dem Augenblick, in dem er in der Vertikalen gleichsam in Frage gestellt war.« (ebd., 172) Hier vermischen sich rationale und emotionale Momente in einer Zeitabfolge und in ihrer (intellektuellen) Zusammenschau. Dass diese Kategorie den Anspruch eines sinnlich-intellektuellen Vergnügens zu erfüllen vermag, darf bezweifelt werden. 178 Duncan 2003, 60 versteht dies vornehmlich produktionsästhetisch: der Künstler soll keine Leidenschaften haben, sondern sie darstellen. Ebenso lässt sich das Konzept jedoch auf den Zuschauer erweitern: er soll leidenschaftlich entflammt, aber nicht unvernünftig werden. 179 Vgl. damit die erwähnte Fußnote in der Rhapsodie, in der Mendelssohn seinen Mitleidsbegriff begründet; siehe hier Abschnitt 3.

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eben mit der Durchbrechung der Natur, bzw. durch ihre ›Konzentration‹ im Zeichen bzw. Kunstwerk. Der Illusionstheorie entsprechend, argumentiert Mendelssohn in diesem Sinne auch nicht für einen uneingeschränkten oder privilegierten Gebrauch der natürlichen Zeichen, sondern verlangt ein Zusammenspiel beider (das sich in ›gemischten‹ Kunstformen besonders deutlich äußert), um den spezifischen Verweisungscharakter der Kunst zu erhalten. Ein klares Plädoyer für das Primat eines durchschlagenden Rationalismus ist dies nicht. Vor dem Hintergrund der Theorie der vermischten Empfindungen, des Illusionspostulats und der Zeichentheorie schließt sich Mendelssohn an die Auffassung Baumgartens von Schönheit als einer »Schönheit der Darstellung« an.180 »This […] category was certainly meant to indicate that works of art contained sources of merit and pleasure independent of other values inherent in the objective world signified by the content of works of art.« (Guyer 1993, 85) Dies macht Kunst und ihren Genuss (oder ihre Beurteilung) jedoch nicht zu einer rein subjektiven Angelegenheit. Die Anforderungen an die Kunstschönheit als Verweisung auf ihre Operation selbst als »Schönheit der Darstellung« und damit die verwendeten Zeichen verleihen dem ästhetischen Objekt einen grundlegend verweisenden Charakter. Kunst ist damit kein subjektiver Ausdruck, sondern der Ausdruck einer spezifischen Form der Vollkommenheit, indem das Artefakt durch seine Konstitution auf ein darüberliegendes geistiges Substrat – und die Art seiner Herstellung – verweist. In diesem Sinne ist die Kunst gebunden an eine über – oder hinter – ihr liegende Vollkommenheit. Guyer (1993, 85) hat dies als eine Gebundenheit der Kunst »to the ontological and moral perfection of the world it represents« bezeichnet. »[A]lthough art has additional sources of value in the formal merits of a special form of cognition«, ist ihre eigentliche Quelle, so Guyer weiter, die objektive Vollkommenheit des Weltganzen. Dies scheint mir jedoch im Lichte von Mendelssohns Empfindungstheorie nicht ganz zutreffend zu sein, denn der Bezugswert ist nicht eine Weltordnung, sondern der Bezug auf einen Menschen – sei es als Schöpfer oder als Rezipient der Kunst. Nun ist es allerdings problematisch, ohne Rückgriff auf eine leibnizianisch objektive Weltordnung die Gleichwertigkeit dieser einzelnen ›subjektiven‹ Vollkommenheiten zu erweisen – und dies ist ein Problem, das Mendelssohns Anthropologie immer begleitet. Jedoch impliziert Guyers Reformulierung eine direktere und unproblematischere Verbindung, als sie sich in Mendelssohns Werk tatsächlich findet.

180

In diesem Sinne ist auch Grimm 1983, 747 zuzustimmen, der in dieser Hinsicht bei Mendelssohn von einer Befreiung der »inventio von einer rigid-rationalistischen Mimesis« spricht. Zugleich schränkt Mendelssohn die ebenfalls von Baumgarten vertretenen Formen der Schönheit als 1. Schönheit der nachgeahmten Objekte und 2. Schönheit als generelle metaphysische Kategorie: »Schönheit der Ordnung« ein, wie das Vorangegangene zeigen sollte.

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Bislang blieb der hier angedeutete Aspekt dieser ›Verweisungsästhetik‹ ungenügend umrissen. Es ist die Rolle des Kunstschaffenden (und die Wahrnehmung dieses Schöpfers im Kunstwerk), die laut Mendelssohn die ästhetische Rezeption über das allein ›Schöne‹ hinausführt und zusätzlich dem Wert des Menschen in der Kunst ein zusätzliches Gewicht gibt, bzw. einen Wert, der sich als unabhängig von der ›objektiven‹ Weltordnung erweist. Was ist und welche Rolle spielt der Schaffende, das Genie in Mendelssohns Kunstauffassung? Inwiefern ist es eine exzeptionelle Erscheinung, inwiefern lassen sich an ihm dennoch grundlegende, also allen Menschen gemeine (oder: in Mendelssohns Menschenbild enthaltene) Charakteristika aufzeigen?

2. Das Genie Mit der Einbeziehung hässlicher oder schrecklicher Gegenstände erweitert Mendelssohn sein Konzept einer Durchbrechung der Illusion als eines eigenständigen – und konstitutiven – Moments der Ästhetik um das psychologische Theorem der vermischten Empfindungen. Diese sind in zweifacher Hinsicht durch einen Widerstreit gekennzeichnet: zum einen stehen sich unterschiedliche Empfindungsqualitäten gegenüber – das Erschrecken vor dem Gegenstand und das positive Gefühl erhöhter »Vorstellungstätigkeit« (bzw. »Realität«, wie Lessing es nennt). Zum anderen entsteht eine Gleichzeitigkeit eines realen Gefühls durch die Illusion (z B. Erschrecken vor der Schlange) sowie dem – die oberen Erkenntniskräfte ansprechenden – Verweis auf das Genie des Künstlers, das dies ermöglichte. Diesen letzteren Aspekt hat Mendelssohn vor allem im Hinblick auf die Nachahmung des Naturschönen im Kunstschönen herausgearbeitet; er ist jedoch auch im ästhetischen Genuss schrecklicher Gegenstände gegenwärtig. Der Eindruck einer Unvollkommenheit bezüglich des Gegenstands ruft damit den subjektiven Eindruck einer höheren Vollkommenheit hervor, die nicht nur aus der ästhetischen Qualität der Sache in der eigenen Empfindung, sondern auch aus der Wahrnehmung einer schöpferischen Kraft hinter dem Kunstwerk besteht. Mendelssohn fügt seiner Erklärung vom Grund des Vergnügens an ästhetischen Gegenständen damit einen weiteren Aspekt hinzu: Vergnügen bereitet nicht allein das Dargestellte, sondern auch eine sich darin artikulierende geniale Schaffenskraft (sei es Gott, sei es ein Künstler). Kunstgenuss ist dementsprechend nicht nur Selbstempfindung, sondern beinhaltet zusätzlich den Hinweis auf einen, wie auch immer gearteten Schöpfer. Der Künstler erhält so – mit Shaftesbury – den Status eines »second maker under jove«181, der imstande ist, die Vollkommenheit des Weltganzen 181

»Such a Poet is indeed a second Maker; a just PROMETHEUS under JOVE.« In Soliloquy: Or, Advice to an Author, in: Characteristicks, Bd. 1, Treatise III, 136 [vgl. hier Kap. I.1, FN 30]. Für

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im Kleinen darzustellen und damit dem schrankenlos agierenden Schöpfer nachzueifern. Im schöpferischen Akt der Weltkonzentration zeigt sich noch einmal das Vollkommenheitspostulat: der Künstler muss der Natur einen »fruchtbaren Augenblick«182 abtrotzen und diesen dann entsprechend seiner Wirkungsweise darstellen können. Wichtig ist dabei als ein Aspekt der ästhetischen Produktion (und auch ihrer Beurteilung) nicht die verständige Regelkenntnis, sondern das Zusammenspiel zwischen dem ungebundenen Genie und dessen Geschmack. Beide Begriffe sind bei Mendelssohn schwankend, auch innerhalb eines Werks.183 Insgesamt zielt er auf eine Verbindung von rationalem Urteilsvermögen und genialer, intuitiver Einsicht in Zusammenhänge, die für den Normalsterblichen nicht erfassbar sind und geht damit in spezifischer Kombination auf Leibniz’ Auffassung der anschauenden/intuitiven Erkenntnis zurück.184 Ein solcherart geschmackvolles und geniales Werk bietet nicht einen Weltabdruck, was auch dem Illusionspostulat widerspräche, sondern ihren Ausdruck, der dem Dargestellten das verbindende Element eines es durchdringenden Geistes gibt.185 In den Litteraturbriefen zum Geniegedanken setzt sich Mendelssohn mit diesem Gebiet eingehender auseinander und versucht, die Pole des Genies und des Geschmacks zusammenzuführen. Worauf er hinauswill, so wird im Zuge seiner Abgrenzung zu Gottsched deutlich, ist nicht eine einheitliche, nach erkenntnislogischen Prinzipien arbeitende Urteilsinstanz, sondern vielmehr eine nur intuitiv leitende, letztlich verworrene Vorstellung des Werkganzen, die sowohl die Erschaffung als auch Rezeption eines Kunstwerks bestimmen soll. Regeln sind damit nicht direkt normativ geltend und auch nicht rational ableitbar – was der Idee eines schrankenlos agierenden Genies widerspräche –, sondern ermöglichen durch eine instinktartige Befolgung die Herstellung eines organischen Zusammenhangs, der den Kunstpro-

Shaftesbury ist dieser Poet zugleich ein »Moral Artist« (ebd.; auch S. 180, ein »moral genius«), der gottgleich Einsicht hat in die »innere Gestalt« und das »innere Gefüge« aller Dinge und Wesen. Mendelssohn nimmt diesen Enthusiasmus zurück, indem er den Dichter auf einen kleineren Ausschnitt der Realität, den dieser zu fassen vermag, verweist. Vgl. zum Dichter als Schöpfer auch Baumgarten, Meditationes, §§ 68, 71, sowie Mendelssohn im LB 123: 21. August 1760, JubA V/1, 243–49 und LB 145: 19. Februar 1761, JubA V/1, 344–47. 182 Vgl. Wellbery 1984, 90: zwar wird immer angegeben, dass Lessing diese Forderung als erster erhob, doch lässt sich hier zeigen, dass Mendelssohn sie vorher formulierte. Jedoch verlieh Lessing ihm eine deutlichere systematische Position. 183 Siehe z. B. in den Briefen über die Empfindungen, JubA I, 86 und 107. 184 Dies wird besonders in einem Brief an Lessing vom Dezember 1756 deutlich; vgl. JubA XI, 84. 185 Die Parallele zum »moralischen« Arzt, wie ihn Marcus Herz und Carl Philipp Moritz propagieren werden, ist hier schon angelegt; nicht umsonst hat Mendelssohn die Ideen beider protegiert und mit beeinflusst. Vgl. Kap. I.1, 42 f.

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dukten als ein menschengemachtes Analogon zur Welt innewohnen soll.186 Sie sind damit zum einen erst ex post formulierbar – und zum anderen hochgradig kontextsensibel. Was für ein Werk die Regel gibt, muss ein weiteres nicht unbedingt verschönern. Die Quellen von Mendelssohns Genie-Begriff sind nicht klar umrissen; es lassen sich Anknüpfungspunkte bei Baumgarten, Batteux, Wieland und Sulzer, sowie dem strahlenden Vorbild Shakespeare feststellen.187 Im § 68 der Meditationes hatte auch Baumgarten vom Dichter als einem Schaffenden bzw. Schöpfer, wie auch von dem Prinzip der Dichtung als »Nachahmung« der Schöpfung gesprochen. Aufgabe der Ästhetik sei es, das schöpferische Prinzip sichtbar und fühlbar machen. Allerdings grenzt die Gebundenheit der Dichtung an dieselbe Quelle wie das höhere Erkenntnisvermögen die geniale Schöpfung wieder ein: das Genie handelt gemäß des analogon rationis, also letztlich auch, wenngleich verworren, innerhalb einer rational geordneten Welt. Das Genie steht nicht außerhalb der Vernunft, sondern ist eine spezifische Form in ihr, die mehr die Vernunft des Gefühls darstellt als Verstandesrechnerei. Auch Batteux hatte sich, und dies mag Mendelssohn nicht angemessen gewürdigt haben, da er dessen Grundsatz der Künste allzu einseitig gelesen hat188, mit der Rolle des Genies beschäftigt. Dabei kommt dem Geschmack (goût) des Künstlers besondere Aufmerksamkeit zu und wird von Batteux als »un amour habituel de l’ordre« (Batteux, 129 f.) ebenfalls der Vernunft nicht entgegengesetzt, sondern als ihre besondere Ausformung verstanden. Ein wichtiger Rezipient Batteux’ war Sulzer, auf dessen Einfluss auf Mendelssohns Werk bereits hingewiesen wurde (vgl. Kap. II.2) und der hier zum Tragen kommt. Dieser will allerdings den Begriff vom Genie nicht als ein lediglich ordnendes Vernunftprinzip, sondern »als Folgeerscheinung einer Kraft« verstanden wissen (vgl. Tubach 1963, 271 ff., Zitat S. 271). Kunst soll Empfindungen 186

Vgl. auch Mendelssohns »Bemerkungen zu den Briefen über die Empfindungen und zu den Philosophischen Gesprächen« (undatiert, wahrscheinlich um 1770) JubA I, 221 f. 187 Ebenfalls ließen sich Alexander Gerards Essay on Taste (zuerst 1759, deutsche Übersetzung 1766) und Essay on Genius (1774, deutsch 1776) als mögliche Quelle anführen; beide Werke waren Mendelssohn sicherlich bekannt, obwohl er sich nicht explizit an sie anlehnt. Die Darstellung zur Geschichte des Genie-Begriffs von Jochen Schmidt (3. Verb. Aufl. Heidelberg 2004) kommt ohne fundierte Hinweise auf Mendelssohn aus; eingehendere Darstellungen legte v. a. Engel 1994, 141–56 und 213–22, mit einem Schwerpunkt auf Mendelssohns Shakespeare-Rezeption vor. 188 Zu diesem Ergebnis kommt, soweit ich sehe überzeugend, Tubach 1963, 274 f. Letztlich diente Batteux Mendelssohn als bloße Kontrastfigur, die zur schärferen Konturierung der eigenen Ansicht entsprechend überzeichnet wurde. Allerdings ist der Einschätzung Tubachs, dass bei Batteux »überhaupt die Eigenschaften des Künstlers und ihre Harmonie untereinander eine größere Rolle [spielen] als bei Mendelssohn, der mehr Nachdruck auf den Zweck der schönen Künste legt« (Tubach 1963, 276) nicht ganz zutreffend. Mit seinen Überlegungen zum Genie versucht auch Mendelssohn, den Konstitutionsbedingungen durch den Künstler gerecht zu werden; letztlich ruht sein Konzept des Erhabenen entscheidend auf dieser Theorie auf. Allerdings liegt der Schwerpunkt seiner Theorie auf der Rezeption, nicht der Produktion von Kunst.

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hervorrufen, nicht eine ästhetisch-idealisierte Vorstellung von der Symmetrie und Einheit in der schönen Natur, wie es Batteux »streng rationalistisch« (ebd.) gefordert habe. Sulzer interessiert sich weniger für in einer Natur vorfindliche Vernunftprinzipien, als für deren psychologische Ausformulierung in den Gesetzmäßigkeiten von Emotionen und Vorstellungskraft, was ihre Begründung in der Vernunft nicht automatisch gänzlich aufhebt. Der Fokus seiner frühen Aufsätze zu psychologischen Fragen liegt, ähnlich demjenigen Mendelssohns, mehr auf dem Darstellungsprinzip der Kunst als in einer Abbildtheorie. In Anlehnung an seinen Aufsatz Analyse du génie189 lässt sich Genie verstehen als ein »Temperament der Seele« in analogem Verständnis zu den Temperamenten, die Sulzer auf das Begehrungsvermögen bezieht. Es ist damit eine spezifische innerseelische Struktur des Erkenntnisvermögens190; ein »Geschenk der Natur« (Sulzer, Genie, 319), das nicht durch Übung erworben werden kann.191 Mendelssohn nun – in den ihm zugeschriebenen Litteraturbriefen – nimmt diese Ansichten dankbar auf und fügt sie in seine Theorie ein.192 Zustimmend werden in der Rezension Sulzers die Fertigkeiten genannt, die einen genialen Künstler auszeichnen: auf der Grundlage der vivida vis animi (Lukrez, De rerum natura I, Z. 72), also der »lebhaften Würksamkeit des Geistes« (92. LB: 3. April 1760, JubA V/I, 168) sind »Witz« und »Urteilskraft«, aber auch »Besonnen-

189 Erschienen in den Histoires de l’Académie (1757) Bd. XIII, 392–404; deutsch 1773 mit dem Titel Entwickelung des Begriffs vom Genie. Nowitzki 2003, 380 weist in seiner Besprechung nicht darauf hin, dass dieses Werk den Zeitgenossen gut 16 Jahre früher bereits zugänglich war. 190 Vgl. die diesbezügliche Diskussion bei Nowitzki 2003, 380 mit Verweis auf Sulzer 1773, 308–11. 191 Sulzer geht sogar noch weiter. Der »innere Grad der thätigen Kraft der Seele, der dem Genie zur Grundlage dient«, hängt »größtentheils von der Beschaffenheit des Körpers ab« (Genie, 319). Diesen für die Anthropologie Platnerscher Prägung wichtigen Aspekt hat Mendelssohn so nicht aufgenommen. 192 Auch wenn also eine sichere Zuweisung der Urheberschaft der einzelnen Briefe nicht möglich ist, sollen im gegebenen Zusammenhang auf einige dort angesprochene Aspekte, die zumindest in Mendelssohns Gesichtsfeld als eines Herausgebers der Litteraturbriefe erscheinen mussten, angesprochen werden. Zammito (2002, 239 f.) sieht in ihnen eine stärkere Hinwendung zu empirischen und psychologischen Untersuchungen, weg von Baumgartens »cognitive approach to beauty«, den er in den Quellen und Verbindungen (dem 1757er Vorgängertext der Hauptgrundsätze) als Referenzautor benennt. Allerdings ist gegen diese Ansicht zu sagen, dass Mendelssohn zwar Batteux, Dubos, Hutcheson, Kames etc. diskutiert, aber immer kritisch reserviert bleibt. Mehr noch, in Bezug auf den vernünftigen Nutzen der Künste ist eher eine verstärkte Hinwendung zu rationalistischen Positionen zu beobachten. Dass er in seinen Rezensionen also immer »offener« oder »fortschrittlicher« gewesen sei, als in seinen veröffentlichten Schriften, entbehrt noch einer ausreichenden Begründung. Auch Meier 1978 (siehe Diskussion bei Albrecht 1982) ist durch seine auf Kant ausgerichtete Lesart nur begrenzt verlässlich. Die Jubiläumsausgabe bietet zwar eine Fülle an Litteraturbriefen, die Mendelssohn zugeschrieben werden und auch einen eingehenden Anmerkungsapparat; jedoch erscheinen einige Entscheidungen parteiisch, wie die umstrittene Zuordnung der Kant-Rezensionen, die auch Resewitz als Verfasser wahrscheinlich scheinen lassen.

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heit« erforderlich. Das Genie muss begeistert und lustvoll agieren, aber zugleich auch die Herrschaft über sich behalten – ohne dass diese Mäßigung zur »kritischen Feile« (ebd. 171) verkommt, mit der der Künstler am Werk glättend Hand anlegt. Mendelssohn führt das Genie auf dessen spezifische Natur zurück, das seine Regeln nicht vom Kunstrichter, sondern aus sich selbst schöpft. Dem Künstler müssen die Regeln gleichsam zur zweiten Natur geworden sein und nehmen so bei ihm die Form des ›nicht-anders-Könnens‹ an. Anders herum, kann damit auf das Genie zur Erschaffung des Kunstwerks nicht verzichtet werden; Regeln hingegen sind nur bedingt wichtig: »Das Genie kann den Mangel der Exempel ersetzen, aber der Mangel des Genies ist unersetzlich.« (60. LB: 11. Oktober 1759, JubA V/1, 89) Das Primat der genialen vor der regelkonformen Schöpfung betont auch der 84. Litteraturbrief in Bezug auf Shakespeare193 (LB 84: 14. Februar 1760, JubA V/1, 136 f.). Ein Genie kann es sich erlauben, Regeln zu übertreten und beispielsweise Geister auftreten lassen oder an sich unglaubliche Aktionen imaginieren. Man kann aus dem Abstand des Kunstkritikers diese Aktionen tadeln; dem positiven ästhetischen Urteil tut dies keinen Abbruch: »Wer das Gemüth so zu erhitzen, und in einen solchen Taumel von Leidenschaften zu stürzen weis, als Shakespear, der hat die Achtsamkeit seines Zuschauers gleichsam gefesselt, und kann es wagen, vor dessen geblendeten Augen die abentheuerlichsten Handlungen vorgehen zu lassen, ohne zu befahren, daß solches den Betrug stöhren werde.« (JubA V/1, 137)194 Genial meint dabei nicht ein bloß über-menschliches Können in einer einzigen Sache, denn sonst wäre es monströs, sondern eine besondere Zusammenstimmung sämtlicher Seelenvermögen. Damit folgt Mendelssohn Baumgartens Bestimmung des Genies, die dieser im § 648 der Metaphysica »mit der ihm [Baumgarten] gewöhnlichen Kürze« (JubA V/1, 166) dargelegt habe195: »Das, was man vorzugsweise Genie 193

Hier ist die Autorschaft Mendelssohns mit größerer Sicherheit anzunehmen, da er sich schon früh dem Werk Shakespeares zuwandte und es als erster in freien Rhythmen, dem Ausdruck des Originals angemessener, übersetzte. Vgl. dazu Rhapsodie, JubA I, 407 f., Ueber das Erhabene und Naive, JubA I, 468 f., sowie die Aufsätze von Engel 1994. 194 So auch in der Auseinandersetzung über den künstlerischen Wert von Rousseaus Nouvelle Héloïse, die Mendelssohn nicht überzeugt hatte: »Sehen Sie, mein Freund! was der Kunstrichter vor dem Autor voraus hat? Auch jener will Empfindungen erregen, aber gemeine, keine Wunder, keine Zauberwerke.« und kurz davor, auf den »Zauberer«, den Autor gemünzt: »Wenn der ästhetische Zauberer mit seine Wunder zeigen will; so muß sein erstes Wunder seyn, meinen Glauben zu fangen, und ihm die Augen auszustechen, um nach belieben seinen Spott mit ihm treiben zu können. Als Kunstrichter habe ich ein Recht den starken Geist zu spielen, und in seine geheimnißvolle Künste ein Mistrauen zu setzen. Er muß entweder meine Empfindungen bezaubern, oder ich bin ungläubig. Er mag immer schämen und rufen: ich sehe Erscheinungen von der Erde aufsteigen! Ich muß sie selbst sehen, oder ich glaube, es geht in seinem Gehirne um.« (LB 192: 29. Oktober 1761, JubA V/1, 451), vgl. hier S. 202 f. 195 Im Vorangehenden weist Mendelssohn darauf hin, dass ihm Baumgartens ausufernde Distinktionen oft zu spitzfindig sind. Nun wisse er aber, dass Baumgarten in seinen Vorlesungen

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nennet, könnte nach dieser Erklärung heissen, eine solche Proportion der erkennenden Seelenvermögen, die dazu übereinstimmen, den Menschen, der sie besitzet, zu gewissen Verrichtungen in ausnehmenden Grade geschickt zu machen. […] Mit einem Worte, das Genie muß Meister über seine Begeisterung seyn, die Vernunft muß in dem Temperamente seiner Fähigkeiten, oben an sitzen, und im Sturme der Leidenschaften selbst, das Steuer nicht verlieren.«196 (LB 92: 3. April 1760, JubA V/1, 167 f. und 170) Damit gesellt sich dem Genie die komplementäre, ästhetisch notwendige Fähigkeit des Geschmacks197 hinzu. Dass Mendelssohn hier implizit die Perspektive wechselt, von der Introspektion in das Wesen des erhabenen Geistes zur weniger exhaltierten Bewertung durch einen Rezipienten (Engel, Kind, oder der mündige Theaterbesucher), verkompliziert die Anlage dieser Theorie freilich. Aufgabe des geschmackvollen Genies ist es, »[d]as Mittel zwischen beiden Extremitäten [sic. Gemeint sind wohl Extreme wie Weitschweifigkeit und Dunkelheit, A.P.] zu finden, und zu halten« (JubA V/1, 558). Diese Tätigkeit der Ausbalancierung wird hier ausdrücklich nicht der genialen Schaffenskraft, sondern dem Geschmack als einem komplementären Vermögen zugewiesen. Diese Aufspaltung, noch dazu sie im Gefolge der Shakespeare-Rezeption auftritt, scheint mir ein Hinweis darauf zu sein, dass die Vernunftaffinität im Geschmack diesen zunehmend als ein Vermögen der Wahl verortet, wogegen mit der Konzeption des Genies der Part des unbewussten Handelns betont wird. Sinnvoll erscheint diese Aufteilung, um die erhabene Größe des Genies als eines Menschen, der normalmenschliche Vorstellungskraft sprengt, seinen Hörern »den Nutzen und die Wichtigkeit seiner subtilsten Eintheilungen« (JubA V/1, 311) mitteilt und nimmt deshalb die verknappten Distinktionen als »notiones directrices, die auf wichtige Warheiten leiten« (ebd.). Es fällt auf, dass Mendelssohn in den Litteraturbriefen häufig auf Baumgartens Metaphysica, nicht die Aesthetica zurückkommt; die dort gemachten Bestimmungen erschienen ihm anscheinend anschlussfähiger. Dass er auch die Aesthetica kennt, zeigen jedoch Erwähnungen in LB 135. Siehe desweiteren den darauf folgenden Brief vom 18. Dezember 1760, JubA V/1, 311: Durch einen Freund hat Mendelssohn einige Mitschriften von Baumgartens Vorlesungen erhalten; laut Anmerkung (JubA V/1, 312) ist eines dieser Manuskripte zur Vorlesung Sciographia encyclopaediae philosophicae, ein enzyklopädisch angelegter Versuch der Einteilung aller Wissenschaften. Mendelssohn schien bemüht, sich ein möglichst umfassendes Bild von Baumgartens Denken zu machen. 196 Vgl. LB 275: 8. März 1764, JubA V/1, 587 – hier setzt Mendelssohn die Vorgehensweise im Verfassen einer Ode fest. Der Plan zu einem Gedicht müsse auch mit Vernunft und Bedacht, nicht nur mit bloßer Begeisterung aufgesetzt werden, denn sonst seien zwar gute Stellen darin, aber alles zusammen machte kein »Ganzes« aus. »Alsdenn [wenn der Plan mit Vernunft festgelegt ist] eilet der Strom der Gedanken seinen Weg unaufhaltsam und sicher, und die blosse Natur erfüllet alle Bedürfnisse der Kunst.« 197 Vgl. LB 236: 27. Mai 1762, JubA V/1, 530 und LB 254: 9. September 1762, JubA V/1, 558 – Es ist zu beachten, dass diese Briefe nach der ersten Auflage der Philosophischen Schriften erschienen; Mendelssohn schien also noch nicht ganz mit seinen dort unternommenen Bestimmungen zufrieden.

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stärker hervorzuheben. Ein geniales und zugleich goutierbares Kunstwerk allerdings entsteht erst durch das Zusammenspiel beider Vermögen, die sich nicht zwingend in einer Person vereinigen müssen. Kurz gesagt, schreibt ein Genie nicht immer für seine Mitmenschen, sondern bisweilen für Engel, oder auch für Kinder (vgl. JubA V/1, 558); es ist sich selbst Regel und Maßstab. Die Auswahl nach Geschmack jedoch soll die genialen Werke einem Publikum zugänglich machen. »Hingegen lehret uns der Geschmack unser Absehen allezeit auf eine gewisse Reihe von Lesern zu richten, durch Beobachtung und Nachdenken der höchsten und niedrigsten Stufen von Einsichten zu erfahren, die man ihnen zutrauen kann, und endlich im Durchschnitt denjenigen Ausdruck zu wählen, bey welchem der Geringste aus dieser Reihe nicht weniger, der Aufgeklärteste aber weit mehr denkt, als geschrieben stehet.« (JubA VI/1, 558) Zusammengefasst gesagt, ist das solcherart ausgewogene Genie die höchste und vollendetste Form des Menschen, der eines umfassenden und ansprechenden Ausdrucks fähig ist. Mit der Kenntnis der »inneren Form« der Dinge – diesen Gedanken übernimmt Mendelssohn von Shaftesbury – hat es Zugang zur Erkenntnis des ganzen Menschen. Am bestimmtesten fasst er dies im LB 208: 7. Januar 1762: »[D]as Wesen des Genies [ist] durchaus in keine Fähigkeit der Seele allein und ausschließungsweise zu setzen […], sondern, daß alle Vermögen und Fähigkeiten der Seele in einem vorzüglichen Grade zu einem grossen Endzwecke übereinstimmen müssen, wenn sie den Ehrennamen des Genies verdienen sollen.« (JubA V/1, 484) Diese Erkenntnis ist wiederum menschlich, also nicht vollständig klar und deutlich, sondern drückt sich gerade in der Überschreitung der armen Abstraktion (Baumgarten) in der fruchtbaren Fülle der umfassenden, und das heißt: poetischen Gedanken aus. Daneben betont Mendelssohn hier, wie erwähnt, den Rezeptionsaspekt. Die Konzentration dabei auf das menschliche Maß des Geschmacks und dessen Rolle für die individuelle Vervollkommnung zeigt sich am deutlichsten in seinen Notizen zu Riedels Ueber das Publikum, (JubA III/1, 285–89, hier 288 f.).198 Dort hält er scheinbar gegen Riedel das Ideal eines ›objektiven‹ Geschmacks hoch. In Anlehnung an die normative Reglementierung des Willens, der nicht wollen soll, was ihm prima facie

198 Weder Einleitung noch Kommentar der Herausgeber in JubA enthält eine exakte Datumsangabe. Mendelssohns Kommentare können frühestens 1768 bei Erscheinen des betreffenden Werks entstanden sein. Da der Text einige direkte Anredeteile enthält, vermuten die Herausgeber (ebd., XLVI), dass Riedel sein Buch an Mendelssohn mit der Bitte um Kritik selbst geschickt haben könnte und entsprechend die abgedruckten Notizen der Entwurf einer schriftlichen Antwort darstellen. In jedem Falle zeigt sich Mendelssohn nicht bereit, den unbekümmerten Subjektivismus Riedels zu folgen; die Reaktion auf Schönheit als eine mögliche Form des Vergnügens sei zwar von »den Winkeln und Falten der Seele« (ebd., 287) abhängig, könne jedoch keinesfalls allein aus ihnen – also der individuellen Prägung und Gewohnheit – abgeleitet werden.

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gut erscheint, sondern was gut ist199, verbindet auch die Ästhetik zur Ausbildung eines Geschmacks, der dem Menschen zuträglich ist. Kriterien dieses Gefallens sind die erwähnten Arten des Vergnügens, die sich in einem ausgewogenen Verhältnis befinden müssen, um nicht nur sinnlich zu befriedigen, sondern auch zu »verbessern«. Uns »gefällt, was irgend eine natürliche Fähigkeit unseres Leibes, oder unserer Seele, oder beider zugleich, in einer ihnen zuträglichen Uebung und Beschäftigung erhält das heißt, verbessert [oder vervollkommnet; A.P.]. Was diese befördert, jene in ihrer Wirksamkeit hindert, kan gefallen und auch misfallen, nachdem die eine, oder die andere Seite daran hervorsticht, und sich unsers Gefühls bemächtiget. Hieraus läßt sich erklären, was in der Unbeständigkeit des Geschmaks subjektiv ist. Allein wir sind verbunden alle unsere angebohrne Fähigkeit, in einer [sic] unserer Vollkomenheit zuträglichen Verhältnis, zu üben und in Wirksamkeit zu erhalten. Daher giebt es in der Schönheit wirklich ein Maximum, ein Ideal, und wir verbessern unsern Geschmak, je fähiger wir uns selbst machen, dieses Ideal alle[n] geringern Schönheiten vorzuziehen. Richtig ist unser Geschmak, wenn wir einen Gegenstand desto schöner finden, je mehr er unsere mannigfaltigen Vermögen und Kräfte, in einer unserer Vollkommenheit zuträglichen Verhältnis, beschäftiget, und je weniger derselben er in ihren Verrichtungen stöhret.« (JubA III/1, 288 f.) Es muss also, aller subjektiven Färbung zum Trotz, einen Geschmack geben, der objektiv der Vollkommenheit bzw. Vervollkommnung der Menschen »zuträglicher« ist. Wie dieser Geschmack aussieht, lässt Mendelssohn offen. Dennoch ist seine Polemik gegen Riedel deutlich: einen anderen Geschmack herbeizuwünschen erfordert immer, sich dessen weitreichender Konsequenzen gewärtig zu sein: »Der Lohnsteinsche Geschmak war zu seiner Zeit gut, der unserige ist auch gut, aber für unsere Zeiten. – Es kan seyn! – Allein die Frage ist, Sollen wir uns bemühen jene Zeiten wieder hervor zu bringen, in welchen der Lohnsteinsche Geschmak gut war? Welcher Geschmak ist der Vollkomenheit des Menschen zuträglicher [?]« (JubA III/1, 389) Letztlich behilft sich Mendelssohn in dieser Skizze einer formalen Zusammenfassung, wo er den »wahren« Geschmack vermutet: »Wer sich von einem ekelhaften oder lächerlichen Nebenbegriff nicht abhalten läßt, das Schrekliche, Kühne oder Erhabene in seiner ganzen Stärke zu fühlen, bey andern Gelegenheiten aber wo die Collision vermeindlich ist, sich am Feinen und Anständigen zu ergötzen geübt hat, dessen Geschmak ist richtiger.« (ebd.) Die universelle Dimension des Geschmacks in seinem Dienst zur Vervollkommnung des Einzelnen spielt für Mendelssohn also eine so bedeutende Rolle, dass er die Subjektivität eines Geschmacksurteils in den Hintergrund drängt. Es mag die übertriebene Position Riedels sein, die seine Absage an ein individuelles Maß derart scharf werden ließ. Sein Bemühen darum, einen objektiven Maßstab zu erhalten, 199

Wie auch immer Einsicht darin zu erhalten ist: »[…] gut ist, was ich wollen soll […]«, JubA III/1, 288.

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ist jedoch unübersehbar.200 In seiner Verbindung von Genie und Geschmack, inspirierter Fülle und ordnender Einsicht, hat er diesem Ziel ein spezifisches Gesicht gegeben. So findet sich bei ihm die Betonung der Ungebundenheit, ja Wildheit des Genies, wie sie in Stellen des Spectator, als einem Organ der britischen ästhetischen Theorie, zum Ausdruck kommt, in seinen Ausführungen nicht.201 Es ging ihm vielmehr – ähnlich Lessing – darum, die besondere Kraft des Genies aus den Gesetzmäßigkeiten von Vernunft und Emotion allgemein zu entwickeln, um zugleich auch die Strukturgleichheit von Welt und genialer Schöpfung zu betonen und dennoch soweit möglich die Unverzichtbarkeit der individuellen Perspektive zu erhalten. Damit versucht er, Genie und Geschmacksregeln nicht entgegenzusetzen, sondern beide auf eine Quelle in den Gesetzen der Empfindungen und ihrer Rezeptionsarten zurückzuführen, die das Genie lediglich unbewusst – aber regelkonform – befolgt. Das Genie folgt demnach schlicht seiner eigenen, in diesem Falle perfekt harmonisch geordneten Natur.202 Es ist der Paradefall des ganzen Menschen, der es geschafft hat, sich allgemein mitzuteilen. – Dieses Genie ist dann auch fähig, das Erhabene auszuhalten und selber – unbewusst203 – hervorzubringen.

3. Das Erhabene und Naive Fassen wir das Bisherige zusammen. Konstitutiv für das ästhetische Erleben eines Kunstwerks, sei es schrecklich oder schön, ist ein bestimmtes Verhältnis zwischen Künstler und Rezipienten: die »Fußtapfen« (JubA I, 479) des Genies müssen für letzteren sichtbar bleiben.204 Das Genie, das nur »für Engel« schafft, ist dahinge-

200

Bamberger hält in der Einleitung zu JubA III/1, XLVI f. fest, dass dieser Maßstab, angelegt an den leibnizschen Monadenbegriff, nicht sonderlich sicher ist, sondern vielmehr das gespannte Verhältnis zwischen Objektivität und Subjektivität betont. Die »persönliche Vollkommenheit und ihre Bedürfnisse« führen, gelten sie als objektiver Maßstab, ins Subjektive zurück. 201 Vgl. dazu Jacobs 2001, 112 ff: Genie als das Wilde, Undisziplinierte, der »Gott in uns« (Young); »never disciplined and broken by rules of art« (Addison). Die Idee des »unschooled« im Gegensatz zum »learned genius« wurde v. a. durch Addisons Aufsatz im Spectator 160 (1711, übersetzt 1745) fundiert. 202 Kant hat dies im § 46 der KdU weitaus deutlicher ausgedrückt; insgesamt soll hier aber keine Annäherung des Mendelsohn’schen an den kantischen Urteils- und Geschmacksbegriff erfolgen. 203 So auch in einer griffigen Formulierung in den Morgenstunden: »Der gesunde Menschenverstand, welcher beym Genuß des Schönen allein zu würken scheint, setzt Operationen der Vernunft voraus, die ohne Bewußtseyn in uns vorgehn müssen.« (Morgenstunden, JubA III/2, 33) 204 Dies betonte auch Spalding in der 1763er Auflage seiner Bestimmung des Menschen: »Die Kunst, welche freylich keinen wahren Zusatz zu den Vortrefflichkeiten der Natur machen kann, da sie nur etwas von dem Schönen, was in dieser unerschöpflich ist, nachahmet, die macht doch in so weit einen Zusatz zu meinen Ergetzungen, da sie mir Gelegenheit giebt, die Geschicklichkeit

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gen für dieses rezeptionsorientierte Zusammenspiel ungeeignet. Die Wirkung ergibt sich nicht daraus, dass der Zuschauer, unbeteiligt am Dargestellten, die geschickten Kunstgriffe des Künstlers bewundert. Vielmehr weist ihn die in ihm erregte Leidenschaft, der überwältigende Eindruck des Werks und die zugleich gegebene Möglichkeit, diese Größe wahrzunehmen, auf das Genie des Künstlers als des Schöpfers dieses Werks. Die Eigenschaften des Schönen lassen sich für Mendelssohn also insbesondere über dessen Wirkung erklären. Erst die Wahrnehmung des Schönen verwandelt einen Gegenstand in einen schönen Gegenstand. Auf der Bühne beispielsweise ist nicht das ästhetisch relevant, was nach unpersönlichen Maßstäben vollkommen ist, sondern was zur Vollkommenheit der Befindlichkeit des Zuschauers beiträgt. Dies ergibt sich – wie die Ausführungen unter Abschnitt 1 zeigen sollten – nicht nur durch Wahrnehmung einer Idealperson, sondern auch über die affektive Wirkung unvollkommener Charaktere oder Umstände sowie durch den die Kunst als Kunst auszeichnenden grundsätzlichen Verweisungscharakter. Sie referiert durch den in ihr kondensierten Ausdruck künstlerischen Schaffens als idealische Schönheit auf das Genie des Künstlers. Erst aufgrund dieses Aspekts wird ein Kunstwerk wahrhaft vollkommen (so auch Bamberger, JubA I, XXXVI). Indem der ästhetische Gegenstand wesentlich auf das Selbstgefühl des Betrachters sowie auf das Genie seines Schöpfers als seine notwendigen Bedingungen verweist, tritt die objektive Natur des Gegenstands selbst und dessen Bewertung in den Hintergrund. Zugleich wird die subjektive Ebene der Rezeption zum verobjektivierbaren Maßstab, indem sie als eine dynamische Variante des Perfektibilitätspostulats vorgestellt wird. Auch das Hässliche, das Unermessliche und das Schmucklos-Einfache können damit Gegenstände ästhetischer Wahrnehmung sein, die letztlich ›verbessern‹. Mit seiner Theorie der vermischten Empfindungen und des Genies versucht Mendelssohn nun auch den ästhetischen Sonderfall des Erhabenen zu erklären. Dieses ist Thema der an die Hauptgrundsätze anschließenden Schrift Ueber das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften und soll hier kurz angerissen werden. Zum einen dient es der Komplettierung der Darstellung von Mendelssohns ästhetischem Interesse. Zum anderen jedoch zeigt es, wie die Würde des Menschen ihren Platz in Mendelssohns ästhetischer Anthropologie behauptet.

der Hand, oder die Stärke des Witzes zu bewundern, die auch den Menschen in seinem Maaße zu einem Schöpfer machen.« (Spalding 7/1763, 14 f.) Augenscheinlich gehen hier Spalding wie auch Mendelssohn auf die Auffassung Shaftesburys zurück; vgl. Schwaiger 1999, 8 ff.

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

»… bloß dem Grade nach von Schönheit unterschieden …« Das Konzept von 1758 Der Grundsatz, dass das Wesen der schönen Künste im »sinnlichen Ausdruck der Vollkommenheit« (JubA I, 193) bestehe, soll in der 1758 erschienenen Schrift Betrachtungen über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften (Bibliothek II, 2. Leipzig 1758, 229–67) auch auf diese neue Kategorie angewandt werden. Es verwundert kaum, dass Mendelssohn hier noch weitaus stärker mit dem herkömmlichen Vollkommenheitsbegriff operiert, als er es in Anbindung an seine Theorie der vermischten Empfindungen in der Folgezeit tat. Erhaben heißt 1758 dementsprechend dasjenige, was durch einen sich unvermutet zeigenden »außerordentlichen Grad der Vollkommenheit Bewunderung« (JubA I, 193) erregt. Zu differenzieren sind dabei zwei Arten der Bewunderung: zum einen die Vollkommenheit des »vorzustellende[n] Gegenstand[s]« und zum anderen die »ungemeinen Talente des Künstlers, seinen Witz, sein Genie, seine Einbildungskraft« (JubA I, 194, auch 206). Diese grobe Einteilung behält er bis zu den Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Correspondenz (1782), in deren ersten Noten er sich zu Abbts Einwürfen zur Theorie des Erhabenen auseinandersetzt, bei (vgl. JubA VI/1, 32). Für die Charakterisierung des Erhabenen der ersten Art, also der außerordentlichen Vollkommenheit des Gegenstands, greift er dabei auf seine Auffassung der »Bewunderung« zurück, die er im Briefwechsel mit Lessing und Nicolai als konstitutives Moment des Trauerspiels verteidigt hatte.205 Die Empfindung des Erhabenen wird erst hervorgerufen, wenn eine bewundernswürdige Eigenschaft des Protagonisten den Rezipienten überrascht. Letzterer hat weder damit gerechnet, diese Eigenschaft bei dieser speziellen Person, noch in diesem Ausmaß anzutreffen. Das Gefühl der Bewunderung entsteht also, nach Mendelssohn, durch eine unvorhergesehene Wendung – und zwar zum Guten – des Geschehens beziehungsweise des betreffenden Charakters. Zur Charakterisierung des Erhabenen der zweiten Art konzentriert sich Mendelssohn auf den Produktionsaspekt.206 Eine Darstellung erregt auch abgesehen von 205 Vgl. zu den Grenzen der Bewunderung LB 123: 21. August 1760, JubA V/1, 248: »Ich weiß nur Einen Fall, da die vollkommenen Charaktere auf der Bühne erträglich sind. Dieser ist, wenn die tugendhafte Personen [sic] unglücklich werden, wenn sie durch ihre Tugend selbst Raub des Neides und der Verfolgung abgeben, und mit ihrem Schicksale in einem beständigen Kampfe leben müssen. Alsdenn erregen sie unser Mitleid, und schlagen desto tiefere Wunden in unser Gemüth, je mehr Liebe, Hochachtung und Bewunderung sie sich durch ihre moralische Vollkommenheit erworben. So bald der Tugendhafte aber das Unglück überkömmt; so wird er [uns] gleichgültig. Bewunderung ohne Mitleiden, ohne Schrecken, ist für die Dichtkunst überhaupt, und um so viel mehr fürs Theater, ein gar zu kalter Affect.« Hier zeigt sich deutlich, dass der im Trauerspielbriefwechsel angesprochene Koordinierungsversuch von Mitleid und Bewunderung auch Mendelssohns Begriff des letzteren tiefgreifend beeinflusste; vgl. Kap. II.1. 206 Dabei ist die hier angewandte Dichotomisierung nicht die zwischen Inhalt und Form (siehe

II.3 Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie

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ihrem spezifischen Gehalt Bewunderung, wenn sie das Genie erkennen lässt, das sie schuf. Die Empfindung resultiert also aus dem Genuss der Darstellung, die uns in ihrer herausragenden Gestaltung überrascht. Letztlich ist sie, so Mendelssohn 1758, »nur dem Grade nach von der blossen Schönheit unterschieden« (JubA I, 210, so auch noch 1761, JubA I, 591). An sich schreckliche oder hässliche Gegenstände behandelt er hier nicht. Eine Trennung zwischen Gegenstand und Art der Darstellung, wie sie die Theorie der vermischten Empfindungen kennzeichnet, ist damit noch nicht vollzogen, was kaum verwundert, denn die Integration dieser Theorie setzt die Ausarbeitung der Illusionstheorie voraus. Diese erfolgt jedoch, wie in Abschnitt 1 dargelegt, erst in den 1760er Jahren. Das Naive207 behandelt Mendelssohn 1758 als eine Sonderform des Erhabenen der ersten Art, also der außerordentlichen Vollkommenheit des Gegenstands. Ein großer Gedanke wird in einer einfachen ›Verkleidung‹ ausgesprochen, so dass der Zuschauer die Größe der Gesinnung umso erstaunter zur Kenntnis nehmen muss: »Wenn ein Gegenstand edel, schön oder mit seinen wichtigen Folgen gedacht, und durch ein einfältiges Zeichen angedeutet wird; so heißt das Zeichen naiv.« (Ueber das Erhabene, nach der Fassung von 1758 in JubA I, 215) Das durch die schlichte, ungesuchte Darstellung eines kindlichen, aber doch (moralisch) erhabenen Gemüts hervorgerufene Gefühl der Bewunderung illustriert Mendelssohn 1758 mit einer Fülle an Beispielen, begründet es jedoch nur unzureichend. Sein Begriff des Naiven ist aber schon hier als ein Konzept, das sich der Auseinandersetzung mit Rousseau verdankt, erkennbar.208 Mendelssohn stimmt Rousseau darin zu, dass Natürlichkeit und Güte auch Tills (2006, 352 f.) Kritik an Segreff 1984, 38 f.), sondern zwischen dem Fokus auf der Gegenstandsseite und dem Produktionsaspekt. Das Erhabene der ersten Gattung kann dementsprechend auch ein natürlicher Gegenstand sein, was beim Erhabenen der zweiten Gattung auszuschließen ist. 207 Zur historischen Entwicklung dieses Begriffs siehe Till 2006. Im abschließenden Kapitel erwähnt Till auch Mendelssohn, den er der Spätaufklärung zuweist, sowie die Rezeption seiner einschlägigen Texte (vgl. ebd., 347–62, hier 357): »Mendelssohns begriffliche Differenzierung des ›doppelten Erhabenen‹ in ein ›Naives‹ und ein ›Erhabenes‹ setzte sich in der Spätaufklärung allgemein durch.«; Till nennt u. a. Friedrich Justus Riedels Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1767), Franz Jacob von Cramm Ueber das Naive, Natürliche, Gesuchte und Gezwungene in den schönen Wissenschaften (1770), Johann Joachim Eschenburg Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1783), Philipp Gäng Aesthetik oder allgemeine Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1785). 208 Die anderen Vorbilder des aus der französischen Tradition entlehnten Begriffs sind Dominique Bouhours: La Manière de bien penser dans les Ouvrages d’esprit (1687, 21688), Nicolas Boileau-Despréaux: L’art poétique (1669–74), und den bereits im vorangegangenen erwähnten Charles Batteux: Cours de belles lettres (1747/48). Boileau hatte Longin 1674 übersetzt; Batteux griff auf die dortigen Bestimmungen zurück und übertrug sie auf das Naive (vgl. Carlos Rincón: Naiv/Naivität, in: ÄGB 4 (2000), 347–77, 359); ebenso, wie Mendelssohn dies in seiner Schrift vornimmt. Batteux legte allerdings den Schwerpunkt seiner Betrachtungen auf den rhetorischen Aspekt der Naivität und reformulierte es dementsprechend v. a. als eine Vermeidung des inflationären Einsat-

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Anerkennung (bzw. Wohlgefallen) abfordert. Ebenfalls bekräftigt er, dass die Qualität der Naivität gerade durch das Bewusstwerden vom Blick des Anderen (also dem Rousseauischen Begriff der Gesellschaft) zerstört wird. Folgerichtig – und dieses Mal einem teleologischen Geschichtsverständnis folgend – setzt er die Möglichkeit des Naiven in den frühen Stadien der Entwicklung – allgemein auf der Ebene der antiken Kunst, individuell in der Kindheit – an. Zugleich zeigt er in der Einordnung des Naiven allerdings, dass es sich hier um eine Möglichkeit der Veranschaulichung des Erhabenen handelt. Daneben steht den Menschen immer noch die Erhabenheit der sich vervollkommnenden Vernunft offen.

Was hat das Erhabene mit dem Schrecken zu tun? Erste Überarbeitungen Mendelssohn selbst hat die Defizite seiner Abhandlung Ueber das Erhabene bald bemerkt, wofür nicht erst deren Modifizierungen von 1761 und 1771 sprechen. Es lassen sich weitere Stationen dieser Umarbeitung ausmachen, und zwar in der Rhapsodie, den Hauptgrundsätzen und bereits in den Anmerkungen zu Burke, die wie die Schrift Ueber das Erhabene von 1758 datieren, so wie einigen Mendelssohn zuschreibbaren Litteraturbriefen.209 Insgesamt wird er in diesen Überarbeitungen den Aspekt des angenehmen Schreckens stärker ausarbeiten, aber auch das Spiel der Illusion zwischen Durchbrechung und Genuss zur Reformulierung des Erhabenen anwenden.

zes rhetorischer Kunstgriffe (vgl. Till 2006, 349 f.); dies hat Mendelssohn für beide Bereiche des Erhabenen und Naiven reflektiert. Der erste Deutsche, der den Begriff, ebenfalls in Anlehnung an die französische Literatur, verwendete, war laut Till 2006, 348 (FN 2) Ludwig Friedrich Hudemann in einer 1732 in Hamburg veröffentlichten Sammlung vornehmlich aus dem Französischen übersetzter Gedichte. 209 Hierbei ist anzumerken, dass eine wichtige Rezension höchstwahrscheinlich auch der Burke-Lektüre voranging. Es handelt sich um Mendelssohns Besprechung von Robert Lowths erfolgreicher Vorlesungsreihe De sacra Poesi Hebraeorum (1753), die 1757 in der Bibliothek erschien (JubA IV, 20–62). An Lowth schätzt Mendelssohn besonders, dass dieser die Sprache des Tanach als ein ästhetisch wertvolles und beachtenswertes Phänomen ins Bewusstsein zurückholte und sich damit von der bislang üblichen Geringschätzung dieses angeblich allzu grobschlächtigen Mediums absetzte. Allein die »Stärke der Komposition«, die sich über ihre Wirkung auf den Betrachter erwies, sollte ihm zufolge als Kriterium des Erhabenen dienen, nicht ihre Orientierung an rhetorischen Normen. Vgl. dazu Schorch 2003, 77 f. Allerdings soll Mendelssohns Interesse, »die Legitimierung der jüdischen Texttradition in der aufklärerischen Gesellschaft« (ebd., 80) hier nur sekundär interessieren. Es ist immerhin beachtenswert, dass Mendelssohn einmal mehr den ›Umweg‹ über die Ästhetik geht, um althergebrachte Vorurteile von immenser politischer und gesellschaftlicher Relevanz zu hinterfragen.

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Noch im »Beschluß« der Anmerkungen, in denen er in Bezug auf Burke festhält wie nun eine Abhandlung über das Erhabene zu schreiben sei, wird der nackte Schrecken ausgegrenzt. Jedoch: »Ich würde vorläufig bemerken, daß der Schrecken und die Bewunderung eine Bestimmung mit einander gemein hätten, in einer andern hingegen von einander abgingen. Jene ist das Plötzliche und Unvermutete; diese hingegen die Vollkommenheit oder die Unvollkommenheit des Gegenstandes unserer Vorstellung.« (JubA III/1, 251) Der Schwerpunkt der Überlegungen verlagert sich nun deutlich auf das spezifische Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt der Vorstellung gemäß der Theorie der vermischten Empfindungen. Zum einen wird die Kategorie der reinen Bewunderung aus der Kategorie des Erhabenen immer weiter ausgegliedert bzw. in einen komplexeren Rahmen gestellt; zum anderen erlaubt die mit der Illusionstheorie erweiterte Beschreibung ästhetischer Aufnahme, negative Empfindungsaspekte dennoch einzugliedern. Das »ursprünglich« Erhabene erscheint in den Anmerkungen zu Burke noch als mit der ersten Gattung des Erhabenen von 1758 identisch: es ist die uns plötzlich überfallende Bewunderung einer außerordentlichen Vollkommenheit. Dementsprechend würde Mendelssohn »[d]as ursprünglich Erhabene […] bloß in der Bewunderung suchen.« (JubA III/1, 252), deren herausragendstes Merkmal jedoch nicht allein die wahrgenommene Größe, sondern der zeitliche Aspekt dabei, also die überraschend wahrgenommene Größe ist. Im 146. Litteraturbrief (19. Februar 1761, JubA V/1, 347) setzt er dieses poetisch Erhabene dem real Erhabenen entgegen. Ersteres muss sich immer in den Grenzen des Gefallens halten und dabei »die mehresten Seelenkräfte am sinnlichsten und angenehmsten beschäftigen«. Ein Referenztext Mendelssohns ist dabei Curtius’ Abhandlung vom Erhabenen in der Dichtkunst 210, dessen Definition er den eigenen Ausführungen zugrunde legt: »wir nennen dasjenige Erhaben, was die gewöhnlichen Begriffe übersteigt, und das menschliche Gemüth mit Bewunderung erfüllet.« (JubA V/1, 348) In Bezug auf die Dichtung, so schränkt Mendelssohn nun ein, müsse diese Definition noch spezifiziert werden, denn auch wenn alltägliche Menschen aus guten Absichten Leidenschaften besiegten und wir sie dafür bewunderten, so würde uns derselbe Umstand auf der Bühne nicht begeistern können. Demnach gilt: »In der Dichtkunst ist derjenige Gegenstand Erhaben, welcher fähig ist, durch die vollkommenste sinnliche Rede das Gemüth mit Bewunderung zu erfüllen.« (JubA V/1, 348) Wiederum sind der Einfluss Baumgartens und die verschärfte Trennung zwischen »Vorwurf« und Gegenstand auffällig. Der Schwerpunkt von Mendelssohns Betrachtung liegt, und damit folgt auch dieser Text der generellen Verschiebung seines Interesses in den 1760er Jahren, auf Darstellung und Rezeption. Das poetisch Erhabene 210

Auf Curtius’ Aristoteles-Übersetzung seien, so Geyer-Kordesch 1977, 151, mehrere Passagen der Briefe zurückzuführen.

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müsse Bewunderung erregen, »höchst sinnlich« und »vollkommen ausgedruckt seyn« (JubA V/1, 348), damit es für Menschen mit »gesunder Vernunft« leicht zu erfassen, und trotzdem bewunderungswürdig in Gehalt und Ausdruck sei.211 Daneben muss es aber auch auf der Schaubühne den Zuschauer ansprechen. Dies gelingt ihm nicht über eine ausgewogene, ruhige Erzählung, sondern über den theatralischen Schrekken, der den Zuschauer (in diesem Falle: angenehm) von der im Stück behandelten menschlichen Größe überzeugt. Von einer zweiten Form des Erhabenen mit Bezug auf das Schreckliche ist im LB 146, im Gegensatz zu den Anmerkungen, keine Rede, und auch die Anmerkungen selbst setzen allenfalls zur Formulierung an, ohne zu einem endgültigen Ergebnis zu kommen. Mendelssohn kritisiert Burke zwar dafür, dass er nur »Schmerz und Gefahr« (Brief an Lessing vom 27. Februar 1758; JubA XI, 182) als Quellen des Erhabenen genannt habe212, unternimmt es aber selbst, dieses Konzept für die zweite Art des Erhabenen fruchtbar zu machen: Es ist bestimmt durch vermischte Empfindungen, die auf eine »plötzliche« und »heftige« Weise negative Empfindungen wie das »Schauern« im Vorstellenden verursachen. Allerdings müssten die Grundsätze für dieses »Beförderungsmittel des Erhabenen« noch formuliert werden (JubA III/1, 252), was Mendelssohn 1761 bzw. 1771 in den Revisionen der Abhandlung Ueber das Erhabene unternimmt. Im Gegensatz zur ursprünglichen Fassung von 1758 hebt er schließlich die heftigen Gemütsbewegungen stärker hervor und bindet sie in die Struktur der vermischten Empfindungen ein, wie sie sich in den Anmerkungen zu Burke und der Fassung von 1761 des Aufsatzes in den Philosophischen Schriften andeutet. Eine solche Frühform des erhabenen Schreckens zeigt sich auch in den Litteraturbriefen 82–84 (14. Februar 1760, JubA V/1, 130–37, v. a. ab 133). Dort argu-

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Dies führt Mendelssohn auf die Definition von Longin zurück (vgl. JubA V/1, 348 f.) »Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain, and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime; that is, it is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling.« (Burke, Enquiry, I/7, 39) Mendelssohns Kritik mag auch darin begründet sein, dass Burke vornehmlich physiologisch-materialistisch argumentiert (vgl. Strube 1995, 285, Till 2006, 363 f.): er trennt das Erhabene kategorisch vom Schönen und beschreibt ihre Wirkungen in seunsualistischen Termini. Das Erhabene fordert den menschlichen Selbsterhaltungstrieb (self-preservation) und erhält seine Wirksamkeit durch das Evozieren von Angst und Schrecken, Schmerz und Gefahr; das Schöne den Geselligkeitstrieb (society). Ein schönes Objekt wird demgemäß als klein, glatt, ruhig, von gedeckter Farbe und rundlicher Form (worüber sich Mendelssohn in Ueber die Mischung der Schönheiten (entstanden 1776, JubA III/1, 259–67) beklagen wird) vorgestellt, das beruhigend bis erschlaffend auf das Nervensystem wirkt; das Erhabene dagegen ist groß, schroff, kantig und grell – und bewirkt eine starke nervliche Anspannung und Erschütterung. Der Lust am Schönen steht das Vergnügen (»delight«) am Erhabenen gegenüber. Doch mit einer Form von Vollkommenheit hat laut Burke keine der beiden Empfindungen (noch die sie auslösenden Gegenstände) etwas zu tun. 212

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mentiert Mendelssohn in dieser Hinsicht gegen J. A. Schlegel, dass das Entsetzliche in den Schilderungen des Dichters sehr wohl Lob verdient, indem es dort erhabenen Schauer erregt. »Das Entsetzliche aber kann der Dichter in seinen Schilderungen so weit treiben als er immer will, und er wird unser Lob verdienen, denn er wird desto erhabener, je heftiger er uns erschüttert.« (JubA V/1, 133) Allein bei der »körperlichen Vorstellung« des Sterbens dürfe die Schaubühne die Realitätsnähe nicht übertreiben. Auch unter Rückgriff auf Longin213 schließt Mendelssohn in dieser Hinsicht: »Der höchste Grad des Entsetzlichen misfällt also blos in der äussern Vorstellung, in dem pantomimischen Theile des Trauerspiels.« (JubA V/1, 134) So will Longin die Furien nicht in persona auf der Bühne sehen, sondern über Beschreibung bzw. als »facundiam praesentiem, wie sie Horaz nennet«,214 in die Erinnerung der Zuschauer wachrufen: »Der Dichter, sagt abermals Longin, siehet die Plagegeister selbst, und nöthiget den Zuhörer dessen Einbildungen gleichfalls mit Augen zu sehen.« (JubA V/1, 134) Allerdings spricht er hier gegen Horazens These, dass das äußerste Entsetzen auf der Schaubühne deshalb missfalle, weil man die Illusion nie so weit treiben könne, dass man das Geschehen selber vor Augen zu haben glaube. Mendelssohn hält dem vielmehr entgegen, dass solche Illusion zwar möglich, aber nicht zweckdienlich sei, da eine Pantomime, die dieses ›echte‹ Entsetzen herstellen soll, auf der Bühne nur eine »Hilfskunst«215 sein könne, die hinter der Poesie zurückstehen muss, sonst »stöhret [sie] den angenehmen Betrug mehr, als sie ihn befördern hilft« (JubA

213 Mendelssohn besaß zwei deutsche Übersetzung von Longins Werk, einmal von Heineken [das Verzeichnis liest: Hemekken], Dresden 1737, und von Johann Georg Schlosser [Schlösser], Leipzig 1781) sowie Dionysius Longinus de sublimitate ex recensione Pearchii, versione Mori (1769) (vgl. Bücherverzeichnis 45/21, 264/32 und 49/21). Die Schlosser-Übersetzung erschien zu spät, um Mendelssohns Überlegungen zum Erhabenen noch zu beeinflussen; sie ist jedoch gerade vor dem Hintergrund der Burke-Rezeption von Interesse, da sie Longin vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Psychologie, nicht in der gelehrten Philologen-Tradition (wie Heineken; vgl. Till 2006, 367) interpretiert. Schlossers Einleitung liest sich dabei wie Mendelssohns Anfangssätze der Hauptgrundsätze: »Es ist nun wohl kein Zweifel mehr, daß die Psychologie der Schlüssel zu allen schönen Künsten und Wissenschaften seyn muß. Die Kenntniß der Wege der Einbildung, und ihr und aller unserer Sinnen und unserer Seelenkräfte Einfluß auf unsere Empfindung, enthält das Geheimniß des Dichters, des Redners, des Künstlers. Auch kann nichts das Schiefe, das Halbwahre und das Wahre der Theorienschreiber besser sichten, als die Zusammenhaltung ihrer Grundsätze, auch nur mit dem Wenigen, was wir von der Psychologie wissen.« (S. XIV f., zit. nach Till 2006, 367, vgl. hier S. 192 f.) Schlosser beruft sich sogar ausdrücklich auf Mendelssohn, siehe dessen Edition, S. 273. Auch die von ihm gewählten Beispiele machen die Anlehnung an Mendelssohns Arbeiten überdeutlich: Shakespeare, Ossian, Klopstock, Homer, Luther (worauf Till 2006, 368 nicht hinweist). 214 Später mit Rammlers Übersetzung: die »lebhaft gerührten Augenzeugen« (vgl. Kommentar in JubA V/3b, 652). 215 Zu diesem Zusammenhang äußert sich Mendelssohn auch in den Hauptgrundsätzen. In gemischten Kunstformen ergibt sich die Ausformung der beteiligten Gattungen daran, welcher Form die Hauptfunktion zukommen soll, vgl. JubA I, 444 f.

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V/1, 135). Wenn die Einbildungskraft ›Leerstellen‹ der Darstellung selbst auffüllen muss, kann sie das Gefühl eindrücklicher mitreißen: Mendelssohn empfiehlt deshalb keine effektvolle und aufwendige Darstellung des Sterbens, sondern dessen Symbolisierung: wenn der Sterbende nicht affektiert röchelt, sondern sein Haupt neigt, ist die Wirkung des Erhabenen viel eher erreicht.216 Es ist also scheinbar paradoxerweise das, was man weder sieht noch hört, das die ästhetische Rezeption entscheidend bedingt. Deutlich ist in beiden Formen des Erhabenen das Bestreben, die Beobachtungen Burkes in ihrer Reformulierung an ein Vollkommenheitsmodell zu binden.217 In der überarbeiteten Version von Ueber das Erhabene und Naive von 1761 sind dabei die Schlüsselstellen noch zu wenig ausgeführt. So ist der gesamte Eröffnungspassus, der das Erhabene als ein Sinnenübersteigendes charakterisiert, noch nicht enthalten (vgl. JubA I, 584). Ebenso ist der Begriff des Genies noch unzureichend bestimmt (vgl. JubA I, 460 und 485); gleiches gilt für das Konzept des Naiven (vgl. JubA I, 492–94 und 594 f.). Insgesamt muss jedoch auch für die spätere Version von 1771 festgehalten werden, dass ein Großteil der Änderungen lediglich die gewählten Beispiele betrifft, wie überhaupt die Abhandlung weitaus mehr Anschauungsmaterial, als befriedigende Erklärungen liefert. Erst im Gesamtzusammenhang der Philosophischen Schriften werden diese deutlicher.

Schreckliche Vollkommenheit, großes Genie: die letzte Fassung von 1771 In der Abhandlung von 1771 rekonstruiert Mendelssohn die erste Form des Erhabenen, also diejenige, die sich aus der Vollkommenheit des Gegenstands ergibt, als eine Übersteigerung des sinnlich Vorstellbaren in quantitativer oder qualitativer Hinsicht. In einer so übersteigerten Darstellung lösen die Gegenstände im Betrachter das Gefühl des Erhabenen aus.218 So gibt es das schlechthin Große, das als ein 216

Mendelssohn bezeichnet gar das affektierte Bühnen-Sterben als eine »Zerstreuung« (JubA V/1, 136). Es ist hier allerdings in Rückgriff auf Wellbery 1984, 94 f. zu betonen, dass eine solche Symbolisierung nicht das Geschehen in einen kodierten Text verwandeln darf, denn dann wäre das Rezeptionsverhalten ein fundamental anderes, insbesondere nicht intuitiv. Instead, »[…] the object [must] present itself as a transparency through which the object is seen as if for the first time« (ebd., 95). 217 Aus diesem Grund teile ich Schorchs Einschätzung, Mendelssohn habe hier die allumfassende Geltung der Vernunft angezweifelt, nicht (vgl. dies., 84). Vielmehr zeigt seine Theorie immer das Bemühen, die von Abbt befürchtete Sinnlosigkeit menschlichen Leidens eben doch in eine übergeordnete Rationalitätsstruktur eingewoben zu beschreiben. 218 Strube 1995, 288 f. qualifiziert das Gefühl des Erhabenen als ein Sinnlichunermessliches, das die Aufmerksamkeit fesselt, indem es Schauer erregt; das Intensiv-Erhabene dagegen erweckt durch die mannigfaltige und dauernde Unterhaltung Bewunderung. Die Vollkommenheit der Vor-

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»Sinnlichunermeßliches« nicht mehr, wie die Schönheit, auf ein Mal in die Sinne fällt, sondern den menschlichen Wahrnehmungsapparat buchstäblich überfordert und durch seine schiere Quantität das scheinbar paradoxe Gefühl eines angenehmen Unwohlseins erregen kann. Alle Eigenschaften eines Gegenstands ließen sich so ins Erhabene steigern, wenn sie in einer Größe dargestellt würden, die die Vorstellungskraft überstiege. Die Nähe zur überwältigenden Darstellung der Naturschönheit, wie sie auch Joseph Addison beschreibt, ist auffällig.219 Dieser Form des Erhabenen als einer extensiven Unermesslichkeit steht 1771 das Erhabene als intensive Größe gegenüber, das der ersten Art des Erhabenen, wie Mendelssohn es 1758 und 1761 beschreibt, entspricht: das vollkommen Schöne wird in übersteigerter Form dargestellt und löst so ein angenehmes Erschauern aus. Das Staunen über die Diskrepanz zwischen einfacher äußerlicher Erscheinung und der dahinter verborgenen erhabenen Gesinnung ist es auch, was das Naive ausmacht, dessen Nähe zum Erhabenen Mendelssohn hier mit einer Theorie des ›Umschlags‹ vom Naiven ins entweder Lächerliche oder Erhabene (der zweiten Form) umreißt.220 Es fesselt die Aufmerksamkeit gerade dadurch, dass sich hinter seiner äußerlich schlichten Erscheinung weitaus mehr verbirgt, als der Rezipient nach dem ersten Augenschein erwartet hätte. So entsteht das Bewusstsein eines Kontrasts zwischen der geringen Erwartungshaltung aufgrund des ersten Eindrucks und der stärker wirkenden Empfindung der eigentlichen Größe, die hinter dieser Schlichtheit steht.221 Kennzeichen einer naiven Ausdrucksweise ist allerdings, dass dem Betrachter augenfällig wird, dass die Person sich ihrer Wirkung auf den Betrachter nicht bewusst zeigt: Naivität ist keine Gerissenheit, sondern erfordert den wahrhaftigen Ausdruck. Diesen Aspekt hatte Mendelssohn schon 1758 betont; die Schwierigkeit dabei war freilich, dass damit die Natur auf die Bühne geholt wird, da der naive Ausdruck eben keine Kunst sein darf (vgl. Till 2006, 355). Das Genie, so lässt sich

stellungsart schließlich löst Bewunderung für die Kraft des »menschlichen Geistes« aus. Strube kommt allerdings über eine bloße Aufzählung der unterschiedlichen Formen des Erhabenen nicht hinaus. 219 Addison, On the Pleasures of the Imagination, Nr. 412 vom 23. Juni1712 des Spectator: mit Bezug auf einer Art des Vergnügens, desjenigen an der Größe, bzw. »Greatness« nennt Addison die überwältigende Anschauung »of that rude kind of Magnificience which appears in many of these stupendous Works of Nature« (zit. nach Ross 1982, 371). 220 Die Untersuchung Ueber das Naive, Natürliche, Gesuchte und Gezwungene in den schönen Wissenschaften von [Franz Jacob von] Cramm. Braunschweig 1770, die eine ähnliche Differenzierung vornimmt, hat Mendelssohn besessen (siehe Bücherverzeichnis 237/31); es ist jedoch eher davon auszugehen, dass Cramm von Mendelssohn beeinflusst wurde (bis in die Wahl der Beispiele, vgl. Till 2006, 359 f.). Eventuell half Mendelssohn diese Anknüpfung an seine eigenen Ideen, sein Konzept des »doppelten Erhabenen« besser zu ordnen. 221 Siehe auch Mendelssohns daran andeutende Überlegungen zum Kontrast in der Ausgabe von 1761 (JubA I, 594 f.).

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unter Rückgriff auf die Entwicklung von Mendelssohns Genie-Konzept argumentieren, kann diese Ungekünsteltheit dennoch als einen Bestandteil eines Kunstwerks in Kunst umsetzen. Dabei ist der Effekt zumeist die von Mendelssohn beschriebene »Beschämung« des Überkultivierten, Durchtriebenen und Manipulierenden durch das naive Geschöpf.222 Im Naiven ist damit – so kann man Mendelssohns Theorie auch lesen – allein durch die Kunst auch die menschliche, gute Natur auf die Bühne gekommen und erhält die Bewunderung, die ihr gebührt. Wirkt diese Größe überwältigend, so ist es nicht Freude, die in einem Lachen Ausdruck finden kann, sondern das Gefühl des Erhabenen, das den Zuschauer für das Werk bzw. die Szene einnimmt. Welche Effekte das Naive zeitigt, ob es lächerlich, tragisch oder erhaben wirkt, entscheiden die Folgen, die das naive Betragen mit sich bringt. Mendelssohn wehrt die Forderung ab, dass das Naive nur im Schäfergedicht oder der Komödie zur Anwendung kommen könne. Als eine Form des Erhabenen und ein spezifischer Ausdruck einer vermischten Empfindung hat es durchaus in allen Kunstgattungen seinen Platz. Prominentestes Beispiel eines derartigen »Ungesuchten« im Ausdruck ist wahrscheinlich die später von Schiller weiter ausgearbeitete, aber schon von Mendelssohn so charakterisierte »Grazie, oder die hohe Schönheit in der Bewegung« (JubA I, 488), wobei die Haltung des Naiven in die bloße Form eines ästhetischen Gegenstandes überführt wird.223 Bewunderung erregt aber nicht nur die Darstellung des Vollkommenen, sondern auch – man denke an die Hauptgrundsätze – die vollkommene Darstellung. Um den 222 Kant fasst dies schließlich kurz und bündig zusammen: »Eine Kunst, naiv zu sein, ist daher ein Widerspruch.« (KdU § 54, V 335); er schließt jedoch zugleich an: »allein die Naivität in einer erdichteten Person vorzustellen, ist wohl möglich und schöne, obzwar auch seltene Kunst.« 223 Der zur gleichen Zeit an dem Artikel »Naiv« für Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste arbeitende Wieland hat sich übrigens gegen die bloß stilistische Ebene des Naiven als Form des einfachen, ungesuchten Ausdrucks ausgesprochen und ihm darüber hinaus eine kritische Ebene beigefügt. In stärkerer Anlehnung an Rousseau reformuliert er das Naive als den Ausdruck des ersten, von der Dekandenz einer falschen Kultur noch unberührten Menschen. Diesen Begriff des Naiven als Urform des Menschen schien Mendelssohn – in Anbetracht seiner Abneigung zu Rousseaus Kulturkritik – nicht vollständig übernehmen zu wollen. Vielmehr betonte er den Aspekt der »Unverstelltheit« und »Ehrlichkeit« (so auch Kant, siehe KdU § 54, AA V, 335). Beide Aspekte, nicht nur Wielands Naivitätsbegriff (so Till 2006, 357), fanden Eingang in Schillers Konzept. Auch der dem Naiven nah verwandte Begriff der Grazie bei Schiller (in den Kallias-Briefen, sowie der Ästhetischen Erziehung als »Freiheit in der Erscheinung«, NA 26, 200 u. ö.) weist auf einen Rückgriff auf Mendelssohn hin. Eine andere mögliche Quelle, auch für Mendelssohn selbst, ist daneben der Artikel »Grâce« von Claude-Henri Watelet in der Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers (1751–80), Bd. VIII, 805 f.: »In der Bewegung, Stellung und Haltung des Körpers unterscheidet man vornehmlich diesen Reitz, der so sehr bezaubert. Wenn die Glieder zu diesem Gebrauche das gehörige Maas haben, wenn sich ihrer Entwickelung nichts widersetzet, wenn die Gelenke und Einfügungen so vollkommen sind, daß das Verlangen sich zu bewegen keine Hindernisse findet, und die Bewegungen selbst sanft und in der lieblichsten Ordnung aufeinander hinweg gleiten; so entstehet in uns die Idee, die wir durch das Wort Reitz ausdrücken.«

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Effekt des Erhabenen in dieser Hinsicht, die schon 1758 anklingt, theoretisch zu fundieren, greift Mendelssohn auch hier auf das Potential der vermischten Empfindungen zurück. Die natürlich-unangenehmen Gegenstände entfalten ihre Wirkung in der Spannung zwischen Abscheu (oder Angst) vor dem vorgestellten Gegenstand, dem Interesse daran und dem Können des Künstlers, der diese Gegenstände ästhetisch darzustellen vermag (dieser Zug ist 1771 stärker als 1761). Mendelssohn nennt als Beispiele den Sterbenden auf dem Schlachtfeld und sogar den Gotteslästerer. »Alle dergleichen Gegenstände, als der Tod, ein Schlachtfeld, die Verzweifelung, sind nun zwar an und für sich nicht bewundernswürdig, und werden es bloß in der Nachahmung, durch das Genie des Künstlers; allein sie sind ihrer Natur nach fürchterlich, grausenvoll, und unterstützen durch das ihnen beywohnende Sinnlichunermeßliche die Empfindung des Erhabenen; daher sie auch von den Künstlern vorzüglich gewählt zu werden pflegen.« (JubA I, 474 f.; dieser Passus fehlt 1761 noch, s. ebd., 590). Aber auch die Darstellung von Alltäglichkeiten oder die besonders gelungene Nachahmung des Trübsinnigen kann vom Genie des Künstlers zeugen und eine Empfindung des Erhabenen hervorrufen. Wiederum kann auch das Naive diese Art der Vollkommenheit aufzeigen, denn es gewährt, wenn das einfache Zeichen auf eine höhere, dahinter verborgene Eigenschaft verweist, eine »anschauende Erkenntniß«, die das Merkmal einer »sinnlich-vollkommenen«, also wahrhaft schönen Rede oder Geste ist – die nur ein Genie erschaffen kann. Hier führt Mendelssohn die Ergebnisse der Hauptgrundsätze und seiner Theorie des Erhabenen und Naiven letztendlich zusammen. Allerdings – und dies hat auch Zelle (1987, 357 f.) zu Recht betont – grenzt er dabei den Schrecken als ein Gefühl mit Eigenwert stärker aus, als er es in der Rhapsodie oder den Hauptgrundsätzen getan hatte. Erhaben ist er nur in der sicheren Distanz; und auch dies ist es nur durch den Dichter, der durch seinen Gebrauch die vermischten Empfindungen auslöst. Vom Effekt her betrachtet, erregt das Schöne eine angenehme Empfindung, das Erhabene hingegen Bewunderung, das sich aus Erschauern, Faszination und Wohlgefallen zusammensetzt.224 Mit der Theorie des Erhabenen verstärkt sich die Tendenz, nicht mehr ›nur schöne‹ Gegenstände als ästhetisch relevant zu betrachten, sondern auch schreckliche Situationen sowie das Unvermögen des Menschen, den Bau der Welt als ein Ganzes zu erfassen, mit in die Betrachtung der ästhetischen Welterfassung aufzunehmen. Dieses menschliche Defizit hatte Mendelssohn schon 224

Vgl. Strube 1995, 288 f. Dieser erwähnt nicht die einschlägigen, klärenden Bemerkungen Mendelssohns in den Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz (1782) c-f (JubA VI/1, 32 f.): hier betont Mendelssohn das »Erschauern« angesichts des sinnlichen Eindrucks des überwundenen Widerstands, was eine wahrhaft erhabene Persönlichkeit auszeichne. »Vollkommen tugendhafte Charaktere«, die ohne diesen Eindruck dargestellt würden, seien demgegenüber wenig glaubhaft, denn »je heftiger die Leidenschaft, und je vollkommener der Sieg, desto erhabener die Tugend.« (ebd.)

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

in den Briefen angesprochen: es ist unmöglich, die Ordnung der Welt auf ein Mal zu erkennen oder klar und deutlich wahrzunehmen. Mit der Theorie des Erhabenen soll diese Unmöglichkeit in ein unangenehm-angenehmes Gefühl übersetzt werden, weshalb die Erkenntnisfähigkeiten und –gesetzmäßigkeiten des Menschen in Mendelssohns Theorie des Erhabenen 1771 die wichtigste Rolle einnehmen. Die Theorie des Erhabenen lässt sich als eine Theorie des scharfen und unmittelbar spürbaren Kontrasts unterschiedlichster Empfindungsaspekte lesen, die den Zuschauer für den Gegenstand selbst oder für das Genie des Künstlers einnehmen, ihn zugleich aber auch seiner eigenen reflexiv-sinnlichen Kompetenz bewusst halten. Die Theorie ist damit eindeutig auf den Menschen und seine komplexen Wahrnehmungs- und Bewertungsfähigkeiten zentriert. Zugleich ist ihr immer Mendelssohns Bestreben abzulesen, die prima facie unerkennbare Sinnhaftigkeit auch der abgründigen menschlichen Erlebnisformen in eine verständliche, durchdringbare Form zu fassen.225

Schluss Mit der ästhetischen Theorie der vermischten Empfindungen hat Mendelssohn das Perfektibilitätskonzept und seine psychologischen Gesetzmäßigkeiten zu einem bestimmenden Gebiet rationalistischer Anthropologie gemacht. Im Anschluss an die Untersuchungen von Martino ist der Wandel in Mendelssohn Auffassung auf eine Umgewichtung von der »statisch-intellektuellen« auf die »dynamisch-emotionale« Theorie der Lust zurückzuführen.226 Das erstere Konzept verankert jede Lust letztlich in einer Erkenntnis der vorstellenden Instanz; gemäß der zweitgenannten Ansicht haben nicht Erkenntnisse, sondern Empfindungen mehr Gewalt über die Seele. »Die Lust ist nicht mehr, wie bei Wolff, bloß die Erkenntnis einer Vollkommenheit, sondern die Stillung des Hungers nach Tätigkeit oder zumindest die Aussicht, Ideen mit Leichtigkeit zu entwickeln.« (Altmann 1969, 101) Welche Art Vorstellungen damit »vollkommen« zu nennen sind, entscheidet sich bei der letztgenannten Auffassung nicht an der Konstitution des Gegenstandes, sondern durch den Grad an Vorstellungstätigkeit, den er vermittelt. Auf diesen Umstand geht Mendelssohns Ästhetik ein: angenehme Beschäftigung gewähren auch (künstliche,) unvollkommene Gegenstände, indem sie die Vorstellungskraft der Seele in Bewegung und damit in ein 225

In diesem Sinne stimme ich nicht mit dem Ergebnis Schorchs überein, dass Mendelssohn mit dem Erhabenen die Darstellbarkeit von Leid, Unglück und Schmerz propagiert, die nicht »in eine – wie auch immer gestaltete – harmonische Ordnung des Ganzen kausal und final eingewoben« sind (dies. 2003, 84). Vielmehr hält Mendelssohn auch hier am Postulat der grundsätzlichen »Lesbarkeit der Welt« (vgl. Kap. I.2, 113, FN 163) fest. Freilich hat diese Sichtweise nicht viel mit der holistischen Herders zu tun, die Schorch im folgenden Abschnitt vorstellt. 226 Vgl. hier Einleitung, 14, FN 17.

II.3 Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie

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als angenehm empfundenes Spiel von Anziehung und Zurückweisung227 versetzen. Beide Konzeptionen sind unterschiedliche Spielarten einer leibnizianischen Metaphysik, wobei die dynamische Version den Schwerpunkt auf die Vorstellungstätigkeit und den Appetitus und der daraus resultierenden, ›lustvollen‹ Vorstellungstätigkeit der Monaden legt. Man kann die Differenz der Theorien also innerhalb des Rationalismus selbst, und zwar innerhalb seines Herzstücks von der Vorstellungstätigkeit in Zusammenhang mit dem Vollkommenheitsbegriff verorten. Ebenso verlaufen die Modifikationen von Mendelssohns Theorie an dieser Linie. So vertritt er vor allem in den Quellen und Verbindungen eine statische Lesart der Schönheit228, die er durch die Verortung der Vollkommenheit in der Tätigkeit des Subjekts selbst und der Dynamik der Kontrastierung unterschiedlicher Empfindungsqualitäten und Bewertungszustände an die dynamische Theorie annähert. ›Schönheit‹ bedeutet Vervollkommnung, die nicht allein von in sich vollkommenen Gegenständen hervorgerufen wird, sondern den Rezipienten durch Widerständigkeit reizt. Blickt man auf die Entwicklung der jungen Disziplin Ästhetik, so zeigt sich, dass der scheinbar vergessene Mendelssohn Mitverursacher vielfältiger Entwicklungen war und sozusagen ›anonym‹ oder unbewusst rezipiert wurde.229 Sein Einfluss auf die Entstehung von Lessings Laokoon (1766) ist unbestreitbar, wie nicht nur der Briefwechsel, sondern auch die Anmerkungen Mendelssohns zu Lessings Vorarbeiten zeigen (vgl. JubA II, 231–58). Rezipiert wurden seine Schriften auch von Friedrich Schiller, der dessen Konzept des Naiven weiter ausarbeitete, sich aber auch in seiner Forderung einer ganzheitlichen Bildung des Menschen an die von Mendelssohn vertretenen Ideen anschloss.230 227

Auch dieses Konzept taucht in etwas modifizierter, und aufgrund eines unglücklichen Beispiels nicht sehr überzeugender Form in Schillers Ästhetischer Erziehung wieder auf: dieser spricht von dem angenehmen Schwanken zwischen Angezogen- und Zurückgestoßensein von der Schönheit und gleichzeitigen Strenge einer Büste der Juno (vgl. NA 20, 359 f.). Wenig überzeugend ist sein Beispiel v. a. wegen der gigantomanischen Ausmaße der Büste, die die Vorstellung einer Attraktion einigermaßen erschweren (dazu Janz 1998, 616 f.). Der entscheidende Unterschied beider Konzeptionen ist Schillers an Kant angelehnte Betonung der Freiheit dieses Spiels, das bei Mendelssohn keineswegs an einen kantischen Freiheitsbegriff als Teilhabe an einer noumenalen Sphäre, sondern an die menschliche Konstitution als Zusammenspiel zwischen Geist und Körper gebunden ist. 228 Altmann 1969, 94 und 122 f. weist auf deren Nähe zu Wolffs Psychologia Empirica, § 517 hin. 229 Mendelssohns Theorie der vermischten Empfindungen als eine ästhetische Theorie wurde »zum Allgemeingut späterer Handbücher« (Ebeling/Zelle 1992, 150; dort Hinweis auf: Johann Gebhard Ehrenreich Maaß: Versuch über die Leidenschaften. Theoretisch und practisch. 2 Bde. Halle, Leipzig 1805/07); zur impliziten »Paradigmatisierung« auch Goetschel 2004, 85. 230 Schon den jungen Schiller um 1779 beeinflussten Mendelssohns Briefe; vgl. Alt 2000/I, 106, 115. Zum Laokoon siehe Wellbery 1984. Kap. 3.

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

Auch setzt Schiller mit seiner poetologischen Einleitung zur Braut von Messina, in dem kurzen Essay »Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie« (1803) zum Streit gegen die »Naturalisten«, wie er die Naturnachahmer bezeichnet, in einer ähnlichen Weise wie Mendelssohn an. In der Kunst soll das Dargestellte nicht »armseliger Gauklerbetrug« (NA 10, 10) sein, der uns für die Dauer der Betrachtung davon überredet, Wirklichkeit zu sein, um sich nach vollendeter Vorstellung in ein bloßes Nichts zu verwandeln; sondern die Darstellung soll von vornherein als »Symbol des Wirklichen« (NA 10, 10) verstanden werden. Was macht nun dieses Symbol aus? Es setzt in die Freiheit, sich mit allen seinen Erkenntniskräften in ein Spiel zu begeben, das letztlich zu einer Veredlung dieser Kräfte führt. Damit will Schiller die Kunst rechtfertigen und nobilitieren. Das Spiel der Erkenntniskräfte findet sich nun in dieser Form nicht bei Mendelssohn, sondern bekanntermaßen bei Kant. Jedoch ist der Aspekt der harmonischen Beschäftigung der Vermögen der Grundsatz, aus dem ersterer seine Illusionstheorie ableitet und das seinen Geniebegriff begrenzt.231 Eine Harmonisierung meint für ihn nicht, und damit komme ich noch einmal auf sein Diktum der Leidenschaftserregung (nicht -mäßigung) zurück, dass die Empfindungen aufgeklärt und damit in den Status von Erkenntnissen überführt werden. Harmonisierung meint vielmehr, dass die Empfindungen und die Erkenntnisse in Übereinstimmung kommen, obwohl jeder Bereich seine Eigenständigkeit behält. Deshalb soll die Kunst ästhetisch illudiren, d. h. zugleich Leidenschaften wecken und diese in einen spezifischen Bezug zum Betrachter und zum Kunstgegenstand setzen. Leidenschaften und Erkenntnisse harmonisieren heißt dann weder, die Empfindungen zu erkälten, noch das Denken zu überrumpeln, sondern beide in einem Wechselspiel zu halten. Genau das hat auch Schiller mit dem Gebrauch des Chors erreichen wollen: zwar sollen die Geschehnisse auf der Bühne den Zuschauer mitreißen, er solle aber zugleich mit dem Chor dieselben reflektieren und auf ihren Sinn hin befragen. Das evaluative Moment, das Schiller in den Chor versetzt, hat Mendelssohn im Zuschauer selbst situiert. Gut aufklärerisch – und mit seiner Theorie der Illusion untermauert –, hat er dem Tragödienbesucher das Selbst-Denken zugetraut. Mendelssohns Theorie der vermischten Empfindungen fand – verstärkt durch Lessings Bezugnahme auf sie in der Hamburgischen Dramaturgie (vgl. Werke 6, 554 ff.) – schnell Eingang in die Kompendien und damit in die wissenschaftliche Debatte um eine ästhetische Theorie. Die Tragödientheorie als ein besonderer Typus der ästhetischen Erscheinung der Humanität war dabei von großer Bedeutung.232 231

Die Forderung nach Harmonisierung, die also nicht nur für das Genie, sondern für den »ganzen Menschen« erforderlich wird, findet sich u. a. bei Sulzer, Mendelssohn, Garve, Abbt und Schillers Lehrer Jakob Friedrich Abel (»Rede über das Genie«, Stuttgart 1776; Neudruck mit einem Nachwort von Walter Müller-Seidel, Marbach 1955, 21 u. ö.). 232 Auch Martino 1972, 47 ist der Auffassung, dass sich die Entstehung der, wie er es nennt, »emotionalen Kunsttheorie« u. a. der Tragödientheorie verdankt. Die Erfahrungen der theatrali-

II.3 Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie

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Mendelssohn zeigt sich in seinen Ideen zu einer Ästhetik als Anthropologe, indem er die beiden Sphären des Menschen – Vernunft und Sinnlichkeit, Kopf und Körper – und ihr Zusammenspiel für die Theorie des Schönen fruchtbar zu machen sucht. Seine Ästhetik ist nicht nur ein bloßes ›Brückenphänomen‹ zwischen, vereinfacht formuliert, Rationalismus und Empirismus, eine Erscheinungsform der Empfindsamkeit oder eine bloße Kontrastfolie der historisch folgenden Positionen Sturm und Drang, Idealismus und Romantik. Vielmehr zeigt sein Interesse an der Natur der Empfindungen sowie der Forderungen, die sich daraus – nicht nur für die Kunst – ergeben, dass seine Philosophie ein eigenständiger Beitrag zu einer metaphysisch fundierten, zugleich aber sensualistisch und empiristisch beeinflussten Philosophie vom ganzen Menschen ist. Darin hat auch seine Ästhetik ihren Einheitspunkt. Mendelssohn betrachtet mit seiner Theorie des Schönen den Menschen in seiner spezifischen Verfasstheit als Verstandes- und Gefühlswesen. Die Wissenschaft von den Empfindungen ist ihm bei Wolff und auch bei Sulzer zu einseitig rational, bei Dubos und Burke dagegen zu ›gefühlsbetont‹, d. h. zu wenig systematisch und philosophisch fruchtbar. Seine eigene Theorie der Empfindungen, ihrer Konstitution und Lenkbarkeit in der Ästhetik, und die Vereinbarkeit von Sinnen und Kopf ist der Kernpunkt einer anthropologischen Betrachtung, die das Schillersche Modell der Balance vorwegnimmt und damit dem von Cassirer (1929, 60 f.) angesprochenen »ästhetischen Humanismus« verpflichtet ist. Anders formuliert, erscheint das ›Schöne‹, oder, wie man es angemessener nennen sollte, das ästhetisch Relevante allererst durch den Blick auf die spezifisch menschliche Erfassung und Darstellung seiner Welt. Dabei legt Mendelssohn den Schwerpunkt auf die Kunstrezeption, die er aus den spezifisch menschlichen Anlagen heraus zu erklären versucht. Das Streben nach Vollkommenheit wird dabei auch als ein – in sich komplexes – Streben nach Schönheit und Erhabenheit dargestellt. Im Phädon lässt er seinen Sokrates formulieren: »Die Empfindung der Schönheit suchet das Unendliche; das Erhabene reizet uns bloß durch das Unergründliche, das ihm anhänget: die Wollust ekelt uns, so bald sie die Grenzen der Sättigung berühret. Wo wir Schranken sehen, die nicht zu übersteigen sind, da fühlet sich unsere Einbildungskraft wie in Fessel geschmiedet, und die Himmel selbst scheinen unser Daseyn in gar zu enge Räume einzuschließen: daher wir unsrer Einbildungskraft so gern den freyen Lauf lassen, und die Grenzen des Raumes ins unendliche hinaus setzen.« (JubA III/1, 113 f.) Der Mensch ist von innen heraus getrieben, sich der Welt auch ästhetisch zuzuwenden. Seine Verstandeskraft ist zu begrenzt, um sie in ihrer Totalität zu erfassen. schen Leidenschaften sind ein Untersuchungsgebiet derjenigen Philosophen, die sich bemühten, die ästhetische Erfahrung psychologisch und damit rezeptionsorientiert, wenn aus einem rationalistischen Modell folgend, zu verstehen. Mendelssohn steht dabei zwischen der Rezeptions- und der Vollkommenheitsästhetik (vgl. Pollok 2006, XLVII).

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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit

So kompensiert er dieses Defizit des »oberen Erkenntnisvermögens« mit der Macht des »unteren«. Der im Kunstwerk als ein organisches Ganzes erscheinende Weltausschnitt versichert den Menschen seines erhabenen Standpunkts in ihr, wie sie Gott in der natürlichen Welt – so die Annahme – einnimmt; das analogon rationis weist damit auch auf ein analogon divinitatis des ästhetisch genießenden und des Kunst schaffenden Menschen.

KAPITEL III Erkennen und Handeln

III. Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns »Denn auch die Wahrscheinlichkeiten unterliegen der Berechnung und dem Beweise, da man stets abschätzen kann, welcher Fall aus den gegebenen Umständen mit größerer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.« Leibniz, Zur Characteristica Universalis, Hauptschriften I, 22

Parallel seiner Überlegungen bezüglich der Bedingungen menschenmöglicher Wahrnehmungsmodi und ihrer Verbindung zur menschlichen Glückseligkeit, insbesondere in ihrer sinnlich-intellektuellen Sonderform des ›Vergnügens‹, hat sich Mendelssohn auch mit den Bedingungen menschenmöglichen und -notwendigen Wissens beschäftigt. In seiner Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der wolffschen Erkenntnis- und Handlungstheorie und den Überlegungen Sulzers spielt nicht allein die anschauende Erkenntnis des Angenehmen, Schönen oder Erhabenen, sondern auch die des Wahren eine entscheidende Rolle. Inwiefern ist eine klare und deutliche, also verständige Erkenntnis der innerweltlichen Gesetzmäßigkeiten möglich, inwiefern ist sie notwendig, um den Menschen in seiner Vervollkommnung zu stützen? Und wie ist darüber hinaus rationales Wissen verlässlich und handhabbar zu erlangen? Alle diese Fragen fokussieren den Blick auf die Rechtfertigung epistemologischer Standards in einer ›rationalistischen Anthropologie‹. Dementsprechend hat Mendelssohn die Grenzen des Wissens unter Berücksichtigung der psychologischen Bedingungen menschlicher Wahrnehmung behandelt, also aus dem Standpunkt einer eingegrenzten Menschennatur heraus. Selbst die preisgekrönte metaphysische Abhandlung von der Evidenz (erschienen 1764, im Folgenden: Evidenzschrift) befasst sich, der Fragestellung angemessen, mit der Einsichtsmöglichkeit und der ›Zustimmungserfahrung‹, die eine rationale Erkenntnis wie die der Mathematik oder gar der Metaphysik erfordert, um praktikables Wissen zu ergeben. Dabei spielt auch die Methode der Wissenserlangung und ihrer Weitergabe eine entscheidende Rolle. Mendelssohn war, wie sich leicht zeigen ließe, von der Wahrheit der Metaphysik Leibniz’, Baumgartens und Wolffs überzeugt.1 Für ihn 1

Ich verweise in dieser Hinsicht auf Altmann 1969; Ziel seiner Abhandlung ist es, so Altmann in der Vorrede, den Metaphysiker Mendelssohn und dessen Quellen einsichtig zu machen.

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

gab es in dieser Hinsicht kein Legitimationsproblem, wie man vielleicht unter Hinweis auf die vielzitierte »Krise der Philosophie« der Aufklärungszeit meinen könnte (siehe Kap. II.1, 117, FN 1), sondern vielmehr ein Kommunikationsproblem: die Wahrheit ist – versteckt in einem strengen metaphysischen System – zu wenig anschaulich. Mendelssohn sah es als seine Aufgabe an, die möglichen Wissensformen des Menschen und ihre Überzeugungsstruktur herauszuarbeiten. In dieser Hinsicht ist er als ein ›Popularphilosoph‹ zu bezeichnen, dem es jedoch nicht allein um die verständliche Fassung der Inhalte, sondern um eine besondere Perspektive auf diese ging. Die Zentrierung auf den Menschen verlangt in erster Annäherung an dessen epistemologische Standards eine Beantwortung der Frage, welche Gebiete sich menschlichem Wissen überhaupt und in welcher Qualität erschließen lassen, um im Anschluss daran zu untersuchen, mit welchem Grad der Überzeugung diese Gebiete verbunden sind – und wie dieser Grad gesteigert werden kann. Mendelssohns anthropologische Bestimmung meint damit nicht nur (siehe III.2 und 3) die Bestimmung der praktischen Dimension des Wissens, also die Bezugnahme auf eine Realisierung menschlicher Glückseligkeit durch richtiges Handeln, sondern auch die Reflexion auf die menschlichen Bedingungen des Wissenserwerbs und der Wissensbegründung. Mendelssohns Philosophie lässt sich schon aus diesem Grund nicht, wie Vogt meint, als eine »Prüfung«2 rationalistischer Theoreme in Bezug auf die menschliche

In diesem Zusammenhang erscheint es plausibel, warum es bei Mendelssohn kaum ein Bewusstsein der Unterschiede und Unvereinbarkeiten zwischen den genannten Positionen gibt; für ihn stellten sich diese Lehren als einheitliche Metaphysik dar, vor deren Hintergrund er seine eigene Philosophie entwickelt. Hinsichtlich der Einschätzung, dass sich seine Auffassung der Metaphysik in den 1770er und 80er Jahren in den Grundlinien nicht mehr verändert, ist Altmann sicherlich zuzustimmen – nimmt man allerdings den ›Anthropologen‹ Mendelssohn in den Blick, so lässt sich zeigen, dass seine Auseinandersetzung mit Abbt in der Bestimmungsdebatte ihn dazu veranlasste, sich weiterhin mit den Bedingungen eines rationalistischen Menschenbildes und dessen metaphysischer Begründung auseinanderzusetzen. Diese müssen nicht nur hinsichtlich der Wahrnehmungsund Vergnügenstheorie oder der Erkenntnislehre (als vornehmliche Untersuchungsgegenstände der Philosophischen Schriften), sondern auch der praktischen Philosophie, der Geschichts- und Gesellschaftstheorie ausgearbeitet werden – Oberbegriffe, mit denen sich die Arbeiten der 1770er und 80er Jahre charakterisieren lassen. 2 Vogt 2005. Vogts Arbeit krankt hinaus an einem weiteren Aspekt: wenn Mendelssohns Interesse an der menschlichen Psychologie und seinen Erkenntnisarten derart in den Vordergrund gerückt wird, so ist es mindestens lückenhaft, mit keinem Wort auf die Debatte um die Bestimmung des Menschen einzugehen. Für Vogts Vorgehen spricht zwar, dass Mendelssohn sein Interesse selber als primär auf die Metaphysik gerichtet verstand, und sich in der ersten Veröffentlichung mit ihr, danach erst (und angeblich widerstrebend) mit der Ästhetik und anderen Feldern auseinandersetzte. Bei genaueren Hinsehen zeigt sich jedoch ein gegenläufiges Moment: denn Mendelssohns Auseinandersetzung mit der Metaphysik ist in seiner Grundrichtung vielmehr auf den Menschen ausgerichtet; weniger an dem allerdings, was der Mensch erkennen konnte, als daran, wie er zu einer Erkenntnis kommen und sie praktisch umsetzen kann. Der so bemühten Krise der Metaphysik (Vogt 2005, 16, auch 55) begegnet Mendelssohn meiner Ansicht nach eher mit einer Refor-

III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns

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Erkenntnisfähigkeit reformulieren. Trotzdem hat seine Betonung der »Wirklichkeit menschlichen Erkennens« – so der Titel von Vogts Untersuchung – ihr Wahres. Mendelssohns Gedanken zur Epistemologie fragen tatsächlich nach einer Nutzbarmachung metaphysischer Wahrheiten im menschlichen Wissen – jedoch erscheint dies auf eine Verbesserung der Praktikabilität der Theoreme angelegt zu sein, nicht die Revision oder Korrektur leibnizscher Philosophie unter der Herrschaft der Psychologie. Vielmehr baut Mendelssohns Psychologie auf bestimmten Theoremen seiner Vorgänger auf, um vor diesem Hintergrund ihre bislang vernachlässigte anthropologische Dimension herauszuarbeiten. Der Zielpunkt seines Interesse lässt sich, so die These dieses Teilkapitels, folgendermaßen formulieren: Mendelssohn veranstaltet keine groß angelegte Prüfung, sondern er betrachtet die rationalistischen Grundsätze unter der Perspektive des nicht nur logisch-rationalen, sondern auch psychologisch-begrenzten Menschen, um den spezifischen Wert dieser Theorien zur Vervollkommnung des Menschen herausarbeiten und begründen zu können. Damit soll auch eine gängige Ansicht3, dass das

mulierung und Fokussierung auf den Menschen, als mit einer umfassenden Kritik. Ästhetische Überlegungen, Gesellschafts- (Aufklärungsaufsatz) und Geschichtsphilosophie (Jerusalem), Haskala-Engagement, »praktische Ästhetik« in den Zeitschriften und nicht zuletzt die Bestimmung des Menschen – alle diese wichtigen Aspekte in Mendelssohns Werk enthalten weniger »überprüfte«, als von seinen Vorgängern übernommene, aber spezifisch ›gewendete‹ Elemente. Sicherlich ging dieser Aufnahme eine Art Prüfung voraus, ob sie sich dem vorgegebenen Problemrahmen überhaupt einverleiben ließen. Warum aber hatte Mendelssohn dann Ideen übernommen und harsch gegen Kritik und auch jegliche Infragestellung und Relativierung verteidigt, die nicht die menschliche Erkenntnisfähigkeit direkt betreffen, sondern vielmehr die Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt und den Bedingungen seiner Vervollkommnung? 3 Siehe paradigmatisch die Einleitung zu Zelle 1987, der von einer Ein- und Unterordnung der Empirie unter das rationalistische Dogma spricht. Als ein Beispiel einer ›Zwischenstufe‹ erwähne ich im gegebenen Zusammenhang lediglich Kuehn 1995, 200 f. Ihm zufolge hat Mendelssohn bald gesehen, dass die Britischen Empiristen der deutschen Philosophie einiges zu bieten hatten, was einer befriedigenden Lösung harrte. »The works of Locke, Shaftesbury, Hutcheson, Hume, Smith, Ferguson, and almost every other British philosopher of note were full of problems that needed solution and observations that needed to be explained, if German philosophy of the traditional sort [Kuehn meint den Wolffianismus; A.P.] was to succeed, and most of these problems seemed to have to do with the analysis of sensation in theoretical, moral, and aesthetic contexts. […] [For Mendelssohn,] it had to be shown that the phenomena observed by British philosophers and traced by them to a special sense are really rational. […] Though both [moral and common sense] may appear to be independent faculties of the mind, they must be reduced to reason.« Allerdings versuchte Mendelssohn auch, so Kuehn weiter, diese rationale Grundlage für die moralischen Gefühle darzulegen, die prima facie nichts mit Rationalität zu tun zu haben scheinen («how the rational principles are related to what appear to be completely different moral sentiments«). Ob daher mit »Reduktion« tatsächlich auch ein Verlust (im Sinne einer nicht vollständigen Erfassung menschlicher Wirklichkeit) einhergehen muss, lässt Kuehn hier offen. Differenzierter äußert er sich 1987, 39 f., indem er die Bedingungen dieser »Synthese« aus Rationalismus und Empirismus beschreibt.

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

Bestreben Mendelssohn in einer Reduktion der empiristischen Beobachtungen auf die Prämissen einer rationalistischen Philosophie und damit letztlich in ihre Vernunftgegründetheit bestand, erweitert werden: Eine solche Reduktion sollte nicht einer Verneinung des Eigenwerts der Sinnlichkeit gleichkommen, sondern deren Stellenwert begründen und sichern. Dabei sah sich Mendelssohn schon zu Beginn seiner philosophischen Karriere mit einer Sichtweise konfrontiert, die ihm wie eine schiere Provokation erscheinen musste. David Humes Enquiry concerning human understanding, 1755 ins deutsche übersetzt und von Sulzer mit Anmerkungen versehen herausgegeben4, untergrub mit seinen »skeptischen Zweifeln« das Fundament, das Mendelssohn zu festigen gewillt war. Was empörte ihn so an den Thesen des schottischen Philosophen?

1. Mendelssohns Auseinandersetzung mit »Hume’s problem« 1756, gerade ein Jahr nach Erscheinen der Übersetzung des Enquiry, gab Mendelssohn erstmals seine Gedanken von der Wahrscheinlichkeit 5, in denen er sich u. a. mit den Thesen Humes befasst, heraus. Er versucht hier, die ebenfalls auf ästhetischem und epistemologischen Gebiet relevanten Überlegungen zu einer Theorie des sicheren Handelns zu verbinden, das sich auf die durchgängige, aber auch im verworrenen 4

Sulzer ist nicht der Übersetzer, siehe JubA 1, 638 und Klemme 2000, VI; der Einfachheit halber dennoch im Folgenden zitiert als Hume/Sulzer 1755, S. Zitate aus der Originalversion erfolgen unter Angabe des Abschnitts (Sect., Part) sowie des betreffenden Absatzes nach der Edition von Selby-Bigge/Nidditch, Oxford 1975. 5 Zuerst erschienen in den Vermischten Abhandlungen und Urtheilen über das Neueste aus der Gelehrsamkeit, 3. Stück, 1. Jg. 1756; zit. nach JubA I, 147–164. Mendelssohn hat diese Abhandlung in seine Philosophischen Schriften unter dem Titel Ueber die Wahrscheinlichkeit weitgehend unverändert übernommen. Er wird die Dringlichkeit einer Diskussion von Humes Thesen auch deshalb verspürt haben, weil die Übersetzung von den Mitgliedern des Gelehrten Kaffeehauses, eine wichtige Institution des (privaten) intellektuellen Lebens in Berlin seit 1755, gelesen und diskutiert wurde (vgl. Kuehn 1995, 202). Aus diesem Grund sprach er in der Schrift selbst davon, dass Humes Enquiry nun »in aller Händen« sei (JubA I, 156) und eine eingehende Diskussion benötige. Mit einer eigenen Stellungnahme konnte Mendelssohn so auch sein intellektuelles Profil innerhalb der Berliner Gesellschaft schärfen. Erste Gedanken zur Geltung der Wahrscheinlichkeit finden sich auch in der Skizze Von den ohngefähren Zufällen (1753, JubA II, 3–5), den ersten erhaltenen Notizen des jungen Philosophen. Im LB 135: 11. Dezember 1760, einer Rezension von C. F. Flögels Einleitung in die Erfindungskunst (1760), hebt Mendelssohn die Bedeutung der Wahrscheinlichkeit für die Logik hervor, kämen doch »die Erfinder mehrenteils durch wahrscheinliche Schlüsse zuerst auf ihre Erfindung« (JubA V/1, 309). Vgl. dazu Altmann 1969, 217–26. Eine weitere Quelle für die Konzentration auf die Wahrscheinlichkeit als ein menschenmöglicher Modus möglichst sicherer Erkenntnis ist sicherlich neben Leibniz und Wolff auch Locke, vgl. Essay IV, 11 (§ 9), 12 und insbesondere 15.

III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns

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oder gar dunklen Modus wirksame und dennoch legitimierte Kenntnis einer Sache stützt. Damit verfolgt er zugleich die von Altmann (1969, 251) als »bahnbrechend« bezeichnete Absicht, die Frage nach der Gültigkeit der Induktionsschlüsse in diejenige nach der Sicherung der Wahrscheinlichkeitsschlüsse zu übersetzen. Beide Intentionen verdanken sich klar Mendelssohns Lektüre des Enquiry. So formuliert er in der Vorrede zur ersten Auflage der Philosophischen Schriften 1761: Er wolle »die Richtigkeit aller unsrer Experimentalschlüsse, wider die Einwürfe des englischen Weltweisen David Hume […] vertheidigen« (JubA I, 230); und dieser selbst hatte im vierten Abschnitt des Enquirys die Frage nach den Induktionsschlüssen und ihrer Berechtigung angeschnitten. Auf den ersten Blick erstaunt dieses Vorhaben, denn Hume hatte v. a. im fünften Abschnitt, der sich explizit mit der »Auflösung« der vorher aufgeworfenen skeptischen Zweifel bezieht6, die Richtigkeit und Verlässlichkeit von Experimentalschlüssen gar nicht explizit in Abrede, sondern vielmehr ihre Legitimation auf ein neues Fundament gestellt. Jedoch gerade dieses neue Fundament musste Mendelssohns Widerstand wecken. Dass Hume infolge seiner Theorie auch den Zuständigkeitsbereich menschlicher Vernunft modifizierte, ist ihm dabei gar nicht angemessen klar geworden. Denn, so Hume, wenn die spekulative Vernunft notwendig in Skepsis münde, so gilt dies nicht für die sich den praktischen Wissenschaften zuwendende Vernunft: hier ist das wahre und fruchtbare Forschungsgebiet des menschlichen Geistes.7 Mendelssohn zitiert zur Illustration seiner Interpretation eine Passage aus dem vierten Versuch, in dem sich Hume mit den »Wirkungen des Verstandes« im Allgemeinen und möglichen »skeptischen« Einwürfen wider ihn auseinandersetzt. Dort heißt es, in Mendelssohns Paraphrase: »Man gestehet durchgehends, daß keine Verknüpfung zwischen den sinnlichen Eigenschaften und den geheimen Kräften bekannt sey. Unsere Vernunft kann also den Schluß à priori nicht gemacht haben. Und was die Erfahrung betrift; so begreife ich eben nicht, wie sie auf künftige Zeiten und andere Gegenstände ausgedehnt werden könnte, von welchen wir noch keine Erfahrung haben.« (JubA I, 157, Hervorhebung A.P.)8 Hume trieb bekanntermaßen 6

Ebenfalls im zehnten Abschnitt, »On Miracles« (vgl. De Pierris 2001, 351). Vgl. von der Lühe 2000, 145 f. Mit De Pierris 2001, 364 ff. ist jedoch festzuhalten, dass laut Hume die Stärke der Pyrrhonischen Skepsis in theoretischer Hinsicht bleibt und der wahre Philosoph letztlich das Existenzrecht der beiden Sphären des theoretischen Nichtwissens und des lebenspraktischen Wissens bejahen muss. In diesem Sinne hat Hume, so ließe sich De Pierris’ Aufsatz zusammenfassen, die grundlegende Dialektik (im kantischen Sinne) des menschlichen Forschens aufgedeckt: »[…] if we engage in philosophical reflection about the general grounding of our most fundamental beliefs we are left with radical Pyrrhonian skepticism as an unavoidable and permanently open possibility« (ebd., 366) Das Bewusstsein der menschlichen Fallibilität ist in praktischer Hinsicht heilsam: »[…] it prepares the mind to adopt an attitude of cautious reflection in common life.« (ebd., 369) 8 Mendelssohns Zitat des mittleren Satzes ist allerdings nicht nur bloß eine stilistische Umstel7

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die Frage um, wie eine »nothwendige Verknüpfung« zweier Gegenstände, wenn sie niemals direkt beobachtet werden kann, etabliert wird. Die Quelle unserer Idee einer kausalen Verknüpfung erschließt sich offensichtlich nicht der direkten Beobachtung und kann schon gar nicht in einem isolierten und auf die Gegenstände der Erfahrung konzentrierten Vorgang entdeckt werden (vgl. Hume/Sulzer 1755, 180 f.). Er muss entsprechend »von demjenigen Umstande entstehen, in welchem die Menge der Beyspiele von einem jedem einzeln Beyspiele unterschieden ist« (ebd.). Dies ist allein die Gewohnheit. Mit der Zurückweisung der Beobachtbarkeit ebenso wie der vernunftorientierten Erschließung des Kausalitätsprinzips (oder ihres Beweises a priori) geht Humes Kritik bis an die Fundamente rationalistischer Welterschließung. Ein Induktionsschluss, der eben nicht aus einem wahren Sachverhalt deduziert, sondern Tatsachen zu einer Schlusskette verbindet, greift auf das Prinzip der Verursachung im Sinne eines ursächlichen und damit begründenden Zusammenhangs der Schlussglieder zurück. Nach Hume wäre es sowohl ein Fehler, die apodiktische Gewissheit dieser Schlusskette in der Vernunft zu suchen, als auch, sie auf eine einzige Erfahrung zu gründen. Den ›revolutionären‹ Aspekt dieses Gedankens fasst Cassirer wie folgt zusammen: »Alles rationale Erkennen führt sich auf den einen Schluß von der Wirkung auf die Ursache zurück; eben dieser Schluß aber ist in sich haltlos und auf rein logischem Wege unbegründbar. Es gibt für ihn nur eine mittelbare Begründung, die darin besteht, daß wir seinen psychologischen Ursprung aufdecken; daß wir den Glauben an die Gültigkeit des Kausalprinzips bis zu seiner Quelle zurückverfolgen. Dann aber zeigt sich, daß dieser ›Glaube‹ nicht in bestimmten allgemeingültigen und notwendigen Vernunftprinzipien gegründet ist, sondern daß er einem bloßen ›Instinkt‹, einem Urtrieb der menschlichen Natur entstammt. Dieser Trieb ist an sich blind; aber eben in dieser Blindheit besteht seine wesentliche Stärke […].« (Ders. 1932, 141 f.) Diese angebliche Stärke kann Mendelssohn nicht zugeben, denn sie würde die Aufgabe lung, wie die Anmerkungen zur JubA I, 638 verzeichnen, sondern lautet in Sulzers Übersetzung: »… und folglich, daß das Gemüth durch kein einziges Ding, so es von ihrer Natur weiß, angeleitet wird, einen solchen Schluß in Ansehung ihrer beständigen und regelmäßigen Vereinigung zu machen.« (Hume/Sulzer 1755, 79 f.) Der von Mendelssohn angeführte Satz scheint eher eine eigene Zusammenfassung zu sein, die sich im Begriffsgebrauch bereits auf S. 68 (»… daß diese Erkenntniß der Ursache und Wirkung in keinem einzigen Beyspiele, durch Vernunftschlüsse a priori erlanget werde…«; vgl. im Original IV.1, 23: »… that the knowledge of this relation is not, in any instance, attained by reasonings a priori….«) und den Anmerkungen Sulzers zum siebten Abschnitt wiederfindet (vgl. Hume/Sulzer, 187 f.). Ein Umstand, der Kuehn 1995, 206 entgangen zu sein scheint, weshalb seine Aussage, diese Formulierung sei »clearly a distortion […but] to a Leibniz-Wolffian it would have appeared as a matter of emphasis. Inferences a priori are just those kinds of mental operations that give us knowledge of the true nature of things. But however that may be, it is interesting that Hume, translated into the Wolffian idiom, sounds like Kant without any help from Kant himself« (Kuehn 1995, 206) neu zu überdenken wäre.

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seiner metaphysischen Grundposition einer auch vom Menschen zu leistenden rationalen Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Denkens und Erkennens verlangen. Er muss vielmehr mit Sulzer annehmen, dass Hume den Begriff der Kausalität »für einen leeren Ton […] erklären« (Hume/Sulzer 1755, 183) wolle und damit sämtliche Sicherheit in philosophischen wie alltäglichen Schlussfolgerungen aufhebe, oder dass Humes Beobachtung bloß psychologischer, nicht metaphysisch begründender Natur ist.9 Dass Cassirer hier Humes Begriff der Gewohnheit mit »Trieb« paraphrasiert, ist allerdings problematisch, denn nach Humes Intention ist es nicht notwendig, die Möglichkeit der Wissenschaften und des als sicher geltenden Wissens bloß in eine Folge aus »dunklen Mächten« oder »Begehrungen« aufzulösen. Er spricht vielmehr, etwas neutraler, sondern einem angeborenen Instinkt.10 Vielleicht ist die Wortwahl in der Hume-Übersetzung, die Sulzer herausgab, für eine Psychologisierung seiner Gedanken verantwortlich. Mendelssohns Interpretation von Humes Intention weist jedenfalls in eben diese Richtung. Mendelssohn geht gegen das ›Problem Hume‹ auf verschiedenen Ebenen vor. Zum einen versucht er zu zeigen, dass Humes Ansatz metaphysische Theoreme gar nicht angreife. Darüber hinaus unternimmt er es zum anderen, einen rationalen Beweis der Gültigkeit von »Experimentalschlüssen« vorzulegen, der sich dennoch mit der Tatsache, dass der Mensch mit seinem eingeschränkten Verstand in Hinblick auf Tatsachenwahrheiten nicht a priori allein zu folgern in der Lage und demnach auf eine bestimmte Art der Induktionsschlüsse angewiesen ist, verträgt. Dies bedeutet meines Erachtens auch, dass Mendelssohn Hume dennoch als Philosophen ernst nahm11; wenngleich auch nur im Sinne einer philosophischen Position, die, sind ihre 9

Eine Remineszenz an Wolff: »einer, der die Weltweisheit nicht verstehet, kann wohl auch aus der Erfahrung vieles lernen, was möglich ist: allein er weiß nicht den Grund anzuzeigen, warum es seyn kann. Z. E. er lernet aus der Erfahrung, daß es regnen könne, kann aber nicht sagen, wie es zugehet, daß es regnet, noch die Ursachen zeigen, warum es regnet« (Vorbericht zur Deutschen Logik, § 6) Um die tatsächlichen Ursachen aufzusuchen, so Wolff, sind klare und deutliche Begriffe nötig, die sich auch aus einer oft wiederholten Erfahrung ergeben können (Deutsche Metaphysik, §§ 330 ff.; vgl. Euler 2004, 16 f.); die Grundlage dieser Erkenntnisse liegt jedoch in letzter Konsequenz in Vernunftschlüssen, die nicht auf einer Erfahrung beruhen. 10 Vgl. Enquiry, V.2, 39 f.: »It follows, therefore, that the difference between fiction and belief lies in some sentiment or feeling, which is annexed to the latter, not to the former, and which depends not on the will, nor can be commanded at pleasure. […] belief is nothing but a more vivid, lively, forcible, firm, steady conception of an object than fiction. […] And in philosophy, we can go no farther than assert, that belief is something felt by the mind, which distinguishes the ideas of the judgment from the fictions of the imagination.« (Hervorhebung A.P.). Dass das Urteil nicht mit der Imaginationskraft ineins gesetzt wird, sollte zumindest verhindern, von Hume als einem dunklen Willens- oder Sinnlichkeitsapologeten zu sprechen. 11 Kuehn 1995, 198 spricht etwas missverständlich davon, dass Mendelssohn Hume nicht ernst nahm; dann allerdings hätte sich eine Auseinandersetzung mit ihm von vornherein erledigt.

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Fundamente einmal ausgemacht, nicht mehr gegen diejenige Leibniz’ in Anschlag zu bringen ist, sondern sie lediglich erweitert. Betrachten wir zuerst seinen Ausgangspunkt. Gegenüber Lessing reformuliert er Humes Position in einem Brief vom 19. November 1755: Dieser sage, »man könne nicht beweisen, daß irgend eine Begebenheit in der Welt eine wirkende Ursache hätte.« Er, Mendelssohn »halte diesen Zweifel gar nicht für neu, sondern glaube: es sey das System der allgemeinen Harmonisten.« (JubA XI, 21) Die einzig möglichen Arten, Kausalität zu begründen, sind für Mendelssohn, wie aus seinen Ausführungen deutlich wird, die drei metaphysischen Versuche des Influxus, des Okkasionalismus und der prästabilierten Harmonie. »Da Hume sowohl den Occasionalismus wie, ohne ihn so zu nennen, den Influxismus ablehnte, sah sich Mendelssohn von seinen Denkvoraussetzungen her gewissermaßen gezwungen, in Hume einen verkappten Harmonisten zu vermuten.« (Altmann 1969, 229) Er fasst demzufolge Humes Leugnung der Kausalität als einen Abweis des influxus realis auf – und nimmt an, dass dies eine Bestätigung des influxus idealis zur Folge haben muss und somit Hume gerade keinen neuen Lösungsansatz zu einer altbekannten Frage lieferte. Dabei übersieht Mendelssohn allerdings, dass Hume zwar von einer Art »pre-established harmony« (Enquiry, V.2, 44) zwischen unserer Erfahrung und der Ordnung der Dinge spricht, damit aber nicht ein einheitsstiftendes (›objektives‹) Prinzip, sondern die (›subjektive‹) Macht der Gewohnheit meint. Auch verbindet Hume mit dieser Gewohnheit nicht die bloß psychologische Seite des metaphysischen Zusammenhangs der Dinge (vgl. Kuehn 1995, 212). Dennoch hat Mendelssohn die Provokation der ›blinden‹ Gewohnheit (wie ›blind‹ sie auf dem rationalen Auge ist, wäre zu untersuchen) anscheinend bemerkt, denn ihm schien ein weiterer Argumentationsschritt erforderlich zu sein.12 Es wird in den Gedanken über die Wahrscheinlichkeit deutlich, dass er durchaus nicht mit dem bloßen Hinweis auf die nicht angetasteten metaphysischen Grundlagen auf eine Zurückweisung von Humes Position glaubt verzichten zu können. Vielmehr will er dessen Auffassung widerlegen, dass unsere Erwartung, bei gleichen Geschehnissen gleiche Folgen zu beobachten, nicht rational erklärbar sei, sondern sich der Gewohnheit verdanke13, indem er auf die Argumentationslinie Humes eingeht. Wenngleich Mendelssohns Bestreben ging vielmehr dahin zu zeigen, weshalb man Humes Position nicht als eine eigenständige philosophische ernst nehmen müsse. 12 Dies vermutlich auch in Anschluss an Locke, Essay II, 33, der betonte, dass ein subjektives Gefühl allzu oft Quelle des Irrtums gewesen sei; vgl. von der Lühe 2000, 149. 13 Kuehn 1995, 208. Siehe auch Klemme 2000, X: »The reader of this preface [Mendelssohns Vorrede zu den Philosophischen Schriften, 1761] is left with the impression that Hume was determined to leave the validity of particular causal judgements entirely unjustified.« Die skeptisch geprägte Unterscheidung zwischen wahr und sicher bzw. »verum« und »certum« war auch bei Giambattista Vico 1710 bereits angeklungen, vgl. Proß 1987, 911.

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er ihn also als einen »verkappten Harmonisten« gesehen haben will und seine Zweifel allein im Gebiet der Psychologie gelten ließ, so ist doch sein Wahrscheinlichkeitsaufsatz der Beweis dafür, dass die Gewissheit metaphysischer Wahrheiten auch gegen Einwürfe solcher Art verteidigt werden muss. Um die Gegenposition deutlicher zu machen, sei noch einmal auf eine Bemerkung Humes aus dem vierten Versuch zurückgegriffen: »In a Word, then, every effect is a distinct event from its cause. It could not, therefore, be discovered in the cause, and the first invention or conception of it, a priori, must be entirely arbitrary.« (IV.1, 25)14 Und, wie er im Anschluss daran im fünften Abschnitt resumiert, der Grund für die Sicherheit dieser Gewohnheit liegt in einer »Geneigtheit« (propensity) der menschlichen Natur (vgl. Hume/Sulzer 1755, 107, Enquiry V.1, 36); wann immer etwas geschieht, das wir als Ursache ansehen, erwarten wir die entsprechende Wirkung. Diese Erwartung ist jedoch stärker als eine Erwartung, die an bloße Vermutungen im alltäglichen Wortsinn geknüpft ist. Die Erwartung kausaler Ereignisse ist von diesem bloß psychologischen Moment (so kann man Hume zumindest verstehen) grundlegend unterschieden: »This transition of thought from the cause to the effect proceeds not from reason. It derives its origin altogether from custom and experience. And as it first begins from an object, present to the senses, it renders

14 Vgl. Hume/Sulzer 1755, 73. Die Meinungen darüber, inwiefern Humes Positionen im Treatise und Enquiry übereinstimmen, sind geteilt. Kuehn 2004, 233 ff. spricht von einer Tendenz Humes im Treatise, die Grundlage der »notwendigen Verknüpfung« in der subjektiven Gewohnheit zu sehen, während der Enquiry stärker auf das auch geltende Band zwischen den Dingen verweist, das aber nicht erfahren werden kann. »In der Untersuchung konnte es so aussehen, als beruhe die Kausalbeziehung, wenngleich selbst nicht objektiv, irgendwie auf den Gegenständen selbst.« (Kuehn 2004, 234) Kuehn weist im Folgenden auf eine Teilübersetzung des Treatise durch Hamann (1771 anonym unter dem Titel »Nachtgedanken eines Skeptikers« veröffentlicht) hin, die den Einfluss Humes auf Kant entscheidend prägte. In dieser Übersetzung schließt das erste Buch des Treatise mit einem klaren Hinweis auf die subjektiven Fundamente der Kausalwirkungen. Die Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung liege »nur in uns selbst« und sei nichts als eine »psychische Nötigung«. Einen ersten, alles verursachenden Grund, die »Erkenntnis des ursprünglichen und letzten Prinzips« könnten wir also niemals erreichen. »Hier wird die Frage nach der bloßen Möglichkeit von Metaphysik im Kontext der Erörterung des Kausalprinzips gestellt, und das muß Kant sogleich klar geworden sein […].« (Kuehn 2004, 234) Anhand des hier ausgewählten Zitats lässt sich jedoch zeigen, dass die Hinweise auf eine »bloß« subjektive Gültigkeit des Kausalitätsprinzips im Enquiry stark genug waren, um Denker wie Mendelssohn aufzurütteln. Und dass Mendelssohn für seinen Widerstand einzelne Passagen Humes genügten, wird aus seiner Textauswahl deutlich (er zitiert allein aus dem vierten Versuch, siehe JubA I, 156 f./505 f.). Dabei sei zu beachten, dass seine anschließenden Überlegungen zur Geltung eines einzigen Prinzips hinter allen Erscheinungen und der Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie auf die moralischen Handlungen und die Erwartung der Handlungsweise Anderer aufgrund der Kenntnis ihres Charakters (die eine bestimmte Handlung erwartbar machen) auf seine, wenngleich vielleicht nur oberflächliche, Lektüre des gesamten Enquiry hinweisen. Dass Mendelssohn zwischen dem Treatise und dem Enquiry unterschieden hätte, wird nirgendwo deutlich.

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the idea or conception of flame [when you throw a piece of dry wood into a fire] more strong and lively than any loose, floating reverie of the imagination. That idea arises immediately. The thought moves instantly towards it, and conveys to it all that force of conception, which is derived from the impression present to the senses.« (Enquiry, V.2, 44) Die Erwartung von Kausalität ist also mit der Eindrücklichkeit eines sinnlichen Eindrucks verwandt. In diesem Sinne ist der »Glaube« daran keine Angelegenheit subjektiver Entscheidung, sondern eine Gesetzmäßigkeit, ein unsere Weltwahrnehmung leitendes Naturgesetz. »All these operations are a species of natural instincts [»eine Art des natürlichen Triebes und Instincts«; Hume/Sulzer 1755, 155], which no reasoning or process of the thought and understanding is able, either to produce, or to prevent.« (Enquiry, V.1, 38) Mendelssohn will die von Humes Ansicht etablierte Reihenfolge umkehren: ihmzufolge ist es immer ein Vernunftschluss, der durch die oftmals wiederholte, gleichförmige Erfahrung mit dem rationalen Instrument der Wahrscheinlichkeitstheorie nur bestärkt wird. In der Erfahrung von Begebenheiten, in denen der Grund des Zusammenhangs nicht eingesehen werden kann – wenn sich die Erfahrung als eine Tatsache zeigt, deren Gegenteil als nicht widersprüchlich erscheint – muss, so Mendelssohn, die Vermutung nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit, also nach gerichteter Wiederholung derselben Erfahrung, die Rolle des zureichenden Grundes übernehmen (vgl. JubA I, 158/506). Die Wahrscheinlichkeit der Vermutung erhöht sich von Beobachtung zu Beobachtung, bis sie zur Sicherheit wird. Geht die Anzahl der Wiederholungen ins unendliche, kann daraus sogar, kontrafaktisch gesprochen, Apodiktizität werden.15 Dieser für den Menschen nur virtuelle Zusammenhang zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit ist nur zu erfüllen, wenn von einer durchgängig bestimmten und, von einer allwissenden Perspektive aus, auch nach Gründen bestimmbaren Wirklichkeit ausgegangen wird. Dafür aber muss die Verbindung zwischen Erfahrung und Wissen eine andere sein, als dies bei Hume der Fall ist und bei diesem letztlich zu einem Abweis der ›reinen‹ Vernunftschlüsse bezüglich kausaler Ereignisse führt, weil sie nicht beobachtbar sind. Mendelssohns Weg, die Kausalität über die Wahrscheinlichkeitstheorie zu erklären, muss also über die bloß psychologisch erklärbare oder allein im Subjekt zu konstatierende willkürliche Setzung des Kausalitätsprinzips hinausgehen und greift damit auf metaphysische (ontologische) Prinzipien zurück. Damit ist der Dissens in seiner ganzen Tiefe deutlich: Ebenso wie Sulzer ging Mendelssohn mit Leibniz davon aus, dass die Nichtwahrnehmbarkeit der Kausalwirkung kein Argument gegen seine reale Gültigkeit sein könne, weil als letztbegründetes Prinzip ein metaphysisches Postulat, keine Erfahrungstatsache gelte. 15

In diesem Sinne schließt sich Mendelssohn nur in pragmatischer Hinsicht an die (im Prinzip endlichen) zureichenden Gründe nach Wolffs Auffassung an; Kuehn 1995, 204 sieht hier eine größere Übereinstimmung.

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So sind zwar weite Gebiete menschlichen Wissens lediglich durch die Geltung des Wahrscheinlichkeitskalküls gedeckt, ihre Letztbegründung geschieht jedoch nicht durch subjektive Evidenz, sondern unter Rückgriff auf metaphysische Prinzipien. In einer Mendelssohn zugeschriebenen Rezension zu Garves Ferguson-Übersetzung16, äußert sich der Verfasser (also eventuell Mendelssohn) ebenfalls zum Kausalitätsgesetz und seinen objektiven Grundlagen. Die Stoßrichtung ist dieselbe wie im Wahrscheinlichkeitsaufsatz. Zwar ist die Kausalität bloß beobachtbar; aber ihr wiederholtes Auftreten in Verbindung mit bestimmten »Subjekten«, also den beobachteten Entitäten, lässt einen Schluss auf ihre ursprüngliche Verbindung zu. »Die Natur bietet uns kein Factum dar, ohne daß wir uns dabey ein Subjekt vorstellen, das dasselbe hervorbringt, geschiehet es nun zum wiederholtenmalen, daß wir das Factum, mag es auch ein einfaches seyn, mit dem Subjekt beysammen antreffen, so ist es unbegreiflich, warum nicht von dem Subjekte solte gesagt werden können, daß es dem Gesetze unterworfen sey, dieses Factum hervorzubringen?« (JubA V/2, 160) Gerade dies hatte Hume jedoch infrage gestellt. Wie sieht also die Differenz zwischen Mendelssohn und Hume im Einzelnen aus? Offenbar stimmen beide in folgenden Grundsätzen überein: (1) Wann immer wir einen Fall beobachten, der uns in ähnlicher Form bereits bekannt ist, erwarten wir, dass der aktuelle Fall dieselben Folgen nach sich zieht wie die bereits beobachteten. (2) In der Erfahrung können wir kausale Ereignisse zwar wahrnehmen, nicht aber die Kausalität selbst. Das sich ergebende Paradoxon: ›wir erwarten ein Ereignis, das wir noch nie gesehen haben‹ löst Hume auf mit dem Hinweis auf die Gewohnheit, die allererst eine solche Erwartungshaltung erweckt und schließlich auch (gesetzt, die Erwartungshaltung wird hinreichend oft erfüllt) bestätigt. Er folgert also aus den vorangegangenen Prämissen: (3) Rein aus der Vernunft können wir keine Idee der Kausalität erhalten. (4) Wenn es nämlich aus der Vernunft allein erklärt werden könnte, würden wir keine wiederholte Erfahrung benötigen. (5) Wie aber die Aussagen 1, 2, 3 besagen, benötigen wir gerade eine wiederholte Erfahrung. Also kann Gewohnheit kein Vernunftprinzip, unabhängig von jeglicher Erfahrung, sein.17 Mendelssohn hält dagegen, dass zwar die empirische Rechtfertigung unserer entsprechenden Erwartungshaltung an ein kausales Ereignis (eine Tatsachenwahrheit) tatsächlich von einem Wahrscheinlichkeitskalkül abhängig ist und damit in seinem 16

Erschienen in der Allgemeinen deutschen Bibliothek Bd. 17.2, 1771(unsigniert); zit. nach JubA V/2, 156–73. 17 Diese Argumentationsfolge übernehme ich von Kuehn 1995, 207.

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Ergebnis vom Menschen nicht rein aus der Vernunft vorweggenommen werden kann. Es ist aber – und dies zeige gerade die Möglichkeit, hier ein Wahrscheinlichkeitskalkül zu etablieren – rational begründbar. Wir brauchen wiederholte Erfahrung nicht, um eine Vorstellung der notwendigen Verknüpfung zu gewinnen, sondern um ihre jeweilige Sicherheit zu steigern. Damit reagiert er, wie auch Kuehn (1995, 208) festhält, gegen die von Hume gemachte Folgerung (5): Eine möglichst oft wiederholte Erfahrung soll die Sicherheit des Schlusses stärken, nicht die Art der Verknüpfung (als »Kausalität«) überhaupt erst etablieren. Dies bedeutet aber darüber hinaus auch, und das hat Kuehn so nicht betont, dass die Differenz schon in Prämisse (2) versteckt ist: laut Hume können wir über Kausalität nichts wissen, weil sie nicht direkt, sondern nur über die Gewohnheit, erfahren werden kann. Mehr noch, wie der Schluss von Abschnitt 5 des Enquiry zeigt: es ist gerade vorteilhaft, dass die Vernunft – als eine derart wankende und für Fehlurteile anfällige Instanz – in der Sicherung der Induktionsschlüsse nichts verloren hat; denn diese natürliche Kraft des »Schließens«, oder »Erwartens« von Wirkungen aufgrund der Wahrnehmung einer Ursache und der Gewohnheit ist weitaus sicherer: »As nature has taught us the use of our limbs, without giving us the knowledge of the muscles and nerves, by which they are attracted; so has she implanted in us an instinct, which carries forward the thought in a correspondent course to that which she has established among external objects; though we are ignorant of those powers and forces, on which this regular course and succession of objects totally depends.« (V.2, 45, Hervorhebung A.P.) Mendelssohn lässt die Folgerung: wir können Kausalität nicht direkt erfahren18, also wissen wir nichts von ihr, nicht gelten. Vielmehr fällt für ihn Wissen und Beobachtung auseinander; es ist für ihn legitim, für die letztgültige Absicherung dieses Wissens über das Beobachtbare hinaus- und auf Leibniz’ grundlegende Prämissen, v. a. das Postulat der durchgängigen Bestimmung, zurückzugehen. Die Sicherheit, dass diese spezifische Verbindung zweier disparater Ereignisse gültig ist, darf dann der Erfahrung überlassen werden. Eine ähnliche Position nimmt auch Sulzer in seinen Anmerkungen zur HumeÜbersetzung ein19: Hume übersieht ihm zufolge ein (notwendiges) metaphysisches Moment, was bei der Verbindung der Erfahrungen zu einem allgemeinen Satz vorausgesetzt wird. Mendelssohn hat sich offensichtlich dieser Anmerkung Sulzers zum vierten Versucht des Enquiry angeschlossen: »Es scheint seltsam, daß ein scharfsin18

»In a word, if we proceed not upon some fact, present to the memory or the senses, our reasonings would be merely hypothetical; and however the particular links might be connected to each other, the whole chain of inferences would have nothing to support it, nor could we ever, by its means, arrive at the knowledge of any real existence.« (Enquiry, V.1, 39) 19 Vgl. Hume/Sulzer 1755, 67, Anm. 101. Mendelssohn hatte sich 1776 Hennings gegenüber lobend über Sulzers Hume-Interpretation ausgesprochen, selbst wenn er ihr seine eigenen Gedanken hinzuzufügen müssen glaubte; vgl. Kuehn 1995, 216 f.

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niger Mann, wie Herr Hume, sich diese Frage nicht selbst hat beantworten können. Denn es ist offenbar, daß der Geist im angeführten Falle sich nach den genauesten Regeln der Vernunft richtet. Er bauet alle seine Erwartungen auf den Satz, daß gleiche Ursachen auch gleiche Wirkungen haben müssen; ein Satz der immer im strengsten Sinne wahr bleibt, wenn wir gleich keine einzige Art der Wirkung jemals deutlich einsehen sollten.« (Hume/Sulzer 1755, 99; Hervorhebung A.P.) Wir können die notwendige Verknüpfung nie sehen, doch sie ist qua Vernunftgegebenheit jedem sogleich einsichtig und erweckt allererst das Bedürfnis nach einem Wahrscheinlichkeitskalkül, um diese Vernunftforderung abzusichern. Sollte sich herausstellen, dass die Ereignisse A und B tatsächlich nur zufällig zusammengefallen bzw. aufeinander gefolgt sind, so heißt dies nicht mehr, als dass unsere anfängliche ›Intuition‹ getäuscht hat. Woher kommt aber diese Intuition? »Folgen wir der Darstellung Mendelssohns (und Sulzers), dann scheitert Humes Kausalanalyse mit Notwendigkeit, weil unsere ›Experimentalschlüsse‹ ohne ein rationales oder vernünftiges Moment nicht zu begründen sind. Damit ist aber im Grundsätzlichen das Problem benannt, mit dem sich Kant Anfang der siebziger Jahre auseinandergesetzt hat: Wie sind Verstandesbegriffe auf die Sinnlichkeit in einer Art und Weise zu beziehen, die Erfahrung möglich macht?« (Klemme 1999, 523) Dies war gerade die Frage, die Kant aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt haben soll.20 Mendelssohn war jedoch auf diesem Ohr nahezu taub. Ihm geht es vielmehr darum, die leibnizianischen Prämissen in eine angemessene, die Erfahrungswirklichkeit des Menschen berücksichtigende Form zu bringen. Er versucht deshalb, mit seinem Wahrscheinlichkeitskalkül den psychologischen Mechanismus der Sicherung menschlicher Vorvermutungen zu formalisieren21 und damit die Gültigkeit der Induktionsschlüsse zu sichern, die Hume direkt gar nicht angegriffen, sondern auf ihr epistemologisches Fundament hin befragt hatte. Damit hat Mendelssohn die Frage allerdings in eine bestimmte Richtung gewendet: Ihm geht es zum einen darum, die rationale Basis der Induktionsschlüsse herauszustellen, und zugleich die Sicherheit dieser Induktionsschlüsse über die Wahrscheinlichkeitstheorie zu bekräftigen.

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Die Erweckung aus dem dogmatischen Schlummer ist tatsächlich ein Bild, das Sulzer der Hume-Übersetzung voranstellt (siehe Hume/Sulzer 1755, Vorrede Sulzers, unpag.). Siehe zur Bedeutung Humes für Kants die kritische Wende angeblich initiierendes »großes Licht« Lorne Falkenstein: »The Great Light of 1769 – A Humeian Awakening?«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 77 (1995), 63–79 und Kuehn 2004, 233 ff. 21 Es ist erstaunlich, dass Altmann diesen Lösungsweg, der zwar mit mathematischen Mitteln operiert, jedoch nicht die grundsätzlichen Annahmen der Schulphilosophie leugnet, als »moderner« bezeichnet als Kants. (Altmann 1969, 236) Vielmehr versucht Mendelssohn hier, die kategorische Unterscheidung zwischen Gewissheit und Überzeugung durch Quantifizierung zu vermitteln (vgl. von der Lühe 2000, 151). Nur so ist auch die prinzipielle Gleichsetzung von Vernunft und »gemeinem Menschenverstand« möglich (vgl. JubA III/2, 33 f., 50).

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Kuehn kommt in seinem Essay zu Hume und Mendelssohn zu einem ähnlichen Ergebnis: »[…] I think he viewed Hume primarily as denying that inductive inferences could be rationally justified. To use somewhat anachronistic terminology, he viewed Hume as a skeptic about philosophical justification. He [Mendelssohn] never tried to show that induction is possible, but only how it can be explained by reason.«22 Damit verortet Mendelssohn zum einen Humes Zurückweisung des Kausalitätsprinzips allein auf der psychologischen Ebene. In metaphysischer Hinsicht könne Humes Begriff der Gewohnheit nichts austragen, da er die Relevanz der rationalen Rechtfertigung falsch einschätzt. Zum anderen versucht Mendelssohn zu zeigen, dass eine vernünftige Induktion (im Gegensatz zu einer instinktiven) möglich ist. In seiner Sicht musste allein die Prämisse, dass aus der Vernunft allein sich niemals eine Erkenntnis (hier: der Kausalität) ergeben kann, wenn es an einer entsprechenden Erfahrung (im Sinne einer Beobachtung) fehlt, als eine Zurückweisung sämtlicher vernünftiger Prinzipien gelten, auf die sich die rationale Herleitung von Kausalität stützt. Induktionsschlüsse, in denen prima facie kein Grund für eine notwendige Verknüpfung einzusehen ist, können eine (nahezu) notwendige Geltung nur erlangen, wenn zumindest die Gesetzmäßigkeiten der Schlussfolgerungen a priori gesichert sind. Ansonsten wäre, so Mendelssohns Befürchtung, der Mensch tatsächlich auf den ›blinden‹ Beweis durch Gewohnheit allein angewiesen. Dass viele Vernunftschlüsse falsch sein können, sieht er dabei ebenfalls ein. Dies ist jedoch für ihn kein Argument gegen die Vernunft, sondern gegen die menschlichen Schranken beim vernünftigen Folgern. Letztlich also scheint ihm die Quelle des Notwendigkeitsbegriffs zur Strukturierung menschlicher Wahrnehmung nicht fraglich: Sie liegt nicht in der Erfahrung, sondern ist über die Postulate der durchgehenden Verknüpfung aller Tatsachenwahrheiten nach dem Satz vom zureichenden Grunde bzw. aller Vernunftwahrheiten durch den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch in der Vernunft auszumachen. Die Geltung der Induktionsschlüsse wird durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht etabliert, sondern abgesichert. Diese Absicherung ist nur nach menschlichen Gesichtspunkten notwendig und betont so den Zugriff, den Mendelssohn über die Fokussierung auf den Menschen auf die metaphysischen Grundsätze Leibniz’ hat. Mit der Anwendung der Wahrscheinlichkeitsformel w = 1 / n + 1 (wenn n gegen unendlich, dann wird die Wahrscheinlichkeit zur Notwendigkeit23) will Men22

Kuehn 1995, 208. In eine ähnliche Richtung geht auch Bamberger, JubA I, XXV: »Er [Mendelssohn] beachtet dabei ausschließlich die Wendungen Humes, die den Anschein erwecken, daß sich seine Kritik nur gegen die Erkennbarkeit der konkreten Erfahrungszusammenhänge richtet und übersieht, daß ihr eigentlicher Gegenstand die Begründbarkeit des Kausalprinzips als der Grundlage aller Erfahrungserkenntnis ist.« 23 »Denn da nach dem wahren Begrife, den uns die neuren Weltweisen, von einem eintzelnen Dinge geben, ein individuum von allen Seiten vollkommen bestimt seyn muß, und da die Bestim-

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delssohn zeigen, dass die Wiederholung der Erfahrung die Sicherheit einer kausalen Verknüpfung immer wahrscheinlicher macht: »Je öfter wir also die Erfahrung angestellet, desto näher kömmt unsere Erwartung zur Gewißheit, und wenn n unendlich wäre; so wären wir vollkommen überzeugt. Unsere Experimentalschlüsse haben also einen sichern Grund darauf sie sich stützen. Wir kommen durch öfters wiederholte Erfahrungen, und durch das glaubwürdige Zeugniß anderer, die eben diese Erfahrungen angestellt haben, der mathematischen Evidenz immer näher, ob es gleich ausgemacht ist, daß wir sie selbst[…] niemals vermittelst der Erfahrung erreichen können.« (JubA I, 160, Hervorhebung A.P.24) Mendelssohn gründet mit diesem Modell einer Annäherung an göttliches Wissen die Gültigkeit des Wahrscheinlichkeitskalküls für die Sicherung menschlichen Wissens auf Prämissen, die Hume gerade bezweifelt.25

mung des gantzen aus der Bestimmung aller seiner Theile besteht; So müßen nothwendig alle Theile eines individuvi von allen Seiten vollkommen determiniert seyn, und so lange das mindeste in ihnen noch unbestimt ist; so lange gehört das gantze noch zu einem Geschlechte, und kan also noch nirgend als in unsern Begrifen wirklich seyn.« (Bemerkungen zu »Über die Empfindungen« und zu den »Philosophischen Gesprächen«, JubA I, 222) Mendelssohn liegt mit dieser Formel – allerdings ohne mathematisch validen Beweis – nah an der sogenannten »Bayes-Laplaceschen Lösung« von 1763: n + 1 / n + 2 (vgl. Lausch 2000, 133 f. m.w.Vw.) 24 Ebenso ist, so Mendelssohn, durch die Erfahrung nicht zu ermitteln, welches metaphysische System zur Begründung der Kausalität wirklich zutrifft; wahrscheinlich sei jedoch, für alle Geschehnisse letztlich einen einzigen Grund anzunehmen. Mendelssohns Übertragung der Wahrscheinlichkeitstheorie in die Metaphysik ist jedoch wenig überzeugend (vgl. JubA II, 160 ff.) und stellt strenggenommen einen Kategorienfehler dar. Der Grund, weshalb er im Zuge der Wahrscheinlichkeitstheorie auf diese Frage zu sprechen kommt, liegt wiederum in seiner Hume-Lektüre begründet, der im VII. Versuch auch diejenigen »Weltweisen« angreift, die sich irgendwelche Schlüsse auf die göttliche Wirkungsweise erlauben. Mendelssohn meint hier, den Occasionalism als Gegner ausgemacht zu haben (siehe oben); scheint aber zugleich auch zu bemerken, dass Humes Angriff generell gegen die Erklärungsversuche göttlicher Weltordnung gehen (siehe Hume/Sulzer 1755, 167–71). 25 »Though Mendelssohn did not reject Hume on a simple misunderstanding, he does ignore Hume’s own reasons for particular causal judgements as developed in later sections of the Philosophical Essays, and therefore bases some of his arguments on premises that Hume found most questionable.« (Klemme 2000, X) Eine solche fragwürdige Prämisse benennt Kuehn 1995, 213 (dort mit Rückgriff auf Humes Äußerungen im Treatise, aber eine ähnliche Passage findet sich auch im Abschnitt 11 des Enquiry), denn Hume betont, dass es keine überzeugenden Gründe für die Annahme einer individuellen Substanz als Grundlage rationaler Gesetzmäßigkeiten gibt. Im siebten Abschnitt heißt es über die Vorstellungen der Verbindung von Seele und Körper bzw. Erkennen und Wollen: »It appears, that, in single instances of the operation of bodies, we never can, by our outmost scrutiny, discover any thing but one event following another; without being able to comprehend any force or power, by which the cause operates, or any connexion between it and its supposed effect. The same difficulty occurs in contemplating the operations of mind on body; where we observe the motion of the latter to follow upon the volition of the former; but are not able to observe or conceive the tye, which binds together the motion and volition, or the energy by which the mind produces this effect. The authority of the will over its own faculties and

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In der Folgezeit wurde Mendelssohns Hume-Interpretation durchaus nicht unbeachtet gelassen. Noch 1771 griff Marcus Herz in seinen Betrachtungen aus der speculativen Weltweisheit auf sie zurück, und zwar unter Hinweis auf den Beweis der Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grunde. Dieser sei nämlich nur mithilfe der Erfahrung aufzufinden, was nicht bedeute, dass er deshalb keine Fundierung in der Vernunft habe: »Wenn ich aber auch, nachdem der Begriff eines Grundes einmal gegeben ist, den Satz, daß nichts ohne zureichenden Grund sei, als eine ewige Wahrheit zugebe, so muß ich doch gestehen, sobald ich die Art bedenke, auf welche wir zu diesem Begriff gelangen, daß die Erfahrung mit der einzige Weg zu sein scheint, welcher uns zu demselben führt.« (Herz 1771, 72) Dass diese durch die Erfahrung aufgefundene Wahrheit dennoch »ewig« sei, dazu sei er, Herz, »durch die weit philosophischeren Gründe eines Mendelssohn völlig in Sicherheit gesetzt« (ebd.). Es ist schließlich Kant, der die Argumentation Mendelssohns nicht mehr gelten lassen will, sich jedoch letztlich ebenso wenig als Humeaner bekennt. Doch dessen Hume-Interpretation konnte Mendelssohn, der sich mit seiner Zurückweisung Humes im Wahrscheinlichkeitsaufsatz offensichtlich zufrieden gab, nicht mehr nachvollziehen. Der Beweis der Richtigkeit unserer Experimentalschlüsse war auch deshalb nötig, um damit zugleich, wie sich auch in der Evidenzschrift zeigt, die »moralische Notwendigkeit« zu retten.26 In dieser Hinsicht richtet sich Mendelssohn in seinem ideas is not a whit more comprehensible: So that, upon the whole, there appears not, throughout all nature, any one instance of connexion, which is conceivable by us.« (Enquiry, VII.2, 58) Gerade den letzteren Beweis »concerning the weakness and narrow limits of human reason and capacity« (ebd., 59) hat Mendelssohn mit Leibniz schlicht zurückgewiesen, da Hume auch die Idee der Kraft (siehe die dort eingefügte Fußnote, 59) aus den angegebenen Gründen auf eine »customary connexion« reformuliert. Mendelssohn scheint jedoch, wie bereits erwähnt, den Treatise und vielleicht sogar den Enquiry nicht in Gänze gelesen zu haben und sah auch in den späteren Auflagen der Wahrscheinlichkeitsschrift in den Philosophischen Schriften keinen Grund für eine Revision seiner Position. 26 Kuehn 1995, 203 vermutet allein psychologische Gründe, weshalb Mendelssohn zwei so disparate Themen wie das Kausalitätsproblem und die Willensfreiheit in einem Aufsatz zu behandeln: er wollte damit wohl Hume und Leibniz als wichtige Positionen der Zeit erfassen. Nun ist natürlich klar, dass Mendelssohn sich nicht an Humes Handlungs- und Motivationstheorie, wie er sie bspw. im achten Versuch des Enquiry anspricht, anschließen konnte, da dieser allein Leidenschaften als handlungsauslösende Momente gelten lässt (Hume/Sulzer 1755, 196 f.). Allein die Verbindung zwischen der kausalen Verknüpfung physischer Ereignisse und der Verknüpfung der psychischen Ereignisse durch ein Band der Gewohnheit mussten Mendelssohn auffordern, sich ebenfalls im gegebenen Rahmen zu diesem Bereich zu äußern. Interessant ist die Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit in der Zuschauerperspektive: Jemand fühlt sich frei (jedoch ist seine Handlung allzu oft von der bloßen Leidenschaft, sich als frei zu erweisen, gespeist), doch der Beobachter kann seine Handlungen auf seine Charaktereigenschaften, Gewohnheiten etc. zurückführen (Fußnote im achten Versucht, Hume/Sulzer 1755, 215 ff.). Die Macht der Gewohnheit nimmt bei Hume die Stelle ein, die Mendelssohn mit der Macht des Grundes besetzen möchte, und dabei allerdings

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Aufsatz auch gegen Baumgarten und dessen Auffassung der Willensfreiheit, wobei er – interessanterweise nahe an Hume (siehe dessen achten Versuch, der Freiheit und Notwendigkeit miteinander verbindet) – wiederum mithilfe seiner Wahrscheinlichkeitstheorie operiert. Leider ist zu dieser Streitigkeit wenig Material vorhanden. Zwar wurde sie brieflich ausgetragen, doch die meisten diesbezüglichen Schreiben sind verschollen.27 Mendelssohns Ansicht von der Determiniertheit der sogenannten »freywilligen Entschliessungen« werde ich mich im Teilkapitel III.2 zuwenden. Um die Sicherheit menschenmöglichen Wissens genauer zu umreißen, war allerdings auch eine Spezifizierung der Teilbereiche und der in ihnen anwendbaren Methoden vonnöten. Dies unternahm Mendelssohn in seiner Evidenzschrift, die das Projekt einer Ermittlung und Verbesserung der Praktikabilität und Eingängigkeit theoretischer Gehalte abschließen sollte.

2. Krise des Wissens? Mit der in den Gedanken über die Wahrscheinlichkeit formulierten Rettung der Vernunft vor dem ›Skeptiker‹ Hume hatte Mendelssohn den Verfall des Ansehens der rationalistischen Metaphysik nicht nachhaltig aufhalten können, wie er im 20. LB vom 1. März 1759 (JubA V/1, 11 ff.) beklagt. Die Königin der Wissenschaften sei »zu den niedrigsten Mägden« heruntergestoßen und verächtlich geworden; bald würden gar so modische Philosophen wie Crusius28 allein den Ton angeben. Dennoch ist sich Mendelssohn einer Problematik der Schulphilosophie bewusst: die Anwendung der »mathematischen«29 Methode in der Philosophie war in Verzwischen psychologischen Tatsachen (dass die Gestalt des Grundes auf seine motivationale Kraft Einfluss nimmt) und metaphysischen Prämissen (eine Handlung, für die ich keinen guten Grund anführen kann, ist nicht freiwillig) unterscheiden muss. Siehe dazu Kap. III.2. 27 Allerdings scheint sich die Thematik deutlich von der Erkenntnistheorie in die Theologie verschoben zu haben. »Mendelssohn hatte mit Entsetzen erkennen müssen, daß ihm in Baumgarten nicht der Philosoph, wie er erwartet hatte, sondern ein orthodoxer Theologe entgegentrat.« (Bamberger, JubA I, XXVI) Dies entspricht auch seiner Einschätzung von Baumgarten (und Leibniz, wie Mendelssohn in seiner Sache Gottes festhält; vgl. Kap. V.1) als einem Verteidiger des Christentums mit der »allersubtilsten Metaphysik«; vgl. seinen Brief an Bonnet vom 9. Februar 1770, JubA VII, 319. 28 Siehe dessen Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis (Leipzig 1747, 21762); Damit verfolgte er das Programm seines Lehrers Adolf Friedrich Hoffmann. In dessen Vernunftlehre (Leipzig 1737) ging dieser mit den §§ 13–21 bereits gegen Wolffs »Mathematizismus in der Metaphysik« (Altmann 1969, 253) vor. Mendelssohn besaß Crusius’ Entwurf der nothwendigen Vernunftwahrheiten, wofern sie den zufälligen entgegengesetzt werden, Leipzig 1766 (Bücherverzeichnis 244/31), äußert sich aber ansonsten kaum zu ihm. 29 Beziehungsweise der Abhandlungsmethode more geometrico oder schlicht scientifica; vgl. die Titelwahl der lateinischen Schriften Wolffs.

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ruf geraten. Seine Evidenzschrift ist vor diesem Hintergrund als eine Verteidigung eben dieser ›Schulphilosophie‹, aber auch deren leibnizianischer Grundlage zu lesen. Leibniz hat die rationalen Prinzipien als die Grundlage der Philosophie und der Welterklärung in einer holistischen Theorie des Wissens begründet. Dies erlaubt es, die philosophische Methode als analytisch zu kennzeichnen30, sogar so weit, dass sich die Analysis aus dem Begriffspaar Analysis-Synthesis für einige Jahre der Aufklärungsepoche derart verselbständigte, dass von Analyse im Sinne einer Aufklärung und Entwicklung der Begriffe gesprochen, jedoch nicht mehr nach ihrer Zusammenführung und deren Gesetzmäßigkeiten gefragt wurde. Unter Rückgriff auf Leibniz und der Berücksichtigung des Vorangegangenen ist zumindest in Bezug auf Mendelssohn davon auszugehen, dass der Analyse durchaus ein sinnstiftendes Bild des Ganzen voranging. Die Analyse ent-wickelt lediglich das, was das metaphysische Denkmodell einer durchgängig bestimmten Welt voraussetzte. Die Richtung von Mendelssohns analytischem Blick ergibt sich vor diesem Hintergrund aus der Konzentration auf den Menschen und die ihm angemessenen Modi des Wissens. Wie verhält sich ein begrenztes und unvollkommenes Wesen zur Weltharmonie, wie klärt es seinen eigenen Standpunkt auf, wie weit kann es zur (theoretischen und praktischen) Bestimmung seiner selbst gelangen?31 Zur Beantwortung dieser Fragen geht Mendelssohn in seiner Evidenzschrift also – zumindest indirekt – auf die grundlegenden Prinzipien von Leibniz’ analytischer Urteilstheorie32 zurück: das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs, das in sich

30

Vgl. Engfer 1982, 27 f. und Arndts Einleitung in Wolffs Deutsche Logik, 68 f., der dies in Rekurs auf das leibnizianische in-esse-Prinzip reformuliert: die synthetische Einheit ergibt sich erst, wenn eine synthetische Beziehung »zwischen dem Einfacheren (Prädikatsbegriff) und dem daraus Zusammengesetzten (Subjektsbegriff)« angenommen wird. Die analytische Tradition der Aufklärungszeit erklärt sich damit nicht (oder nicht allein) als Bezugnahme auf die empiristischen Strömungen, sondern ebenfalls durch analytische Ansätze bei Descartes, Leibniz und Wolff (vgl. ebd. 15). 31 Der Terminus der Selbstbestimmung, der sich hier anböte, wird wegen der in der philosophischen Debatte eindeutig an Kants praktische Philosophie angeschlossene Bedeutung vermieden. 32 Zur Entwicklung der Leibnizschen Auffassung der Einheit, die durch den SvG repräsentiert wird vgl. Engfer 1982, 176–79 und 209–18. Das nicht-aggregative Verständnis der Monade, in deren Begriff vielmehr auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enthalten sind, ist ihm zufolge eine Errungenschaft der späteren Schriften um die Monadologie. Die Voraussetzung für die befriedigende Anwendung der Analyse ist also der metaphysische Punkt des »unum per se«: die vollständige Bestimmung einer Sache, ihre Realität, ist die Entfaltung aller ihr zukommenden Attribute. Damit ist die Verbindung zwischen Mathematik und Metaphysik vollständig. Das Weltgesetz, »nach dem die Veränderungen der Perzeptionen der Monade auseinander folgen, aber ist für den Menschen nicht erfaßbar: er hat von sich selbst keinen vollkommenen Begriff, denn dies schlösse ein, daß er das ganze Universum vollkommen erkennen würde, was nur Gott kann. Das menschliche Erkennen ist vielmehr auf das Konstatieren der einzelnen Zustände angewiesen,

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zugleich das Prinzip der Identität und das des ausgeschlossenen Dritten enthält (vgl. Engfer 1982, 184 f.), und das Prinzip des zureichenden Grundes. »Die Natur des wahren Satzes besteht […] in der formalen Identität von Subjekt und Prädikat« (ebd., 185) und – gemäß dem Grundsatz »nihil est sine ratione« – in der Begründung dieser Verbindung. Die Analytizität des Urteils gilt, zumindest gemäß Leibniz’ Monadenkonzeption, nicht nur für die notwendigen, sondern auch kontingenten Wahrheiten; jedes Individuum ist in allen seinen Attributen vollständig bestimmt (in-esse). Dass wir dies nicht vollständig sehen, liegt nicht am Urteil, sondern dem Urteilenden.33 Die Analyse der Tatsachenwahrheiten geht also nach denselben Prinzipien geordnet ins Unendliche, und ist deshalb generell nicht fassbar. Auch Gott kann die Tatsachenwahrheiten nicht in dem Sinne »erkennen«, wie die nach dem SvW geordneten, notwendigen Wahrheiten (Vernunftwahrheiten), sondern er kann durch die die Monade in der Vergangenheit und Gegenwart bestimmt war oder ist, ohne genau zu wissen, wie und aufgrund welcher Gesetzlichkeit der eine Zustand auf den anderen folgt.« (Engfer 1982, 217) Es ist jedoch nicht recht ersichtlich, weshalb der Mensch nicht zumindest von grundlegenden logischen Prinzipien ausgehen können sollte; Engfer schränkt diese menschliche Schwäche im Folgenden jedoch auf die Unkenntnis »genetischer Definitionen« ein, die der Mensch allein in der Geometrie hätte. Mendelssohn wählte allerdings in seinem Werk die grundlegenden logischen Prinzipien als Ausgangsbasis für jegliche menschliche Erkenntnis. 33 Vgl. Engfer 1982, 185 f. Zum in-esse-Prinzip siehe bspw. Abschnitt 8 des Discours de métaphysique (1686), Hauptschriften II, 350 (vgl. Einleitung Cassirers im Bd. I, LXXIV und Arndts Einleitung in Wolff, Deutsche Logik, 67): Der Subjektsbegriff kann nicht gedacht werden, ohne nicht zugleich auch seine Prädikate mitzudenken, was natürlich zumeist im verworrenen, oder gar dunklen Modus geschieht. Zur Geltung des in-esse-Prinzips (als einer grundlegenden Funktion der Monadenkonzeption) siehe Winfried Lenders: »The Analytic Logic of G.W.Leibniz and Christian Wolff: A Problem in Kant Research«, in: Synthese 23 (1971), 147–53; Hans Werner Arndt: »Einführung in Wolffs Deutsche Logik«, in: Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes. Hg. von Hans Werner Arndt. Hildesheim 1965, 7–102; Ders.: »Rationalismus und Empirismus in der Erkenntnislehre Christian Wolffs«, in: Christian Wolff, 1679–1754. Studien zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 1983, 31–47; Ders.: »Die Logik von Reimarus im Verhältnis zum Rationalismus der Aufklärungsphilosophie«, in: Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur Vernunftlehre von Hermann Samuel Reimarus. Hg. von Wolfgang Walter und Ludwig Borinski. Göttingen 1980, 59–74; Hans-Jürgen Engfer: »Die Urteilstheorie von H. S. Reimarus und die Stellung seiner Vernunftlehre zwischen Wolff und Kant«, in: Logik im Zeitalter der Aufklärung, 33–58. Wie stark sich die Ansichten Leibniz’ und Wolffs unterscheiden, ist umstritten; vgl. Cassirer 1932, 36–45, bes. 44: Mendelssohn folgte Wolffs Bestreben, den Satz vom zureichenden Grund in den des Widerspruchs aufzulösen, nicht (v. a. um die Möglichkeit einer freien Wahl nach zureichenden Gründen, also gemäß des Wohlwollens, und nicht gemäß der logischen Anforderung nach Vermeidung von Widersprüchen zu erhalten), sondern blieb (oder wurde) in seiner Präverenz Leibnizianer. Zumeist ist jedoch festzuhalten, dass ihm tiefgreifende Unterschiede der beiden Denker kaum bewusst waren, er sie aber auch nicht als eine starr zusammengehörige »Schule« begriff. Ich werde im gegebenen Kontext auf die Möglichkeit, Mendelssohns Ansicht eher der einen oder anderen Auffassung zuzuordnen, kennzeichnen, an anderer Stelle jedoch pauschal auf beide als mögliche Quellen von Mendelssohns Ansichten verweisen.

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sie »schauen«.34 Sie ergeben sich aus der Natur der Dinge nur, wenn diese als generell nach dem SvG geordnet gedacht werden. Für den Menschen dagegen – und dies hat Baumgarten ausformuliert – gewinnt die möglichst umfassende Erkenntnis des Kontingenten eine ästhetische Qualität.35 Man kann es in Hinblick auf Mendelssohn auch so formulieren: zwischen den Bereichen des metaphysischen und empirischen Wissens bezüglich der Vernunft- und der Tatsachenwahrheiten steht letztlich eine anthropologische Schranke. Der interne Zusammenhang der Welt der Tatsachenwahrheiten ist nicht anders zu beschreiben als durch den Satz vom zureichenden Grund. Von einer göttlichen Perspektive aus, in der sich die unendliche Kette der begründenden Glieder einer Tatsachenwahrheit durchaus erschließen, fällt in der Welt das Zufällige und das Notwendige zusammen: jedes Ereignis in der Welt ist zureichend bestimmt, sein Gegenteil widerspräche einer vernünftigen (›besten‹) Welteinrichtung. Dabei bleibt die Trennung zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten dennoch erhalten, da die Geltung der Tatsachenwahrheiten der moralischen, diejenigen der Vernunftwahrheiten der geometrischen Notwendigkeit folgt (vgl. Leibniz, Theodicée, Discours préliminaire, 34). Aber: für die menschliche Erkenntnis gilt diese göttliche Perspektive nicht; sie ist in Anbetracht der Tatsachenwahrheiten auf eine (möglichst zureichende) Akkumulation von Gründen beschränkt. Göttliches Wissen kann ein begrenzter Geist nicht haben, und doch beruft er sich auf es in der Absicherung der Prinzipien seines Wissens. Eine Begründung dieses Prinzips ist nur metaphysisch, nicht anthropologisch zu haben und fällt deshalb aus dem gegebenen Untersu34 Siehe Leibniz, De Libertate, in: Hauptschriften II, 659: »Gottes Schauen darf man sich aber nicht als eine Art Erfahrungswissen vorstellen, wie wenn er in äußeren, von ihm selbst verschiedenen Dingen etwas ›erschaute‹, sondern als eine Erkenntnis a priori, die die Gründe der Wahrheiten erfasst. Denn er erblickt die Dinge, soweit seine Natur in Betracht kommt, in ihrer reinen Möglichkeit; wirklich aber werden sie durch einen hinzutretenden Akt seines freien Willens und seiner Beschlüsse, deren erster dahin geht, alles in der besten Weise und mit der höchsten Vernunft zu tun.« 35 Baumgarten, Kollegnachschrift, § 478 »Man lernet sehr oft nicht einmal, was wahr ist, und fordert es doch immer von andern, ohne es selbst zu wissen. Wir erkennen etwas als wahr, wann wir es demonstrieren können; dies Reich ist aber sehr enge und erstreckt sich nur auf die allgemeinen Wahrheiten, […] Das andere, was wir als wahr erkennen, sind Erfahrungen; aber man denke wieder, wie schlecht Erfahrungen beobachtet werden, sie sind nicht genau wahr. […] im schönen Denken habe ich immer allgemeine Sätze nötig, aber es sind solche, wo die wissenschaftliche Demonstration schon lange aufgehört hat. […] Wir können also nicht allein wahr nennen, was demonstriert ist; es sind noch mehr Dinge, die man nicht überzeugend erkennet, die aber der schöne Geist demnach setzen muß. Hieraus fließet, daß er wahrscheinlich denken muß: das ist, daß er Dinge setzen muß, darin ein gewisser Grad der Wahrheit ist, welche aber doch nicht gewiß wahr sind, sondern ohne merklichen Widerspruch wahr scheinen.« Dieses Menschenbild des »felix aestheticus« betont den sinnlichen Zugang des Menschen zur Welt; daran schien Baumgarten ein größeres Interesse zu nehmen als an Fragen der Ontologie. Dementsprechend beschreibt er laut Groß 2001, 168 in der Aesthetica »Prozesse der Sinnbildung, die sich zwischen den Menschen und ihren Umgebungen vollziehen und gestalten.« Mendelssohn hat diesen Faden aufgenommen.

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chungsrahmen heraus, ohne dass Mendelssohn es als grundlegendes Prinzips seiner Philosophie aufgegeben hätte. Es ist vielmehr im Hinblick auf die Bestimmung des Menschen wichtig, »das Maas der menschlichen Kräfte [zu] kennen« (an Lessing, 29. November 1770, JubA XII/1, 238), wie er es in Anschluss an Lockes Essay (IV, Kap. III, 22) formuliert, und also die Vernunftprinzipien auf die menschlich erfassbaren Inhalte anzuwenden. Mit etwas anderen Vorzeichen war in dieser Hinsicht Wolffs Ansicht zum menschlichen Wissen belegt. Ihm ging es nicht um eine bloße Popularisierung Leibniz’, sondern um »eine streng an der Erfahrung ausweisbare, methodisch abgesicherte Neubegründung der Philosophie« (Schwaiger 2000, 49). Diese suchte er auf dem Weg zu einer verbesserten philosophischen Methode zu erreichen: das logischmathematische Vorgehen sollte auch die Religion und Moral zur Gewissheit und Evidenz bringen.36 Auch er orientierte sich an Locke: wenn etwas ›schon immer‹ unbekannt war, so heißt dies nicht, dass es prinzipiell unerkennbar sein muss. Deshalb muss Philosophie die Grenzen festsetzen zwischen dem, was möglich, und dem was unmöglich zu erfahren ist. Dementsprechend definierte Wolff Philosophie als »Wissenschaft von allen möglichen Dingen als solchen« (»Philosophiam ego definire soleo per rerum omnium possibilium, qua talium, scientiam.«; so in der Vorrede zu Aerometriae elementa (1709), unpag. (erste Seite); auch in der Deutschen Logik 1713 u. ö.): der Bezugsrahmen ist der Nachweis dessen, was möglich ist. Dabei zeige sich in der Annäherung an ein möglichst vollständiges Wissen – und hier begegnet uns eine Quelle von Mendelssohns Auffassung – die menschliche Vollkommenheit durch ihr unaufhörliches Bemühen um eine immer deutlichere Einsicht, also durch ihr Bestreben, sich zu vervollkommnen. Die Wissenschaft definiert Wolff als die Fähigkeit, das Mögliche als solches erklären und beweisen zu können: sie ist »eine Fertigkeit des Verstandes, alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzuthun.«37 Dabei verfolgt er in allen Bereichen ein an der Logik des Zusammenspiels von Begriff – Urteil – Schluss (notio/idea – judicio – ratiocinatio) orientiertes Vorgehen auf drei Ebe36 »Die Art und Weise, aus den gesetzten Gründen zu schliessen, ist keine andere, als die längst in allen Büchern von der Logica oder Vernunft-Kunst beschrieben worden. Es sind die Beweise oder Demonstrationes der Mathematicorum nichts anders, als ein Haufen nach der Regeln der VernunftKunst zusammengesetzter Schlüsse.« (Wolff, Kurtzer Unterricht von der Mathematischen Lehrart (1710), § 45). Mit der Zurückführung aller Erkenntnis auf die Prinzipien der Logik lässt sich schließlich auch die Moral ohne Offenbarung erweisen (1721 »Rede über die praktische Philosophie der Chinesen«), eine Ansicht, die Wolff in größte Schwierigkeiten brachte. Siehe zur mathematischen Methode und ihrer Bedeutung für das Verständnis der Philosophie Wolffs die Einleitung zu I. Abt., 9 Bd. Wolffs Gesammelter Werke von Hans Werner Arndt, Hildesheim u. a. 1973, VI, sowie ebd., VII zur Debatte über die Prorektoratsrede (dazu auch Buschmann 1989b, 78 f.). 37 Wolff, Deutsche Logik Vorbericht, § 2. Im Discursus praeliminaris, § 30 als eine »Fertigkeit, seine Behauptungen zu beweisen« (»habitus asserta demonstrandi«) beschrieben.

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nen: Definition, Demonstration, Deduktion. »Bündig zusammengefasst erfordert das methodische Vorgehen der Wissenschaft, alles deutlich zu erklären, gründlich zu erweisen und ordentlich miteinander zu verknüpfen.«38 Die Sicherheit gewinnt sein System nicht zuletzt dadurch, dass Wolff die leibnizsche Gleichwertigkeit primärer und sekundärer Qualitäten aufgibt39, und hinsichtlich der logischen Anwendung des Prinzips vom zureichenden Grund, mit Leibniz, dessen bloß eingeschränkte Funktion betont: nicht die durchgängige Bestimmtheit aller Dinge ist anzuzeigen, sondern es muss darzulegen sein, welche Prädikate zureichen, um die essentialia eines Gegenstands (bzw. Sachverhalts) zu erfassen. Zugleich spricht aus dieser Entscheidung auch eine Einschränkung der Metaphysik: mit ihr ist die Realität nicht mehr vollständig individuell erfassbar, sondern allein die der Typen und Arten.40 Virtualiter ist eine völlige Bestimmtheit aller Erfahrungsaspekte möglich; realiter allerdings genügt die zureichende Evidenz des Wahrscheinlichen. Mendelssohns Wahrscheinlichkeitstheorie geht auf diesen Aspekt zurück. Wolffs Ansicht einer, vereinfacht gesprochen, Mathematisierbarkeit des Erkennens nimmt jedoch wenig Rücksicht auf den psychologischen Aspekt der Evidenz: Wahrheit muss aber, so Mendelssohn, nicht nur erwiesen sein, sondern auch überzeugen; sonst gerät sie in die Probleme, der sich die wolffische Philosophie in der Mitte des 18. Jahrhunderts ausgesetzt sah und die zur Formulierung der Preisfrage von 1761 führten.41 Für Mendelssohn kam die Problematik der Erfassbarkeit des Individuums und seiner Leidenschaften als des Protagonisten der (auch verständigen) Vervollkommnung erschwerend hinzu. Dieser letztgenannten Problematik sind alle drei Teilkapitel III. gewidmet. 38

Schwaiger 2000, 57, vgl. Engfer 1982, 237. Beide unter Rückgriff auf Wolff, Deutsche Logik

§ 20. 39

Vgl. Logica §§ 60, 64 ff.; am explizitesten in der Deutschen Logik § 48: »Mit dem Veränderlichen haben wir bey den Erklärungen nichts zu thun, sondern es kommet hier bloß auf das Beständige an.« Vgl. Engfer 1982, 248 f. 40 Vgl. Ontologia § 143, Logica § 70, sowie Deutsche Metaphysik § 33: das »Wesen« eines Dinges ist dasjenige, »wodurch es in seiner Art determiniret wird.« In den Meditationes hat auch Leibniz den Ausdruck »zureichend« in diesem Sinne verwendet: dort ist eine zureichende Nominaldefinition diejenige, die die Merkmale benennt, die hinreichen, einen Gegenstand von einem ähnlichen zu unterscheiden (vgl. Hauptschriften I, 10) Vgl. zu den unterschiedlichen Konzepten des Zureichenden bei Leibniz und Wolff Engfer 1982, 249. Dass mit Wolffs Auffassung auch tiefgreifende Unterschiede im Konzept der Monade (und der prästabilierten Harmonie) einhergehen, sei ebenfalls erwähnt. Wolff hat sich für diese Aspekte jedoch nicht vordringlich interessiert. 41 Die Frage vom 28. Mai 1761 (für 1763) der Akademie lautete: »Man will wissen: Ob die metaphysischen Wahrheiten überhaupt, und besonders die ersten Grundsätze der Theologiae naturalis, und der Moral, eben der deutlichen Beweise fähig sind, als die geometrischen Wahrheiten, und welches, wenn sie besagter Beweise nicht fähig sind, die eigentliche Natur ihrer Gewissheit ist, zu was vor einem Grade man gemeldete Gewissheit bringen kann, und ob dieser Grad zur völligen Ueberzeugung zureichend ist.« vgl. Adolf Harnack: Geschichte der Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. 2. Berlin 1900, 231 f.

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In einigen ihm zugeschriebenen Litteraturbriefen, die sich so als Vorarbeiten zur Preisschrift werten lassen, hat sich Mendelssohn zu der Problematik der Eingängigkeit der Metaphysik geäußert.42 »Unser Verstand ist zu eingeschränkt von allen Eigenschaften der Körper zugleich ohne Verwirrung zu philosophieren.« (JubA V/1, 18) Deshalb trennen die Wissenschaften zusammenhängende Eigenschaftskomplexe auf, um sich mit abstrahierten Einzelheiten, die aber so immerhin klar und deutlich erkannt werden können, zu beschäftigen. Es ist aber wichtig (siehe auch LB 22: 1. März 1759, JubA V/1, 16 f.), dass die abstrahierende Betrachtungsweise als solche im Gedächtnis bleibt: man hat es hier nicht mit eindeutig übertragbaren Naturgebilden zu tun. Da die Mathematik mit einfachen Eigenschaften auskommt, kann sie zu sehr klaren und damit evidenten Ergebnissen kommen. Anders in der Metaphysik, die eben dieser Entwirrung der zusammengesetzten Erscheinungen bedarf. Jedoch ist nicht allein die Abstraktion, sondern auch ihr Gegenstand problematisch. In der Mathematik sind es Längen- und Größenverhältnisse, für die Ontologie sind es die Merkmale der Zusammensetzung einer Substanz. »Allein die Merkmale der Zusammensetzung sind so deutlich, so einleuchtend nicht, als die Merkmale der Ausdehnung; daher fehlet der Lehre von der Zusammensetzung (componibilitas) die augenscheinliche Ueberzeugung, daran sich die Mathematik unterscheidet.« (JubA VI/1, 18) Als eine wissenschaftliche Methode formuliert der 130. Litteraturbrief im »Beschluß« vom 6. November 1760: »Die Reduction verschiedener Erscheinungen auf ihre allgemeine Eigenschaften, ist der erste Schritt zur Entdeckung ihrer wahren Ursache. Man verringert durch diesen Kunstgrif nicht nur die Anzahl der zu erklärenden Wirkungen, sondern trennet auch die wesentlichen Umstände derselben von dem Fremden und Zufälligen, mit welchem sie in einzelnen Fällen untermengt sind, und vereiniget alle Forderungen, denen die Hypothese Genüge zu leisten hat, unter einem einzigen Gesichtspunkt. Die Gegeneinanderhaltung der angenommenen Hypothese mit den allgemeinen Eigenschaften der vorhandenen Naturbegebenheiten, zeiget alsdenn gar bald, ob man auf dem Wege zur Wahrheit sey, oder nicht.« (JubA V/1, 286) Fast wörtlich stimmt dieses Verfahren der Reduktion und anschließenden, an der Erfahrung orientierten Erweiterung und Verifikation mit der Bestimmung der Hypothese in dem 1756 erschienenen Wahrscheinlichkeitsaufsatz überein (JubA I, 156). 42

23. LB: 8. März 1759, JubA V/1, 18 f., ebenso, in direkter Anlehnung an die gerade erst ausgeschriebene Preisfrage im LB 208 ff. vom 7.–14. Januar 1762 (JubA V/1, 480–92). Hier wendet er sich gegen das angebliche Primat der anschauenden Erkenntnis, die die Evidenz der Mathematik erleichtere, da deren Klarheit auch für Bereiche gelte, die über Symbole, nicht Anschauungen erschlossen wird. Im Vordergrund steht dort allerdings die Analyse des Genies, das sich ebenfalls durch mehr als lediglich anschauende Erkenntnis auszeichne, sondern auch durch die schärfere Ausprägung von Witz, Urteilskraft und überhaupt aller »Seelenfertigkeiten« (vgl. ebd., 484).

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

In seiner Preisschrift schließlich nennt Mendelssohn gleich zu Beginn ein darüber hinausgehendes, die Untersuchung bestimmendes Kriterium: »Zur Evidenz der Warheit gehöret, ausser der Gewißheit, auch noch die Faßlichkeit oder die Eigenschaft, daß ein jeder, der den Beweiß nur einmal begriffen, sogleich von der Warheit völlig überzeugt, und so beruhiget seyn muß, daß er nicht die geringste Widersetzlichkeit bey sich verspüret, dieselbe anzunehmen.«43 Evidenz beinhaltet damit zugleich Wahrheit und »Faßlichkeit«, einen subjektiven Begriff des ›überzeugten Für-wahrHaltens‹, oder, wie Mendelssohn im Laufe seiner Überlegungen in Anknüpfung an Malebranches »assensus« formuliert: den »Beyfall«, mit dem der Mensch eine als wahr resp. gut erkannte Sache würdigt (JubA II, 325). Auf die Nähe zu Mendelssohns Konzept eines Billigungsvermögens44, das hier anklingt, aber erst in den Morgenstunden ausgearbeitet wird, komme ich im Teilkapitel III.3 zurück. Es ist hier zu betonen, dass Mendelssohn zur Evidenz mehr verlangt als eine bloß ausgebreitete, oder vollständige Erkenntnis. Immer wichtiger wird bei ihm vielmehr der Vermittlungsaspekt, der die Zustimmung zu einer Erkenntnis gewährleisten soll. Doch um sich dem Evidenzerlebnis anzunähern, nutzt Mendelssohn gut aufklärerisch die begriffliche Differenzierung. Beide Bereiche, nach denen die Akademie fragte, Mathematik und Metaphysik (mit einem Schwerpunkt auf der Moralphilosophie im weitesten Sinne), beruhen auf der Analyse von Begriffen. Beide befassen sich mit intrinsischen Qualitäten eines Gegenstandes; wobei die Mathematik die Quantitäten, die Metaphysik die Qualitäten behandelt.45 Warum nun ist die Metaphysik so weit ins Hintertreffen geraten? Mendelssohn macht in der Evidenzschrift folgende Punkte aus: 1. Die Metaphysik hat Qualitäten als »intensive Größen« (der Begriffsgebrauch ist bei Mendelssohn etwas undurchsichtig, siehe das Folgende) zum Gegenstand. Diese sind, wie bereits die Vorarbeiten darlegten, wenig anschaulich, da bei ihnen 43

JubA II, 271. Laut Altmann (1969, 269) verwendet Mendelssohn dieses Konzept schon in den Briefen über die Empfindungen im Anschluss an Baumgarten. »Er bedeutete dort die ästhetische Überschaubarkeit eines mannigfaltigen Ganzen vermittels der Einbildungskraft. Im gegenwärtigen Zusammenhang bezeichnet er eine lebhafte Vorstellung von der Wahrheit als Ergebnis einer Beweisführung.« Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 531. 44 Leibniz hat die göttliche Billigung als außerhalb logisch zwingender Notwendigkeiten stehend reformuliert, um die Freiheit der Wahl Gottes zu betonen. Die möglichen Wahrheiten werden Wirklichkeit durch »einen hinzutretenden Akt [Gottes] freien Willens und seiner Beschlüsse, deren erster dahingeht, alles in der besten Weise und mit der höchsten Vernunft zu tun« (De Libertate, in: Hauptschriften II, 659). 45 Laut Altmann 1969, 267 ist es jedoch ungewiss, »bis zu welchem Grade Mendelssohn mit den methodologischen Prinzipien Descartes’, Spinozas und Leibniz’« und deren unterschiedlichen Auffassungen einer »geometrischen Methode in der Metaphysik« im klaren war. Bezüglich Mendelssohns Aufnahme leibnizianischer Gedanken hält er (ebd., 268) zu Recht fest, dass sie sich auf »den Kernpunkt der letzten Phase des Leibnizschen Denkens, in der die metaphysischen Prinzipien denen der Mathematik entgegengestellt werden« bezieht.

III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns

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die zu bestimmenden Bestandteile ineinanderfallen und erst aufgelöst und nebeneinandergesetzt werden müssen – ohne dass das Bewusstsein dieser Zerlegung in den Hintergrund treten darf. 2. Sie verwendet arbiträre Zeichen. Deren bloß willkürlicher Zusammenhang mit den dargestellten Entitäten erfordert Aufmerksamkeit auf diesen Stellvertretercharakter. Dabei sind auch Vorurteilslosigkeit und Widerstand gegen Gewohnheiten, also psychologische Aspekte relevant. 3. Sie ist holistisch; kein einzelner Gegenstand kann ohne Bezug auf alle anderen betrachtet werden, keine einzelne Qualität steht ohne Bezug und Abhängigkeit zu allen anderen. Die Gefahr, die Übersicht zu verlieren, ist also immer gegeben. 4. Um die Frage nach der Wahrheit in der Metaphysik zu beantworten, muss die Existenz der infrage stehenden Sache bewiesen werden. Die Konzepte der Metaphysik müssen damit mehr sein als bloße Begriffe, sondern sie müssen die Realität der Erscheinungen zeigen, d. h. sie vollständig definieren und damit zu ihrer adäquaten, klaren und deutlichen Erkenntnis durchdringen; dies geht damit eindeutig über den von Wolff beschriebenen Rahmen der Wissenschaft als ein Wissen vom Möglichen hinaus. Es muss also nicht nur die wahre Entsprechung von Subjekt und Prädikat, sondern auch der Nachweis der Existenz derselben geführt werden.46 Idealismus ist demzufolge für Mendelssohn als eine Form des Skeptizismus in der Metaphysik absolut zu vermeiden – auch die Morgenstunden sind diesem Problem gewidmet. Zusammengefasst gesagt: Mathematik und Metaphysik bedienen sich beide der Analysis, kommen jedoch aufgrund ihres Gegenstandsbereichs zu unterschiedlichen Ergebnissen, v. a. was deren Evidenz betrifft. Zusätzlich mischt sich in der mehr fordernden Metaphysik, wie versteckt auch immer, der Aspekt menschlicher Begrenztheit mit ein. Da ein Wissen des Wirklichen in Anbetracht der Tatsachenwahrheiten nur aus göttlicher Perspektive möglich ist, kann Metaphysik eine nur in den Grundzügen vollkommene, vollständige Erkenntnis anstreben, muss sich darüber hinaus aber 46

Siehe Leibniz, Meditationes, in: Hauptschriften I, 12. Baumgarten benennt dies in den §§ 7, 20 in der Metaphysica: Der SvW konstituiert das Mögliche, der SvG das Wirkliche, indem er die Dinge als verknüpft vorstellt und damit vollständig bestimmt. Problematisch daran ist, und dazu haben sich Crusius, Darjes, Herder, Kant und viele andere geäußert, dass der Erweis des Möglichen aus der Negation des Nichts entnommen wird (siehe Metaphysica §§ 7 f.; vgl. Zandwijk 2001, 21–72). Herder bspw. argumentiert, mit Kant, mit einem bestechend schlichten Argument: »Der Gegensatz zum logischen Nichts ist nicht das Etwas, sondern die Widerspruchsfreiheit.« (M. Heinz 1994, 18), die immer noch im Bereich des Möglichen verbleibt. Eine solche Auffassung setzt eine der logischen Analyse vorausliegende Materie bereits voraus und, mit Kant gesprochen, das Aufheben der materialen Möglichkeit, die Baumgarten hier unternimmt, würde das Denken überhaupt verunmöglichen. Diese Operation ist nur mit einem vorweg angenommenen Möglichen möglich; der Begriff des Nichts, wie in Baumgarten verwendet, setzt das Etwas bereits voraus – Baumgartens Argument verschweigt also seine Prämisse, sondern präsentiert sie als Bewiesenes.

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auf Grundlinien festlegen, nach welchen Kriterien eine psychologische Wahrheit möglichst nah an einer metaphysischen Wahrheit liegen kann. Auf formaler Ebene also strebt Mendelssohn metaphysische Prinzipien an, die in materialer Hinsicht Anwendungskontexte und –kriterien bieten sollen. Damit wird prima facie erst auf einer von einer umfassenden Metaphysik reduzierten Ebene die Wolffsche Ansicht der zureichenden Definition i. S. d. essentialia angewendet. Mendelssohn modifiziert jedoch auch hier Wolffs Vorgehen, indem er versucht, die Möglichkeit einer vollständigen Definition über die Rechtfertigung der Induktionsschlüsse unter Rückgriff auf eine Wahrscheinlichkeitstheorie des Wissens zu beweisen (siehe dazu schon oben Abschnitt 1). Weite Bereiche der Metaphysik haben es mit Fragen zu tun, die sich menschlich nur mit dem Rekurs auf Erscheinungen beantworten – oder auch lediglich illustrieren lassen. Erscheinungen nun sind ein Ausdruck dessen, was die menschliche Seele wegen ihrer Eingeschränktheit zur Verfügung hat. Mit ihnen muss sie umgehen, um sich ihre Welt möglichst sicher, und das heißt: am wahrscheinlichsten wie möglich zu erschließen: Metaphysik soll also auch »fasslich« sein.47 Mit dieser durchaus nicht originellen, aber für seine anthropologischen Interessen wegweisenden Einsicht wird Mendelssohns Wahrnehmungs- und Erfahrungstheorie zu einer menschlichen Wissenstheorie. Die Evidenz in der Mathematik entnimmt Mendelssohn der leichteren Einsicht in das ihr zugrundeliegende Prinzip des Satzes vom Widerspruch: alle Wahrheiten finden sich schon in den mathematischen Begriffen, sie bedürfen lediglich der Analyse (vgl. JubA II, 273). Wenn sie also einmal zergliedert sind, wird sich die Evidenz von selbst einstellen. Analysis lenkt die Aufmerksamkeit auf die vorhandenen Teile: »Die Analysis der Begriffe ist, für den Verstand nichts mehr, als was das Vergrösserungsglas für das Gesicht ist.« (JubA II, 274) Wichtig ist hier, dass auch in der mathematischen Methode ein psychologisches Moment eine wichtige Rolle spielt: es geht um eine richtige Steuerung der Aufmerksamkeit.48 Eine klare und deutliche Erkenntnis gewinnt der Mathematiker, man denke an die Briefe über die Empfindungen, wenn er seine Aufmerksamkeit auf die einzelnen Schlussketten lenkt. Das Pendant dazu ist die verworrene, lustvolle Erkenntnis des Ganzen, die aber – so der Grundsatz der Evidenzschrift – nicht die Überzeugung, sondern die Selbstempfindung der potentiellen Durchschaubarkeit der einzelnen, nun verworren wahrgenommenen Analyseschritte bedeutet. Mendelssohn selbst weist auf die Anwendungsmöglichkeit

47

Dahlstrom 1997, XXVII weist hier auf die Quelle dieser Überlegungen in Baumgartens Metaphysica, § 531 hin: eine komplexe Vorstellung wird erfassbar über den richtigen Gebrauch der Einbildungskraft und des Vergleichs. Den Begriff der »perspicuitas« übersetzt Baumgarten dort selbst in der Fußnote mit »Faßlichkeit«. 48 Vgl. Wolffs Verfahren zur Begriffsbestimmung zur Bildung intuitiver Urteile und Begriffe a posteriori in der reflexio, Logica § 669, s. Engfer 1982, 250.

III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns

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der mathematischen Methode in der Psychologie hin: »welch ein ausserordentliches Licht zündet sie uns nicht von der von ihr so weit entfernt scheinenden Seelenlehre an!« (JubA II, 277) Mit der Lehre der Analysis und der unumstößlichen Sicherheit der Mathematik sei zugleich auch das Theorem der vollständig (und vollkommen) bestimmbaren Monade bestätigt, denn es sei damit erwiesen, »daß die Seele niemals aufhöre sich implicite schlechterdings die ganze Welt, explicite aber nur die Welt nach der Lage ihres Körpers in derselben vorzustellen, daß die sinnlichen Eindrücke nur die Anlässe und Gelegenheiten sey, bey welchen die Vorstellungen der Seele sich entwickeln und wahrgenommen werden, und daß diese Entwickelung der Begebenheiten ausser derselben vollkommen harmonire.« (JubA II, 277) Zugleich mit dem Festhalten an der prästabilierten Harmonie – wenngleich ihre ›weiche‹ Fassung durch Wolff hier durchklingt – betont Mendelssohn wiederholt Leibniz’ Ansicht, dass jede Erkenntnis in der Seele bereits präfiguriert ist und damit lediglich entwickelt oder (platonisch) wiedererinnert wird. Mathematisch erkennbar sind auch Grade der Wirklichkeit, wenn es gelingt, diese in quantifizierbare Momente zu übersetzen. Mendelssohn nennt – und dies bestimmt den ersten Abschnitt der Evidenzschrift insgesamt – sogleich einen Anwendungsbereich in der praktischen Philosophie mit der Frage, wie sich solcherart der Grad eines moralischen Charakters bestimmen ließe. Eine erste Annäherung erbringt, wenig verwunderlich, einen negativen Ertrag. Denn der moralische Charakter ist eine »unausgedehnte Grösse«, deren Merkmale und Schranken »nicht in die Sinne fallen« und also nicht über Beobachtung, sondern Überlegung erlangt werden. Die »Erklärung«, bzw. Definition der moralischen Güte soll hierbei die Leitfunktion übernehmen: »Diese bestehet in der Fertigkeit, seinen Pflichten, der Hindernisse ungeachtet, und ihre sinnliche Anlockung, vollkommen Genüge zu leisten.« Mithilfe dieser Definition bestimmt Mendelssohn auch die Grade dieser Fertigkeit, um, so zumindest seine Überlegung, ihre Bewertung zu ermöglichen. Er fährt also fort: »Dieses sind also die Merkmale dieser Quantität [sic], und nunmehr lassen sich auch die Schranken einigermassen bestimmen. Denn a) je grösser die Fertigkeit, 2) je mehr und 3) je wichtiger die Pflichten, 4) je mehr und 5) stärker die Hindernisse, und endlich b) je weniger und 6) schwächer die sinnlichen Anlockungen, desto grösser der Grad der moralischen Güte.« (JubA II, 280) Problematisch ist hierbei freilich, dass der Wert eines Charakters, prima facie eine Qualität, sowohl in quantitativen als auch qualitativen (v. a. Punkt 3) Termini gemessen wird. Mendelssohn hatte dieses Zusammenfallen vorbereitet, indem er den Unterschied zwischen einer ausgedehnten und einer unausgedehnten Größe in ihren Zeitaspekt setzt: »Von der unausgedehnten Grösse, oder von derjenigen Quantität, deren Theile weder neben, noch auf einander folgen, sondern in einander fallen, als nehmlich von den Graden und ihren Ausmessungen, sind bisher nur einzelne dürftige Versuche zum Vorschein gekommen.«

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

(JubA II, 278) Da hier die einzelnen Bestandteile ineinander fallen und schwer zu analysieren sind, wirken sie opak und wenig anschaulich – und damit der klaren und deutlichen Erkenntnis schwer zugänglich. Die Aufspaltung einer Handlung in die sie bestimmenden Grade einzelner Aspekte soll hier zur klaren Durchdringung verhelfen. Zugleich bedeuten sie eine Mathematisierung der Wirklichkeit. Doch es ist fraglich, ob diese Durchdringung nicht einen wichtigen Unterschied einebnet: über die Grade der Güte einer Handlung lässt sich eben erst sprechen, wenn ein qualitatives Kriterium darüber feststeht, was gut ist (wenn es nicht lediglich in einem ›mehr oder weniger‹ bestehen soll). Mendelssohn versteht Qualität als den »Stoff« der Quantität (JubA II, 279 f.). So ist der »Stoff« im angeführten Beispiel die moralische Güte des Charakters, die jedoch, da sie ihmzufolge nicht in die Sinne fällt, in ihre Bestandteile unterteilt werden muss, bis diese einer mathematischen Untersuchungsmethode – gemäß der quantitativ erfassbaren Grade – zugänglich sind. Damit wird die Qualität wiederum in eine bzw. mehrere Quantitäten ›übersetzt‹. Doch dieses bringe nebenbei den Vorteil, die Untersuchung einer solch verworrenen Materie mit »wesentlichen« Zeichen und nicht mit willkürlichen durchzuführen.49 Die Qualität, der Stoff dieser Beurteilung, scheint sich dagegen durch intuitive Einsicht in die Definition zu ergeben. Der Übergang von Mathematik zu Metaphysik ist mit dieser Übersetzung von unausgedehnten in ausgedehnte Größen nahezu fließend50, jedoch nicht, was die Evidenz anbelangt. Wie ist die Sicherheit in der reinen Mathematik auch in der Metaphysik zu erhalten? Diesem Problem wendet sich Mendelssohn im zweiten Abschnitt Von der Evidenz in den Anfangsgründen der Metaphysik (JubA II, 286–97) zu. »Weltweisheit [ist] überhaupt eine Wissenschaft der Beschaffenheiten (Qualitatum) der Dinge« (JubA II, 286) – und auf Vernunft gegründet.51 49

Vgl. JubA II, 282 f.: »wesentliche« Zeichen werden hier in ähnlicher Weise verwendet wie hinsichtlich der Kunst von »natürlichen« Zeichen die Rede war. Der Mathematiker verwendet »reelle und wesentliche Zeichen« (ebd., 281), wenn diese »ihrer Natur und Verbindung nach mit der Natur und Verbindung der Gedanken übereinkommen« – die Differenz zu den natürlichen Zeichen besteht also nicht in ihrer »naturgemäßen«, abbildenden Festlegung, sondern lediglich darin, dass natürliche Zeichen eher auf Affekte bezogen sind, wesentliche auf eine klare und deutliche, aber intuitive Erkenntnis (vgl. Kap. II.3, 213 und IV.1). 50 Vgl. Altmann 1969, 277: »Kant liefert eine eindeutige Gegenüberstellung der synthetischen und der analytischen Methode, während Mendelssohns Darstellung der analytischen Methode das Moment der Begriffszergliederung mit anderen dem synthetischen Beweisverfahren entlehnten verbindet und dadurch in eine gewisse Zweideutigkeit verfällt. Vor allem aber hält Mendelssohn an dem Grundsatz der Einheit der Methode fest und ist daher nicht in der Lage, einen scharfen Trennungsstrich zwischen Mathematik und Metaphysik zu ziehen, wie es Kant tat.« Allerdings verteidigt Altmann Mendelssohn, indem er bei ihm das Bekenntnis zur analytischen Methode in der Metaphysik (Ontologie) im Gegensatz zu Wolffs »vermischter Methode« hervorhebt (vgl. ebd., 278). 51 Zu Recht hebt Vogt 2005, 70 (FN 29) gegen Schneider 1970 hervor, dass der wissenschaftliche, Logik-zentrierte (oder zumindest –abgesicherte) Standpunkt Mendelssohns ernstzunehmen

III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns

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Ihre Fasslichkeit ist weitaus voraussetzungsreicher als die der Mathematik: Metaphysik verwendet willkürliche, keine »wesentlichen« Zeichen. Um eine wirklich wahre metaphysische Erkenntnis zu gewinnen, darf die Art der Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem nie aus dem Bewusstsein geraten: man muss seine Ansprüche jederzeit einlösen können und also »immer zu den Anfangsgründen zurück[…]kehren. Man thut diese Rückreise niemals ohne grossen Nutzen, denn die philosophischen Begriffe werfen sich wechselsweise Stralen der Deutlichkeit zu, die man verfolgen muß.« (Evidenz, JubA II, 291) Zur Aufdeckung der (an sich unendlichen) Kette der zureichenden Gründe verwendet Mendelssohn die Prinzipien der Induktion und der Analogie.52 Doch die Aufgabe des Metaphysikers geht darüber hinaus. Er müsse »das Zeugnis der innern und äusserlichen Sinne selbst vor seinem Richterstuhle […] fodern, und das Wahre von dem Falschen, das Gewisse von dem Ungewissen unterscheiden, und wenn er auf das Zeugnis irgend eines Sinnes bauen will; so muß er vorher dessen Untrüglichkeit ausser Zweifel setzen.« (JubA II, 293) Schon im ersten Abschnitt zur Mathematik, also noch in der Beschäftigung mit den Quantitäten, fragt Mendelssohn aber bereits, wie diese Untrüglichkeit zu beweisen wäre. Der Begriff der Quantität steht mit keiner Wirklichkeit in einer notwendigen Verknüpfung, sondern benötigt dafür die Erfahrung. Deren Defizit ist aber ihre prinzipielle Unsicherheit: in der Erscheinung nehmen wir einen Gegenstand anders wahr, als er wirklich ist, oder zumindest verleitet die Verworrenheit der Erscheinung zu Fehlurteilen. Angesichts dieser Definition drängt sich (schon wenn bezüglich der Mathematik von einem Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit die Rede ist) die Stimme des Zweiflers auf: »sind nicht alle unsere sinnliche Begriffe nur solche Erscheinungen, ein solcher Sinnenbetrug; denn wir können ja nicht versichert seyn, daß die Gegenstände ausser uns so beschaffen sind, wie wir sie vermittelst der Sinne wahrnehmen?« (JubA II, 285) Zur Beantwortung dieser Stimmen unterscheidet Mendelssohn zwischen unbeständigen und beständigen Erscheinungen, was an die erwähnte wolffische Trennung zwischen notwendigen und zufälligen Merkmalen erinnert. Unbeständige Erscheinungen sind dabei solche, die nicht allein von der der »innern wesentlichen Beschaffenheit unserer

ist. Schneider behauptete dagegen pauschal, Mendelssohn habe eine »Abneigung« gegen metaphysische, strenge Beweisführungen gehabt; seine Philosophie sei vielmehr »bei Gelegenheit« entstanden (vgl. Schneider 1970, 105; gegen Schneider kritisch auch Albrecht 1983, 96 f.) 52 Herder hatte 1778 in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele die Analogieschlüsse als die spezifische Form menschlicher Erkenntnis gewertet (vgl. J. Heinz 1996, 34) »Was wir wissen, wissen wir nur aus Analogie, von der Kreatur zu uns und von uns zum Schöpfer« (Werke 4, 390). Ähnlich argumentierte auch Tetens in seinen Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (1777); er war sich der Probleme von Analogieschlüssen (v. a. ihrer Voraussetzung einer einheitlichen Natur) durchaus bewusst, vgl. ebd., XXII ff., vgl. J. Heinz 1996, 33 ff.

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Sinne« (JubA II, 285), sondern auch »gewissen äußern Zufälligkeiten« (ebd.), wozu Lage, Geschwindigkeit, körperliche Verfassung etc. gehören, abhängen. Beständige Erscheinungen hingegen sind die, die durch die Beschaffenheit unserer Sinne notwendig auf eine bestimmte Art erscheinen: »Wir müßten uns nemlich die sinnlichen Dinge deswegen so und nicht anders vorstellen, weil unsere Sinne so und nicht anders beschaffen sind.« (ebd., 286) Der Mathematiker nun könnte zeigen, dass (selbst wenn die beständigen Erscheinungen letztlich nicht irgendwelche Realitäten adäquat abbilden) die Beschaffenheit unserer Sinne auf die mathematische Notwendigkeit keinen Einfluss haben: wir stellen ein Dreieck notwendig in allen seinen mathematischen Bestimmungen vor, die sich als analytisch wahr allesamt als notwendige Prädikate darstellen, seien sie nun virtualiter in der Möglichkeit oder realiter in der Wirklichkeit wahrgenommen.53 Wie nun metaphysische Wahrheiten darstellen, so dass sie allein durch die Notwendigkeiten unserer Anschauungsart bestimmt sind? Oder, anders formuliert: Was ist eine metaphysisch gesicherte, »vollständige und ausführliche Erkenntnis« der Dinge (JubA II, 286 f.)? Mendelssohn unterscheidet zwar nicht zwischen zufälligen und notwendigen Bestimmungen eines Dinges, sondern zwischen denen, die nur im Vergleich mit anderen erkannt werden können und sich als ein »mehr oder weniger«, also den Grad (Quantität) einer Sache darstellen und denjenigen, die sich aus der Analyse des Dinges für sich ergeben (Qualitäten). Wichtig ist, dass auch die Quantität nicht als äußerlich verstanden wird, aber nicht anders als durch den Vergleich erkannt werden kann: »Man begreift hieraus, daß die Quantität, oder das Mehr oder Weniger, zwar der Sache innerlich zukomme, aber nicht ohne Vergleichung mit einem andern Dinge begriffen werden könne« (JubA II, 287)54 Von beiden Merkmalen, Qualität und Quantität einer Sache ist nun eine ausreichende Kenntnis zur Sicherung des Wissens nötig. Dies ist jedoch nur die Ausgestaltung einer Sache, nicht ihre Wirklichkeit. Um die Verbindung zwischen ihren Bestimmungen und ihrer Realität darzulegen, greift Mendelssohn auf die Fundamentalprinzipien der Metaphysik zurück, die ihrerseits die Grundlage für eine Epistemologie bieten sollen. Der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit sei durch das cartesische Cogito bzw. durch die Gottesbeweise (er nennt vorerst lediglich den ontologischen, JubA II, 294) möglich; jedoch bezüglich der Evidenz, aber auch der bisherigen Ausführung der Metaphysik nach mit Schwierigkeiten behaftet.55 Mendelssohn diskutiert diese Schwierigkeiten allerdings nicht näher, sondern be-

53

Vgl. Wolff, Logica §§ 670–80, sowie Engfer 1982, 251. Vgl. ebd., 291: Alle Merkmale eines Dinges hängen zusammen. Das leibnizsche Monadenmodell steht hier deutlich im Hintergrund. 55 Letztlich wird aber auch Mendelssohn in dieser Hinsicht nicht über Wolff hinausgehen, dessen unzureichenden Beweis im Ausgang der Selbstgewissheit und deren Übertragung auf andere Grundsätze (vgl. Deutsche Metaphysik § 4) Stolzenberg 2005 eingehend dargestellt hat. Auch Wolff 54

III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns

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schränkt sich darauf, das Faktum einer fehlenden Evidenz für die Philosophen zu benennen.56 »Unmöglich« könne letztlich die erforderliche Komplexität in der Darstellung erreicht werden, die dem Gegenstand angemessen wäre. »Doch sind dieses nur die Schwierigkeiten, die in der Sache selbst liegen; es giebt aber in Absicht auf das Subject, oder den von philosophischen Warheiten zu überzeugenden Menschen, einige wichtige Schwierigkeiten, die nicht zu übergehen sind.« (JubA II, 295) Anscheinend also gibt es zweierlei Probleme der Evidenz: einmal für die Gelehrten, die ihre metaphysischen Systeme nicht angemessen »vortragen« können (aufgrund der genannten Schwierigkeiten, vgl. hier S. 268 f.) und deshalb untereinander in Streit geraten.57 Neben den Gelehrten kommt aber, zweitens, der interessierte Laie in den Blick, der die Defizite der metaphysischen Evidenz nur noch deutlicher zutage treten lässt: Denn die Inhalte der Metaphysik sind auch und gerade für den Laien immer emotional besetzt. Metaphysik hat mit Vorurteilen zu kämpfen. Jeder hat an ihren Ergebnissen ein ureigenstes Interesse, da sie die »Lebensart, Glückseligkeit und Meynungen« (JubA II, 295) betrifft. Er fasst deshalb schon gemäß der eigenen Neigung gewisse Meinungen, die er bestätigt sehen möchte. Wahrheit muss hier Vorliebe und Gewohnheit58 durchbrechen, sie muss also nicht nur rational, sondern auch anschaulich überzeugen. Nicht nur die Trägheit der Überzeugungen und der Unwille, diese rational zu prüfen, sondern auch die Vermessenheit, sich selbst in Dingen der Metaphysik als Richter aufzuspielen nennt Mendelssohn darüber hinaus als Grund, weshalb es die Metaphysik schwerer habe als die Mathematik. Dieser Rekurs aufs Vorurteil ist charakteristisch für Mendelssohn, ebenso wie der Hinweis, dass es mit der Unterdrückung von selbstgerecht oder laienhaft erscheinenberuft sich in seinem »Beweis« letztlich auf historische bzw. Tatsachen- und Beobachtungswahrheiten, nicht auf logisch gesicherte Sätze (s. ebd., 129 f.); vgl. Psychologia empirica § 13. 56 Seine Beispiele sind Descartes und Baco, siehe JubA II, 295. 57 Dass dieser Streit ein Streit um Worte ist, wird Mendelssohn nicht müde zu betonen. Dieses Vorgehen verdankt sich klar der Wolffschen Logik, vgl. Deutsche Logik, Kap. 1, §§ 36–45, sowie Kap. 2. Immer wieder gerät Mendelssohn jedoch bei einer sorgfältigen ›Analyse‹ des Streitpunktes in die Versuchung, den eigentlichen Gegenstand zu verwischen, um letztendlich feststellen zu können, dass es doch gar nicht um eine tatsächlich unüberbrückbare Verschiedenheit der Ansichten gegangen sei. 58 Das Dilemma der wissenschaftlichen Schreibweise, um die menschliche Erkenntnis in den Blick zu bekommen, ist deutlich: man darf nicht allzu leicht, fasslich und damit letztlich überredend schreiben. Die Folgen einer solch verfehlten Schreibart: »Man hat in allen artigen Gesellschaften von Monaden, vom Satze des zureichenden Grundes, vom Prinzip des Nichtzuunterscheidenden, u. s. w. gesprochen. Es waren Modeworte, die man aus Galanterie kennen mußte. Man trug Wahrheiten im Munde, davon weder Geist noch Herz durchdrungen war. Um die Beweise der angenommenen Sätze bekümmerte man sich wenig, weil man überzeugt seyn wollte« (JubA V/1, 12 f.; erste Hervorhebung von mir). Zugleich dient aber auch der exzessive Gebrauch des Fachidioms nicht dem angestrebten Ziel.

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

der Kritik nicht getan ist. Denn Despotismus ist ebenso gefährlich wie Anarchie: »In jeder Republik ist der Geist des Widerspruchs nicht nur eine nothwendige Folge, sondern öfters auch eine heilsame Stütze der Freyheit und des allgemeinen Wohlstandes.« (JubA II, 296) Er selbst musste die Wahrheit seiner Gedanken leidvoll erfahren, hat sich aber in eigenen Belangen wie z. B. im Lavater-Streit an diese Maxime gehalten. In einem [offenen] Schreiben an diesen stellt er schließlich resigniert fest: »Die Urtheilskraft des Menschen richtet sich so sehr nach gewohnten Begriffen, vorgefaßten Meinungen und anerzogenen Grundsätzen, daß zwey Menschen, wie Hr. L.[avater] und ich, die nach so entgegengesetzten Grundsätzen erzogen und unterrichtet worden sind, in vielen Urtheilen und Meinungen ganz ungleich gestimt seyn müssen.« (Nacherinnerung an Lavater, 1770, JubA VII, 47) Der Grund mancher tiefgreifender Uneinigkeiten ist bisweilen also eher psychologischer Natur und betrifft nicht die reine Erkenntnis. Habe man sich über die daraus resultierenden Ungenauigkeiten im Begriffsgebrauch erst einmal geeinigt, werde dies zutage kommen. Dass dem allerdings die psychologischen Faktoren auch als unüberwindliche Hürden im Weg stehen können, hat Mendelssohn so nicht akzeptieren können. Zugleich gibt er hier einen pragmatischen Hinweis: Wenn man nach sorgsamer Überlegung zu einer Einsicht gekommen ist, solle man an ihr festhalten und sie nicht ständig wieder infrage stellen – aber immer auch bedenken, dass andere zu ganz anderen Schlüssen kommen können. Mendelssohns Folgerung daraus in der »Nacherinnerung«: man muss anderen wie auch sich selbst die Möglichkeit des Fehlens zugestehen und bei ›Ergebnissen‹ immer die Reserve der Irrtumsanfälligkeit behalten. Der wahre Wissenschaftler hält anderen gegenüber die Mitte zwischen Dogmatiker und Skeptiker.59 Wenn dies nicht geschieht, dann gelte leider folgende Regel, die Mendelssohn in seiner harschen Replik auf Kölbele, der sich besonders durch seine an Lavater anschließenden Forderungen zu Mendelssohns Konversion hervorgetan hatte, formuliert: »Je eingeschränkter der Verstand, desto ausschliessender die Grundsätze.« (JubA VII, 53) Desto schwieriger die Einigung. Die Evidenzschrift dient in dieser Hinsicht bereits der rationalen Absicherung der Zurückweisung von Vorurteilen (siehe dazu weiterhin Kap. IV.4). Ausgehend von seinen Bemerkungen zur Besonderheit der Metaphysik und ihrer Schwierigkeiten kommt Mendelssohn in den folgenden zwei Teilen der Evidenzschrift auf die Möglichkeit und Einsichtigkeit der Gottesbeweise und der metaphysischen Lehren in der Moral zurück. Dabei bleibt er durchaus auf schulphilosophischem Terrain, weshalb eine eingehende Analyse hier unterbleiben kann.60 Auf seine Überle59

Vgl. JubA VII, 47, womit sich Mendelssohn in die Nähe der humeschen Auffassung begibt. 60 Siehe dazu Altmann 1982, 135–51. Der Weg des Gottesbeweises ist allgemein bekannt: »Wenn ich also erweisen kann, daß das nothwendige Wesen möglich ist; so habe ich auch seine

III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns

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gungen zum Zusammenhang der freiwilligen Handlungen und der Wahrscheinlichkeit komme ich in III.2 zurück. Interessant ist, dass er zu einem ähnlichen Ergebnis kommt wie der vorkritische Kant: der eingängigste Beweis ist der physiko-theologische61; der schlagendste Beweis dagegen der ontologische, den er bereits im zweiten Abschnitt (JubA II, 294) erwähnt hatte. In Hinblick auf Mendelssohns Rekurs auf die Gottesbeweise in der Evidenzschrift ist der Kontrast zu einer von Cassirer aufgedeckten Grundtendenz der Aufklärungszeit beachtenswert. Insgesamt ließe sich, so Cassirer, die Beschäftigung mit dem Wahrheitsproblem in der Aufklärungszeit in zunehmender Ablösung vom Gottesproblem beschreiben.62 Das göttliche Sein als oberstes Prinzip der Erkenntnis war noch stark in der Philosophie des 17. Jahrhunderts; im 18. Jahrhundert ist jedoch eine Schwerpunktverschiebung zu konstatieren: »Die einzelnen Grundgebiete: die Naturwissenschaft wie die Geschichte, das Recht, der Staat, die Kunst entziehen sich mehr und mehr der Herrschaft und der Vormundschaft der überlieferten Metaphysik und Theologie.« (Cassirer 1932, 211 f.) Sie sollen vielmehr aus ihrer vernünftigen Form heraus ihre Wahrheitskriterien bestimmen. Die Beziehung auf einen Gottesbegriff bleibt, »aber ihre Richtung ändert sich. Es findet gleichsam ein Wechsel des Vorzeichens statt: das zuvor Begründende wird in die Stellung des Begründeten, das bisher letzthin Rechtfertigende in die Stellung des Zu-Rechtfertigenden gedrängt.«63 Dass auch bei Mendelssohn der Gottesbeweis nicht der alleinige Ausgang des Wissens ist, zeigt in der Evidenzschrift allein die Anordnung, die darauf hindeutet, dass sich sicheres Wissen vielmehr aufgrund der spezifischen Methode seiner Erlangung ergeben soll. Problematisch ist dabei aber, dass die Kriterien des Wissens, zurückgeführt auf die Sicherheit der klaren und deutlichen Erkenntnis und deren Gesetzmäßigkeiten, letztlich eines starken metaphysischen Prinzips (für das Mendelssohn den Würklichkeit dargethan, und es ist bekannt, daß jenes sich beweisen läßt.« (Evidenz, JubA II, 294) Vgl. auch Altmann 1981, 130 und 1969, 310–19, der die Basis von Mendelssohns Ausführungen zum apriorischen Gottesbeweis in Baumgartens Metaphysik, die zum aposteriorischen Beweises in derjenigen Wolffs verortet, aber Mendelssohn eine Verfeinerung und Reformulierung der Beweise zuschreibt (vgl. auch Arkush 1994, 37 ff.). 61 Vgl. JubA II, 313. Diejenige Beweisart, die die praktische Überzeugung gewährleisten kann »aber erfordert nicht ausdrücklich Deutlichkeit und Gewißheit, sondern vornehmlich eine lebendige würksame Erkenntnis, einen starken und lebhaften Eindruck in das Gemüth, dadurch wir angetrieben werden, unser Thun und Lassen dieser Erkenntnis gemäß einzurichten.« (JubA II, 311), vgl. Kap. III.2. Zur konzeptionellen Ähnlichkeit mit dem Kantischen Ansatz vgl. AA II 161, sowie Altmann 1969, 335–41. 62 Vgl. Cassirer 1932, 211. Ähnlich auch Costazza 1999, 413 zum Theodizeeproblem, Müller 2004, 75 zur Begründung der Ästhetik bei Lessing und Mendelssohn. 63 Cassirer 1932, 212. Auch die Theologie des 18. Jh. unterwirft sich nun dem Primat der Vernunft, was sich insbesondere bezüglich der Erbsünde-Lehre zeigt. Letztlich sei der Mensch zur Glückseligkeit fähig und ihrer würdig, nicht von Grund auf böse. Die schlimmste Sünde ist vielmehr das Vorurteil, wie es schon Bayle, Descartes und Rousseau betonten.

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

Gottesbegriff einsetzt) als Garant der Gültigkeit der Prinzipien wie des SvW und des SvG bedürfen.64 Andererseits ließe sich auch festhalten, dass die Gültigkeit der logischen Prinzipien sich auch auf ihre Fähigkeit, ein geschlossenes Weltbild zu liefern, beziehen ließe: damit mag man zwar eine andere Wirklichkeit annehmen, kann über diese aber nicht vernünftig sprechen. Ein Universum, in dem der Satz vom Widerspruch nicht gilt, ist nicht kommunikabel. Das macht es nicht per se unwirklich, es fällt aber aus dem rationalistischen Betrachtungsrahmen heraus.65 Die Bestimmung von Realität als durchgängiger Bestimmtheit66 verlangt vielmehr die – wenngleich auch für den Menschen teilweise nur virtuell einsichtige – durchgängige Bestimmung alles Wahrgenommenen. Dabei birgt aber gerade die Parallelisierung des SvW und des SvG als des die Tatsachenwahrheiten verbindende und sichernde Prinzip ein schwerwiegendes Problem. Denn die absolute Gültigkeit des letzteren ist ohne die Annahme einer solchen durchgängigen Bestimmung durch die Kraft eines ›gütigen‹ und ›rational entscheidenden / Realität gebenden‹ (bzw. die Welt bestimmenden oder eingerichtet habenden) Gottes kaum ein so apodiktisch gewisses und sicheres Instrument und damit eventuell kein adäquates ein Pendant zum SvW, wie sich die ›rationalistischen‹ Philosophen das erhofft haben mögen. In gewissem Sinne hat später Friedrich Heinrich Jacobi im berühmten (und das Ende der ernsthaften zeitgenössischen Mendelssohn-Rezeption einläutenden) »Pantheismus-Streit« auf diese Problematik hinweisen wollen. Die erste Setzung der Welt in die Realität aufgrund der ›Entscheidung‹, dass diese Welt die beste sei, ist nicht mit dem Satz: ›eine Nichtexistenz dieser Welt ist in sich widersprüchlich‹ äquivalent. Letzteres verlangt vielmehr nach einer zusätzlichen Bedingung: Wenn das Beste als das Vollkommene auch das ›Prädikat‹ der Existenz beinhalten muss, dann ist die Nichtexistenz der besten aller möglichen Welten widersprüchlich. (Zugleich: wenn Gott das allervollkommenste Wesen ist, dann will er das Beste. Die eine Welt ist die beste aller möglichen. Also etc.) Dieses Konditional ist die Crux der rationalistischen Metaphysik. Auch der Rekurs auf das cartesische Cogito und die Grundlage, dass nur das, was klar und deutlich erkennbar ist, erst Wissen sein kann, ist eben nur dann auch als wahr anzunehmen, wenn sichergestellt ist, dass eine klare und deutliche Erkenntnis nicht täuscht; dieses Problem hat schon Descartes67 behandeln müssen. 64 Das cartesianische Cogito sieht sich darüber hinaus dem Angriff Humes ausgesetzt, der die Einheit der Person über die Selbstreflexion eben gerade nicht gewährleistet sieht. 65 Es ist aber zu beachten, dass der starke Zug Mendelssohns zur Ontologie dieser eher epistemologischen Interpretation entgegensteht. Für Mendelssohns Denken gilt diese Überlegung also höchstens in abgeschwächter Form. 66 In Anlehnung an Wolffs Ontologia § 226: »Quicquid existit vel actu est, id omnimode determinatum est.« 67 Vgl. zum Verhältnis Wolff – Descartes Euler 2004 und Stolzenberg 2005. In Wolffs Deutscher Metaphysik wird eine abgewandelte Form des cartesischen Cogito bereits eingangs erwähnt und

III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns

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Nicht nur aus heutiger Perspektive, auch für einen wichtigen Zeitgenossen Mendelssohns waren die Ausführung des dritten und vierten Abschnitts der Evidenzschrift unbefriedigend: Thomas Abbt äußert sich gerade über diese Teile der Abhandlung enttäuscht. Auch er hatte an einer Antwort auf die Frage der Akademie gearbeitet, der jedoch kein Preis zugesprochen wurde.68 Der Briefwechsel vor der Abgabe der jeweiligen Arbeit weist auf einen geringen Ideenaustausch zwischen Mendelssohn und Abbt hin (siehe dazu ausführlich Altmann 1969, 255–59). Beide wollten, so ihre Vereinbarung, ihre »Waffen« erst für sich schmieden, bevor sie sie vorzeigten.69 Abbt wählte in seiner Beantwortung eine von Buschmann als »anthropologisch« definierte Perspektive, die allerdings mit dem Ausdruck »psychogenetisch« angemessener beschrieben ist.70 Er versucht, streng nach den Gesetzen der Begriffs- und Vorstellungsentwicklung eines Individuums die Evidenz metaphysischen Wissens zu erweisen. Die Anleihen an Locke und Hume sind hier besonders merklich (z. B. Abbt, Werke 4, 71) und so ist es schließlich die Gewohnheit, die mithilfe der Einbildungskraft und des Gedächtnisses den Menschen von der Objektkonstanz und der Gesetz-

gilt somit in spezifischer, jedoch weitaus erfahrungsgebundenerer Form (s. oben, FN 55), als man für den ›Leibnizianer‹ Wolff annehmen möchte, als Grundstein seiner Überlegungen. Mendelssohn schließt sich hier an Wolff an. Wichtig ist im gegebenen Zusammenhang, dass auch Descartes die Verbindung zwischen cogito und der Existenz des Denkenden auf eine Idee zurückführt, die nicht im denkenden Selbst liegen kann; nämlich die Idee der Vollkommenheit. »If the worlds transcends the individual self at all, and thus transcending exhibits a drive towards what is ›positive‹, and indeed, towards ›perfection‹, then it would be wrong to question its most pervasive manifestations of transcendence through the [clear and distinct] ideas of external objects.« (Buchdahl 1967, 168, vgl. 165) Vorausgesetzt ist dabei wiederum, dass »Existenz« als eine positive Bestimmung verstanden wird. Buchdahls Descartes-Kapitel ist überhaupt eine präzise – wenngleich auch bisweilen zu sehr eine proto-kantianische Perspektive unterschiebende – Untersuchung der Verbindung zwischen dem Denken und dem Substanzbegriff in Descartes’ methodischem Zweifel. 68 Sie erschien erst postum im vierten Band der Vermischten Werke (1780) unter dem Titel »Versuch einer Auflösung der Frage: Ob die metaphysischen Wahrheiten überhaupt einer solchen Evidenz fähig sind, als die mathematischen?« (S. 59–134). 69 Siehe das Schreiben vom 4. Juli 1762, in dem Mendelssohn von einem »Zweykampfe« spricht; »Als ich aus Ihrem Schreiben ersah, daß Sie um den Preis sich bewerben wollen, war mein erster Einfall, meine Arbeit einzustellen, und das fertige Manuskript nach Rinteln [also zu Abbt] reisen zu lassen. Der Begriff, daß meine Ausarbeitung mit der Ihrigen ringen sollte, machte mich schüchtern. Jedoch der Rath unseres Freundes [Nicolai], und meine reifere Überlegung bewogen mich diesen Entschluß zu ändern.« Er schlägt einen »Austausch« der Waffen vor, aber nicht bevor die Antworten fertig ausgearbeitet sind, »damit wir einander nicht verwirren«. Am 11. Januar 1763 übersendet er den fertigen Aufsatz, mit dem ironischen Zusatz: »Nichts sollen Sie von den 50 Dukaten [dem Preisgeld] haben.« (JubA XII/1, 5) 70 Buschmann 2000, 41. Ich bevorzuge die letztgenannte Charakterisierung, da die Verwendungsweise »anthropologisch« in diesem Zusammenhang eher anachronistisch ist und im gegebenen Zusammenhang Mendelssohns Ansatz verunklart. Es ist damit aber unbestritten, dass Abbts Ansatz mit dem, was sich später Anthropologie nannte, verwandt ist.

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mäßigkeiten der Geschehen außerhalb des Selbst versichert. Die »Beschaulichkeit« der Begriffe ist dabei wörtlich gemeint: Abbt möchte zeigen, dass sich der Einzelne über verschiedene Stufen des Wiederanschauens eines Objekts seines Urteils über es versichert. Die Seele habe, so Abbt, einen »Hang […] zur ausgedehnten Anschauung« (Abbt, Werke 4, 74); doch ist die Versicherung von der Wahrheit einer (wahrgenommenen) Ausdehnung schwierig, weil sich die Erfahrung nicht immer gleichförmig präsentiert. Die mathematischen Vorstellungen der Ausdehnung nun betrafen ihre Größe; die »physischen« etwas, was an der Ausdehnung »zum Vorschein« gebracht wird (Abbt, Werke 4, 80; 111 nennt »Würkungen und Vereinigungen«) und sind nur über das Experiment zugänglich.71 Im Folgenden beschreibt Abbt die Methoden und Vorgehensweisen der Mathematik mehr, als dass er ihre Evidenz begründete. Mithilfe der Analyse menschlicher mathematischer Erkenntnis soll sich diese von selbst zeigen, da die korrekte mathematische Methode auf klaren und deutlichen Begriffen basiert.72 In der Metaphysik ist dies ungleich komplizierter, da es hier um neue Begriffe geht, die nicht aus einer Abstraktion von bestimmten einfachen Grunderfahrungen resultieren. Diese neuen Begriffe »kann ich nicht auf diese erste Klarheit [in einer einfachen Erfahrung] hinausführen, wenn ich nicht die Objekte meiner Erkenntnis vertauschen will.« (Abbt, Werke 4, 113) Die Idee von Kraft, Substanz73 oder Gott sind nicht wahrnehmbar, sondern erfordern kompliziertere Operationen, die letztlich eher zu einer »symbolischen Gewißheit« führen, die (aufruhend auf der mathematischen Gewissheit) lediglich ihrer »Nachbarschaft [zu den] Phänomenen« (Abbt, Werke 4, 122) geschuldet ist. Ein Gottesbeweis, wie in Mendelssohn in seiner Schrift unternimmt, ist Abbt unter diesen Voraussetzungen unmöglich. Sein Ziel in diesem Abschnitt scheint allerdings weder Physiologie, Psychologie oder Anthropologie zu sein, son71

Vgl. Abbt, Werke 4, 126 f. hinsichtlich der moralischen Gesetze, die Abbt ebenfalls aus der Erfahrung abzuleiten versucht. Dabei ist v. a. das auch von ihm überraschenderweise vertretene Vollkommenheitsparadigma wenig nachvollziehbar eingeführt worden als eine Art »Intuizion« (Abbt, Werke 4, 132) angesichts der »Ordnung« der Welt, erkannt durch gleichförmige Erfahrung. Der auch aus Mendelssohns Abhandlung bekannte wolffianische Grundsatz »Mache dich als Endzweck und als Mittel vollkommener« steht letztlich unvermittelt neben diesen angeführten ›Beobachtungen‹ (vgl. Abbt, Werke 4, 127). 72 Abbt kritisiert die Metaphysik, die auf diesem Gebiet »wildert«, scharf: Die mathematischen Zeichen führen eine »Bequemlichkeit« mit sich, die auch die Metaphysiker zu nutzen versuchten; jedoch bezeichnet Abbt es als »schändlich, was für Ideen diese Leute [die »irrenden Metaphysiker«] damit verknüpft haben […]. Man könnte hier sagen, daß dem Metaphysiker alles metaphysisch – oder was oft einerley ist, deutlich ohne Klarheit werde, durch das traurige Geschäft, das Anschauen weg zu definieren.« (Abbt, Werke 4, 99) Ein Metaphysiker kann also nicht die Mathematik, die es nur mit den Größen zu tun hat, dazu benutzen, metaphysische Fragen zu klären; denn es wird ihm, so Abbt spöttisch, wenig nutzen, wenn er dafür »die Seele a, und den Leib b nennet« (Abbt, Werke 4, 100). 73 Man denke an das Titelmotto von Kap. I.2.

III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns

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dern die Reformulierung des stoischen Ideals: Wenn sich die Seele ruhig und uninteressiert den Dingen nähert, vermag sie sie zu erkennen und sich selbst ihnen gemäß zu bestimmen. So schließt er seine Abhandlung mit dem Ausruf: »Empfinde also Mensch! und denke; das Gegenwärtige nicht blos, sondern auch das künftige; bringe die Vorstellung, ihrer innern Stärke nach, von beiden zur Gleichheit! Dann überlege; dann greife zu, greife mit Affekt zu, wo es nöthig ist; umfasse das Gute, wovon du überzeugt, und nun auf diese richtige Art überzeugt bist: du wirst im Besitze dieses Guten glücklich und ruhig seyn!« (Abbt, Werke 4, 134; vgl. hier Kap. I.2, 88, FN 121 und S. 92–95) Abbt scheint sich, so Buschmann (2000, 42), »sicher, mit der individualpsychologischen, ontogenetischen und sozialintegrativen Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens im Rahmen einer philosophischen und historischen Anthropologie hinter den Unentscheidbarkeiten einer rein spekulativen Metaphysik die ursprüngliche Produktivität der Problemstellung freilegen zu können.« Das Fazit seiner Abhandlung ist dennoch wenig zufriedenstellend; letztlich kommt er – neben einer stoisch gefärbten Betonung des ruhigen Auffassens dessen, was für uns das »Gute« sei – nicht über den Humeschen ›Skeptizismus‹ hinaus. Dies scheint auch Mendelssohn so gesehen zu haben. Zwar unterstützt er vor der Hand Abbts Ansatz, äußert jedoch zugleich Vorbehalte, die in dieselbe Richtung gehen, die er gegen Hume vorbrachte. In einem Brief vom 9. Februar 1764 empfiehlt er dem Freund schließlich ein Vorgehen, das sich wie eine Kritik an dessen Arbeitsweise liest und letztlich die Sonderstellung einer – metaphysisch wie auch historisch informierten – Anthropologie betont: »[…] wählen Sie die Philosophie des Menschen.« (JubA XII/1, 35) Zugleich weist er auf die Bedeutung der Metaphysik als einer Orientierungswissenschaft hin, die innerhalb der Anthropologie das Material der menschlichen Sitten und Erkenntnisse ordnen hilft. Seine Auffassung einer anthropologischen Untersuchung meint damit anscheinend genau nicht das, was Buschmann als »anthropologisch« bezeichnet hatte: für ihn muss eine Philosophie des Menschen die genannten Bereiche verbinden, nicht sie ausschließen und in einem physiologischen oder historischen Modell verneinen. Mendelssohns Ausformulierung dieser Ansicht in der Evidenzschrift hat Abbt jedoch nicht befriedigt. Schon kurz nach der Entscheidung der Akademie schreibt er in einem Brief an Mendelssohn vom 20. Februar 1764, er stimme zwar mit den dort geführten metaphysischen Beweisen überein. Allerdings sei er davon ausgegangen, dass diese Art des Beweises von der Akademie gar nicht gefordert worden war: »Aber ich glaubte nicht, und kann es noch nicht glauben, daß es bey der Ueberzeugung blos allein auf die richtige Einsicht ankomme, daß a von b prädicirt oder nicht prädicirt werde; sondern zugleich auf die Beschaulichkeit der Begriffe a und b, und die Unverstecktheit des Urtheils darüber.« (JubA XII/1, 39, Hervorhebung A.P.) Abbt bezieht sich damit vermutlich vor allem auf den dritten Abschnitt, der in seinen schulphilosophischen Distinktionen nicht das erfüllt, was man auf die Beantwortung der Frage

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zur Evidenz erwartet hätte. Mendelssohn schien tatsächlich davon auszugehen, dass seine Ansicht »fasslicher« sei, als die der Vorgänger. Besonders weit von der schulphilosophischen Tradition hat er sich dabei allerdings, wie erwähnt, nicht fortbewegt. Wenn man mit diesem Fazit zufrieden sein möchte, so ergibt sich das fast schon traditionell zu nennende Mendelssohn-Bild als ein Teil des alten schulphilosophischen Gebäudes, das Kant bis auf den Grund niederriss. Doch bei näherer Betrachtung ist Mendelssohns Konzentration auf den Menschen auch in theoretischer Hinsicht durchaus nicht nur in der Tradition der schulphilosophischen Positionen (worunter ich im gegebenen Fall eine vereinfachte Form von Wolff und Baumgartens Metaphysik verstanden wissen will), sondern auch an der ›dynamischen‹ Monadenkonzeption orientiert. Die Funktionsweise der auf einem Wahrscheinlichkeitskalkül aufbauenden induktiven Methode zeigt, dass es nicht allein um eine Diskursivierung von Wissen, sondern auch um dessen Emotionalisierung gehen musste. Dafür scheint Mendelssohn jedoch in Abbts Augen in der Evidenzschrift nicht die angemessene Sprache gefunden zu haben. Eine eingehende Diskussion zwischen Abbt und Mendelssohn über ihre (doch sehr divergierenden) Ergebnisse des Evidenzproblems ging, so Altmann (1969, 260), in der Bestimmungsdebatte unter. Man könnte es jedoch auch so formulieren: in der Bestimmungsdebatte erwies sich nur allzu deutlich, dass Mendelssohns Evidenzerlebnis bezüglich der Metaphysik durchaus stärker war als dasjenige Abbts. Er versuchte, die Einsicht in den Zusammenhang zwischen menschlicher Bestimmung und ›göttlicher‹ Metaphysik deutlicher zu machen. Ob ihm dies auch in seiner Fortsetzung im Phädon gelang, wird zu untersuchen sein. Es ließe sich in Hinsicht auf die aus der Bestimmungsdebatte gewonnenen Ergebnisse (Kap. I.2) vermuten, dass entgegen Mendelssohns Ausführungen das Evidenzerlebnis nicht allein eine Frage der Wahrscheinlichkeit ist, sondern auch die (psychologisch erklärbare) Sehnsucht nach »göttlicher Beruhigung« zutage treten lässt. Mit Blick auf diese Bemerkungen lässt sich die eingangs erwähnte Vermutung bestätigen: das Gefühl einer Krise des metaphysischen Wissens ist in Mendelssohns Evidenzschrift nicht zu spüren. Vielmehr richtete er seine Aufmerksamkeit – und die Energie seiner Arbeit – auf die Aufklärung des Gewissens, was paradoxerweise meint, dass er die Funktion und Struktur dieses ›Vermögens‹ näher untersucht, um gerade seine ›dunkle‹ Funktionstüchtigkeit zu stärken. Bevor ich mich diesem Theoriekomplex im folgenden Teilkapitel III.2 widme, sei abschließend ein kurzer Blick auf die weitere Entwicklung von Mendelssohns Theorie menschenmöglicher Evidenz geworfen.

III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns

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3. In den Morgenstunden Wie Altmann (1969, VI, ähnlich Bamberger, JubA I, XXVI) feststellte, übernimmt Mendelssohn Passagen der beiden im vorangegangenen analysierten Schriften nahezu unverändert in eines seiner letzten Werke, die Morgenstunden (1785), wobei sich zeigen wird, dass seine Absage an Hume durchaus nicht umfassend war. Die wichtigen Schritte zur Absicherung des Wissens um das »Daseyn Gottes« geht er dabei nicht im Haupttext, sondern in der Vorerkenntnis. Ähnlich wie in der Evidenzschrift lassen sich hier eigenständigere und auch im gegebenen Kontext eines anthropologischen Interesses relevante Bemerkungen verzeichnen, die den eigentlichen Beweisen vorangehen. Generell soll in dieser Vorerkenntnis »ueber Wahrheit, Schein und Irrthum« gehandelt werden, um die Argumentation auf ein sicheres Fundament wider die »Schwärmerey« (JubA III/2, 5) zu stellen. Wie dies geschehen soll und welche Propädeutik hierzu nötig ist lässt sich, zumindest in einem ersten Ansatz, durch die nähere Betrachtung der Struktur der Vorerkenntnis und ihrer leitenden Fragestellung gewinnen. Was ist Wahrheit, und wie unterscheiden wir sie vom Irrtum? Im Gegensatz zu der in der Evidenzschrift hinsichtlich der Metaphysik anvisierten Wahrheit im Beweis der Existenz fasst Mendelssohn hier das Wahrheitskriterium in der Übereinstimmung zwischen »Zeichen und bezeichneter Sache« (JubA III/2, 10), um sogleich auf das hier einschlägige menschliche Defizit hinzuweisen: Der Unterschied zwischen Urbild und Abbild ist kategorialer Natur. Der Mensch kann, da er nur Abbilder (also Vorstellungen) zur Verfügung hat, ein Abbild nie direkt mit dem Urbild vergleichen. Um dennoch einen Weg zur Wahrheitserkenntnis aufzuweisen, greift Mendelssohn auf die bereits dargelegten logischen Prinzipien zurück. Logisch wahr sind Gedanken, wenn sie denkbar sind; ihr Wahrheitskriterium ist der Satz des Widerspruchs (JubA III/2, 11 f.). »Die Sphäre des Würklichen ist [aber] enger eingeschränkt als die Sphäre des Denkbaren; alles Würkliche muß denkbar seyn, aber sehr vieles wird gedacht werden können, dem nie eine Würklichkeit zukommen wird.« (JubA III/2, 13) Man denke an die Einordnung der Mathematik im Gegensatz zur Metaphysik in der Evidenzschrift. Maßstab der Wirklichkeit ist die Idealität der Gedanken und Vorstellungen, die als meine Gedanken und Vorstellungen ebenso meine Realität bewiesen (JubA III/2, 14), wie auch durch die Abänderungen dieser Vorstellungen die Außenwelt. Jedoch ist der Schluss auf die Wirklichkeit der Außenwelt mehr ein Bedürfnis, als dass sie sich tatsächlich durch bloße Aufmerksamkeit auf unsere Vorstellungen beweisen ließe. Sinnestäuschungen und die generelle Beschränktheit des Erkenntnisvermögens stehen dem im Wege. Mendelssohn schlägt eine differenziertere Vorgehensweise vor, die seine Ansicht zum Wahrscheinlichkeitskalkül erweitert: Es muss eine »Uebereinstimmung verschiedner Sinne« (JubA III/2, 15) und mit den

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Eindrücken anderer Personen geben.74 Wenn wir so die Kenntnis von Gegenständen außer uns gefestigt haben, können wir nach den genannten logischen Gesetzen zu Urteilen und Schlüssen gelangen, die sich nun von den rein logischen Urteilen darin unterscheiden, dass sie einen empirischen Kern enthalten. Es mag hier dahingestellt sein, dass diese Vorgehensweise auf immense Probleme stößt; dies zeigt auch der Umstand, dass Mendelssohn mit diesem Versuch, die Humesche Position mit seiner eigenen, wolffianischen Position der Gedanken von der Wahrscheinlichkeit zu verbinden, die inzwischen publik gewordenen Ergebnisse der kritischen Philosophie Kants völlig ignoriert.75 Mehr sind im gegebenen Zusammenhang die von ihm in Anschlag gebrachten anthropologischen Überlegungen von Belang. Mit Mendelssohns Ansatz soll auch die »Experimentalerkenntnis«, also der Inbegriff der empirischen und induktiven Methode, zur »wirklichen« Erkenntnis (vgl. JubA III/2, 16) werden.76 Die Quelle von so gewonnenen Naturgesetzen wie z. B. der Kausalität ist demzufolge dreifach: 1. (tierisch) gemäß einer »bloßen Association der Begriffe« 2. Erfahrung (beim »gemeinen Haufen der Menschen«) 3. Vernunft (»bey den Weltweisen«) (vgl. JubA III/2, 18) 74

Damit schließt sich Mendelssohn wiederum an Leibniz’ Meditationes de cognitione, veritate et ideis (1684) an, der den Zusammenhang der Wahrnehmungs- (notio) und Erkenntnisform (cognitio) betont und für die klaren und verworrenen Ideen festhält, dass sie sich allein aus einer einzelnen Sinneswahrnehmung speisen können (vgl. Hauptschriften I, 10). Im Umkehrschluss heißt dies, dass eine Erkenntnis aufgeklärt werden kann, indem mehrere Sinne involviert werden. 75 Dass er Kants Kritik entgegen eigener Beteuerungen gelesen hat (Brief an Kant vom 10. April 1783, JubA XIII; vgl. auch Kant an Herz am 11. Mai 1781, AA X 270), wird in der Kontroverse mit Jacobi deutlich. Dieser hatte sich auf Kants Kritik berufen: »Das Denken, in seinem Wesen betrachtet, ist nichts anders, als das Seyn, das sich fühlet.« (nach JubA III/2, 210) Es ist das »reine unmittelbare Bewußtseyn« (ebd.), nicht aber »Vorstellung und Reflexion«. Mendelssohn hält dagegen: »Allein nach Kant liegt ein Bewußtseyn bloß allen Begriffen zum Grunde; und nach Jacobi, soll das Denken nichts anderes seyn; welches zwey ganz verschiedene Behauptungen sind.« (JubA III/2, 210) Über die Auseinandersetzung zwischen Kant und Mendelssohn ließe sich weitaus mehr sagen, als bisher unternommen wurde (vgl. Engel 2001, die eine bloße Zusammenfassung liefert; eingehender widmet sich Klemme 1996 dem Austausch, schreibt jedoch letztlich Marcus Herz weitaus mehr Einfluss zu). Im gegebenen Kontext muss darauf jedoch verzichtet werden, da die Kantischen Einsichten offensichtlich kaum auf Mendelssohns Menschenbild nachwirkten. Seine einschlägigen Anmerkungen zur Inauguraldissertation von 1770 gehen allein in die Richtung, die (Baumgartensche, laut einem Brief von Herz an Kant vom 11. September 1770 (AA X, 100), aber auch generell Leibnizianische) Metaphysik zu verteidigen; Modifikationen des eigenen Standpunkts lassen sich demgegenüber nicht aufzeigen. Siehe auch die Hinweise Altmanns 1982, 148 ff. zu Mendelssohns Absicherungsversuche gegen Kants Kritik gegen den ontologischen Gottesbeweis. 76 Vgl. zur Kritik an Mendelssohn, auf die hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann, die Einleitung von Bamberger, JubA I, XXV f. Dort findet sich auch der Hinweis, dass Mendelssohn seine erkenntnistheoretische Position seit den Gedanken nicht aufgegeben hatte, sondern sie »wörtlich« in die Morgenstunden übernahm.

III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns

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und richtet sich nach dem Grad der Deutlichkeit der Schlüsse, die aus bestimmten Eindrücken gezogen werden. D. h. auf Stufe 1 richtet man sich nach Empfindungen, auf Stufe 2 nach Urteilen, auf Stufe 3 nach Schlüssen, die Vernunftwahrheiten ergeben. Stufe 2 und 3 unterscheiden sich in dem Sinne, dass erst aufgrund der Vernunftschlüsse der Mensch »nach den Grundsätzen der Vernunftkunst Rechenschaft zu geben« vermag (JubA III/2, 19, Hervorhebung A.P.) und durch bloßes Nachdenken Wahrheit erlangen kann.77 Genetisch betrachtet, steht also die alles begründende und tragende Einsicht auf der höchsten Stufe menschlicher Bildung, Erkenntnis überhaupt ist aber auf allen Stufen menschlicher Entwicklung möglich.78 Diese »Vermischtheit« der Schlüsse, die die Wirklichkeit betreffen, findet man nicht nur in Erkenntnisurteilen, sondern auch in denen der »Seelenlehre und der Moral« (JubA III/2, 21), also allen dem Menschen zugänglichen und ihn interessierenden Gebieten. Letzte Sicherheit in unseren Urteilen bietet uns dabei die »Natur des menschlichen Verstandes« (JubA III/2, 26), demgemäß wir eben diese SynthesisLeistungen vollziehen müssen; häufig erlebte Zusammenstimmung führt zu einer Annahme von immer größerer Evidenz und Sicherheit, bis diese Zusammenstimmung als Ursache-Wirkungsgefüge zu bezeichnen ist. Eine reine Häufigkeitsbestimmung, gepaart mit der Voraussetzung von Bedürfnissen der menschlichen Seele, kann »der höchsten Evidenz [also der Wirklichkeit] so nahe kommen, daß ihr Unterschied nicht mehr merklich ist« (JubA III/2, 26, Hervorhebung A.P.). Wahrheit gründet so letztlich in der »Würkung unserer positiven Seelenkräfte« (JubA III/2, 29), Irrtum in ihrer Fehlleistung. Ein in diesem Zusammenhang interessanter Aspekt ist derjenige der Sinnestäuschung. Diesen »Schein« diagnostiziert Mendelssohn als eine der notwendig zu Irrtümern führenden Fehlleistungen und widmet dessen auch anthropologischen Implikationen 1781 eine kurze Notiz (Über Wahrheit und Schein, JubA III/1, 278). Sinnestäuschung basiert dementsprechend auf »unentwickelten« Begriffen (ein Terminus, den man mit dunklen, oder auch klaren und verworrenen Begriffen gleichsetzen darf ), die den Irrtümern des Verstandes eine gewisse Eindringlichkeit voraus haben. »Jener, der Sinnenschein nehmlich, nähert sich der unmittelbaren Erkenntniß und wird dadurch unwiderstehlicher. Unrichtige Urtheile, falsche Schlüsse, können durch den richtigen Gebrauch des Verstandes, verbessert und in Wahrheit verwandelt werden. Sinnenschein aber bleibt unveränderlich […].« (JubA III/2, 29) Sie sind, der Einteilung der Evidenzschrift gemäß, als beständige 77

Wobei das Manko, dass es sich auch bei diesen Vernunftschlüssen letztlich um »unvollständige Induction« (JubA III/2, 21) handelt, die bei strenger Betrachtung wohl kaum »allgemeine Gesetze der Natur« (ebd.) begründen können, erhalten bleibt. 78 So mag auch hier ein Grund liegen, weshalb Mendelssohn in der Bestimmungsdebatte mit Abbt derart optimistisch ist, dass jeder Mensch in gewissem Sinne eine zureichende Kenntnis seiner selbst und der Welt gewinnen könne.

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Erscheinungen zu charakterisieren, die ihr So-Sein der Beschaffenheit den menschlichen Sinnen verdanken, also aus menschlicher Perspektive ›objektiv‹ erscheinen; oder, anders ausgedrückt, über die sich alle Menschen untereinander einig werden müssten. Insgesamt findet sich hier, so auch Dahlstrom, eine durchaus schwächere Zurückweisung des Idealismus, als noch in der Evidenzschrift.79 So weist er das Wahrheitskriterium der Korrespondenz zwischen Ding und Erscheinung als unzureichend zurück, da wir keinen Weg wissen, Kopie und Original zu vergleichen und bezieht sich in seinen Überlegungen vornehmlich auf die Gültigkeit der Induktionsschlüsse gemäß des Wahrscheinlichkeitsaufsatzes. Fehlerhaftes Wissen ist damit einer »unvollständigen Induction« (JubA III/1, 29 f.) geschuldet, entspringt aber auch menschlichen Bedürfnissen. Vor allem unsere bisherige Erfahrung und unser Bestreben nach einheitlicher Erkenntnis arbeiten dem Sinnenbetrug zu; man bleibt bei den Fehlern und entwickelt die Begriffe von den täuschenden Gegenständen nicht weiter, um nicht sehen zu müssen, wie unvollständig das Wissen eigentlich ist.80 Ein so beschriebener Umgang mit Wissen besitzt damit zugleich Schutzwirkung; letztlich sollte der Mensch sich auf das ihn wirklich Betreffende konzentrieren. Bezüglich der Sinnestäuschung kommt Mendelssohn in diesem Sinne auch auf »alle Täuschungen der schönen Wissenschaften und Künste« zu sprechen, denen er eine menschenspezifische Notwendigkeit einräumt. Prima facie sind sie vor allem eines: unsicher. »Die innere Empfindung der Lust und Unlust, des Wohlbehagens und des Schmerzes, hat mit dem Räumlichen und Figürlichen nichts gemein. Blos durch die öftere Wiederholung, durch das öftere Zusammenseyn und Aufeinanderfolgen dieser verschiedenen Erscheinungen, verbinden sie sich in unserer Seele so fest, daß wir auf Causalitätsverbindungen zwischen ihnen schließen.« (JubA III/2, 32) Eine vermeintlich unmittelbare Empfindung, die sich auf die Lust an bestimmten räum-

79

Vgl. Dahlstrom 2006 und 2002, 620: »Words and thoughts, by contrast, can be compared and so he turns to them for a determination of truth. Thus, in what today might seem a prototypically idealist move, he defines truth in terms of knowledge (‘an effect of the positive powers of our souls’ [Morgenstunden, JubA III/2, 29]) rather than vice versa.« 80 Es ist auffällig, dass Mendelssohn hier nicht auf Leibniz’ Theorie der petit perceptions eingeht, die dieser in den Noveaux Essais behandelt. Die Notiz Verwandtschaft des Schönen und Guten von ca. 1758 enthält dagegen eine bis in die Wortwahl gehende Anlehnung an Leibniz (das »Brausen des Meeres« als der Inbegriff der für den Menschen undurchdringlichen Perzeption; vgl. JubA II, 183 f., die ebenfalls aus den Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison, Hauptschriften II, 599 entnommen sein könnte) und nimmt sie in seine Theorie mit auf. Mendelssohns Erklärung in den Morgenstunden kann dahingegen die Unaufklärbarkeit der Sinnestäuschungen nicht recht einsichtig machen – es bliebe immer zu fragen, wieso wir denn diese Sinnestäuschungen nicht aufklärten, wenn es doch nur darum ginge, eine Induktionskette zu vervollständigen. Leibniz hat dahingegen gezeigt, weshalb diese Induktionskette aufgrund der spezifischen Qualität der Empfindungen nicht aufklärbar ist.

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lich und figürlich bestimmten Gegenständen bezieht, gibt es somit nicht – sondern sie beruht auf Gewohnheit. Gleichzeitig gründen Gefühle der Lust und Unlust anlässlich künstlich hervorgerufener Umstände (im Theater, angesichts einer Statue) auf eben derselben unvollständigen Induktion, mit der wir auf den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Zeichen und der Sache schließen. Der ›Fehler‹ liegt letztlich nicht in der Empfindung selbst, sondern in dem selbst hergestellten, unvollständigen Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt. In der Kunst gilt die Freiheit, es um der emotionalen Einbindung willen bei den unvollständigen Induktionen zu belassen (vgl. Kap. II.3). Selbst wenn wir durch Vernunft also wissen, dass hier eine Täuschung stattfindet, werden wir Mitleid haben mit (der Statue des) Laokoon; vielleicht nicht im emphatischen Sinne, aber doch wird sich uns das Gefühl der (angenehmen) Unlust – vermeintlicherweise unmittelbar – erschließen. Wir schließen »von Zeichen der Leidenschaft auf Leidenschaft« (JubA III/2, 33). Verstärken lässt sich dieses Gefühl dadurch, wenn wir uns wissentlich der Täuschung überlassen, indem wir »zu unserm Vergnügen vorsätzlich [von der Täuschung] abstrahiren« (ebd.). Bei der Beurteilung der Täuschung weist Mendelssohn, im Gegensatz zu den ›ästhetischen‹ Schriften, nicht dem Geschmack, sondern dem ihm verwandten »gesunden Menschenverstand« einen wichtigen Stellenwert zu. Die unbewusst ablaufenden Vernunftschlüsse einer vermeintlichen Kausalität identifiziert er mit der Tätigkeit des gesunden Menschenverstandes in Bezug auf die »sinnliche Erkenntiß« (JubA III/2, 36), während beim Denken (als verständige / vernünftige Erkenntnis) die Vernunft die Regeln gibt. Täuschung basiert demgemäß, ähnlich wie Fehlschlüsse, auf einem Fehler im Urteil, indem wir aus einer nur unzureichenden Anzahl an Sinnesdaten Folgerungen auf ihre vermeintliche Verbindung mit der ›Wirklichkeit‹ ziehen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit die Rolle des Geschmacks abgetan sei, denn nach wie vor ist die Empfindung von Schönheit selbst nicht von der Leistung der Vernunft abhängig: »Wo ihr Schönheit empfindet, da muß Schönheit anzutreffen seyn […].« (JubA III/2, 40) Dabei ist die Art und Weise, wie diese Schönheit im Objekt anzutreffen sein soll, problematisch, denn hier geht »die Seele gleichsam aus sich heraus« (ebd.) und schließt auf etwas, was außerhalb ihrer Sphäre liegt, eben auf die Wirklichkeit der Schönheit. Falschheit schleicht sich also erst mit der Beurteilung der Schönheit ein. Der richtige oder gute Geschmack ist derjenige, der sein Urteil auf den »Eindruck des Ganzen« (JubA III/2, 41) gründet. Problematisch sind dabei Mendelssohns nur angedeutete Kriterien für ein gelungenes Ganzes. Damit reduziert er das Schöne auf ein gewisses Maß, eine spezifische Ausgewogenheit – eine einsichtige Charakteristik des Schönen bleibt jedoch hinter diesen sehr unbestimmten Bestimmungen verborgen. Deutlich ist dahingegen der rezeptionsästhetische Zug dieser Überlegungen. Denn wie auch immer die objektive Verbindung zu einem schönen Gegenstand geartet sei, sind die Empfindungen, die er hervorzurufen imstande ist, nicht bezweifelbar. Das Urteil ›dies ist schön‹ ist damit nicht nur objektiv,

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sondern auch in Bezug auf das Empfinden der Seele, also subjektiv zu verstehen. Eine Erkenntnis des Schönen ist für Mendelssohn, ähnlich Kant, ein Kategorienfehler, denn hier geht die Seele über das hinaus, was sie zu leisten vermag. Situiert wird die Ästhetik im gegebenen Zusammenhang eindeutig in der Sphäre des gesunden Menschenverstandes. Die Täuschung ist nur angenehm, wenn sie auch durch ihn bestimmt und begrenzt ist.81 Nach einer hier nicht weiter relevanten Behandlung der Frage nach der Unterscheidbarkeit von Traum und Wachen (den Mendelssohn mit der »wohlgestimmten Harmonie« im »Totaleindruck des Gegenwärtigen« (JubA III/2, 50) in der Wirklichkeit im Gegensatz zum Traum gut Wolffianisch begründet) und der Ankündigung des Nachweises von der Realität der Dinge im Hauptteil (die Realität des Ich hatte schließlich nur auf das Bedürfnis einer Annahme dieser hingewiesen), ist in der Vorerkenntnis ein deutlicher Bruch zu verzeichnen. Mendelssohn weist den Streit um die Realität der Außenwelt letztlich als ein Wortgefecht aus – und lässt es dabei bewenden. Anstatt dessen wendet er sich von der Frage nach der Wahrheit unserer Erkenntnis einem anderen Aspekt zu, der in Kap. III.3 diskutiert werden soll. Insgesamt ist an der Vorerkenntnis deutlich abzulesen, dass Mendelssohn die Gebiete seiner vorangegangenen Untersuchungen übernimmt und ihnen zugleich einen stark moralisierenden Zug verleiht. In Bezug auf das Induktionsproblem hingegen lässt sich eine Erweiterung des Blicks feststellen – betont er in seinen Überlegungen neben der Methode von Hypothesenbildung und empirischer Verifikation vernünftiger Grundsätze nun stärker den Akt der Verständigung darüber. Mit seiner Betonung der Induktion als einer durchaus auch falliblen Erweiterung des Wissens zeigt er darüber hinaus, dass die Anwendung des Wahrscheinlichkeitskalküls weit gehen kann, aber nicht alles abdecken darf. Selbst ein rationaler Gottesbeweis lässt in Hinblick auf eine positive Religion keine weiteren apodiktischen Schlussfolgerungen, denen andere beistimmen müssen, zu: »Ich von meiner Seite bleibe bey meinem jüdischen Unglauben, traue keinem Sterblichen einen engelreinen Mund zu, möchte selbst von der Autorität eines Erzengels nicht abhängen, wenn von ewigen Wahrheiten die Rede ist, auf welche sich des Menschen Glückseeligkeit gründet, und muß also schon hierin auf eigenen Füßen stehen oder fallen.« (JubA III/2, 218) In der Metaphysik könne die Frage nach einer Letztbegründung, nach einem apodiktischen Wissen gestellt werden; in der Religion und in der Sittenlehre sei sie in dieser Form überflüssig, denn die »augenscheinliche Induktion« (An die Freunde Lessings (1785), JubA III/2, 213) reiche hier aus. Darüber hinaus umfasst deren Un81

Im gegebenen Zusammenhang fällt auf, dass der Bereich des ästhetischen Schrecklichen nur noch unzureichend repräsentiert ist. Mendelssohn schien dieses Gebiet zu gefährlich geworden zu sein.

III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns

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tersuchungsgebiet allein das Naturrecht und die Vernunftreligion; weiter kann die Philosophie das Leben, Denken und Fühlen der Menschen nicht bestimmen. Mit dieser Eingrenzung versucht Mendelssohn, das menschliche Maß der Philosophie zu erhalten. In gewisser Weise ist nach wie vor der Einfluss seiner Hume-Lektüre zu bemerken; und bezeichnenderweise wird er diesem noch immer nicht gerecht. Im gegebenen Zusammenhang bemüht er sich zwar nicht, die rationale Grundlage der Induktionsschlüsse zu beweisen – dies hatte er in den vorangegangenen Schriften, so seine Auffassung, zur Genüge geleistet.82 Sondern es geht ihm darum, die Gründe und auch die Grenzen der Akzeptanz von (unvermeidlichen) Fehlurteilen des Menschen festzusetzen. Er sieht also, mit Hume, die subjektive Grundlage der Induktionsschlüsse, deren Berechtigung er vorher glaubte gegen diesen verteidigen zu müssen. Zugleich folgt er ihm nun auch darin, dass die Gefahr der grundsätzlichen Angreifbarkeit vernünftiger Schlüsse eine Begrenzung der Philosophie erfordere83, ohne dass er doch dessen generelle Richtung akzeptierte. Er versucht vielmehr eine rationalistische Etablierung wissenschaftlicher Toleranz, indem er die Unsicherheiten und Grenzen aufzeigt und zugleich Wege ihrer Absicherung weist. Davon unberührt bleibt Mendelssohns grundsätzliches Vertrauen darauf, über die metaphysische Vergewisserung der Gültigkeit rationaler Prinzipien die Begründetheit und den Wert dieser Denkrichtung bewahrt zu haben.

82

Obwohl der Aspekt der bloßen Annäherung hier stärker betont ist, siehe das obige Zitat, JubA III/2, 26: der Unterschied zwischen apodiktischer Vernunftwahrheit und hinreichend wahrscheinlicher Tatsachenwahrheit ist »kaum merklich«. 83 In diesem Sinne überbewertet er Humes Skeptizismus. Dieser ist bspw. niemals so weit gegangen, mathematische Gesetze etc. zu verneinen, obwohl sie sich für ihn letztlich ebenfalls auf Erfahrung stützen müssen. »To rely on careful observation of constant conjunctions – despite the fact that it always falls short of giving the proper grounding demanded by philosophical skeptical reflection – remains nontheless the only method for arriving at reasonable causal beliefs outside the skeptical inquiry.« (De Pierris 2001, 378) Dass Humes Ansatz dennoch für die rationalistische Form der Apodiktizität problematisch bleibt, indem er deren grundliegend dialektische Anlage herausarbeitet (vgl. oben, FN 7), kann hier nicht weiter ausgeführt werden.

III. Leidenschaft und Meeresrauschen. Die Nutzbarmachung des Gefühls Der Zusammenhang zwischen epistemologischen und metaphysischen Überlegungen innerhalb Mendelssohns praktischer Philosophie ist wiederholt angeklungen. Mendelssohn geht es um die praktische Nutzbarmachung der erwähnten Positionen, aber auch darum, ihren Zusammenhang mit der menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit herauszuarbeiten. Noch immer ist auch Rousseaus Provokation von der Degenerierung des Menschen qua Verstandesausbildung nicht vergessen. Dementsprechend bilden die Aspekte der Freiheit menschlicher Handlungen und ihrer Beziehung zur Erkenntnis, sowie deren Beeinflussung durch die Sinnlichkeit und damit auch die Ästhetik ein Gebiet seines primären Interesses. Er ist bemüht, die verschiedenen Bestandteile zu einer umfassenden Theorie eines gut handelnden, wollenden und fühlenden Menschen zusammenzufügen. Dabei ist auch der Einfluss einer im zeitgenössischen Kontext neuartigen Bestrebung auszumachen: welche Rolle spielt das Unbewusste in Form von Leidenschaften und Körpererregungen in Mendelssohns Argumentation? Der fundus animae, der dunkle Grund der Seele, war schon von Leibniz ins Spiel gebracht und von Baumgarten zu einem Fundament menschlichen Lebens geadelt worden. Zwar sind die Nouveaux Essais, die die Lehre der kleinen Perzeptionen in ihrer am weitesten ausgearbeiteten Form enthalten, vor 176484 unbekannt; doch die einschlägigen Überlegungen dazu finden sich auch in anderen, bereits veröffentlichten Schriften und Briefen Leibniz’85. Ausgehend von der Diskussion im Anschluss an Descartes’ Primat der klaren und deutlichen Erkenntnis und der Frage nach Leben und Tätigkeit der Seele, was eine beständige, aber nicht durchgängig klare und deutliche Denktätigkeit voraussetzt, haben sich die rationalistischen Denker des Unbewussten als einer Form der potentiellen Erkenntnis und des dunkel tätigen Grundes menschlichen Lebens angenommen: der interne Zusammenhang zwischen dunklen ›Denk‹akten und deren potentieller Auflösbarkeit sollte die in sich konsistente Person garantieren. Die dunklen Empfindungen dienten dabei als Verbindungsglied von an sich disparat erscheinenden Erfahrungen. Damit war 84

Wie in einem Brief an Abbt vom 12. Juli 1764 bezeugt, waren die Nouveaux Essais Mendelssohn zu diesem Zeitpunkt, und nicht erst mit dem offiziellen Erscheinungsdatum 1765, bekannt; »Sie enthalten trefliche Ideen«, was sich nach eigener Aussage auf die ersten 41 Druckseiten bezieht (JubA XII/1, 50). 85 Altmann 1969, 128, Anm. 59 zitiert hierzu einen Brief Leibniz’ an Christian Goldbach, in dem sich die Anerkennung des Unbewussten in der Musikrezeption deutlich äußert. Der Brief ist in Leibnitii Epistolae ad Diversos, Hg. v. Christian Kortholtus. Leipzig 1734; Brief CLIV, 239– 42 abgedruckt; Mendelssohn besaß diese Ausgabe (siehe Bücherverzeichnis 421/43), was seine Bekanntschaft mit diesen Überlegungen zumindest nahelegt. Im vorangegangenen Teilkapitel habe ich bereits auf andere mögliche Fundstellen dieser Idee bei Leibniz hingewiesen, vgl. Kap. III.1, 286, FN 80.

III.2 Leidenschaft und Meeresrauschen. Die Nutzbarmachung des Gefühls

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ihre Unbewusstheit jedoch noch nicht ihres problematischen Status enthoben, da sie die Handlungsmotivation für die klare und deutliche Erkenntnis unzugänglich zu machen droht. Musste das Primat der ratio gerade in der Moralphilosophie und Handlungstheorie aufgehoben werden? Oder waren menschliche Leidenschaften im Sinne einer Korrektur der blinden Sinnlichkeit zu unterdrücken? Mendelssohn versucht, die positive Rolle der dunklen Empfindungen und Leidenschaften zu begründen und sie in ein umfassendes Konzept zu integrieren, indem er die den oberen Erkenntnisvermögen parallel geordneten Fähigkeiten des Wahrheitssinns, des Gewissens und des Geschmacks als nur dunkel oder verworren bewusste Funktionen der vernünftigen Seelenvermögen ausarbeitet. So fragt er in den Briefen über die Empfindungen: »Warum sehen wir die Gegenstände unserer Begierden immer durch das Sehrohr der Leidenschaften an, und die Gründe, die uns davon abhalten, betrachten wir niemals, als nachdem wir das Rohr umgekehrt?« (JubA I, 303)86 Leidenschaften sind also nicht nur Verführer, sondern auch für moralisch gute Handlungen beachtenswert. Eine »ästhetische Ordnung des Handelns«87 war auch in Mendelssohns Interesse. Es wird zu untersuchen sein, wie sich Leidenschaften konstituieren und welchen Effekt sie zeitigen, um sie in eine umfassende Theorie menschlichen Handelns und Empfindens zu integrieren. Dazu ist eingangs auf Mendelssohns Reformulierung der Gewohnheitstheorie zurückzukommen, die auf die Besonderheiten der menschlichen Freiheit bei gleichzeitiger Bestimmung durch auch sinnlich affizierte Bewegungsgründe rekurriert. Deutlich wird hier das Bemühen, die unterschiedlichen Positionen Leibniz’ und Humes einander anzunähern und eine konsistente Theorie menschlichen freien Handelns zu entwickeln (1.), das (auch) durch das Bewusstsein zureichender Gründe motiviert sein muss. Anschließend ist darauf einzugehen, wie Mendelssohn in Anschluss an diese Überlegungen und an die Theorieansätze Sulzers die Wirksamkeit der dunklen Empfindungen für seine Theorie nutzt, indem er sie auf eine Versinnlichungsstrategie klarer Erkenntnis anwendet. Die Etablierung des Wahrheitssinns, des Gewissens und des Geschmacks stehen hier im Mittelpunkt der Betrachtung (2.), wobei auch die Thematik der sittlichen Verbesserung durch Kunst (vgl. Kap. II.1, 145–53) noch einmal aufgegriffen wird. Abschließend soll ein schon seit 1755 bestimmender Grenzfall der optimistischen rationalistischen Philosophie näher untersucht werden: unter der Frage, ob man das Böse oder auch Schlechte wollen kann, hat sich Men86

Vielleicht ist dies auch eine Anspielung auf Meiers Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744, § 101): »Unsere Erkenntnißkraft ist in den Leidenschaften ein Vergrösserungs- oder Verkleinerungsglas.« 87 So der Titel der mit der handlungstheoretischen Verbindung von Ästhetik und Moralphilosophie in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts (mit Schwerpunkt bei Johann Jakob Engel, Christian Garve, Adam Smith und David Hume) befassten Dissertation von Doris BachmannMedick (1989).

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

delssohn wiederholt mit dem Problem des Selbstmords als eines Grenzfalls menschlicher Handlungsmöglichkeit befasst (3.). Inwiefern passt ein autodestruktiver Wille zum Konzept eines rational bestimmten und zugleich sinnlichen Menschen?

1. Die Möglichkeit unbewusster Freiheit Als Grundlage der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten menschlichen Handelns und seiner ›Verbesserung‹ ist unter Rückgriff auf Mendelssohns Äußerungen dazu festzulegen, welche Art von Handlungen sich überhaupt für eine Diskussion der Motivationstheorie anbieten. Es sind die ›freien‹ Handlungen, womit freilich noch nicht viel gesagt ist. Erwartungsgemäß – als Leibnizianer – hat er diesen Bereich in zweierlei Hinsichten beschrieben. Zum einen gelten ihm alle Handlungen, ebenso wie Verhalten, Widerfahrnis etc. als determiniert in einer harmonisch eingerichteten Weltordnung; zugleich aber sind sie Tätigkeiten, die mit einem spezifischen Bewusstsein oder einer bestimmten Form der Beobachtbarkeit und Zuschreibbarkeit verbunden sind.88 Im vierten Abschnitt der Evidenzschrift konzentriert sich Mendelssohn auf die Evidenz in der Sittenlehre, in der die aufgewiesene durchgängige Bestimmung nach dem SvG und sein Zusammenhang mit der Handlungsfreiheit diskutiert werden muss. Er kommt dabei auch auf seine Wahrscheinlichkeitstheorie zurück, die damit in engem Zusammenhang steht.89 In Mendelssohns Formulierung: »Es hat also jede

88

Wie die Aufteilung der Argumentation anzeigt, lehnt sich Mendelssohn hier womöglich an das Argumentationsmuster Leibniz’ an, wie dieser es in der Confessio philosophi (zuerst 1672/73, zweite Auflage 1672/73) in den Rollen des Theologus und Philosophus durchspielt, vgl. dazu Lorenz 1997, 60–67. 89 Altmann 1969, 220 f.: »Was bei Mendelssohns Darstellung der Wolffschen Position bei genauerer Analyse zutage tritt, ist die merkwürdige Tatsache, daß er zwar ausgiebig und textgetreu mit dem Begriff der Wahrheitsgründe operiert, aber jeden Bezug auf den Begriff des zureichenden Grundes vermeidet. Erst im Schlußteil der Abhandlung, wo das Problem der göttlichen Präscienz behandelt wird, taucht der Begriff des zureichenden Grundes auf.« Altmann vermutet Mendelssohns Absicht einer dramatischen Wirkung, wenn das eigentliche »Licht«, das man mithilfe der Wolffschen Definition im Gegensatz mit derjenigen der Mathematiker erhalte, erst zum Schluss der Abhandlung auftaucht. Allerdings ist dieser Vermutung nicht durchgehends zuzustimmen, denn bereits einige Seiten zuvor, JubA II, 299, taucht der SvG explizit auf. Auch einige Seiten zuvor, S. 294 greift Mendelssohn – für den zeitgenössischen Leser deutlich – auf ihn zurück. Im Verlauf der Argumentation (S. 302 f.) wird der SvG zur Grundlage aufgezeigt, um etwas Bestimmliches (Mögliches) als etwas Bestimmtes (Wirkliches) zu bezeichnen. Alle Bestandteile eines wirklichen Dings müssen (zumindest potentiell) durchgehend bestimmt sein, weshalb letztlich (S. 304) der SvG gleichbedeutend ist mit dem SvW – allerdings basiert diese Gleichheit nicht auf einer bloßen Nichtwidersprüchlichkeit, sondern auf der Güte Gottes und verlangt als metaphysische Prämisse zumindest einen validen Gottesbeweis. Vogt 2005, 91 vermutet, dass Mendelssohn den Bezug auf

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Bestimmung ihren zureichenden Grund, das heist, eine jede Bestimmung setzt eine Bedingung des bestimmlichen Subjects voraus, aus welcher sich begreifen läßt, warum es vielmehr so, als anders bestimmt wird.« (JubA II, 303) Dies gilt auch bei den zufällig erscheinenden Ereignissen, die nicht gemäß des SvW, sondern – auch aus göttlicher Perspektive –, durch die Verknüpfung nach zureichenden Gründen den Status sicherer und notwendiger Ereignisse erhalten. Es ist also zwischen der ›objektiven‹ Gottes- und der ›subjektiven‹ Menschenperspektive zu unterscheiden. »In dem Verstande Gottes ist alles Wissenschaft« (JubA II, 306), der Mensch hingegen kann hier nur wahrscheinliches Wissen erlangen. Mendelssohn diskutiert beide Wissensarten und verteidigt unter Rückgriff auf beide die Geltung des Wahrscheinlichkeitskalküls. Es ist aus diesem Grund auch im gegebenen Zusammenhang auf die Gedanken von der Wahrscheinlichkeit zurückzugreifen.

a) Gottesperspektive In Anschluss an Leibniz bekämpft Mendelssohn die Definition der Freiheit als einer »gänzlich unbestimmten Wahl, in einem aequilibrium indifferentiae« (JubA I, 162). Einige »Weltweise« meinen, unsere Bewegungsgründe sei zwar ein möglicher, aber kein zureichender Grund unserer Handlungen. Denn wären sie es, würde die Handlung nicht aus Freiheit, das heißt hier: gemäß dem Prinzip des »aequilibrium indifferentiae«, also völlig unbestimmt vollzogen, sondern sei festgelegt. Ist aber, so Mendelssohn, Freiheit die völlige Unbestimmtheit, kann die Summe der Bewegungsgründe nicht zureichen, um eine Handlung zu erklären oder, im Falle Gottes, vorherzuwissen. Gott besitze demzufolge keine Präscienz – und darüber hinaus wäre die Geltung des Satzes vom zureichenden Grund empfindlich eingeschränkt, da sich niemals genügend Gründe angeben ließen, um etwas überhaupt zu bestimmen. Mendelssohn wendet nun seine Wahrscheinlichkeitstheorie an, um zu zeigen, welche Konsequenzen eine solche Ansicht nach sich zieht: »Wenn diese Weltweisen die Präscienz solcher Dinge, die von der Freyheit abhangen [also die Determiniertheit aller Handlungen; A.P.] für schlechterdings unmöglich halten; so kan dem Allerhöchsten in Ansehung unsrer zukünftigen Handlungen nicht einmal eine wahrscheinliche Erkenntnis zukommen.« (JubA I, 163) Denn wenn keine letztendliche ein derart umstrittenes Theorem wie den SvG vermeiden wolle; damit ist allerdings nicht erklärbar, warum er ihn dann in der Folge wiederholt und betont nennt. Der darüber hinausgehende Aussage: »Mendelssohns Absicht ist, mit Hilfe psychologischer Begriffe der Wirklichkeit der menschlichen Erkenntnis zu beschreiben, ohne auf metaphysische Annahmen zurückzugreifen.« (ebd., Hervorhebung A.P.) ist im gegebenen Zusammenhang nicht zuzustimmen. Selbst eine streng empirische Darstellung vertrüge sich – ohne die metaphysischen Prämissen, an denen Mendelssohn explizit festhält – ebenfalls nicht mit der vorangegangenen Auseinandersetzung mit Hume, siehe III.1.

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

Quantität an Beweggründen festgelegt werden kann, weil sie unendlich ist und kein Bewegungsgrund (oder Gruppe an Bewegungsgründen) zureichenden Einfluss auf eine Handlung hat, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer Handlung – und zwar auch aus der Gottesperspektive – gleich null. Das Verhältnis der bekannten Wahrheitsgründe zur Gewissheit ist x zur Unendlichkeit. Die bekannten Gründe können – da sie als zureichend für eine Handlung nicht akzeptiert sind – niemals die unbekannten ›Gründe‹ überwiegen, auch für Gott nicht, weshalb in diesem Fall auch seinem Wissen noch nicht einmal wahrscheinliche Sicherheit zukäme. Nun kann man argumentieren, dass eine Präscienz Gottes auch nicht sonderlich interessant ist (v. a. dann, wenn schon aus logischen wie ontologischen Gründen die im dritten Abschnitt der Evidenzschrift vorgelegten Gottesbeweise nicht überzeugten). In einer anderen Lesart zeigt sich das Problem allerdings deutlicher: wenn es niemals einen Grund für etwas gibt, so ist auch der Zusammenhang aller Tatsachen in der Welt nicht bestimmbar; letztlich ließen sich also gar keine beweisbaren Aussagen treffen, da jede Anwendung des SvG umsonst sei. Also argumentierten die Verteidiger des aequilibrium indifferentiae inkonsistent, wenn sie bestimmten Umständen einer Handlung (Umfeld, Leidenschaften, Überlegungen, Charaktereigenschaften) auch nur irgend »einigen Einfluss« auf Handlungen zugestehen. Denn diese Umstände dürften, so führt Mendelssohn aus, noch nicht einmal eine zureichende Wahrscheinlichkeit gewinnen, da immer x gegen Unendlich unbekannte Faktoren entgegenstünden. Folgerung daraus: dieser Freiheitsbegriff muss jeden Einfluss möglicher Bewegungsgründe aufgeben. Entsprechend schließt Mendelssohn mit der rhetorischen Frage: »[…] so geben ich denen Weltweisen, die der gleichgültigen Freyheit zugethan sind, zu bedenken, ob sie auch diese Folgen annehmen können, ohne gewissermassen der Erfahrung zu widersprechen?« (JubA I, 164) Im Zusatz von 1761 wird am Schluss zur Verdeutlichung dem Hinweis auf die göttlichen Eigenschaften (hier: der Präscienz) die »gemeine tägliche Erfahrung« zur Seite gestellt. Aus ihr heraus bietet sich ebenfalls der Schluss auf die Determiniertheit der Handlungen an90: »Wenn es wahr ist, daß man aus dem Charakter und aus der bekannten Denkungsart eines Menschen auf sein Thun und Lassen einen wahrscheinlichen Schluß machen kann; so müssen alle freywilligen Entschließungen eine vorausbestimmte Gewißheit haben; denn was objektive keine determinirte Gewißheit hat, das kann auf keinerley Weise erkannt werden.« (JubA I, 515, siehe auch Evidenzschrift, JubA II, 304 ff.) Mendelssohns Betonung der Wichtigkeit seiner Theorie für die Betrachtung menschlicher Handlungen ist auch deshalb notwendig, 90

Mendelssohn hatte dies nur kursorisch im Vorhergehenden, also auch schon 1756 erwähnt, jedoch nicht weiter ausgeführt, vgl. JubA I, 162, parallel 511 (Hervorhebung A.P.): »Wenn es dem moralischen Charakter eines Menschen nicht wiederspricht [sic], daß wir verschiedene Handlungen, die er vornimmt, eine einzige, oder auch viele besondere Absichten zuschreiben können…«

III.2 Leidenschaft und Meeresrauschen. Die Nutzbarmachung des Gefühls

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da der alleinige Hinweis auf die Unmöglichkeit der »Präscienz Gottes« einen auch angesprochenen Atheisten wenig überzeugt hätte. Wie diese praktisch-pragmatische Erweiterung der Theorie der Bewegungsgründe zeigt, ist darüber hinaus auch die Zuschauerperspektive relevant: die Einschätzung fremder Handlungen nach dem Maßstab der bisher von der betreffenden Person ausgeführten Handlungen, die dem Beobachter erlauben, sich ein Bild seines Charakters zu machen, können auch dem Handelnden selbst Aufschluss über seine ›eigentlichen‹ Motive geben.

b) Menschenperspektive Parallel zur obigen Argumentation, und v. a. in Hinblick auf den 1761 hinzugefügten Schluss, können auch die freiwilligen Entschließungen des Menschen nicht gänzlich von der Gültigkeit des SvG abgehen. Zum einen können sie nichts handelnd realisieren, was logisch unmöglich ist; noch, was einer grundlegenden Geltung des SvG entgegenstünde. Doch ist die durchgängige Verknüpfung der Ereignisse dem Menschen nicht durchsichtig. Eine Unterwerfung unter die durchgängige Verknüpfung ist somit nicht als bewusster Zwang, sondern als ein freiwilliger (letztlich allein konsistent begründbarer) Entschluss zum Bestmöglichen reformulierbar. Willensfreiheit steht dann freilich in einem Spannungsverhältnis zwischen der subjektiven Erfahrung der Zufälligkeit und Bestimmbarkeit des Geschehens durch den eigenen Entschluss einerseits, sowie dem objektiv-metaphysischen Wissen um die Bestimmtheit des Geschehens andererseits. Es ›fühlt‹ sich aber nicht nur so an, dass wir frei sind, sondern, so will Mendelssohn mithilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie zeigen, wir sind es auch: denn wir sind frei, wenn wir Gründe angeben und ihnen folgen können.91 Und dies ist nur dann der Fall, wenn Gründe einen relevanten (also wenigstens wahrscheinlichen) Einfluss auf die Handlungen haben können. Mendels91

In der Abhandlung Die Seele definiert Mendelssohn den Willen als eine »Zuneigung der Vernunft zu einer Sache auf Grund der Erkenntnis, dass der Zweck dieser Sache gut ist« (JubA III/1, 229 f.). So auch in der Notiz »Ueber Freiheit und Notwendigkeit« (JubA III/1, 343–50), derzufolge ein Wille, der von einem gänzlichen Fehlen von Beweggründen bestimmt ist, gerade nicht frei ist, sondern »blindes Ungefähr«. Zur Erläuterung seiner Position, die die Verschiedenheit von Naturursachen und der Ursachen aus eigener Willkür betont, nennt Mendelssohn als Beispiel den Unterschied des Schreibens der Hand und ihres gleichzeitigen Ausdünstens. Letzteres ist in »physischen wirkenden Ursachen« begründet (die nichts mit meiner Willkür zu tun haben), ersteres folgt aus meiner Absicht. »Willkührlich ist also jede Handlung, jede Veränderung, welche die Wirkung irgend einer Endursache ist, oder bei deren Entstehung die Endursache zur wirkenden Ursache geworden ist.« (ebd., 347) Eine Veränderung in der Natur ist dadurch realisiert, dass ich sie zu meiner Absicht erhoben habe. Dadurch wird auch vermieden, dass eine durch Beweggründe bestimmte Handlung zu einer »Art von Mechanik« (ebd., 346) wird. Zum Status der Gründe, die zur Bildung einer Absicht animieren, findet sich hier jedoch wenig.

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sohn argumentiert hier ex negativo: für eine freiwillige Handlung muss auch der Akteur selbst einen zureichenden Grund angegeben können – ansonsten wäre er rein durch Leidenschaften oder eine andere Privation bestimmt. Letztlich wäre der Mensch aber auch, in gewissem Rahmen, für solche Handlungen verantwortlich zu machen: Vor einer Handlung steht eine Entschließung, und sei es die, sich nun nicht vom als gut Erkannten, sondern von einer Begierde leiten zu lassen. Dann mag die Handlung nicht als die Beste verstanden werden, doch liegt der für gut befundene Entschluss vor, sich jetzt einer Begehrung hinzugeben. Die Willensfreiheit bezieht sich allein auf diese Wahl. Wie oben bereits anklang, kann auch die Zuschreibung Dritter begründenden Status haben.92 Aus der Sicht des unendlichen Verstands ergibt sich jede Handlung aufgrund des inneren Zustands des Handelnden, der wiederum dem Handelnden selbst nicht bis ins letzte durchsichtig sein muss. In dieser Hinsicht ist die ›objektive‹ Gewissheit seiner Handlungen auch der Garant der Wahrscheinlichkeit bestimmter Handlungen des Subjekts, die es als freiwillig nach seiner Auffassung des besten Grundes ausführt: denn, sind sie im Wesen des Subjekts (nach seiner Erhaltung und Vervollkommnung in der von Gott als die Beste angesehenen Welt) begründet, so kann in dieser Hinsicht von objektiver Warte aus die Wahrscheinlichkeit der Handlungen als eine Notwendigkeit begründet werden.93 »Was subjective wahrscheinlich ist, muß objective seine ausgemachte Gewißheit haben.« (JubA II, 305) Eine freiwillige Handlung ist damit nicht definiert durch ihre Ungebundenheit, sondern durch ihre prinzipiell rationale Begründbarkeit (»Selbstbestimmung, die 92

Nicht umsonst erinnert dieser Gedankengang an den juristischen Gebrauch von ›Zuschreibung‹; im von Mendelssohn gewählten Beispiel des Verrats deutet sich eine solche Perspektive bereits an. Allerdings hat Mendelssohn, so weit ich sehe, dies nicht zu einer vollständigen Rechtsphilosophie im Sinne einer Begründung von Jurisdiktion ausgeführt. Siehe Kap. IV.3. 93 Vgl. Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz von 1782, JubA VI/1, 33 f. Es kümmert Mendelssohn hier ganz offensichtlich nicht, wie die vorgelagerten Implikationen zum Ge- oder Misslingen einer Handlung aussehen könnten – sei es also eine waltende Vorsehung, oder seien auch alle Handlungen zum Scheitern verurteilt (bspw. allein deshalb, da ihre Wirkungen vergehen, da der Handelnde stirbt und nichts mehr von seiner Handlung hat etc.). Wichtig ist allein der Punkt, dass eine Handlung ausgeführt werden muss, um etwas zu sein. Zwar sei die jeweilige Handlung, nimmt man die leibnizsche Position an, bereits von jeher im Weltlauf vorgesehen gewesen – jedoch wurde zugleich auf die »freyen Entschließung« des betreffenden Handelnden gerechnet (ebd., 34), der aus sich selbst heraus diese Handlung begeht. Im Augenblick der rechten Handlung ist der jeweils ausführende Mensch die »Vorsehung«, beiderlei Intentionen fallen in eins. Sollte aus der Handlung wider Erwarten etwas Schlechtes folgen, sei dies immerhin »ein Beweis, daß Gott nach seiner Allwissenheit, den von dir gewünschten Erfolg nicht für gut befunden haben muß. Du hast immer noch Gutes gethan, indem du deine Kräfte ihrer Bestimmung gemäß angewendet hast.« (JubA VI/1, 34) Das Misslingen ist kein Gegenbeweis zur Vervollkommnungstheorie; auf die Schwierigkeiten dieser Positionen wies schon Kap. I.2 hin; siehe auch Kap. V.1.

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sich aus der Erkenntnis des Guten und Bösen erklären läßt«, JubA II, 306)94. In diesem Sinne ist der Mendelsohn’sche Begriff der Verbindlichkeit ein durchaus ernstzunehmendes Modell. Es wird jedoch zu zeigen sein, dass seine Anbindung an den Gottesbegriff zu stark ist, als dass er als eine Alternative zum Kantischen Autonomiebegriff noch überzeugen könnte. Mit der Betonung des Charakters und der damit einhergehenden Möglichkeit, auch das Handeln Anderer wenigstens in wahrscheinlichen Graden zu bestimmen, argumentiert Mendelssohn zumindest in der Nähe von Hume. »[…] denn wenn sie [die freywilligen Entschließungen] nicht objektive ihre ausgemachte Gewißheit hätten; so würde auch alle Wahrscheinlichkeit in Ansehung derselben verschwinden. Wenn in der Seele eines Tugendhaften nicht die ausgemachte Gewißheit läge, daß er sein Vaterland nicht muthwillig verrathen wird; so wäre solches auch mit keinem Grunde der Wahrscheinlichkeit aus seinem Charakter zu schliessen.« (JubA II, 305) Was Mendelssohn hier nicht sagt, aber mit dem Vorangegangenen (siehe III.1, Abschnitt 1, 258) zusammenhängt: gilt diese rationale Sicherheit des bloß Wahrscheinlichen nicht, hätte Hume mit seiner Theorie der Gewohnheit aus Instinkt doch recht; dann wäre aber alles Geschehen durchgängig ›blind‹ bestimmt und jede metaphysische Freiheitstheorie sinnlos. Gilt die rationale Sicherung der Wahrscheinlichkeitsschlüsse, beweisen wiederum Rückschlüsse von Handlungen auf den Charakter den Wert der Wahrscheinlichkeitstheorie auch im alltäglichen wie moralischen Handeln.95 Auch bei Hume findet sich ein Rekurs auf die Zuschauerperspektive zur Einschätzung des Wertes der Gewohnheit (und damit Wahrscheinlichkeit) für einen Charakter: Jemand fühlt sich frei, ist aber, so Hume, womöglich von der bloßen Leidenschaft, sich als frei zu erweisen, besessen; doch der Beobachter kann seine Handlungen auf seine Charaktereigenschaften, Gewohnheiten etc. zurückführen.96 94

Den stoischen Charakter kann diese Form der Selbstbestimmung natürlich nicht verleugnen, denn immer noch bedeutet dies auch, das Gute aus Einsicht zu tun, selbst wenn es ›objektiv‹ betrachtet bereits vorherbestimmt sein soll. Die zweifache Betrachtungsweise des SvG erlaubt es aber, der menschlichen Erkenntnismöglichkeit ein Eigenrecht zu gewähren. Dass Mendelssohn die Unabänderlichkeit der Vervollkommnung in der immer – auch unbewusst – wirksamen Vervollkommnung aller Wesen allein aus (natürlicher, biologischer) Entwicklung immer stärker betont – siehe dazu seine Position in der Bestimmungsdebatte (I.2) und deren spätere Ausformulierung im Phädon (V.1) – steht auf einem anderen Blatt. 95 Mendelssohn verwendet als Beispiel der Charaktereinschätzung die moralisch relevante Möglichkeit des Verrats; siehe den Schluss des Wahrscheinlichkeitsaufsatzes von 1761, JubA I, 515. 96 Vgl. den 8. Versuch des Enquiry und Mendelssohns Argument im Wahrscheinlichkeitsaufsatz, JubA I, 162. Interessanterweise führt auch Hume, um die Vorhersehbarkeit der eigenen Handlungen zu beweisen, den Beobachter an, der uns unsere Handlungen gerade deshalb zuschreibt, weil sie unserem Charakter entsprechen – Enquiry VIII.1, 72 (Fußnote): »the necessity of any action, whether of matter or of mind, is not, properly speaking, a quality in the agent, but in any thinking or intelligent being, who may consider the action; and it consists chiefly in the determination

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

Die Macht der Gewohnheit nimmt bei Hume die Stelle ein, die Mendelssohn mit der Macht des Grundes zu unterfüttern versucht, dabei allerdings zwischen psychologischen Tatsachen und metaphysischen Prämissen unterscheidet. Dass ein Grund motivationale Kraft hat und haben muss, wir uns aber dessen bisweilen nicht bewusst sind, versucht Mendelssohn durch die universale Geltung des SvG und einer Theorie des ›Unbewussten‹ in ein kohärentes Gesamtbild, das die Geltung der Vernunftprinzipien nicht aufgeben will, zu integrieren. So ist letztlich die Ähnlichkeit der Argumentation von Hume und Mendelssohn nur auf der Oberfläche zu verzeichnen. Als Psychologen konnte Mendelssohn Hume durchaus akzeptieren und damit auf phänomenaler Ebene seine eigene Argumentation reichhaltiger gestalten als Wolff, der nach Altmann (1969, 320) auf die aus dem Charakter einer Person resultierenden Wahrscheinlichkeit gar nicht eingegangen war. Auch die Gleichsetzung verschiedener Typen von Wahrscheinlichkeit, die Mendelssohn im Folgenden vollzieht, ist Humes Überzeugung nah:97

of his thoughts to infer the existence of that action from some preceding objects.« Dies ist, mit empiristischen Modifikationen, der Ansicht Mendelssohns zumindest nah. Wenn wir ohne zureichenden Grund handelten, handelten wir gerade unfrei, weil fremdbestimmt. Zum Unterschied siehe Stanford 2002, 351: »But Hume claims that liberty can only be opposed to constraint and not to necessity, because liberty opposed to necessity would simply amount to the absurd denial of uniformities and consequent inferences in the realm of human motives, inclinations and conduct.« Die »kausale« Verbindung freier Handlung mit unserem Charakter scheint uns lediglich lockerer und weniger stabil und gleichförmig zu sein, als die Kausalität zwischen Blitz und Donner. 97 Es wird vor diesem Hintergrund deutlich, dass sich in dem ›Empiristen‹ Hume und dem ›Rationalisten‹ Mendelssohn in gewisser Weise (ohne Mendelssohns Leibnizianismus zu einem Spinozismus reduzieren zu wollen; eine spinozistische Lesart, vgl. Goetschel 2002, 90 ff. ist dennoch nicht unwahrscheinlich) zwei monistische Denkschulen gegenüberstehen. Hume schreibt im Abschnitt Of Liberty and Necessity im Enquiry über die moralische Dimension der »Gewohnheit«: »when we consider how aptly natural and moral evidence link together, and form only one chain of argument, we shall make no scruple to allow, that they are of the same nature, and derived from the same principles. […] Here is a connected chain of natural causes and voluntary actions; but the mind feels no difference between them, in passing from one link to another: Nor is less certain of the future event than if it were connected with the objects present to the memory or senses, by a train of causes, cemented together by what we are pleased to call a physical necessity. The same experienced union has the same effect on the mind, whether the united objects be motives, volitions, and actions; or figure and motion. We may change the names of things; but their nature and their operation on the understanding will never change.« (Enquiry VIII.1, 70) Mendelssohn spricht ebenfalls von einer Quelle der Verlässlichkeit der Gewohnheit in Bezug auf Erkenntnis wie Handeln. Anders als bei Hume kann man hier nicht von einem naturalistischen Prinzip sprechen, sondern vielmehr ist es die metaphysische Monadenkonzeption, derzufolge die »Bande« der Welt tatsächlich einer Natur sind. Dass damit Natur und Geist dennoch in einem Grund zusammenhängen, macht die Nähe zu einem humeanischen Naturalismus aus. Aus der Perspektive Gottes sind diese Verbindungen realer Natur, eben so wie Hume sie für den Menschen angesetzt hatte. Mendelssohn trennt hier zwischen Gott und Mensch; für letzteren ist die Wahrheit hinter der Gewohnheit allein über die Erkenntnis der Gültigkeit des SvG, der allgemeinen Verbindung der

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»Diese drey Sätze, 1) ein Stein, der nicht unterstützt wird, fällt zu Boden; 2) was einen Eindruck in meine Gliedmassen meiner Sinne macht, das empfinde ich; 3) ich werde meinen Freund, so lange mir meine Sinne bleiben, nicht verrathen; diese drey Sätze, sage ich, sind alle von unstreitiger Gewißheit, denn aus dem Subject läßt sich unter gewissen Bedingungen das Prädicat folgern, und mit Zuverläßigkeit schliessen.« (JubA II, 305) Aber diese umfassende Weltwissenschaft gilt nur für die göttliche Perspektive als sicher; der Mensch steht vor der tiefen Kluft zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, über die ihn bisweilen nur eine »pragmatische Erkenntnis vom Guten und Bösen« (JubA II, 306) heben kann. Die Geltung der Wahrscheinlichkeit als eine »moralische« Notwendigkeit (in herabgestimmter Sicherheit) betrifft allerdings nicht eine Sicht auf die gesamte Welteinrichtung, sondern lediglich die Handlungen, die als freiwillig qualifizierbar sind. Verhalten und Naturabläufe wie Entwicklung sind in diesem Modell unter physischen Notwendigkeiten subsumiert (wobei nach Mendelssohn das Wahrscheinlichkeitskalkül auch und gerade in naturwissenschaftlicher Forschung Anwendung findet). Damit allein ist jedoch das Kriterium einer guten Handlung noch nicht geklärt. Bevor also Mendelssohns Theorie menschlich einsehbarer, handlungsmotivierender Gründe – und der möglichen Fehlurteile darüber – diskutiert werden kann (siehe hier Abschnitt 2), ist ein Blick auf den in der Evidenzschrift entwickelten Beweis der Gültigkeit moralischer Prinzipien zu werfen. Diesen ordnet Mendelssohn der »lehrenden Sittenlehre«, wie er etwas holprig formuliert (JubA II, 315), zu. Ausgehend vom Grundsatz Marc Aurels98, dass die Menschen als Vernunftgeschöpfe die Vernunft und damit die Vernunftgründe gemein haben, die ihnen also ein »gemeines Gesetz« (allgemeines Sittengesetz) vorschreibt, vermutet Mendelssohn eine lediglich graduelle Unterscheidung der Begriffe von Gut und Böse, die sich allein im Grad der subjektiven Einsicht in ihre Gründe differenzieren lassen. Der Beweisgang eines allgemeinen Sittengesetzes kann also von einer Betrachtung der menschlichen Tätigkeiten und Unterlassungen ausgehen, um auf den Grund vorzustoßen, in dem alle Weltbestandteile, möglich. Eine Trennung zwischen Begebenheiten der praktischen und der theoretischen Sphäre bedeutet dies jedoch gerade (ebenfalls) nicht. Allerdings entspricht Humes Gleichsetzung von Notwendigkeit und Kausalität nicht, wie er schreibt, dem Gefühl; vielmehr hat er zeigen müssen, dass das Substrat beider von derselben Art ist (vgl. Stanford 2002, 349). Moralische Notwendigkeit fühlt sich anders an, ist aber, so Hume, seiner Natur nach der Kausalitätsvorstellung gleich – beide entstammen der Gewohnheit, keiner »Kraft« in den Dingen (oder Gedanken). Der gefühlte Unterschied zwischen beiden liegt vielmehr an dem weit verbreiteten Fehler, Kausalität für objektiv, moralische Notwendigkeit für subjektiv zu halten. »Hume must take himself to have established not merely that our experience of necessity is limited to the felt determination of the mind in both cases, but rather that this subjective determination of thought is what necessity itself is (of course, he has repeatedly said just this).« (Stanford 2002, 349) 98 Ich lehne mich dabei an die ausgezeichnete Analyse Altmanns 1969, 356 ff. an.

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Menschen übereinstimmen. Alle menschliche Tätigkeit ist auf ein summum bonum gerichtet, das Mendelssohn in Anlehnung an Wolff ausformuliert, denn sie sind »alle auf die Erhaltung, oder Verbesserung unsers, oder eines andern Geschöpfes, innern oder äussern Zustandes« ausgerichtet (JubA II, 316). Das moralische Naturgesetz lautet demnach: »Mache deinen und deines Nebenmenschen innern und äussern Zustand, in gehöriger Proportion, so vollkommen, als du kannst.« (JubA II, 317)99 Dieses Gesetz soll auch die ›natürliche‹ Ausrichtung der Leidenschaften unter sich begreifen. Ebenfalls ließe sich dieser Satz aus der Natur eines freien Wesens beweisen. Dieses wähle aus möglichen Gegenständen, was ihm gefalle. Was aber sind die Kriterien dieses Gefallens? In der Evidenzschrift nennt Mendelssohn lapidar Vollkommenheit, Schönheit und Ordnung (JubA II, 317); Kriterium ist also die bereits bekannte Einheit des Mannigfaltigen in ihren verschiedenen Ausprägungen (vgl. den elften Brief über die Empfindungen, JubA I, 85/280). All diese Vorstellungen gewährten dem Wesen Lust und könnten deshalb als Bewegungsgründe zum Handeln gewertet werden. Dabei kann die Handlung freilich auch schlecht sein, wenn die Vorstellung des Guten falsch war. Der Mensch könne jedoch nicht eine erkannte100 Hässlichkeit, Unvollkommenheit, Schlechtigkeit zu einem Handlungsgrund machen. Mit der Ausrichtung an der »Lust« hat Mendelssohn nicht eine epikureische Bestimmung des summum bonum geben wollen, sondern betont immer wieder die schon im 1754er Entwurf Von dem Vergnügen und den Briefen über die Empfindungen entwickelte (als angenehm empfundene) Einsicht in die Vollkommenheit als den Grund der »Verbindlichkeit«101 zum moralischen Handeln (vgl. Kap. II.2). Zwar

99

Zu seiner Herleitung siehe Altmann 1969, 357 ff. Ähnlich auch LB 74: 20. Dezember 1759, JubA V/1, 113: Gesetze können durchaus ohne die Voraussetzung, dass ein Gott sei, angenommen werden (Mendelssohn nennt als Beispiele »Naturlehre, Seelenlehre und Meßkunst«). »Warum denn nicht in der Sittenlehre? Es ist wahr, die Vorschriften und Regeln müssen mit Bewegungsgründen verbunden seyn, wenn sie zu moralischen Gesetzen werden sollen. Diese Bewegungsgründe können von einem freyhandelnden Wesen willkührlich mit den Regeln verbunden werden, und in diesem Fall rühren die Gesetze von einem Gesetzgeber her; allein nothwendig ist dieses nicht. Die sittlichen Regeln, welche ihre Bewegungsgründe mit sich führen, sind auch ohne die Betrachtung, daß ein Gott sey, Naturgesetze.« Es gibt ein allgemein gültiges Naturrecht, das aus der Moral fließt – das muss auch ein Atheist zugeben. »[…] wer die Moral durchaus verwirft, der kan niemalen das geringste Recht einräumen.« (ebd., 114) Diese Argumentation lehnt sich direkt an Wolff an, siehe dessen Deutsche Ethik, §§ 12–19. Mendelssohn ist durchaus nicht mit allen Aspekten der Wolffschen Vollkommenheitslehre einverstanden (dazu Altmann 1969, 357 f. und 352 f.). So hat er den Selbstbezug des Interesses an der Vervollkommnung anderer abgelehnt, wie bereits die Analyse in Kap. II.1 aufzeigen sollte. 100 Vgl. alle Fassungen der Rhapsodie, 412 f. und 624 [Lesarten]. Daran hat Mendelssohn also durchgehend festgehalten. 101 JubA II, 320 ff., vgl. Altmann 1969, 358. Allerdings kann doch bezweifelt werden, ob der Begriff der Verbindlichkeit sich tatsächlich mit dem gleichlautenden Begriff der Kantischen Praktischen Philosophie parallelisieren lässt. Vielmehr erscheint dieser Begriff als ein Pendant zur ›Ver-

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herrscht kein physischer Zwang; ist aber eine freiwillige Handlung als »begründbar« definiert, so kann sich letztlich nur die (vielleicht auch vermeintliche) Einsicht in die Vollkommenheit einer Sache als Handlungsgrund anführen lassen. Objektive und subjektive Ebene berühren sich hier – sind aber nicht deckungsgleich. »Die Lust an der Vollkommenheit, welcher Art sie auch sei (innerlich oder äußerlich, seelischgeistig oder körperlich), ist daher zwar ein psychologisches Faktum, aber zugleich in der moralischen Notwendigkeit, die das Wesen der Freiheit darstellt, begründet und daher sittlich.« (Altmann 1969, 359) Reicht dies zur ›Nobilitierung‹ der Lust aus? Dazu ist die Betonung des stoischen Aspekts dieses Gedankens relevant: bei rechtem Licht betrachtet kann nur das Vergnügen machen, was Vollkommen ist. Dieses entspricht der vollkommenen Welteinrichtung – wir müssen dies lediglich angemessen einsehen, dann können wir gar nicht anders, als (wenn die Handlung »frei« sein soll) dementsprechend zu handeln. Aus der Sicht Gottes sind die Menschen als die Werkzeuge seines Wollens den Erfordernissen der allgemeinen Vervollkommnung (und damit dem moralischen Handeln zur Selbst- und Weltverbesserung) zu verpflichten.102 Die Quelle der Normativität ist damit das metaphysische Postulat der Welteinrichtung und dem darüber gebietenden »Willen Gottes« (vgl. Leibniz Theodicée, I § 43 f ). Mit Autonomie im starken Sinne hat Mendelssohns Begriff der Verbindlichkeit nichts zu tun. Er will vielmehr einen fröhlichen Stoiker, der das Gute mit Lust tut, es aber nicht des bloß psychologischen Faktums der Lust wegen, sondern aus begründeter und möglichst immer ›besserer‹ (klarerer) Einsicht. In der 1761er Fassung der Rhapsodie hatte er in dieser Hinsicht bereits den Epikureismus verneint bzw. wie er selbst es ausdrückt, »geläutert« und jede angenehme Empfindung auf eine (verworren vorgestellte) Vollkommenheit zurückgeführt (vgl. JubA I, 404 f., vgl. Altmann 1969, 358). Es ist hier wichtig zu bemerken, dass Mendelssohn im gegebenen Zusammenhang ausdrücklich nicht von der Analyse psychischen Erlebens, sondern von der philosophischen Begründung des Sittengesetzes spricht. In der ausübenden Sittenlehre dagegen spielt das verworrene Lustempfinden als solches durchaus eine wichtige Rolle.103 Phänomenal betrachtet, hat der »geläuterte« Epikureist also sein Bleiberecht in Mendelssohns Welt. bindung‹ aller Wesen unter- und miteinander in der vollkommenen Vorstellung Gottes einer in die Realität gesetzten besten aller möglichen Welten (siehe JubA II, 322). 102 Wichtig ist, dass dieser Anspruch nicht aus der Macht Gottes abgeleitet wird, vgl. JubA II, 320 f. Allein die normative Kraft der Verbindlichkeit zu Gott beruht dennoch auf der Annahme, dass Gott die »Vollkommenheit seiner Geschöpfe« wolle (JubA II, 318). 103 Ein von Altmann 1969, 360 erwähnter Weg, den Begriff der Lust durch denjenigen des »Wohlgefallens« und der (freien) Wahl »aus innerer Würksamkeit« (JubA II, 317 f.) zu ersetzen, scheint hinsichtlich dieser Ebenenunterscheidung nicht deutlich genug zu sein. Immer noch ist aber eine grundlegende Bindung zwischen Emotion und Vollkommenheit im Begriff des Wohlgefallens gegeben.

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Noch einmal: Mendelssohn verteidigt die leibnizianische Theorie, dass es kein Handeln ohne Grund geben könne und damit letztlich jede Handlung als bestimmbar reformuliert werden kann. Die metaphysisch begründete durchgehende Determination auch der als frei empfundenen Handlungen ist aus der Perspektive des Menschen durch die Wahrscheinlichkeitstheorie repräsentiert: der Mensch kann zum einen wahrscheinliche Schlüsse auf die Folgen seiner Handlungen ziehen und sie demgemäß einrichten. Er kann zum anderen über die Beobachtung fremder Handlungen auf den Charakter der ausführenden Person schließen und damit wiederum auch die eigene personelle Konstanz annehmen. Die Alternative scheint Mendelssohn dagegen wenig attraktiv: freie Handlungen als unbestimmte und unbestimmbare Handlungen anzunehmen hieße, von einer Welt auszugehen, in der niemand auch nur einen wahrscheinlichen Schluss auf die Folgen seines Verhaltens wie auch auf die Charaktere anderer Personen ziehen kann. Zugleich streitet Mendelssohn nicht ab, dass viele handlungsauslösende Momente dem Handelnden nicht bewusst sind. Um auch diese zu ›verbessern‹, sie also dem klaren Bewusstsein des jeweils besten Grundes zu unterstellen, reflektiert er in der »ausübenden Sittenlehre« die Bedingungen und Möglichkeiten des dunklen und des klaren und verworrenen Bewusstseins.

2. Die Rolle des Unbewussten In der ausübenden Sittenlehre – und damit der Sicherstellung des tatsächlichen und freiwilligen104 Ausübens des Guten – geht es gerade darum, auch emotionale Beweggründe für diese (richtig gerichtete) Handlung bereitzustellen. Zur Orientierung ist vorangehende Kenntnis der wirklichen Begriffe des Guten vonnöten.105 Was aber sichert seine Ausübung? Nicht der Obersatz (dem Gegenstand der »lehrenden Sittenlehre«), sondern der Untersatz des moralischen Syllogismus liefert hier, so Mendelssohn, die Evidenz und damit auch die Motivation. Dieser repräsentiert die Gewissheit zur moralischen Handlung in der Erfahrung, die auch deshalb so schwer zu erreichen ist, weil bei der Abwägung, ob ein allgemeiner Satz auf einen bestimmten Zustand applizierbar ist, jede Bestimmung dieses Zustandes in Erwägung gezogen werden muss (Nebenumstände, Konkurrenz mit anderen Pflichten etc.) und darüber hinaus wenig Zeit zur Entscheidung vorhanden ist. Mendelssohn zielt hier auf die Etablierung eines Gewissens ab, dem er den Wahrheitssinn an die Seite und die 104

Hier ist die Opposition gegen Rousseaus Freiheitsbegriff deutlich, vgl. II.1. »Man muß die Lehre von Gott, der Welt und der Seele des Menschen wohl begriffen, man muß sich davon überzeugt haben, ehe man sich in der Moralphilosophie einiges Licht versprechen kann.« (JubA II, 321, vgl. Wolff Deutsche Metaphysik, §§ 434, 512, 520) 105

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er beide der praktischen und theoretischen Vernunft gegenüberstellt. Er verbindet damit die an Baumgarten und Wolff anschließende, nahezu nach geometrischer Ordnung vorgehende rationale Auffindung des Sittengesetzes mit der Theorie eines »moral sense«, wie ihn Shaftesbury, Hutcheson u. a. entwickelten. (JubA II, 325).106 »Das Gewissen ist eine Fertigkeit, das Gute vom Bösen, und der Wahrheitssinn, eine Fertigkeit, das Wahre vom Falschen durch undeutliche Schlüsse richtig zu unterscheiden.« (JubA II, 325) Nicht erwähnt wird hier das dritte beigeordnete Vermögen des Geschmacks (vgl. Kap. II.3, Abschnitt 2); es wird im Folgenden auf diese Dreiteilung zurückzukommen sein. Grundlage seiner Überlegungen ist die Lehre vom Menschen. Im LB 233. vom 18. März 1762 benennt Mendelssohn dies mit der »natürlichen Sittenlehre«107: Diese »ist eine Wissenschaft der Menschen, wie sie nach dem rechten Gebrauche der Vernunft seyn solten und könten, und der Gesetze, die am geschicktesten sind, sie der grösten Glückseeligkeit, deren sie fähig sind, theilhaftig zu machen.« (JubA V/1, 502) Eine solche Lehre geht eben gerade nicht von allgemeinen Begriffen aus, sondern konzentriert sich auf den »ursprünglichen Menschen« (JubA V/1, 502, auch 505) und dessen spezifische Ausprägung in der jeweiligen Zeit. »Ohne Kenntnis der Begebenheiten [von Natur und Mensch] können keine Grundsätze festgesetzt werden.« (JubA V/1, 504) Es wird sich jedoch zeigen, dass er dem selbstgesetzten – sollte er diesen Litteraturbrief tatsächlich verfasst haben – Anspruch einer Analyse historischer Begebenheiten nicht gerecht wird. Vielmehr arbeitet er mit dem Bild eines idealtypischen Menschen, dessen Handlungen er mit den Instrumenten der Vermögenspsychologie betrachtet, um die Besonderheiten des unbewussten (oder nur verworren bewussten) Erkennens, Handelns und Empfindens herauszuarbeiten. Letztlich geht es ihm dabei um eine Diskursivierung dieser menschlichen Tätigkeiten, die eine praktisch wirksame Erkenntnis des Guten oder Bösen, oder, in einer Formulierung der Evidenzschrift, eine »pragmatische Erkenntnis« (JubA II, 306), ebenso wie eine bessere Erkenntnis und einen feineren Geschmack liefern sollen. Das dabei zugrundeliegende Menschenbild ist historisch invariant.108

106

Kuehn wertet diese Vorgehensweise als Mendelssohns Auseinandersetzung mit der Idee eines common sense. Alle Wirkungen des Gemütes können auf den Verstand zurückgeführt werden. »But he also set for himself another very important task, namely the explication of how the rational principles are related to the completely different moral sentiments.« (Kuehn 1987, 42) 107 Deren Pendant, die philosophische Sittenlehre, kann man mit der oben genannten »lehrenden bzw. demonstrierenden Sittenlehre« parallelisieren; vgl. ebd., 502 ff. Als Synonyme für die ausübende Sittenlehre nennt LB 62: 18. Oktober 1759, JubA V/1, 97 die »moralische Theorie des Menschen« (Sulzer), »allgemeine praktische Weltweisheit« (Wolff). Insgesamt enthalte die moralische Wissenschaft des Menschen »Kenntniß der Pflichten als ihre Ausübung«. 108 Damit argumentiert Mendelssohn in Anschluss an Maimonides, der die sinnliche und intellektuelle Erkenntnis für historisch gleichbleibend, lediglich die Traditionen und Konventionen

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a) Wahrheitssinn, Gewissen, Geschmack: Versinnlichungsstrategien Die Überlegungen zu einer »praktischen Sittenlehre« beschäftigen Mendelssohn seit Mitte der 1750er Jahre. Dabei sind die Einflüsse Lockes, Humes, Burkes, Shaftesburys und Hutchesons neben Sulzer und Wolff und auch der Ärzte wie Krüger und Haller von großer Bedeutung, ebenso wie der Briefwechsel über das Trauerspiel und die dort eingenommene Gegenposition zu Lessing. Visiert dieser eine Verbesserung des Menschen über eine Verfeinerung seiner Mitleidensfähigkeit an, so äußert sich Mendelssohn angesichts einer Verabsolutierung des Gefühls ohne Rückbindung an verständige Erkenntnis skeptisch. Eine daraufhin ausgerichtete Theorie der ästhetischen Übung der Vernunft sollte dabei eine Lösung bringen, wie mit dem Folgenden zu zeigen ist. Die erwähnten Theorien gaben Mendelssohn allem Anschein nach zumindest in den bei ihnen angeführten Überlegungen und Beispielen einige Anknüpfungspunkte, die eine am Menschen orientierte Reformulierung einer leibnizianischen Psychologie ermöglichten. Das Konfliktpotential bei dieser versuchten Annäherung ist nicht zu unterschätzen; gerade in der Morallehre »prallten die Wolff-Baumgartensche Vernunftethik und die von England eindringende Lehre vom moralischen Sinn oder Gefühl hart aufeinander.«109 Ein anthropologisch orientierter Denker wie Mendelssohn, der nicht allein das abstrakte Vernunftwesen, sondern auch die menschlichen Leidenschaften erklären und nutzbar machen wollte, musste auch seine Ansichten v. a. zur »ausübenden« Sittenlehre überdenken und der Dynamik der Leidenschaften, dem Einfluss des ›Dunklen‹ öffnen.110 Dabei ist seine Haltung ambivalent: diese ›Öffnung‹ ist in seinem Werk keineswegs durchgehend und unwidersprochen zu verzeichnen. Vielmehr versucht er eine Theorie des Ausgleichs zwischen dunkler und deutlicher Vorstellung, zwischen Leidenschaften und Urteilskraft, sowie zwischen emotionaler Entscheidung und rationalem Überdenken. Dies ist in

der Völker als verschieden ansah. Siehe dazu Wenzel 2001, 22 m.w.Vw unter Bezugnahme auf die hebräischen Schriften Mendelssohns in JubA XIV. 109 Altmann 1969, 347. Seine vorangegangene Einschätzung, dass »[d]ie Entwicklung der deutschen Ästhetik durch Sulzer, Mendelssohn und Kant […] sich unter dem Einfluß der von außen her einströmenden Gedanken auf dem Boden der Baumgartenschen Theorie« vollzog, halte ich jedoch für mindestens fragwürdig, wenn man die wichtige Rolle Dubos’ und Burkes bezüglich der Theorie der vermischten Empfindungen, die Überlegungen Addisons, Henry Homes, Gerards und auch die Anleihen an einem platonisch orientierten Enthusiasmus Shaftesburys bedenkt, die allesamt lebhaft in Deutschland rezipiert wurden. Siehe dazu Kap. II.2 und 3. 110 Vgl. J. Heinz 1996, 16: solange sich die Moralphilosophie diesen neuen Strömungen – und damit den verstörenden Beobachtungen am Individuum – nicht öffnete, sondern sich als leitende »Universalwissenschaft« verstand, wurden die beobachtbaren Abwandlungen der Norm in die Literatur abgedrängt.

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den Morgenstunden besonders deutlich. Seine dortige, resumierende Ansicht zum »common sense«, der sich eben gerade nicht als eine Übernahme von den britischen Philosophen, sondern eine eigene, problematische Sonderform eines »nicht-theoretischen Wissens um das Gute«111, Wahre und Schöne zeigt, ist charakteristisch für Mendelssohns gespanntes Verhältnis zur Empirie. Es liegt u. a. aus diesem Grund nahe, neben dem Einfluss der britischen Philosophie auch denjenigen einer ihm näherliegenden Denkrichtung anzunehmen: den der zeitgenössischen Psychologie, die sich umfassend um eine befriedigende Theorie der Sinnlichkeit bemühte. In einer Rezension von Sulzers Abhandlung Kurzer Begrif aller Wissenschaften und anderer Theile der Gelehrsamkeit, worinnen jeder nach seinem Inhalt, Nutzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird (zuerst 1745, 2. Aufl. 1759) wird darauf hingewiesen – und man kann Mendelssohn als Verfasser vermuten – dass Wolff zwar die klaren und deutlichen Begriffe gut auseinandergesetzt hätte, aber die undeutlichen und dunklen Begriffe nur unzureichend abhandelt; dieses Desiderat habe die nun vorliegende Abhandlung zumindest angerissen, indem sie auf die »schnellen Urtheile, welche aus der anschauenden Erkenntnis folgen« (zit. nach JubA V/1, 92; siehe Kap. II.2, 165) eingehe.112 Ebenso die Fragen, warum viele Tätigkeiten weniger durch Aufklärung der Begriffe, als durch Übung verbessert werden, und warum klare und dunkle Geistesoperationen gleichzeitig vollzogen werden können, seien noch zu beantworten. Das Untersuchungsfeld nennt der Rezensent in den Litteraturbriefen – also vermutlich Mendelssohn – die »erklärende Psychologie« (JubA V/1, 92), die es sogar verdiente »von der einzigen Akademie, die eine metaphysische Classe hat [gemeint ist die königlich preußische in Berlin, A.P.], zum Preise aufgegeben zu werden« (ebd.). Genug Material zur Beantwortung einer solchen Frage hätte Mendelssohn selbst fraglos gehabt. Zur Herausbildung dieser Theorie ist die Skizze Von der Herrschaft über die Neigungen von 1756/57, der etwas später zu datierende Entwurf Verwandt-

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Schrader 1984, 12. Die Wurzel dieser ›deutschen‹ Auffassung eines common sense bzw. Gemeinsinns als versinnlichte Verstandesüberlegungen ließen sich auch bei Leibniz nachweisen: »Es sind Ideen des reinen Verstandes, die in den Sinnen nicht ihren Grund, sondern nur die Gelegenheitsursache ihrer Entstehung haben, und die demgemäß strenger Definitionen und Beweise fähig sind.« (Nouveaux Essais, II, 5) 112 Siehe 61. LB: 11. Oktober 1759, JubA V/1, 91 f. (wird bis S. 97, Beschluss des 62. Briefes, fortgesetzt). Die unbewussten Vorstellungen interessierten auch Kant in den 1770er Jahren, wie die Nachschriften der Anthropologie-Vorlesungen zeigen, siehe Brandt/Stark 1997, XXXVI f. mit weiteren Nachweisen. Später scheint er dazu festgestellt zu haben: »Die Entwickelung der dunklen Vorstellungen bei allen unsern Urtheilen ist eigentlich die analytische Philosophie.« (Menschenkunde (1781/82), AA XXV, 869 ff., hier 871) Mit den Mitteln der Analyse hatte sich auch Mendelssohn dem Problem genähert. Wie Kants Kommentar andeutet, hat er so die Besonderheit der Moral außer Acht gelassen, sondern sich bloß der Zergliederung des Gegebenen gewidmet.

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schaft des Schönen und Guten sowie deren Ausformulierungen in den Philosophischen Schriften (in den Hauptgrundsätzen und der Rhapsodie) von Bedeutung.113 Die Akademie hat unter Sulzers Federführung tatsächlich nach dem Einfluss der Empfindungen gefragt. Johann August Eberhard, der auf die Preisfrage von 1775 der Akademie gewann und damit auch Herder ausstach114, spricht in seiner Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens (1776) die Prominenz des Untersuchungsgebiets deutlich aus: »Das wichtigste Studium des Menschen ist der Mensch selbst, seine Neigungen, seine Leidenschaften. Die wichtigsten Beobachtungen, die er über sich selbst anstellen könnte, wären gerade diejenigen, die er über seine Empfindungen und Leidenschaften anstellt, über ihre Entstehung, ihre Verwandtschaft, ihre Umwandlung, Wachsthum und Abnahme; denn davon hängt die ganze Kenntniß unserer selbst, sofern sie uns zu unserer moralischen Bildung, zur Lenkung unseres Willens nützlich seyn kann, am meisten ab.« (ebd., 141) Wie so oft beim Ausdruck einer Zeittendenz gilt diese Aussage vor allem für die dieser Aussage vorangegangenen Jahre; es ist sozusagen ein nachträglicher programmatischer Satz, den Mendelssohn bereits in den 1750er Jahren in Anlehnung an Sulzer unterschrieben hätte. Dieser weitete die ›Tätigkeit‹ des Unbewussten115 entscheidend aus und forderte damit auch Mendelssohn heraus: denn es galten ihm nicht nur einzelne Vorstellungen oder Ideen, sondern auch Urteile als vom Unbewussten beeinflusst oder sogar durchgehend bestimmt. Dem Empfinden kommt bezüglich der Handlungswirksamkeit das Primat zu; es vermag zu bewegen und gewinnt beim Widerstreit mit klaren Vorstellungen immer die Oberhand.116 Zu den klaren und deutlichen Vorstellungen kann sich der Mensch evaluativ verhalten; er hat aber nicht die Freiheit, zu empfinden oder nicht zu empfinden. Deshalb, so Sulzer, ist im Falle einer Kollision die Empfindung in der stärkeren Position: »[…] keine einzige deutliche Idee kann bewegen« (Anmerkungen, 213), wohl aber eine dunkle. Um also die Handlungen des Menschen über den Aufweis der »Spuren des Daseyns der Tiefe der Seele« (ebd.) zu verstehen und zu verbessern, will er in der Analyse innerer Konflikte, Handlungshemmungen, unerklärlichen emotionalen Widerständen, Ambivalenzen und Selbstwidersprüchen die Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Psyche offenlegen. Weit vor Freud hat sich Sul113

Den internen Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie, Handlungstheorie und Ästhetik in Mendelssohns Überlegungen betont auch Altmann 1982, 20; dass dabei dessen Überbetonung des rein quantitative Aspekt nicht recht überzeugen kann, hält er allerdings nicht fest. 114 Dieses zeugt nicht unbedingt von der Qualität von Eberhards Abhandlung, sondern vielmehr von einer wolffianisch ausgerichteten Akademie; vgl. dazu Buschmann 1989b, v. a. 73 und Dies. 2000. 115 Der Begriff soll der Einfachheit halber auch zur Kennzeichnung von Überlegungen verwendet werden, die einen anderen Ausdruck bevorzugten, aber das »Unbewusste« meinten. 116 Rand 2004, 276 weist auf die Anleihen Sulzers bei Humes Assoziationspsychologie hin. Kausalität entsteht als Erfahrung ohne bewusstes Zutun des Geistes: »The mind makes its habitdriven transitions from one idea to the next so quickly that there is no time for reflexion.«

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zer mit Phänomenen wie dem »Freudschen Versprecher« auseinandergesetzt. Nicht nur die »undeutlichen und dunklen Begriffe der anschauenden Erkenntnis«, sondern auch die »besonderen Arten der Verwirrungen des Geistes« (Kurzer Begrif … (1745), § 207) und die »Harmonie zwischen dem Zustand des Leibes und der Seele« interessierten ihn (vgl. Riedel 1994b, 413). Die einschlägigen Titel der kurzen Aufsätze sind in dieser Hinsicht sprechend. In der Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (1751/52) versucht Sulzer noch eine (lose) Anbindung an die Wolffsche Psychologie; dieses bricht aber mit den folgenden Schriften, Erklärung eines psychologisch paradoxen Satzes: Daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und urtheilet (1759), Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bei Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet (1763) und Von dem Bewußtseyn und seinem Einfluße in unsere Urtheile (1764) zunehmend auf. Die Miteinbeziehung des Unbewussten bzw. seine theoretische Untermauerung geht also mit einer, wie Riedel 1994b titelt, »Achsendrehung« in Sulzers Ansichten einher. Hatte er noch in den frühen Schriften versucht, der Macht der Empfindungen durch ihre Intellektualisierung beizukommen, so betont er seit 1763 einen Dualismus zweier Vermögen, dem sich unvermerkt auch eine dritte, beide verbindende Form hinzugesellt (vgl. Kap. III.3).117 Im Fortgang der Abhandlung von 1763 unterstreicht Sulzer die relative Machtlosigkeit der klaren und deutlichen Erkenntnisse, die in allen drei Zuständen der Seele (Denken, Empfinden, Betrachten) gilt. Letztlich werden wir »von Kräften in Bewegung gesetzt, die wir nicht kennen.« (Anmerkungen, 241)118 Diese Bewegungsgesetze zu studieren und sie mit neuen Methoden 117

Vgl. Riedel 1994b, 415. Tetens benennt das Ergebnis des Wandels in seinen Philosophischen Versuchen von 1777: Sulzer nehme »zwo Grundkräfte in der Seele an, Verstand und Empfindsamkeit.« (I. Versuch, Abschnitt 1) Damit ist der Bruch mit dem Bild der Seele als einer einheitlichen Kraft vollzogen. 118 Riedel 1993, 217 nennt dies eine »skeptische Psychologie« und wertet Sulzers Schrift als die Gelenkstelle, aufgrund derer überhaupt Herders Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) als Gegenposition des Rationalismus, nämlich als eine Ableitung aller Fähigkeiten aus dem Empfinden, hat geschrieben werden können. Die Frage der Akademie, auf die Herder mit dieser Schrift reagiert, schien durch Sulzer angeregt worden zu sein. »Denn der Richtungswechsel (wenn man so will, von einer deduktiven zu einer genealogischen Psychologie) wurde erst möglich, nachdem Sulzer die ursprüngliche, von den oberen Seelenvermögen her gedachte Einheit von Erkennen und Empfinden radikal trennte, den auf die Vorstellungsfunktion reduzierten Empfindungsbegriff ad acta legte und so die Voraussetzung dafür schuf, das Phänomen Empfindung und also auch den Aufbau des Seelischen neu zu konzipieren.« (Riedel 1994b, 416 f.) Proß 1994, 133 hat dagegen schon die frühere Schrift, »Untersuchung über den Ursprung…« von 1751/52 einem stahlschen Animismus und damit einer Überwindung der Wolffianischen Wurzeln zugerechnet. Dürbeck 1998, 135 weist in diesem Zusammenhang lediglich auf die »komplexe Anlage« des Textes hin, der beiden Interpretationen gegenüber offen sei, um ihn im Folgenden dem »Wolffianismus«

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wiederum in den Griff zu bekommen, war das Ziel der Sulzers Gedanken folgenden ›Psychologen‹. Es ist dabei sogar von einem gewissen Optimismus auszugehen: denn wenn man die Mechanismen der Psychologie erst begriffen hat, sind nicht nur bestimmte Phänomene erklärbar, sondern auch steuerbar. Die Gefahr der Demagogie, der Beeinflussung und Konditionierung wurde dabei kaum reflektiert; es ist aber im gegebenen Rahmen darauf zurückzukommen (s. Abschnitt 3). Die »Aufmerksamkeit auf das klein Scheinende« hielt sich bis zu Moritz’, von Mendelssohn entscheidend unterstützen Unternehmen des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde, das genau diese klein scheinenden Phänomene und seine unmerklichen Bestandteile in den Blick nahm.119 Mendelssohn selbst wandte sich den Formen des Unbewussten mit seiner Theorie von Wahrheitssinn, Gewissen und Geschmack zu, wobei er jedoch nicht Sulzers Ansicht vom Absolutheitsanspruch der dunklen Ideen folgte. Im gegebenen Rahmen soll vor allem interessieren, wie er sich die Mechanismen der Versinnlichung vorstellte und welche Kriterien er zu ihrer korrekten Ausbildung anwendete. Wie ist der Zusammenhang zwischen Wissen und Handeln, klarer und deutlicher Analyse und dunkler Tätigkeit seiner Ansicht nach beschaffen? In der Skizze Verwandtschaft des Schönen und Guten, in der sich Mendelssohn u. a. mit der Lehre des Schönheits- und Wahrheitssinns nach Hutcheson auseinandersetzt, sind die genannten Vermögen Funktionen, »vermittelst welcher wir ohne deutliche Schlüsse das Wahre, Gute und Schöne gleichsam fühlen«. (JubA II, 182) Alle drei120 sind bezüglich ihres Grades an Klarheit gleich, aber parallel zueinander als Entsprechungen höherer Vermögen im unteren Erkenntnisvermögen angeordnet; sie stehen in der aufgeführten Reihenfolge also dem jeweiligen vernünftigen, klaren und deutlichen Wissen um das Wahre, Gute und Schöne gegenüber. Differentia specifica ist hier lediglich der temporale Aspekt: Sie wirken »nach ähnlichen Regeln; jene langsamer, so daß wir die Verbindung der Mittel-Begriffe wahrnehmen; diese so schnell, daß wir von der ganzen Folge der Begriffe nichts behalten, als Anfang und Ende.« (JubA II, 183) Umgekehrt gilt damit auch, dass diese verworrenen Urteile sich immer »in vernünftige und deutliche Gründe auflösen« lassen (JubA II, 184). zuzurechnen (ebd., 195). Angesichts der internen Verschiebungen in Sulzers Theorie kann man jedoch durchaus von einer Modifizierung des Standpunktes zwischen beiden Abhandlungen sprechen. 119 Das Problem von Moritz’ am individuellen Fall orientierten Vorgehen war freilich, dass er sich in einen Widerspruch zwischen der genauen, vorurteilsfreien Analyse des Gegebenen auf der einen und deren Einpassung in ein rational erklärbares Schema auf der anderen Seite verstrickte; vgl. Osinski 1995, 201–14, sowie hier Kap. I.1, 42–44. 120 Der Bon-sens (Wahrheitssinn) ist dabei dem Fühlen des Wahren zugeordnet, nicht, wie Altmanns Interpretation besagt (vgl. ders. 1982, 23), ein Resultat aus Empfindung und Geschmack. Schon hier taucht damit eine Dreiteilung der Vermögen und ihrer »dunklen« Pendants auf; vgl. Kap. III.3.

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Der temporale Aspekt bewirkt jedoch, dass die Eindrücke der unteren Vermögen nicht in ihrer genauen Zusammensetzung wahrgenommen werden. Die wahrnehmende Seele kann die Menge und schnelle Abfolge der motivierenden Vorstellungen gar nicht bewusst überblicken. »Mit jedem sinnlichen Gefühl strömt ein Meer von Begriffen in unsere Seele. Die Seele denkt, wenn sie einige von diesen Begriffen deutlich wahrnimmt; und sie empfindet, sobald sie sich dem Eindruck überläßt, der sie alle faßt.« (JubA II, 183)121 Prinzipiell betrachtet sind Empfindung und Denken dasselbe, wie auch das wahrgenommene Licht den Strahlenbrechungen, der gehörte Dreiklang einer »Wahrnehmung gewisser Verhältnisse« entspricht (JubA II, 184) – doch in der Wahrnehmung unterscheiden sie sich grundlegend, da im Falle der Empfindung nicht nur die Ratio, sondern der ganze Mensch angesprochen ist, »denn hier hat sich die Empfindung durch alle Nerven vervielfältigt und ist zur Erscheinung geworden« (JubA II, 185). Hier greift Mendelssohn wiederum auf die Theorie der Nerventätigkeit nach Johann Gottlob Krügers Naturlehre (3 Bde., 1740–50) zurück, der ebenfalls eine Verstärkung der Empfindung durch die Wiederholung annahm.122 Dieser emotionale Effekt kann natürlich – bspw. bei der irrtümlichen Verbindung eines Phänomens mit einer sittlichen Forderung – wiederum negativ auf die eigentlich vernunftbestimmten Handlungen und Erkenntnisse wirken. In Analogie zur reinen sinnlichen Lebhaftigkeit gilt auch hier der Grundsatz der menschlichen Psyche: »Die Freyheit vermag unmittelbar nichts über die Sinne.« (JubA II, 184) Dies heißt nicht, dass sich die rationale Überlegung prinzipiell nicht gegen die Empfindung zur Ausführung einer bestimmten Handlung durchsetzen kann, sondern lediglich, dass auch die willentliche Entscheidung ein dem entgegengesetztes Gefühl nicht gänzlich vernichtet. Es kommt also auf eine harmonische Verbindung beider Qualitäten an. Mendelssohns Theorie der Versinnlichung von Urteilen der oberen Vermögen zielt dabei nicht allein auf eine dunkle Anhäufung, sondern auf eine spezifische Form der Verknüpfung von Vorstellungen, wozu er mit der Gewohnheitstheorie ein eigenes Konzept der gerichteten Assoziation zu entwickeln versucht.123 Die verbesserte Wirk121

Ähnlich in den Hauptgrundsätzen: »Man nennet aber eine Erkenntnis sinnlich, nicht bloß wenn sie von den äußern Sinnen empfunden wird; sondern überhaupt, so oft wir von einem Gegenstande eine große Menge von Merkmalen auf einmal wahrnehmen, ohne sie deutlich auseinander setzen zu können.« (JubA I, 430); vgl. Kap. III.1, 286, FN 80 und Kap. III.2, 292, FN 85. 122 Vgl. Naturlehre III, § 81; Dürbeck 1998, 126 weist auf die konzeptionelle Ähnlichkeit dieser Ansicht mit derjenigen in Meiers Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften (1748–50), §§ 120 f. hin. Wichtig ist bei beiden Positionen, dass die Willensfreiheit über der Empfindungsgewalt steht; eine Position, die auch Mendelssohn vertritt, der er allerdings die Notwendigkeit einer Verbindung beider als Bedingung zum glücklichen Leben hinzufügt. 123 Duncan 2003, 57 betont daneben die Rolle der an Locke und Hume anschließenden Assoziationstheorie. Kuehn 1995, 211 weist auf Mendelssohns Anlehnung an eine zumindest humeanisch erscheinende Assoziationstheorie im Sendschreiben von 1756 hin (siehe JubA II, 105, eine Quelle für diese könnte jedoch auch Lockes Essay II, 33 und II, 21, §§ 35 f., 52–65 gewesen sein;

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samkeit dieser »dunkleren« Vermögen gewinnt man demzufolge durch »Häufung124 der Bewegungsgründe« (JubA II, 327), Übung, Verknüpfung mit einer angenehmen Empfindung und zuletzt durch die anschauende Erkenntnis – »wenn man nemlich die allgemeinen Vernunftgründe durch Beyspiele gleichsam in sinnliche Begriffe verwandelt.« (JubA II, 328)125 Die Mechanismen der richtigen Ausbildung von Wahrheitssinn, Gewissen und Geschmack sind in diesem Sinne deckungsgleich – denn sie beschreiben die Operationen126, nicht den Gehalt der ›Erxerzitien‹ und können daher im Folgenden als formal äquivalent besprochen werden. Der Geschmack spielt in dieser Hinsicht allerdings eine Sonderrolle. Zum einen kann ihm kein entsprechendes oberes Vermögen zugewiesen werden, dessen gewohnheitsmäßige Verdunkelung er darstellte – er ist zwar ein analogon rationis, also des Erkenntnisvermögens, jedoch vom Wahrheitssinn in seiner Ausrichtung auf die Empfindung des Schönen unterschieden. Außerdem ist ihm ein spezifischer Bezug zum Genie beigegeben (siehe Kap. II.3, Abschnitt 2). Dies knüpft die Ausbildung des Geschmacks über die genannten vier Momente der ›Versinnlichung‹ hinaus an das Erfordernis der Inspiration; diese ist aber weder erlernbar oder formbar und dementsprechend ›wahrer‹ Geschmack schwer und nur von Wenigen zu erreichen (siehe dazu im Folgenden Abschnitt b). Dass die umfassende Idee dieser Versinnlichung die einer verbessernden Assoziationslehre ist, zeigt auch die Tatsache, dass die vier genannten Aspekte (Häufung der Bewegungsgründe, Gewohnheit, das mit der Tätigkeit verbundene angenehme Gefühl und die anschauende Erkenntnis von der Güte eines anvisierten Zwecks) nicht streng getrennt gedacht werden. Vielmehr deuten sich in den vier Bereichen unterschiedliche Schwerpunkte an: die Häufung der Gründe geht auf die reine Quantität der beteiligten Vorstellungen, die Übung zielt auf eine Verbindung von Vorstellungen nach einer übergeordneten Idee (bspw. dem Klavierspielen), ist also an der Qualität der Vorstellungen zu einem bestimmten Zweck orientiert. Angenehme Empfindungen wiederum haben sowohl mit den körperlichen als auch den ästhetischen Qualitäten einer Vorstellung zu tun, »anschauende Erkenntnis« betont vgl. Altmann 1969, 377), die Mendelssohn dort für eine Theorie der Sprachentstehung nutzt; siehe dazu Kap. IV.1. 124 »Jede Wahrscheinlichkeit, jeder beredende Beweisgrund trägt zu diesem Leben der Erkenntnis etwas bey, hilft seine Energie vermehren […]«, wie Mendelssohn bereits im dritten Abschnitt der Evidenzschrift mit Verweis auf den vierten Abschnitt ausführt, JubA II, 311 f. 125 Vgl. die Ausführungen Sulzers zu einer gründlichen und populären Lehrart im Vorwort der 1755er Hume-Übersetzung. Dort heißt es über die »Gewißheit der gesunden Vernunft«: »Anstatt genauer Erklärungen und Entwickelungen aller Begriffe begnüget sie sich mit einer anschauenden Erkenntniß verschiedener besonderer Fälle, und in ihren Schlüssen sind die Mittelbegriffe nicht so weitläuftig, als in der anderen Art ausgedrückt, weil ihrer viele durch eine schnelle Einsicht hinlänglich dem Verstande einleuchten.« (zit. nach Ed. Klemme 2000, Vorrede unpag.) 126 Krochmalnik 1999, 22 spricht hier, nicht ganz zutreffend und die psychologischen Feinheiten von Mendelssohns Vorgehen völlig übergehend, von »Ritualisierungen«.

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wiederum den Zeitaspekt dieser ästhetischen Qualitäten. Eine Operation des Gewissens soll also schnell vonstatten gehen, sie soll eine sichere Richtung aufweisen und zugleich im Einklang mit den Empfindungen geschehen. Wer ein gutes Gewissen hat, tut das Gute, weil es ihm gefällt, und er irrt selten.127 Wenig verwunderlich ist es, dass Mendelssohns grundlegendes Konzept einer Versinnlichung klarer und deutlicher Erkenntnisse in seiner ersten Formulierung – in dem 1756/57 entstandenen Entwurf Von der Herrschaft über die Neigungen, den er im Zuge des Trauerspielbriefwechsels an Lessing übersandte – noch nicht ganz konsistent ist. In dem Entwurf wendet er sich in vier Abschnitten der Übung128, der Gewohnheit, der anschauenden Erkenntnis und der Illusion zu; die Parallele zu der später in der Evidenzschrift ausgeführten Verbesserung der ausführenden Sittenlehre durch »Häufung der Bewegungsgründe«, Übung, Verknüpfung mit einer angenehmen Empfindung und zuletzt durch die anschauende Erkenntnis (JubA II, 327 f.) ist augenfällig. Wie kann man, so die leitende Fragestellung der Skizze, die »Bewegungsgründe«129 zum Handeln verbessern, wenn man eine unterschiedliche Wirksamkeit der klaren und deutlichen, also vernünftigen Erkenntnis im Gegensatz der im weitesten Sinne sinnlich wirksamen Bewegungsgründe konstatieren muss? Mendelssohn strebt eine Berechnungsmöglichkeit dieser emotiven Kraft an: »Je mehr Gutes in der Vorstellung

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Ein ähnliches Schema findet sich auch – in enger zeitlicher wie auch personaler Nähe – bei Lessing: »Das Ideal der Handlungen bestehet 1) in der Verkürzung der Zeit. 2) in der Erhöhung der Triebfedern, und Ausschließung des Zufalls. 3) in der Erregung der Leidenschaften« (Laokoon, Paralipomena, in: Werke 5/2, 260). In der Abhandlung von der Fabel (1759; v. a. Teil V. »Von dem besondern Nutzen der Fabel in den Schulen«), die Mendelssohn sehr schätzte, formuliert Lessing ein Erziehungskonzept, das wahrscheinlich ebenfalls Mendelssohns Zustimmung fand: »Gott gibt uns die Seele, aber das Genie [hier ist allerdings eher von »learned genius« die Rede, A.P.] müssen wir durch die Erziehung bekommen. Ein Knabe, dessen gesamte Seelenkräfte man, soviel als möglich, beständig in einerlei Verhältnissen ausbildet und erweitert, den man angewöhnet, alles, was er täglich zu seinem kleinen Wissen hinzulernt, mit dem, was er gestern bereits wußte, in der Geschwindigkeit zu vergleichen und achtzuhaben, ob er durch diese Vergleichung nicht von selbst auf Dinge kömmt, die ihm noch nicht gesagt worden, den man beständig aus einer Scienz in die andere hinübersehen läßt, den man lehret, sich ebenso leicht von dem Besondern zu dem Allgemeinen zu erheben, als von dem Allgemeinen zu dem Besondern sich wieder herabzulassen: der Knabe wird ein Genie werden, oder man kann nichts in der Welt werden.« (Lessing, Werke 4, 408) 128 Der erste Abschnitt trägt keine Überschrift, entwickelt aber ein Berechnungsmodell einer schnellen, verworren oder dunkel erkannten Handlungsmotivation. 129 § 1: »Ein jeder Begriff [Vorstellung], der vermöge seiner Beschaffenheit unsern Willen, bestimmen kann zu handeln oder nicht zu handeln, heißt ein Bewegungsgrund.« (JubA II, 149) Er erlaubt die Vorstellung einer Vollkommenheit. In der Abwesenheit dieser Vollkommenheit ist die Stimmung dagegen eine Vermischung aus Lust und Unlust, da die Erinnerung genossen, die reale Abwesenheit bedauert wird. Das Modell der vermischten Empfindungen ist hier greifbar, jedoch noch etwas undeutlich und nicht mit der »inneren« Verbesserung des Rezipienten qua Beschäftigung der Vorstellungskraft, sowie der Trennung zwischen Vorstellung und Gegenstand verbunden.

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der Sache enthalten ist, je deutlicher wir das Gute einsehen, und je weniger Zeit erfordert wird, es völlig zu übersehen, desto größer ist die Begierde, desto angenehmer der Genuß.« (JubA II, 149) In dieser Hinsicht ist sogar eine Handlung wider besseren Wissens erklärbar (vgl. § 5), wenn nämlich die Quantität der dunklen Empfindungen das rationale Urteil überwiegt. Immer ist daran aber ein Primat des Guten geknüpft, nur, dass dieses Gute unterschiedliche Gestalt annehmen kann. Das Böse ›an sich‹ kann man nicht wollen, wohl aber kann eine klare, vernunftgemäße Idee mit einer verworrenen oder gar dunklen Leidenschaft, deren Wirkungen letztlich schlecht sind, streiten. Der »symbolische« Vernunftschluss ist weniger eindrücklich als ein »anschauender Begriff« (in dem die Vorstellungen »schneller« aufeinander folgen, vgl. § 5.2, und damit – man denke an Baumgarten – ein höherer Grad der extensiven Klarheit erreicht wird). Das Handeln wider besseres Wissen wird in ein Handeln aus falschem Gefühl übersetzt.130 Die Unterscheidung von »Gewohnheit« und »Übung« ist in der Skizze einigermaßen unklar. Wenn sie schon »einerley Wirkung« haben (JubA II, 151), sollte Mendelssohn eine Begriffsverwirrung vermeiden. In der Evidenzschrift ist ihr Unterschied ebenfalls minimal; man könnte aber hier von einer stärkeren Betonung der gerichteten Assoziation in der Übung, weniger in der Gewohnheit sprechen. Die reine »Häufung der Beweggründe« in der Gewohnheit ist invariant gegenüber der Qualität oder Richtung dieser Gründe; die Übung dagegen zielt auf ein durch gerichtete Wiederholung immer schneller werdendes und schließlich nur noch dunkel131 bewusstes Ausführen aufeinander bezogener Handlungskomponenten. Sie ist ein durch häufige Wiederholung erlerntes Umwandeln der klaren (zeitraubenden) Erkenntnis in eine nur noch dunkel bewusste Handlungsabfolge. So drückt Mendelssohn es auch 1761 in der Rhapsodie aus: Übung ist ebenso wie Gewohnheit die »öftere Wiederholung einer und eben derselben Handlung«, nur dass bei ihr »die nämliche Handlung mit Fleiß und Absicht wiederholt wird« (JubA I, 417)132. Ebenso hängen in der Skizze (siehe § 8.b) anschauende Erkenntnis und angenehme Empfindung enger zusammen als in der Evidenzschrift: denn die anschau-

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Es ist nicht ganz einsichtig, warum in dieser Hinsicht von einem Stoizismus der Affektvertilgung bei Mendelssohn gesprochen werden sollte (vgl. Bergengruen 2001, 38). Es ist zwar das stoische Ideal der Affektbeherrschung, was im Hintergrund steht – Ziel ist aber nicht ein beherrschter Mensch, sondern einer, der »richtig« fühlt. Diese Emotionen dürfen auch die Stärke von Affekten gewinnen. 131 Zumeist ist von verworrenen Empfindungen die Rede. Allerdings deutet JubA II, 150 in Bezug auf die Zeitebene auch eine weitergehende Verdunkelung an: Vorstellungen können bei schneller Abfolge so weit in ihrer Deutlichkeit herabgemindert werden, dass »öfters gar das Bewußtseyn [von ihnen] aufhört«. 132 Die körperlichen Mechanismen der Gewöhnung will Mendelssohn im Übrigen »den Naturforschern überlassen« (JubA I, 418).

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ende Erkenntnis sei, so heißt es in ersterer, sowohl durch Beispiele133 als auch durch die angenehme Nachahmung in »Erdichtungen« geprägt (vgl. Wolff, Deutsche Ethik, § 373). Dies wird Mendelssohn in der Evidenzschrift trennen: Erdichtungen sind nicht dasselbe wie moralische Exempel in der Fabel und werden allein der »Verknüpfung mit einer angenehmen Empfindung« zugeordnet134 (vgl. Abschnitt b). Soweit ersichtlich, erstrecken sich die genannten Unterschiede jedoch auf Feinheiten der Begründung und Durchführung der Theorie, weniger auf die Sache selbst. Es ist auffällig, wie selbstsicher Mendelssohn in diesem Bereich war: letztlich konnte ihn keine noch so gegenteilig erscheinende Erfahrung von der Gewissheit abbringen, dass der Mensch sein Handeln nach der Vollkommenheit ausrichtet – und sei die Erkenntnis dieser Vollkommenheit auch verworren, und deshalb mitunter falsch. Es ist dennoch zuträglich, wenn diese Vollkommenheit auch sinnlicher Natur ist: »Die verständige Vollkommenheit erleuchtet die Seele, und befriediget ihren ursprünglichen Trieb nach bündigen Vorstellungen. Wenn sie aber die Triebfedern des Begehrungsvermögens in Bewegung setzen soll, so muß sie sich in eine Schönheit verwandeln; die einzelne Begriffe der Mannigfaltigkeit müssen ihre ermüdende Deutlichkeit verlieren, damit das Ganze in desto verklärterem Lichte hervorstrahlen könne.« (Haupt133

Vgl. Wolff, Deutsche Ethik, § 167: »Weil die Exempel uns zu einer anschauenden Erkäntniß, die Vernunfft aber nur zu einer figürlichen bringet […], die anschauende Erkäntniß aber bey vielen einen grösseren Eindruck machet, als die Vernunfft […], absonderlich wenn Lust und Unlust nebst hefftigen Affecten daraus entstehen […]; so richtet man mit Exempeln hier öfters mehr aus, als mit vielen weitläuffigen Vorstellungen, wenn sie noch so vernünfftig sind.« Den Einfluss Wolffs betont Bergengruen 2001, 41. 134 Bergengruen 2001, 44 f. ist darin zuzustimmen, dass das (moral-unabhängige) Illusionspostulat und der Verweis auf die anschauende Erkenntnis durch (moralische) Erdichtungen ein Widerspruch in der Skizze Von der Herrschaft über die Neigungen ist. Wenn man allerdings zugesteht, dass es sich hier eher um eine Ideensammlung handelt, die zugleich die Bereiche der ästhetisch-psychologischen Gesetzmäßigkeiten einer Handlungstheorie (daher die Beispiele und Erdichtungen als anschauende Erkenntnis) und einer Ästhetik (in den ersten Ansätzen zu einer Theorie der vermischten Empfindungen, die den Bereich der Ästhetik vom Gebiet der Moral trennt; wobei nach dem ästhetischen Genuss ein moralisches Raisonnement durchaus erlaubt ist) abzudecken versucht, lässt sich das Dilemma zumindest benennen und zugleich Wege daraus aufweisen. Diese Trennung hat Mendelssohn dann in der 1761er Ausgabe der Rhapsodie deutlich vollzogen, ohne dass damit zugleich die Kunst gänzlich der Moral untergeordnet wird, wie Bergengruen 2001, 45 f. vermutet. Wenn Mendelssohn dort gleichwohl auf den illustrierenden Charakter der Kunstwerke zur Unterstützung und Herausbildung der »anschauenden Erkenntnis« zurückkommt (siehe JubA I, 422 f.), deckt dies nicht das gesamte Feld der Ästhetik ab, sondern zeigt nur einen (möglichen) Anwendungsfall der Kunst für die Moral. Bergengruens durchgehende Vermutung, dass Mendelssohn zuletzt doch die Ästhetik vollständig der Moral unterordnet, ist auch bei näherer Analyse der verschiedenen Fassungen der Rhapsodie nicht zuzustimmen. Die vermischten Empfindungen treten dort bereits explizit 1761 auf (siehe JubA I, 570 f.; vgl. hier Kap. II.2, 182–86) und erfordern ein differenzierteres Verhältnis zwischen »Gut« und »Böse«, als dass ihnen »schön« und »hässlich« (i. S. v. nicht-ästhetisch) parallel gesetzt werden könnten.

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grundsätze, JubA I, 430 f., Hervorhebung A.P.)135 Um wirksam zu werden, müssten also die klaren und deutlichen Erkenntnisse, mit Sulzer gesprochen, in Emotionen umgewandelt werden; Kriterium dieser »Einübung« ist immer die verständige »Vollkommenheit«, in deren Namen lediglich die menschliche Leidenschaftsfähigkeit nutzbar gemacht werden soll. In der Evidenzschrift nähert Mendelssohn Wahrheitssinn und Gewissen – in Bezug auf die Sittenlehre, also im praktischen Gebiet – einander an und betont, weitaus stärker als in der Skizze Verwandtschaft, dass es sich hierbei nicht um unmittelbare Empfindungen handelt, sondern um die Operationalisierung und Emotionalisierung rationaler Schlüsse: »Dieses innere Gefühl, diese Empfindung des Guten und Bösen, Wahren und Falschen, würkt nach unveränderlichen Regeln, nach richtigen Grundsätzen, aber nach Grundsätzen, die durch anhaltende Uebung unserm Temperamente einverleibt, bey uns gleichsam in Saft und Blut verwandelt worden sind.« (JubA II, 325) Ein solcherart verstandener bon-sens kann also gar nicht – entgegen der geäußerten Befürchtung in der Verwandtschaft – gegen die Vernunft streiten, sondern ist die richtig geübte Vernunft, der die vier genannten Mittel zur Emotionalisierung (Gewohnheit, Übung, anschauende Erkenntnis und angenehme Empfindung) sogleich beigefügt werden.136 Damit hat Mendelssohn zugleich das Gebiet 135

»Hier wird […] zum ersten Mal die Lehre vom moral sense ernst genommen, jedoch, wie man sogleich festzustellen in der Lage ist, in einer Weise interpretiert, die die Prinzipien der Schulphilosophie völlig intakt läßt.« (Altmann 1969, 354) 1757 in den Quellen und Verbindungen…, der Vorläuferversion der Hauptgrundsätze, ist dies noch nicht so klar ausgedrückt (vgl. JubA I, 169). Allerdings greift Mendelssohn schon hier auf das Modell der »anschauenden Erkenntnis« (1761: sinnlichen Erkenntnis) zurück, die unmittelbar auf die Sinnlichkeit wirkt und nicht über eine bloß symbolische Erschließung des Dargestellten geschwächt wird. Im Grunde ist die Differenzierung hier aber schon angelegt, denn die nicht-symbolische Wahrnehmung wird gerade als eine solche charakterisiert, die in verworrener Form eine Menge an Begriffen vorstellt. Die genauere Ausformulierung in der späteren Version weist darüber hinaus auf die bessere Fundierung der Theorie der vermischten Empfindungen hin (siehe Kap. II.2). 136 Mendelssohn bindet die Affekte nicht über eine Affektdisziplinierung als ihre Unterdrükkung, sondern »über eher unbewußt wirksame Stratageme, anonyme Mechanismen der Enkulturation« (Riedel 1994a, 112). So soll eine »triebinterne Moralisierung der Empfindungen selbst« geschaffen werden, die jedoch »sich auf die Überzeugung stützt, daß die menschliche Affektnatur den Ansatz zur Tugend bereits in sich trägt, in Spontanempfindungen wie Mitleid und Sympathie (Gellert, Lessing, Schiller u. a.).« (ebd.) Dass die Verbindung zu dieser »ursprünglich guten« Menschennatur nicht immer so direkt zu verwirklichen war, war Mendelssohn jedoch durchaus bewusst, wie seine Überlegungen zur Ästhetik (wenngleich nicht befriedigend lösen, so doch wenigstens) zeigen. Für Kant sah anscheinend das Problem des »common sense« anders aus: »Like most of his contemporaries, Kant also believes that common sense and reason are ultimately reducible to the same principles. His view is very close to that of Mendelssohn on this. But very unlike most of his contemporaries, Kant takes the apparent conflict between common sense and speculative or, for him, »scientific reason« much more seriously. For, he thinks, given the identity of the principles of reason and common sense, this conflict should not occur. But since, in fact, it exists, it must allow of

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einer bloß erklärenden Psychologie verlassen und sich der Moraldidaktik zugewandt, unter deren Vorherrschaft die Versinnlichungsstrategien zu stellen sind. In der Rhapsodie schließlich hat Mendelssohn den Wert einer pragmatischen Erkenntnis aufgrund ihrer Wirksamkeit betont und geht dabei sogar so weit, eine bloß spekulative Erkenntnis, die nicht versinnlicht werden kann, als eine »tote« Erkenntnis aus dem relevanten Wissensgebiet herauszuhalten: »Auf diese Theorie haben die Neuern ihre Lehre von den Fertigkeiten, und von dem Unterschiede zwischen der spekulativen und pragmatischen Erkenntnis gebauet. Eine jede Einsicht, die in das Begehrungsvermögen übergehet, und eine Begierde, oder Verabscheuung wirket, nennet man eine wirksame, oder pragmatische Erkenntnis; die aber in das Begehrungsvermögen keinen merklichen Einfluß hat, wird eine unwirksame, oder spekulative Erkenntnis genannt. Die wirksame Erkenntnis ist eine tätige Triebfeder der Seele, die, wenn sie keinen Widerstand findet, ihre bestimmte Wirkung unfehlbar hervorbringet. Wenn entgegengesetzte Triebfedern der Seele mit einander streiten, und sich einander das Gleichgewicht halten, so verlieren sie beiderseits ihre Tätigkeit, und die Seele gerät in den Zustand der Gleichgültigkeit. Sind aber die Triebfedern auf der einen Seite mächtiger, so neiget sich die Seele auf die Seite der Übermacht, und vollbringet, oder unterläßt eine Handlung, nachdem die Triebe für oder wider dieselbe mächtiger in sie gewirkt haben. Man nennet die Kraft der Erkenntnis, die wirklich zur Ausübung kommt, nach der Analogie der Benennungen in der Mechanik, eine lebendige Kraft; die aber durch den Widerstand in ihrer Tätigkeit gehemmet wird, nennet man eine tote Kraft.[137] Alles dieses kann von selbst, vermöge der Natur unserer explanation. To most of the Germans there appeared to be two alternatives: either common sense and reason do not have identical principles after all, or one (or both) can go wrong at times. The majority of Kant’s contemporaries opted for the second alternative. But no matter which alternative they accepted, philosophy became a questionable enterprise. It became necessary to orient oneself in thinking, and indifferentism seemed to be inevitable.« (Kuehn 1987, 202 f., Hervorhebung A.P.) Mendelssohn sieht dies aufgrund des operationalen Verständnisses des common sense (er wird ja erst über die Übung hergestellt) als kein tiefgreifendes, sondern ein rein praktisches Problem an. Mit der Ablehnung der Kontinuität zwischen Verstand und Gefühl, seit der Inauguraldissertation von 1770 bezieht Kant eine fundamental verschiedene Position. »Die Ablehnung der Kontinuitätsthese charakterisierte das Ende von Kants Suche nach Fixpunkten in der menschlichen Natur und den Anfang seiner auf sie gerichteten Suche in der reinen Vernunft. Dieser Wandel verband sich mit moralischen Erwägungen und mit einer neuen Theorie von Raum und Zeit.« (Kuehn 2004, 221) Dass Mendelssohn diesen Ideen nicht zu folgen vermochte, zeigen seine kritischen Anmerkungen zu Kants Schrift, JubA XXI (im Druck) und der Brief vom 25. Dezember 1770, JubA XII/1, 241–44. Die Kontinuitätsthese ist insgesamt als Voraussetzung für Mendelssohns Theorie der ›Versinnlichung‹ zu werten und konnte deshalb nicht so leicht aufgegeben werden. 137 Ebenso Wolff, Deutsche Ethik, § 169. Es ist aber zu beachten, dass Wolff das Primat der Vernunft hier nicht anzweifelt, vgl. ebd., § 373: der Wille kann allein durch den Verstand, der die »Bewegungs-Gründe« bereitstellt, gebessert werden.

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Seele, in / dem Gemüte vorgehen, ohne daß sich die Seele notwendig dieser gegenseitigen Berechnung bewußt sein müßte. Sie fühlet einen Trieb etwas zu tun, oder zu lassen, sie fühlet auch den Widerstand der entgegengesetzten Begierden und Verabscheuungen, und entschließt sich das zu tun, wozu sie den mächtigsten Reiz verspüret.« (JubA I, 413 f.)138 In der Sittenlehre gelte es also, dieses Potential der unbewusst motivierten Handlungen zu nutzen. In diesem Sinne grenzt Mendelssohn, obwohl er zugleich den Wirkungsbereich der sinnlichen Erkenntnisse auf quasi alle Handlungen erweitert (da die Seele nicht einer Erkenntnis, sondern einem Handlungstrieb folgt), die rationalen Bewegungsgründe von bloßen Neigungen als Triebfedern ab: »Wenn aber die wirksame Erkenntnis deutlich ist; so werden ihre Wirkungen in das Begehrungsvermögen, Bewegungsgründe genennet. Diese Bewegungsgründe haben in der Ausübung nicht selten sowohl mit entgegengesetzten Bewegungsgründen, als mit dunkeln Neigungen, die wir Triebfedern der Seele genennet haben, zu kämpfen. Das Vermögen der Seele, die Bewegungsgründe für und wider eine Handlung zu vergleichen, und sich nach dem Resultat dieser Vergleichung zu entschließen, wird die Freiheit genannt.« (JubA I, 413) Damit muss die Seele auch befähigt werden, unbewusste Berechnungen anzustellen – genau dies sollten die Versinnlichungsstrategien leisten. In gewissem Sinne stört an dieser Konzeption freilich, dass der Terminus der ›Berechnung‹ kaum noch konsistent angewendet werden kann: die Seele kann schon aufgrund der Zeitumstände und der Vorstellungsgrade tatsächlich nicht mehr abwägen, sondern sie wird über die Versinnlichungsstrategien schlicht daran gewöhnt, sich dem antrainierten Verhalten zuzuwenden. Mendelssohns ausübende Sittenlehre geht letztlich darauf aus, Instrumente zur Umwandlung der theoretischen Sittenlehre in »Fertigkeiten«, die zu ihrer Ausführung kein Bedenken mehr benötigen, zu bieten. Letztlich setzt dies den Menschen kaum in größere Freiheit, oder erweitert gar seine Autonomie, sondern garantiert das Zustandekommen guter Handlungen (als bloße Resultate einer Gewöhnung) auch in unübersichtlichen Situationen. Freiheit kann aber durch die oben genannten Verfahren wieder in eine dunkle Empfindung ›zurückübersetzt‹ werden und versichert dann den ganzen Menschen der guten Handlung. Dazu betont Mendelssohn im Folgenden (JubA I, 422 ff.): es kommt bei der Vermehrung der Motive nicht allein auf deren Menge, sondern auch auf deren Gewicht an. Was zur Vervollkommnung, zur Glückseligkeit beitrüge, sei höher zu werten, als etwas, für das lediglich viele (verschiedene) Gründe sprächen. So auch in der Evidenzschrift (JubA II, 325): »Der Zweck der Übung ist […], die moralischen Pflichten unserem Temperament einzuverleiben« – oder, in Anlehnung an die

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Die hier zitierten Überlegungen finden sich bereits in der Version von 1761 und gründen sich auf die genannten Skizzen.

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Abhandlung Ueber das Erhabene und Naive: dem Menschen Grazie zu verleihen.139 Die Evidenzschrift schließt Mendelssohn mit Hinweis auf diese Versinnlichung der Vernunftschlüsse recht optimistisch ab: Ein sittlich solcherart geübter Mensch werde einer »erhabenen Begeisterung« teilhaftig werden. Mendelssohn benennt dies sogar abschließend mit einem »göttlichen Enthusiasmus«, wobei er sich indirekt an die Auffassung Shaftesburys von einem einzig möglichen, sittentauglichen Enthusiasmus, der gerade nicht auf Vernunftvergessenheit, sondern auf absoluter Vernunftverinnerlichung beruht, anschließt (vgl. Kap. II.2, 170 f.). Im Aufklärungsaufsatz von 1784 schließlich werden die Ergebnisse der ausübenden Sittenlehre als ein Teil der Kultur behandelt und die Methode, den Menschen zu moralisch richtigen Handlungen aufgelegt zu machen, als Kultivierung übersetzt (vgl. Altmann 1982, 19). Dies ist jedoch nur ein Aspekt der Kultur; ich komme darauf im gegebenen Zusammenhang zurück (Kap. IV.3). Fest steht, dass Mendelssohn dem »Vermögen, Empfindungen in Vernunftschlüsse aufzulösen, und Begriffe der Vernunft zu versinnlichen« (JubA VI/1, 162) große Wichtigkeit beimisst. Denn wer dieses hinreichend erklärt habe, so sein Votum »Gibt es natürliche Anlagen zum Laster?« (JubA VI/1, 157–62), der habe das Geheimnis zur Erlangung »heroischer Tugenden« (ebd.) gelöst.140 Bei allen Bedenken, die man gegen die Strategien einer »Versinnlichung« hegen kann, da sie sich ebenso zur Manipulation eignen wie den Grundlagen der Konditionierung nahestehen, so ist doch festzuhalten, dass Mendelssohn diese Instrumente als ›Selbstschulung‹ formuliert. Seine Vorbehalte gegen die Eingriffe des Staats in diese Bereiche wird er – wenngleich zuweilen etwas undeutlich – im Jerusalem formulieren. Auch sein Brief »Anweisung zur spec. Philosophie, für einen jungen Menschen von 15–20 Jahren« (1774, abgedr. in JubA III/1, 303–307) bietet keinen Anlass zu der Sorge, dass es ihm um die Aufoktroyierung von Inhalten gegangen wäre. Vielmehr hebt er dort die Notwendigkeit des Selbstdenkens und der kritischen Auseinandersetzung mit skeptischen, spinozistischen und anderen ›gefährlichen‹ Inhalten hervor, die freilich durch vorangegangene Festigung in der ernstzunehmenden Metaphysik der rationalistischen Schule niemals den Boden der »Warheiten« verliert.

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Altmann 1982, 21 weist auf Zusammenhang Schiller – Mendelssohn hin; beide gehen auf Henry Homes’ Elements of Criticism (1762) zurück. 140 »Tugend« selbst definiert er hier als »lebendige thätige und wirksame Erkenntnis des Guten und Bösen« (JubA VI/1, 162), womit er den Aspekt der Erkenntnis und der Handlungsmotivation schlicht ineins setzt.

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b) Der Sonderfall des Geschmacks: »Die Schaubühne hat ihre eigene Sittlichkeit« In diesem Zusammenhang ist Mendelssohns Auseinandersetzung mit dem moralischen Wert einer nicht-moralischen Dichtung – und damit als einem Anwendungsfall seiner Theorie der vermischten Empfindungen – von Bedeutung. Mit ihrer Hilfe will er zeigen, dass der ästhetische Genuss frei ist von moralischen Implikationen (vgl. Kap. II.1, Abschnitt 2, II.2, Abschnitt 2, Kap. II.3). Dies macht zugleich, im Sinne der oben genannten Übung zum Guten, eine Rückbindung des Geschmacks an die Moralität notwendig, die jedoch nicht im Geschmack selbst verortet werden kann. Ein geschmackvoller Mensch muss also nicht moralisch gut sein. Seine Empfindung für das Schöne hat, das hat Mendelssohn wiederholt betont, mit der anschauenden Erkenntnis der Moral wenig zu tun; sie ist moralisch invariant und müsste über andere, der Ästhetik äußerliche Mittel kanalisiert werden. So stellt schon § 10 der Herrschaft über die Neigungen fest, dass sittliche Empfindlichkeit nicht unbedenklich ist, da sie sich »ohne Hülfe der Urtheilskraft, gegen tugendhafte und lasterhafte Neigung gleichgültig« zeigt. (JubA II, 154) Gleichgültig meint hier: sie unterscheidet nicht zwischen den Qualitäten von Neigungen, nur ihren jeweiligen emotiven Graden. Daraus folgt, wie Mendelssohn gegen Lessings Auffassung einer umfassenden Verbesserung des Menschen qua erhöhter Mitleidsfähigkeit festhält: »Wer die Empfindlichkeit eines Menschen vermehrt, hat ihn dadurch noch nicht tugendhaft gemacht, wenn er nicht zugleich seine Urtheilskraft gebessert hat.« (JubA II, 154)141 Deshalb aber ist die Hinwendung zur Kunst (siehe den darauf folgenden Abschnitt »Von der Illusion«) problematisch und macht eine genaue Differenzierung zwischen ästhetischem Gegenstand, ästhetischem Genuss und seinen Folgen notwendig. Auch in der Ästhetik zeigt sich damit ein Nebeneinander von zwei Gefühlsqualitäten: zum einen die der angenehmen Empfindung, die das Wahrnehmen des Schönen (oder auch durch die Erinnerung an das Genie des Künstlers und damit der Darstellung menschlicher Größe) begleitet. Zum anderen ist es das angenehmunangenehme Erschauern und Erschrecken, das eine Koordination von Empfinden und Denken (»Das Urbild ist getroffen, aber es ist nicht das Urbild selbst«) notwendig macht, um als ein Genuss reformuliert werden zu können. Es ist gerade die illusionsbrechende Rolle der Urteilskraft, die jedoch nicht den ästhetischen Genuss gänzlich vernichten darf, sondern ihn in ein »Spiel«142 verwandeln soll, die Men141

Hier ist die Anlehnung an Wolffs Konzept eines verständig geleiteten ästhetischen Genusses deutlich; vgl. ders., Deutsche Metaphysik, §§ 434, 512, 520; siehe dazu Dürbeck 1998, 41–47. 142 Den Begriff des Spiels wird Mendelssohn in den Morgenstunden zuerst aufgreifen: »In dieser Rücksicht [zur Unterhaltung] liebt der Mensch die Erdichtung. Er bildet die Dinge so um, wie sie seiner Neigung gemäß sind, wie sie sein Wohlgefallen und Misfallen in ein angenehmes Spiel setzen.« (JubA III/2, 65)

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delssohn mit seiner ästhetischen Theorie zu begründen sucht (Kap. II.3). So liegt in der Illusionswirkung, wie sie schließlich feststeht, keinerlei moralische Implikation, sondern reine, blitzartig auftretende emotionale Überzeugung, die durch das »Überdenken« und genauere Hinschauen bereichert und hinsichtlich des ontologischen Status des Dargestellten korrigiert wird. Hier hat Mendelssohn die Voraussetzung dafür geschaffen, sich in seiner Illusionstheorie der Folgezeit mit der ästhetischen Empfindung unabhängig von Moralvorstellungen auseinanderzusetzen. Um sein bereits 1755 geäußertes Diktum »Die Schaubühne hat ihre eigene Sittlichkeit« (JubA I, 92) begründen zu können, war dieser Analyseschritt von großer Bedeutung. Mit ihm konnte Mendelssohn allerdings nicht die Kluft zwischen Erkenntnis und Handlung mit der Ästhetik überbrücken, sondern allein benennen. Es war ihm durchaus bewusst, dass die Demonstration, also eine vernunftgestützte Darlegung, zwar zu überzeugen vermag, aber nicht zwangsläufig zur moralischen Besserung verhilft.143 Man weiß, »[…] daß unsere Vernunft in uns selbst nicht allezeit den Meister spiele, daß der praktische Wille, der Entschluß, der in Taten ausbricht, nicht schlechterdings von dem Urteile des Verstandes abhänge, und daß vielmehr etwas in der Seele sein müsse, welches in gewissen Fällen mächtiger als die Vernunft werden […] könne.« (JubA I, 412)144 In der hier zitierten Rhapsodie weist er auch auf den Eigenwert der vermischten Empfindungen auf dem Theater hin. Wie die Analyse dieses Theorieelements gezeigt hat (Kap. II.2, 186–88 und II.3, 196–211), liegt das Primat nicht auf dem Gegenstands-, sondern dem Emotionsbezug zum Rezipienten. Allerdings kann die Wirkung der vermischten Empfindungen indirekt zur Besserung via Leidenschaftserregung beitragen, indem sich der Rezipient seiner erhöhten Vorstellungstätigkeit145 und der Bewunderung des Genies, das ihm diese Freude verschaffte, versichert und sich so »bessert«. Die Voraussetzung, dass sich ausschließlich moralische Inhalte via Empfindung vermitteln lassen, scheitert jedoch – denn durch Empfindung allein wird das Urteilsvermögen nicht vervollkommnet, da noch keine Erkenntnis, also kein Kriterium der Abwägung, vorhanden ist.146 Das heißt, dass die moralischen 143

Goldenbaum 1997, 77 führt diese Ansicht auch auf Spinoza zurück, was auch Mendelssohns eigene Aussage in einem Brief an Lessing (August 1757) stützt. Hier erklärt er, dass er Spinozas Theorie der Affekte für so fruchtbar hält, dass es ein Mangel der »neuern Weltweisen« wie Baumgarten und Sulzer sei, über diese so »hinweg[zu]eilen«. JubA XI, 149. 144 Dies ließe sich mit Wolffs Standpunkt parallelisieren: »Nehmlich die Lust und Unlust nebst denen heftigen Affecten machen einen stärkeren Eindruck in die Seele, als die figürliche Erkäntniß des Guten und Bösen.« (Deutsche Metaphysik, § 503) 145 Unberührt davon ist allerdings, dass sie eine Erhöhung der Vorstellungstätigkeit und damit eine Form der Vervollkommnung bedeutet; doch dass dieses Konzept fragwürdig ist, hat nicht zuletzt die Bestimmungsdebatte gezeigt (vgl. Kap. I.2, auch II.1 und V.1) 146 Vgl. Neigungen, §9b, §10b, 153. Mendelssohn weist hier darauf hin, dass bloß höhere Empfindlichkeit ohne Urteilsvermögen (welches für ihn unstreitig ein höheres Vermögen ist) noch nicht tugendhafter macht (erneut aufgenommen in die Rhapsodie, JubA I, 423). In zwei Briefen an

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Konsequenzen der Schaubühne ohne eine auch verstandesgemäße Besserung der Urteilskraft nicht garantiert werden können – und damit der geübte Wille (in Form des Gewissens) dem Geschmack beigeordnet werden muss, will man das Bild eines das Gute ausübenden und am Schönen Freude empfindenden Menschen aufrecht erhalten. Diese ›Beiordnung‹ oder auch Parallelführung zweier disparater Fähigkeiten ist in Mendelssohns Werk nirgends befriedigend aufgelöst. Erregung der Leidenschaften stellt also nicht per se eine emotionale Verbesserung des Rezipienten dar. Vielmehr wirkt die »Gewalt der Motive« ohne Rücksicht auf ihren Wert. Sittliche Konsequenzen können sich nur ergeben, wenn der Künstler die »Psychodynamik der ›unteren Seelenkräfte‹« (Geyer-Kordesch 1977, 267) in moraldidaktischer Absicht nutzt. Das hat, wie oben erwähnt, auch Mendelssohn gesehen, aber er schließt deshalb nicht wiederum einen äußerlichen moralischen Zweck, den der Dichter zu beachten hätte, an das Theatergeschehen an.147 Vielmehr versucht er, mit der Kombination verschiedener Elemente, die er in der Skizze Von der Herrschaft über die Neigungen zuerst ausgeführt hatte, die letztliche Bestimmung zum Besten im Menschen zu erreichen. Der Verbesserung der Urteilskraft durch Demonstration (auch in Neigungen, § 6, JubA II, 150 f.) werden die emotional wirksamen Elemente der Gewohnheit, Übung, anschauenden Erkenntnis und angenehmen Empfindung an die Seite gestellt. Dies ist jedoch ausdrücklich nicht dem Bereich der Ästhetik, sondern der ausübenden Sittenlehre zugeordnet. Das Gewissen außerhalb der Schaubühne entlastet den ästhetischen Geschmack von der Moral.148 Das dieses Konzept nicht ohne Schwierigkeiten ist, liegt auf der Hand – denn man fragt sich zu recht, wer und wodurch diesen Parallelfall des Geschmacks anhand welcher Kriterien ›trainiert‹. Mit der so ausgeführten Operationalisierung der Vermögen will Mendelssohn auch ihren ›pädagogischen‹ Gehalt betonen: indem Gewissen und Geschmack geLessing 1756/57 weist Mendelssohn darauf hin, dass Empfindungen (in diesem Falle Mitleid) ohne Vernunft auch zu »Untugenden« anleiten könne – vgl. JubA XI, 86 und 102. 147 Allerdings klingt in seiner Skizze Briefe über Kunst eine solche Tendenz der äußerlichen Moralisierung an. »Man muß auf Mittel bedacht sein, den Geschmack zu reinigen, die Empfindung zu veredeln, und überhaupt alle Gemütskräfte zu verbessern. Läßt man aber die Absicht fahren, schreibt man bloß für den Geschmack, und hält man mit einigen unserer Nachbaren die Verbesserungen desselben für den würdigsten Gegenstand unserer Bemühungen; so kömmt man auch in Gefahr, mit ihnen flüchtig, seichte, und mehr Geschmack habende, als vernünftige Leute zu werden.« (JubA II, 167 f.) Ich sehe jedoch nicht, dass Mendelssohn dieses Konzept in seine veröffentlichten Schriften übernommen hätte; es ist über den Status eines bloßen Entwurfs nicht hinausgekommen und deshalb nur bedingt zur Erklärung von Mendelssohns Standpunkt heranzuziehen. 148 Vgl. Segreff 1986, 16: im ästhetischen Genuss ist der Mensch eigentlich frei – wobei dies nur, was Segreff nicht bemerkt, eine negative Freiheit als Abwesenheit von Sachzwängen interpretiert werden kann. Überhaupt scheint Segreff in seinem Aufsatz (auch seine unkritische Interpretation der Bestimmungsdebatte deutet darauf hin) die Spannungen in Mendelssohns Denken zu übersehen.

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trennt werden, aber dennoch das Gespür für das Gute zumindest nach dem Genuss eines Kunstwerks sein Eigenrecht behält, ohne den Genuss in deutliche Empfindungen zu übersetzen, kann die Kunst den Menschen empfindlicher dafür machen, das Richtige zu tun, indem sie Anschauung bietet. »So ist die Kunst nicht nur eine Schule der Weltweisen, da sie es ihnen ermöglicht, die menschliche Seele in heftigen Gemütsbewegungen zu beobachten und ihre Reaktionen zu verstehen, sondern sie formt den Menschen zu einer harmonischen Persönlichkeit, die nicht gezwungen durch die Notwendigkeit der Wirklichkeit oder durch die Gewalt der Triebe handelt, sondern durch eigene freiwillige Entscheidung.«149 Der in der Evidenzschrift genannten »angenehmen Empfindung« kann auch die »vermischte Empfindung« zugeordnet werden, ohne dass dadurch bereits eine moralische Implikation mit angedacht wäre. Vielmehr ist zu diesem Zweck die »anschauende Erkenntnis« vonnöten, die zwar mit der angenehmen Empfindung den Grad der Verworrenheit teilt, aber nicht deckungsgleich ist. Das heißt zugleich, dass der Geschmack in gewisser Weise eine Sonderrolle neben dem Bon-sens und dem Gewissen einnimmt: bei ihm überwiegt die emotionale Wirksamkeit, nicht die Korrektur durch eine Einübung. Die Parallele verstärkt sich erst wieder, wenn Mendelssohn das Genie mit Geschmack zu verbinden sucht: ein Genie, das vom Publikum verstanden werden will, muss seinen Geschmack mit den Regeln der allgemeinmenschlichen Wahrnehmung von Kunst in Übereinstimmung bringen und dabei die Regeln erlernen, jedoch in der Ausübung nur dunkel erinnern. Ungebrochen ist dabei aber die Prämisse, dass das Genie als Disposition allen Regelforderungen vorausgehen muss (vgl. Kap. II.3, Abschnitt 2). Die Beschäftigung mit der Fragen nach dem Übergang von einem Vernunfturteil über das Gute zu dessen Realisierung durch einen Willensentschluss ist seit Beginn von Mendelssohns philosophischer Karriere zu verzeichnen.150 Albrecht (1994, 50) vermutet, dass die Theorie der vermischten Empfindungen die ethische Theorie nicht beeinflusst hat. Dagegen sprechen allerdings die verschiedenen Stufen der Auseinandersetzung mit der Gewohnheitstheorie, sowie mit den ›Beobachtungen‹ der Empiristen, die sich parallel zur Herausbildung der Theorie der vermischten Emp149

Haimberger 1975, 48. Er hat aber nicht genügend betont, dass dazu Mendelssohns Handlungstheorie der ästhetischen Theorie an die Seite zu stellen ist, sondern kehrt zu einer Engführung zwischen Ästhetik und Moral zurück, indem er davon ausgeht, dass das Schöne sozusagen problemlos den Weg zum Guten ebnet (vgl. ebd., 49). Wie das Vorangegangene (Kap. II) jedoch zeigen sollte, ist dieser Weg weder gradlinig noch ohne Hindernisse; und er sollte dies im Interesse einer Autonomie der Ästhetik (im Rahmen einer umfassenden Vervollkommnungstheorie des Menschen, dessen metaphysische Implikationen Haimberger ebenfalls nicht berücksichtigt) auch nicht sein. 150 Albrecht 1994, 50 nennt 1756 als einschneidendes Datum; hier schickt Mendelssohn seine Notizen »von der Herrschaft über die Neigungen« an Lessing, um die bessernde Wirkung im Trauerspiel differenzierter zu diskutieren.

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findungen vollziehen. Aufgrund der verwandten Funktionsweisen beider lässt sich vielmehr von einer Entsprechung des Geschmacks zum Gewissen auf ästhetischer Ebene ausgehen. Beide haben es mit dem Problem zu tun, Vernunft und Gefühl in Übereinstimmung zu bringen und damit wirksam zu machen. In Bezug auf beide spricht Mendelssohn in dieser Hinsicht von einer Trennung zwischen »Vorwurf« und »Gegenstand«: indem das sinnliche Gefühl und deren moralische, epistemologische oder ästhetische Bewertung auseinandertreten, gewinnt die Vermittlung zwischen Gefühl und Vernunft in allen drei Bereichen ein gewisses Gewicht. Zugleich wird damit die Emotion Instrument wie Gefahr. Anders formuliert: der Geschmack, der die Empfindung anders aufnimmt als das Gewissen, nämlich gemäß der Affektsteigerung und Durchdringung, die Mendelssohn mit den vermischten Empfindungen und der Illusionstheorie beschreibt, kann durchaus der Moral (und damit wiederum auch dem Gewissen) widerstreiten. Mendelssohn kann vor diesem Hintergrund nicht, mit Sulzer, für eine Verabsolutierung des Dunklen argumentieren, sondern muss sein Modell einer Ausbalancierung zwischen Sinnlichkeit und Urteilskraft für jeden angesprochenen Bereich verfeinern. Ziel ist für den »praktischen Sittenlehrer« dabei die Ausbildung des ganzen Menschen, der das sittlich Erforderliche nicht nur sicher erkennt und gern tut, sondern dieses auch anmutig und leicht vollbringt – aber es sollte doch ein wirklicher Mensch, kein Engel sein, der sich zugleich auch (in gewissem Rahmen) für die ästhetische Darstellung prima facie schrecklicher Gegenstände begeistern kann. Indem Mendelssohn die sinnliche Seite menschlicher Entschließungen in seine Theorie übernimmt und ihr zugleich einen Beitrag zur Vervollkommnung zuschreibt, wenn diese Sinnlichkeit angemessen geübt sei, sich also Wahrheitssinn, Gewissen und Geschmack herausgebildet hätten, versucht er zugleich das Problem derjenigen Handlungen, die sich gegen die eigene wie fremde Vervollkommnung richten, als ein Problem der falschen Übung und Gewöhnung darzustellen, um die generelle Neigung zur Vollkommenheit zu retten. Was ist aber ›richtig‹ oder ›falsch‹? In einem Bericht über ein Zusammentreffen mit Mendelssohn im Jahr 1776151 verweist auch August von Hennings auf diese Problematik: »Das moralisch Gute gründet Mendelsohn in der Harmonie mit unserer Bestimmung, wobey er die Collisionen zwischen der allgemeinen Bestimmung der Menschen und die näheren, gesellschaftlichen und individuellen einräumen mußte, und gestand, daß in diesen Collisionen die schwierigsten Situationen sind.« (JubA XXII, 162) Abschließend werde ich mich einem Extrembeispiel dieser Kollision zuwenden.

151

Das Schreiben, bei dem es sich eventuell um die Abschrift eines eigenen Briefes handelt, datiert auf den 15. Oktober 1821; abgedruckt aus Hennings Nachlass in JubA XXII, 159–163.

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3. Kann man das Schlechte wollen? »To be or not to be, that is the question«152 Der bewusste Wille, entgegen einem klar bestimmten, hinreichenden Wissen dennoch schlecht zu handeln, so Mendelssohns Credo, ist unmöglich. Vielmehr unterliegt jemand, der falsch oder schlecht handelt, einem Irrtum bezüglich seiner Auffassung der eigenen (und fremden) Vollkommenheit. Das Urteil kann sich in dieser Hinsicht durchaus auf eine mehr sinnliche Komponente beziehen, so auch, dass ein bestimmtes Ziel als erstrebenswert gefühlt wird, ohne dass auf den mit ihm verbundenen Schaden reflektiert worden ist. Die Emotion, das hatte Mendelssohn betont, wirkt motivierend, involviert aber kein Zeitbewusstsein – der Genuss einer Sache wird mit der späteren Reue bezahlt, die aber im Wunsch nach dieser Sache nicht enthalten war. Die Versinnlichungstheorie ging auch in die Richtung, mithife der Gewöhnung eine adäquate Kopplung von Affekt und Gegenstand zu erreichen. Ebenso gilt der Umkehrschluss: wer sich nicht genügend geübt hat, verbindet nach wie vor Schlechtes mit guten Assoziationen oder missachtet die Zeitebene und damit die Konsequenzen von Handlungen, kann nicht die Nebenumstände und konkurrierenden Ziele überblicken bzw. lässt den klaren Entschluss durch eine dunkle, blinde Leidenschaft überstimmen. Was ist nun mit Handlungen, die eklatant an den Interessen der Sinnlichkeit vorbeizugehen scheinen, da sie eben auf die Vernichtung dieser Sinnlichkeit sowie der ganzen physischen und eventuell auch psychischen Existenz des Menschen zielen? Der Selbstmord ist bereits als Problem in den Briefen über die Empfindungen angesprochen worden; Mendelssohn spricht dort angesichts der Mengen der diesbezüglichen Literatur153 auch von einer »verjährten Streitfrage« (JubA I, 92), die dennoch von einigem Interesse sei. Seine Nutzbarmachung zur Illustrierung der Leidenschaften auf der Bühne ist bereits im Zuge der Illusionstheorie angesprochen worden. Doch was ist mit dem realen Selbstmord? Kann ein Mensch seine Vernichtung wollen? Auch hier spricht Mendelssohn von Fehlurteilen, die die Handlung bestimmen, ohne das Faktum des Selbstmords gänzlich aus einer Analyse menschlicher Verhaltensmöglichkeiten auszuklammern. Im anthropologischen Diskurs der Zeit nahm die Selbstmordproblematik einen beachtenswerten Raum ein; sie war freilich bereits seit dem Mittelalter auch schon im religiösen Diskurs präsent.154 Die Beurteilung des Selbstmords hing immer mit

152

Mendelssohn zitiert (und übersetzt) Shakespeare nicht nur in der Rhapsodie, sondern auch in Hinsicht auf den Selbstmord in seinem Brief an Resewitz im Mai 1756, JubA XI, 48 f. 153 Nachweise bei Hartung 1994, und Altmann 1969, 138–42; weitere Nachweise der von Mendelssohn indirekt angesprochenen Schriften ebd. bis S. 183. 154 Vgl. zur Selbstmorddebatte generell Hartung 1994. Mendelssohn taucht in diesem Aufsatz allerdings nicht auf.

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der Bewertung des Verhältnisses zwischen Körper und Seele zusammen, die entweder als ein Herrschaftsverhältnis oder als eine Aufgabe der »Selbstsorge« bzw. der Liebe (caritas) verstanden wurde, und macht ihn zu einem anthropologischen Thema sui generis. Gibt es ein »Recht am eigenen Körper« und damit eine korrespondierende »Pflicht zur Selbsterhaltung«; oder gelten allein physische Gesetze, so dass von irgend gearteten Normen gar nicht gesprochen werden kann? Wurde im Mittelalter vor allem das Herrschaftskonzept hochgehalten und dem Menschen die Pflicht auferlegt, das göttliche Geschenk des Lebens zu bewahren, so wurde der Selbstmord im Zuge der Säkularisation aus anderen Gründen kriminalisiert, die sich vielmehr auf die Verbindlichkeit der vernünftigen Selbst- und Nächstenliebe stützten.155 Zugleich jedoch fanden sich ebenfalls Überlegungen wie diejenigen Montaignes und Rousseaus156, die die Verbindung zwischen der Fähigkeit zum Selbstmord und der Willensfreiheit betonten: Der Mensch ist erst Herr seiner Selbst, wenn er sich zum Selbstmord aus Erwägung entschließen kann. Andere Theorien wiederum, wie prominent die als materialistisch bezeichneten von d’Holbach, Lamettrie und d’Helvétius, leugneten die Eigenständigkeit der Seele per se und mussten deshalb den Selbstmord als aus physiologischen Gesetzen ableitbar erklären. Die vernünftigen Ärzte wiederum versuchten, physiologische und moralische Gesetzmäßigkeiten zu parallelisieren, wobei folgerichtig der Selbstmord als ein Grenzfall zu Erklärungsnöten führte. »Unzer kritisiert die sogenannten ›mechanischen Ärzte‹, die den Einfluß der Seele auf den Körper und damit auch ihre Existenz leugnen. Ebenfalls lehnt er die Meinung ab, daß die Wirkung der Seele auf den Körper physikalischen Gesetzen gehorcht. In der Annahme, daß eine Seele existent ist und nach außen wirkt, diese Wirkung aber nicht erklärt werden kann, obwohl sie als bedingt durch die physische Existenz des Menschen vorgestellt werden muß, offenbart sich der Physiologie ein metaphysischer Abgrund.« (Hartung 1994, 44)

155

Vgl. Hartung 1994, 34 und 38. Dennoch steht der Selbstmord bei den meisten Theoretikern außerhalb des (menschlichen) Gesetzes, da der Selbstmörder sich mit seiner Tat außerhalb der menschlichen Gerichtsbarkeit gestellt habe (vgl. ebd., 39). Von einem »humanen« Standpunkt aus (so Altmann 1969, 149) argumentiert Mendelssohn ebenso: der Selbstmörder entzieht sich der irdischen Gerichtsbarkeit, eine institutionalisierte Leichenschändung o. ä. zur »Abschreckung« befürwortet er aber nicht. Altmann macht diesbezüglich auf die Wurzeln dieser Ansicht in der jüdischen Tradition aufmerksam. 156 Vgl. dazu Mendelssohns Brief an Lessing vom Mai 1761, JubA XI, 207: Rousseaus diesbezüglicher Roman, die Nouvelle Héloïse, habe ihm »gefallen, so gefallen, daß ich Sie um Rath fragen muß, ob ich in der zwoten Auflage von meinen Empfindungen nicht von diesen schönen Briefen Gebrauch machen soll.« Rousseau ist nicht spitzfindiger gewesen, als er, »allein er hat sie [die Selbstmordproblematik] näher ans Herz gelegt, und ich glaube, daß dies die rechte Seite sey, von welcher diese Angelegenheit betrachtet werden muß.« Etwas kritischer klingt da der LB 167, in dem Mendelssohn den Schwulst in der (sonstigen) Darstellung rügt (vgl. Kap. II.3, 212, FN 166 und 224, FN 194).

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Mendelssohn behandelt das Problem offensichtlich aus der Sicht der aufklärerischen Anthropologie in Verbindung mit leibnizianischer Metaphysik, indem er den Selbstmord als ein Extrembeispiel für ein gescheitertes Zusammenspiel zwischen Seele und Körper präsentiert.157 Ihm ist der metaphysische Abgrund zu einem psychologischen geworden. In den Briefen über die Empfindungen hatte Mendelssohn durch die Stimme Euphranors, der wiederum Lindamour zitierte, der den Selbstmord eines Freundes verteidigte158, folgende Überlegung anstellen lassen: »Gesetzt, wir wären zu keiner zukünftigen Herrlichkeit bestimmt; gesetzt unser Daseyn ende sich mit dem gegenwärtigen Leben. Was gewinnt man dadurch wider den Selbsthaß? – Der Tod, sagt man, ist eine gäntzliche Zernichtung, er ist unter allen möglichen Uebeln das größte, und muß nothwendig in der Vergleichung verliehren. O nein, das größte Uebel, das wir nicht fühlen, kann unserm denkenden Selbst erwünschter seyn, als ein Zustand des Bewußtseyns, darin das Uebel das wenige Gute überwiegt. Ein Algebraist würde das Gute in seinem Leben mit positiven, das Uebel mit negativen Grössen, und den Tod mit dem Zero vergleichen. Wenn in der Vermischung von Gut und Uebel nach gegenseitiger Berechnung eine positive Grösse übrig bleibt; so ist der Zustand erwünschter als der Tod. Heben sie sich einander auf; so ist er dem Zero gleich. Bleibt eine negative Grösse; was weigert man sich ihr das Zero vorzuziehen?« (JubA I, 78) Mendelssohn lässt Theokles in Gesprächen mit Eudox die angedeuteten Punkte diskutieren und entlarvt den angeblich rationalen Entschluss, ein als negativ beurteiltes Leben durch Selbstmord zu beenden, als einen Denkfehler.159 Dieser kann auf zweierlei Art erscheinen: zum einen kann sich der zum Selbstmord Entschlossene in einem Irrtum um seine Motivation befinden, die nicht einem Kalkül, sondern der Leidenschaft entspringt. Zum anderen ist das Kalkül selbst fehlerhaft, da es mathematische Größen in die Realität übersetzt, ohne sich um die Vorbedingungen dieses Transfers klar zu sein.

157

In der Paraphrasierung von Lindamours Verteidigung von Blounts Selbstmord im neunten Brief über die Empfindungen (JubA I, 75–80/270–75, der auch 1771 nahezu unverändert bleibt) geht Mendelssohn indirekt auf die in der Geschichte vertretenen Standpunkte ein und nennt sowohl die religiösen als auch die gesellschaftstheoretischen Implikationen; im gegebenen Zusammenhang erscheinen sie jedoch – aus Lindamours Mund – als unzumutbare und unvernünftige Forderungen, was Palemon im Folgenden modifizieren wird. 158 Die Häufung der Quellen scheint auch hier (vgl. das Orakel, siehe Kap. I.2) als ironisches Stilmittel eingesetzt zu sein. 159 Im ersten Gespräch des Phädon, JubA III/1, 45 ff. wird der Selbstmord (gut scholastisch) als eine Störung der göttlichen Harmonie bezeichnet.

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Angesichts der schlichten Tatsache, dass trotz aller Gegenbeweise der Selbstmord dennoch verübt wird, hält Mendelssohn abschließend die Notwendigkeit eines Diskurses über ihn aufrecht und greift hierbei auf die Gewohnheitstheorie zurück. Damit wird auch deutlich, dass Mendelssohn die Methode seiner Philosophie als eine Vorbedingung eines wahren Denkens und Fühlens verstand. Wie im vorangegangenen Zitat gegeben, wurde als Begründung des Selbstmords eine Art Kalkül der im Leben vorhandenen angenehmen (positiven) und unangenehmen (negativen) Aspekte angestellt: überwiegen die negativen Eindrücke, so ist das Leben ›weniger wert als null‹, weshalb der Selbstmord vorzuziehen sei: ›null‹ sei schließlich mehr als ›minus eins‹. Gegen diese Aussage wehrt sich Mendelssohn vehement.

a) formal In den Briefen lässt er Palemon/Theokles zeigen, dass sich dieses Gedankenspiel auf rein mathematische Annahmen stützt. Zusammengefasst, besagt Palemons Kritik dieser Überlegung, die sich auch gegen Maupertuis richtet160, soviel: Da es keine negativen Größen gibt161, sondern diese ein Konstrukt der Mathematik darstellen, die

160

Dazu mit ausführlichen Quellenangaben und Vergleichen Altmann 1969, 85–183. Vgl. dazu Lausch 1993, der nicht nur die historischen Wurzeln der Auseinandersetzung mit dem (mathematischen) Negativen, sondern auch die Entwicklung von Mendelssohns Ansicht dazu nachzeichnet. Als herausragende Quelle für dessen frühe Ansichten nennt er, wenig überraschend, Wolff (Elementa Matheseos Universae, Bd. 1, zuerst 1723, 21730, § 105; vgl. Lausch 1993, 27); in späteren Jahren war die Auseinandersetzung mit Abbt einflussreich, wie v. a. die neu hinzugekommenen Anmerkungen zu den Briefen über die Empfindungen zeigen. Der wichtigste Aspekt der frühen Ansicht wird von Thomas Simpson (1710–61), ein englischer Seidenweber und Mathematiker, so ausgedrückt: »It is evident that a single quantity can never be marked with either of these signs, or considered as either affirmative or negative« (zit. nach Lausch 1993, 27). Bei Wolff: »Sunt adeo quantitates privativae verarum, per quas intelliguntur, defectus; consequenter non quantitates verae […] Defectum per eam quantitatem metimur, quae deficit, & sic intelligiblis evadit.« (Elementa…, § 105) Auch bei Mendelssohn heißen die positiven Größen wirkliche bzw. verae; die negativen fictae (Lausch 1993, 29); an ihrer Unwirklichkeit hielt er auch nach Abbts Einwänden in der Ausgabe der Briefe von 1761 fest. Der Beweis, warum das Produkt zweier negativen Größen eine positive ist, hat Mendelssohn in der erst 1771 eingefügten Anmerkung p), in Ansätzen auch schon in o) zu führen versucht. Dabei hat er sich laut Altmann 1969, 158 ff. an Kants Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen von 1763 orientiert. Kant löst »den Begriff der Opposition oder Entgegensetzung in zwei verschiedene Begriffe [auf ]: in die logische Opposition, bei der von demselben Ding etwas zugleich bejaht und verneint wird, woraus sich ein Widerspruch, ein gar nichts ergibt, und in die reale Opposition, bei der zwei Prädikate eines Dinges derart entgegengesetzt sind, daß wohl das eine Prädikat dasjenige aufhebt, was durch das andere gesetzt ist, aber die Folge dennoch Etwas ist.« (Lausch 1993, 33, vgl. Altmann 1969, 157: plus und minus als verschiedene Modifikationen einer Sache; zum Einfluss Kants 157–60) Ein mathematisch überzeu161

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damit unter spezifischen Vorzeichen jedoch parallel zu den positiven Größen rechnet, ist die Übertragung des mathematischen Modells auf den Menschen und seinen Emotionshaushalt nicht möglich. »Was ist eine negative Grösse? Ein Kunstwort, das die Mathematiker angenommen haben, eine wirkliche Grösse anzudeuten, um welche eine andere verringert werden muß.« (JubA I, 96) Doch ob es nun negative Größen als Privationen gibt oder nicht: Mendelssohn wendet sich hier nicht gegen die Wirklichkeit der Empfindung einer Privation (damit wäre er auch allzu weit von der Realität entfernt), sondern vielmehr gegen den Versuch, die positiven wie negativen Momente eines Lebens zu berechnen, um bei einem möglichen negativen Ergebnis den Selbstmord als ein »Zero« in der Mitte zwischen positiven und negativen Werten als einen dem rein negativen vorzuziehenden Status zu begründen. Letztlich lautet seine Kritik: die Modelle der Mathematik sind nicht auf das Leben anwendbar, sondern bezeichnen eine Operation mit Gegebenen nach eigenen Gesetzen, die keinesfalls, so auch die Evidenzschrift, die Realität der Dinge umfassen. Die Verwendung des »Zero«, und damit die mathematische Berechnung emotionaler Momente des Lebens erhebt lediglich eine im weitesten Sinne metaphorische Redeweise zu einer Wirklichkeit, die sich in der Realität so nicht finden lässt. Solcherart auf einem Kalkül basierend lässt sich der Selbstmord rational nicht rechtfertigen. Zum einen, weil es keine rein negativen Empfindungen gibt; zum anderen, weil über die Natur dieses Zero gar nichts gesagt werden kann. In einem Brief an Resewitz vom 14. Mai 1756 hält Mendelssohn fest, dass das Dasein in einem abstrakten philosophischen Beweis notwendig ebenfalls abstrakt und formelhaft erscheint, und der »Zernichtung« als Gegenpol in dieser Hinsicht zu entsprechen scheint. Dies stelle sich jedoch in der Realität und in Bezug auf einen Einzelfall anders dar. »In der Anwendung auf besondere Fälle, die ich dem practischen Sittenlehrer überlaße, kann es niemahls von allen Vollkommenheiten leer seyn. Wo Mängel sind, da müßen auch Realitäten anzutrefen seyn. Das Gefühl der Schmertzen selbst zeiget auf einen gewißen Grad der Realität, der durch die Unvollkommenheit eingeschränkt, aber nicht gäntzlich aufgehoben werden [kann]; und ich glaube bewiesen zu haben, daß der mindeste Grad der Vollkommenheit, in Vergender Beweis gelang Lausch 1993, 34 zufolge weder Kant noch Mendelssohn. Den Einfluss von Boscovich erwähnt Lausch 1993, 35 ebenfalls; er ist wohltuend kritisch hinsichtlich der Übernahme von Boscovichs Überlegungen in Mendelssohns Theorie, die sich erst 1771 wirklich nachweisen lässt; erst dort akzeptiert Mendelssohn die Realität der negativen Größen, ohne deshalb seine Kritik an der Rechtfertigung des Selbstmords als ein »zero« zu ändern. Eine weitere wichtige Quelle für Mendelssohns Begriff der negativen Größen nach 1763 war ein Abschnitt in Abbts Abhandlung zur Evidenz (Werke 4, 96 f.): »Diese positiven und negativen Grössen sind eigentlich nichts anders, als die Beschaffenheit einer Grösse, die für sie aus ihrer Lage erwächst.« Ob sich Abbt hier in gewisser Weise auch an Mendelssohn anschließt, kann im gegebenen Rahmen leider nicht beantwortet werden. Es ist jedoch zu vermerken, dass in der Forschungsliteratur auf Abbts hier vertretene Ansicht nicht eingegangen wird.

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gleichung gegen eine Zernichtung, unsrer Wahl den Ausschlag geben müße. Nach meinen Begrifen, werden angenehme und unangenehme Empfindungen durch keine bestimmte Gräntzen getrennt, weil beide nichts als relative Begrife sind, die sich von dem kleinsten Grade der Realität in einer langen Reihe bis in das Unendliche erstreken, und die Zernichtung ist ihr Abgrund.« (JubA XI, 48) Die angenehmen wie unangenehmen Empfindungen verhalten sich also nicht, wie schon der vorangegangene Abschnitt zeigen sollte, wie zwei völlig unterschiedliche Entitäten, sondern als Attribute zu einem Subjekt, das von ihnen bestimmt ist. Auch ein nur durch unangenehme Empfindungen bestimmtes Leben ist deshalb nicht per se negativ und kann mit dem Tod aufgewogen werden. Dass diese Rechnung überhaupt angestellt wird, schreibt Mendelssohn der verführerischen Kraft der Leidenschaft zu, die jedoch bei Beurteilung der Tat sowie der Motivation des Täters nicht ins Gewicht fallen darf. »Die Heftigkeit der Leidenschaft, die den zum Selbstmord Entschlossenen foltert, kann uns einiges Mitleiden über sein trauriges Schicksal abnöthigen, aber der Zuläßigkeit seiner Handlung kein Gewicht geben.« (JubA I, 288) Dass ihn die Leidenschaften überwältigen, bewahrt ihn nicht vor dem Vorwurf, dass er sich eines Vergehens (gegen sich selbst) schuldig gemacht hatte – sonst, so Mendelssohn, müsste man auch den Mord aus Affekt erlauben.

b) material Weder kann der Einzelne überblicken, ob sein ganzes Leben tatsächlich als verfehlt zu werten ist, noch kann er vermeintlich altruistisch behaupten, dass sein Tod dem »Ganzen« nütze – denn wie will er dieses Ganze erkennen und seine eigene Existenz oder Nichtexistenz dazu in eine vernünftige Relation setzen?162 Das angeblich rationale Kalkül scheitert also schon allein an der Tatsache der begrenzten Erkenntnisfähigkeit. Wenn es sich auf einen bloß temporär geltenden Eindruck von positiven und negativen Aspekten stützt, so geschieht es nicht aus einer umfassenden rationalen Überlegung heraus, die als allgemeingültig angesehen werden könnte, sondern verabsolutiert einen begrenzten Zustand. Das Kalkül basiert darüber hinaus auf einer Ansicht, die den Selbstmörder per se aller Argumente für einen Selbstmord berauben muss. Implizit stützt es sich nämlich auf die Grundannahme, dass das Wesen der Seele Vorstellungstätigkeit sei, die zwar mit einem positiven oder negativen Index

162

Diese Argumentation erinnert an die religiöse Interpretation: was ist der Mensch, das er sich diese Urteile anmaßt? Doch auch Mendelssohns Kritik an Maupertuis klingt hier an: denn nicht nur kann der Einzelne nicht Gottes sämtliche »Ratschlüsse« über die beste Welt überblicken; er kann sich auch nicht anmaßen, sein Leben als durchweg negativ vorzustellen, wenn er zugleich an einen gütigen Gott glaube; vgl. Altmann 1969, 140.

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versehen werden könne, jedoch immer als Kraftäußerung zu werten sei (auch deshalb ist eine negative Größe in der Vorstellung eine Größe). Was kann eine Vernichtung – oder auch eine mögliche Herabstimmung der Vorstellungstätigkeit durch ein dunkleres Dasein als bloßer Seelenkeim – zur Vervollkommnung beisteuern, wenn sie die erhoffte Befreiung von (wenngleich prima facie als unangenehm empfundenen) Vorstellungen bringt? Wann immer also sich ein potentieller Selbstmörder auf eine Argumentation, die auf eine Vervollkommnung (»besser seyn«, JubA I, 296) hinausläuft, einlässt, müsse er noch den geringsten Grad der Vorstellungstätigkeit ihrem endgültigen Ende vorziehen.163 Gegen das Argument, dass der Selbstmord aufgrund der Vermutung einer »anderen Art der Fortdauer« (JubA I, 298) nach dem Tod zu präferieren sei, führt Mendelssohn das Gesetz der Stetigkeit an: wie kann man sicherer sein, nach der physischen Vernichtung einen anderen Status einzunehmen als denjenigen, den man zum Zeitpunkt des Ablebens innehatte? Er argumentiert hier gegen die Rechtfertigung einer Hoffnung, die sich eher auf Schönfärberei als auf die Beachtung der Weltgesetze stützt. Ein Sich-Verlassen auf die »Güte Gottes« ist hier ebenfalls nicht exklusiv in Anschlag zu bringen, denn diese Hoffnung teilen sie mit denjenigen, die sich auf die Gesetze der Stetigkeit verlassen – nur haben erstere noch weniger wahrscheinliche Gründe164 für ihren Glauben als letztere. Schwerer wiegt darüber hinaus Mendelssohns Hinweis auf die Konstanz des Ich, die sich – wenn von einer Unsterblichkeit ausgegangen wird – über die Grenzen des Todes erstreckt. Wenn dies nicht durch das Gesetz der Verbindung ineinander begründet ist und also sich der Zustand der Seele nach dem Tod in gewisser Hinsicht auf ihren Status vor dem Tod bezieht, so wäre keine Ichkonstanz gegeben. Ist dies der Fall, so ist darüber hinaus der Selbstmord sinnlos, da das jenseitige Fortleben in

163

In seinem Sendschreiben an einen jungen Gelehrten zu B. von 1756 wird Mendelssohn diese Ansicht bekräftigen (vgl. JubA I, 142 f.); später auch, in Anlehnung an Cochius’ 1767 preisgekrönte Abhandlung über die Neigungen, in der Anmerkung (s) der Briefe (vgl. JubA I, 326–30, JubA III/1, 293–96; Altmann 1969, 180 ff.); dort allerdings rügt Mendelssohn noch einen weiteren Punkt: »daß sie des Körpers und seines Einflusses in die Neigungen fast gar nicht erwähnen.« (in einem Brief an Jakob Hermann Obereit vom 13. März 1770; JubA XII/1, 216). Sein Hauptkritikpunkt an Cochius ist, dass dieser versucht, einen allgemein gültigen »Ausdehnungstrieb« zu etablieren, der ihn jedoch zwingt, einen (wenngleich lediglich durch Leidenschaften) bestimmten Wunsch nach Selbstmord in diese Idee zu integrieren (was widersprüchlich ist) oder diesen ex post zu verneinen. Letzteres ginge aber eindeutig an der Realität vorbei. Dieser Kritikpunkt Mendelssohns ist wichtig, um zu verstehen, dass seine Überlegungen bezüglich der rationalen Rechtfertigung des Selbstmords nicht auf Leidenschaften Rücksicht nehmen, diese jedoch zugleich als menschliche Realität nicht gänzlich ausklammern wollen. 164 Wie sich schon in den Notizen Von den ohngefähren Zufällen von 1753 andeutete, macht Mendelssohn hier von der Wahrscheinlichkeitstheorie (in einer noch unausgearbeiteten Form) als Argumentationshilfe Gebrauch.

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irgendeiner Form an den Zustand vor dem Selbstmord anknüpft: eine Verbesserung oder gar Ausflucht kann er also nicht darstellen. Mendelssohns Fazit aus diesen Überlegungen: Letztlich kann Motivation zum Selbstmord nur der Affekt sein. Warum sollte man dann überhaupt noch rational über den Selbstmord diskutieren, noch dazu, wenn man denjenigen, der von seiner Notwendigkeit überzeugt sei, argumentativ nicht erreichen könne? Mendelssohns Versuch, den Selbstmord nicht in Form einer Abhandlung, sondern in Form eines Dialogs und hinzugefügter Bemerkungen zu diskutieren, zeigt die dritte Ebene seiner Überlegungen an: er wollte nicht durch ein vernunftgestütztes Raisonnement, sondern auch durch eine ansprechende Einkleidung überzeugen. Dabei mischt er die rationale mit der emotionalen Ebene: die Möglichkeit des bloß passiven, aber ansprechenden Nachvollzug des Dialogs, und den aktiveren Part beim selbständigen Überdenken der Anmerkungen, sowie der Durchdringung der unterschiedlichen Argumentationsebenen der dargestellten Positionen. Dass auch Mendelssohns Darstellung ihre Schwächen hatte, zeigt bspw. die Kritik Willichs (in einem Brief von Johann Georg Müchler von Ende Oktober 1755, siehe JubA XII, 525–31) und Resewitz’ (JubA XI, 45–48). Mendelssohn versuchte ihr in seinem Sendschreiben an einen jungen Gelehrten zu B. (zuerst in den Vermischten Abhandlungen und Urtheile über das Neueste in der Gelehrsamkeit. Zweyter Theil. Berlin 1756, 278–96; JubA I, 135–46) zu begegnen. Seine Argumentationen in den Briefen seien durchaus nicht geeignet, einen zum Selbstmord Entschlossenen von seiner Tat abzuhalten; dies sei schon deshalb nicht möglich, weil die Darstellung der Gedanken an die dargestellten Individuen angepasst worden und dementsprechend ›einseitig‹ gefärbt seien. Der Leser müsse also bereit sein, sich auf das Dargestellte und den Wechsel der Perspektiven einzulassen – so viel Abstand könne ein Selbstmörder, der seinen Entschluss längst gefasst hat, nicht aufbringen. Durch die Durchbrechung der Argumentation mithilfe von bestimmten Charakteren hätte er, Mendelssohn, vielmehr versucht, den Argumentationsgang lebhafter und eindrücklicher zu gestalten – aber nur für diejenigen, die sich auf den lehrreichen Genuss einer solchen Darstellung einlassen könnten. Wenn die Rezipienten sich solcherart auf den dargelegten (oder: dargestellten) Gedanken, dass – und warum – der Selbstmord eine Verletzung des Naturrechts und deshalb verboten sei, einließen, ihn öfters überdächten und mit eigenen Argumenten anreicherten, so würden sie mit der Zeit eine Abneigung gegen den Selbstmord entwickeln. Mendelssohn benutzt hier die oben analysierte ›Versinnlichungstheorie‹, um seine Ansicht zu stützen. Nicht für den Affekt sei seine Betrachtung geschrieben, sondern für die langsame, aber unterhaltende Überlegung (JubA I, 138). Sein Credo: »daß die trockenste Demonstration einen merklichen Einfluß auf das menschliche Herz haben kann, wenn sie durch eine ununterbrochene Gewohnheit, die untern Seelenkräfte auf ihre Seite bringet.« (JubA I, 139) Probates Mittel gegen den Selbstmord ist eine frühe Prophylaxe: wenn

III.2 Leidenschaft und Meeresrauschen. Die Nutzbarmachung des Gefühls

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überhaupt, ist seinen Anhängern nur über den Dialog, das »sokratische« Bloßstellen falscher Theorien beizukommen. Daran anknüpfend lassen sich seine Theorien der Versinnlichung von Vernunftschlüssen auch als ein Rettungsversuch für Gefährdete verstehen. Ist der Selbstmörder erst einmal von der ›Richtigkeit‹ seiner Tat überzeugt, ist jede Argumentation ohnehin sinnlos. Gedanken über den Selbstmord gewinnen damit eine vorbeugende Funktion, die das Aufkommen realer Selbstmordgedanken überhaupt verhindern sollen. Einer überaus packenden und leider auch zur Nachahmung anregenden Beschreibung des Selbstmordes seiner Zeit, nämlich Goethes Werther, soll Mendelssohn im Übrigen durchweg kritisch gegenübergestanden sein.165 Diese dichterische und im schlimmsten Sinne überzeugende Leistung konnte der Pädagoge Mendelssohn nicht gutheißen, selbst wenn der Psychologe Mendelssohn sie hätte nachvollziehen können.

Schluss: Der Mensch tut das Beste. Mendelssohn war sich der Wahrheit der von ihn verfochtenen praktischen Lehren – v. a. in der Version, wie sie Wolff vorgebracht hatte – durchaus sicher. »Ich glaube dieses auf eine unumstößliche Art dargethan zu haben, und zwar unabhängig von allen Systemen und Meynungen, blos aus allgemein angenommenen Grundsätzen.« (JubA I, 231) Diese Überzeugung hielt bis zum Ende seines Lebens. Am 26. April 1785 schreibt er an Johann Christoph Schwab: »Die Materie von der Freiheit und Nothwendigkeit scheint mir völlig erschöpft zu sein. Man hat genug in der Sache replicirt und duplicirt. Auch hier wäre es Zeit, einmal die Acten zu schließen.« (JubA XIII, 278)166 Was er dieser Theorie hinzufügte, war seiner Ansicht nach die Verbesserung ihrer Evidenz und die Nutzbarmachung ihrer Ergebnisse auf psychologischem Gebiet. Was ist der Wert von Mendelssohns Überlegungen in historischer Hinsicht? »Moses Mendelssohn hat seine entschiedene, nicht selten höchst subtil, ja raffiniert begründete Aufwertung sublimierter Vergnügungen, durch die er in der Geschichte der ästhetischen Anthropologie der Deutschen einen so bedeutsamen Platz behauptet, gegen die festgefügten Traditionen der jüdischen, der christlichen und selbst der pantheistischen Ethiken rigoroser Entsagung nicht zuletzt dadurch gesichert, daß er an

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Vgl. Altmann 1969, 151 f. (siehe dort die weiteren Nachweise) mit Verweis auf eine Episode, in der Mendelssohn als Mahner und Kritiker bezüglich der schlechten Folgen von Goethes Roman auftritt und angeblich sogar das Werk aus dem Fenster wirft. 166 Man sieht auch hier: Mendelssohn hat Kants Behandlung dieser Fragen in der KrV, die auch Mendelssohn ein neues »Licht« hätten geben müssen, nicht zur Kenntnis genommen.

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

deren Verdikten über grobe, jeder diskursiven Regulation ermangelnden Sinnengenüsse unnachgiebig festgehalten hat.«167 Er äußerte jedoch nicht nur, wie Gleissner meint, »Verdikte«, sondern versuchte, eine psychologische Erklärung für irrationale Tendenzen zu liefern. Mendelssohns Überlegungen zur Sinnlichkeit und ihrem Wert für Erkenntnis und Willen dienen also durchaus nicht der reinen Apologetik der Sittenstrenge. Vielmehr hat er zu zeigen versucht, dass die Empfindungen, die dunklen Abgründe der Seele und das seltsame Gefallen an grausamen Gegenständen einen Eigenwert in einer spezifisch menschlichen Sittlichkeit haben, die sich gerade dadurch auszeichnet, diese dunklen Gebiete in sich aufzunehmen. Das Konzept von Mendelssohns Psychologie ist dabei an ein bestimmtes Menschenbild gebunden, das die scheinbar widerstrebenden Seelenäußerungen zu einer Einheit verbindet, indem letztlich jede Vorstellung auf eine klare und deutliche Vernunftidee – zumindest potentialiter – zurückführbar ist. Die Lust an der Einsicht in das Beste, die den so charakterisierten ›fröhlichen Stoiker‹ auszeichnen soll, muss dabei allerdings vorausgesetzt werden. In diesem Sinne nähert er sich dem Problem der schlechten Handlungen auf einem entgegengesetzten Weg wie Sulzer (der einen Dualismus von Empfinden und Erkennen verfocht, s. o.), um trotzdem zu einem ähnlichen Ergebnis zu kommen. Sulzer fordert in seiner Ästhetik eine Emotionalisierung, um zugleich deren Moralisierung zu ermöglichen. Mendelssohn wiederum will dem ursprünglich immer schon Vernünftigen und Moralischen in einer ›Versinnlichungsoperation‹ zu einer verbesserten Wirksamkeit verhelfen, ohne die reinen Affekte, die die Schaubühne erregt, dabei vollständig in diese ein- und ihr damit unterzuordnen. Riedel (1994b, 428) konstatiert, dass der Optimismus des Ästhetikers Sulzer in seltsamen Gegensatz zu seinem Pessimismus in der Psychologie steht. Wenn man jedoch bemerke, dass das in der Psychologie entdeckte Primat der Empfindungen noch nichts über deren Nichtformbarkeit besagt, sondern vielmehr nahelege, dass man lediglich vom Gebiet der Erkenntnis hin zu den Empfindungen wechseln müsse und diese auch beherrschen könne, sobald man ihre Funktionsweise kenne, erklärt sich diese Unstimmigkeit. Mit Sulzers Enthusiasmus hinsichtlich der Empfindungen wird seine Ästhetik

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Gleissner 1988, 106. Problematisch bei Gleissners Einschätzung der Rolle des Körpers in Mendelssohn Philosophie ist allerdings, dass er im Folgenden allein auf den Phädon eingeht, in der Mendelssohn ausdrücklich (angeblich aus formalen Gründen) die dort an Platon anknüpfende, vorherrschende Leibfeindlichkeit nicht durchbricht. Dies übersieht jedoch die philosophische Grundlegung menschlicher Psyche und Physis in den anderen Schriften, die Mendelssohn mit dem Phädon durchaus nicht widerrufen hatte. Hinsichtlich Gleissners Berücksichtigung der Bestimmungsdebatte ist diese Kritik jedoch einzuschränken. Die dort vertretene »komplizierte anthropologische Konstruktion« spreche vielmehr von einer »verzehrende[n] Sehnsucht nach dem ganz Anderen« und deren Verklammerung mit »dem Vertrauen in die Vorsehung« (Gleissner 1988, 111).

III.2 Leidenschaft und Meeresrauschen. Die Nutzbarmachung des Gefühls

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unverhofft »zu einer Theorie der psychischen Manipulation« (ebd., 429). Dasselbe Problem steht auch, ungelöst, im Hintergrund von Mendelssohns Theorie der Gewohnheit. Allerdings ergibt sich bei ihm die Moralisierung erst im Zusammenspiel von Anschauung und Überlegung in der Illusion und ihrer Durchbrechung. Die Ästhetik ist damit eine Vorstufe und Zutat zur Moral, nicht schon deren Erfüllung. Ob darüber hinaus seine Theorie des Zusammenspiels zwischen Erkenntnis, Wille und Empfindung tatsächlich in ein konsistentes Menschenbild mündet, das alle Bereiche des Menschseins umfasst, ist noch fraglich. Im folgenden Teilkapitel soll deswegen auf Mendelssohns Überlegungen zum »Billigungsvermögen« eingegangen werden. Ich werde dafür argumentieren, dass sein Interesse daran nicht aus einer Begründung einer spezifisch ästhetischen Einstellung entsprang. Vielmehr wollte er mit ihm ein vermittelndes Glied in der menschlichen Psyche aufzeigen, für das vordem das bisweilen etwas wolkige Konzept eines common sense oder eines »Beyfalls« gedient hatte.

III. Zwischen Erkennen und Begehren. Das Billigungsvermögen »Indessen bleibt [Mendelssohn] doch das Verdienst, daß er darauf bestand: den letzten Probirstein der Zulässigkeit eines Urtheils hier wie allerwärts nirgend, als allein in der Vernunft zu suchen, sie mochte nun durch Einsicht oder bloßes Bedürfnis und die Maxime ihrer eigenen Zuträglichkeit in der Wahl ihrer Sätze geleitet werden.« Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren?, AA VIII, 140

In der Evidenzschrift deutete Mendelssohn eine Unterscheidung zwischen dem bloßen Evidenzerlebnis als Erkenntnis einerseits und als Zustimmung zur Wahrheit andererseits an. Wenn eine Sache hinreichend durchdrungen ist, stellte sich ein »Beyfall« ein, der die Hinwendung des Subjekts zur Erkenntnis kennzeichne. Diese »Ueberzeugung des Verstandes«168 lässt sich herstellen, indem die fragliche Angelegenheit oder Entität möglichst umfassend und vollständig demonstriert wird – dann könne, so Mendelssohn, der Verstand seine Zustimmung eigentlich gar nicht zurückhalten. Wie wir gesehen haben, ist für Mendelssohn eine Urteilszurückhaltung in diesem Falle lediglich einer übergroßen Leidenschaft zuzuschreiben, die eine vollständige klare und deutliche Erfassung der Wahrheitsgründe verhindert. Wenn also das Subjekt frei von verdunkelnden Gefühlen ist, kann es sich einer Sache soweit verständig annähern, dass es dessen Konstituenten hinreichend klar erkennt, um von seiner Wahrheit überzeugt zu sein und ihr »Beyfall« zu spenden. Der Beifall ist also von der bloßen Erkenntnis dadurch unterschieden, dass er die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt charakterisiert als ein – modern gesprochen – Anerkennungsverhältnis. Dabei liegt der Akt der Hinwendung allein im Subjekt, doch ist es in theoretischer Hinsicht nicht Herr seiner Zustimmung. Vielmehr erfolgt diese, wenn die Vorstellung hinreichend klar ist und damit die Wahrheit der Sache erkannt wird, anscheinend von selbst. Anders liegt dies im Bereich der praktischen Erkenntnis. »Das Gemüth, oder der Inbegrif unserer Begehrungsvermögen erkennet eine Art von Beyfall, der von jenem

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»Wir geben einem Satze Beyfall, so bald wir die Warheitsgründe desselben einsehen. Je näher diese Warheitsgründe einer völligen Demonstration kommen, und je deutlicher wir dieselben erkennen; desto zuverläßiger ist unser Beyfall. Endlich, wenn wir den Be/weis eines Satzes so deutlich einsehen können, daß wir die Warheit desselben nicht mehr in Zweifel ziehen können, so sind wir völlig überzeugt. – Dieses ist der theoretische Beyfall, die Ueberzeugung des Verstandes.« (Evidenzschrift, JubA II, 326 f.) Von dieser Art Beifall spricht Mendelsohn auch im Jerusalem, wobei er irritierenderweise den entsprechenden »practischen Beifall« ausspart: Jerusalem, JubA VIII, 167: »Glaube und Zweifel, Beyfall und Widerspruch hingegen [gegenüber Handlungen], richten sich nicht nach unserem Begehrungsvermögen, nicht nach Wunsch und Verlangen, nicht nach Fürchten und Hoffen; sondern nach unserer Erkenntniß von Wahrheit und Unwahrheit.«

III.3 Zwischen Erkennen und Begehren. Das Billigungsvermögen

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weit unterschieden ist, und praktischer Beyfall genennt zu werden verdienet. Wer von einer Warheit überzeugt ist, der kann sie zu eben der Zeit unmöglich in Zweifel ziehen; allein man kann von einer Verbindlichkeit theoretisch überzeugt seyn, und ihr dennoch zuwider handeln.« (Evidenzschrift, JubA II, 326 f.) Das Phänomen, etwas für gut zu befinden, und es dennoch zu unterlassen oder ihm zuwider zu handeln, kann demnach für Mendelssohn nur im praktischen Bereich auftreten.169 Die ›Versinnlichungsstrategie‹ ist das Mittel zur Erlangung praktischen Beifalls, der also das Anerkennen der erforderlichen Handlung verlangt und damit den aktiven Part des Subjekts zur Verwirklichung der Erkenntnis erst begründet. Mendelssohn hat jedoch den Grund dieses Anerkennens in der menschlichen Psyche noch nicht befriedigend aufzeigen können. Dies zeigt sich in seinen Bemühungen um eine Erklärung der den beiden unteren Vermögen Bon-sens und Gewissen nicht völlig deckungsgleichen Kategorie des Geschmacks: die Hinwendung des Menschen an das Praktische wie auch das Theoretische (hier ist die Grenzziehung Mendelssohns nicht eindeutig) benötigt ein Mittelglied, das sich nicht allein mit bloßer Sinnlichkeit übersetzen ließ, sondern eine Instanz der letztendlichen Entscheidung verlangt. Mendelssohn fragte nach dem Grund im Menschen, der zu einer Hinwendung zu (und Anerkennung von) theoretischen, praktischen, oder auch rein sinnlichen bzw. vergnüglichen Inhalten führt, um damit die Betrachtung des menschlichen Weltverhältnis’ zu vertiefen. Seine Überlegungen zur Unabhängigkeit der Vermögen untereinander und auch der Frage nach einem praktikablen Übergang zwischen ihnen beschäftigte ihn, mehr oder weniger an der Oberfläche des veröffentlichten Werks sichtbar, seit Beginn seiner Laufbahn. Wie seine Schriften zeigen, taucht die Frage nach dieser Eigenständigkeit und dem Übergang zwischen den einzelnen Vermögen in unterschiedlichen Kontexten, sei es in Bezug auf die Ästhetik (Briefe über die Empfindungen, diesbezügliche Teile der Rhapsodie), die Erkenntnistheorie (Evidenzschrift) oder die psychologisch-moralphilosophischen Überlegungen (Von der Herrschaft über die Neigungen, wiederum Rhapsodie) auf. Doch erst in den Morgenstunden widmet Mendelssohn diesen Überlegungen breiteren Raum; immer noch aber sind die diesbezüglichen Bemerkungen weder in den Haupttext, noch in den Gesamtaufbau der Vorerkenntnis integriert, sondern tauchen als zusätzliche, aber dennoch wichtige Randbemerkungen am Ende der letzteren auf. Häufig ist das in diesem Anhang zur Vorrede genannte »Billigungsvermögen« als eine Vorstufe zu Kants »interesselosem Wohlgefallen« interpretiert worden170, unangesehen der Tatsache, dass Mendels-

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Dies bezieht sich auch auf diejenige theoretische Erkenntnis, die zu ihrer Verwirklichung eine Handlung benötigt; in diesem Sinne greift Theorie in Praxis über. 170 Vgl. schon Kinkel 1929, 407. Dessen Aufsatz ist jedoch, abgesehen von der Tatsache, dass er minutiös die Korrespondenz zwischen Mendelssohn und Kant und auch Kants versteckte oder offene Andeutungen an Mendelssohn in der KrV, sowie deren Preisschriften referiert und nach-

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

sohns Fragestellung hier deutlich über die Ästhetik hinausgeht – und ohnehin aus einer völlig anderen Perspektive als derjenigen Kants entstanden ist. Ich möchte im Folgenden dafür argumentieren, dass diese Perspektive als genuin anthropologisch reformulierbar ist. Damit kann zugleich auch eine konsistentere Lesart des angegebenen Abschnitts in den Morgenstunden erreicht werden.171 Mendelssohn verfährt laut Cassirer »rekonstruktiv, indem [er] von den geistigen Gebilden und ihren spezifisch-unterschiedenen Gestalten auf die Kräfte schließt, denen diese Gebilde ihren Ursprung verdanken.« (Ders. 1932, 168; vgl. auch ebd. 56) Er sei daran interessiert, die Empfindung des Schönen von der Erkenntnis und der Moral klar zu sondern und ist deshalb »genötigt, für dasselbe eine eigene Grundklasse psychischer Erscheinungen in Anspruch zu nehmen«, nämlich das interesselose Wohlgefallen als einem ungerichteten, kontemplativen Genuss. Das Schöne ist damit nicht mit der »Methodik des Wissens« erfahrbar und zerrinnt unter den Händen, wenn man es mit Instrumenten der Analyse und Definition behandelt, ebenso wie es sich nicht praktisch erstreben lässt und also nicht Gegenstand des Willens sein kann. »So sucht die Vermögenspsychologie überall – und hierin besteht ihr eigentlicher systematischer Wert – die Psychologie nicht lediglich als eine Lehre von den Elementen des Bewußtseins, von den Empfindungen und ›Impressionen‹, zu behandeln; sie sucht vielmehr nach einer umfassenden Theorie von den seelischen Haltungen und Verhaltungen. Nicht die Inhalte als statische Gegebenheiten, sondern die Energien der Seele sollen erkannt und in ihrer Eigenheit beschrieben werden.« (Cassirer 1932, 169) Mit diesem Ansatz soll also die vorangegangene »Sonderung« der einzelnen Urteilsarten in eine umfassende Theorie der Funktion und des Zusammenhangs der Vermögen zurückgeführt werden. Mit dieser Schlussbetrachtung zu Mendelssohns Vorgehen scheint auch Cassirer den von mir genannten Zusammenhang anzudeuten: letztlich ging es Mendelssohn nicht unbedingt um die Eigenständigkeit der Ästhetik, sondern er zielte darüber hinaus auf eine konsistente Theorie des ganzen Menschen ab. In der Verfeinerung seiner Theorie menschlicher Vermögen durch Ausgliederung eines dritten Vermögens war er dabei nicht originell, sondern kombinierte unterschiedliche Denkrichtungen zu einer eigenen Position – unerachtet der Tatsache, dass sich diese Denkrichtungen bisweilen fundamental in ihren Prämissen und Folgerungen unterschieden. So ist es gefährlich, den Neo-Platonismus Shaftesburys vollzieht, angesichts des fortgeschrittenen Forschungsstands nur noch von geringem Interesse. Altmann 1982, 141 weist indirekt den entscheidenden Punkt auf, der Mendelssohns Auffassung von derjenigen Kants fundamental unterscheidet: Mendelssohn entwickelt die Idee der Billigung in Anlehnung an Leibniz’ Theorem der (göttlichen) Wahl des Besten; in dem Sinne ist das Billigungsvermögen »raised to metaphysical status by its linkage to the principle of Divine choice or will.« Er merkt jedoch nicht an, dass damit eine Verbindung zu Kant unmöglich ist. 171 Vgl. damit die diesbezüglichen Ansätze in Pollok 2006, XLIV–XLVIII.

III.3 Zwischen Erkennen und Begehren. Das Billigungsvermögen

337

mit den psychologischen Analysen Sulzers zu vermischen: die Prämisse des ersteren einer ursprünglichen Ausrichtung aller Wesen auf das Wahre, Schöne und Gute hatte Sulzer in seinen Überlegungen gerade problematisiert. Das Ethos in Form eines Wunsches mag dasselbe geblieben sein; Sulzer und an ihn anschließende Forscher waren sich jedoch zunehmend unsicher, ob der Mensch tatsächlich, erkennte er die Welt nur angemessen, auch das Beste täte. Mithilfe des Billigungsvermögens versucht Mendelssohn gerade hinsichtlich dieser Problematik den Befreiungsschlag gegen das immer noch im Raum stehende Problem des menschlichen Interesses am Bösen. Wie man in Hinblick auf die Ergebnisse des vorangegangenen Teilkapitels III.2 erwarten kann, versucht er nicht nur zu zeigen, dass das Handeln wider besseren Wissens als ein emotional bestimmtes Handeln reformuliert werden muss, sondern auch, dass das Interesse am Bösen ›eigentlich‹ ein entweder sachliches oder praktisches Interesse an (schrecklichen) Ereignissen ist und damit dem »Erkenntnistrieb« bzw. der moralischen Besserung dient. Mit der Mendelsohn’schen Vermögenssystematik soll der ›beste Mensch‹ auf eine umfassende, belastbare Basis gestellt werden.

1. Ein drittes Vermögen Die Rede von einem »dritten« Vermögen ist, wie erwähnt, nicht neu. Schließlich wurde das Vermögen, sinnliche Empfindungen zu haben, als eine Quelle der Erkenntnisse und Begehrungen dem Erkenntnis- und Begehrungsvermögen spätestens bei Wolff hinzugedacht. Allerdings wurde diesem »Vermögen« keine eigenständige Kraft zugeschrieben, sondern es war die passive Aufnahme von Reizen und Vorstellungen.172 Wolff stellte die Vermittlung zwischen Erkennen und Begehren in seiner Psychologie als unterschiedliche Modifikationen des einen Vorstellungsvermögens als ein »würkendes Wesen« dar (Deutsche Metaphysik §§ 756, 878), ohne einen Übergang zwischen beiden zu problematisieren.173 Die Betonung und Ausgliederung der Psychologia Empirica aus der Metaphysica bei Baumgarten in Gestalt der Aesthetica

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Dies spiegelt auch Mendelssohn eigene, eher in populärer Hinsicht ausgeführte Überlegung in Die Seele (hebräisch, entstanden nach 1768; veröffentlicht 1787/88, bald danach auch übersetzt; hier zitiert nach der Übersetzung der JubA) wieder: »Die einfache Substanz heisst als Substrat der Empfindungen Seele; in Hinsicht auf ihre Fähigkeit zu begehren und zu verabscheuen heisst sie Gemüt; in Ansehung dessen, dass sie Substrat der Einsicht und der begrifflichen Erkenntnis ist, heisst sie Geist.« (JubA III/1, 206) 173 Dies soll nicht bedeuten, dass die Wolffsche Psychologie ein sekundäres, zu vernachlässigendes Phänomen darstellt, wie auch ein kürzlich erschienener Aufsatzband eindrücklich belegt: Die Psychologie Christian Wolffs. Systematisch und historische Untersuchungen. Hg. v. Olivier-Pierre Rudolph und Jean-Francois Goubet. Tübingen 2004 (= Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 22).

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

sowie die benannte Dreiteilung der Vermögen in der Ethica174 betont dagegen die Eigenständigkeit der Ästhetik, vorerst unspezifisch als »Wahrnehmung«, im menschlichen Vermögenshaushalt. Aber auch Malebranches Überlegungen zum »assensus« könnten hier einschlägig sein.175 In seiner im 18. Jahrhundert populären Schrift De la Recherche de la verité (1675) unterscheidet er zwischen Wollen und Billigen: »Beides, der bloße Beifall und die Liebe dessen, was die Seele sich als gut vorstellt, bleiben wesentlich unterschieden, denn wir billigen oft etwas und geben ihm Beifall, von dem wir wünschen, daß es nicht geschehen wäre, und daß wir sehr vermeiden.« (Von der Erforschung der Wahrheit, Buch I, 38) Wir wären nicht wirklich frei, wenn wir zwingend beim ersten Eindruck von etwas Wahren oder Guten unsere Beistimmung geben müssten – der Mensch ist unvollkommen, kann immer auch unvollkommen erkennen; und kann deshalb seine Zustimmung (zumindest einige Zeit) dispensieren. Hat er alle einer Sache zukommenden Bestimmungen entwickelt, sie also vollständig aufgeklärt, so hat er eine völlige Evidenz der Sache erreicht; »Denn die Evidenz liegt immer bei der Wahrheit.« (ebd., 39) Sulzer schließlich hatte Vorstellen und Empfinden streng voneinander zu sondern versucht und dabei die vermittelnde Rolle des »Zustands der Betrachtung (contemplation)« (Sulzer, Anmerkungen, 236)176 betont, der die Beschäftigung der Seele mit sich selbst in eine Handlung übersetzt und damit nach außen tragen sollte. Dieser Zustand ist jedoch in Sulzers Überlegungen kein eigenständiges Vermögen, sondern ein Modus des Zusammenspiels von Empfindung und Nachdenken, »der zwischen diesen beyden das Mittel hält« (ebd.)177 Die beiden Pole menschlicher Aktivität beschreibt er dabei wie folgt: »Die Empfindung […] ist eine Handlung der Seele, die mit dem Gegenstande, der sie hervorbringt, oder veranlaßt, nichts gemein hat. […] Nicht den Gegenstand empfindet man, sondern sich selbst. Bey dem Nachdenken ist der Verstand mit einer Sache beschäftigt, die er als außer sich betrachtet; bey der Empfindung ist die Seele bloß mit sich selbst beschäftigt.« (Sulzer, Anmerkungen, 225) Die Kontemplation ist der Modus eines schnellen Wechsels zwischen beidem, der nicht danach strebt, das Wahrgenommene aufzuklären, noch, die Selbstemp174

Mendelssohn besaß alle genannten Werke Baumgartens; siehe Bücherverzeichnis 316/36, 588/48, 611/50, 617/50. Meier 1978, 229 spricht sogar hinsichtlich Mendelssohns Ansichten der 1760er Jahre von einer »période Baumgartienne«. 175 Mendelssohn erwähnt Malbranche lediglich am Rande; vgl. bspw. AdB 3.1 (1766); JubA V/2, 32. Das Bücherverzeichnis enthält den Titel jedenfalls, siehe ebd. 484–87/44. 176 In den Morgenstunden nennt Mendelssohn die »Beschauung« synonym mit contemplatio, und stellt diese als »Vernunft« dem »Gemeinsinn (sensus communis)« gegenüber; siehe 10. Gespräch, JubA III/2, 81–88. 177 »Sulzer, however, did not envision a doctrine of three faculties in which the faculty for beauty could exist independently of the heart and the intellect and, at the same time, would be elevated to a status equal to that of the faculties for perceiving the true and the good.« (Terras 1978, 7 f.)

III.3 Zwischen Erkennen und Begehren. Das Billigungsvermögen

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findung über dieses zu stellen. Sulzer erklärt die Gründe dieses Zustands aus einem Mangel: entweder die Seele ist gerade nicht dazu aufgelegt, das Wahrgenommene zu zergliedern, oder der Gegenstand ist bloß zur »Belustigung« (Sulzer, Anmerkungen, 237) geeignet. Er zieht dennoch ein günstiges Resümee: »Aus diesen Bemerkungen folget, daß es einen Zustand giebt, wo der Mensch sehr deutlich sieht und nichts empfindet; einen andern, wo er stark empfindet und nichts sieht; und einen dritten, wo er klar genug sieht und empfindet, um das was ausser ihm und in ihm ist, zu bemerken.« (Sulzer, Anmerkungen, 238) Obwohl dieser Zustand geeignet ist, die absolute Macht der Leidenschaften zu brechen,178 geht er im Folgenden lediglich auf die beiden Extremformen des Nachdenkens (ganz bei der Sache sein) und Empfindens (ganz bei sich sein) ein; vielleicht auch deshalb, da ihm der Zustand der »Contemplation« unfruchtbar erschien. Mit der Eigenständigkeit des Empfindens, das nicht sofort zu einer Erkenntnis oder einer Handlung führt, hatten sich in der Folgezeit auch die Ästhetiker auseinandergesetzt. Friedrich Justus Riedels Theorie der schönen Künste (1767) benennt als das Schöne dasjenige, »was ohne interessierte Absicht sinnlich gefallen, uns auch dann gefallen kann, wenn wir es nicht besitzen«.179 Ähnlich formuliert dies auch Abel in den Aesthetischen Säzen, 1777: »I. Der Geschmack, im weitesten Verstand, beschäftiget sich nur mit Gegenständen, die Vergnügen und Misvergnügen durch ihre blosse Vorstellung, ohne eigenthumliche Beziehung der Gegenstände auf uns, zeugen.«180 Beide gehen hier auch auf die Ansichten Shaftesburys zurück. Dieser hatte der Ästhetik nicht nur als ein Teilgebiet der Philosophie betrachtet, sondern verfocht die Ansicht, dass sie »die eigentliche Schlüsselstellung des Ganzen bildet«181. Wahrheit und Schönheit fallen zusammen, wobei die Schönheit die Ausgangsbasis zur Erkenntnis des Wahren darstellt. Da allein die menschliche Sinnlichkeit nicht zur Erfassung des inneren Prinzips des Seins ausreicht, musste ein Modus des »reinen Schauens« gefunden und begründet werden, der die Dinge vorurteilslos erfasst. »In diesem Vermögen der reinen Betrachtung und eines Wohlgefallens, das sich von jedem ›Interesse‹ frei hält, findet Shaftesbury die Grundkraft, auf der alles künstlerische Genießen wie alles 178 In diesem Sinne verwendet auch Spalding den Begriff, siehe die siebte Auflage der Bestimmung des Menschen von 1763, auf die die Bestimmungsdebatte zwischen Abbt und Mendelssohn zurückgeht: dort ist von einer »ruhigen Billigung« die Rede (Spalding 7/1763, 17), die der Mensch angesichts der Selbstversicherung seiner geistigen Vermögen erlangt. 179 Laut Albrecht 1983, 118 f. hatten Mendelssohns frühe Schriften Riedel stark beeinflusst. Dies hinderte Mendelssohn jedoch nicht daran, Riedels Theorie letztlich abzuweisen, siehe Kap. II.3, 227 f. Zu der internen Problematik von Riedels Ansatz siehe Strube 1979, 159–65. 180 Abel/Riedel 1995, 39. Wie die Punkte über die Verschiedenheit von Malerei und Poesie zeigen, kannte Abel zumindest Lessings Laokoon (vgl. Abel 1995, 42). Dass er Mendelssohns ästhetische Überlegungen nicht nennt, heißt allerdings nicht, dass er sie nicht kannte. 181 Cassirer 1932, 202. Vgl. Moralists, Part I, Sect. III, Part II, Sect. IV., in: Characteristicks Bd. II, 20 f. und 63, 68.

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

künstlerische Erschaffen beruht. In ihr wird der Mensch erst wahrhaft er selbst – und durch sie wird er des höchsten, ja des einzigen Glückes teilhaft, das ihm beschieden ist.«182 Schon bei Shaftesbury zeigt sich – und dies lässt sich auch für andere vermeintlich das »interesselose Wohlgefallen« als ästhetische Haltung postulierende Standpunkte der angelsächsischen Tradition sagen183 – dass die Kategorie der Interesselosigkeit nicht vornehmlich und allein ästhetischer Natur ist, sondern dass sie auf eine anthropologische Position verweist. Sie ist vielleicht nicht »the core concept« der Ästhetik184, aber sie liefert dieser, ebenso wie einer Theorie des Menschen, wichtige Bausteine, indem sie die Frage aufstellt, ob und inwiefern das Wissen zur Billigung und letztlich auch zum handlungsauslösenden Moment werden kann.185 So sind die

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Cassirer 1932, 203. Die von ihm angegebene Stelle im Inquiry Concerning Virtue or Merit (Sect. III, in: Characteristicks Bd. I, 249 ff.) betont jedoch, dass der Mensch zwar auch Situationen im weiten Sinne uninteressiert gegenüberstehen, jedoch sich niemals enthalten kann, diese zu bewerten; »and accordingly, in all disinterested cases, must approve in some measure of what is natural and honest, and disapprove what is dishonest and corrupt« (ebd., 252): wichtig ist Shaftesbury hier nicht die Uninteressiertheit, sondern die Herausbildung eines Charakters, der sich gleichsam von selbst dem Guten mit Wohlgefallen zuneigt. Ausdrücklicher wendet er sich dem Aspekt des ästhetischen interesselosen Wohlgefallens in den Moralists zu, siehe dort v. a. Part III, Sect. II, v. a. S. 126 ff. 183 Vgl. dazu Rind 2002. Rind will zeigen (2002, 68 f., 85 ff.) dass die von Stolnitz besprochenen Britischen Philosophen Shaftesbury, Addison, Hutcheson eben gerade nicht auf das »interesselose Wohlgefallen« abzielen, sondern vielmehr den Geschmacksbegriff in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellen. Für diesen ist die Interesselosigkeit kein notwendiger Bestandteil (ebd., 86), sondern wird zumeist nebenbei erwähnt. Dabei ist durchaus zwischen Überlegungen zu unterscheiden, die Ansätze des Konzepts vom »interesselosen Wohlgefallen« untersuchen und denjenigen, wie Rind Stolnitz darstellt, die das Konzept zum wichtigsten Bestandteil der genannten Positionen erklären. Eine Untersuchung des Geschmacks als ein Vermögen, das Schöne als Schönes zu »erkennen«, indem seine Auffassung mit »Wohlgefallen« bzw. »Vergnügen« begleitet wird, um dann dieses Vergnügen näher zu erläutern, kann durchaus als eine Vorläuferfigur zu Kant gewertet werden (oder zu einer modernen Form der Ästhetik, die auf dieser ästhetischen Haltung aufruhen soll). Fraglich ist jedoch, ob dieses Konzept für die Analyse einer philosophischen, historischen Position verwendet werden darf, wie Stolnitz dies tut, ohne damit ein Konzept mehr zu implantieren, als es durch die Analyse zu gewinnen. In Bezug auf Mendelssohn möchte ich mich in gewisser Hinsicht an Rinds Kritik anschließen: wenn man ihn als Vorläufer Kants sieht, so muss er zweifellos gegen den Königsberger unterliegen. In einer an Mendelssohns eigenem Interesse ausgerichteten Rekonstruktion hingegen gewinnt das Billigungsvermögen einen eigenen Status, der für die Komplettierung seines Menschenbilds von großer Bedeutung ist. 184 So Rind 2002, 67 f. gegen die Arbeiten Stolnitz’; vgl. Ders. 1961 und 1978/84. 185 In diesem Sinne vermag auch Rinds Kritik an Guyer nicht gänzlich zu überzeugen. Vgl. Paul Guyer: »The Dialectic of Disinterestednes I: Eighteenth-Century Aesthetics«, in: Ders. 1993, 48–93. Guyer vermeidet es zwar, so Rind 2002, 68, Kants Verständnis des interesselosen Wohlgefallens in der Besprechung von Kants Vorläufern anzuwenden, doch ist es dieses Konzept, was er bei ihnen sucht: »For example, his narrative takes account of the differing positions of eighteenthcentury writers on the question whether knowledge plays a role in judgements of beauty, though

III.3 Zwischen Erkennen und Begehren. Das Billigungsvermögen

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Passagen in den Moralists, die auch eine nicht auf Besitzstreben hinauslaufende ästhetische Einstellung beschreiben, insgesamt weniger dem Primat der Interesselosigkeit verpflichtet als der menschenmöglichen, im vernünftigen Enthusiasmus geübten Einsicht in das harmonische Universum. Sie weisen damit nicht auf die Besonderheit eines ästhetischen Urteils, sondern auf die menschliche Fähigkeit der sinnlichen Erfassung des göttlichen Weltganzen hin. Es ist die Größe und Vollkommenheit einer vernünftigen wie enthusiasmierten Weltbetrachtung, dass diese nicht die niedrigeren menschlichen – sinnlichen wie körperlichen – Passionen erweckt, sondern ihn mit einem unmittelbaren Gotteserkennen erfüllen. »[…] I sing of Nature’s order in created beings, and celebrate the beauties which resolve in thee, the source and principle of all beauty and perfection. Thy being is boundless, unsearchable, impenetrable.« (Moralists, Part. III, Sect. I, in: Characteristicks Bd. II, 98, Hervorhebung A.P.) Hier von einem Besitzstreben zu sprechen, wäre verfehlt. Zugleich ist aber nicht die Interesselosigkeit bestimmend, sondern die Größe des Erfassten, die den Betrachter mit einem unmittelbaren Wissen um Gottes Größe anfüllt. Shaftesburys Enthusiasmus ist dabei gerade auf die menschenmögliche Erfassung der Vollkommenheit konzentriert, die mehr verlangt als einen analysierenden Geist. Eben dieses gilt, so meine These, auch für Mendelssohns Billigungsvermögen. Es zielt nicht auf eine spezifisch ästhetische Haltung, sondern charakterisiert eine mögliche Form des Weltverhaltens des Menschen, das nicht in erster Linie durch seine Interesselosigkeit, sondern durch seine Freiheit der Wahl in leibnizischen Termini, also einer Wahl nach dem besten Grund ausgezeichnet ist. Indem der billigende Mensch eben nicht Rücksicht nehmen muss auf Erkenntnis- oder Handlungsinteressen, kann er in freier Kontemplation über den Wert einer wahrgenommenen Sache entscheiden. Dies kann zu einer Aufdeckung und Entwicklung von Wissen über diesen Gegenstand führen, oder den Betrachtenden zu dem Ergebnis kommen lassen, dass doch eine spezifische Handlung erforderlich ist, dem wahrgenommenen ›Gegenstand‹ zu begegnen. Damit ist die Verbindung zwischen Erkenntnistheorie, Moral und Ästhetik durchaus nicht aufgehoben – vielmehr hat Mendelssohn ein spezifisch menschliches Potential des Umgangs und der Verbindung zwischen ihnen herauszuarbeiten versucht. Ob die Bereiche des Schönen, Wahren und Guten tatsächlich zusammenhängen, kann letztlich nur über ein positives, verbindendes no one before Kant would have taken such a question to have any direct bearing on the concept of disinterestedness. There is no outright distortion of history in this, but it does tend to obscure the fact that no concept on the thought of these writers played the role that the concept of disinterestedness came to play in subsequent aesthetic thought.« (Rind 2002, 68) Dies ist allerdings fraglich, gerade im Hinblick auf die von Rind nur am Rande erwähnte deutsche Tradition der Ästhetik seit Baumgarten, die die schöne Wahrnehmung gerade in Bezug auf ihr klares und deutliches Pendant ins Spiel brachte. Wenn die Ästhetik solcherart von der Erkenntnislehre her gedacht wird, spielt das Denken sehr wohl eine wichtige Rolle.

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Konzept der drei Bereiche gewährleistet werden. Seine Untersuchung richtet sich also nicht auf die Etablierung des interesselosen Wohlgefallens als eines Moments des ästhetischen Urteils, sondern er versucht, den Modus der Interesselosigkeit als eine Voraussetzung zu einer allseitigen Vervollkommnung zu reformulieren.

2. Die Idee der freien Vervollkommnung In seinen frühen Schriften spricht Mendelssohn häufig von einem Interesse in der Kunst. Sei es das Interesse, Leidenschaften zu erwecken bzw. sie zu genießen, sei es das Interesse des Sittenlehrers, mithilfe der Kunst seine Lehren farbiger zu gestalten. Auch die Theorie der vermischten Empfindungen, die zwischen Gegenstand und »Vorwurf« trennte, ist auf das menschliche Interesse an der anregenden Mischung zwischen angenehmer und unangenehmer Empfindung orientiert. Jedoch geriet hier zunehmend der Gegenstand als Objekt aus dem Blick; interessant und begehrt war die Vorstellung selbst, nicht das (schreckliche) Objekt, indem man sich vielmehr anhand der eigenen Einstellung zu ihm der eigenen bewertenden Kräfte vergewisserte. Auch der Schaulustige auf dem Schlachtfeld186 sucht nicht ein Vergnügen am massenhaften Sterben, sondern eine Form der Erkenntnis. In der Rhapsodie hatte Mendelssohn diese Erkenntnis mit der Selbstvergewisserung des eigenen Abscheus (und damit wiederum der eigenen charakterlichen Güte) reformuliert; in den Morgenstunden schließlich wird er den Bezug zum Erkenntnisvermögen stärker betonen. Damit gerät die »Leidenschaft« jedoch in einen Zwiespalt zwischen Erkenntnis und Wollen; es hängt von der Bewertung einer Situation ab, welchem Vermögen sich die entsprechende Haltung zum Geschehen zuordnen lässt. Die Grundausrichtung des menschlichen Handelns und Erkennens soll dabei nicht im rein Angenehmen liegen, sondern der Mensch sei letztlich auf das Vollkommene im Sinne einer eigenen Vervollkommnung angelegt. Den Genuss des Angenehmen allein suggeriert eine schlichte Kunst- und Strebensauffassung nach dem Kriterium des bloßen Vergnügens, das Mendelssohn aber mit seiner Theorie der vermischten Empfindungen und der Illusion übersteigt. Die Hinwendung zur Vervollkommnung in allen menschlichen Tätigkeiten betont er auch im 73. Litteraturbrief vom 13. Dezember 1759 mit einem Kommentar zum »geläuterten Epicureismus«, den angenehmen Empfindungen und ihrem Verhältnis zur Lust und zur Vollkommenheit. »Gott ziehet das Gute dem Bösen vor, das gesteht man ein. Er thut 186

Zuerst erwähnt ihn Mendelssohn in der Rhapsodie von 1761 (JubA I, 571); in der 1771er Fassung (JubA I, 383 f.) versetzt er ihn an eine andere, prominentere Stelle der Argumentation. Auch in den Morgenstunden (JubA III/2, 66) taucht dieser Schaulustige wieder auf; vgl. hier Kap. II.2, 187.

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es aber nicht der angenehmen Empfindung wegen, sondern man muß zu einem höhern Grunde[,] zur Vollkommenheit hinauf steigen, diese göttliche Wahl verständlich zu erklären. Was bey Gott in dem allerhöchsten Grade angenommen wird, kann bey zufälligen vernünftigen Wesen mit der gehörigen Einschränkung Statt finden. Die Vollkommenheit ist also das höchste Gut, nicht aber die angenehme[n] Empfindungen.« (JubA V/1, 111) Auch im folgenden, 74. Litteraturbrief vom 20. Dezember desselben Jahres nennt er eine zweite Bedeutung des »summum bonum«: »Dass allerhöchste Gut ist der jenige Gegenstand unsers Verlangens, dem alle andere, die mit ihm nicht zugleich bestehen können, weichen müssen; die allergemeinste Regel der Vollkommenheit des menschlichen Wandels, von welcher, wenn ein Streit der Regeln entstehet, niemals eine Ausnahme geschehen kann […], das allerhöchste Gut sey der ununterbrochene Fortgang von einer Stufe der Vollkommenheit zur andern« (JubA V/1, 112, Hervorhebung A.P.) Auch in den alltäglichen einander widerstreitenden Pflichten ist demzufolge immer diejenige zu wählen, »die den erwünschten Fortgang am besten fördert« (ebd.) Damit ist der Zweck menschlicher Handlungen nicht allein Vergnügen, angenehme Empfindung oder auch Wahrheit, sondern die als angenehm empfundene Ausbildung aller »Seelenfertigkeiten«. Wie hängt nun dieses Vermögen zur Vervollkommnung mit einem dritten Vermögen zusammen? Wie sich schon bei Malebranche und Sulzer andeutet, bedeutet der vermischte Modus zwischen Empfinden und Denken eine Form der Freiheit, gleichzeitig das eigene Vermögen und die Außenwelt in den Blick zu bekommen. Es ist zu betonen, dass diese Freiheit sogar als eine Voraussetzung für eine überhaupt wahre Erkenntnis zu werten ist, die sich über die Leidenschaften und damit das bloße Registrieren der Erscheinung der Dinge erhebt. Will Mendelssohn also ein Vervollkommnungsvermögen in der menschlichen Psyche verorten, so bietet sich die Berücksichtigung dieser Zwischenform an. Damit ist diese nicht allein auf ein Kunstempfinden festgelegt, sondern erfüllt ebenso eine Funktionsstelle zwischen Empfinden und Erkennen, zwischen dem Subjekt und der Welt. Ohne die Möglichkeit des Wechsels ist eine situations- und zugleich persönlichkeitsangemessene Reaktion nicht möglich. In Von der Herrschaft über die Neigungen und den daran anschließenden Überlegungen in Rhapsodie und Evidenzschrift, sowie in den 1770 entstandenen187 Bemerkungen zu den »Philosophischen Schriften«, 1761 (JubA I, 223–26) macht sich die Fokussierung auf den Zusammenhang zwischen menschlichem Wollen, Vergnügen und Erkennen bereits bemerkbar. Hier betont Mendelssohn, dass das Verhältnis der Empfindungen zu ihrem Objekt sowie die Beziehung zwischen Wollen und Vergnügen neu zu überdenken seien (vgl. JubA I, 225). In den Briefen hatte er diese beiden nur »dem Grade nach« unterschieden (JubA I, 66). Das Leben ist damit nichts mehr 187

So die Einschätzung in JubA I, 605 und, übereinstimmend, Meier 1978, 231.

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als »Vorstellen« und »Wollen« – die Unverfügbarkeit der Empfindungen hat er dagegen nicht reflektiert. Nur so funktioniert der einfache Schluss: »Ich sehne mich nach guten Gegenständen.« / »Dieser Gegenstand ist gut.« / »Also muss ich mich nach ihm sehnen.« Wie bereits angedeutet, hat Mendelssohn die einfache, indikativisch formulierte Conclusio daraus: »Also sehne ich mich nach ihm.« (vgl. JubA I, 66) mit Recht unter Rückgriff auf seine Theorie der Leidenschaften bezweifelt. Doch noch immer hatte er die Möglichkeit der menschlichen Natur, auch Empfindungen ausgeliefert zu sein, die durch keinen Vernunftschluss und schon gar nicht moralisch erklärbar sind, wie die Faszination an Schlachtfeldern und Hinrichtungen – die ihn v. a. hinsichtlich des Erhabenen umtreibt –, nicht angemessen aus einer positiv verstandenen Menschennatur begründen können. 1770 reformuliert er die Besonderheit des Vergnügens im Hinblick auf den Eigenwert, den die »Bewegung« der Seele besitze, als ein »inneres Bewußtsein, daß die Vorstellung A unsern Zustand verbessere; das Wollen hingegen ein Bestreben der Seele, diese Vorstellung wirklich zu machen. Das Vergnügen ist gleichsam ein günstiges Urteil der Seele über ihren wirklichen Zustand; das Wollen hingegen ein Bestreben der Seele, diese Vorstellung wirklich zu machen. Das Verlangen, von welchem das Vergnügen begleitet zu werden pflegt, gehört nicht wesentlich zum Genusse des Vergnügens.« (JubA I, 225, Hervorhebung A.P.) Das Vergnügen am Schönen gewinnt dadurch, auch wenn Mendelssohn dies noch nicht weiter ausarbeitet, eine neue Dignität. Das Gefühl der Lust und Unlust wird zu einem Selbstgefühl von der Vollkommenheit der Seele, das nur noch mittelbar mit dem Gegenstand bzw. seiner Verwirklichung zu tun hat.188 Im Vergnügen empfindet die Seele einen Zustand der Erfüllung, der die Vollkommenheit in der Vervollkommnung allererst begründet. Sechs Jahre später greift Mendelssohn diese Idee wieder auf. In den Kollektaneenbüchern findet sich eine auf Juni 1776 datierte Eintragung, die, in Anlehnung an die in den Anmerkungen erfolgte Entkoppelung von Wollen und Vergnügen, eine ähnliche Vermögenstrias wie die der Morgenstunden aufwirft. Hier wird zwar nicht, wie in den Morgenstunden, von einem »Billigungs-« sondern von einem »Empfindungsvermögen« gehandelt; die Bedeutung der Begriffe erscheint jedoch auf den ersten Blick äquivalent: »Zwischen dem Erkenntnisvermögen und dem Begehrungsvermögen liegt das Empfindungsvermögen, vermöge dessen wir an einer Sache Lust 188

Es ist möglich, dass Mendelssohn sich über diesen Aspekt auch mit Thomas Abbt besprach; in dessen Evidenzschrift (entstanden 1761/62) findet sich bezüglich des Verhältnisses von Moral und Schönheit der Hinweis, dass zwar das Schöne und Gute »näher verbunden [sind], als man sich oft vorstellt. Der feine Unterschied bestehet darinn: Nicht alles Schöne ist mit der Begierde zur Vereinigung bey mir verknüpfet; jedes Gute aber ist es.« (Abbt, Werke 4, 133) Briefliche Hinweise auf eine diesbezügliche Diskussion haben sich nicht auffinden lassen; jedoch haben sie sich darüber durchaus auch mündlich während eines Aufenthalts Abbts in Berlin austauschen können. Abbt bezieht sich im zitierten Abschnitt ausdrücklich auf Mendelssohns Rhapsodie (vgl. ebd., 129–34).

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oder Unlust empfinden, sie billigen, gutheißen, angenehm finden, oder mißbilligen, tadeln und unangenehm finden.« (Kollektaneen, JubA III/1, 276)189 Gegenstände des Erkenntnisvermögens müssen nicht notwendig auch gewollt werden und – wichtiger noch in unserem Zusammenhang – es gibt auch »Empfindnisse, die noch in kein Begehren übergehen« (JubA III/1, 276), wie beim Betrachten von Gemälden. Diese können wir schön finden, ohne das Dargestellte sogleich besitzen zu wollen. So kantisch diese Unterscheidung klingen mag, findet sich doch die Grenze der Ähnlichkeit darin, dass Mendelssohn das Empfindungsvermögen als auf das »Gute« gerichtet vorstellt (ebd.) und damit eine Trennung zwischen Empfinden und Wollen wiederum unterläuft. In Hinblick auf die Funktionalität des Empfindungsvermögens im menschlichen Handeln und Erleben ist der Aspekt des fehlenden Begehrens also wiederum zu vernachlässigen, denn wenn ich das Gute als solches erkenne, werde ich es wollen – und die vermeintliche Trennung zwischen Wollen und Empfinden ist wieder aufgehoben.190 Wie kommt dieser ›Rückschluss‹ zustande? Anders als das Erkenntnisvermögen ist das Empfindungsvermögen nicht darauf gerichtet, die eigene Erkenntnis den objektiven Begebenheiten anzupassen, sondern die Außenwelt gerade nach unseren Begriffen von Schönheit und Güte (vgl. JubA III/1, 276) umzuwandeln. Dies impliziert eine handlungsbezogene Komponente, eine Bestimmungsart unseres Willens. Das Empfindungsvermögen ist damit nicht rezeptiv, sondern aktivisch zu verstehen.191 In die Wahrheitssuche gemäß dem Erkenntnisvermögen dürften sich nach Mendelssohn keine »Neigungen« (JubA III/1, 277) mischen, ebenso wie bei Betrachtung des Schönen nicht auf die Wahrheit geachtet werde. Hier ist die Trennung der Vermögen eindeutig. Dagegen vermag Mendelssohn die Grenze zwischen Empfindungs- und Begehrungsvermögen nicht sicher zu ziehen; auch daran zeigt sich, dass er das Problem des Handelns wider besseres Wissen noch nicht in seiner ganzen Schärfe erfasst hat. Denn wenn zwar die Gegenstände des Empfindungsvermögens nicht darauf hinauslaufen müssen, dass wir den Besitz der empfundenen Sache wünschen, so erhoffen wir doch eine Angleichung von Empfundenen und innerlich Vorgefundenen nach Maßgabe des Guten. »Interesselos«, oder begehrungsfrei ist dieser Akt vielleicht hinsichtlich des Besitzes der Gegenstände, jedoch nicht hinsichtlich 189 Diese Notizen scheinen, so auch Altmanns Anmerkung in JubA XII/2, 249, auch auf eine Lektüre von Tetens’ Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (1776) zurückzugehen. Mendelssohn kannte ihn zu diesem Zeitpunkt vermutlich, worauf ein Brief von Hamann vom 20. November 1777 hinweist (JubA XII/2, 103): dort bedankt sich Hamann bei Mendelssohn für dessen Lektüreempfehlung. 190 Hier unterläuft Mendelssohn das bereits einleitend angesprochene Gebiet der »praktischen Erkenntnis«, die er in der Evidenzschrift als ein offenes Feld bezeichnet hatte, vgl. JubA II, 326 f., siehe oben, 310 f. 191 Siehe dazu Meiers Vergleich von Mendelssohns Theorie mit der Tetens’; Meier 1978, 239 f.

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unserer Verfasstheit zu den Gegenständen. Der Nexus zwischen Wollen und Empfinden ist stark. Dies zeigt sich auch dort, wo Mendelssohn hinsichtlich der Wirksamkeit der Neigungen wiederum vom Empfindungsvermögen spricht, wo man eigentlich das Begehrungsvermögen erwarten möchte. In den anschließenden Reflexionen zur wirklichen Erkenntnis des Wahren und der Verwirklichung des Guten fällt daher das Fehlen des dritten Parts, also der Einfluss der Bestrebungen (des Begehrungsvermögens) nach dem Schönen und Wahren auf. Mendelssohn kann auf diese Differenzierung jedoch nur verzichten, wenn er das Empfindungs- und das Begehrungsvermögen ineins setzt. Kurz gesagt: die anfänglich geleistete Differenzierung fällt sogleich wieder unter den Tisch. Letztendlich gibt Mendelssohn sie mit dem Satz auf: »Jedes Empfindnis ist mit einem Begehren verbunden, die Eigenschaften des Objekts mit unsern Begriffen in Harmonie zu setzen.« (JubA III/1, 277) Und damit: die uns umgebende Welt nach den Begriffen des Guten, wonach letztlich die menschlichen Begehrungen Mendelssohn zufolge streben192, zu gestalten. Anhand dieses Befundes ist zu fragen, wie sich die Stellung des Billigungsvermögens in den Morgenstunden darstellt. In den Vorarbeiten scheint für das interesselose Empfinden des Schönen, ohne sogleich auf Verwirklichung zu drängen, kein angemessener Raum gewonnen. Ebenso unklar bleibt, wie das Empfindungsvermögen einen eigenständigen Beitrag zur ganzheitlichen menschlichen Vervollkommnung leisten könnte. Dem Aufstieg zur Vollkommenheit über alle drei Seelenvermögen, also über das Erkennen, das Wollen und das Genießen, hat Mendelssohn erst in den Morgenstunden seine ganze Aufmerksamkeit zugewandt. Noch im Jerusalem, also in zeitlicher Nähe, hat er zwar von einem »Billigen« gesprochen, dieses jedoch ähnlich wie in der 1776er Notiz nicht als eigenständig, sondern in seinem Bezug zum Begehren aufgefasst. »Furcht und Hoffnung wirken auf den Begehrungstrieb der Menschen; Vernunftgründe auf sein Erkenntnisvermögen. […] Vorstellungen des Guten und Bösen sind Werkzeug für den Willen; der Wahrheit und Unwahrheit für den Verstand. […] Grundsätze sind frey. Gesinnungen leiden ihrer Natur nach keinen Zwang, keine Bestechung. Sie gehören für das Erkenntnißvermögen des Menschen, und müssen nach dem Richtmaß von Wahrheit und Unwahrheit entschieden werden. Gutes und Böses wirkt auf sein Billigungs- und Mißbilligungsvermögen. Furcht und Hoffnung lenken seine Triebe. Belohnung und Strafe richten seinen Willen, spornen seine Thatkraft, ermuntern, locken, schrecken ab.« (Jerusalem, JubA VIII, 130, 137) Das Billigen ist hier dem bloß triebhaftem Handeln entgegengestellt und meint ein Handeln aus Grundsätzen. Es ist damit in einer Hinsicht dem Sulzerschen Betrachtungszustand

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So äußert er sich u. a. in der Rhapsodie (JubA I, 404), sowie später in den Morgenstunden (JubA III/2, 66).

III.3 Zwischen Erkennen und Begehren. Das Billigungsvermögen

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ähnlich, denn es versichert den Handelnden seiner Freiheit, nicht aus Leidenschaft, sondern aus Einsicht in das Gute gehandelt zu haben. In den Morgenstunden wird dies weiter ausgebaut. Sie sollten insgesamt in einer Art summarischen Verhältnis zu Mendelssohns Schriften stehen – er selbst bezeichnet sie gar als das »Resultat« aller seiner bisherigen Forschungen und Gedanken (JubA III/2, 3).193 Kant nennt die Morgenstunden in dieser Hinsicht auch ein »letzte[s] Vermächtnis einer dogmatisirenden Metaphysik und zugleich […] das vollkommenste Product derselben« (an Schütz, AA X, 428 f.). Ein doppeldeutiges Urteil, in dem sich neben der Hochachtung für Mendelssohns Denk- und Darstellungsart deutlich die Ablehnung einer solchen Metaphysik mischt, die im Lichte der Kritik der reinen Vernunft lediglich als negativer Probierstein zu fungieren hat.194 Hinsichtlich der Ästhetik sollen die Morgenstunden nun keine Zusammenfassung sein – sie wären dafür schon inhaltlich nicht geeignet –, jedoch stellen sie nach Leo Strauss eine »abschließende Formulierung des Ergebnisses, dem seine ästhetischen Überlegungen zustrebten« (JubA III/2, LIX ) dar. Strauss benennt dieses »Ergebnis« nicht; m.E. ist hiermit die Frage nach der Funktion von Schönheit innerhalb seines Menschenbilds angesprochen. Einerseits ist laut Mendelssohns vorangegangenen Überlegungen die Ästhetik an die Sittlichkeit gekoppelt, zum anderen wird ihr aber eine Freiheit eingeräumt, die notwendig ist, damit sie überhaupt irgend eine Wirkung entfalten kann. Die Bestimmung des Ortes dieser funktionalen Bezogenheit der Ästhetik nimmt er in den Morgenstunden vor. Dabei stellt, wie erwähnt, die Diskussion des Billigungsvermögens in der Vorerkenntnis der Morgenstunden einen Bruch in der dortigen Argumentation dar. Das bisherige Thema »Was ist Wahrheit?« 193

Laut herrschender Meinung in der Mendelssohn-Forschung nehmen sie allein Ergebnisse der vorangegangenen Schriften auf, ohne sie nennenswert weiter zu entwickeln., vgl. Bamberger, JubA I, XXVI, Altmann 1969, V, sowie hier Kap. III.1, 283. 194 Explizit bezieht sich Kant auf mögliche Neuerungen durch Mendelssohn (die er übrigens allein in der vorangestellten Vorerkenntnis verortet) nur auf die Passagen zu Wahrheit und Irrtum, nicht auf die Schlussbetrachtungen, die das Billigungsvermögen ins Spiel bringen (anders Meier 1978, 242). Was Kant jedoch nicht gefallen haben dürfte, ist Mendelssohns Schlusswort zum Streit zwischen Materialisten, Idealisten und Dualisten, in denen sich eine indirekte Kant-Kritik verbirgt: »Was aber ist das Urbild aller sinnlichen Eigenschaften, ausser den Accidenzen, die davon in denkenden Wesen anzutreffen sind? Ich antworte: so was, das nicht gefragt werden kann; weil es ausser dem Begriffe liegen soll, und also in dem Sinne der Frage selbst kein Gegenstand der Erkenntniß seyn kann. Ihr forschet nach einem Begriffe, der eigentlich kein Begriff, und also etwas Widersprechendes seyn soll. Hier stehen wir an den Schranken der Erkenntniß; und jeder Schritt, den wir weiter thun wollen, ist ein Schritt ins Leere, der zu keinem Ziele führen kann.« (JubA III/2, 60 f.) Die Suche nach synthetischen Urteilen a priori hält Mendelssohn anscheinend für nicht machbar und zeiht letztlich Kant einer Übersteigerung, die gerade von den Schwärmern wie Jacobi genutzt worden sei, um die Metaphysik endgültig zu zerstören. Mendelssohns auf die zitierten Ausführungen folgenden Hinweis, dass diese philosophische Streitigkeit letztlich ein bloßer Wortstreit ist, ist allerdings auch wenig befriedigend.

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unterbricht Mendelssohn mit dem Hinweis, dass er nun, bevor er zum Hauptteil schreite, noch auf einen weiteren Aspekt eingehen wolle, von dem er sich »in der Folge großen Nutzen verspreche« (JubA III/2, 61). Der Bruch wird in allerdings dadurch gemildert, dass es nun zwar nicht mehr um die Erkenntnis der Wahrheit geht, sondern um die Empfindungen, die eine solche Erkenntnis, und auch andere Tätigkeiten der Seele, mit sich führen können.195 Mendelssohn nimmt hier also in den rein erkenntnistheoretischen Rahmen Überlegungen zur Seelenlehre auf und verbindet explizit die Erkenntnis mit einer sie begleitenden Empfindung, die sich nicht über generelle Betrachtungsweisen erschließt, sondern relativ ist: das Wesen des »Formalen« besteht in der »Vergleichung« (JubA III/2, 63); um diese vornehmen zu können, ist aber die Freiheit der Seelenvermögen zu gewährleisten. »Man pflegt gemeiniglich das Vermögen der Seele in Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen einzutheilen[196], und die Empfindung der Lust und Unlust schon mit zum Begehrungsvermögen zu rechnen. Allein mich dünkt, zwischen dem Erkennen und Begehren liege das Billigen, der Beyfall, das Wohlgefallen der Seele, welches noch eigentlich von Begierde weit entfernt ist. Wir betrachten die Schönheit der Natur und der Kunst, ohne die mindeste Regung von Begierde, mit Vergnügen und Wohlgefallen. Es scheinet vielmehr ein besonderes Merkmal der Schönheit zu seyn, daß sie mit ruhigem Wohlgefallen betrachtet wird; daß sie gefällt, wenn wir sie auch nicht besitzen, und von dem Verlangen, sie zu besitzen, auch noch so weit entfernt ist.« (JubA III/2, 61) 195

Mendessohn übersetzt dies mit dem »Formalen der Erkenntnis«, das der vorangegangenen Thematik zum »Materialen« entgegengesetzt wird (vgl. JubA III/2, 62) und begründet seinen Perspektivwechsel im letzten Teil der Vorerkenntnis wie folgt: Eine Erkenntnis kann in unterschiedlichen Hinsichten betrachtet werden. Einmal hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes, einmal hinsichtlich der sie begleitenden Empfindung. Das Materiale der Erkenntnis, das den Gegenbegriff zum Formalen darstellt, bestimmt Mendelssohn dementsprechend nicht als einen Erkenntnisinhalt, sondern er weist diesen Bereich der Wahrheit oder Falschheit von Erkenntnis zu. Man kann also sagen, dass die gesamte bisherige Vorerkenntnis das Materiale behandelte, während nun mit dem Rekurs auf die Seelenlehre das Formale behandelt werden soll. Desweiteren kann das Materiale der Erkenntnis nicht in Abstufungen verstanden werden, sondern eine Erkenntnis ist materialiter schlicht wahr oder falsch. Das Formale der Erkenntnis hingegen unterliegt dem Wechsel, ja, »das Wesen derselben besteht hauptsächlich in der Vergleichung« (JubA III/2, 63); Erkenntnis also besitzt in Ansehung ihrer Wirkung auf den Erkennenden immer einen Grad. Auch damit ist nichts über einen Inhalt von Erkenntnis gesagt, sondern vielmehr ist der Bezug des Wahrgenommenen zu den Empfindungen angesprochen. Das Formale der Erkenntnis ist mit dieser Bestimmung, in Abhängigkeit zur Empfindung und des Vergleichs mit anderen subjektiv und relativ, während das Materiale der Erkenntnis objektiv und absolut gilt, vgl. Meier 1978, 245. Allerdings führt Mendelssohn die allein subjektiv erscheinende Geltung auf eine allgemeingültige Menschennatur zurück. 196 Hier ist Mendelssohn, siehe auch das Vorangegangene, etwas ungenau. Vgl. dazu neben den oben angeführten Bemerkungen die Anmerkung in JubA III/2, 284: »Die Dreiteilung der Seelenvermögen war jedenfalls in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts schon ziemlich geläufig.«

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Grundsätzlich ist demzufolge jede Vorstellung mit einem Grad der Billigung verbunden, da sie die Tätigkeit der Seele anregt und so dem Unbestimmten vorzuziehen ist.197 Missfallen entstehe über den (ungünstigen) Vergleich einer Vorstellung mit anderen (vgl. JubA III/2, 63). Das Billigen einer Vorstellung ist also durch ein Wechselverhältnis zwischen verschiedenen Vorstellungen und deren Bezug auf unser Erkenntnis- oder Begehrungsvermögen gekennzeichnet.198 Letztlich bedeutet es nicht mehr als dies: eine gegebene Vorstellung mit Lust oder Unlust zu begleiten und sie dementsprechend besitzen oder meiden zu wollen. Geht es um die Erkenntnis einer Sache, so nehmen wir keine Rücksicht darauf, ob die Vorstellung Lust erregt oder nicht – wir achten nicht auf eigene Wünsche, sondern fragen danach, ob die Vorstellung wahr ist. Regt eine Vorstellung hingegen das Begehrungsvermögen an, so sind wir bestrebt, das Wahrgenommene nach unseren Vorstellungen des Guten umzubilden. Indem Mendelssohn das menschliche Verlangen nach dem Guten absolut setzt und jegliche sadistische Neigung damit auszuschließen versucht, führt er sogar das Interesse, das die Menschen an »mit Leichen übersäeten Schlachtfeldern« (JubA III/2, 66) nehmen, auf dieses Verhältnis zurück. Angesichts faszinierend schrecklicher Gegenstände dieser Art bestehe keine Möglichkeit eines handelnden Eingriffs: Das bereits geschehene Massaker können wir nicht mehr nach unseren Vorstellungen vom Guten (also dem Begehrungsvermögen gemäß) ändern. Wir wollen vielmehr wissen, was geschehen ist – das Interesse motiviert den Erkenntnistrieb. Mendelssohn versucht dabei zu zeigen, dass es eine theoretische Faszination gibt, die zu Schlachtfeldern und anderen Schrecknissen zieht, um die Kenntnis der entsprechenden Umstände zu verbessern. Letztlich gehe es bei dieser Faszination um die Befriedigung des Erkenntnistriebs, nicht um einen (perversen) Genuss am vielfachen Mord. Der »unaussprechliche Reitz« des Bösen, der bereits in der 1761er Fassung der Rhapsodie anklang199, wird hier zum Erkenntnistrieb; der Bezug zur Moral wird dadurch abgemildert, dass ein eigener Eingriff in die Ereignisse sinnlos ist, da das Schreckliche bereits verübt wurde und, so dürfen wir weiter annehmen, auch die Verwundeten bereits versorgt sind. Wenn überhaupt ein Bezug zum »Vergnügen« 197 Dies erklärt sich mit Rückgriff auf Mendelssohns Bemerkungen zum absolut Bösen und Hässlichen in der Rhapsodie (JubA I, 399 f.). Da jegliche Vorstellung schon allein dadurch positiv bestimmt ist, dass sie der Seele eine Vorstellung ist, kann das absolut Böse als eine totale Negation positiver Bestimmungen nicht existieren – es besteht vielmehr in einem geringeren Grad an positiven Bestimmungen, die deshalb negativ beurteilt werden. Das Böse und Hässliche ist also positiv, insofern es eine Bestimmung der Seele ausmacht – es ist aber materialiter, oder besser: inhaltlich betrachtet zu verabscheuen. Auf das Billigungsvermögen bezogen bedeutet dies: »Das Häßliche, Böse und Unvollkommene […] erregt Unlust und Widerwillen.« (JubA III/2, 61). 198 Es ist mir nicht klar geworden, inwiefern Mendelssohn hier das Billigungsvermögen auf Kosten der beiden anderen Vermögen »aufwerte«, wie dies Terras 1978, 9 angenommen hat. 199 Vgl. JubA I, 571. Bereits in den Anmerkungen zu Burke (JubA III/1, 240), sowie in der diesbezüglichen Rezension (JubA IV, 220) äußert sich Mendelssohn in diese Richtung.

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erwähnt wird (und das geschieht in beiden Fassungen der Rhapsodie), so ist dies das Vergnügen an der eigenen Erkenntnisfähigkeit und am Vermögen, das Böse sehend zu verabscheuen. Der Aspekt der Hinwendung zum Bösen also ist Erkenntnisinteresse, das Vergnügen ist die Einsicht in die eigene Vollkommenheit, die am Schrecklichen Anstoß nimmt.200 Im Vergnügen an »Erdichtungen« hingegen ist allein das Billigungsvermögen angesprochen – was jedoch nach Mendelssohn keine isolierte Betrachtung dieser ›Urteilskraft‹ rechtfertigt. Der ästhetische Genuss geht zwar nicht mit dem Verlangen nach Besitz oder Änderung des betreffenden Gegenstands einher, sondern das Wahrgenommene soll allein die Neigungen angenehm beschäftigen und so letztlich der Vervollkommnung des ganzen Menschen dienen: der ruhige »Beyfall« (JubA III/2, 61), mit dem wir einen schönen Gegenstand bedenken, wird dabei nur als eine mögliche, aber durchaus nicht die wichtigste Erscheinungsform des Billigungsvermögens verstanden. Jedoch: Seine Einordnung in die Vermögenstrias weist ihm die Funktion als ein Übergang zwischen Erkennen und Wollen zu und macht zugleich die dem zugeordnete Ästhetik als ein Brückenphänomen charakterisierbar. Damit tritt Mendelssohn den übersteigerten Anforderungen Gottscheds an die Möglichkeiten der Ästhetik entgegen. Die Empfindungen der Kunst lassen sich nicht in eine reine Verstandestätigkeit transformieren, und sie lassen sich der Vernunft nicht immer vollständig unterordnen. Mit der Eingliederung des Billigens in die Vermögensstruktur des Menschen versucht er vielmehr eine Rechtfertigung der Schönheit, indem er die Eigenständigkeit der Empfindungen ernst nimmt, ohne zugleich eine ihnen inhärente Form der Rationalität aufzugeben. Es ist jedoch auffällig, dass die Nähe des Billigungsvermögens zum – sittlich bestimmten – Begehrungsvermögen diesen Rechtfertigungsversuch in die traditionelle Auffassung der »moralischen Schönheit« zurückführt.201 Wie schon die Skizze von 1776 andeutete, so führt Mendelssohn

200

Damit hat Mendelssohn seine Position gegenüber der Rhapsodie weniger geändert, als verdeutlicht. Denn die von Zelle 1987, 353 aufgeworfene Frage, warum der Mensch nicht nur schlicht das als moralisch Böse zur Kenntnis nimmt und dann verdammt, sondern bei seinem Anblick verweilt, glaubt Mendelssohn nun mit der Befriedigung des Erkenntnistriebes beantwortet zu haben. Er deutet dies 1771 (vgl. JubA I, 384) an: ist das Übel nicht mehr durch Eingreifen abzuwenden, dann will der Betrachter des Schlachtfeldes »doch von jedem Umstand unterrichtet seyn«, das zu dem Ereignis führte. Verräterisch wiederum ist der Zusatz: gern etwas erfahren zu wollen. Dies will Mendelssohn strikt in Bezug auf unsere Vervollkommnung, nicht auf das reine Vergnügen verstanden wissen. Auf die Betonung dieses Bezugs geht Zelle jedoch nicht ein. 201 Selbst innerhalb der Vorerkenntnis in den Morgenstunden nennt Mendelssohn wiederholt die Verbesserung des Billigungsvermögens, wenn eigentlich das vorher auf das moralisch ausgerichtete Begehrungsvermögen gemeint sein müsste (vgl. JubA III/2, 64–66). Für ihn gilt Terras’ Beobachtung, dass eine Theorie eines dritten Vermögens sich v. a. mit der Funktion der Sinne »in the perception of art, rather than the function of the mind, which is the central issue in the development of the doctrine of the three faculties« (Terras 1978, 7) befasst, also gerade nicht.

III.3 Zwischen Erkennen und Begehren. Das Billigungsvermögen

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letztlich auch das menschliche Billigen mit der göttlichen Billigung der besten aller möglichen Welten parallel und schließt: »[…] der Mensch forschet nach Wahrheit, billiget das Gute und Schöne, will alles Gute und thut das Beste.« (JubA III/2, 66). Bei Mendelssohn erstreckt sich die bestimmende Urteilskraft auf sowohl das theoretische als auch das praktische Feld: Billigen erscheint hier immer als ein Akt, der über das Tun oder Nichttun in Absicht auf die Veränderung unserer Umwelt abzweckt. Die Abwägung ist hier nicht ästhetisch (als ein freies Spiel) zu verstehen – dieses kann Mendelssohn mit seiner Konstruktion überhaupt nicht begründen – sondern eindeutig auf entweder moralische oder erkenntnisleitende Ergebnisse ausgerichtet. Das Wohlgefallen beim Schönen ist eher, analog zu Sulzer, ein abgeschwächter Modus desjenigen Gefallens, was auch den erkennenden Mathematiker oder den moralisch Handelnden in besonderer Form kennzeichnet. In diesem Sinne ist hier das Billigungsvermögen allerdings als ein »Uebergang« (JubA III/2, 62) zu verstehen, der das Bewusstsein entweder auf eine Handlung oder eine Erkenntnis hin auszurichten erlaubt. So ist Juchems Urteil hier nur zuzustimmen: »Wenn Sulzer das Verdienst zukommt, dem Geschmack und damit dem Gefühl seine Eigenständigkeit gegeben zu haben, so kommt es Mendelssohn zu, diese Eigenständigkeit in den Zusammenhang des Gemüts eingeordnet zu haben.« (Juchem 1970, 80) In diesem Sinne darf das Begehren auch nicht wesentlich zum Genuss gehören: gälte dies, wäre eine Abschätzung im »ästhetischen Modus« nicht möglich, sondern die Entscheidung der Zuweisung immer schon gefallen. Mendelssohns Ausführungen reichen in diesem Sinne kaum aus, um die Ästhetik als eine genuine Quelle der Seelenharmonie zu begründen, wie Schiller dies in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) in Weiterführung der Kantischen Ästhetik versucht hat. Zum anderen besteht auch ein deutlicher Unterschied zwischen den Ästhetiken Mendelssohns und Kants, da Mendelssohn dessen strenge Unterscheidung der Vermögen und ihrer Zuständigkeitsbereiche so nicht durchführt. Sein Anliegen besteht Kant gegenüber im Aufweis eines bestimmten funktionalen Zusammenhangs zwischen den menschlichen Vermögen, weshalb er in seinen Analysen die ästhetischen Wahrnehmungen stets auf ein Wollen oder ein Erkennen bezogen darstellt. Mendelssohns »Vergnügen« ist daher nicht mit dem »interesselosen Wohlgefallen«, das Kant in der Kritik der Urteilskraft als konstitutives Moment der ästhetischen Empfindung bestimmt (siehe dort §§ 2, 5) zu verwechseln. Gegen die Annahme, dass andersherum Mendelssohns Billigungsvermögen für Kants Auffassung des »interesselosen Wohlgefallens« relevant war, spricht, dass Kant schon zwischen 1776 und 1779 ein drittes Vermögen nennt (vgl. Juchem 1970, 89), also vor der Zeit, in der er Mendelssohns Überlegungen gekannt haben kann. Hinzu kommt, wie erwähnt, dass Kant die Morgenstunden v. a. als ein Negativbeispiel der überkommenden Metaphysik wahrnahm, die es vornehmlich zu widerlegen galt. Es lässt sich damit nicht ausschließen, dass Kant nichtsdestotrotz die Überlegungen der

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Kapitel III · Erkennen und Handeln

Vorerkenntnis, die er explizit lobt, in seine Theorie mit aufnimmt, wenngleich die tatsächlichen Wurzeln seiner Theorie des interesselosen Wohlgefallens vermutlich eher bspw. bei Johann Nicolas Tetens202 denn bei Mendelssohn liegen. »Billigen« nennt Kant in der KdU in Bezug auf das (bestimmende) Urteil über das Gute (vgl. § 5, § 54): es beruht auf »Vernunft« und deren praktischen Prinzipien, womit Kant die Ausrichtung des Mendelsohn’schen Billigungsvermögens durchaus getroffen hat. Das Billigungsvermögen, wie Mendelssohn es verstanden hat, ist eine Funktion der Prüfung von Vorstellungen, die, je nach Ergebnis, die Vorstellung entweder dem Erkenntnis- oder dem Begehrungsvermögen zuweist – oder aber in der ästhetischen Anschauung verweilt. Damit ist das Billigen die Qualifizierung eines Zustands, in den das Subjekt durch eine gegebene Vorstellung versetzt wird. Mendelssohn hat also den spezifisch ästhetischen Weltbezug einem Vermögen zugeordnet, das letztlich über die Qualifizierung von Wahrnehmungen bzw. Empfindungen zur theoretischen oder praktischen Reflexion entscheidet. Die in den Briefen über die Empfindungen von 1755 aufgedeckte dreifache Quelle des Vergnügens wird schließlich in den Morgenstunden aus der Perspektive der einzelnen Seelentätigkeiten und deren Verhältnis untereinander betrachtet. Die Analyse der unterschiedlichen und eigenständigen Seelenleistungen dient ihrer theoretischen Integration. Empfinden, Wollen und Erkennen sind unterschiedliche Seelentätigkeiten, die jedoch miteinander interagieren müssen, wenn der Mensch in ein angemessenes Weltverhältnis treten soll. In Bezug auf die Ästhetik bedeutet dies: der Genuss schöner und erhabener Gegenstände, aber auch die Hinwendung zum Schrecklichen verbindet sinnliche, evaluative und kognitive Momente. Und selbst die Erkenntnis der Wahrheit oder die Bestimmung zum Handeln verlangen die Leistung des ganzen Menschen, nicht die eines isolierten Vermögens. Die Pointe von Mendelssohns Ästhetik in ihrer spätesten Ausformung scheint damit gerade in dem integrativen Blick auf den ganzen Menschen, das heißt den Zusammenhang der Seelenvermögen zu bestehen. Eine isolierte Betrachtung des Theoretischen, Praktischen und Ästhetischen, wie sie von Kants Konzeption der drei Vermögens-Kritiken zumindest nahegelegt wird, muss Mendelssohns Ansatz daher ebenso grundsätzlich verfehlen wie eine Interpretation aus der Perspektive von Schillers holistischen Seelendynamismus; doch steht er dem letzteren zumindest näher. Indem Mendelssohn Schönheit als ein billigendes Anschauen in die Vermögensstruktur des Menschen integriert, betont er den möglichen Eigenwert der Empfindungen, ohne sie jedoch völlig von der Vernunft abzukoppeln.203 Die ästhetische 202

Vgl. Tetens’ Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung (1777), Bd. 1, 166 und Bd. 2, 374. Siehe auch Sommer 1892, 136, Kuehn 1987, 46 ff. m.w.Vw. und Nowitzki 2003, 185. 203 Im Gegenteil, nähert er eigentlich den Menschen hier dem göttlichen Vermögen der sicheren Zustimmung zum Besten an, indem das Billigungsvermögen die Gewalt der Leidenschaften bricht; vgl. Altmann 1982, 141.

III.3 Zwischen Erkennen und Begehren. Das Billigungsvermögen

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Erfahrung orientiert den Menschen letztlich auf das Wahre und das Gute, und sei es über den ›Umweg‹ einer erschreckenden oder hässlichen, aber doch immerhin sinnlich vollkommenen Vorstellung. Seine Theorie menschlicher Empfindungen steht damit trotz ihrer Einbeziehung der Schattenseiten menschlichen Vergnügens in den vermischten Empfindungen nicht für ein Abgleiten in eine irrationale Gefühlskultur. Sie ist vielmehr der Versuch, auf der Grundlage des Rationalismus dem Phänomen der ästhetischen Erfahrung gerecht zu werden und deren Ort im menschlichen Gemüt zu bestimmen. Kunsterfahrung lässt sich, so Mendelssohn, nicht in eine reine Verstandestätigkeit transformieren und sie ordnet sich ihr auch nicht vollständig unter. Vielmehr erhalten die Empfindungen einen Eigenwert, der auf seine Weise zur Vervollkommnung des Menschen beiträgt. Die Kontemplation über das Schöne sowie das Interesse am Schrecklichen stellt die Vollkommenheit als höchstes Gut nicht infrage, der Fokus liegt jedoch nicht mehr auf den Gegenständen selbst, sondern auf ihrem Verhältnis zum Subjekt.204 Schon 1755 fragt Mendelssohn mit der Stimme Palemons: »Denn welche Sclaverey ist härter als diese, wo Vernunft und Herz nicht einig sind?« (JubA I, 64) Mit dem Blick auf den Reichtum der menschlichen Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit weitet sich der Horizont von der Auffassung des Menschen als eines rein rationalen Wesens zum ganzen Menschen als eines vernünftigen wie sinnlichen Subjekts. Im Anerkennen des Wahren und Guten in einem Modus, der auch das Empfinden des Schönen kennzeichnet, liegt also nicht nur die Ästhetik, sondern der gesamte menschliche Vermögensapparat in perfekter Einheit vor. Abbt hat diesen Grundgedanken schon in der Rhapsodie (Fassung 1761) erkannt und verweist auf sie in seiner Evidenzschrift (Abbt, Werke 4, 129): Man wird das Gute immer dann zuverlässig erkennen (will man es, wie Abbt es hier unternimmt, aus der Erfahrung ableiten), »wenn das Herz in Ruhe, und mit dem Denken in Einigkeit ist.« Mendelssohns Überlegungen zu diesem Komplex versuchen den ganzen Reichtum menschlicher Erfahrung nachzuvollziehen, und haben so ein lebendigeres Bild vom Menschen gezeichnet, als dies von einem »Rationalisten« oder »Schulphilosophen« zu erwarten gewesen wäre. Bezogen ist die solcherart spezifizierte menschliche Vervollkommnungsfähigkeit über die Billigung bzw. Betrachtung, das Erkennen und willentlich Begehren immer auch auf die den Menschen umgebende Gesellschaft, seine Bezogenheit auf den Anderen. Der Analyse dieser Hinwendung ist das nachfolgende Kapitel gewidmet.

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Ein ähnliches Konzept scheint Schiller in der Ästhetischen Erziehung zu verfolgen, wenn er den ästhetischen Zustand als denjenigen definiert, von dem aus moralische Handlungen (und er meint, im Gegensatz zu Kant, weniger »Moral«, sondern eher »Ethik«) allererst möglich werden (vgl. NA 20, 357, 388): Schönheit, bzw. der ästhetische Zustand ist eine »nothwendige Bedingung der Menschheit« (ebd., 340).

KAPITEL IV Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

IV. Lebendige Überlieferung oder toter Buchstabe. Mendelssohn über Sprache »Die Sprache ist das Element, in welchem unsre abgesonderten Begriffe leben und weben. Sie können dieses Element zur Veränderung abwechseln, aber verlassen können sie es nicht, ohne Gefahr den Geist aufzugeben.« Mendelssohn, Morgenstunden, JubA III/2, 61 »So groß die Perfectibilität des Menschen oder seine Anlagen zu größerer Vollkommenheit immer seyn mögen, so würden sie ewig ungenutzt bleiben, wenn er nie in Vereinigung mit seines Gleichen träte« Johann August Eberhard, Ueber Staatsverfassungen und ihre Verbesserung […], 1793/94, 13

In Mendelssohns anthropologischer Betrachtung der Bedingungen und Möglichkeiten menschlicher Sprache liegt meines Erachtens der Übergang von der Definition des Individuums als eines sinnlich-rationalen Wesens zu einer Untersuchung des menschlichen Gesellschaftsbezugs, sowie die Antwort auf die Frage, inwiefern letzterer für Mendelssohn notwendig mit der umfassenden Forderung nach Vervollkommnung zusammenhängt. Zweierlei ist hier unter Rückgriff auf die sprachphilosophische Diskussion in der Hochaufklärung zu unterscheiden: die Frage nach dem Zusammenhang von Sprachgebrauch und Abstraktionsfähigkeit einerseits, sowie nach dem Aspekt der Soziabilität von Sprache andererseits. In Bezug auf den erstgenannten Aspekt lässt sich vorwegnehmen: Wann immer Mendelssohn von einer Sprachentwicklung spricht, geht es ihm – ebenso wenig wie beispielsweise Rousseau – um eine tatsächlich verifizierbare genetische Betrachtung, sondern vielmehr finden sich hier Reflexionen auf das Zusammenspiel zwischen der Vernunft und der Fähigkeit, sich Begriffen bewusst zu werden und entsprechende Worte zu bilden, um sie leichter zu erinnern und anderen mitteilen zu können. Auch hinsichtlich des zweiten Aspekts ist die wiederum eher genetische Frage, ob Sprache Gesellschaft ermöglichte bzw. erst aus einer gesellschaftlichen Vereinigung der Menschen hervorging, nicht so wichtig wie der Aspekt, inwiefern Sprache auf eine soziale und nicht bloß instrumentelle Kommunikation ausgerichtet ist und damit den Menschen generell als ein soziales – und nicht in »ungeselliger Geselligkeit« (Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürger-

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

licher Absicht, 1784, AA VIII, 20) lebendes – Lebewesen charakterisiert. Es sind also weniger die genetischen, als die konstitutiven Aspekte der Sprache, die Mendelssohn interessierten. Der Aspekt der Sprachentwicklung und den damit zusammenhängenden Implikationen über die Genese des menschlichen Geistes (die oft mit der Begründung und Rechtfertigung geistiger Vermögen verwechselt wurde) war ein vitales Anliegen der Aufklärungsphilosophen. Zwei wichtige Preisfragen schrieb die Akademie 1757 und 1769 aus, um dem Problem Kontur zu verleihen; die Mitglieder der Akademie selbst verfassten Abhandlungen über die Sprachentstehung, die – inklusive kritischer Anmerkungen Dritter – in den Briefen oder intellektuellen Zirkeln der Aufklärer diskutiert wurden. Mendelssohn nahm an diesem Geschehen öffentlich durch seine Rousseau-Übersetzung teil, der er das Sendschreiben an Lessing beifügte (vgl. Kap. II.1). Dort finden sich einige locker aneinander gereihte Überlegungen zu den gängigen Themen, die sich jedoch kaum zu einer konsistenten und befriedigenden Sprachtheorie zusammenfassen lassen. Daneben sind unveröffentlichte, aber anscheinend einigen Zeitgenossen bekannte Notizen überliefert, in denen er sich eingehender zum Thema äußert. Diese sind nicht zuletzt deswegen im gegebenen Zusammenhang von großer Wichtigkeit, da sie auf den zweiten genannten Aspekt, die Wurzel der Sprache in der Geselligkeit, weitaus stärker verweisen als das Sendschreiben. Sie stehen damit dem Jerusalem näher, dessen Überlegungen die expliziteste und vielleicht auch fruchtbarste Verknüpfung von Sprache und Anthropologie bietet. Wie schon in der Besprechung der Bestimmungsdebatte mit Abbt deutlich werden sollte, hat sich Mendelssohn kaum für die Sprache als ein isoliertes Phänomen der menschlichen Fähigkeiten interessiert, sondern betrachtete sie eingebunden in das umfassendere Moment der Perfektibilität. Dabei versucht er, unter Rückgriff auf das Moment individueller Entwicklung auch das wichtigste Problem der zeitgenössischen Sprachphilosophie, das Verhältnis zwischen Vernunft- und Sprachfähigkeit, zu umgehen. Diese verwickelte sich in ihren Überlegungen in einen Begründungszirkel: zum einen formt die Sprache die Vernunft, aber ohne eine hinreichend ausgebildete Vernunft wiederum ist keine Sprache möglich.1 Wie also kann Sprachentstehung er1

Pointiert drückte Rousseau in seinem zweiten Discours (vgl. JubA VI/2, 108, 112) diesen Zirkel aus. Sulzer beginnt so seine 1767 (zuerst auf Französisch) veröffentlichte Abhandlung Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache, und der Sprache in die Vernunft (zuerst Histoire de l’Académie 1767, 413–38; aufgenommen in die Vermischten Philosophischen Schriften Bd. I, 166–98) mit der Reformulierung dieses Problems: »Wenn man bey den Untersuchungen über den Ursprung der Sprache sehr große Schwierigkeiten antrifft, so rühret dieses daher, daß bey dieser Frage kein gewisser fester Punkt, an den man sich halten, und von dem man weiter fortgehen könnte, statt zu finden scheint. Auf der einen Seite glaubet man gewahr zu werden, daß die Sprache eine bis auf einen gewissen Grad angebaute [sic; vielleicht: ausgebaute?] Vernunft voraussetze, und auf der andern Seite begreift man nicht, wie die Vernunft ohne Hülfe einer Sprache habe fortschreiten können. Diese beyden Vermögen scheinen zu gleicher Zeit die Ursache und die Wirkung von

IV.1 Lebendige Überlieferung oder toter Buchstabe. Mendelssohn über Sprache

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klärt werden, ohne auf einen gerichteten göttlichen Eingriff zu verweisen? Mendelssohn versucht, diesem Problem mit einer Umformulierung zu begegnen: ein Mensch gänzlich ohne Vernunft ist nicht denkbar, denn es wäre ein Mensch ohne Seele. Damit ist er auch ›immer schon‹ im Besitz angeborener Begriffe, die in der Entwicklung ihre sprachliche Gestalt durch Verbindung mit Empfindungen bekommen und sich erst durch Interaktion zu Worten bilden. Ein Vernunftvermögen meint damit nicht mehr als eine Anlage, die sich entwickeln muss. Dasselbe gilt von der Sprache: der Mensch hat einen Mitteilungstrieb, der sich anfangs mit einfacheren Mitteln als einer ausgebildeten Sprache befriedigen lässt, jedoch auf Vervollkommnung drängt. Beide beginnen ihre Entwicklung parallel als distinkte, aber miteinander zusammenhängende Punkte der Vervollkommnungsfähigkeit. Den Einstieg in den Zirkel von Vernunft und Sprache versucht Mendelssohn über den Rückgriff auf eine modifizierte Assoziationstheorie. Der Einzelne erhebt sich schrittweise und durch Übung im assoziativen Denken von bloß nachahmenden zu willkürlichen Zeichen.2 Eine solcherart verfeinerte Verbindung von Einbildungskraft und Aufmerksamkeit lässt ihn die Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem immer abstrakter – und schneller – erkennen, bis er schließlich den sicheren Symbolgebrauch erlangt – und damit auch abstraktere Gedankengebilde schneller und effektiver überschauen kann. Um das Angebot möglicher Zeichen konstant zu halten, muss Mendelssohn allerdings mit der Unterstellung einer ebenfalls konstanten und vor einem homogenen Wahrnehmungsumfeld agierenden und miteinander lebenden Gruppe von Individuen argumentieren. Auf diesen Aspekt, der sich in seinen Notizen lediglich andeutet, wird Mendelssohn im Jerusalem zurückkommen. Sobald die Sprache einen gewissen Standard erreicht hat, so seine Auffassung, ist sie aber zur Ausbildung des (abstrakten) Denkens unabdingbar. Erst im Medium der Sprache kann sich der Mensch vom direkten Umweltbezug lösen und zu den Sternen greifen; und er kann dies nur in Gemeinschaft mit Anderen. Allerdings wird der arbiträre Charakter der Sprache hier Grenzen setzen. Mit dem Rückgriff auf eine (recht schlichte) Assoziationstheorie in den frühen Ansätzen von Mendelssohns Sprachbetrachtung mag der logische Zirkel von Sprachund Vernunftbegründung noch immer nicht gänzlich befriedigend gelöst sein, er ist aber operationalisiert worden. Allerdings erscheint Sprache vor diesem Hintergrund als ein wenig strukturiertes Gebilde aus Einzel- und Allgemeinbegriffen. Eine syntakeinander zu seyn.« (Sulzer, 1767, 166) Anschließend wird Sulzer einen ähnlichen Lösungsweg wie Mendelssohn beschreiten, indem er beider Entwicklung parallelisiert. 2 Parallel dazu die Unterscheidung Leibniz’ zwischen cognitio intuitiva und cognitio symbolica in den Meditationes (1684), auf die auch Ricken 2000, 198 verweist. Dabei ist hervorzuheben, dass die letztgenannte Form nicht der adäquaten, klaren und deutlichen Form der Erkenntnis entspricht, sondern wegen der Komplexität des zu Bezeichnenden auf die Symbolik als »Denkabkürzung« zurückgreifen muss; vgl. Kap. II.2, 161, FN 82.

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

tische Sprachstruktur kann diese Theorie nicht bieten. Tatsächlich legt Mendelssohn weniger Wert auf diese Theorieelemente3, als auf den Aspekt der Begriffsbedeutung und nicht zuletzt den der Performanz4, wobei er sich wiederum an Überlegungen Leibniz’, Wolffs und Lockes anschließt. Insgesamt muss man jedoch feststellen, dass Mendelssohns Überlegungen zur Sprachentwicklung unter dem Niveau bleiben, das sich im Mittelalter im Umfeld des Universalienproblems etabliert hatte und auf das noch Leibniz mit seinem Konzept einer characeristica universalis zurückgriff.5 Schon allein deshalb bietet es sich an, die Sprachtheorie als einen untergeordneten Aspekt in einem größeren Gefüge zu begreifen. Was Mendelssohn unstreitig von Leibniz übernahm, war neben der in den Meditationes entwickelten Analyse von Vorstellungen als auch begrifflichen Gehalten (er spricht dort von begrifflichem Erfassen sowie Nominal- bzw. Realdefinitionen, vgl. Hauptschriften 11–14) dessen Ansicht, dass Denken nie ohne Symbole geschehen 3

Überlegungen dazu finden sich erst in gedrängter Form am Schluss der »Notizen über die Sprache« (JubA VI/2, 22 f.); im Sendschreiben erscheint lediglich eine kurze Andeutung an »Beywörter«, bevor der Text abbricht (JubA II, 109). Alles in allem fand in Mendelssohns Philosophie eine auf syntaktische Strukturen ausgerichtete Sprachphilosophie, die die Zeitgenossen in der Logik verorteten, keinen angemessenen Ort (vgl. Meier, Vernunftlehre; ähnlich auch Sulzers Anmerkungen von 1767, 166 f.). Es ist unbefriedigend, dass auf diesen Umstand in der JubA VI/2 nicht hingewiesen wird, trotz der Betonung, dass Mendelssohn »als Philosoph« erkennen musste, »daß die Ungenauigkeit der Sprache, besonders bei abstrakten Begriffen, die ideale Funktion der Worte in Frage stellt.« (JubA VI/2, XXXIX) 4 Neben seinem Interesse für den künstlerisch-rhetorischen Aspekt der Sprache, der sich in seinen Dialogen widerspiegelt, zeigen auch weitere Notizen zu Begriffsfeldern, dass sich Mendelssohn der Kontextualität von »Worten« als unterschiedlichen Begriffen bewusst war (JubA VI/2, 31–56, über Synonyme). Engel in JubA VI/2, XIV listet diejenigen Begriffe auf, die Mendelssohn gerade für ihre Verwendung in der Ästhetik näher bestimmt hatte. Auch hier ist der Performanz-Aspekt von Bedeutung: was das Mitleid ist, zeigt sich darin, wie es sich zeigt. 5 Siehe Hauptschriften, Bd. I, 16–23. Dabei ist hier zu betonen, dass es Leibniz um eine Wissenschaftssprache ging, die er in der Mathematik glaubte gefunden zu haben. »[…] es müßte sich, meinte ich, eine Art Alphabet der menschlichen Gedanken ersinnen und durch die Verknüpfung seiner Buchstaben und die Analysis der Worte, sie sich aus ihnen zusammensetzen, alles andere entdecken und beurteilen lassen« (Leibniz, Hauptschriften I, 18 mit Hinweis auf die Dissertation »ars combinatoria« von 1666) Erste und ursprüngliche Prinzipien sind damit eher mathematischer, als sprachlicher Natur (vgl. ebd., 19). Wenn allerdings die Sprache vernünftigen Prinzipien gehorcht, ist sie eine Darstellung der mathematischen Wahrheit. Descartes sei es nicht gelungen, die »Ordnung der Begriffe und Ideen« zu lösen (vgl. ebd., 19), die Leibniz in »Grammatik« und »Wörterbuch« dieser »wunderbaren allgemeinen Sprache« (ebd., 20) der Mathematik findet (vgl. Sulzer 1767, 167: Sprache »ist der algebraischen Rechnung völlig gleichförmig…«). Bei Leibniz scheint die Frage nach der Zuordnung von Zahlen zu Begriffen und Dingen noch nicht gelöst zu sein. Zusätzlich bedürfen seiner eigener Auffassung gemäß selbst die abstraktesten Inhalte der psychologischen Begleitung der sinnlichen Einbildungskraft (siehe Cassirers Kommentar in Hauptschriften I, 331) und können also nicht allein durch die Mathematik repräsentiert werden. Mendelssohn formuliert dies ebenfalls, wenn er in der Evidenzschrift das Fehlen von »wesentlichen Zeichen« in der Weltweisheit, der Metaphysik, beklagt (vgl. JubA II, 290 f.).

IV.1 Lebendige Überlieferung oder toter Buchstabe. Mendelssohn über Sprache

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kann.6 Mendelssohn warnt jedoch – mit Wolff (vgl. Ricken 2000, 201) – vor Vereinseitigung: Nur in Symbolen zu denken befreit zwar von Sinnlichkeit, birgt aber die Gefahr der Inhaltsleere. Hinzu kommt seine Skepsis bezüglich einer Universalsprache7, die sich, wie an den angegebenen Stellen deutlich zu ersehen ist, auch aus dem Bedenken speist, dass deren reduktive Tendenz keinen Raum mehr für den ästhetischen Gebrauch der Sprache lässt.8 Aus diesen Gründen lässt sich kaum sagen, dass er bruchlos an Leibniz anschließt. Vielmehr scheint sich der atomistische Aufbau seiner Theorie aus dem Rückgriff auf die Methodik der Deutschen Logik Wolffs zu speisen, die ebenfalls das Verfahren einer aufbauenden Analyse, also von den Begriffen zu den Worten, Sätzen und Schlüssen überzugehen, verfolgt. Darüber hinaus ist Mendelssohns Theorie der Hermeneutik, der Auslegung der (biblischen) Sprache, auch dem Wolffschen Ansatz gegenüber reichhaltiger und fruchtbarer. So trennt Mendelssohn schließlich im Jerusalem zwischen dem statischen Bereich der an einer Ontologie orientierten Erfassung der Natur bzw. der Gegenstände, über die die Sprache spricht, und dem dynamischen (auch rhetorischen) Gebiet der Ausdrucksmittel wie Worte und Schriftzeichen (vgl. Hütter 1990, 26 f.), um seine Aufmerksamkeit gerade dem letzten Bereich zuzuwenden. Hier findet die in der Bestimmungsdebatte formulierte dynamische Interpretation der Monadenlehre ihren Ausdruck und wird in Mendelssohns Version einer Aufklärungsphilosophie überführt. Solcherart zeigt sich in Mendelssohns Interesse an spezifischen Bereichen der Sprache deutlich die Überzeugung, diese als ein Moment menschlicher Vervollkommnung zu begreifen, das nur in seinem Bezug auf den gesamten Problemkomplex der Bestimmung des Menschen wirklich einsichtig wird. Auf Mendelssohns vornehmlich in den Litteraturbriefen enthaltene Sprachkritik, die zumeist eher einer Stilkritik entspricht, werde ich hier nicht eingehen (siehe dazu 6

Vgl. Nouveaux Essais II.21. Eine weitere Quelle dieser Ansicht kann jedoch auch Condillacs wirkungsmächtige Abhandlung über die Sprachentstehung gewesen sein, in der dieser ebenfalls die Sprachgebundenheit des Denkens reflektiert, jedoch entschieden die Idee eingeborener Ideen zurückweist. Vgl. 1746 in seinem Essai sur l’origine des connoissances humaines, der auch in Mendelssohns Bücherverzeichnis (562/47) aufgeführt ist; später ausgearbeitet in La logique, ou Les premiere développement de l’art de penser, 1780, vgl. dazu Proß 1987. 7 Hütter 1990, 26. So der Sache nach in LB 62: 11. Oktober 1759 (JubA V/1, 93) und in der Rezension zu Lamberts Neuem Organon (AdB 3.1, 1766; JubA V/2, 31–64, v. a. 54 f.). 8 Vgl. damit seine semiotischen Überlegungen in den Hauptgrundsätzen, JubA I, 437–41 (die in eine Analyse der ästhetischen Bildsprache und Metaphorik übergeht) und seine Besprechung von Meiers Auszug aus den Anfangsgründen der schönen Künste und Wissenschaften 1757, JubA IV/1, 200. Dort bezeichnet er den Zusammenhang zwischen den natürlichen und willkürlichen Zeichen der Schönheit als das wichtigste Gebiet der Semiotik. Darüber hinaus, so Mendelssohn im Zusammenhang mit seiner Gewohnheitstheorie, habe das Fehlen von Anschauung zur Folge, dass die motivationale Kraft der Begriffe verloren ginge (vgl. Kap. III.2, 315 f.). Vgl. auch Strube 1990, 169–76, der nachweist, dass Mendelssohn als Erster in Anschluss an die von Locke und Wolff begründete Begrifflichkeit der natürlichen und willkürlichen Zeichen in der Ästhetik zu systematisieren versucht.

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

JubA VI/2, XII f. m. w. Vw.). Wichtig in diesem Zusammenhang aber ist in Hinblick auf die Kunst, dass Mendelssohn ein Bewusstsein für unterschiedliche Sprachebenen und ihre Anwendung etablieren wollte. Was auf der Bühne schön klingt, muss im alltäglichen Gespräch nicht überzeugen – ebenso wie ein philosophisch einwandfreier Beweis auf der Bühne lediglich ein Gähnen, aber keine Erkenntnis hervorrufen wird. In diesem Sinne verfocht Mendelssohn eine Sprachpragmatik der Stil- und Ausdrucksebenentrennung und unterscheidet im Jerusalem zwischen einer Redeund einer Schriftsprache. Was will wer zu welchem Zweck sagen? Und wie ist damit umzugehen? Auch in dieser Hinsicht ließe sich zeigen, dass der kritische Impetus eines Rousseau nicht spurlos an ihm vorübergegangen war. Ich werde mich nicht zuletzt deshalb im Folgenden Rousseau als einer wichtigen Quelle von Mendelssohns Sprachtheorie zuwenden. Beide eint, dass sie die Sprache v. a. hinsichtlich ihres kritischen Potentials zur Überredung in den Blick nehmen, um im Anschluss daran zu zwei durchaus unterschiedlichen Theorien von der Rolle der Sprache in menschlicher Gesellschaft zu gelangen. Als die zwei wichtigsten Punkte der Mendelsohn’schen Theorie im Kontrast zu Rousseau lassen sich zum einen die angenommene, dem Menschen eigene intentionale Hinwendung an den Mitmenschen festhalten, die die Sprache in erster Linie als Kommunikations-, nicht als Unterdrückungsinstrument begründen soll. Zum anderen jedoch wird Mendelssohn die skeptischen Implikationen Rousseaus auch durch den pragmatischen Aspekt der Kombination von Sprache und Ritus zu beantworten suchen: abstrakte Symbolik ist tatsächlich nicht geeignet, den ganzen Menschen seiner Bestimmung zuzuführen. Vielmehr muss die Verbindung zu Formen der Anschaulichkeit aufrechterhalten werden.

1. Sprachtheorie als Kritik: Rousseau Die Diskussion über Struktur, Wert und Herkunft der Sprache war im Deutschland der Aufklärungszeit – in enger Verbindung mit seinen europäischen Nachbarn – lebhaft. Als im Jahre 1769 eine Preisfrage der Akademie zu diesem Thema ausgeschrieben wurde, war es nicht ein Anstoß zu einer Debatte, sondern der Wunsch nach ihrer Lösung, oder zumindest ihrer Strukturierung. Pierre-Louis Moreau de Maupertuis, damals Präsident der Akademie, hatte selbst 1748 mit seiner Schrift Réflexions sur l’origine des langues et la signification des mots an die Anregung Étienne Bonnot de Condillacs angeknüpft: dieser hatte zwei Jahre zuvor in seinem Essai sur l’origine des connoissances humaines die Vermutung geäußert, dass im Ursprung der Sprache die Entwicklung des menschlichen Geistes zu finden sei.9 Als weiterer Kombattant hat 9

Wie Ricken 2000, 202 f. hervorhebt, stützt sich wiederum Condillac auf sprachtheoretische

IV.1 Lebendige Überlieferung oder toter Buchstabe. Mendelssohn über Sprache

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sich Rousseau in seinem zweiten Discours kritisch mit diesen Aussagen auseinandergesetzt, woran sich wiederum – neben vielen anderen – Mendelssohns Diskussion des Problemfelds anschließt.10 Rousseau wirft Condillac in erster Linie eine petitio principii vor. »[I]ch meine, er hat eine Art von Gesellschaft angenommen, die bereits unter den Erfindern der Sprache gestiftet gewesen ist.« (Discours, 10611) Wie war aber, so Rousseau dagegen, die Etablierung der Sprache, und damit ein System an »notwendigen«12 (Discours, 107) Zeichen eigentlich möglich, wenn dessen Voraussetzung, eine natürliche »Gemeinschaft« der Menschen, gerade nicht notwendig ist? Im Zuge seiner Theorie menschlicher Vergesellschaftung aufgrund des bloßen Bedürfnisses, des notwendigen Ausgleichs mangelnden Instinkts und des zunehmenden Missbrauchs der spezifisch menschlichen Entscheidungsfreiheit (siehe dazu ausführlicher Kap. II.1) wählt Rousseau die entgegengesetzte Strategie. Ihm zufolge kann es eine »notwendige«, reine Sprache strenggenommen gar nicht geben, sondern die Entwicklung der zivilisierten Kommunikation ist aus einer »natürlichen« Form der Kommunikation zu erklären. Der ›wilden‹, ›natürlichen‹ Sprache steht zwar ein artifizielles System der abstrakten Worte gegenüber. Eines zielt auf die bloße Verbesserung der eigenen Lebensumstände, das andere auf die systematische Täuschung des Anderen bzw. effektive Inszenierung seiner selbst. Beide verbindet jedoch ihr grundlegend instrumenteller Charakter. Rousseau beschreibt die Entwicklung der letzteren aus der ersteren immer möglichst nah anhand pragmatischer Umwelterfordernisse, die eine Weiterentwicklung nötig machten und somit die Anregungen zur Entwicklung mit dem notwendigen Ausgleich durch spezifische, von einer sich bildenden Zivilisation ausgehenden Mangelerfahrungen begründen. Was hier erwacht, ist also nicht die Vernunft im emphatischen, sondern im degenerativen Sinne. So lässt er die stufenweise Entwicklung vom natürlichen zum kultivierten Menschen in primitiven ad-hoc-Gemeinschaften beginnen, deren Verständigung durch »natürliches Schreien« (JubA VI/2, 108, auch 128) gekennzeichnet ist. Es besitzt eher deiktischen Charakter, will also weder »überreden« (vgl. ebd.)13, noch abstrakte

Prämissen Wolffs, ohne dabei jedoch dessen Metaphysik übernehmem zu wollen. Er macht demgegenüber den Sprachursprung zum entscheidenden Aspekt. Vgl. zur weiteren Entwicklung der Diskussion im Umfeld der Akademie Proß 1987, 896–903 und 1175–84. 10 Rousseaus weitere Überlegungen im Essai sur l’origine des langues werde ich hier nicht berücksichtigen, sie erschienen erst postum 1781. 11 Zitiert nach Mendelssohns Übersetzung, wiederabgedr. in JubA VI/2, 61–202. Siehe Kap. II.1, FN 4. 12 Eine bessere Formulierung wäre vielleicht »verbindliche Zeichen«. 13 Dieser Aspekt tritt umso schärfer in den zivilisierten Sprachen auf, die auf die Etablierung eines Scheins zur Sicherung des Eigentums gerichtet sind. Rousseau hebt dies im zweiten Teil deutlich hervor, vgl. JubA VI/2, 139: dort schildert er den geschickten Einsatz der Rede bei den Mäch-

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

Gehalte wiedergeben. Diese ersten Lautäußerungen basieren auf einem Instinkt, der dem Menschen in einer gefahrvollen Situation einen Schrei »entreißt« und somit noch nicht einmal als Instrument der (wiederum sozial zu interpretierenden) Warnung dient, sondern einen bloßen Reflex zur körperlichen Entlastung bei Anspannung darstellt. Bei zunehmender gesellschaftlicher Abhängigkeit lässt sich eine Zunahme der Begriffe, immer noch nachahmend, mit Körperbewegungen begleitet, verzeichnen. »Allein durch die Gebehrden konnten nur die gegenwärtigen und leicht zu beschreibenden Gegenstände, oder sichtbare Handlungen angedeutet werden und auch dazu könnten sie nicht immer dienen, denn ein finstrer Ort, oder ein anderer Gegenstand, der dazwischen kam, mußte sie unbrauchbar machen; zudem scheinen sie unsere Aufmerksamkeit mehr zu erfordern, als rege zu machen.« (Discours, 109)14 Um auf Abwesendes oder Unsichtbares / Unsinnliches zu verweisen, wurde die Stimmmodulation anstelle der Deiktik eingesetzt; eine weitere Stufe der Abstraktion ist erreicht. Das Verlangen nach Mitteilung meint hierbei nicht Kommunikation, sondern reinen Informationsaustausch zur Verbesserung der eigenen Lebensumstände. Sprache ist damit ein – fallibles – Hilfsmittel, ein Instrument der Mitteilung, keine Bedingung der Möglichkeit nichtsinnlicher Erfahrungs- und Erkenntnisinhalte. Dies verlangt freilich eine Voraussetzung: »In fact, [humans] think propositionally, Rousseau says, before they have words for propositions.« (Velkley 2002, 47) Deshalb liegt das Problem der Vernunftentwicklung für Rousseau nicht in demselben Rahmen wie dasjenige der Sprachentwicklung bzw. wird in das Problem der Gesellschaftsentwicklung übertragen. Ähnlich wie später bei Mendelssohn liegt auch in Rousseaus Reformulierung einer Sprachentwicklung der Schwerpunkt auf einzelnen Begriffen, nicht auf den Erfordernissen einer komplexen Syntax. Der Übergang zwischen beiden wird in seinen Ausführungen nicht ganz klar. Letztlich würde er wohl argumentieren, dass eine allein auf Benennungen basierte Sprache auch mit derjenigen des Naturzustands übereinkäme, wohingegen erst die überfeinerten Bedürfnisse der Zivilisation darüber hinausgehende Strukturen notwendig machten. In seiner im Discours gelieferten Erklärung jedenfalls ist die Semantik nur atomistisch15, nicht durch Strukturbeziehungen bestimmt. Umso schwerer ist es verständlich, wie sich innerhalb dieses Modells eine derartige Sprachstruktur soll entwickeln können, wie sie in bestehenden Kulturen tigen, die die Schwächeren in einen für sie nachteiligen, aber den Status der Mächtigen sichernden gesellschaftlichen Pakt drängen, vgl. Kap. II.2, 127 f. 14 »The difficulty here is that the general idea is the thought of something not sensibly present; to designate such ideas by means of sounds or other signs involves establishing agreement among human beings who, as lacking articulated speech, have only crude gestures fit for pointing to what is sensibly present.« (Velkley 2002, 47) 15 Deshalb geht Rousseau davon aus, dass es zuerst nur Individual-, keine Gattungsbezeichnungen gab, vgl. JubA VI/2, 110.

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vorliegt. Rousseaus hier als verunglückt zu bezeichnende Theorie der Allgemeinbegriffe scheint letztlich keine Erklärung, sondern ein Pamphlet gegen eine bestimmte Ansicht zu sein. Und tatsächlich dient die Rekonstruktion der Sprachentwicklung, wie seine genealogische Beschreibung menschlicher Gesellschaftsentwicklung im zweiten Teil des Discours zeigt, allein der Darstellung und Kritik einer schleichenden Ver- und Überfeinerung der Gesellschaft (vgl. JubA VI/2, 128 f.). Durch die Sprache, die die Herausbildung dieser Strukturen stützte und beförderte, konnte sich letztlich die sublimierte Form der Abhängigkeit, die sich schon durch die primitivsten Formen der Arbeitsteilung unter den Menschen ausbreitete, entfalten (vgl. JubA VI/2, 129 f.). Sprache ist letztlich Ausdruck eines Mangels, keiner sich erfüllenden Bestimmung. Mit der Betonung, dass die »höchsten« und zugleich abstraktesten Begriffe wie »Materie, Geist, Substanz, Zufälligkeit, Figur, und Bewegung« nahezu zwangsläufig zum Mittel der Unterdrückung der natürlichen Welt durch einen sich selbst nur unzureichend durchsichtigen Geist gerieten16, legt er den Schwerpunkt seiner Untersuchung nicht auf eine historisch valide Explikation, sondern weist einen Weg aufklärerischer Kritik. Letztlich sind Allgemeinbegriffe Abstraktionen, die sich auf mehr oder weniger zureichende Beobachtungen stützen und sich so der Erfassung der ganzen Welt nur annähern, nicht ihre innersten Gesetzmäßigkeiten repräsentieren (dies täte vielmehr die von Gegenständen und Empfindungen abhängige, ›ungekünstelte‹ Assoziation). Die Einteilung der Welt in ein intellektuelles Raster sollte – so scheint hinter Rousseaus Ausführungen zu stehen – nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um eine nur unzureichende Erfassung der ganzen Wirklichkeit handelt. In diesem Sinne weist seine nur fragmentarische17 Sprachtheorie auf sein aufklärerisches Anliegen zurück: solange man die abstrakten metaphysischen Systeme nutzt, um die natürlichen Anlagen des Menschen zu unterdrücken, wird sich die Welt nicht bessern. Wenn der Mensch seine Vernunft zur Aufrechterhaltung der 16

Ähnlich Ricken 2000, 205 f. Letztlich sind diese Art der Abstracta erst Folgerungen aus einem Erleben, das sich der menschlichen Gemeinschaft und der Inthronisierung des Eigentums (das eigentliche Thema des zweiten Abschnitts im zweiten Discours) herleitet – erst hier erhielten die Menschen Ideen des Vergleichs ihrer selbst mit anderen, ein Gefühl für »Verdienst und Schönheit« (JubA VI/2, 130) und anderer Allgemeinbegriffe, die die Herrschaft der schwankenden Vernunft über die Natur befestigt. Sie sind ein Werk des »Scheins« und werden für mehr gehalten, als sie sind. 17 Herder ist hier radikaler: über Condillacs Sprachtheorie (Herder zitiert Bd. II des Essai sur l’origine des connoissances humaines) spottet er: »Kurz es entstanden Worte, weil Worte da waren ehe sie da waren – mich dünkt, es lohnt nicht, den Faden unsres Erklärers weiter zu verfolgen, da er doch – an nichts geknüpft ist« (Werke 1, 710). Rousseau ginge darüber nicht hinaus: »Ich sehe nie, wie [aus der Entwicklung des tierischen Schreiens eine Sprache, A.P.] geworden wäre, und wundre mich, daß der Scharfsinn eines Rousseau sie einen Augenblick daraus habe können werden lassen?« (ebd.) Letztlich gesteht Herder: über alle diese Spekulationen »begreife ich nichts« (ebd., 709), aber ersterer habe den Fehler begangen, »die Tiere zu Menschen und dieser [Rousseau] die Menschen zu Tieren« zu machen (ebd., 711).

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jetzt so nötigen Gesellschaft benutzen will (und, wenn er nicht mehr in die Wälder zurückkehren kann, da er bereits zu verweichlicht ist, dieses auch anstreben muss), so sollte er sich immerhin bewusst sein, dass es sich hierbei um ein künstliches und auch defizitäres Instrument handelt.

2. Mendelssohns Kritik im Sendschreiben und verwandten Schriften Vor der Hand geht Mendelssohn in seinen an Rousseau angelehnten Schriften auf dessen ›historische‹ Sprachentwicklungslehre ein und diskutiert ihre Schwächen. Jedoch ist ihm das kritische Potential hinter dessen Ausführungen nicht entgangen. Entgegen Rousseaus Intention wird er allerdings den intellektuellen Gehalt der Assoziationstheorie, die Übung der Einbildungskraft, als ein spezifisch menschliches Potential reformulieren, das eine eingehender überdachte und damit vernunftgemäßere Handlung ermöglichen kann. In Anlehnung an die auch in anderen Schriften entwickelte Theorie der Übung und Gewohnheit (Kap. III.2) will er die positiven Eigenschaften der Sprache nutzen, um ihr Potential zur Förderung der Perfektibilität – im positiven Sinne – herauszuarbeiten. Bereits in seinem auf die Rousseau-Übersetzung bezogenen und mit ihm 1756 veröffentlichten Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing in Leipzig und in den Notizen über die Sprache finden sich dazu erste Ansätze, die sich im Zuge der Ausarbeitung seiner Assoziationstheorie ebenfalls verfeinern. Dabei scheint er im Sendschreiben auf eine mündliche Diskussion mit Lessing über den Ursprung und die Begründung der Sprache anzuspielen, wenn er seine diesbezüglichen Überlegungen mit einem Verweis an »unsere Unterredungen« beginnt, an die er nun anzuknüpfen gedenke (JubA II, 104). Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass Mendelssohns Überlegungen zur Sprache in einem weiten Rahmen aus Gesprächen, brieflichen und schriftlichen Diskussionen und Auseinandersetzungen stehen. Einschlägige Reflexionen tauchen in Briefen (und damit, wie im Falle Lessings, wahrscheinlich auch anknüpfend an Gespräche), sowie in Abhandlungen und (Mendelssohn zugeschriebenen) Rezensionen auf. Er entwickelt seine Ansichten in Abgrenzung von und Anlehnung an andere Theorien, die sich nicht weniger ›im Fluss‹ befinden als seine eigenen Gedanken. Das Bild dieses weiten Austauschs zeichnet auch die Einleitung zum Band VI/2 der Jubiläumsausgabe zu den sogenannten »Sprachphilosophischen18 Schriften« im Zuge der Diskussion einer möglichen Entstehungszeit der dort veröffentlichten Notizen Mendelssohns (vgl. JubA VI/2, XV). 18

Es wurde einleitend dafür argumentiert, dass der Begriff »Sprachphilosophie« etwas zu hoch gegriffen erscheint. Im Folgenden wird der neutralere Begriff der »Überlegungen zur Sprache« verwendet.

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Es soll im Folgenden jedoch weniger darum gehen, einen möglichen Entstehungszeitpunkt von Mendelssohns hier ergiebigsten »Notizen über die Sprache« zu ermitteln. Die in der Einleitung der JubA VI/2 angeführten Daten, die Mendelssohns Überlegungen zur Sprache initiiert haben könnten, seien im Folgenden allerdings erwähnt, um eine Skizze des Umfelds zu ermöglichen, in dem sich die hier einschlägigen Überlegungen bewegten. 1. Wie Engel im Vorwort zur JubA VI/2 argumentiert, ist ein enger zeitlicher Bezug zum Sendschreiben – schon wegen weitgehender textlicher Ähnlichkeiten – anzunehmen (vgl. JubA VI/2, XVIII). Mendelssohns Überlegungen könnten also ein Entwurf zum Sendschreiben, oder auch eine zeitlich nah liegende Ausarbeitung darstellen, wobei, wie sich zeigen wird, die größere Ergiebigkeit der Notizen dagegen spricht, sie als eine bloße Vorstufe des veröffentlichten Sendschreibens anzunehmen. 2. 175719 stellte die Akademie eine Preisaufgabe, die nach dem gegenseitigen Einfluss von Sprache und Meinungen fragte. Johann David Michaelis gewann; eine diesbezügliche, Mendelssohn zugeschriebene Besprechung findet sich in den Litteraturbriefen 72–75 (13. – 20. 7. 1759, JubA V/1, 105–118). Über den Einfluss der Meinungen wird sich Mendelssohn eingehender in Bezug auf die Aufklärungsproblematik äußern (s. Kap. IV.3 und 4)20; die »Notizen über Sprache« scheinen hier nicht einschlägig genug. 3. 1764 erschien Lamberts Neues Organon. Mendelssohn rezensiert es in der AdB (3.1, 1766; JubA V/2, 31–64). Von Interesse ist ihm v. a. das dritte Kapitel des zweiten Bandes: »Von der Sprache als Zeichen betrachtet« (JubA V/2, 45–57); allerdings ist die Besprechung – zwar voll des Lobes für Lamberts Werk – eher eine Paraphrase, denn eine selbständige Auseinandersetzung mit dem Thema. Die in den Notizen angesprochenen Bereiche werden hier kaum berührt. 4. Eine weitere Preisfrage der Akademie nach dem Ursprung der Sprachen wurde 1769 ausgeschrieben und zwei Jahre später entschieden; Herder gewann den Preis. Dass sein Werk auch Mendelssohn bekannt war, zeigt zum einen, dass es in seinem Bücherverzeichnis (655/53) aufgelistet ist, sowie, dass sich in der AdB 19 (1773) eine Rezension von Herders Schrift findet, die die Herausgeber der JubA Mendels-

19

Vgl. dazu Proß 1987, 902 f. JubA schreibt 1759; dies ist aber erst das Jahr der Entschei-

dung. 20

Es sei nur am Rande bemerkt, dass v. a. LB 73: 13. Dezember 1759 in Sprache, Stil und Zielrichtung eher an Lessing, denn an Mendelssohn erinnert: er besteht v. a. in einer kenntnisreichen Kritik von Michaelis’ Auffassung zur Interpretation von »voluptate« bei Epikur und Cicero (vgl. JubA V/1, 109 ff.); erst der Schluss, die Verteidigung des leibnizianisch geläuterten Epikureismus, erinnert an Mendelssohns einschlägige Ausführungen in den Briefen über die Empfindungen. Jedoch soll hier der Ort einer exakten Zuordnung der Litteraturbriefe nicht sein; die Besprechung Michaelis’ ergibt auch unangesehen der Autorschaft keine interessanten Ergebnisse für die hier anliegende Problematik der Sprachtheorie.

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sohn zuschreiben.21 Der Rezensent äußert sich dort lobend über Herders genaue Ableitung der Sprache aus dem menschlichen Bedürfnis nach Gesellschaft in ihren historischen Bezügen (vgl. JubA V/2, 175) und signalisiert Zustimmung zu Herders Konzept der Erklärung der Sprache nicht aus einem Übergang tierischen Schreiens, sondern als eine Folge aus der menschlichen Vernunft (bei Herder: »Besonnenheit«22), die zugleich die Intention des Ausdrucks und der Mitteilung in sich enthalte (JubA V/2, 177). Zum einen entspricht jedoch die in der Abhandlung verteidigte Linie einer Natur- und Menschensprache, die sich auf physiologische, historische und ethnologische Betrachtungen beruft23, nicht der von Mendelssohn selbst verfolgten Richtung, zum anderen steht sein bereits empfindlich gestörtes Verhältnis zu Herders Ansichten (dies werde ich erst in Kap. V.2 entwickeln können) dagegen, dass er sich allzu eingehend mit dessen Schrift befasst hätte. Man könnte es aber auch so sagen: gerade weil er Herders Grundsätze nicht teilte, jedoch mit dessen Interesse übereinstimmte, die Sprache aus anthropologischen Bedingungen des zugleich sinnlich wie vernünftig bestimmten Mängelwesens Menschen zu bestimmen24, könnte er sich animiert gefühlt haben, seine eigenen Ansichten zum Thema erneut schriftlich zu fixieren und zu ordnen. Zwar spricht als biographischer Grund dagegen, dass sich Mendelssohn Anfang der 1770er Jahre eingehend damit beschäftigen konnte, da in diese Zeit die

21

Dies liegt u. a. nahe, da sich der Rezensent wie Mendelssohn in den Litteraturbriefen mit Reimarus’ Überlegungen zum Instinkt der Tiere auseinandersetzt; eine Rezension, die Mendelssohn sicher zuzuschreiben ist, wie auch ähnlich lautende Briefe nahelegen (vgl. JubA V/3a, 202 ff.). Ebenso erwähnt der Rezensent die 1759er Abhandlung (JubA V/2, 182). Auch seine Hinweise auf die Assoziationstheorie könnten für Mendelssohn als Verfasser sprechen, doch ist unleugbar, dass keiner der genannten Hinweise ausreicht, die Autorschaft hinreichend abzusichern. 22 Vgl. Werke 1, 708 und, zur Besonnenheit, 719: »Wenn tierische Sinnlichkeit und Eingeschlossenheit auf einen Punkt wegfiele: so wurde ein ander Geschöpf, dessen positive Kraft sich in größerm Raume, nach feinerer Organisation, heller, äußerte: das abgetrennt und frei nicht bloß erkennet, will und würkt, sondern auch weiß, daß es erkenne, wolle und würke. Dies Geschöpf ist der Mensch und diese ganze Disposition seiner Natur wollen wir, um den Verwirrungen mit eignen Vernunftkräften u. s. w. zu entkommen, ›Besonnenheit‹ nennen.« Besonnenheit ist damit als Vernunftkraft nicht von anderen Kräften unterschieden, sondern sie ist eine »Richtung« dieser Kräfte. (s. 722 bezeichnet er sie auch als »Reflexion«). Vgl. dazu Proß 1987, 913: Besonnenheit kennzeichnet den Menschen, der alles »zusammenschaut« (Platon, Kratylos) und, in Anlehnung an Condillac, derjenige, der den Dingen die gebührende Aufmerksamkeit erweist. Proß weist darüber hinaus auf den Einfluss von Mendelssohns Theorie des Sendschreibens und der Rousseau-Übersetzung auf Herders Preisschrift Über den Ursprung der Sprache (1772) hin, wie z. B. die Benennung nach »natürlichen Zeichen«, vgl. Werke 1, 723. 23 Siehe dazu die Untersuchung bei Gaier 1988, 94–97. 24 Herder bezeichnet u. a. die Sprache schlicht als dem Menschen wesentlich, »als – er ein Mensch ist.« (Werke 1, 716) und geht damit auf die prekäre Stellung des nicht instinktgeleitet in die Natur eingegliedertes Wesen Mensch ein, die er auch, nicht unkritisch, als eine Disposition zur notwendigen Vervollkommnung beschreibt (ebd., 717).

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heftigste Phase seines »Nervenleidens« fällt (vgl. JubA VI/2, XVII). Doch ist das hier diskutierte Themenfeld seines sich im Sendschreiben und in den Notizen äußernden Interesses am nächsten, so dass zumindest die Möglichkeit, dass Herders Schrift seine eigenen Überlegungen vorantrieb, gegeben ist. 5. Der zuletzt genannte Zeitraum ist derjenige der Vorarbeiten zum Jerusalem, also um 1783. Hier ist zweifellos das Interesse an Sprache wieder wach geworden; und hier ist es vor allem deren kritischer, Aufklärung und Toleranz verhindernde Aspekt, den Mendelssohn in den Blick nimmt. Dagegen spricht allerdings, dass eine Bemerkung im Brief an Herz Homberg eine frühe Niederschrift der Überlegungen andeutet; Mendelssohn spricht im Zusammenhang mit seiner »alten« Abhandlung von einigen zwischenzeitlich erschienen Schriften, die er noch einarbeiten müsste, sollte er seine Überlegungen noch veröffentlichen wollen.25 Entweder also griff er zu diesem Zeitpunkt auf bereits niedergeschriebene Notizen zurück, oder er fühlte sich animiert, die Problematik mit ähnlichen Worten, aber anderen Gewichtungen erneut zu entwickeln. In jedem Fall scheinen seine Notizen zumindest in den 1780er Jahren den Zeitgenossen bekannt zu sein: über das Sendschreiben hinaus wurde Mendelssohns Position hier ernst genommen26 und ist in diesem Sinne – also aufgrund der Daten dieser Bezugnahmen – erst zu einem späteren Zeitpunkt als eine mögliche Abfassung überhaupt philosophisch relevant. Eine weitere, in der JubA nicht genannte Alternative, stellte auch das Jahr 1765 dar; hier erschien der Artikel über Sprache im neunten Band der Encyclopédie von Nicolaus Beauzée, der ebenfalls den göttlichen Ursprung der Sprache verteidigte (vgl. Proß 1987, 1176). 25

»Es sind aber seit der Zeit ich diesen Aufsatz, davon Sie Meldung thun, geschrieben, verschiedene wichtige Werke, die dahin einschlagen, zum Vorscheine gekommen, die bey einer Umarbeitung, im Falle der alte Aufsatz diese Mühe verdienen sollte, noch zu Rathe zu ziehen sind, und dieses dürfte, von mir wenigstens, so bald noch nicht geschehen können.« (JubA XIII, 133) Mendelssohn hat diese Aufsätze sicherlich, mit Abstrichen, zur Kenntnis genommen, v. a. Herder, Platner, Lambert; siehe Bücherverzeichnis 244/31: Platners Philosophische Aphorismen (1776); 319/36: 2. Aufl. der Aphorismen 1784; 565/47: Lamberts Briefwechsel, 1782; 655/53: Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772. Außerdem erschien 1765 Leibniz’ Nouveaux Essais, deren sprachphilosophische Überlegungen zum 3. Buch von Lockes Essay Mendelssohn ebenfalls hätte berücksichtigen müssen und die Mendelssohn laut einem Brief an Abbt zumindest in Auszügen bereits 1764 gelesen hat, vgl. Kap. III.2, FN 84. 26 Siehe einen Brief von Johann Jakob Engel an Johann Christoph von Adelung vom 7. 12. 1780; JubA XXII, 200 f.; Altmann 1969, 846. Der Hinweis aus JubA VI/2, XVII f., dass auch Sulzers sprachphilosophische Abhandlung (s. oben, FN 1) von Mendelssohns Überlegungen aus den »Notizen über die Sprache« beeinflusst sein könnte, ist zwar ebenfalls spekulativ; jedoch ist die nah verwandte Auswahl an Beispielen (vgl. Sulzer, 170 f.) und die Betonung der Worte vor der Syntax (ebd., 166 f.) auffällig. Es wäre immerhin anzunehmen, dass auch Sulzer und Mendelssohn sich über dieses Feld austauschten.

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Es ließe sich auch dafür argumentieren, dass sich Mendelssohn im Zuge der Entwicklung seiner Gewohnheitstheorie, also bis zur Evidenzschrift von 1763, erneut der auf Assoziationen aufruhenden Sprachtheorie zuwandte, dies v. a. mit Abbt27 (wie wegen fehlender brieflicher Hinweise zu vermuten ist: mündlich) diskutierte und die über das im Sendschreiben Veröffentlichte hinausgehenden Gedanken niederschrieb, um die auch im LB 210 vom 14. Januar 1762 angedeuteten Überlegungen in elaborierterer Form im Jerusalem dem Publikum vorzulegen. Vor Übernahmen eigener früherer Gedanken bis in die Ebene der Formulierungen hinein hat er sich dabei noch nie gescheut, wofür zuletzt die Morgenstunden beredtes Zeugnis geben. Zwar ist also ein eindeutiger Entstehungszeitpunkt der Notizen nicht abschließend auszumachen, doch lässt sich zweierlei festhalten: Zum einen argumentiert Mendelssohn in einem durch Diskussion und argumentativen Austausch stark angereicherten Umfeld28, was es bisweilen schwer macht, zwischen seiner ›eigenen‹ Mei-

27

In einem Fragment »Allerhand Muthmassungen über den ältesten Zustand der Menschen« (laut Nicolais Vorrede (Abbt, Werke 6, XXVII f.) um 1765 im Zuge seiner historischen Studien entstanden; abgedruckt in Abbt, Werke 6, 151–59) greift Abbt explizit auf Überlegungen Mendelssohns aus dem Sendschreiben zurück, die wiederum ebenfalls in den »Notizen über die Sprache« enthalten sind. Ein Textvergleich zeigt, dass sich Abbt hier v. a. an das Sendschreiben anlehnt. So nennt er nicht nur die vier Hauptaspekte der Assoziation, sondern auch ihre zwei subjektiven Seiten, die Mendelssohn lediglich im Sendschreiben explizit erwähnt (JubA II, 105). Außerdem grenzt Mendelssohn im Sendschreiben die Wahl seiner Beispiele allein auf das »Blöcken des Schafs« (JubA II, 107, vgl. Abbt, Werke 6, 152, 155 f.) ein; in den Notizen ist ein Vogel mit von der Partie (JubA VI/2, 14). In seinem Fragment argumentiert Abbt, mit Mendelssohn, für die gleichzeitige Entstehung von Sprache und Gesellschaft (vgl. Abbt, Werke 6, 149), wobei Vernunftgebrauch und eine affektive Ausrichtung auf andere Menschen zur Grundlage erhoben werden (»… der Anblick eines Menschen, der einem andern in nichts im Wege steht, macht den letztern eher Lust als Unlust«, 150). Er betont darüber hinaus jedoch, eher gegen Mendelssohn, auch den engen Zusammenhang zwischen physiologischen Faktoren und psychologischer Entwicklung. Solange der Mensch physisch eingeschränkt ist, wird er alles daran setzen, seinen physischen Zustand zu verbessern; danach erst kann er sich der theoria (Abbt nennt eher scherzhaft den Beweis der besten aller möglichen Welten) zuwenden (vgl. ebd., 159). Allerdings bricht das Fragment an dieser Stelle bereits ab, so dass sich über die eher bibelkritische und auch physiologisch orientierte Grundrichtung von Abbts Überlegungen, die er dennoch mit der Annahme einer stetigen Vervollkommnung des menschlichen Geschlechts (vgl. ebd., 158) zu kombinieren versucht, hinaus wenig sagen lässt. Dass sich Mendelssohn und Abbt neben der ›Sprachtheorie‹ auch der Bestimmungsfrage zuwandten, ist also durchaus folgerichtig. Abbts diesbezügliche Zweifel (siehe Kap. I.2) mögen sich auch in einen Überlegungen zur Sprachentstehung wiederfinden: in dem Fragment von 1765 wendet er sich der ›Tatsache‹ menschlicher Vervollkommnung nach göttlichen Absichten eher lustlos und unmotiviert zu; wie es scheint, war ihm gerade diese Voraussetzung angesichts seiner Überlegungen einer vielmehr von physiologischen und geographischen Aspekten abhängigen menschlichen Entwicklung zweifelhaft geworden. 28 Siehe v. a. zum Einfluss der Theorien Diderots, Condillacs, Maupertuis’, Michaelis’ und nicht zuletzt Herders auf das Mendelssohn bestimmende Umfeld ausführlich Proß 1987, 895–983.

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nung und der Aufnahme fremder Theorien zu unterscheiden. Dies ist jedoch gar nicht notwendig, wenn sich dennoch ein konsistentes Bild der anthropologischen Implikationen seiner Sprachtheorie ergibt. Zum anderen ist diese Diskussionsumgebung dazu angetan, die Überlegungen zur Sprache als eingebunden in einen größeren Zusammenhang zu betrachten: Die Verbindung von Ratio und Kommunikation, sowie ihr Bezug zur menschlichen Gesellschaft kulminiert in der Frage, welche Rolle die Sprache als ein Element in der menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit (und dessen vernünftigster Ausrichtung) spielt. Im Folgenden werden die einschlägigen Passagen des Sendschreibens und der »Notizen über die Sprache« gemeinsam diskutiert. Sie sollen abschließend mit einschlägigen Überlegungen aus dem Jerusalem kontrastiert werden, die nicht nur den arbiträren Charakter der Sprache stärker betonen, sondern auch auf den engen Zusammenhang zwischen Sprache, Gesellschaft, Geschichte und Kritik hinweisen, dem bestimmenden Aspekt der anschließenden Teilkapitel. Sprache ist für Mendelssohn das auf Kommunikation und Verständigung gerichtete Hervorbringen willkürlicher Zeichen (ebd. und JubA VI/2, 27) über den Weg der assoziativen Verknüpfung der Ideen, die aus einer bloß subjektiven Verbindung zu einer »notwendigen« (verbindlichen) Ordnung der Begriffe stilisiert wird. Dabei, und das werden die einschlägigen Notizen zeigen, ist der Weg dieser Stilisierung und deren Verknüpfung mit vernünftigen Prinzipien Mendelssohn selbst nicht durchgehend klar. Die Annahme der Sprache als ein konventionelles Zeichensystem lässt sich aus seinen Überlegungen nicht konsistent gewinnen; dennoch weisen spätere Überlegungen, in denen er zwischen Begriff und Wort unterscheidet, auf diese Einsicht hin. In Anknüpfung auf Rousseaus Hinweise auf die Schwierigkeit menschlicher Sprachentwicklung will Mendelssohn zeigen, dass diese keine fertig ausgebildete Vernunft, noch einen göttlichen Eingriff benötigt, sondern sich allein auf »Einbildungskraft und das Vermögen sich vollkommener zu machen« (JubA II, 107) stützen muss. Wichtig ist, dass er die Ordnung der Natur (also den Entwicklungsverlauf ) nicht mit einer Rechtfertigung des Vernunftprimats verwechselt: dieses geht der Sache nach vorher, jenes dem Naturverlauf nach: »Die Ordnung der Natur ist nicht die Ordnung unserer Methode im Denken.« (JubA VI/2, 22)29 29

So äußert sich Mendelssohn auch (zustimmend) über Lambert: »Die wirklichen Sprachen haben, von Natur und Nothwendigkeit geleitet, den Rükweg genommen [im Gegensatz zur wissenschaftlichen, »algebraischen« Sprache, die mit den Allgemeinbegriffen begänne; A.P.]. Mit Bezeichnung der in die Sinnen fallenden Gegenstände, als Handlungen und Bewegungen […] machten sie den Anfang, und gaben ihnen beliebige Nahmen, als eben soviel abgekürzte Zeichen, zu welchen die wissenschaftlichen Sprache doch zulezt hatte kommen müssen.« (JubA V/2, 48 f.) Die Assimilierung von »natürlicher« und »wissenschaftlicher« Sprache, die Mendelssohn bei Lambert meint feststellen zu können, bezweifelt er selbst allerdings (vgl. JubA V/2, 49).

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Um nicht in den eingangs erwähnten Zirkel zu geraten, unternimmt es Mendelssohn also, sich der Entstehung von Sprache und Vernunftgebrauch zugleich zu widmen, indem er beiderlei Entwicklung aus einem strukturellen Gesetz hervorgehen lässt: des psychologischen Theorems der assoziativen Ideenverknüpfung. Damit soll Sprachentstehung im Übergang von bloß nachahmenden zu arbiträren Zeichen nach »Gesetzen der Einbildungskraft« (JubA II, 107) und damit der Übertragung nachahmender Zeichen durch Assoziation auf andere Gegenstände nachgezeichnet werden, ohne den Vernunftbegriff dabei überzustrapazieren. Die Assoziationstheorie soll vielmehr die Gesetzmäßigkeiten der Sprache über Formen von Ähnlichkeitsund Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Zeichen und Bezeichnetem aufzeigen. »Ganz ohne Leitfaden kann die Seele zu keinem Begriffe gelangen, den ihr nicht die Sinne unmittelbar darreichen; aber die kleinste Aehnlichkeit, die schwächste Beziehung kan ihr hierzu dienlich seyn, wenn der Vorsatz sich zu erinnern anhaltend ist, und der Versuch zum öfteren wiederholt wird.« (JubA VI/2, 9, Hervorhebung A.P.) Dieser »Leitfaden«, der also durch den bereits aus anderem Zusammenhang bekannten Nexus der Gewöhnung (siehe Kap. III.2) und die Intention des Menschen, sich zu äußern (dazu Abschnitt 3), getragen wird, kann »natürlich« oder »willkürlich«; »objektiv« oder »subjektiv« sein. Darüber hinaus können die zu bezeichnenden Gegenstände in einer (1) räumlichen und/oder (2) zeitlichen Verbindung stehen, sie können darüber hinaus als (3) kausal oder über (4) Ähnlichkeit als verbunden wahrgenommen werden.30 Das Sendschreiben nennt über diese vier »objektiven« Bedingungen der Assoziation hinaus zwei »subjektive« Elemente: »Wenn die Gegenstände aber in der Natur gar nicht verknüpft sind, so brauchen wir die Begriffe davon nur in unser Gedanken entweder 5) zugleich, oder unmittelbar aufeinander 6) gehabt zu haben, um sie eine lange Zeit hernach mit einander verknüpft zu sehen.« (JubA II, 105)31 Letztlich ist die Unterscheidung zwischen einer

30

Mendelssohn nennt hier »Causalität, wenn sie mit einander, als Grund und Folge, Ursache und Wirkung, Recht und Pflicht u. s. w. verbunden sind«; die »Ähnlichkeit« fasst er weiter als »Gleichheit, Uebereinstimmung, Abstufung, Ebenmaß u. s. w.« (JubA VI/2, 8) Die hier zusammengefassten Formen sind, genau besehen, erheblich disparater, als dass eine einfache Aneinanderreihung zur Erklärung ausreichte. Es sind Stellen wie diese, die Mendelssohn zu dem Ausdruck, seine Notizen seien allzu flüchtig hingeworfen, animiert haben dürften. Das Niveau der Reformulierung und Erklärung des Kausalnexus ist in Ueber die Wahrscheinlichkeit und der Evidenzschrift, wenn auch nicht vollständig befriedigend, so doch weitaus höher. Die Gleichsetzung naturgesetzlicher und rechtlicher Sachverhalte ist demgegenüber eher verunklarend. 31 Dies fasst Mendelssohn in den »Notizen über die Sprache« nur kurz zusammen: Wenn die zu bezeichnenden Sachverhalte nicht in einer der genannten Verbindungen stehen, dann richten wir die Verknüpfung nach den Gesetzen der Gewohnheit ein: »Wenn aber die Gegenstände in der Natur in keiner merklichen Verknüpfung stehen; so dürfen wir nur die Vorstellungen davon sehr[,] oft zugleich oder unmittelbar auf einander gehabt haben, um von einer auf die andere übergehen zu können; und je öfter dieses geschehe, desto leichter wird der Uebergang« (JubA VI/2, 8 f.)

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objektiv zu einer subjektiv gültigen Assoziationskette in ihrer Stabilität und Wiederholbarkeit begründet; eine kategoriale Unterscheidung ist damit nicht möglich. Mendelssohn argumentiert hier bereits in Anlehnung an seine Wahrscheinlichkeitstheorie. Dadurch ergibt sich für ihn die Folgerung, dass neben der aus logischen Gründen erfolgten Verknüpfung bestimmter auf Vernunftgründen basierender »Ereignisse«32 auch eine nur beobachtbare (nicht durch weitere Erklärungen gestützte) hinreichend stabile Verknüpfung als so sicher einzuschätzen ist, dass sie im menschlichen Rahmen notwendig genannt werden kann (vgl. Kap. III.1, 254 und 266). Wichtiger noch als die bloße Beobachtung von Ereignissen ist eine assoziative Verknüpfung von Gegenständen mit Lauten, die zu einer Sprache überleiten sollen. Mendelssohn wird hier auf einer anderen Ebene auf das Problem der objektiven Geltung von Sprache zurückkommen. Seine bereits im Kontext der Ästhetik erwähnte Zeicheneinteilung in natürliche und willkürliche33 wendet er hier im Anschluss an die Stabilität der assoziativen (erfahrungsgestützten) Verknüpfung an. Natürliche Zeichen verweisen direkt auf mit ihnen verbundene emotionale Zustände oder kausale Verknüpfungen34; nachahmende Zeichen dagegen nutzen eine lautliche Eigenschaft der Dinge, um sie durch dessen Nachahmung wieder ins Gedächtnis zu rufen. Die höchste, eine oftmals wiederholte und solcherart gesicherte Assoziationskette verlangende Stufe stellen die willkürlichen Zeichen dar, die nicht mehr den sinnlichen Aspekt einer »Sache« nachzeichnen, sondern arbiträr erscheinen. Denn sie, auf deren Basis nicht nur die »abgeleiteten« Sprachen beruhen, sondern auch die Systeme der Künste und

Ähnlich formuliert Ernst Anton Nicolai in den Gedancken von den Würkungen der Einbildungskraft in den menschlichen Körper (1744, 2. Aufl. 1751) seine Gesetze der Einbildungskraft. Die Assoziationstheorie, die auch in Nicolais Werk eine wichtige Rolle spielt, wurde unter Anschluss an die britische Philosophie in Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts rege diskutiert. Siehe dazu Michael Hissmann: Geschichte der Lehre von der Association (1776) (in Mendelssohns Bücherverzeichnis (615/50) enthalten: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen nebst einem Anhange von Begriffen und Ideenreihen, von Hißmann 77). 32 Diese ›Ereignisse‹ fallen, als notwendige, also logische und mathematische Wahrheiten, wiederum aus dem Raum des Empirischen heraus und tauchen, genetisch betrachtet, erst spät in der menschlichen Entwicklung auf. 33 Vgl. Kap. II.3, 212 passim. Nicht zuletzt an dieser Stelle schließt sich Mendelssohn – vermutlich auch hinsichtlich seiner Assoziationstheorie – an Locke an. Für diesen erfüllt die Sprache drei Funktionen: »First, to make known one man’s thoughts or ideas to another; secondly, to do it with as much ease and quickness, as is possible; and thirdly, thereby to convey the knowledge of things« (Essay III, 10 § 23). Für Locke sind demzufolge sprachliche Ausdrücke weniger Bezeichnungen von Gegenständen, sondern von Vorstellungskomplexen. Damit wird der arbiträre Charakter der Zeichen stärker betont, als dies bei Mendelssohn der Fall zu sein scheint. 34 Mendelssohn nennt »Bewegungen und Geberden« als Zeichen innerer Leidenschaften, aber auch den Rauch als Zeichen des Feuers, sogar den Flug der Schwalbe als Zeichen des Sommers; siehe JubA VI/2, 10.

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Wissenschaften (JubA VI/2, 10), erfordern nicht allein stetige Assoziationsketten zu ihrer Etablierung, sondern auch ›Absprachen‹, um sie (als eine subjektive Verbindung bzw. das Ergebnis einer langen Assoziationskette) anderen mitteilbar zu machen. Erst die Einbildungskraft des zivilisierteren Menschen, der bereits in der Lage ist, seine Aufmerksamkeit35 für einige Zeit auf die Dinge zu richten, um ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede zu untersuchen, ist fähig, von einer Sache nicht nur auf das nächstliegende überzugehen, sondern die Assoziationsketten zu verlängern und dadurch in einem nachahmenden Zeichen eine weiter gefasste Kette zu vergegenwärtigen. Die Entwicklung einer immer »abstrakteren« Sprache geschieht approximativ.36 Die Natur der ›Absprachen‹ bleibt dabei allerdings im Dunkeln, bzw. wird – wohl etwas arg vereinfachend – als eine Übertragungsleistung aufs »Naheliegende« beschrieben. So konnte über die Stabilität der Assoziationen und das (geteilte) Bewusstsein von ihr, nach Mendelssohns Annahme, der nachahmende Laut durch eine geringfügige Verschiebung des »Accents« über das Nachgeahmte hinaus auf dessen weitere Umstände verweisen. In seinem Beispiel: »Gesetzt der Laut Be habe das blökende Schaf und der Laut Ti den zwitschernden Vogel vorgestellt; so wird man eine kleine Abänderung in dem Tone oder in dem Accent gemacht haben, um durch ihn diese Laute, die Milch, den Baum und die Früchte anzudeuten.« (JubA VI/2, 14, entsprechend JubA II, 107 f.) Die »Accentverschiebung« soll also bedeuten, dass das Zeichen nicht direkt auf die Sache, sondern etwas mit ihr Verbundenes verweist. Um diese dann allerdings tatsächlich zu weithin geteilten Assoziationsketten zu machen, ist die in einer Gruppe geteilte, konstante Umwelterfahrung vorauszusetzen, auf die Mendelssohn nicht befriedigend eingeht, sondern vielmehr eine diesbezügliche Übereinstimmung menschlichen Erlebens voraussetzt. Im Gegensatz zu Rousseau geht Mendelssohn nicht von einer atomistischen Bezeichnungsleistung in dem Sinne aus, dass jeder Gegenstand von den »Wilden« als ein einzelner gesehen wurde. Er nimmt vielmehr an, dass diese weder genügend Auf35

Wiederum ist die Nähe zu Herders Konzept, bzw. dessen Nähe zu ihm frappant. Mendelssohn steht hier auch der Reformulierung Sulzers vom Begriff der Aufmerksamkeit nah: »Die Aufmerksamkeit scheint eine so einfache Handlung zu seyn, daß es vielleicht unmöglich ist, sie anders als nach ihren Wirkungen zu beschreiben. Ihre merklichsten Wirkungen aber sind folgende: sie läßt uns eine Idee, oder Vorstellung, von jeder andern, dem Geiste zugleich gegenwärtigen, unterscheiden; sie bringt und dieselbe gewissermaßen näher als die übrigen, und machet sie stärker und interessanter; sie erwecket die Wirksamkeit des Geistes; und verursachet, daß sich diese Wirksamkeit alsdann auf eine einzige Vorstellung einschränkt, auf welche wir die Aufmerksamkeit richten.« (Sulzer 1758, 254) Sie wird entweder durch »Stärke« (der Empfindungen) oder durch »Deutlichkeit« der Vorstellungen erregt; erst letztere Ursache lässt den Verstand seine Freiheit in der Beschäftigung mit dem betreffenden Gegenstand. Ein solcherart aufmerksam angeschauter Gegenstand wird analog dem Betrachten eines Körpers (»indem man ihn drehet und wendet«, ebd. 255) erfasst. 36 Vgl. auch die Beschreibung der Sprachentwicklung im Jerusalem, v. a. JubA VIII, 171 ff.), die er mit einer Entwicklung der Schrift parallelisiert (ebd., 174 f.).

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merksamkeit auf die individuierenden Merkmale eines Gegenstandes verwandten, noch, dass sie eine genaue Vorstellung von Zeit und Raum hatten.37 Sie mussten deshalb, so die Hypothese, einen gleich aussehenden Baum auch für denselben gehalten haben, wenn sie ihn woanders und zu einer anderen Zeit wahrnahmen. Um die Ähnlichkeiten zwischen einander gleich scheinenden Individuen zu kennen, sei dahingegen weitaus mehr Aufmerksamkeit und ein verfeinertes Gedächtnis notwendig, als Rousseaus »Wilde« aufweisen könnten. »Es wird Ueberlegung dazu erfordert, wenn wir von einer Heerde sagen sollen, sie sey eine Versammlung von Thieren. Wir müssen erst ein jedes einzeln betrachtet haben, und denn wiederum zum Ganzen referiren, wenn wir davon überzeugt seyn wollen. Einem Wilden hingegen mußten sich viele Schaafe unter einem andern Bilde vorgestellet haben, als ein einziges, und er wird ihnen zusammen auch einen ganz andern Namen beylegen.« (JubA II, 109, vgl. JubA VI/2, 15 f.) Dennoch ist festzuhalten, dass auch Mendelssohns Weg nicht zu einem Verständnis der Sprache als einer Bedeutungsstruktur führt.38 Strukturen geben allenfalls die menschlichen Umgangsformen, die in ihrer Performanz über die Sprachverwendung Auskunft geben. Wichtiger ist jedoch auch hier die Gerichtetheit der Aufmerksamkeit als bestimmendes Moment. Je mehr der Mensch Gelegenheit hat, diese zu üben, desto mehr wird er überhaupt wahrnehmen. In den »Notizen über die Sprache« versucht Mendelssohn etwas ausführlicher zu zeigen, inwiefern seine Überlegung erlaubt, die von Rousseau in Zweifel gezogenen abstrakten Begriffe der Metaphysik dennoch zu begründen. Dabei gibt es zwei Methoden, um mithilfe einer Zergliederung einer Sache in ihre Bestandteile eine Idee von Allgemeinbegriffen zu erhalten: die analytische, in der ein Gegenstand durch »Ueberdenken« (JubA VI/2, 16) oder »Vergleichung« (ebd., 17) in spezifische und allgemeine Merkmale zergliedert wird39, oder die synthetische Methode. Letztere bezeichnet er als »einen bequehmern Weg zur allgemeinen Begriffen, vermittelst der sinnlichen Erkennntiß selbst« (JubA VI/2, 17). Wird ein Gegenstand, angenommen, man nähert sich ihm im Zwielicht aus größerer Entfernung, nur unzureichend wahrgenommen, so geschieht seine vollständige Erfassung über eine synthetische Heran-

37

Vgl. das Sendschreiben, JubA II, 105 f. Hier ist die Übereinstimmung mit Sulzer (1767, 168) besonders deutlich. 38 Die Konzentration auf den Satz als der kleinsten semantischen Einheit erfolgt erst mit Frege (Grundlagen der Arithmetik, 1884, § 62); Ansätze dazu ließen sich allenfalls bei Wilhelm von Humboldt (Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, 1830–35) feststellen; vgl. S. Majetschak in Ritter, Bd. 9, 1468. 39 »Wenn die Gegenstände, die verschiedentlich in die Sinne fallen, gegeneinander gehalten werden; so entdecket man durch den Gegensatz gar bald ihre Unterschiede, und auf diese Weise kan man zur Kenntniß aller Merkmale gelangen.« (JubA VI/2, 17) Mendelssohn bezeichnet dieses Vorgehen als ermüdend und schwer, vgl. ebd.

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gehensweise. Hier wird das Wolffsche40 Beispiel der Wahrnehmung eines Turms zur Erläuterung der klaren, deutlichen, verworrenen und dunklen Erkenntnis angedeutet: man nähert sich einen Gegenstand, den man zuerst gar nicht von der Umgebung unterscheiden kann (dunkel); ihn dann nur als einen Körper wahrnimmt (verworren) und schließlich in seinen Bestandteilen immer deutlicher durchdringen kann (vgl. JubA VI/2, 18 f.). Auch die Wahl des Standpunktes entscheidet darüber, welche Aspekte dieses Gegenstands wahrgenommen werden. Allgemeinbegriffe werden durch diese Rekonstruktion eindeutig nicht als eine besondere Klasse, sondern als zusammengesetzte Begriffe gekennzeichnet. Herkunft und Inhalt abstrakter Begriffe wie ›Seele‹ sind damit freilich noch nicht erklärt. Darüber hinaus, und dies hat auch Mendelssohn gesehen, ist seine Erklärung der synthetischen Methode stark an den Gesichtssinn gekoppelt. Andere Sinne seien vielmehr an die analytische Methode gebunden. Gehör, Geschmack und Geruch haben darüber hinaus die Schwierigkeit, dass ihre Gegenstände nicht räumlich vorgestellt werden und deshalb ein Vergleich zweier Vorstellungen nicht unmittelbar, sondern nur mithilfe des Gedächtnisses stattfinden kann. Dennoch sind sie, um einen umfassenden und eindrücklichen Blick auf die Umwelt zu bieten, von Bedeutung. In diesem Sinne hebt Mendelssohn das Gefühl (Tastsinn), hervor, das nicht nur mehreres zugleich untersuchen kann, sondern das »hilft[,] auch die Bilder gleichsam auszeichnen, die das Gesicht nur entworfen hat« (JubA VI/2, 19). Allerdings haben die dunkleren Empfindungen über das Gehör den Vorteil, dass sie schneller sind und in kürzerer Zeit mit mehr Eindrücken versorgen (unter Rückgriff auf die Assoziationstheorie: deshalb können sie stabile Muster hervorbringen).41 Und auch die dunkelsten Sinne, Geschmack und Geruch, haben einen unbestreitbaren Vorteil: sie zeigen, dass eine Übertragung zwischen Sinneseindrücken möglich ist und bieten damit ein Muster, wie die Reduktion der Mechanismen der äußeren auf die »inneren Sinne« (vgl. JubA VI/2, 21) vorstellbar wäre. Eindrücke des Geruchssinns lassen sich in die ›Sprache‹ des Geschmacks übertragen. »Von dem Transcendentalen in den äussern Sinnen war der Uebergang zu dem, was sie mit dem innern Sinne gemein haben, so schwehr nicht, und man bemerkte, daß der innere Sinn in

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Letztlich ist dieses Beispiel seit der antiken Skepsis mit Sextus Empiricus kanonisch; es erfährt allerdings durch Leibniz und Wolf seine spezifische, auf ihre Vorstellungstheorie bezogene Ausrichtung. 41 Überhaupt erinnert Mendelssohns Betrachtung vom Wert der unterschiedlichen Sinne zur Erwerbung von Erkenntnissen an die gängigen ästhetischen Untersuchungen der Zeit, vgl. Kap. II.2. Siehe JubA VI/2, 20: größere Menge an Vorstellungen in kürzerer Zeit übers Gehör wahrnehmbar; auch im Gegensatz zum Gesichtssinn ist es fähig, Unterschiedliches distinkter wahrzunehmen. »Jeder andere sinnliche Eindruck würde für die schnellen Schwingen der Gedanken viel zu langsam seyn.« (ebd.) Schall wirkt stärker auf die Sinne als andere sinnliche Eindrücke und erregt dadurch die Aufmerksamkeit, die benötigt wird, eine Vorstellung zu erfassen und aufzuklären.

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der That mit dem äussern mehr Verwandtschaft hat, als diese unter sich. Kaum war diese große Entdeckung gemacht, so diente sie so wohl zum Erfindungskunstgriff als zum Bezeichnungsmittel. Zum Erfindungskunstgriff, indem man durch Hülfe der Reduktion, das auf den inneren Sinn anzuwenden suchte, was man bey den Eindrücken der äussern Sinne unterschieden hatte; und zum Bezeichnungsmittel, indem man dieselben Wörter und Zeichen aus diesem Gebiete in jenes übertrug. So entstanden die Wörter Begriff, Vorstellung, Bild, Einsicht, Verstand, Höhe und Tiefe der Erkenntniß, Klarheit und Licht, Feinheit und Schärfe des Verstandes und alle übrigen Ausdrücke für die inneren Würkungen unserer Seele, die aus dem Gebiete der äussern Sinne entlehnt worden sind.« (JubA VI/2, 21 f.) Dass dies gerade zur Verdunkelung der Erkenntnisse psychologischer oder (in der Folgezeit) transzendentalphilosophischer Überlegungen führte, scheint Mendelssohn nicht klar gewesen zu sein. Er spricht aber immerhin davon, dass die Nutzbarmachung natürlicher Zeichen zur Gewinnung von nachahmenden und schließlich willkürlichen Zeichen ein »kühner Schritt« (JubA VI/2, 22) von der sinnlichen zur übersinnlichen Welt sei.42 In seinem Beispiel allerdings zeigt sich die »übersinnliche« Welt eher als eine Übertragungsleistung vom Besonderen ins Allgemeine, die bei einem primitiven Nominalismus verbleibt. Aus Rousseaus Perspektive ist dies eine rettende Rückfallposition; macht sie doch deutlich, dass die Worte den Begriffen nur bedingt entsprechen. Den Nachweis der Herkunft der Begriffe kann eine solche Theorie auch gar nicht bieten, da diese ohne einen raum-zeitlichen Index gedacht werden und der Entwicklung bereits vorangehen.43 Dennoch kann dieser Argumentationsschritt vom Standpunkt der Mendelsohn’schen Metaphysikauffassung kaum befriedigen, da in ihr den abstrakten Begriffen weitaus mehr Realität zugebilligt wird. Aus psychologischer Hinsicht allerdings geht Mendelssohn differenzierter vor. Bezüglich der Wortentwicklung greift er dabei nicht nur auf die Sinnlichkeit zurück, er reflektiert auch ihre Fallibilität. Es sind immer auch Täuschungen möglich, da die sich entwickelnden Seelenkräfte der Komplexität des Wahrgenommenen nicht sofort gerecht werden. »Alle Täuschung des Gesichts und Gehörs rühren davon her, daß unsre Sinnenkraft eingeschränkt ist, und sich nach der Lage und Beschaffenheit unsrer sinnlichen Werkzeuge richten muß. Alle Falschheit der Vernunfterkenntniß, hat Schwachheit des Verstandes und Eingeschränktheit der deutlichen Erkenntnißkraft zum Grunde […] Eine jede menschliche Erkenntniß ist also zum Theil wahr, zum Theil unwahr; denn sie ist die Würkung einer Kraft, die ihre Gränzen und Ein-

42

So in ganz ähnlicher Formulierung Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), Werke 8, 443. Ich werde in Kap. IV.2 näher auf die Implikationen dieser Einsicht eingehen. 43 Im LB 210: 14. Januar 1762 weist Mendelssohn in dieser Hinsicht auch auf die Unverzichtbarkeit der Vernunft bei der Erkenntnis des Supranaturalen (der Eigenschaften Gottes) hin (vgl. JubA V/1, 491). Allein auf empirischem Weg lässt sich kein »Begrif von der Allmacht« ermitteln.

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schränkungen hat.« (Notizen zum Ursprung der Sprache, JubA III/2, 28 f.) Ist sich der Mensch dieses Defizits bewusst, kann er wiederum durch Vorsicht und Aufmerksamkeit auf die Verbindungen, die aus bestimmten Sinneseindrücken resultieren, fehlgeleitete Assoziationen korrigieren. Bevor jedoch diese Fehlleistung gänzlich in den Blick genommen (und damit ihr abgeholfen) werden kann, muss der Mechanismus der auch ihnen zugrundeliegenden Assoziation näher erläutert werden. In Anlehnung an Leibniz’ Meditationes von 1684, die weitaus mehr als Quelle von Mendelssohns Sprachphilosophie gelten können als die einschlägigen Überlegungen Lockes, ist Mendelssohns Assoziationstheorie ein Ausdruck der Erinnerungshilfe von wahrgenommenen Dingen durch Zeichen. Mendelssohn nun versucht, genauer aufzuzeigen, wie die psychologischen Gesetzmäßigkeiten dieser Wiedererinnerung und Gewöhnung funktionieren – um damit auch ein Werkzeug zu entwickeln, defizitäre Assoziationsketten zu erkennen, aufzulösen und durch angemessenere zu ersetzen. Dadurch wird die Assoziationstheorie zum Mittel, die (immer noch vollzogene) Sprachentwicklung als die ›Entdeckung‹ einer eigentlichen Sprache zu denken. Wenn sie hilft, die in der Welt vorfindlichen Strukturen immer klarer und deutlicher zu durchdringen, so steht an ihrem Ende eine Sprache, die tatsächlich dem klaren und deutlichen, und damit nach Leibnizianischer und Wolffianischer Sicht auch wahren Denken entspricht. In Anlehnung an diese Prämisse, die sich nur schwer mit einer rein genetischen Herangehensweise verträgt (und auch Mendelssohn vermag beide Pole nicht befriedigend zu verbinden), verteidigt er abgesehen von der historischen Annäherung, die den Erwerb der vollen Vernunftfähigkeit über die Herausbildung von Abstracta mithilfe der Assoziationsketten reformuliert, vor allem in den einschlägigen Litteraturbriefen der frühen 1760er Jahre das sachliche Primat der Vernunft. So hält er im 144. Litteraturbrief vom 12. Februar 1761 fest: Höchste Instanz ist die Vernunft – sie richtet sich aufs Denken und auf Handlungen als eine Seelenkraft, die zwei Wirkungssphären entfaltet. Andere (zu vervollkommnende) Wirkungen als die nach innen (Denken) und nach außen (Handeln) gibt es für den Menschen nicht.44 Kriterium des Vernünftigen ist wiederum die Vollkommenheit (JubA V/1, 339 f.), Sprache das Instrument der Annäherung an sie. An dieser Stelle sieht er vom Aspekt der Sprachentwicklung völlig ab und betont allein den engen Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch und einer klaren und deutlichen Erkenntnis. Denken ohne Bilder und Worte mag möglich sein, aber es wäre äußerst dunkel. »Ohne Zeichen und Worte kann sie [die Seele] kaum die ersten Elemente der Gedanken, die Absonderungen gehörig fassen.« (JubA V/1, 341) Was jedoch nicht heißt, dass diese »Elemente der Gedanken« nicht bereits gegeben wären, eingeboren sind. Mit der Frage, was Menschen ohne Sprache getan hätten, will er sich hier anscheinend nicht 44

Dass Mendelssohn diese Sichtweise erweitert, habe ich in Kap. III.3 zu zeigen versucht.

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mehr auseinandersetzen. Er wisse allein, dass sich diejenigen, die wegen körperlicher Defekte nicht die übliche Sprache erlernt hätten, sich schlicht anderer Zeichensysteme bedienten und damit anscheinend der Vernunftforderung nach einer begrifflichen Durchdringung des Wahrgenommenen in verworrener Form Genüge leisteten; ›Sprache‹ also auch in einer primitiven Form immer dann vorhanden ist bzw. sich ausbildet, sobald ein Wesen über die erforderlichen intellektuellen Voraussetzungen verfügt – und sie ist alsdenn ›work in progress‹. Die Folgerung daraus formuliert er in der Vorrede zur zweiten Auflage (1765) seines Kommentars zu Maimonides’ Termini der Logik. Allerdings verschärft er hier die Bedingungen abstrakten Denkens entscheidend, indem er es als fundamental vom begrifflichen Denken abhängig vorstellt: »Nun ist es bekanntlich dem Menschen nur dann möglich, das Allgemeine an den Dingen zu abstrahieren und es in seinem Bewußtsein vorzustellen, wenn er die Rede zu Hilfe nimmt, d. h. wenn er sich in seinem Bewußtsein die Wörter vorstellt, die auf jene allgemeinen Begriffe verweisen. Z. B. Süßigkeit, Tapferkeit und Weisheit sind allgemeine Begriffe; aber der Mensch kann sich in seinem Bewußtsein den Begriff der Süßigkeit abstrahiert von dem süßen Gegenstand oder den Begriff der Weisheit abstrahiert von dem weisen Individuum nicht vorstellen, wenn er sich nicht in seiner Seele die Buchstaben oder Laute des Wortes ›Süßigkeit‹, ›Tapferkeit‹ oder ›Weisheit‹, so wie sie in der äußeren Rede jenen Begriffen entsprechen, vorstellt. Da also alle Verstandesvorstellungen auf allgemeine Begriffe abzielen, so ist es ohne die äußere Rede unmöglich, über sie nachzudenken.« (JubA II, 201)45 Will man dies konsistent an die Überlegungen zur Sprachentstehung binden, so kann mit der hier erwähnten Unmöglichkeit, Abstracta ohne Begriffe zu denken, nicht eine sachliche, sondern eine psychologische Tatsache gemeint sein. Als endliche Wesen müssen die Menschen zwischen abgesonderten, doch fassbaren Begriffen und direkter, aber verworrener Anschauung hin- und herwechseln. Da ihm die intuitive und zugleich adäquate Vorstellung komplexer Zusammenhänge nicht möglich ist, ist die klare und deutliche Erkenntnis von Abstracta immer an die beschriebenen psychologischen Erkenntnisbedingungen gebunden. »Ohne Hülfe der allgemeinen Begriffe bleibt sie [die »empyrische Erkenntniß«] ewig eine unerleuchtete, eingeschränkte Einsicht, die uns zwar in den Werken der Natur Macht und Verstand, aber keine Allmacht und keine Allwissenheit zu erkennen geben kan.« (JubA V/1, 491) Damit ist die vorbegriffliche Kompetenz, eine Sprache zu entwickeln, nicht angetastet. Sie stellt allerdings lediglich eine angeborene Vorbedingung dar, die der 45

Diese Schlussfolgerung deutet sich bereits drei Jahre vorher, im LB 210 vom 14. Januar 1762 an: »Ohne Hülfe der Sprache können wir Menschen zu keiner deutlichen Erkenntniß, und folglich zu keinem Gebrauche der Vernunft gelangen. […] Unsere Erkenntniß wird lebhaft und feurig, aber auch verwirrt, sobald wir eine Menge von Merkmahlen zugleich erblicken, und wenn wir sie unterscheiden wollen, so müssen wir sie trennen, und jedes mit einem besonderen Zeichen oder Namen belegen, woraus die symbolische Erkenntniß erwächst.« (JubA V/1, 488)

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tatsächlichen Entwicklung – parallel zum in den vorangegangenen Kapiteln entwikkelten Theorie der Vervollkommnung – notwendig bedarf. Trotz aller Bedenken gegen die Sprache hat Mendelssohn schließlich versucht, mit ihrer Hilfe rationale Beweise der Allmacht etc. zu führen, wobei er wiederum auf den oben genannten Gedanken zurückgreift, dass eine immer bessere Durchdringung der Vorstellungen zugleich auch die Aufdeckung ihrer Wahrheit mit sich bringe. Wir sehen hier eine der größten Gefahren, in die sich eine rationalistische Anthropologie, die neben dem Primat der Vernunft auch die Rolle der Sprache für den Menschen betont, begibt, wenn sie ihre Grenzen im Rahmen der Worte übersteigt.46 Zusammengefasst, haben Mendelssohns Überlegungen zur Sprachentstehung zwar einige interessante Aspekte aufgezeigt, jedoch ebenso wenig wie seine Vorgänger und Zeitgenossen eine befriedigende Lösung bieten können. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich bei ihm unterschiedliche Theoriemomente überlagerten. Zum einen wollte er, gestützt auf seine Assoziationstheorie, die Etablierung von Lauten als Zeichen nachvollziehen; zum anderen reflektiert er aber auch auf die allgemeinen Bedingungen menschlicher Welterfassung, die erstens – anders als für Tiere – durch die Fähigkeit zur gerichteten Aufmerksamkeit charakterisiert, zweitens aber im ewigen Wechsel zwischen empirischer Anschauung und abkürzender, symbolischer Erkenntnis des Weltganzen gefangen sind. Mendelssohns sprachphilosophische Überlegungen bieten in diesem Sinne keine Lösung, sondern zeigen einen Ansatz des Umgangs mit der conditio humana, die sich aus dem Vertrauen auf die menschliche Vervollkommnungsfähigkeit speist und darüber hinaus der ›gerichteten Vernunft‹ eine soziale Dimension zu verleihen bemüht ist. Mit diesem Aspekt befasst sich der nun folgende Abschnitt ausführlicher.

3. Das Fundament: Sprache und Geselligkeit Mendelssohn hat nicht nur das letztlich sinnlich-psychologische Moment der Sprachentwicklung reflektiert. Vielmehr ist ihm – im Gegensatz zu Rousseau – die positive Rolle der menschlichen Geselligkeit wichtig.47 Ihn erschien es gar nicht fraglich, dass 46

Zur Kritik an Mendelssohns letztlich sehr optimistischer Sprachauffassung (letztlich gibt es eine klare und deutliche Sprache der Vernunft, die sich auch aus der Analyse ihrer vernunftgemäßen Genese ergibt) durch Hamann, der die Gebundenheit der Sprache an Überlieferung und Brauch (usus) stärker betont, siehe Levy 1984, 299 f. 47 Seine Anleihe an Locke ist hier deutlich; siehe dessen Essay III, 1 §1: »God having designed man for a sociable creature, made him not only with an inclination, and under a necessity to have fellowship with those of his own kind; but furnished him also with language, which was to be the great instrument, and common tie of society.« Der Sprachgebrauch erfordert über die physische

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die Sprache im Zuge des menschlichen Bedürfnisses nach Mitteilung zu seiner Vervollkommnung, nicht zur Erhöhung seiner Abhängigkeit beträgt. Sie hat dabei, so Mendelssohns Auffassung, nicht allein instrumentellen Charakter, sondern gewinnt einen Wert für sich, indem das Medium der Worte eine Distanzierung, oder auch Befreiung von der direkten Umwelt bedeutet. Wenn, so Mendelssohns Argument, das sich nicht nur gegen Rousseau, sondern auch gegen Condillac richtet48, der »natürliche Mensch« sich in nichts von anderen Tieren unterscheidet, so ist der Vernunfterwerb durch Sprache nicht vernünftig zu erklären. Erst mit der Unterstellung, dass die Fähigkeit, sich in Zeichen auszudrücken, dem Menschen per se (und damit vor der aktiven Sprachfähigkeit) eigen ist, wird die bisherige Entwicklung einsichtig.49 Was aber heißt dieser Zeichen/Symbolgebrauch, wenn er über die bloße Assoziation hinausgehen soll? Zum einen reformuliert Mendelssohn die Fähigkeit zum Symbolgebrauch in der Aufnahme des Sprachzeichens als eines Zeichens: Das Tier, so Mendelssohn in den »Notizen zum Ursprung der Sprache« (JubA VI/2, 27), mag Erinnerungen an etwas Abwesendes haben, aber es wird sich dessen nicht als etwas Abwesendes bewusst werden. Vielmehr ist für es die Verbindung dunkel, allein auf das Wiederauftauchen eines Gefühls gerichtet. Dieses Gefühl wirkt unmittelbar, und ist eben nicht mit dem Index ›wiedererinnert‹ verbunden, denn dies setzte das Bewusstsein von etwas Ver-

Möglichkeit der Wortbildung hinaus allerdings auch die Fähigkeit, Wörter als Begriffe zu gebrauchen, § 2: »… to use these sounds, as signs of internal conceptions«. 48 Vgl. Ricken 2000, 204 f. Die im Folgenden genannten Aspekte der intentionalen Voraussetzungen von Sprache werden in dessen ansonsten sehr ausführlichen Untersuchung von Mendelssohns Sprachphilosophie nicht erwähnt. 49 Zumeist trennt Mendelssohn streng zwischen Mensch und Tier, vgl. JubA VI/2, 6 f. Allerdings zeigt er sich in LB 130. f.: 6. und 13. November 1760 zu Reimarus’ Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (Hamburg 1760) kulanter: hier gesteht er den Tieren ein sensitives ›Gedächtnis‹ zu – oder hält dieses immerhin für möglich (JubA V/1, 285). Darüber hinaus jedoch weicht er den Instinktbegriff der Tiere auf und parallelisiert ihn zunehmend mit dem der menschlichen Vervollkommnung. Allerdings grenzt er diese Angleichung wieder ein, indem er die menschliche Entwicklung zwar als in gewissem (sehr unklaren) Sinne »gerichtet« versteht, jedoch – im Gegensatz zum Tier – diese Gerichtetheit als auf keinen bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt zielend reformuliert (vgl. JubA V/1, 293 f.). Herder verweist ausdrücklich, ohne Mendelssohn als Autor zu nennen, auf diese Rezension (vgl. Werke 1, 712); es ist also durchaus auch anzunehmen, dass seine Theorie der »Besonnenheit« als »Richtung« der Seelenkräfte (vgl. oben FN 22): auf diese Mendelsohn’sche Idee zurückgreift, die dieser im dritten Gespräch des Phädon weiter ausgeführt hatte: zwar ist auch bei Tieren ein Vermögen, sich zu verbessern und sich dabei auch nach Vorstellungen eines »Guten« zu richten; doch ist die Vervollkommnungsfähigkeit begrenzt und die Vorstellung des Guten auf das Angenehme eingeschränkt (vgl. JubA III/1, 109). In der Rezension zu Herder in der AdB schließlich fasst Mendelssohn die menschliche Vernunft als eine von den Tieren »ganz verschiedenartige Richtung und Auswickelung aller Kräfte«. Die Vernunft hingegen ist »keine abgetheilte, einzelwirkende Kraft, sondern eine der menschlichen Gattung eigne Richtung aller Kräfte« (JubA V/2, 177).

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gangenem als Abwesend voraus. »Das Erinnerungs Vermögen besitzen auch Thiere, aber sie erkennen[,] wie es scheinet, das [A]bwesende nicht als abwesend, das Vergangene nicht als [v]ergangen.« (JubA VI/2, 27, meine Korrekturen) Dem Menschen ist damit eine weitere, nicht-sinnliche Dimension der Welterfassung zugänglich: er kann Ereignisse als etwas auffassen und ihnen damit einen Verweisungscharakter geben. Ist die Sprache also das Medium menschlichen Denkens und Handelns, dann muss der Mensch die fundamentale Fähigkeit besitzen, die Idee eines »Allgemeinbegriffs« überhaupt fassen zu können. Damit zusammen hängt zweitens die Gerichtetheit der Sprachverwendung:50 »Die wundertätige Allmacht selbst kan dem Menschen keine Sprache beybringen, wenn sie ihm nicht vorher die Fähigkeit mittheilet, diesen Vorsatz zu fassen, nehmlich Sachen durch willkührliche Zeichen andeuten zu wollen.« (JubA VI/2, 7) Nicht einmal durch ein Wunder ließe sich also erklären, wie die Sprache zustande gekommen ist, wenn es nicht die menschliche Intention gäbe, Sachverhalte (im weitesten Sinne) über ein Zeichen- oder Verweisungssystem ausdrücken zu wollen. Mendelssohn geht sogar noch darüber hinaus, indem er diese Intention aus der grundlegenden sozialen Ausrichtung des Menschen herleitet: es ist der »Trieb zum gesellschaftlichen Leben« (JubA VI/2, 8), der zum Gebrauch des Vermögens der Zeichenverwendung antreibt. Zum Beweis dieser Annahme nutzt er das damals mit regem Interesse verfolgte Phänomen der noch lebenden »Wilden«, also von Zeitgenossen, die aufgrund besonderer Umstände nicht in menschlicher, sondern allein tierlicher Gesellschaft aufwuchsen (vgl. JubA VI/2, 7 f.). Solcherart aufgewachsene Wesen würden ihren »Sprach Trieb« (JubA VI/2, 7) nicht nutzen, solange sie nicht mit ihresgleichen in Berührung kämen. Nicht zuletzt deshalb bezeichnet Mendelssohn Geselligkeit als »die wahre Würde unseres Lebens« (Sendschreiben, JubA II, 104). Diese Anlage zur intentionalen Zeichenverwendung ließe sich auch genetisch reformulieren. Dementsprechend zeichnet Mendelssohn im LB 131 vom 13. November 1760 die Entwicklung von einem Reiz-Reaktionsmuster zum Einsatz eines Zeichens, um eine andere, jedoch mit ihm konventionell verbundene Reaktion auszulösen, nach: Kinder weinen aus Schmerz, dies liegt in ihrer Natur. Erst später lernen sie, die Ursache (Schmerz) und das Zeichen dafür (Weinen) zu trennen und das letztere als ein Zeichen zu begreifen. Damit lernen sie zugleich, dass ein Ausdruck einem Zweck dienen kann, bzw. sie können »mit der Hervorbringung solcher Gebehrden die Absicht verbinden, andern unsere innere Leidenschaften zu erkennen zu geben, und wenn man diese Uebung wiederholt; so kann man es darinn zur Fertig50

So auch in der Rezension zu Herder in der AdB 1773: Auch diejenigen, die die Sprache aufgrund von Behinderungen gar nicht benutzen können, zeigen ein Bestreben, »Unterscheidungsmerkmale zu erhaschen«, um Objekte kenntlich zu machen und sie (und sich) mitzuteilen (vgl. JubA V/2, 180 f.)

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keit bringen.« (JubA V/1, 294) Mit dieser Erfahrung der Zeichenhaftigkeit hängt es auch zusammen, dass man Kindern überhaupt unterstellt, die wollten ihre Schmerzen ausdrücken, bzw. bloß Mitleid erregen. Zeichen lassen sich damit ohne direkten affektiven Bezug einsetzen, um etwas mit ihnen Verbundenes zu erreichen. Dies kann freilich Verständigung ebenso wie Manipulation bedeuten; eine Gefahrenquelle, die Mendelssohn hier nicht nennt. Die Zeichenhaftigkeit der Sprache und das Bewusstsein davon sind für Mendelssohn durchaus mit der Konventionalität der Sprache verbunden. Es ist damit für ihn nicht widersprüchlich, neben der Assoziationstheorie auch die Notwendigkeit sozialer Interaktion zur Etablierung eines Zeichensystems anzunehmen.51 Die Gerichtetheit auf den Anderen ist demzufolge für die Kommunikation von eminenter Bedeutung, um sich über die erfahrene Möglichkeit, vom sinnlichen Erlebnis zur Bildung von Abstraktionen und damit zu einer Formulierungsmöglichkeit von hinter dem Sinnlichen liegenden ›Gegenständen‹ zu kommen, sich auszutauschen und in der Rede universelle Ideen zu entwickeln. Das entscheidende Problem dieser Zeichen ist damit jedoch noch immer manifest. »Aus der Willkürlichkeit der Zeichen, der Subjektivität der Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem, die nicht logisch, sondern psychologisch zu erklären ist, entsteht die ›Kluft‹ zwischen (allgemeinem) Begriff und (individueller) Wirklichkeit.« (Vogt 2005, 75) Dies spiegelt sich wider in Mendelssohns Diskussion der Idolatrie im Jerusalem: Die Abkehr vom Glauben geschieht immer dann, wenn der Unterschied zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem eingeebnet und das Zeichen für die Sache selbst genommen wird. Eine Vorstufe dazu liegt schon im Verhältnis von Rede und Gedrucktem. In einer eindringlichen Kritik am »todten Buchstaben« (JubA VIII, 169) moderner Gesellschaften weist er auf die Gefahr hin, die sich mit der Verabsolutierung des arbiträr Gesetzten einschleichen kann. »[W]ir sind litterati, Buchstabenmenschen« (JubA VIII, 170), die sich nicht durch Gespräch, sondern über verschiedene Medien wie Buch oder Brief mitteilen. Die Konservierung des Gesprochenen darf jedoch nicht, so Mendelssohn, dieses ersetzen, denn dies ist mit der Gefahr verbunden, den Anderen und die ›Sache‹ hinter den Buchstaben zu vergessen.52 In einer an Rousseau gemahnenden Rückschau auf »graue Tage der Vorwelt« (JubA VIII, 170), in denen dieser Austausch direkter verlief, verbirgt sich der Kernpunkt seiner Kritik: Buchstaben und Worte sind nicht Begriffe. Sie sollen zwar Wahrheiten repräsentieren, zeigen jedoch gerade durch ihre historische Gewachsenheit und Veränderbarkeit, dass sie dies nicht immer adäquat leisten. Immer ist somit eine Hermeneutik auch der heiligsten Schrift erfor51

Anders Kuehn 1995, 212. Kuehn bespricht allerdings nur die Evidenzschrift und das Sendschreiben, nicht die Notizen und den Jerusalem. 52 In dieser Hinsicht scheint sich Mendelssohn an Herder anzuschließen, der in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) ebenfalls auf diese Gefahr verwies, vgl. Werke 1, 704 f.

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derlich und immer ist die noch ›beweglichere‹ Rede dem starren geschriebenen Wort vorzuziehen. An dieser Stelle kommt Mendelssohn auf seine sprachgeschichtlichen Überlegungen zurück. Der Mensch fühle in sich das Bedürfnis, Begriffe zu bilden; sei es, um die mit ihnen transportierten Eindrücke zu konservieren, sei es, um sich mitzuteilen. Worte sind dafür das Vehikel.53 Man »heftet das abgezogene Merkmal, entweder durch eine natürliche, oder willkührliche Ideenverbindung an ein sinnliches Zeichen, das, so oft sein Eindruk erneuert wird, auch zugleich dieses Merkmal, rein und unvermischt, wieder hervorbringt und beleuchtet.« (JubA VIII, 171) Doch sobald der Zeichencharakter vergessen wird, droht Idolatrie. »Die Bilder hatten ihren Werth als Zeichen verloren. Der Geist der Wahrheit, der in ihnen aufbewahrt werden sollte, war verduftet, und das schale Vehikulum, das zurückblieb, in verderbliches Gift verwandelt.« (JubA VIII, 181) Angesichts der verächtlichen Dinge, die infolgedessen angebetet wurden und auch der schlechten Taten, die der Aberglaube (durch die Verführbarkeit der Einfältigen durch »Heucheley und Pfaffenlist«) hervorbringt, frage man sich sogar, ob »die Gottlosigkeit selbst nicht weniger gottlos sey, als eine solche Religion.« (JubA VIII, 181)54 Mit diesen Überlegungen gewinnt die Debatte um Sprache vs. Begriffe im Jerusalem, in dem Mendelssohn die Quellen der Begriffe unterscheidet und die Sprache lediglich einem Teilbereich dessen zuordnet, eine neue Qualität. Vernunftwahrheiten, die höchste Stufe dessen, was der Mensch erfassen kann, werden ihm zufolge gerade nicht über die Sprache vermittelt. Dies ist aus Sicht des Ansatzes im Jerusalem, Staat und Kirche als gesellschaftliche Institutionen gerade hinsichtlich der Reichweite ihres »Rechts« auf das Individuum zu trennen, folgerichtig: nicht der gesellschaftliche Sprachgebrauch entscheidet hier über die Wahrheit, sondern der Zusammenhang in der Vernunft. Traditionell unterscheidet Mendelssohn zwischen notwendigen Wahrheiten, die auf dem SvW gründen, unveränderlich sind und weite Gebiete der Mathematik und »Vernunftkunst« (JubA VIII, 158) abdecken – sowie auf der anderen Seite den zufälligen Wahrheiten, die gemäß des göttlichen Willens, also der teleologischen Welteinrichtung nach dem ›besten‹ Grund allein (SvG) wahr sind. Gerade letztere werden dem Einzelnen durch den Gebrauch seiner Vernunft allein einsichtig. Mendelssohn formuliert dies so: Allgemeine Vernunftsätze »offenbaret der Ewige vor uns, wie allen übrigen Menschen, allezeit durch Natur und Sache, nie 53

Die »Natürlichkeit« der Zeichenverwendung steht auch in Spinozas Tractatus TheologicoPoliticus (1670) den Ausgangspunkt dar, sowohl die Auslegung der Propheten als auch des Wissens aufgrund des »natürlichen Lichts« immer der Auslegung anheimzugeben (vgl. dazu Goetschel 2004, 57 ff.). 54 Siehe zu der zu konstatierenden Schwäche dieses Arguments, zumindest in historischer Hinsicht, Altmann 1973, 546 und Arkush 1994, 211 f. Dies gilt m. E. jedoch nur, wenn man Mendelssohns Überlegungen zur Idolatrie allein auf die Verwendung des Hieroglyphensystems beschränkt.

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durch Wort und Schriftzeichen.« (JubA VIII, 157) Wie der Mensch diese allerdings denken kann, wenn ihm die Worte dazu fehlen (was Mendelssohn in seinem Maimonides-Kommentar bestritten hatte, s. o.), bleibt hier im Dunkeln; die intuitive »Lesbarkeit der Welt« (vgl. Kap. I.2, 113, FN 163) scheint ihm schlicht gegeben zu sein. Davon fundamental unterschieden sind zum einen Glaubenssätze, die Mendelssohn gar nicht im Zusammenhang mit Sprache analysiert, sondern die er zuvor aus der ›Verhandlungsmasse‹ ausgegliedert hatte. Sie sind jeglichem Beweis in dem Sinne unverfügbar, als dass der Einzelne über das Ergreifen des Glaubens (nicht: seine Begründung) nicht rational entscheiden kann. Entweder ist man im innersten selbst überzeugt, oder kein Grund der Welt kann dazu nötigen (vgl. JubA VIII, 153). In diesem Sinne weiß sich Mendelssohn auch einig mit Lessings Nathan, der es ebenso ablehnt, Gründe für einen spezifischen Glauben zu nennen. Vom Sultan herausgefordert, bietet er Gründe der Coexistenz, aber nicht der Gleichheit und ergo Auflösbarkeit (vgl. Leventhal 1988, 507 zu Lessing). So liegen die Dinge auch im Falle der Mosaischen Gesetzgebung, die für ihn, Mendelssohn, als Juden Gültigkeit habe, was er aber nicht allseits nachvollziehbar begründen könne – und auch nicht müsse. Der »Forscher nach Licht und Recht«, August Friedrich Cranz55, begehe einen Kategorienfehler, wenn er hier auf eine – letztlich auf Lavaters Anmutung verweisende – Erklärung von Mendelssohn dringe, da seine Forderung ein Gebiet des Glaubens, nicht des (nachweisbaren) Wissens betrifft. Wohlgemerkt ist Mendelssohn dies nicht gleichbedeutend mit der Aussage, dass der Glaube gegen die Vernunft stünde. Je weniger Widerstreit zwischen beiden herrscht, desto besser. Und dass eine ›wahre‹ Religion nicht gegen die leibnizianischen Gesetze verstoßen kann, wahrt ihr einen auch rational nachvollziehbaren Rahmen. Damit ist Religion nicht per se irrational, sondern wird aus dieser grundlegenden Polarität ausgeschlossen. Nicht der Bezug zur Erkenntnis (theoretischer) Wahrheit, sondern zum moralischen Handeln und zur sozialen Realität sind von Bedeutung.56

55

Dessen Schrift, die ähnlich wie Lavater eine Aufforderung zur Konversion Mendelssohns enthält, ist einer der Gründe, die diesen zur öffentlichen Darlegung seiner Position im Jerusalem animierten. Siehe dazu im Folgenden Kap. IV.4, Abschnitt 2, S. 490 ff., sowie Albrecht 2005, XIV und das Vorwort der Herausgeber in JubA VIII, XXVII ff. 56 Vgl. Mack 2003, 87. Im Vorgriff auf Mendelssohns Theorie der vollkommenen Naturrechte ist hier noch anzufügen, dass Macks Unterscheidung zwischen theoretisch und moralisch unvollständig bleibt, da er die (weder von Religion noch Erkenntnis forderbare) innere Einstellung, die für Mendelssohn die Essenz des »Wohltuns« ausmacht und damit die generelle Unverfügbarkeit des Glaubens fundiert, nicht beachtet. Wenn Mendelssohn mit dem Jerusalem auch Kants in der KrV vertretenen »fusion of the theoretical and the moral« (Mack 2003, 86) widersprochen haben soll, so ist dennoch zu beachten, dass auch er die Gesinnung als das Merkmal einer freien Handlung hochhält. Diese ist eben gerade nicht durch die Umwelt, sondern einzig aus der freien Entscheidung des Individuums heraus zu haben.

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Der Aspekt der Sprachlichkeit kommt erst mit der Kategorie der Geschichtswahrheiten zu voller Geltung. Diese sind, laut Mendelssohn, »Sätze, die durch den Zusammenfluß von Ursachen und Wirkungen in einem Punkte der Zeit und des Raumes wahr geworden, und also von diesem Punkte der Zeit und des Raumes nur als wahr gedacht werden können. Von dieser Art sind alle Wahrheiten der Geschichte, in ihrem weitesten Umfange. Dinge der Vorwelt, die sich einst zugetragen, und uns erzählt werden, die wir aber selbst nie wahrnehmen können.« (JubA VIII, 158)57 Deutlich mit inbegriffen ist hier auch der Aspekt der Offenbarung, den Mendelssohn so prominent aus seinem Verständnis des Judentums als Religion ausgeschlossen hatte.58 Diese Wahrheiten lassen sich nicht über eine vernünftige Zergliederung verständlich und nachvollziehbar, vor allem aber ›glaubbar‹ machen,59 noch reicht individuelle Erfahrung60 zu ihrer Begründung hin. Geschichtswahrheiten können nur über Übermittlungen, Traditionen, Aussagen von Zeugen erfahren, oder vielmehr: ihnen geglaubt werden. Damit sind sie fundamental auf Sprache angewiesen. Diese ist aber, wie Mendelssohns Überlegungen zeigten, nicht immer als konstant oder gleich aufzufassen, sondern unterliegt den Schwankungen ihrer Sprecher. An dieser Stelle lässt sich die geschichtliche Dimension von Mendelssohns Denken verorten. Es ist dabei also nicht ausschließlich »auf den Fortschritt des Einzelmen57

Siehe über eine ähnliche Argumentation Lessings Kap. IV.2. Siehe auch die Hinweise auf die mittelalterliche jüdische Tradition, die hier mitbestimmend ist bei Arkush 1994, 170 passim. 58 Vgl. dazu Mack 2003, 82 f. Mendelssohn spricht hier vor allem nicht von einem »Wunder«, sondern einer »Wunderstimme« Gottes (vgl. JubA VIII, 164), die nicht einem einzelnen (fehlerhaften) Individuum, sondern einer gesamten Nation gegeben wurde (wiederum in Anlehung an die mittelalterliche Tradition) und qua Übereinstimmung mit der Vernunftreligion auf einen immer noch geteilten Konsens trifft. Er muss allerdings ihren Sonderstatus hochhalten, um der spinozistischen Kritik der Partikularität der Torah (als »Gesetzbuch« einer bestimmten, geschichtlich bestimmten Nation) zu entgehen. Andererseits ist nicht recht einsichtig, warum man auf Grundlage der mendelssohnschen Religionsauffassung mit Arkush 1994, 190 f. nach dem wahren Sprecher der »wundersamen Worte« suchen muss. Sei es Gott, oder ein Mensch; worauf es Mendelssohn allein ankommt, ist, dass diese Worte der Vernunftreligion nicht entgegenstehen können, solange sie in irgendeiner Form einen Inhalt über das Wesen des Glaubens enthalten. Alle darüber hinaus reichenden Informationen sind allein Sache des Glaubens. 59 In diesem Sinne charakterisiert er die Vernunftwahrheiten platonisch als »wiedererinnert«, vgl. Jerusalem, JubA VIII, 158 und erwähnt mit keinem Wort die Schwierigkeiten des Wort-Begriff-Komplexes. Vielmehr geschehe das Auffinden der Gottesidee in der Natur durch Anschauung: »in jeder aufgehenden Sonne, in jedem Regen, der niederfällt, in jeder Blume, die aufblühet, und in jedem Lamme das auf der Wiese weidet und sich seines Daseyns freuet« sei sie enthalten. Mendelssohn fügt sogleich an: »Diese Vorstellungsart hat etwas fehlerhaftes; allein sie führet unmittelbar zur Erkenntniß eines unsichtbaren mächtigen Wesens, dem wir alles Gute, das wir genießen, zu verdanken haben.« (JubA VIII, 162) Diese intuitive Gewissheit lässt aber noch keine Schlüsse auf die Eigenschaften Gottes zu. Dass zugleich das erfahrene Schlechte aus der Gottesidee ausgelagert wird, um seine »Güte« zu rechtfertigen, wird hier ebenfalls nicht einsichtig. 60 Zur wahrscheinlichen Überzeugung von der »zufälligen« Wahrheit, vgl. Kap. III.1.

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schen, nicht der Menschheit als eines Ganzen« (Altmann 1982, 26 f.) ausgerichtet, sondern ist für die historische Dimension der Sprache und damit für den Zusammenhang von Individuen qua Tradition sensibel. Auch deshalb neigt er dazu, »dort, wo der Fortschrittsgedanke und die Idee einer perfectibilité in ihrer naiven und unreflektierten Form auftreten, durch die Betonung von Tradition und Geschichte jeder Hybris entgegenzuwirken.« (Hütter 1990, 74) Sprache kann dazu verleiten, Irrtümer zu festigen (JubA VIII, 141), aber auch dazu, sich in der Reflexion über ihre Konstitutionsbedingungen darüber klar zu werden, dass sie bisweilen verworrene Ideen repräsentiert, die durch die Überlieferung verfälscht oder in einem dogmatischen Gewand verhärtet worden sind. Wenn also die oben erwähnten Übermittler der Geschichtswahrheiten nicht so verlässlich sind wie die Erkenntnisse aus der Vernunft, so droht die Gefahr von Verfälschung und Manipulation. Die entscheidende Frage ist also hier die nach einer angemessenen Hermeneutik auch einer »heiligen« Schrift; Mendelssohn eröffnet zwei Wege: (1) Für Philosophen im weitesten Sinne, die sich überzeugen lassen, ohne sinnliche Überredung nötig zu haben, ist die Aufmerksamkeit auf die sprachliche Begriffsverwendung unabdingbar. Im Gespräch, im aktiven Zurückgehen auf die Fundamente des Denkens sollen sie sich darüber klar werden, was ein Wort für den jeweiligen Sprecher bedeutet. Über Probleme zu argumentieren heißt damit auch, sich ihrer sprachlichen – und damit fehleranfälligen – Dimension bewusst zu werden. Der gesellige Austausch ist damit Voraussetzung zur Sicherung intellektueller Erkenntnis. Bedingung einer fruchtbaren philosophischen Diskussion ist es, dass sich »die Begriffe lange Zeit an einander reiben, bevor sie in einander sich wollten fügen lassen.« (JubA VIII, 135) Im gegebenen Zusammenhang muss dies durchaus nicht meinen, dass sich letztlich jeder Streit in einen Wortstreit auflösen ließe, wie Mendelssohn es oftmals bezüglich metaphysischer Debatten festgehalten hat. Vielmehr warnt er hier vor einer Überdehnung der Begriffe, die sich der Überprüfbarkeit durch vernünftige Zergliederung entzieht. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, von welcher Art der Wahrheit Mendelssohn im gegebenen Kontext spricht. Innerhalb der Vernunftwahrheiten kann es für ihn keinen tiefgreifenden Dissens geben; innerhalb der Geschichtswahrheiten jedoch ist dies durchaus möglich. Deshalb ist Vorsicht geboten, wenn im Zeichen der Toleranz alle Religionen vereinigt werden sollen (vgl. JubA VIII, 202, siehe IV.4). (2) Für das Gros der Menschen, die auch sinnliche Überredung brauchen, muss die Alleinherrschaft des geschriebenen Worts durchbrochen und die Sprache wiederum in ihren ursprünglichen, sozialen Kontext gestellt werden. Am Beispiel des Judentums nennt Mendelssohn die heilsame Wirkung der Zeremonialgesetze, die eben gerade nicht »todter Buchstabe«, sondern lebendiges Wort, ja mehr noch: pure Performanz sind (vgl. JubA VIII, 169, 184 f. und 193). »Die Menschen müssen zu Handlungen getrieben und zum Nachdenken nur veranlasset werden.« (JubA VIII, 184)

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Letztlich also scheitert hier die Sprache – denn diese Gesetze gehen gerade nicht auf das Denken selbst, sondern lenken durch bestimmte Handlungen zum Denken über.61 In einem Brief an Herz Homberg vom 22. September 1783 referiert Mendelssohn diese Position, die er auch im Jerusalem verteidigt hatte: »Wenn auch ihre Bedeutung [der Zeremonialgesetze] als Schriftart oder Zeichensprache ihren Nutzen verloren hätte, so hört doch ihre Nothwendigkeit als Band der Vereinigung nicht auf, und diese Vereinigung selbst wird in dem Plane der Vorsehung, nach meiner Meinung, so lange erhalten werden müssen, so lange noch Polytheismus, Anthropomorphismus und religiöse Usurpation den Erdball beherrschen. So lange diese Plagegeister der Vernunft vereinigt sind, müssen auch die ächten Theisten eine Art von Verbindung unter sich Statt finden lassen, wenn jene nicht Alles unter den Fuß bringen sollen. Und worin soll diese Verbindung bestehen? In Grundsätzen und Meinungen? die haben wie Glaubensartikel, Symbole, Formeln, die Vernunft in Fesseln. Also Handlungen, d. i. Ceremonien. Unsere Bemühung sollte eigentlich nur dahin gehen, den eingerissenen Mißbrauch abzuschaffen, und den Ceremonien ächte, gediegene Bedeutung unterzulegen, die Schrift wieder leserlich und verständlich zu machen, die durch Heucheley und Pfaffenlist unverständlich geworden.« (JubA XIII, 134) Es ist hier zu betonen, dass Mendelssohn explizit nicht eine bloße Aufoktroyierung der Zeremonien vorschwebte. Vielmehr beschreibt er den Prozess der Aneignung als einen freiwilligen, durch Neugier und eine offene Lehrform geprägten Austausch zwischen Schüler und Lehrer (vgl. JubA VIII, 185).62 Ob dies die (beispielsweise rabbinische) Realität widerspiegelt, lässt sich bezweifeln, obwohl in Mendelssohns Falle durchaus biographische Erinnerungen an Rabbi Fraenkel, den verehrten Lehrer, mitgespielt haben düften. Aufklärung ist in diesem Sinne auch Sprachkritik, die die Überlieferung nicht einfach annimmt, sondern sie befragt. Zugleich jedoch ist sie pragmatisch, weil sie denjenigen, die des Trostes eines Glaubens bedürfen, eine Zwischen- oder Übergangslösung anbietet. Um Erstarrung zu vermeiden, sollen es eben nicht Glaubenssätze sein, sondern Handlungen, die die Einheit der Gläubigen garantieren, bis der 61

Vgl. dazu Jerusalem, JubA VIII, 193 und Schulte 2003, 104, der Mendelssohn als einen Verteidiger des mündlich überlieferten Lehre im Judentum darstellt. 62 Hinzu kommt, wie Eisen 1990, 254 f. herausgearbeitet hat, dass die Zeremonialgesetze, qua göttlicher Offenbarung, nicht allein (arbiträre) Sprache sind, also nicht direkt und allein sprachlich etwas vermitteln, sondern v. a. die intuitive Einsicht in den »Zusammenhang der Dinge« ermöglichen sollen. Auch aus diesem Grund wären bloßer Buchstabenglaube und eine entsprechende Lehrmethode hier gar nicht angebracht. Dass ihn dies zu einem »Pluralisten« gemacht hätte (Eisen 1990, 254) hat schon Arkush 1994, 215 ff. zu recht bezweifelt. Auch ist seinem Vorschlag von der nicht unmöglichen Ausdrückbarkeit religiöser Wahrheiten in der Sprache, aber ihrer wiederum erschwerten Verständlichkeit zuzustimmen. Damit bleibt die Wichtigkeit des aktiv vermittelten Zeremonialgesetzes letztlich unberührt.

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vernünftige Hintergrund der überlieferten Sprache wieder durchsichtig ist. Die Zeremonialgesetze erhielten ihre Gültigkeit allein über die lebendige Tradition (vgl. JubA VIII, 193), ansonsten liefen sie leer und würden schädlich. »Die Handlungen des Menschen sind vorübergehend, haben nichts Bleibendes, nichts Fortdauerndes, das, so wie die Bilderschrift, durch Mißbrauch und Mißverstand zur Abgötterey führen kann. Sie haben aber auch den Vorzug vor Buchstabenzeichen, daß sie den Menschen nicht isolieren, nicht zum einsamen, über Schriften und Bücher brütenden Geschöpfe machen.« (JubA VIII, 184) Mendelssohn sieht also Veranlassung, den Schritt von der geselligen Sprache zum einsamen Schreiber (und Leser) wieder zurückzugehen, um Denken, Wollen, Handeln und Fühlen zu harmonisieren. Das ist kein Scheitern der Sprache an sich, sondern ihre konsequente Rückbindung an die Geselligkeit (vgl. JubA VIII, 193); Geschichtswahrheiten insonderheit können nur über diese ununterbrochene Kette an lebenden Zeugen ohne Verfälschung aufrecht erhalten werden.63 Die Trennung zwischen dem gesprochenen Wort und der Schriftlichkeit erwächst nicht allein aus Mendelssohns Beschäftigung mit Sprache, sondern steht in engem Zusammenhang mit den Diskussionen über den politischen und gesellschaftlichen Aspekt der Aufklärung, sowie deren Zusammenhang mit Religion. In den »Notizen über die Sprache« heißt es noch: »Hingegen hat die Schrift unstreitig große Vorzüge zum Behuf der deutlichen Erkenntniß, und ist in vieler Betrachtung [die Mendelssohn hier nicht ausführt, A.P.] der [gesprochenen] Sprache vor zu ziehen.« (JubA VI/2, 20). Im Jerusalem dagegen wird, wie auch Erlin (2002, 93 ff.) und Hütter (1990, 27) betonen, die Gefahr der Fehlinterpretation sowie des machtgeleiteten Missbrauchs in den Vordergrund gestellt. Damit reformuliert Mendelssohn den 63

In den Morgenstunden, JubA III/2, 41f. (Vorerkenntnis) kritisiert Mendelssohn d’Helvétius’ (De l’homme, sect. II, bes. ch. 5; vgl. JubA III/1, 301, 7 (Anm.)) Verständnis der Zeichen. Da d’Helvétius zufolge menschliche Erkenntnis nur aus den sinnlichen Empfindungen entspringe, enthalte sie keine abstrakten Begriffe, die tatsächlich etwas bedeuteten. Dieser Auffassung gemäß besteht Sprache aus bloßen Symbolen, die an sich immer leer sind und auch keine Vorstellung mit sich bringen. Sprache ist damit ein Zeichen-Kalkül: wir begnügen uns »beym Gebrauch der Sprache mit der Versicherung, daß wir einem jeden Worte, einen sinnlichen Eindruck von einer gewissen Gattung unterlegen können, ohne in der That etwas mehr als ein leeres Zeichen dabey zu denken, oder uns vorzustellen.« (JubA III/2, 41 f.) Dies ist »eine bloße Sammlung von leeren, algebraischen Zeichen, die wir nach gewissen Regeln versetzen und verbinden.« (JubA III/2, 42) Mendelssohns Gegenargument: mit der Sprache müssen anschauende Vorstellungen verbunden sein, denn sonst könnte die Dichtkunst nicht bezaubern. Die Empfindung des Mitleids beim Hören eines Gedichts kann uns nicht täuschen (zumindest nicht darin, dass hier eine Empfindung geweckt wurde) – Zeichen müssen in irgend einer Weise mit anschauender Erkenntnis verbunden sein; sie können also kein bloßes Kalkül darstellen. Damit ist zugleich die Bindung an die Anschauung ein weiteres Mal betont. Vgl. zu den religiösen Handlungen als Glaubensstützen etwas skeptischer Leibniz, Theodicée, Vorrede, 1f.

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Bezug zwischen Begriff und Wort in Termini einer ›Entfremdungstheorie‹. Begriffe liegen dem menschlichen Denken zugrunde, weshalb er sie auch als »Fundamentalbegriffe« (JubA VIII, 168) bezeichnet. Dennoch stehen dem Menschen lediglich die gewordenen Worte zur Verfügung, über deren wirkliche Bedeutung er sich immer wieder klar werden muss. Ohne deren Hilfe kann er sich niemals von der Sinnlichkeit und damit dem unmittelbaren sinnlichen Weltbezug befreien (JubA VIII, 172). Nicht zuletzt aus diesem Grund stellt Mendelssohn im Jerusalem die Definition des Menschen der Gottes gegenüber: Der Mensch ist kein Ewiges, sondern »sein Ewiges ist blos ein unaufhörliches Zeitliches« (JubA VIII, 108)64, das damit schlechthin durch eine zu realisierende, unendliche Approximation gekennzeichnet ist. So, wie es dem Menschen selbst zukommt, gilt es auch für seine Werkzeuge, und jede Schrift unterliegt der beständigen Interpretationsbedürftigkeit. Der Mensch, der in Abhängigkeit von seinen Erfahrungen und danach gefassten Meinungen Begriffe zu bilden versucht, ist dabei an die Materie der »sinnlichen Zeichen« (JubA VIII, 171) gebunden, die Mendelssohn auch als Gedächtnisstütze formuliert. Mithilfe dieser Zeichen können neuartige Beobachtungen, bspw. in der Physik, namhaft gemacht und so dem Bereich des Verworrenen entrissen werden. Mit der Besetzung einer »Sache« mit einem Begriff wird also eine wichtige Unterscheidung dieser »Sache« von ihrer »Umgebung« geleistet und ein Aspekt der Natur oder des Geistes handhabbarer gemacht (ebd., 173). Am Beispiel der »Reizbarkeit«, die Haller benannte, weil er eine häufig gemachte Beobachtung handhabbar zu machen suchte und ihr in der Folge eine spezifische Rolle in seiner Theorie zuschreiben konnte, beschreibt Mendelssohn, wie eine Begriffsfindung auch zur Formulierung eines Naturgesetzes führen kann. Mit der Zusammenführung von der Notwendigkeit des Sprachgebrauchs und seiner Fallibilität, die eine immerwährende Überprüfung des Gesagten auch durch die Mitmenschen verlangt, legt Mendelssohn ein besonderes Gewicht auf die Verbindung beider zum »sittlichen Naturgesetz« (von ihm in Anlehnung an Wolff als ein Naturgesetz reformuliert, siehe III.2, 300), das den Menschen zur Vervollkommnung anleite. Mit der Sprache wird dabei auch der soziale Aspekt dieser Vervollkommnung in den Blick genommen. »[A]lle Kräfte seiner Seele [können] sich nicht anders als durch die Gesellschaft und in derselben entwickeln« (JubA VI/2, 8)65 Nur in der Gesellschaft kann der Mensch sich im ganzen Maß vervollkommnen, worauf die 64

Das Pendant dazu setzt Mendelssohn im dritten der Philosophischen Gespräche: die Unerkennbarkeit des Menschen, außer für Gott: »Ein jeder Begriff des Menschen führt ins Unendliche, enthält eine unergründliche Tiefe, die nur von dem unendlichen Verstande ganz durchschaut werden kann.« (JubA I, 363) 65 Siehe zur natürlichen Pflicht, Naturrecht des Menschen Kap. IV.3, Abschnitt 1. Die Officia humanitatis, das Wohltun zur Besserung des Status’ Anderer dient der fremden wie eigenen Verbesserung; vgl. Altmann 1982, 179.

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Gerichtetheit der Sprache und des Sprechens auf den Anderen ebenso hinweist wie die Notwendigkeit, sich über sprachliche Gehalte immer auch im direkten Austausch klar zu werden. Die Reflexionen über den Ursprung der Sprache sind für Mendelssohn damit Reflexionen über den Ursprung des ganzen Menschen als geselliges Wesen. Die »Natur« hat »zugleich unserm Wesen gleichsam eingegraben, alle unsere Fähigkeiten in der vollständigsten Harmonie emporzuheben« (JubA II, 89), wobei sich die Harmonie nicht nur aus der persönlichen Ausgeglichenheit von Vernunft und Sinnlichkeit, sondern auch durch die Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen ergibt.66 Das Zeitliche im Menschen ist zugleich eine ewige zeitliche Entwicklung, die nicht im luftleeren Raum stattfinden kann. Er ist also, um der Forderung nach Vervollkommnung nachkommen zu können, der Gesellschaft bedürftig, die durch die Sprache gefestigt wird, aber der wiederum auch die Sprache ihre Festigung verdankt. Die Verbindungen durch eine ungebrochene Tradition, die letztlich die Konstanz der willkürlich festgelegten Bedeutungszuweisen ermöglichte, schien Mendelssohn ein gefährdetes Gut zu sein, das aber zur Erfüllung des »unaufhörlichen Zeitlichen« unabdingbar notwendig ist.

66

Vgl. dazu den Abschnitt zur »Anthropologie« in Ricken 2000, 236–41, der diese Betonung der Gesellschaft für den Ganzen Menschen vermissen lässt. Nach Mendelssohn ist diese Erweiterung des Begriffs jedoch von großer Bedeutung: nicht nur Seele und Körper, sondern auch das gesellschaftliche Gefüge gehören zum ›Menschen‹.

IV.  Das Individuum im Spannungsfeld von Geschichte und Gesellschaft »[…] denn was weis ich von der Geschichte? Was nur den Namen von Geschichte hat, Naturgeschichte, Erdgeschichte, Staatsgeschichte, gelehrte Geschichte, hat mir niemals in den Kopf kommen wollen, und ich gähne allezeit, wenn ich etwas Historisches lesen muß, es müßte mich denn die Schreibart aufmuntern. Ich glaube, die Geschichte ist eines der Studien, die nicht ohne Unterricht erlernet werden können.« Mendelssohn an Abbt, 16. Februar 1765, JubA XII/1, 75 »Der plötzliche Übergang von Licht zu Finsternis und umgekehrt, erregt Erstaunen.« Mendelssohn, Morgenstunden, JubA III/1, 247

Die Auffassung des Menschen als ein »unaufhörliches Zeitliches« (JubA VIII, 198) scheint nahezulegen, dass Mendelssohn mit der Bestimmung des Menschen auch eine Bestimmung der menschlichen Geschichte verfolgte. Doch ist das Gegenteil der Fall. In seinem Werk eine historische Betrachtungsweise zu untersuchen scheint schon allein deshalb ein Kuriosum, weil er sich letztlich gar nicht für Geschichte interessierte. Ein näherer Blick auf seine diesbezüglichen Bemerkungen zeigt immer wieder, dass für ihn die Geschichte der Menschengattung als eine Generationen überspannende Fortschrittsidee einen Kategorienfehler darstellt, aufgrund dessen die philosophisch erfassbaren Zusammenhänge aus dem Blick geraten müssen.67 Zwar ist seine eigene Philosophie nicht statisch in dem Sinne, dass sie generell Entwicklungen und deren philosophische Fassbarkeit verneint. Doch sie nimmt kein Abstractum in den Blick, sondern wendet sich der Entwicklung der kleinsten Einheiten, den Individuen, und den zwischen ihnen bestehenden Wechselverhältnissen zu. Dies hat Auswirkungen auf seine Theorie menschlicher Gesellschaft, die sowohl den praktischen Bereich der Interaktion sowie den politischen, staatsphilosophischen Bereich der positiv-rechtlich fassbaren Ordnung dieser Interaktionen umfasst. Mendelssohn ist hier ›moderner‹, als sein grundlegender metaphysischer Rationalismus erwarten lässt. Mendelssohn betrachtet die Geschichte sozusagen aus der Opposition heraus. In ihrer Gesamtheit ist sie ihm eine bloße Ansammlung an Vorgängen, die sich nicht einem rationalen Gefüge erschließen – so lange nicht, bis sie als die jeweilige Geschichte des Individuums, oder aus Gottes Sicht als die vollkommene Totalität des Kosmos betrachtet werden. Der letztgenannte Blick ist dem Menschen nur in der Metaphysik, wenngleich bloß rudimentär möglich; geschichtliche Daten haben dort 67

In diesem Sinne hat sich Mendelssohn auch an Abbts Zweifel ohne Vorbehalte angeschlossen; vgl. Kap. I.2.

IV.2 Das Individuum im Spannungsfeld von Geschichte und Gesellschaft

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allerdings keinen Platz. Weltgeschichte als Gesamtheit der dieseitigen Ereignisse wiederum stellt auch für die Entwicklung der Einzelseele nur einen Ausschnitt dar, hat doch Mendelssohn die Vervollkommnung des Individuums auf das Jenseits ausgedehnt (siehe Kap. I.2 und V.). Der Einzelne scheint damit nicht den Bedingungen einer Geschichte, sondern eher den direkten Bedingungen seines Umfelds und den universellen Erfordernissen seiner geistigen Anlagen unterworfen. Im Modell einer leibnizianischen Welt hängen zwar auch alle gegenwärtigen, vergangenen und künftigen Einflüsse zusammen; doch bietet ihre bloße, menschenmögliche Ansammlung keine verlässliche Erkenntnis. Als historisches Wissen liefert sie allenfalls Fragmente und zeichnet noch unerfüllte Entwicklungslinien, deren Vervollkommnungspotential sich nicht vollständig erschließt. Damit ist noch keine Aussage über die Güte der »Vorsehung« getan, da sich ihre Erfüllung nicht innerhalb der Geschichte zeigen muss, sondern sich in jedem Augenblick, aus einer ›objektiven‹ Perspektive, immer schon darstellt bzw. in der Entwicklung als Vervollkommnung der Seele im Einzelnen erfahrbar sein soll; so zumindest die von Mendelssohn immer wieder verteidigte Voraussetzung (vgl. Kap. I). Die bloß historischen Abläufe wertet Mendelssohn vielmehr als ein Auf und Ab, je nach den Gesetzmäßigkeiten der sich in ihr befindenden Individuen. Sie entwikkeln sich, können dabei auch auf bisherige Entwicklungen zurückgreifen, sich auf die Schultern der Riesen vor ihnen stellen. Aber sie können nicht bruchlos an diese anschließen, sondern müssen sich den bisherigen Standard jeweils selbst von neuem erarbeiten. Mendelssohns Sicht auf die Geschichte zeigt, dass er die in ihr fehlenden Fortschritte gerade als einen Garanten der individuellen Selbstvervollkommnung sieht: in dieser Hinsicht erhielte der Mensch Anstoß zur Vervollkommnung, nicht Vollkommenheit selbst. Sein Geschichtsverständnis ist hier, obwohl er für das Primat des Individuums argumentiert, als instrumentell zu charakterisieren, indem es Motivation durch Mangel in einen umfassenden Gedanken einzubetten versucht. Ebenfalls ist es aus seiner Perspektive nicht widersprüchlich, wenn sich zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Stadien der Vollkommenheit in den Künsten und Wissenschaften zeigen und es dadurch sowohl Fort- wie Rückschritte geben kann. Die (ewige) Vollkommenheit habe sich, so beginnt Mendelssohn die Evidenzschrift, in der Kunst bereits in der Antike gezeigt und erlaube keinen Fortschritt mehr. In den Wissenschaften dagegen richte sich ihre Vollkommenheit nach der Durchdringung ihrer Gegenstände, die sich in der Aufklärungszeit zwar immer noch verworren, aber insgesamt doch deutlicher als bei den »Alten« zeigt (vgl JubA II, 269 f.). Geschichtliche Ereignisse dahingegen gelten nicht absolut, sondern in ihnen scheint die Vernunftwahrheit in immer neuer Gestalt auf. Dass ihr Gehalt dabei wieder verloren gehen kann, ist keine apersonale Gesetzmäßigkeit, sondern ließe sich mit Lücken in der Tradition zeigen bzw. der Unfähigkeit Nachfolgender, die einmal erreichte Vollkommenheit wieder zu erlangen. Vervollkommnung erfordert Tradition, kann

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

sich aber nicht allein aus ihr schöpfen, sondern fordert deren Aufnahme durch den Einzelnen, sowie die individuelle Ausbildung seiner Vermögen. Trotz seines nach außen bekundeten Desinteresses hat sich Mendelssohn mit geschichtsphilosophischen Entwürfen seiner Zeit befasst, nicht zuletzt, weil sich anhand ihrer dennoch Modelle für die eigene Fortschrittsidee, die sich ohne Zweifel in der Idee der Perfektibilität widerspiegelt, gewinnen ließen. Am deutlichsten wird dies in Auseinandersetzung mit Lessing. Der geteilte »Denkraum« der beiden wirkte noch über den Tod des Freundes hinaus.

1. Geschichte als Heilsgeschichte und skeptische Implikationen: Lessing Die Beschäftigung mit Historizität als philosophische Kategorie wurde im Verlauf der Aufklärungszeit immer bestimmender (vgl. Seeba 1982, 289). Sie erschien zunehmend als ein verlässlicheres Instrument, das Gewordensein des Menschen bestimmen zu können und damit auch Gesetzmäßigkeiten seiner Entwicklung und seiner weiteren »Bestimmung« offenzulegen. Dabei wurde Geschichte zunehmend säkularisiert: Den heilsgeschichtlichen Entwürfen wurde die Perspektive der Gleichwertigkeit der Völker und Zeiten an die Seite gestellt, wobei das Konfliktpotential zwischen diesen beiden Polen in unterschiedlicher Form zutage trat. Mendelssohn wie auch Lessing kamen an dieser grundsätzlichen Fragestellung und deren Problemen kaum vorbei; sie verhielten sich zu ihr jedoch zunehmend unterschiedlich. Dabei ist der Bruch zwischen ihnen, der sich in Lessings Erziehung des Menschengeschlechts (1780) und Mendelssohns abschlägiger Reaktion darauf im Jerusalem (1782) vollzog, vielleicht letztlich nicht so tief, wie man angenommen hat. Allerdings ist eine Verbindung zwischen den beiden Positionen weitaus schwächer als noch zu Beginn ihrer Karrieren; darüber hinaus lässt sie sich nur im Rückgriff auf andere Werke Lessings herstellen. Der Status der Geschichte bleibt ein Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden Denkern, was sich auch auf den Status des Einzelnen sowie die Interpretation der Bestimmung des Menschen auswirkt. Beiden schien die Problematik einer sich in der Geschichte verwirklichenden Teleologie zunehmend problematisch, was dennoch bei keinem in einen Geschichtspessimismus, noch in Geschichtsignoranz mündete, sondern in eine Reformulierung der Entwicklungsthese als »Bildung«, bzw. »Toleranz«. Diese Umwandlung nachzuzeichnen widmen sich die Teilkapitel IV.3 und IV.4; im vorliegenden Teilkapitel soll die Vorstufe, also beider Ansichten zur Geschichtsphilosophie, untersucht werden. Die ernsthafte Beschäftigung mit der Menschheitsgeschichte wurde in der vorangegangenen Zeit eher abgelehnt. Ein – weithin geteilter und auch von Vorgängern so akzeptierter – Grund der Skepsis gegenüber der Erkenntnis (vergangener) Tatsachen war deren grundsätzliche Bedingtheit. So unterschied Friedrich Christian Baumei-

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ster in seiner Philosophia Definitiva (zuerst 1746), die Positionen zusammenfassend, »cognitia historica est cognitio factum« von »cognitia philosophica […] est cognitia causarum« (§§ 1 f.). Die cognitia historica ist dabei nicht allein historisches, sondern allgemein Tatsachenwissen, das sich auf die Erfahrung beruft. Deren Zweifelhaftigkeit hatte auch Descartes betont. Nicht nur, dass es nur unzureichend rational durchdringbar ist, sondern auch, dass das zu untersuchende Material sich nicht von selbst anbietet, sondern aus der verworrenen Masse der bloßen Geschehnisse ausgewählt werden muss, macht die Historie für die wissenschaftliche Betrachtung unzureichend.68 Ähnlich argumentiert Locke im Essay, Buch IV.16, §§ 10 f. und verweist darüber hinaus auf die zweifelhaften Kriterien dieser Auswahl: ihre Wahrnehmung wie Weitergabe ist entscheidend an sie verfälschende Leidenschaften und Interessen gebunden. Dem standen zur gleichen Zeit großartig angelegte Geschichtsentwürfe wie derjenige Bossuets (Discours sur l’histoire universelle von 1681)69 gegenüber, die die Entwicklung als eine Heilsentwicklung, einen Fortschritt zum Besten reformulierten und damit freilich das ihre Auswahl motivierende Interesse in dankenswerter Offenheit darlegten. Der Grund dieses Optimismus’ wurde zumeist in der christlichen Lehre gesucht und damit der Wert der historischen Betrachtung wiederum relativiert, da sich die Verifikationsinstanz außerhalb der Geschichte befand und ihr erst ihre Bedeutung verlieh. Das historisch zu Beweisende wurde bereits ahistorisch vorausgesetzt und wurde nur noch ›aufgefunden‹; ein Widerspruch gegen solche ›Tatsachen‹ war nur mit dem Risiko, der »Atheisterey« verdächtigt zu werden, möglich, denn dem solcherart eingeordneten historischen Ereignis und seiner Bewertung konnte kein historischer, aber auch kein rationaler Beweis mehr entgegengestellt werden. Lessing wie Mendelssohn haben sich gegen dieses letztlich zirkuläre Verfahren, in dem ein historisches Ereignis aus der Zeit enthoben gedacht wird70, entschieden zur Wehr gesetzt (Mendelssohn mit der – sehr strittigen – Ausnahme der Gesetzesoffenbarung am Sinai). Die ebenfalls gängige, an Leibniz orientierte Auffassung der Geschichts- als Tatsachenwahrheiten führte demgegenüber konsequent auf die Metaphysik, nicht auf die Betrachtung einer Menschheits- oder Weltgeschichte zurück und stellte somit eher eine Rückfallposition, denn eine genuine Geschichtsphilosophie dar. Einen erklärten Gegenpol zur heilsgeschichtlichen Position eröffnet allerdings noch ein ganz anderer Denker: Voltaire. Dieser entwickelte, wie Cassirer in seiner Philosophie der Aufklärung (1932, 270) überzeugend dargelegt hat, in seinem Dic68

Vgl. Discours de la méthode I, 7 f. und Cassirer 1932, 269. Allerdings nimmt das Judentum bei Bossuet eine zentrale Stellung ein und wird geradezu als Paradigma »von Geschichte unter dem Zeichen göttlicher Vorsehung« behandelt; vgl. C. F. Berghahn 2001, 72. 70 So wurde, nach Cassirer 1984, 100 f., die Geburt Christi als ein Einbruch des Ewig-Göttlichen in die Zeit aufgefasst. 69

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tionnaire eine Betrachtung der Geschehnisse, die gerade nicht systematisch und hierarchisierend sein, sondern das Nebeneinander der Dinge betonen sollte. Damit wird das Dictionnaire im Mantel des umfassenden Wissens ein kritisches »Register von Fehlern« (ebd., 275) der teleologisch-theologischen Geschichtsauffassung. Denn bisher, so Voltaire, sei deren Umgang mit den historischen Ereignissen eher dem Kochen vergleichbar, in der jede »Zutat« (ein historisches Faktum) so behandelt wird, »wie man Fleisch in der Küche herrichtet und nach [seinem] Geschmack würzt« (Oeuvres Divers, Haag 1725–31, Bd. 1, 510).71 Er hingegen begebe sich an die mühevolle Arbeit, die historische ›Tatsache‹ erst herauszudestillieren, indem er versuche, sich der Verführung subjektiver motivierter Interpretation der ›Fakten‹ zu enthalten. Der Historiker »muß sich, soweit das irgend möglich, in den Zustand eines Stoikers versetzen, der von keiner Leidenschaft bewegt wird« und darf die Geschichte nur mit »reinen Händen« berühren.72 Voltaires »stratifikatorisches« (Cassirer 1932, 275) Verfahren war damit einer Befreiung von unangemessenen Hierarchien gewidmet; es wirkte jedoch zugleich auch einebnend, indem es sich dem Nachweis angewendeter Kriterien der Auswahl und Rekonstruktion mit dem Hinweis auf die generelle Gleichwertigkeit verweigerte. Eine Geschichtsbetrachtung, die die historischen Phänomene wissenschaftlich behandelte, war mit dieser Herangehensweise nicht zu bekommen, wie Cassirer anschließend anhand einer Analyse von Voltaires Essai sur les moeurs zeigt (vgl. ebd., 292 ff.). Letztlich ist demgemäß alles Geschehen eine Erscheinung eines immer sich gleich bleibenden Geistes. Es sind damit dieselben Grundkräfte, die die Geschichte lenken; ihre Geschehnisse dringen nicht wiederum in den Kern des Geistes selbst vor, sondern dieser erhält sich über die Zeiten. Cassirer fragt zu Recht, ob es in diesem Sinne überhaupt eine »im strengen Sinne philosophische Geschichte« geben könne, oder nicht vielmehr »die philosophische Erkenntnis des historischen Prozesses im Grunde seine Aufhebung« (ebd., 293) darstellte. Wenn Geschichte als Manifestation menschlicher Psychologie verstanden wird, so wertet dies nicht ihren Status auf, sondern denjenigen der Psychologie (Cassirer) oder, mit Mendelssohn, der Bestimmung des menschlichen Wesens, das sich in seinen Fähigkeiten zur Erkenntnis, zum Wollen und Handeln sowie in der Ausgleichsbewegung zwischen Sinnlichkeit und Verstand im Billigungsvermögen zeigt. Diese Form einer Psychologie ist mit der Geltung der Mathematik in der Naturgeschichte vergleichbar. Es werden keine ›außermenschlichen‹ Endursachen für die Erklärung der Geschichte angenommen, sondern jedes Ereignis wird auf seine in der Natur des Menschen lie-

71

Vgl. C. F. Berghahn 2001, 108 f. Artikel »Usson, Remarque«, in: Teil IV, 2858; zit. nach Cassirer 1932, 279. Dabei waren auch Voltaires Hände durchaus nicht »rein« – gegen die Juden war er als einer der schärfsten Kritiker zu Felde gezogen, und es steht zu vermuten, dass diese Vorentscheidung wiederum Rückschlüsse auf die Auswahl der ›Tatsachen‹ und deren Bewertung zulässt. 72

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genden Ursachen zurückgeführt. Sie ist damit auch nicht empiristisch ausgerichtet, denn sie orientiert sich an dem überzeitlichen menschlichen ›Wesen‹, das durch sie allein offengelegt werden kann. Letztlich bestimmt sie »auch den eigentlichen Sinn des Fortschrittsgedankens. Sie begründet und rechtfertigt ihn; aber sie weist zugleich seine Grenzen auf und hält seine Anwendung in diesen Grenzen fest. Sie zeigt, daß die Menschheit die Schranken ihres ›Wesens‹ nicht überschreiten kann – daß aber dieses Wesen selbst nicht mit einem Schlage gegeben ist, sondern sich erst allmählich herausarbeiten und sich kontinuierlich gegen Hemmungen und Widerstände durchsetzen muß.« (Cassirer 1932, 294) Vernunft ist sich immer gleich, sie wird jedoch durch Traditionen, Gebräuche, Gewohnheiten und Vorurteile verdunkelt, oder erhellt. Zugleich steht sie damit außerhalb historischer Begründung: sie wird durch Geschichte lediglich sichtbar gemacht, nicht bewiesen.73 Um eine Erklärung menschlicher Entwicklung, ihrer Veränderung und letztlich ihrer Perspektive zu bieten, erschien Voltaires Vorgehen wenig zielführend; zumindest hatte die teleologische Betrachtung, anknüpfend an den Typus der Heilsgeschichte, weitaus mehr Anhänger. Die Herausbildung einer immer vollkommener werdenden Vernunftfähigkeit (und –einsicht) ist in dieser ›historischen‹ Betrachtungsweise immer wieder als in einzelne Momente aufgespalten gedacht worden. So entwickelt Lessing im Verlauf seiner schriftstellerisch-philosophischen Laufbahn drei alternative Konzepte der Vollkommenheit in der geschichtlichen Entwicklung: »Vollkommenheit am Anfang, gleichbleibender Grad der Vollkommenheit und Zunahme der Vollkommenheit im Laufe der Menschheitsgeschichte« (Totok 1986, 182) und wendet sich letztendlich – scheinbar – der teleologischen Geschichtsbetrachtung zu. Er ist gerade mit dem letztgenannten Aspekt der Geschichte als einer mehrstufigen Aufklärung der Vernunft in der Erziehung des Menschengeschlechts nicht originell; neben Giambattista Vico, der die Theorie der drei Zeitalter der Götter, Heroen und Menschen in immer wiederkehrender Abfolge entwickelte74, haben sich auch die Fortschritts73

Wie die folgende Diskussion von Mendelssohns Geschichtsverständnis zeigen wird, ist Mendelssohns Vorgehen der Lesart Voltaires nicht unähnlich; sie unterscheiden sich jedoch in einem wichtigen Aspekt: Mendelssohn wird die Auswahl- und Bewertungskriterien der menschlichen Entwicklung an seiner »Bestimmung« messen, während Voltaire die ›reine‹ Subjektivität des auswählenden Philosophen hervorhebt. 74 Das Prinzip der »corsi e ricorsi«; siehe Principi di una sciencia nuova d’interno alla comune natura delle nazioni, Neapel 1725, erweitert und revidiert 1744. Ein weiterer wichtiger, die Geschichtsphilosophie als Menschheitsgeschichte ebenfalls betreffender Grundsatz Vicos lautete, dass der Mensch nur das wirklich zu erkennen vermag, was er selbst hervorgebracht hat (»verum idem factum«; De antiquissima Italorum sapientia…, 3 Teile, 1710) – eine leibnizianisch zu verstehende umfassende Weltgeschichte steht also gar nicht im Rahmen menschlicher Erkenntnisfähigkeit. Vgl. dazu Jürgen Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen. Vicos Sematologie. Frankfurt a.M. 1994, Battista Mondin: Storia dell’antropologia filosofica. 2. Bde. Bologna 2001 f., Richard W. Schmidt: Die Geschichtsphilosophie Giovanni Battista Vicos. Mit einem Anhang zu Hegel. Würzburg 1982.

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theoretiker in Frankreich (v. a. R.J. Turgot, M.A. de Concordet, A. Comte) mit dieser Dreiteilung, oder, wie Bossuet, mit dem Gedanken der »Aufwärtsbewegung« befasst. Dabei ist die intellektuelle Entwicklung auch von Lessings Position nicht so schlicht, wie es mit alleinigem Rückgriff auf die Erziehung des Menschengeschlechts den Anschein hat. C. F. Berghahn hat mit Bezug auf die Kontroverse mit Mendelssohn die Entwicklung von Lessings Geschichtsphilosophie minutiös nachgezeichnet (vgl. ders. 2001, Kapitel III); ich werde nur referierend darauf zurückgreifen, um Mendelssohns Gegenposition schärfer zu umreißen. Es wird sich zeigen, dass beider Ausgangspunkt nah beieinander liegt und auch den Dissens in den Spätwerken zumindest in Hinblick auf die Bewertung der Rolle des Individuums (und damit seines Selbstwerts) vielschichtiger macht. In der Vossischen Zeitung75 beginnt Lessing 1753 seine Rezension von d’Espiards L’Esprit des Nations (1752) mit der Feststellung, dass zwar das Studium des Menschen die wichtigste Beschäftigung für den Menschen sei, man dies jedoch auf zwei Arten betreiben könne. Einmal könne man sich dem einzelnen Menschen widmen, doch dann kenne man nicht viel mehr als »Thoren und Bösewichter« (Lessing, Werke 2, 474). Zum anderen jedoch könne man sich mit dem Menschen als eines Typus befassen. Dann erhielte man weitaus positivere Ergebnisse: »Überhaupt verrät er [der Mensch, A.P.] etwas Großes und seinen göttlichen Ursprung. Man betrachte, was der Mensch für Unternehmungen ausführt, wie er täglich die Grenzen seines Verstandes erweitert, was für Weisheit in seinen Gesetzen herrschet, von was für Emsigkeit seine Denkmäler zeugen.« (ebd., 475) Vielleicht auch aus diesem Grund sprach sich Lessing sehr früh gegen Rousseaus Kulturverfallslehre aus. In seiner Rezension des ersten Discours vom 30. April 175176 kritisierte er dessen Ansicht als einen Kurzschluss, denn dass der Staatsverfall und die Blüte der Künste gleichzeitig beobachtet werden könnten, ließe keinen Rückschluss darauf zu, dass beide ursächlich miteinander zusammenhingen. »Alles hat in der Welt seinen gewissen Zeitpunkt. […] Stürzt [der Staat] also, so stürzt er nicht deswegen, weil [die Künste] ihn untergraben, sondern weil nichts auf der Welt eines immerwährenden Wachstums fähig ist« (Lessing, Werke 2, 72).77 Lessings unterschwellige Kritik trifft aber nicht nur Rousseaus Verfallsbe-

75

Critische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit. Berlinische Privilegierte Zeitung. Das Neueste aus dem Reich des Witzes, zit. nach Werke 2, 474 ff. 76 Auch diese Rezension erschien in den Critischen Nachrichten, zit. nach Werke 2, 64–79, zu Rousseau 65–73. 77 Lessing setzt seine Einwände gegen Rousseau in dieser Rezension in den Konjunktiv: »man könnte folgendes einwenden…«. Wie es scheint, möchte er zwar betonen, dass Rousseaus These streitbar ist und ihre Schwächen hat, doch ist es ihm wichtiger, Rousseau als einen Verteidiger der »Tugend« darzustellen, für den man »heimliche Ehrfurcht empfindet […] auch sogar alsdann, wann er zu weit geht.« (ebd., 72 f.). Der mit Rousseau befasste Teil der Rezension bricht recht unvermittelt ab; Lessing wendet sich anderen Themen zu.

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stimmung, sondern auch ein mechanistisches Verständnis der Vervollkommnung, wie es die Schulphilosophie seiner Zeit nahelegte: Lessing lag es vielmehr an dem zu vermittelnden Nebeneinander von Verunftbestimmtheit, einem menschlichen Telos, und der Unbestimmtheit in der Freiheit menschlicher Entwicklung (vgl. Bollacher 1978, 165–69). Ähnlich wie Mendelssohn später, konnte also bereits der Lessing der 1750er Jahre von einer Geschichte der Fort- und Rückschritte ausgehen; dass er sich dabei eng an Voltaires Überlegungen anlehnte, ist erwiesen (vgl. C. F. Berghahn 2001, 125 f. m.w.Vw.). Mit einer bloßen Psychologisierung alles Geschehens war der ausgebildete Theologe Lessing jedoch nicht zufrieden: gegen einen leeren Rationalismus, der sich allein in der »Freiheit« gefiel, »so viele Sottisen« gegen die Religion »zu Markte zu bringen, als man will« (Lessing, Werke 3, 159 f.), führte er dessen Verführbarkeit ins Feld. Er wolle deswegen, so schreibt er an Mendelssohn am 9. Februar 1771, einige seiner vormals vorschnell weggeworfenen »Vorurtheile«, und damit also einige Glaubenssätze wieder zurückholen (JubA XII/2, 1 f.). Diese waren inzwischen freilich durch die Einflüsse in den Wolfenbütteler Jahren durch das Feuerbad der »anthropologischen Lesart biblischer Urkunden« entscheidend modifiziert worden (C. F. Berghahn 2001, 127, vgl. Cassirer 1932, 246 ff.), so dass eine theologisch ausgerichtete Interpretation der Geschichte auch Rücksicht auf die Forderungen der aufgeklärten Vernunft nehmen musste. Diese Problematik reflektierte Lessing in einer Überlegung von 1777, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, der nach dem epistemologischen Standort der Geschichtswahrheiten im Gegensatz zu den Vernunftwahrheiten fragt.78 Lessings

78

Siehe Lessing, Werke 8, 439–45. C. F. Berghahn 2001, 129 f. nennt im Zuge der Entwicklung von Lessings Geschichtsphilosophie noch den 11. LB vom 25. Januar 1759 (Lessing, Werke 5, 478–81). Allerdings unterliegt seine Lektüre dieses Briefes einem Missverständnis; denn Lessing plädiert in ihm gerade nicht für einen grundsätzlichen Wert des historischen Wissens als eines »Keims« der anderen Wissenschaften. Dies ist vielmehr Wielands Ansicht, die Lessing skeptisch bewertet: stelle man die historische Kenntnis dem Bemühen, die Dinge selbst zu entdecken, voran, schläfere man die Neugier endgültig ein, da der Mensch ohnehin von Natur aus »weit begieriger [sei], das Wie, als das Warum zu wissen.« (ebd., 479). Allein für bereits »geschehene Dinge« ist die Historie unabdingbar; in die Wissenschaften (er nennt im 10. LB (ebd., 477) Logik, Psychologie, Mathematik, Physik, Ontologie; zwar wurden diese Wissenschaften im 18. Jh. nur bedingt als Beobachtungswissenschaften verstanden, doch es wird in Lessings Ausführungen deutlich, dass er sie zumindest teilweise in dieser Hinsicht auffasst) jedoch darf die eigene Beobachtung, das eigene Nachdenken nicht durch Fremdes überdeckt werden. Vielmehr möchte er die Geschichte neben die anderen Wissenschaften stellen: »Eine jede Wissenschaft in ihrem engen Bezirke eingeschränkt, kann weder die Seele bessern, noch den Menschen vollkommener machen.« (10. LB, ebd., 478) Allein im Bereich der Kenntnis vergangener Dinge, in der also durch »eigenes Nachdenken« (11. LB, ebd., 479) keine Erkenntnis gewonnen werden kann, ist die Geschichtswahrheit allein maßgebend. Damit ist aber Geschichtswissen gerade nicht als eine Propädeutik zu denken. Der in der Erziehung vertretene Standpunkt ist hier, entgegen C. F. Berghahns Vermutung, noch nicht erkennbar. Lessings Ansicht ist hier vielmehr neben der Tatsache, dass er den Wert der Historie

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Überlegung, eine Antwort auf den Hannoverschen Lyceumsdirektor Johann Daniel Schumann, steht im direkten Umfeld des Fragmentenstreits79 und ist daneben m. E. eines der wichtigsten Dokumente der hochaufklärerischen Problematisierung der Wahrheitsfrage. Anknüpfend an seine Kritik von Reimarus’ Auffassung der Vernunftreligion fragt Lessing in diesem kurzen Aufsatz, was die Sicherheit einer positiven Religion ausmache, deren Fundament nicht aus der Vernunft allein zu erweisen ist, sondern auf historischen, einmaligen Tatsachenwahrheiten aufbaut. Denn die Heilswahrheiten, an die zu glauben die Religion verbindet, gründen sich auf Offenbarungen, die in vorangegangenen Zeiten stattfanden, kurz: auf Geschichtswahrheiten.80 Diese kann der Gläubige nicht selbst wahrnehmen, sondern muss sich auf glaubwürdiges Zeugnis verlassen. Das Problem dabei ist zum einen, dass diese überlieferten Wahrheiten ein Medium darstellen, das die starke Wirkung der Augenzeugenschaft entscheidend einschränkt. Wunder wirken, so Lessing, nur durch unmittelbare Zeugenschaft; in der historischen Überlieferung verlieren sie an Kraft (vgl. Lessing, Werke 8, 440). Zum anderen jedoch soll auf diese Überlieferung eine Religion, und damit auch: ein System an geltenden Glaubenssätzen, begründet werden – dies überstrapaziert aber, so Lessing, die Legitimationsbasis der überlieferten, kontingenten oder zumindest nicht aus der Vernunft ableitbaren Wahrheiten. »Wenn keine historische Wahrheit demonstrieret werden kann, so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstrieret werden. Das ist: zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.« (Lessing, Werke 8, 441). Positive Religion ist damit für Lessing, wie Cassirer dies überzeugend herausgearbeitet hat (vgl. ders. 1984, 99 f.), ein Grenzphänomen, oder zumindest eines, das an zwei Reichen zugleich teilhat und diese zu verbinden sucht. Wie ist ein solches Phänomen zu begrünverteidigt, noch nicht sehr weitreichend, da unklar bleibt, welche historischen Tatsachen er meinte und welche Beurteilungskriterien bei ihrer Aufnahme zu Gebote stehen. 79 Reimarus’ an seine Abhandlung Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754) anknüpfende, von Lessing unter dem Titel Fragmente eines Ungenannten 1774–78 veröffentlichten Überlegungen Apologie oder Schutzschrift der vernünftigen Verehrer Gottes löste den berühmten »Fragmentenstreit« aus. Schon 1754 hatte der Professor für Orientalistik die klare und deutliche Begründung einer Vernunftreligion versucht, sowie Intoleranz als ein Zeichen von Glaubensschwäche gebrandmarkt (vgl. Forst 2003, 399 f.). In den »Fragmenten« weist er schließlich nach, dass sich eine Vernunftreligion nicht etablieren lässt. Sei es, dass die menschliche Vernunft den erforderlichen Erkenntnisstand noch nicht erlangt hat, oder doch, weil dies in Hinblick auf die Religion per se unmöglich ist. Religion wird damit, ähnlich bei Rousseau und Voltaire, aus dem Gebiet der Vernunft generell ausgeschlossen. Reimarus’ Überlegungen waren ein Affront sowohl gegen die Anhänger positiver wie der natürlichen Religion und wurden entsprechend heftig bekämpft; v. a. die Invektiven gegen Ungereimtheiten im Christentum selbst brachten bald auch Lessing in Bedrängnis. Zu Lessings Position vgl. bspw. Willi Oelmüller: Die unbefriedigende Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel. Frankfurt a. M. 1979. 80 Vgl. zur Problematik der »fides historia« Strohschneider-Kohrs 1994, 269 f.

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den, und, vor allem, was kann ein solches Phänomen beweisen? Die Tatsache, dass die vergangenen Ereignisse nur noch über Zeugen und Überlieferung aufgenommen werden können und dementsprechend »schwach wirken«, erlaubt nicht die Folgerung, dass es keinen sicheren Glauben an positive Religionen geben könne, sondern vielmehr, dass man zu ihnen nicht durch einen rationalen Beweis »verbunden« werden kann. »[…] was heißt einen historischen Satz für wahr halten? eine historische Wahrheit glauben? Heißt es im geringsten etwas anders: als diesen Satz, diese Wahrheit gelten lassen? nichts darwider einzuwenden haben? sich gefallen lassen, daß ein andrer einen andern historischen Satz darauf bauet, eine andre historische Wahrheit daraus folgert? sich selbst vorbehalten, andere historische Dinge darnach zu schätzen? Heißt es im geringsten etwas anders? etwas mehr? Man prüfe sich genau!« (Lessing, Werke 8, 442)81 Das Ergebnis einer solchen Prüfung, die Lessing hier rhetorisch vorschlägt, liegt auf der Hand: Letztlich muss man historisch gewonnenes Wissen als fallibel auffassen und würde sich dementsprechend nicht bedingungslos auf dieses festlegen und dagegen sprechende Evidenzen strikt leugnen können. Damit ist auch keine Verbindung zwischen dem Glauben an (historisch bezeugte) Wunder bzw. Offenbarung und Vernunftwahrheiten möglich. Vernunft und empirische, auf Zeugen angewiesene Beobachtung stehen unverbunden nebeneinander, denn alle, die darauf schwören, dass die erstgenannten wahr seien, müssen sich wiederum auf historische Quellen berufen ad infinitum (vgl. Cassirer 1984, 101). Der religiös bestimmte Assensus zum Glauben erscheint als Mysterium: »Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe.« (Lessing, Werke 8, 443) Doch Lessing verbleibt nicht bei diesem negativen Ergebnis, sondern bietet einen zweiten, praktisch bestimmten Ansatz. Was verbindet den Gläubigen dazu, die anderweitigen Lehren Christi zu glauben? »Nichts, als diese Lehren selbst […]« (ebd., 444). Es ist lediglich ein historisches Faktum, dass diese zur Zeit ihrer Verkündigung mit Wundern beglaubigt, bzw. mit Wundern auf sie aufmerksam gemacht werden musste. »Die Menge aber auf etwas aufmerksam machen, heißt, den gesunden Menschenverstand auf die Spur helfen.« (Ebd.) Dies ist mithilfe der Wunder geschehen; und es hat zumindest die positive Folge, dass aus dem so gefestigten Glauben heraus gute Früchte gezogen wurden, von denen auch diejenigen zehren, die nicht mehr 81

Seeba 1982, 295–301 erinnert hier an ein um 1778 entstandenes Fragment »Über das Wörtlein Tatsache«, sowie die inhaltlich korrespondierenden Stücke 11, 19, 23 der Hamburgischen Dramaturgie (1769), in denen Lessing sich kritisch mit der Frage auseinandersetzt, was eine historische Tatsache eigentlich sei. Letztlich schrieben die Historiographen auf, »was man ehedem geglaubt, daß es geschehen« (11. Stück, Werke 6, 237). Erst durch ihre Einordnung und Bewertung gewinnen historische »Tatsachen« an Wert – ebenso wie die positive Religion, deren Wert Lessing auf ihrer jetzigen Wirkung – und damit der Geschichte, die sie dazu passend »erzählt« – begründet, nicht aus den überlieferten »Wundern«.

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Augenzeugen der Wunder haben werden können. Wunder hängen so nur noch sekundär mit der Beglaubigung der Lehre zusammen – sie waren ein psychologisches, den Zeitumständen geschuldetes Faktum, das zur Etablierung der Religion verhalf, aber sie sind kein notwendiger Bestandteil ihrer Begründung. Diese sucht Lessing woanders: »Was kümmert es mich, ob die Sage falsch oder wahr ist: die Früchte sind trefflich.« (Lessing, Werke 8, 444) Damit ist jedoch die Gültigkeit der historischen Überlieferung als Wahrheitskriterium endgültig verabschiedet: der aufgeklärte Mensch nimmt sie an, weil sie gegenwärtig positive Folgen zeitigt, nicht deshalb, weil sie (historisch) durch »Wunder« erwiesen ist. So hat Lessing letztlich dem Wert der Geschichtswahrheiten in der Religion eine Absage erteilt und vielmehr ihrem praktischen Wert die eigentliche Legitimationskraft positiven Glaubens zugesprochen.82 Vor diesem Hintergrund erschiene es folgerichtig, seine späteren geschichtsphilosophischen Schriften, vor allem die Erziehung des Menschengeschlechts und Nathan der Weise als zwei Seiten einer Medaille zu verstehen: die Erziehung müsste zeigen, dass positive Religionen schrittweise den Weg von Offenbarungs- zu Vernunftwahrheiten leisten, ohne dabei den Wert einer positiven Religion zu verneinen (vgl. Forst 2003, 402). – Der Nathan dagegen müsste erweisen, dass die Religionen sich über ihre praktische Dimension messen lassen müssen. Passt letzterer in diese Interpretation, so verschließt sich jedoch das 1780 vollständig erschienene83, religionsphilosophisch-›historische‹ Werk dieser Deutung, da es in letzter Konsequenz den Eigenwert der Religionen aus der Vernunft heraus verneint. An diesem Punkt liegt auch der Grundstein für den Dissens zwischen Mendelssohn und Lessing. Denn das für den Wert der Geschichtswahrheiten negative Ergebnis des »Beweises des Geistes und der Kraft« bedeutet für Lessing – im Anschluss an Leibniz (vgl. C. F. Berghahn 2001, 138 f.) – keine völlige Entmachtung der Geschichte. Er versucht vielmehr, sie als eine menschennotwendige Bedingung des Wissens von Vernunftwahrheiten anzusetzen, indem er ihr eine propädeutische Funktion zuweist. Eine vernünftige Verbindung zwischen Vernunft und Geschichte ist letztlich, wie der »Beweis« zeigen sollte, unmöglich. Geschichtstatsachen besitzen eine grundsätzlich andere Evidenz und Legitimationskraft als Vernunfttatsachen oder, im Falle der Religion, praktische Konsequenzen. Damit ist aber eine aus der Bedingtheit des 82

Ähnlich auch die Interpretation eines anonymen Rezensenten in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen (13. und 17. März 1778; zit. nach Werke 8, 994; Hervorhebung A.P.): »da es Beweise gebe, die noch stärker überzeugen, und unsrer Zeit angemeßner waren, [nämlich] die Beweise aus dem Wesen der Religion, so habe man nicht nöthig, dem Gebrauche jener [der histor. Beweise] einen so grossen Werth beyzulegen.« 83 Die §§ 1–53 lagen bereits in einem Anhang Anfang 1777 im Zuge des »Fragmentenstreits« vor. Die genaue Entstehungszeit der Folgeparagraphen ist unbekannt, doch geht die Forschung von einer Entstehung vor Abfassung des Nathan aus; siehe Strohschneider-Kohrs 1994, 281 m.w.Vw.

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Menschen heraus zu verstehende Notwendigkeit, die historischen Tatsachen zur Herausbildung der eigenen umfassenderen Vernunft zu nutzen, nicht widerlegt. Lessing wird sich in dieser Hinsicht an Adam Fergusons Essay on the History of Civil Society (1767) anschließen, der die Geschichte als Vervollkommnungshilfe für den Menschen reformuliert. Fergusons Weg, durch eine Kulturverlaufstheorie und durch den Rückgriff auf die Empirie die Grundmuster menschlicher Gesellschaftsbildung nachzuvollziehen um die menschliche Gesellschaft zu verbessern, erschien ihm hilfreicher als die Verfallstheorie Rousseaus oder das stratifikatorische Verfahren Voltaires (vgl. C. F. Berghahn 2001, 141 ff.). Die auch von Ferguson vertretene Auffassung der Geschichte und der Menschen in ihr als einem organischen Ganzen (so Batscha in Ferguson 1988, 23) teilten Mendelssohn und Lessing um 1756, wie sich in der gemeinsamen Preisschrift Pope, ein Metaphysiker! zeigt. Dort reflektierten sie u. a. die dynamische Auffassung der Vollkommenheit84 durch Leibniz, derzufolge die historischen Ereignisse nicht allein durch das Prinzip der Nichtwidersprüchlichkeit, sondern gerade über die Geltung des SvG eine Einheit ergeben. Im Rückgriff auf die bisherigen Kapitel (v. a. Kap. I.1, 2, II.1, 2) lässt sich das Folgende festhalten: Alles ist, dieser Auffassung zufolge, lückenlos ineinander gegründet und entwickelt sich innerhalb dieses Zusammenhangs; dem Einzelnen kommt dabei sein Wert als unhintergehbarer Grund dieses Gefüges zu. Um neben der offensichtlichen Begrenztheit des Individuums das Diktum der besten Welt aufrecht zu erhalten, hat Leibniz die philosophische Wahrheit »perspektiviert« (C. F. Berghahn 2001, 135), indem er das Ganze als in der Monade perspektivisch gebrochen enthalten denkt. Damit ist jede Stufe der Monade zugleich Erscheinung der Universalharmonie aus einem spezifischen Blickwinkel. Um es anders zu formulieren: der metaphysischen Ebene einer Weltharmonie, die alle Monaden umgreift, steht eine epistemologische, auf der Perzeptionsqualität der einzelnen Monade basierende Ebene gegenüber. Die Monaden begreifen sich als zu einer Vollkommenheit strebend; subjektiv verbessern sie damit ihr ›Wissen‹; objektiv erhalten sie so die Ordnung des vollkommenen Universums. Das Streben erscheint also auf der subjektiven Ebene als eine Bewegung, auf objektiver Ebene als eine Erhaltung. Die phänomenale, epistemologische Verbesserung geschieht graduell: der Weg von der Nacht zum Mittag geht nur über die »Morgenröte«, wie Baumgarten in Anschluss an Leibniz festhält (Aesthetica, § 7). Lessing betont nun daneben und unter Rückgriff auf Ferguson den Aspekt der menschennotwendigen Tatsachen- bzw. Geschichtswahrheiten. Damit der Mensch sich seiner selbst und seiner Stellung im Universum klarer bewusst werden kann, benötigt er nicht nur Vernunft, sondern auch Überlieferung – und damit, man denke an 84

Diese Version stellten sie als derjenigen bei Pope konzidierten, bloß statischen Vollkommenheit als einer Summe des Besten in der bestehenden Welt, gegenüber. Vgl. C. F. Berghahn 2001, 134 f.

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den »Beweis«, eine Religion. Jede dieser Religionen als Erscheinungsformen der Vernunftreligion hat dabei ihr eigenes Existenzrecht85, indem sie auf das Bedürfnis der Menschen ›passt‹. Zugleich ist sie damit immer auch Mittel, nicht Selbstzweck und dient ihrer eigenen Überwindung.86 Diese vernunftgemäße, teleologische Entwicklung legt Lessing unter Berücksichtigung der positiven Religionen in der Erziehung des Menschengeschlechts dar.87 In ihr wird »[d]er Gedanke der Entwicklung« zu einem »Schlüsselbegriff«: »Auf die moralische Natur des Menschen angewandt, bedeutet dies, daß er unendliche Stufen der Entwicklung durchschreiten muß, bis er die in seiner Natur angelegte Vollkommenheit voll erreicht hat.«88 Über Stationen des positiven Glaubens, also über Offenbarungen und kontingente Geschichtswahrheiten nähern sich die Menschen suksessive den ewigen Vernunftwahrheiten an. Grundlage ist die anthropologische Annahme der menschlichen Begrenztheit, die eine Vorbereitung der Vernunft zur Aufnahme der Wahrheit notwendig macht (vgl. Erziehung, §§ 5 f.). Der Mensch könnte, so die Überlegung, die wahre Vernunftreligion gar nicht aufnehmen, würde sie ihm unvermittelt offenbart; vielmehr muss er zu ihrer Erkenntnis vorbereitet werden. Dies ist die Aufgabe der positiven Religionen, die durch diese Funktion zugleich auf ihre Überwindung hinwirken. Im »Vorbericht des Herausgebers« formuliert Lessing dies so: »Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als

85

Vgl. C. F. Berghahn 2001, 144. Dieses Existenzrecht ist allein auf den Menschen und seine eingeschränkte Erkenntnismöglichkeit bezogen. 86 Die Rolle der 1774–78 entstandenen Fragmente eines Ungenannten Reimarus’ und Lessings Auseinandersetzung mit ihnen im Zuge des »Fragmentenstreits« können hier nicht in extenso besprochen werden. Ich verweise auf C. F. Berghahn 2001, 148–56, m.w.Vw. und die hier in FN 79 genannten weiteren Interpretationen. Wichtig ist hier, dass Lessing im Gegensatz zu Reimarus die Rolle der Vernunft in der positiven Religion ab- und ihren Wert als Erkenntnisvoraussetzung für eine Herausbildung der Vernunft aufwertet. »Ihnen [den Fragmenten] widmete Lessing ein Nachwort, ›Gegensätze des Herausgebers‹ überschrieben, in dem er sich der Bibelkritik des Reimarus weitgehend anschloß, also bestritt, daß Bibel und Religion, Buchstabe und Geist identisch seien.« (K. Berghahn 2001, 63) Nach Dörr 1994, 32 f. hatte Lessing auch hinsichtlich des Alten Testaments gegenüber Reimarus festgehalten, dass es sehr wohl zweckdienlich sei, eine »alleinseligmachende Religion« zu stiften, wenn man dies nicht absolut, sondern relativ zu den Menschen verstehe, die da selig gemacht werden sollen: »Eine ›alleinseligmachende Religion‹ im Sinne Lessings ist eine Religion, ›bei deren Befolgung sich der Mensch seiner Glückseligkeit so weit versichert halten kann, als er hinausdenkt.‹ (Lessing, Werke 7, 475)« 87 Zit. mit Angabe der Paragraphen nach Werke 10. 88 Totok 1986, 184. Worauf Lessings Theodizee-Versuch nach Totok (v. a. 186 f.) hinausläuft, ist eine noch weiter reichende Dynamisierung des Entwicklungs- und Perfektibilitätsgedankens, indem die Grenze des einzelnen Menschenlebens hin zu einer Konzeption der teleologisch eingerichteten Gattungsgeschichte (vgl. Wilson 1995, 460 ff.: womit Lessing wiederum das Konzept der Weltvervollkommnung von Leibniz’ auf phänomenaler Ebene fruchtbar macht) und zur Seelenwanderung aufgehoben wird. Diesen Weg ist Mendelssohn explizit nicht gegangen, vgl. Kap. V.2.

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den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln könne, und noch ferner entwickeln solle?« (Lessing, Werke 10, 74) Mit dieser relativen und instrumentellen Bewertung der Religionen entfernt er sich deutlich von Mendelssohns Gedanken einer gleichwertigen Teilhabe jeder Religion an der Vernunft. Vielmehr transformiert er sie zu einem Bestandteil einer umfassenden Dialektik, was besonders in der im zweiten Teil der Erziehung vorgenommenen Reformulierung der Rolle der Juden in der menschlichen Heilsgeschichte deutlich wird (vgl. Erlin 2002, 84; C. F. Berghahn 2001, 156). Wie Mendelssohn sieht Lessing in Moses und seinen Gesetzen einen »Erzieher«, doch er universalisiert diese Rolle (C. F. Berghahn 2001, 157): Moses ist in dem Sinne der Erzieher des ganzen Menschengeschlechts, dass er den Glauben des Volks Israel verfeinert und an höhere Gesetze bindet, als sie bisher (bei der Ab- und Vielgötterei) galten. Doch, so § 23, gelten deshalb die mosaischen Gesetze tatsächlich nur für ein bestimmtes Volk zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte: Moses »war ja nur an das Israelitische Volk, an das damalige Israelitische Volk gesandt«. Damit ist strenggenommen das zeitgenössische Judentum ein Anachronismus, ja, ein Rückschritt der Vernunft hinter den eigentlichen Stand ihrer Aufgeklärtheit. Implizit leugnet Lessing den Wert der solcherart als überkommen gewerteten Religion für Zeitgenossen.89 Er leugnet darüber hinaus den Wert des Individuums in der einzelnen Religion in dem Sinne, dass es in seiner Theorie als ein bloßer Träger der positiven Religion erscheint, und damit zum Bestandteil einer Transformationsbewegung mutiert: Es ist lediglich Mittel zum Durchbruch der Vernunftreligion. Zugleich muss jede bestimmte, positive Religion durch den Fortgang der Geschichte zu einem gewissen Zeitpunkt, wenn eine neue Stufe erreicht wird, als etwas Vergangenes gelten. Ein Mensch, der sich (noch) nicht zu der weiteren Stufe90 der Klarheit aufgeschwungen hat, wird zu einem unzeitgemäßen Relikt. Positive Religionen wie auch ihre Gemeinden sind notwendig zeitgebunden, zwar historisch und psychologisch notwendige, aber zu überwindende Momente der Menschheitsentwicklung. Wer folglich der einen Religion über die zeitliche Entwicklung hinaus verhaftet bleibt, hatte den Lauf der Zeit

89

Lessing gerät damit in dasselbe Fahrwasser wie Schiller: »Auch [dessen] historische Rechtfertigung der mosaischen Religion kränkelt an seinem universalhistorischen Entwurf, der das Besondere und Eigentümliche des Judentums seiner totalisierenden Gegenwartsperspektive unterordnet und daher für das nahe Fremde kein Gespür hat.« (K. Berghahn 2001, 67) Wie auch Dörr 1982, 37 zu Recht festhält, erhält auch hier das Judentum nur noch »transitorische« Bedeutung. 90 In ähnlicher Weise hatte sich auch Lavater Mendelssohn gegenüber geäußert; siehe sein zweites Schreiben vom 14. Februar 1770 im Zuge des »Lavater-Streits«, JubA VII, 36: »Überdieß führen uns unsere gemeinschaftliche Philosophie und Offenbarung auf Stufen der Seeligkeit in dem zukünftigen Leben«, wobei der Christ eine Stufe höher steht und damit »schneller« zur Glückseligkeit gelangt als ein Jude.

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nicht verstanden. Zwar soll die Erziehung des Menschengeschlechts ein »Zu-sich-selbstKommen des sittlichen Menschen« (K. Berghahn 2001, 64) zeigen, allerdings gerät der im 18. Jahrhundert lebende Nicht-Christ dadurch in ein seltsames Zwielicht als Repräsentant einer überkommender Erkenntnisstufe und zugleich kindlicher (oder verstockter) Unbedarftheit. Für die Akzeptanz einer auch in der synchronen Betrachtung breit gefächerten Glaubenswelt ist in einem solchen Modell kein Platz. Die Erziehung zeigt in diesem Sinne sogar eine Tendenz zur Entpolitisierung, da sie keine Handhabe eines Umgangs mit den bestehenden Verhältnissen bietet (vgl. C. F. Berghahn 2001, 122 und Forst 2003, 409). Mendelssohn hingegen unternimmt es, Subjektivität und Geschichte zusammenzudenken und vor diesem Hintergrund einen politischen Entwurf der Pluralität vorzulegen. Lessings eigene Ansicht ist dem nicht gänzlich fremd; doch benötigt eine diesbezügliche Perspektive mehr argumentatives Rüstzeug. So zeigt sich gerade im spekulativen und eher vorsichtig-tastenden als selbstgewissen Schluss der Erziehung, der von der alles überwindenden Vernunftreligion eher schwärmt als sie zu begründen versucht, seine fundamentale Unsicherheit am eigenen System. Im § 93 kommt er wieder von den Völkern und Religionen auf die Rolle des Einzelnen zu sprechen: »Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben.« Wie aber hat man sich diesen individuellen, quer zum bisherigen stehenden Gang des Einzelnen durch die gesamte Geschichte vorzustellen? In einem einzigen Leben, so Lessing, ist dies nicht möglich. Er rettet sich deshalb in die Annahme einer Seelenwanderung (§ 94). Zwar drückt er dies in Form einer Annahme aus (»warum könnte nicht…«), doch erleichtert dies nicht das Begründungsgewicht, das er diesem Theorem aufbürdet.91 Die Verwirklichung der Vernunft benötigt einen Träger; zugleich braucht das von Leibniz übernommene Modell der Monade eine Begründung ihres Eigenwerts in der Geschichte – beides versucht Lessing hier zusammenzudenken. C. F. Berghahn bewertet diesen Versuch positiv: »Für Lessing, der am Gedanken einer univer91 Es ist erstaunlich, dass die Forschungsliteratur sich eher unkritisch zu diesem Rettungsversuch in der Palingenesie äußert; vgl. Dörr 1982, 39, 44, Cassirer 1984, 106, C. F. Berghahn 2001, 160 f. Letztlich wird das Individuum in einem zyklisch sich heraufentwickelnden Prozess zu einer rein mechanistischen Funktion als Rad eines großen Uhrwerks reduziert. Auch Dembecks sehr undurchsichtige Überlegungen zur Individualität als »Textur der Vermögen« affirmieren letztlich den instrumentellen Charakter des einzelnen Lebens, bei dem die Anbindung an den PalingenesieGedanken wiederum nicht befriedigend erläutert wird (Till Dembrock: »Eine ›vieldeutige Textur‹ und die scharfe Lektüre der Aufklärung: Lessings Erziehung des Menschengeschlechts«, in: Lessing Yearbook 35 (2003), 79–94). Den explanatorischen und philosophischen Wert der Erziehung dadurch zu verkehren, dass der Text durch den Herausgeberbericht zu einem »bloßen Text«, und damit keiner inhaltlichen Theorie, sondern einem Anstoß zur »scharfen Selbstlektüre« zu werten, halte ich für mindestens spekulativ.

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salen Vernunft festhält, die an der schrittweisen Verwirklichung eines den Menschen nicht einsehbaren Telos arbeitet, bedeutet diese [Leibniz’] Perspektive die Betonung der moralischen Autonomie des Einzelnen im Prozess der Wahrheitssuche wie auch die Konzentration auf die ›inneren Wahrheiten‹ der historischen Fakten – etwa der Religionen – die sich durch die fortschreitende methodische und faktographische Sicherheit im Gang der Geschichte mit stets größerer Sicherheit feststellen lassen und die schließlich in einer Synthese von Wissenschaft und Geschichte, Nominalismus und Universalismus, menschlich-kontingenter Vernunft und universal-logischem Verstand münden.« (C. F. Berghahn 2001, 140) Hier wird jedoch vorschnell zusammengedacht, was nicht zusammengehört. Das zu-sich-Kommen der Vernunft geschieht entweder über die Annahme einer Seelenwanderung, oder sie wird apersonal gedacht. Dann ist der Einzelne zwar ihr Träger, aber sein individueller Standpunkt wird als ein zu überwindendes Moment verstanden. Die große »Synthese« kann also nur durch die Verneinung wichtiger Theorieelemente gewonnen werden – eine Bestimmung des Menschen ist damit nicht befriedigend begründet. Wie auch C. F. Berghahn anschließend festhält, war sich Lessing dieses Problems wohl bewusst. »Dieser Blick auf einen Endzustand aller Geschichte eignet den Entwürfen der Geschichts- und Religionsphilosophie Lessings in ganz unterschiedlichem Maße: Die auf einen vollkommenen Endzustand ausgerichteten Spätwerke – also die Freimaurergespräche, Nathan der Weise und die Erziehung des Menschengeschlechts – tragen so zwar alle einen eschatologischen Charakter, in ein eigentliches System und damit in eine Ideologie des Fortschritts jedoch lassen sie sich nicht uminterpretieren: dazu sind die Offenheiten, die inhärenten Zweifel zu groß.«92 Der »Zweifel« in der Erziehung zeigt sich allerdings nicht im Werk selbst, sondern ergibt sich durch seine Gegenüberstellung mit anderen einschlägigen Schriften. Prominent geschieht dies im Nathan, der auf einem genial versteckten Weg das Scheitern einer gradlinig 92

C. F. Berghahn 2001, 140. Es sei daneben auf die geschickte Ummantelung und Relativierung (wie wiederum Stärkung) durch das Augustinus-Motto hingewiesen, das andeutet, »daß all dies aus denselben Gründen wahr sei, aus denen es in anderer Hinsicht falsch sein könnte« (K. Berghahn 2001, 64). Dies hat vielleicht auch Mendelssohn genutzt, um in den Morgenstunden Lessing wieder auf seine Seite zu ziehen. Allerdings beruft er sich hier v. a. auf den Nathan, die Erziehung wird nicht explizit erwähnt (siehe JubA III/2, 125–37). Lediglich das Umfeld seiner Entstehung, der »Fragmentenstreit«, findet kurze Beachtung (ebd., 125 f.) und wird auf eine »Verteidigung der Vernunftreligion« reduziert, wohingegen die umfassende, auch religiöse Humanität des Nathan als höchste Stufe von »Aufklärung und Bildung« gefeiert wird. Die These Belkes (Dies. 1981, 140 f.), dass Lessing die Stufentheorie der Erziehung in aufklärerischer Absicht lediglich dazu nutzte, um »alles Beharren [aller Konfessionen] auf einmal eingenommenen Positionen anzugreifen«, ist nicht ganz überzeugend. Zwar ist der These zuzustimmen, dass Lessing gerade durch die distanzierende Herausgeberfiktion dazu anregte, auf die Irrtümer aller Religionen Acht zu haben. Zugleich aber scheint er damit die Grundfesten der Offenbarungswahrheiten angreifen zu wollen. Das ist der Schritt, der Mendelssohn zu weit ging, denn er geht nicht nur gegen die Selbstsicherheit, sondern gegen alles, was die positiven Religionen von einer umfassenden Vernunftreligion unterscheidet.

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verlaufenden Menschheitsentwicklung, wie sie die Erziehung annahm, im wahrsten Sinne »auf die Bühne bringt«, ironisiert und damit indirekt für die Entwicklung einer toleranten Politik wirbt.93 In der »Ringparabel« dieses Stücks scheint Lessing sogar eine »reductio ad absurdum der Erziehungshypothese zu unternehmen.«94 In ihr werden nicht nur die drei Religionen in einen fruchtbaren Wettstreit um die Tugend geladen, sondern sogar die Durchbrechung der »Tyrannei des [einen] Ringes« als ein Fortschritt an Humanität gefeiert, der sich nicht allein auf den Wert der positiven Religionen, sondern auf deren jeweilige wesenhafte Bestrebung zur Verbesserung des menschlichen Miteinanders bezieht. Hier zeigt sich die Frucht des »Beweises des Geistes und der Kraft«; denn hier erst werden die positiven Folgen der Religion als Selbstwert deutlich gemacht: Religion gewinnt ihren Wert nicht als »Vorstufe zu« höherer Vernunft, sondern als lebendige Äußerung des Guten. Nicht mehr das diachrone Modell der Vernunftverbesserung qua Religionsentwicklung, was eine Entwertung des ewigen Werts jeder Religion bedeutet hatte und sie zu einem Mittel der Vernunft degradierte, spielt im Nathan die Schlüsselrolle, sondern die Gleichzeitigkeit der positiven Religionen soll zu wahrer lebenswerter Humanität verhelfen. Jede von ihnen beweist sich als ein »Träger des Ringes« als einem Garanten ihrer Wahrheit nur dann als würdig, wenn sie das menschliche Miteinander tatsächlich verbessert. Ein solches Kriterium ist nicht zeitgebunden und nimmt den Wert des Individuums als Ziel der Glückseligkeitsvorstellung wieder ernst. Letztlich zeigt sich im Nathan eine aller Entfremdung zum Trotz doch fortdauernde Übereinstimmung mit Mendelssohns Position.95 93

Ich schließe mich hier der Deutung von Strohschneider-Kohrs 1994, 282 an, derzufolge der Nathan »nicht eine nur zufällig spätere, sondern eine neubedachte, ausgereiftere Problemantwort« der Erziehungsschrift darstellt. Vgl. mit der Position des Nathan das frühe Schauspiel Die Juden: hier lässt Lessing den edlen Retter (einen Juden, der sich aber erst im Finale zu erkennen gibt) sagen: »Ich bin kein Freund allgemeiner Urteile über ganze Völker.« (6. Auftritt, in: Lessing, Werke 1, 461). Genau dies ist es aber, was Lesssing selbst in der Erziehung unternimmt. 1749, zur Zeit der Entstehung dieses Stücks, kannten sich Mendelssohn und Lessing noch nicht; 1754 erschien das Stück, wenig später lernten sich die beiden, vermittelt über Aaron Solomon Gumpertz, beim Schachspiel kennen (siehe Altmann 1973, 36). Die ebenfalls wichtigen Gespräche Lessings mit den Rabbinern von Livorno (während Lessings Italien-Reise 1775–1776) diskutiert Jasper 2004, 59. 94 C. F. Berghahn 2001, 165. Deshalb die Aussagen in der Erziehung und im Nathan damit zu versöhnen, dass in Bezug auf ersteren von der theoretischen, in Bezug auf letzteren von der praktischen Seite der Religion gesprochen wird (vgl. Dörr 1982, 30) halte ich für nicht sehr stimmig: denn das Toleranzgebot im Nathan verliert seine positive Geltung, wenn die Menschen, die dort toleriert werden sollen, theoretisch eine überkommende Stufe darstellen. 95 Vgl. Strohschneider-Kohrs 1994, 288. Ich schließe mich dabei auch an die Beobachtung C. F. Berghahns (vgl. ders. 2001, 246) an; wobei dieser allerdings nicht den Aspekt der praktischen Folgen einer Religion, die sie legitimieren, betont, sondern den Traditionsaspekt. Diesen sehe ich jedoch weniger in Lessings, als in Mendelssohns Werk tatsächlich verteidigt. Auf die interessante Rolle Nathans werde ich in Kap. IV.4 zurückkommen.

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Den Befund zusammenfassend, kann man von einem Scheitern der Geschichtsbetrachtung in der Erziehung und von einer durchaus befriedigenderen Hinwendung zum Toleranzgedanken im Nathan sprechen. Damit wäre die Betrachtung der Geschichte auch bei Lessing als ein sekundäres Phänomen zu werten. Trotzdem ist dessen Sensibilität für den Geltungsumfang und die Konstitutionsbedingungen von Geschichtswahrheiten nicht nur für eine sich gerade erst entwickelnde Geschichtsphilosophie generell, sondern auch für Mendelssohns Überlegungen im Besonderen von Bedeutung.96

2. Mendelssohns Absage an das geschichtsphilosophische Erklärungsmodell Gegen Lessings Erziehung äußert sich Mendelssohn im Jerusalem hinreichend deutlich und formuliert damit auch seine generelle Absage an eine sinnvolle Geschichtsphilosophie: »Ich für meinen Theil habe keinen Begriff von der Erziehung des Menschengeschlechts, die sich mein verewigter Freund Lessing von, ich weis nicht, welchem Geschichtsforscher der Menschheit, hat einbilden lassen. Man stellt sich das collektive Ding, das menschliche Geschlecht, wie eine einzige Person vor, und glaubt, die Vorsehung habe sie hieher gleichsam in die Schule geschickt, um aus dem Kinde zum Manne erzogen zu werden.« (JubA VIII, 162) Dem setzt Mendelssohn entgegen: als Kollektiv betrachtet sei das menschliche Geschlecht zu jeder Zeit »Kind und Mann und Greis zugleich« (JubA VIII, 162), weshalb eine Analyse von Entwicklungen konsequent dem Individuum zukommen müsse. »Der Fortgang ist für den einzelnen Menschen, dem die Vorsehung beschieden, einen Theil seiner Ewigkeit hier auf Erden zu zubringen. Jeder gehet das Leben hindurch seinen eigenen Weg« (JubA VIII, 163).97 Sein metaphysisches Argument: Es wäre eine Ungerechtigkeit Gottes, die Glückseligkeit des Menschen von einer Offenbarung abhängig zu machen. Wenn alle Menschen zur Glückseligkeit bestimmt seien, so könne Gott nicht durch die exklusive Berufung eines Volks alle anderen Menschen (nicht zuletzt auch die vor dieser Of96

Siehe dazu auch den brieflichen Austausch über Reimarus’ Schrift; Mendelssohn weist darauf hin, dass Überliefertes nicht nach heutigem Kenntnisstand und kulturellen Position (um den teleologisch gefärbten Begriff der »Stufe« zu vermeiden) zu bewerten sei, sondern »nach Sitten, Gewohnheiten und Kenntnissen seiner Zeit« (Brief an Lessing vom 29. November 1770, JubA XII/1, 237); so auch Lessing, am 9. Januar 1771 (Werke 11/2, 144 f.); Vgl. Strohschneider-Kohrs 1994, 272. Beide kommen darüber hinaus darin überein, dass man zu einer letztendlichen Beurteilung eine Kenntnis des Menschen, vom »Maas der menschlichen Kräfte« (ebd. 238), besitzen müsse. 97 Schärfer formuliert er es noch in seinem Brief vom 25. Juni 1782 an August Hennings (vgl. JubA XIII, 64–67), hier 65): »Nicht die Vervollkommnung des Menschengeschlechts ist die Absicht der Natur. Nein! die Vervollkommnung des Menschen, des Individui.«

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fenbarung Verstorbenen) von der Möglichkeit zur Erfüllung ihrer Bestimmung per se ausschließen. Seiner Gerechtigkeit (und dem SvG) sei es vielmehr gemäß, allen Menschen die Glückseligkeit über die universal geltende Vernunftreligion zu ermöglichen (vgl. JubA VII, 73). Zugleich argumentiert Mendelssohn auf anthropologischer Basis: Geschichte kann keine rein aufstrebende Entwicklung sein, da jeder Mensch in einem Zustand auf die Welt kommt, die eine Entwicklung von einem weitaus niedrigerem Ausgangspunkt verlangt, als es dem Stand der ihn umgebenden Menschen entspricht. So kann er zwar an die Errungenschaften seiner Kultur anschließen, aber er muss dies immer auf dem Weg individueller Aneignung vollbringen. Darüber hinaus bringt er nichts mit sich auf die Welt als seine jeweilige Konstitution. »Jeder Mensch soll seine Anlagen und Fähigkeiten entwickeln« (JubA XIII, 65), aber er habe dazu nur seine Anlagen, nicht diejenigen, die die Generationen vor ihm erwarben.98 Der Spätgeborene muss zwar nicht die Newtonischen Gesetze neu formulieren, sondern kann auf einen tradierten Wissensbestand zurückgreifen. Mendelssohn geht es jedoch weniger um einen Wissensstand, sondern um die Tatsache, dass der jeweilige Verstand erst zu ihrer Aufnahme ausgebildet werden muss und dazu notwendig aus derselben Unwissenheit kommt wie die Generationen vor ihm. Hier zeigt sich die Trennung Leibniz’ zwischen der metaphysischen Ebene der Vervollkommnung und der epistemologischen Ebene der Verworrenheit, die den Menschen, der die ihn umgebenen Phänomene erfassen will, betrifft. Mendelssohn geht daneben von der Annahme aus, dass der Mensch die Widerständigkeit des Unvollkommenen braucht, um seine Kräfte zu üben und sich zu vervollkommnen.99 Wenn den einzelnen Menschen die Möglichkeit fehle, ihre Kräfte zu üben und zu entwickeln, so sei ein Aufwärtsstreben sinnlos. Er vergleicht die Entwicklung sogar mit einer Feder, die der Spannung und damit des Widerstands bedarf, um ihre Funktion zu erfüllen. Dieses Argument führt er in einem Votum der Mittwochsgesellschaft, »Ueber die beste Staatsverfassung« (um 1784/85) weiter aus. Er spricht hier sogar von einem »leidige[n] Genuß ohne Erwerb«, der »Gemächlichkeit [und] Sklavensinn« erweckt (JubA VI/1, 145). Auch sein ›historisches‹ Argument gegen die Historie ist auf seine Anthropologie zurückführbar: Immer wieder habe es im Verlauf der Menschheitsgeschichte eine Auf- und Abbewegung in dem Wissens- und Kulturstand der jeweiligen Kulturen 98

Allerdings fällt Mendelssohns Reflexion auf die gesellschaftliche oder kulturelle Bestimmung des Einzelnen durch Tradition an der angegebenen Stelle im Jerusalem wie auch im Brief an Hennings äußerst vage aus. In dieser Hinsicht ist Tomasoni 2003, 37 nicht zuzustimmen, dass es Mendelssohn hier nicht um das Individuum, sondern um die »Geburt«, und damit um die fundamentale Zugehörigkeit zu einem Stamm bzw. Volk gegangen sei. 99 Mit diesem Aspekt grenzt sich Mendelssohn deutlich gegen Spalding ab, vgl. Kap. I.2, Abschnitt 2, S. 101 ff. und schließt, mit Modifikationen, an die spinozistische Affektenlehre an.

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gegeben, so dass das Konstrukt einer allgemeinen Aufwärtsbewegung noch nicht einmal empirisch haltbar sei. Dies sei aber auch in metaphysischer wie anthropologischer Sicht gar nicht notwendig. Mendelssohn beschreibt die Entwicklungsverläufe in Anleihe an die Astronomie: es waren »Punkte« in der großen Masse der wenig entwickelten Kulturen, die sich entzündeten. Ein solcher Punkt wurde »zum glänzenden Gestirne, und durchwandelt eine Laufbahn, die ihn nach einer bald kurzen bald längern Periode zurückführet, und wiederum an seinen Ort des Stillstandes, oder nicht weit davon, absetzet.« (JubA VIII, 163) Der Aufschwung einer Kultur endet wiederum nicht weit von ihrem Ausgangspunkt, ihre Entwicklung ist ein nicht streng teleologisch aufstrebend wirkendes Muster, sondern unterliegt Schwankungen. In wenig entwickelten Perioden seien sich die Menschen nur dunkel ihrer Bestimmung bewusst und erblickten das Göttliche schon in der Natur – diese Ansicht habe zwar »etwas fehlerhaftes« (ebd., 162), aber sie leitet doch in die richtige Richtung. Auch gegen sich eventuell entwickelnde übertriebene Ansichten von »Natur« (hier spielt Mendelssohn deutlich auf Rousseau an) gebe es immer wieder Widerstand, Abbau von »Vorurtheilen« und wiederum Rückkehr in einen gemäßigteren Zustand, der der allgemeinen Wohlfahrt zuträglicher sei. Zwischen diesen Extrempolen schwankend, sei es aber letztlich »derselbe Stoff; dort mit allen rohen aber kraftvollen Säften, die ihm die Natur giebt; hier mit dem verfeinerten Wohlgeschmacke der Kunst, zur Verdauung leichter, aber auch nur für Schwächliche« (JubA VIII, 162) in der Menschheitsgeschichte gegeben; er zeigt sich lediglich in jeweils anderer Form. »Das Thun und Lassen der Menschen und die Sittlichkeit ihres Lebenswandels hat sich von jener rohen Vorstellungsart, im Ganzen genommen, vielleicht eben so gute Folgen zu versprechen, als von diesen verfeinerten und gereinigten Begriffen. Manches Volk ist von der Vorsehung bestimmt, diesen Kreislauf der Begriffe durch zuwandern; ja zuweilen mehr als Einmal durch zuwandern; aber vielleicht bleibt das Maaß und Gewicht ihrer Sittlichkeit in allen diesen mannigfaltigen Epochen, im Ganzen genommen, ungefähr dasselbe.« (JubA VIII, 162) Mendelssohn plädiert hier nicht für einen Geschichtsrelativismus, noch für eine streng zyklische Geschichtsauffassung, sondern in erster Linie rein negativ dafür, die unterschiedlichen Phasen des Geschichtsverlaufs nicht linear zu interpretieren und damit das Erklärungspotential der Historie überzustrapazieren. Es gibt die »verfeinerten« Sitten, die in übertriebener Form verweichlichen und eine Umkehr erforderlich machen; diese kann jedoch – angesichts fehlender sicherer Kriterien – zu heftig ausfallen und ein ganzes »Volk« wiederum in einen primitiveren Status zurückführen. Wichtig ist es für Mendelssohn, dass diese letztlich artifiziellen, durch die spätere Beobachtung hergestellten »Bewegungen« (denn der Punkt, um den sich die »Völker« bewegen, ist ihnen selbst während der Entwicklung kaum klar) sich auf Gebilde beziehen, die nicht real sind. Hiermit pointiert er seine Absage an Lessing: Geschichte hat es mit Abstracta zu tun, während die Entwicklungsgesetze einer philosophischen Anthropologie allein

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auf Individuen anwendbar sind. Deshalb agiert eine erklärende Geschichtsphilosophie in illegitimer Weise, wenn sie die Gesetze der Individualentwicklung auf irreale Gebilde anzuwenden versucht. Ein immer wieder für Mendelssohn konstatiertes zyklisches geschichtsphilosophisches Modell100 lässt sich also gerade unter Rückgriff auf diese Spezifizierungen gar nicht gewinnen. In seinem Brief an Hennings sagt er zwar, dass das ganze »Geschlecht« um der Entwicklung der Einzelnen willen »immer diesen Kreislauf wiederholen« müsse (JubA XIII, 65) – doch besagt dies letztlich nicht mehr, als dass die Geschichtsbetrachtung schlicht sekundär ist.

Zweierlei ist hierzu noch zu bemerken. (1) Zum einen greift Mendelssohn auf ein Argumentationsmuster zurück, das sich schon in der Bestimmungsdebatte zeigte: es geht um die Entwicklung des Einzelnen, von der nur ein Bruchteil sich auf der Erde vollzieht. Die individuelle Vervollkommnung erfordere darüber hinaus zu ihrer vollständigen Formulierung ein metaphysisches Konzept der Unsterblichkeit der Seele.101 Leibniz’ Monadenmodell wird damit der Vorzug gegeben. Der Versuch der Geschichtsphilosophie, eine Entwicklung im Diesseits vollständig zu übersehen und auf ein Ziel hin zu interpretieren, sei demgegenüber einer fehlgeleiteten Hybris geschuldet. Wird der Fokus, weil die jenseitige Vervollkommnung nicht nachvollzogen werden kann, auf die sichtbare Geschichte verlegt, ist dies eine Rettung in die falsche Richtung. Die Geschichte kann per se nicht das bieten, was der Philosoph oder auch Anthropologe sucht, da sie eben von den möglichen Einheiten der Betrachtung, den Individuen, absieht und sich eine ›Menschengattung‹ konstruiert, die doch nach menschlichen Gesetzen ›agiert‹. (2) Zum anderen jedoch schätzt Mendelssohn den Wert der Traditionen und der Überlieferung nicht gering. Dieses wäre auch mit seinem Standpunkt, den er bezüglich der Sprachentwicklung einnahm, nicht zu vereinbaren: zwar existiert das Abstractum ›menschliches Geschlecht‹ als ein Gegenstand des Fortschritts nicht; doch gibt es für ihn – wie auch das Zitat zeigt – ein »Volk«, oder auch Traditionsgemeinschaf-

100

Vgl. Altmann 1973, 538–43. Erlin 2002, 87 geht darüber hinaus: stelle Altmann erste Überlegungen zum zyklischen Geschichtsverlauf erst ab 1782 bei Mendelssohn fest, so übersehe er die Anmerkungen zu Krieg und Frieden im Chamäleon, also schon in den 1750er Jahren (vgl. JubA II, 122). Allerdings wendet sich Mendelssohn dem Thema erst in den 1780er Jahren mit voller Intensität zu. 101 Mendelssohn hat, wie sich in Kap. I.2 zeigte und in Kap. V auszuführen ist, dennoch versucht, dies zu beweisen; er überstrapaziert dabei die Philosophie ebenso wie Lessing, bloß auf einem anderen Gebiet. Es ist jedoch zu betonen, dass damit das Individuum nicht in die Rolle eines bloßen ›Vernunftträgers‹ gerät, sondern die Entwicklung jedes Individuums als ein Kern einer rationalen Anthropologie reformuliert wird.

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ten, die dem Individuum entscheidende Voraussetzungen zur Vervollkommnung gewähren. Er wehrt sich allerdings dagegen, diese Gesellschaften wiederum als Teile des Menschengeschlechts zu interpretieren und sie einer umfassenden Bewegung unterzuordnen. »Das menschliche Geschlecht […] bestehet vielmehr aus einzelnen Menschen, die sich wie das Wasser in einem Strohme auf einander folgen, einen Augenblik dieselben bleiben, und dem Strohme gleichwohl einen selbständigen Namen geben. Diese Succession von Wesen ist auch an und für sich einer Verbesserung fähig, die aber nicht so, wie die Verbesserung des einzelnen Menschen, ins unendliche fortgehen kan.« (JubA XIII, 65) Hier wendet sich das Argument ins praktischgesellschaftstheoretische: eine sich qua göttlicher Offenbarung vollziehende Heilsgeschichte anzunehmen, untergräbt die Würde des Einzelnen. Und dennoch sind gesellschaftliche Prozesse beobachtbar und wichtig. Dies kann aber, so Mendelssohn, nicht aus der Sicht einer nivellierenden Geschichtsphilosophie, sondern allein aus Sicht einer auf den Menschen hin geordneten Gesellschaftsphilosophie geschehen. Mendelssohn nimmt damit die prinzipiell einer Entwicklung hin offene menschliche Natur als die Grundlage und Ausgangspunkt seiner Anthropologie an. Überraschenderweise hat Cassirer gerade in dieser Hinsicht die Konzepte Mendelssohns und Lessings gegenübergestellt und allein Lessings Konzept die dynamische Interpretation zugestanden, während Mendelssohn die Rolle des statischen Bewahrers zugedacht ist. Ihm erscheine, so Cassirers Interpretation, die Geschichte irrational102 und deshalb keiner ernsthaften Betrachtung würdig. Dies widerspricht nicht nur den vorliegenden Texten, sondern auch der internen Logik beider Theorien. So ist Lessings Erziehungsgedanke zweifellos in dem Sinne als dynamisch zu verstehen, als dass er die Entwicklung zur Vernunftreligion absolut setzt und damit die Vorstufen als zu überwindend charakterisiert. Das Streben nach Wahrheit ist dem Menschen angemessener als ihr Besitz.103 Dieses Streben steht aber einer von Cassirer ebenfalls konstatierten Gleichzeitigkeit von Vernunft- und positiver Religion, 102

»Für Mendelssohn und für den gesamten Typus der Aufklärungsphilosophie, den er in sich verkörpert, blieb es zuletzt ein unvollziehbarer Gedanke, daß die Erreichung des höchsten Menschheitszieles einem zu unzuverlässigen Führer wie der Geschichte, mit all ihren Irrationalitäten und Widersprüchen, mit ihrem ziel- und ruhelosen Auf und Ab, mit ihren steten Schwankungen und Irrtümern anvertraut sein könnte.« (Cassirer 1932, 261; auch Ders. 1984, 105 f. 103 Dies äußert Lessing am deutlichsten im »Fragmentenstreit« in seiner »Dublik« von 1778 auf Johann Heinrich Reß’ »Auferstehungsgeschichte«: »Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –« (Werke 8, 510) Der Kommentar nennt diesen Passus »eine der am häufigsten zitierten Lessing-Stellen mit programmatischer Formulierung aufklärerischen Wahrheitsstrebens« (ebd., 1034). Vgl. Cassirer 1984, 106 f. und Michelsen 1981, 122.

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die der Entwicklung erst ihre Dynamik in Form einer immer stattfindenden Angleichung gibt, entgegen. Diese Gleichzeitigkeit der ewigen Vernunft- und der sie vorbereitenden Religionswahrheiten hat er zuvor als das Paradigma aufklärerischen Denkens reformuliert. Hier ist die Gewissheit der Vernunft mit den dynamischen Bedingungen ihrer Selbstvergewisserung in der Geschichte zusammengedacht: »Erst aus dem Miteinander und aus dem Gegeneinander dieser beiden Betrachtungsweisen erwächst die wahrhafte ›Aufklärung‹ des Geistes. Zur Gewißheit vom Sein des Geistes gehört als unentbehrliches und integrierendes Moment das Verständnis seines Werdens; aber andererseits kann freilich dieses Werden nicht erfaßt und in seinem eigentlichen Sinn erkannt werden, wenn es nicht auf ein unveränderliches Sein bezogen und an ihm gemessen wird.« (Cassirer 1932, 245) In Lessings historischem Konzept der Erziehung ist diese Gleichzeitigkeit schwerlich nachzuvollziehen. Vielmehr erscheint die Vernunftreligion als göttlich vermitteltes Ziel am Horizont, das sich durch schrittweise Offenbarung immer deutlicher zeigt. Das mit den positiven Religionen gleichzeitig einhergehende Streben, das eine Verbindung der positiven Religion mit der Vernunft erforderte, hat Lessing vielmehr in eine dunkle Ahnung, dass der gegenwärtige Zustand noch unzureichend ist, übersetzt. Damit ist aber die Bestimmung eines »unveränderlichen Seins« unterbelichtet und die benötigte Gleichzeitigkeit nicht gegeben. Mit demselben Recht ließe sich darüber hinaus, gegen Cassirer, auch Mendelssohns negative Geschichtsauffassung als dynamisch werten. Er setzt den Fokus allerdings nicht in die letztlich abstrahierten Formen sich über lange Zeit entwickelnden Völker, sondern in die Individuen, und, worauf im Folgenden (Kap. IV. 4) näher einzugehen ist, deren gleichzeitige Einsicht in die umfassende Vernunftreligion wie des je eigenen, positiven Glaubens. Geschichte ist damit in ihrem Auf und Ab nicht per se irrational, wenn man sie genauer – und das heißt: auf der Basis der Individuen – analysiert. Geschichtsbetrachtung besitzt aber keinen Eigenwert, da sich mit ihr weitaus schwieriger operieren lässt als auf individueller Ebene. Mendelssohn entwertet die historische Betrachtung nicht deshalb, weil Historie nicht vernünftig ist, sondern weil sich durch sie nicht die kleinstmögliche Betrachtungseinheit erschließt.104 Vielmehr verlöre man sich in Besonderheiten und Widersprüche; Probleme, die man 104 Hier ist auch der Einfluss von Humes Überlegungen zum Wert historischer Betrachtungsweise von Bedeutung. In der History of England (1754–62, deutsch 1762), über die sich Mendelssohn Abbt gegenüber lobend äußerte (vgl. JubA XI, 358), sowie in dem Essay Of the Rise and Progress of the Arts and Sciences (Nr. 14 in: Essays Moral, Political, and Literary, II, 111–37) hatte Hume eine Geschichte ohne die Grundannahme eines unveränderlichen menschlichen Wesenskerns verneint. »Der Schwerpunkt historiographischer Forschung muss deshalb auf den Naturgesetzen der menschlichen Psyche liegen […]« (C. F. Berghahn 2001, 110). Allerdings, siehe Kap. III.1 stand Mendelssohn dem in metaphysischer Hinsicht skeptisch gegenüber. Die Ansicht von Nationen als »Aggregate von Individuen« (ebd. 111) mag er dennoch geteilt haben.

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bei Betrachtung des Individuums nicht bekäme. Problematisch ist an dieser Sichtweise wiederum, dass gesellschaftliche Effekte und soziale Gesetzmäßigkeiten, die sich eben gerade nicht aus der individuellen Perspektive allein erklären lassen, mit Mendelssohns Theorie menschlicher Entwicklung nicht angemessen erfasst werden. Eine vollständige politische und gesellschaftliche Theorie kann er nicht bieten; und dies mag der Grund sein, weshalb sein Rekurs auf Gesellschaft immer durch die Perspektive des Individuums gefärbt (und begrenzt) erscheint. Positiv lässt sich dies so formulieren, dass die Gesellschaft über die Norm des sittlichen Naturgesetzes ins Individuum Eingang findet. Mehr ist auch gar nicht möglich, denn der Weg zum Anderen durch Einfühlung gelangt schnell an seine Grenzen. Wird hingegen die menschliche Verfasstheit als von vornherein auf den Anderen hin gerichtet verstanden – und diese Interpretation legt sich auch bei Mendelssohn (siehe Kap. IV.1 und IV.3) nahe – so ist eine grundsätzliche Ausrichtung des Einzelnen auf die Gesellschaft verständlich; selbst wenn sie letztlich immer dem Zweck der Glückseligkeit dient, die aber gerade nicht als ein fundamental selbstbezogenes Gefühl verstanden wird. Dass Mendelssohns und Lessings Ansichten sich näher stehen, als Cassirer dies gesehen hat, zeigt auch die Gleichartigkeit des fundamentalen Einwandes gegen sie. Denn durch den Rückgriff auf die spekulative Idee der Unsterblichkeit der individuellen Seele anstelle der Lessingschen Palingenesie setzt sich Mendelssohn ähnlicher Kritik, wie sie gegen jenen erhoben werden kann, aus (vgl. im Folgenden Kap. V). Dies soll aber im gegebenen Rahmen weniger interessieren als das Menschenbild, das für Mendelssohn hinter dieser Idee steht. Denn letztlich wertet er den Einzelnen hier als eine unhintergehbare Instanz einer Geschichte in Form erlebter oder traditionell überlieferter, diesseitiger Entwicklung. Diese Form des Individualismus ist ihm zufolge der Motor und die Begrenzung von Moral und Erkenntnis; auf dieser Basis formuliert er seine »Bestimmung des Menschen«. Für die Auseinandersetzung mit der praktischen Seite menschlicher Entwicklung, die deren Geschichtlichkeit wie Affinität zur Geselligkeit ebenso umfasst wie den moralischen Wert einzelner Handlungen (s. Kap. III), gilt für Mendelssohn also ein Konkretisierungsgebot: »Schmiedet keine Hypothesen!« (JubA VIII, 162 f.) und verlasst euch nicht auf eine Geschichtsbetrachtung, die mehr voraussetzt, als sie einbringen kann. In diesem Sinne steht seine Betrachtungsweise quer zu den Möglichkeiten, die Lessing in der eingangs erwähnten Rezension von 1753 nannte. Neben der (historischen) Betrachtung des Einzelnen, der nur depraviert erscheint, oder einer abstrakten Betrachtung des Allgemein-menschlichen setzt Mendelssohn die Perspektive auf den Einzelnen als eines Repräsentanten beider Richtungen: In ihm zeige sich, so seine Grundannahme, nicht allein das Zufällige, Depravierte, sondern auch der vernünftige Grund des Subjekts. Der Einzelne darf nicht zugunsten des Ganzen außer Betracht kommen, sondern die Geschichte und eine auf ihr aufruhende politische Philoso-

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phie muss immer seine Würde bewahren und damit in gewissen Grenzen gehalten werden. Gerade in dieser Hinsicht hat Mendelssohn den Wert der Geschichtswahrheiten nicht gänzlich verneint, sondern ihn vielmehr in Bezug auf den Glauben hervorgehoben.105 Diese Zuweisung soll den Religionen ihr Existenzrecht garantieren, und spezifiziert zugleich ihren Zuständigkeitsbereich. Dieser wird durch ihren Bezug zur Historie begrenzt auf den internen Bereich des Menschen, dem Mendelssohn im Jerusalem den äußeren Konstitutionsaspekt menschlicher Glückseligkeit in der Gesellschaft, das Recht, entgegensetzt. Der Wert von Glaubenswahrheiten wird damit konsequent aus der öffentlich-rechtlichen Sphäre ausgeklammert.106 Zugleich wird die Wahrheit des Glaubens nicht allein durch die historische Überlieferung, sondern auch durch ihre Vereinbarkeit mit der allumfassenden »natürlichen Religion« legitimiert107 und findet ihren Wert für den Menschen – ebenso, wie Lessing dies im Nathan andenkt – in ihrer praktischen Dimension. Mendelssohn reformuliert positiven Glauben als eine menschliche Voraussetzung zur Teilhabe an dieser Religion108 und spricht sich damit (gegen Lavater) gegen die Notwendigkeit der einen Offenbarung aus. 105

Laut Wenzel 2001, 26 leitete Mendelssohn den Begriff der Geschichtswahrheiten schon 1765, zwölf Jahre bevor Lessing ihn ins Deutsche einführte, aus den jüdischen Überlieferungen (Maimonides) ab. Mendelssohn nennt dieses überlieferte Wissen (das wir auch aus dem glaubwürdigen Zeugnis anderer gewinnen) jedoch nicht wahrscheinlich (dazu war dieser Begriff für ihn schon eindeutig durch die leibnizianische Verwendung besetzt, siehe Kap. III.1), sondern »das auf Glauben Angenommene, auctoritate verum« (JubA XIV, 77). Auf Mendelssohns Wahrscheinlichkeitstheorie geht Wenzel zwar nicht ein, jedoch sei hinsichtlich der jüdischen Tradition auf seine diesbezüglichen Ausführungen verwiesen (v. a. ebd., 21–34). 106 Dies gleicht, so C. F. Berghahn 2001, 240, Spinozas »pragmatischer« Sichtweise: in öffentlichen Angelegenheiten ist es unwichtig, aus welcher Absicht heraus etwas geschieht, solange es der Gesellschaft nicht widerspricht. Die Trennung zwischen öffentlicher und privater Freiheit wird also v. a. deshalb gesucht, um Stabilität und Glaubensfreiheit parallel zu gewährleisten. 107 Zweifellos greift Mendelssohn hier auch auf die Grundlegung der deistischen Philosophie durch Shaftesburys Letter Concerning Enthousiasm (1709) zurück, ohne zugleich die »Wegräumung« der positiven Religionen mit zu tragen. Wichtig ist hier die Annahme, dass niemand sich gegen ein angeborenes Wissen um Gottes Existenz wehren kann: »Notwithstanding he [Epicur, as an example of an atheist, A.P.] denied the principles of religion to be natural, he was forced tacitly to allow there was a wondrous disposition in mankind towards supranatural objects; and that if these ideas were vain, they were yet in a manner innate, or such as men were really born to, and could hardly by any means avoid.« (Characteristicks I, 35) 108 Die »Atheisterey« allerdings weist er entschieden zurück, da sie selbst die Vernunftreligion verunmögliche (vgl. Forst 2003, 413–17). Damit ist Mendelssohns Toleranzauffassung nicht absolut, sondern teilt mit vielen anderen aufklärerischen Positionen die Voraussetzung, dass der Glaube an einen Gott notwendig ist als Garant praktisch-moralischer Sätze und ihrer Ausführung. Cassirer 1984, 104 nennt dies in Bezug auf den Standpunkt der Religionen selbst das Prinzip der »Duldung«; ohne zu erwähnen, dass dies dem Gedanken einer individuell geübten Toleranz unterlegen ist.

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»Die mehresten Völker, die wildesten und rohesten selbst nicht ausgenommen, so bald sie nur das gesellschaftliche Leben einigermaßen kennen, haben auch Begriffe und moralische Ueberzeugung von den Wahrheiten der natürl. Religion, die zur G[lückseligkeit] des M[enschen] unentbehrlich scheinen.« (JubA VII, 74, Hervorhebung A.P.) Auch Aberglaube sei wertvoll, um wenigstens die die Menschen bedrängenden Fragen mitteilbar zu machen.109 Wichtig ist hier der von Mendelssohn hervorgehobene Aspekt, dass es erst die Geselligkeit ist, die zur Ergreifung höherer Ideen – auch durch Herausbildung einer Abstracta erfassenden Sprache (vgl. Kap. IV.1, Abschnitt 3) – befähigt (vgl. Erlin 2002, 89). Sein Modell einer wahren Bildung umfasst dementsprechend alle menschlichen Seelenkräfte – mit einem Schwerpunkt auf den rationalen Vermögen – die sich allerdings erst in einer Gesellschaft wirklich ausbilden können. Auch die wahre Freude an Kunst, Kultur und Wissen entsteht erst im geselligen Austausch (vs. Rousseau, siehe Kap. II und IV.1). Grundlagen der Gesellschaft verortet Mendelssohn in einem sich aus der Moralität speisenden »natürlichen Sittengesetz«, dem die weiteren Säulen von Staat und Kirche beigestellt werden. Mit einer vernunftrechtlichen Fundierung des Staats wird auch möglichen gleichmacherischen Eingriffen einer Geschichtsphilosophie entgegengewirkt, die die Einheiten des Staats auf »Völker« reduziert und damit die zeitgleiche Existenz unterschiedlichen, gewachsenen Wertvorstellungen verschiedener, in diesen Völkern lebender Gruppen unter dem Diktum einer teleologischen Entwicklung verneint. Mit einer solchen Auffassung würde, so Mendelssohns Befürchtung, eine verabsolutierte, sich in einer spezifischen Gemeinschaft äußernde Sittlichkeit als unvereinbar mit anderen Sittlichkeitsauffassungen dargestellt und letztere als illegitim zu unterbinden versucht; Geschichtsphilosophie wandelte sich so in Machtpolitik. An dieser Stelle zeigt sich die engen sachlichen Bezüge zwischen Geschichtsphilosophie und politischer Theorie, die sich für Mendelssohn als zwei weitere Aspekte der »praktischen Sittenlehre« darstellen.110 Dementsprechend knüpft er im Jerusalem an die auch diesen Bereichen zugrundeliegende Debatte um die Bestimmung des Menschen an. Er versucht dabei, »zwischen Politik und Metaphysik über eine aufgeklärte Anthropologie zu vermitteln«111, deren gesellschaftlich-sozialer Aspekt im folgenden Teilkapitel analysiert werden soll. Auch Lavater gegenüber äußert Mendelssohn seine optimistische Vorstellung einer letztlich alle Menschen einenden gemeinsamen Idee: 109

Dass er sich damit hinsichtlich dieser rudimentären Religionen derselben teleologischen, diese Religionen letztlich nicht anerkennenden Standpunkt begibt wie Lessing in der Erziehung, wird im Folgenden zu thematisieren sein. 110 Vgl. LB 223 (Beschluss): 25. März 1762, JubA V/1, 506; vgl. zu Mendelssohns Konzeption der Sittenlehren auch Kap. III.2. 111 K. Berghahn 2001, 172; vgl. auch ebd., 246: Hier betont K. Berghahn den Ursprung der Bildungsdebatte um 1800 in Mendelssohns Aufklärungsaufsatz; sein Fundament hat auch dieser Begriff in der »Bestimmung des Menschen«, »um die Mendelssohns ganzes Denken kreiste«.

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»Kommen Sie, wir wollen uns in Gedanken umarmen! Sie sind ein christl. Prediger, ich ein jüdischer Buchhalter. Was thut dieses? Wenn wir dem Schafe und dem Seidenwurm wiedergeben, was sie uns geschenkt haben; so sind wir beide Menschen.«112

5. Kants Kritik. Geschichte und Normativität Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784 lässt sich im gegebenen Zusammenhang als eine Reaktion auf die Bestimmungsdebatte zwischen Abbt und Mendelssohn und der damit verbundenen geschichtsphilosophischen Konzepte lesen.113 Es liegt nahe, dass Kant diese Debatte bekannt war, da sie sogar mehrfach veröffentlicht wurde und wohl nicht zuletzt dazu beitrug, Spaldings Werk immer wieder neue Auflagen erleben zu lassen, sowie das Genre der ›Bestimmungsbücher‹ überhaupt zu begründen. Abbt und Mendelssohn stehen sich dort, wie in Kap. I.2 gezeigt wurde, letztlich unvereinbar gegenüber. Der umfassende Zweifel auf der einen Seite, der doch nach einer Sicherheit auch diesseitiger Vervollkommnung verlangt, dafür jedoch keine Hinweise als empirische akzeptieren will und damit die Grenzen des Beweisbaren überschreitet – auf der anderen Seite das sichere Orakel, das alles Empirische ins Zweckhafte zu wenden bemüht scheint und dabei doch nur eine mögliche Lesart des Weltgeschehens bieten kann, in dem das Geschehen zum bloßen Zeichen und zur »Vorbereitung« auf Jenseitiges transformiert und damit entwertet wird. Laut Hinske (1984, 148 ff.) könnte Kants Idee hier als ein »Vermittlungsversuch« im Sinne eines beide Seiten verbindenden Konzepts zu lesen sein: nicht die Mendelsohn’sche unendliche Vervollkommnung des Einzelnen beruhige den Zweifler, sondern das Postulat der allgemeinen Vervollkommnung des Menschengeschlechts als die Verwirklichung einer »Naturabsicht« (AA VIII, 18).114 Liest man allerdings Kants Idee als eine solche Vermittlung, so zeigt sich schon auf der Oberfläche, dass er dann sowohl an Abbt als an Mendelssohn vorbeiargumentiert. In erster Linie ist hier festzuhalten, dass es eine gewisse Gefahr in sich birgt, den kritischen Kant mit vorkritischen Positionen in Übereinstimmung bringen zu wollen; wie in Kap. I.1, FN 54 bereits angedeutet, finden sich an der Oberfläche der Worte zwar Übereinstimmungen, die sich jedoch bei genauerem Hinsehen durchaus nicht bis auf eine Gleichheit der Begriffe ausdehnen lassen. So spricht Kant explizit 112

Brief an Lavater vom 10. März 1770, also noch in der ersten Phase des »Lavater-Streits«; JubA VII, 337. »Schaf« und »Seidenwurm« repräsentieren in putziger Verballhornung ihre jeweiligen Berufe. 113 So auch in einer ersten Skizze Hinske 1994. 114 Es ist zu beachten, dass Kant selbst seine in der Schrift dargestellte Idee nicht als eine empirische Geschichtsschreibung, sondern vielmehr als ein Mittel der vernünftigen Weltbetrachtung nach einem »Leitfaden a priori« verstand (AA VIII, 31); ich komme darauf zurück.

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nicht von einer Verwirklichung menschlicher Freiheit in der Geschichte, die eine Übereinstimmung der vertretenen praktischen Positionen notwendig machte (was offensichtlich nicht gegeben ist), sondern vielmehr behandelt er die Idee einer »teleologischen Naturlehre« (AA VIII, 18), die sich so unbestreitbar auch in leibnizianisch inspirierten Positionen findet. Er bietet allerdings eine andere Lesart dieses Postulats. Vergleicht man seine Ansicht mit derjenigen Abbts, so ist davon auszugehen, dass dieser nicht zufrieden gewesen wäre, denn er hatte explizit nach der Glückseligkeit des Einzelnen gefragt; ein Hinweis auf eine allgemeine Verbesserung hätte seinem Zweifel nicht die Schärfe genommen. Zwar bekäme so, um auf die von ihm verwendete Parabel zurückzukommen, das Kommando Gottes einen Sinn, der Krieg und damit der Einsatz der Soldaten eine Richtung, aber dennoch wäre der einzelne Soldat so, zumindest in Abbts Verständnis, zu einem bloßen Mittel der Vorsehung degradiert. Darüber hinaus hatte er seine Frage mit dem Bezug auf den sinnlosen Tod von Kindern verschärft. Dem entgegenzuhalten, dass sich die menschlichen Vernunftanlagen nur in der Gattung tatsächlich vervollkommnen (Kants »zweiter Satz«, AA VIII, 18 f.) und damit der Verbesserung des ›Ganzen‹ dienten, scheint kein besseres Gegenargument zu sein als das von Mendelssohn angewandte: dass die Vervollkommnung des Kindes auf der Erde so weit gekommen sei, wie es in Gottes Plan passte und die weitere Vervollkommnung ans Jenseits delegiert würde. Freilich entpuppt sich Kants »zweiter Satz« letztlich als eine regulative Idee115: sollen die Anlagen der Vernunft am Menschen, die zu ihrer vollständigen Ausbildung mehr Übung und Entwicklung bedürften, als ein Menschenleben dauere116, dennoch als sinnvoll wahrgenommen werden können, so müssen sie als in einer allgemeinen Verbesserungsbewegung begriffen verstanden werden. Den letztlich doch nach empirischen Antworten suchenden Abbt dürfte dies dennoch nicht befriedigt haben. In Hinsicht auf Mendelssohn scheint sich Kant zumindest mit dessen Idee des notwendigen tätigen Erwerbs der Vollkommenheit, gegen den Aspekt des »Wohlbefindens« (Kant) bzw. »Zufriedenheit« (Mendelssohn, JubA II, 7, vgl. Kap. II.1, 134 ff.) als Lebensziel einverstanden zu erklären. »Es scheint aber der Natur darum gar nicht zu thun gewesen zu sein, daß [der Mensch] wohl lebe; sondern daß er sich so weit hervorarbeite, um sich durch sein Verhalten des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen.« (AA VIII, 20) Der Aspekt, dass der Mensch alles aus sich heraus, als ein freies Wesen erreichen soll – und nicht über einen naturhaften Instinkt – , verlangt allerdings in letzter Hinsicht die Berücksichtigung von Kants Freiheitskon115

Vgl. auch den »neunten Satz«, AA VIII, 29: nimmt man diesen Plan der Natur an, so könne man aus dem bloßen, »planlose[n] Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System« darstellen. 116 »Die Vernunft in einem Geschöpfe ist ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinct zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe.« (AA VIII, 18 f.)

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zept, das bereits 1784 deutlich über dasjenige Mendelssohns hinausgeht (die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erscheint im Folgejahr). Auch im Menschenbild selbst treten tiefgreifende Differenzen auf. Der »Antagonism« (vierter Satz) in der Gesellschaft, dessen sich die Natur bedient, um die Entwicklung der Menschen zu erhalten117, basiert nach Kant auf einem Zwiespalt im Menschen selbst, der dazu neigt, in Gesellschaft zu treten und zugleich das Bedürfnis fühlt, sich zu isolieren. Die Notwendigkeit von Gesetzen generiert sich aus eben dieser Ansicht; »der Mensch ist ein Thier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nöthig hat.« (AA VIII, 23) Dieses deutlich durch Rousseau inspirierte Konzept, das auch die »Ehrsucht« in der Gesellschaft selbst als treibende Kraft annimmt, findet sich so bei Mendelssohn keineswegs (s. auch das folgende Teilkapitel). Die von Mendelssohn verfochtene Unmöglichkeit, einen geregelten Naturlauf in der menschlichen Geschichte anzunehmen, hätte Kant wohl dem »epikurischen Zusammenlauf wirkender Ursachen« (AA VIII, 25) zugeschlagen, demzufolge sich nach bürgerlichen Gesetzen gebildete Staaten qua Zufall entwickeln, was, so Kant, »sich wohl schwerlich jemals zutragen wird!« (ebd.) Der Prozess der Entwicklung zum wahrhaft »moralischen« Gesellschaftszustand (des Weltbürgertums) erfordert den Gang durch Kultivierung und Zivilisierung, die in ihrer jeweiligen Erscheinung Mängel, oder gar Unterdrückung des Einzelnen aufweisen (Rousseau), jedoch notwendig sind, um das Ziel einer umfassenden Verwirklichung der Vernunft zu erreichen (vgl. AA VIII, 26). Die Stufenfolge der Entwicklungen ergibt sich daraus, dass von jeder möglichen, wenngleich auch fehlgehenden gesellschaftlichen Entwicklungen Spuren der »Aufklärung« erhalten bleiben, die sich in die nächsten Generationen, und damit in neue Gesellschaftssysteme übertragen. Vielleicht hätte Mendelssohn diesem Konzept zustimmen können, doch er hätte – weitaus mehr eine tatsächlich auch empirisch verifizierbare Historie verlangend, als Kant dies im Sinn hatte – auf einer Begründung dieser Weitergabe durch Traditionen beharrt. Doch es ging auch Hinske nicht darum, eine konzeptionelle Äquivalenz der Ansichten Mendelssohns und Kants anzunehmen, sondern vielmehr herauszustellen, dass Mendelssohns Überlegungen einen Anstoß für Kants eigene Überlegungen darstellen konnten. Es sprechen dabei weitere Befunde für Hinskes Annahme, dass die Bestimmungsdebatte für Kant eine wichtige Anregung darstellte. Nach 1771, der dritten Veröffentlichung der Bestimmungsdebatte (im 3. Band von Abbts Vermischten Werken), findet sich in Kants Anthropologie-Vorlesungen eine neuartige

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Es ist erstaunlich, dass hier die »Natur« als eine »Vernunftkraft« wirkt. Im »achten Satz« nennt Kants selbst diese Idee »schwärmerisch« (AA VIII, 27); letztendlich ist das vereinheitlichende Bestreben des »philosophischen Kopfes« (ebd., 30) hier weitaus stärker am Werk als eine tatsächliche »Naturkraft«: unter welchen Bedingungen ist die Möglichkeit einer sinnvollen Geschichtsbetrachtung überhaupt denkbar?

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Methode, die Anthropologie mit einer geschichtsphilosophischen Betrachtung abzuschließen. Dies sei, so Hinske, »verglichen mit anderen Anthropologien dieser Zeit, alles andere als selbstverständlich« (Hinske 1994, 148). Leider belegt er diese Aussage nicht ausreichend. Es ist jedoch auffällig, und ich habe in der Einleitung bereits in diese Richtung argumentiert, dass die junge Disziplin der Anthropologie noch gar nicht so gefestigt war, dass sie sich auf eine physiologische Lesart (bei der geschichtsphilosophische Betrachtungen auch nicht zwingend widersprüchlich wären) festgelegt hätte; Kant ist demnach weitgehend frei in der Ausgestaltung seines Stoffes gewesen. Umso interessanter ist es, welche Rezeptionslinien sich im Rückgriff auf die Vorlesungsmitschriften nachzeichnen lassen. Einige Passagen aus zeitnahen Anthropologiemitschriften könnten in diesem Sinne als ein Hinweis auf den Einfluss eines Mendelsohn’schen Konzepts verstanden werden. So heißt es bspw. in der Anthropologie Friedländer, einer Mitschrift aus dem Wintersemester 1775/76: »Rousseau hat das auch nicht sagen wollen, daß der Menschen ihre Bestimmung die Wildheit seyn, sondern das der mensch seine Vollkommenheit des Zustandes nicht so suchen soll, daß er alle Vortheile der Natur aufopfere, indem er dem bürgerlichen Vortheile nachiage. Es dient dieser [Zustand? Vermutung der Herausgeber] nur zum Plan der Erziehung und Regierung, durch die solcher vollkommene Zustand zuwege gebracht werden kann. Der Mensch ist als ein Thier für die Wälder, aber als ein Mensch für die Gesellschaft bestimmt, und da soll er nicht allein die Bedürfniße für sein Glück besorgen, sondern als ein Theil / eines Gantzen das Glück dieses Gantzen zu befördern suchen.« (AA XXV, 689 f.) Rousseaus Gedanke wird also, ähnlich wie bei Mendelssohn, nicht als eine Verneinung jeglicher Kultur, sondern als eine Kritik an einer falsch verstandenen Kultur interpretiert. Der »Plan einer Erziehung und Regierung«, der mithilfe einer an Rousseau orientierten Kritik zu erhalten wäre, geht auf die Vision einer die Perspektive des Einzelnen überschreitenden Gesellschaft, die den Einzelnen wie auch die Interessen der Mitglieder berücksichtigen soll. Dabei ist der Rekurs auf die Gesellschaft notwendig: »Der Mensch kann sich einzeln allein nicht so vollkommen machen, als bis das Gantze der Gesellschaft vollkommen seyn wird.« (AA XXV, 690) Zugleich aber jeder Einzelne ein Baustein einer allgemeinen Vervollkommnung: »Es scheint als wenn die Erziehung eines ieden einzelnen Menschen den Anfang machen soll, denn die Erziehung eines Menschen bildet viele andere Menschen, die wieder andere bilden.« (AA XXV, 691) Ein wichtiger Aspekt einer wahren Erziehung wäre es allerdings, nicht allein den »Zwang« des guten Benehmens aus Ehrsucht und Neid, was wiederum an Rousseaus Kritik orientiert ist, sondern zur Verbesserung der Gesellschaft von innen heraus die »Achtung für das moralische Gesetz« einzuführen, nachdem man die »Begriffe der Moralitaet gereinigt« hat: »das Hertz würde sich alsdenn schon ändern« (AA XXV, 692) und eine wahrhaft gute Gesellschaft gebildeter Individuen mit Gemeinschaftsbezug daraus hervorgehen.

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In Anthropologie-Pillau, zwei akademische Jahre später (WS 1777/78), streicht Kant hingegen die Notwendigkeit einer Theorie der Menschengattung heraus: »Ein jedes einzelne Thier erreicht die Bestimmung seiner Natur; dagegen jeder einzelne Mensch erreicht die Bestimmung der menschlichen Natur nicht, sondern nur die gantze Menschen-Gattung ist so angelegt, daß sie die Bestimmung erreichen kann. Der Wilde erreicht der seine Bestimmung? Nein, ja nicht einmahl die Bestimmung des Thiers. Die Menschen in Deutschland, erreichen die sie? Auch nicht. Ein jedes Thier erreicht sie aber, die gantze Gattung wird aber nicht verändert; der Mensch allein erreicht sie nicht, seine Gattung nähert sich aber immer näher seiner Bestimmung.« (AA XXV, 839) Jedoch verliert er trotz der dem Einzelnen gegenüber skeptischen Haltung diesen selbst nicht aus dem Blick. Auch dessen Glückseligkeit ist eine nicht zu vernachlässigende Größe, doch sie ist – und daran wird Kant festhalten – ein bloß persönlicher Begriff, aus dem sich kein allgemeingültiges Sittengesetz ableiten oder begründen lässt. »Kein mensch kann sich aber deswegen über die Vorsicht beschweren, daß sie ihn nicht so glücklich gemacht hat, diese Bestimmung zu erreichen. Er ist eben so glücklich; indem der Begriff der Glückseeligkeit sich eben so ändere, je näher die Menschen-Gattungen zu ihrer Bestimmung kommen.« (AA XXV, 839 f.) Nicht zu übersehen ist allerdings, dass Kant hier den Bestimmungsbegriff in streng teleologischer Fassung versteht, obwohl sich bereits eine eigene Fassung dieser Teleologie andeutet: »Wenn die menschliche Gesellschaft vollkommner wird, so wird dieses auch zugleich die Menschheit mit; bis die bürgerliche Verfassung das gröste Ziel erlangt hat, so wird alsdenn auch die höchste Entwickelung der Anlagen in der Menschheit sich zeigen. Daß die Menschheit dieses Ziel einstmahls erreichen wird, dazu haben wir große Vermuthung; Denn wir finden in uns selbst ein Ideal dem wir uns immer bemühen näher zu kommen, jetzt es aber noch nicht erreicht haben, weil wir uns noch immer Reprochen machen, die da zeigen, daß wir vollkommen werden können, denn wäre dieses nicht, so könten wir uns keine Vorwürfe machen.« (AA XXV, 843, Hervorhebung A.P.) Es wird schon an dieser Stelle deutlich, dass Kant höchstens die Idee einer Vervollkommnung – auch durch Antagonismus der Kräfte – angenommen hatte, um sie sogleich in ein eigenes Konzept einzubinden. Um Vervollkommnung als »Naturkraft« zu denken, kann sie nicht als ein tatsächlich beobachtbarer Vorgang gewertet werden, sondern erhält das Gewicht einer Idee, die allererst erlaubt, den scheinbar chaotischen Gang der Geschichte zu ordnen und die Widersprüchlichkeiten der menschlichen Konstitution einer gewissen Zweckhaftigkeit zuzuführen. Die hier angeführten Auszüge können im gegebenen Zusammenhang natürlich nur Vermutungen nahelegen. Zum einen handelt es sich bei den Vorlesungsmanuskripten nicht um von Kant autorisierte Texte; zum anderen ist durchaus davon auszugehen, dass die Mitschreiber bei der Aufzeichnung von Kants Vortrag Kants

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eigene Gedanken mit denen seiner Vorlagen vermischten.118 Zwar wird gerade die Anthropologie-Vorlesung, schon wegen des Fehlens eines eindeutigen und akzeptierten Lehrbuchs, relativ frei gehalten geworden sein, doch sind die Bezüge gerade zum Referenz-Autor Baumgarten, dessen Metaphysica (1739) Kant für ein unverzichtbares Grundlagenwerk hielt, immer zu beachten. Dennoch ist es von Interesse, dass für den gegebenen Zeitraum der »Jahre des Schweigens«119 auch die Auseinandersetzung mit im hier vertretenen Sinne anthropologischen Fragen zu verzeichnen ist. Auch umgekehrt gibt es durchaus Anhaltspunkte, die zumindest darauf schließen lassen, dass Mendelssohn von Kants Anthropologie-Vorlesungen Kenntnis nahm. In ihrer Einleitung zur Edition der Anthropologie-Vorlesungen im Band XXV der Akademieausgabe stellen die Herausgeber Brandt/Stark deren Außenwirkung seit den späten 1770er Jahren heraus, die sich mit den Namen Marcus Herz, Karl Abraham von Zedlitz120 und Moses Mendelssohn verbinde (vgl. Brandt/Stark 1997, LV). Zwar ist es unwahrscheinlich, dass Mendelssohn bei seinen Besuchen in Königsberg eine Anthropologie-Vorlesung hörte. Seine Besuche datieren auf Juni und August 1777121; in dieser Zeit hielt Kant Vorlesungen zur »Physischen Geographie«, die er 118

Siehe dazu beispielsweise Karl Abraham Freiherr v. Zedlitz in einem Brief an Kant am 21. Februar zu einer Mitschrift Philippis, die »etwas undeutlich u. manchmal auch unrichtig geschrieben« sei. Der Mitschreiber »scheint bey manchen Stellen so sehr auf Ihren Vortrag Acht gehabt zu haben, daß er bey vielen würklich wichtigen Gegenständen nur so viel angemerkt hat, daß Sie solche erklärt haben, wie aber – das war eben der Vorteil des nahe sitzenden Zuhörers den ich nicht habe.« (AA X 223). 119 So benennt Kuehn 2004 im 5. Kapitel die Jahre, in denen Kant an seiner Kritischen Philosophie arbeitend keine weiteren Aufsätze oder sonstige Werke veröffentlichte. 120 Preußischer Staatsminister des Justiz-Departements, dem auch (seit 1771) die Zuständigkeit für »Kirchen- und Unterrichtsangelegenheiten« oblag. Dort schien Mendelssohns Stimme einiges Gewicht zu haben. 121 JubA XXII, 163 f.: Bericht über Mendelssohns Anwesenheit in Kants Vorlesung 1777; aufgezeichnet von August Lewald: Ein Menschenleben. Teil I. Leipzig 1844, 98 f. Die sich an den Vorlesungsbesuch anknüpfenden Gespräche waren laut Kants darauf folgenden Brief an Herz eher trivialer Natur: anscheinend hatten sich die beiden auch über mögliche Abführmittel unterhalten, und Mendelssohn hatte Kant einen guten Tip gegeben. Kant achtete ohnehin sehr genau auf seine Körperregungen; die anhaltende Verstopfung inkl. Blähungen, unter der er zu dieser Zeit litt, machte er auch für seinen »benebelte[n] Kopf« verantwortlich, der ihn zu zeitweiliger Unterbrechung seiner Arbeit zwang. Er wandte sich nun an Herz, um mit der Hilfe des Mediziners dasjenige Abführmittel zu erhalten, was ihm Mendelssohn empfohlen habe – dieser selbst habe von ihm »nützlichen Gebrauch gemacht« (vgl. AA X 212; Brief an Herz vom 20. August 1777; siehe auch Kuehn 2004, 266 ff.). Ein weiteres Gesprächsthema schien allerdings auch (wenngleich mit Einschränkung, da Kant selbst beklagt, er habe diesen wichtigen Besuch nicht recht genutzt, vgl. AA X 211) Kants derzeitiges Arbeitsgebiet zu sein – und Mendelssohn scheint nicht allzu verständig reagiert zu haben. So Kant im genannten Brief an Herz: »Seit der Zeit daß wir von einander getrennt sind haben meine ehedem Stückweise auf allerley Gegenstände der philosophie verwandte Untersuchungen systematische Gestalt gewonnen und mich allmählig zur Idee des Ganzen geführt, welche allererst das Urtheil über den Werth und den wechselseitigen Einflus der Theile möglich

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turnusmäßig mit der »Anthropologie« abwechseln ließ. Jedoch ist ein mündlicher Austausch auch über letztgenanntes Gebiet nicht ausgeschlossen. Desweiteren halten Brandt/Stark einen indirekten Informationsaustausch über Dritte für möglich. Wie der preußische Staatsminister und fleißige Kant-Schüler Karl Abraham Freiherr von Zedlitz am 1. August 1778 an Kant schreibt, werde Marcus Herz im Wintersemester 1778/79 in Berlin ein Kolleg »anthropolgiam rationalem« lesen, das er, Zedlitz, unbedingt zu besuchen plane, da er durch Mendelssohn von der Güte von Kants ehemaligem Zögling unterrichtet worden sei (vgl. AA X, 236). Neben der Tatsache, dass sich mit dieser Erwähnung wieder einmal das enge Gefüge intellektuellem Austauschs im 18. Jahrhundert zeigt, ist auch der von Herz gewählte Kolleg-Titel beachtenswert. In Bezug auf die Rezeptionsrichtung von Kant auf Mendelssohn ist die Verbindung mit Herz noch in anderer Hinsicht von Bedeutung. Insgesamt gibt es vier Handschriften »Friedländer« von Kant-Vorlesungen, die alle aus den 1770er Jahren stammen. Aufgrund der engen Vertrautheit Mendelssohns mit Herz und dessen Familie schließen die Editoren des Bd. XXV nicht aus, dass »Mendelssohn die Texte dieser Nachschriften gekannt« hat (Brandt/Stark 1997, LVI). Es ist mir allerdings bislang kein Material bekannt, dass eindeutig eine Beeinflussung Mendelssohns in die Richtung eines kantischen Geschichtskonzepts, noch eine Anlehnung an Kants Auffassung zur menschlichen Bestimmung belegte. Deshalb konnte hier lediglich die bloße Möglichkeit referiert werden, auch, um weiteren Untersuchungen in diese Richtung Anstoß zu geben.

macht. Allen Ausfertigungen dieser Arbeiten liegt indessen das, was ich die Critik der reinen Vernunft nenne, als ein Stein im Wege, mit dessen Wegschaffung ich iezt allein beschäftigt bin, und diesen Winter damit vollig fertig zu werden hoffe. Was mich aufhält ist nichts weiter, als die Bemühung, allem darinn vorkommenden völlige Deutlichkeit zu geben, weil ich finde: daß, was man sich selbst geläufig gemacht hat und zur größten Klarheit gebracht zu haben glaubt, doch selbst von Kennern misverstanden werde, wenn es von ihrer gewohnten Denkungsart gänzlich abgeht.« (AA X 213 f.) Nichtsdestotrotz wird Mendelssohn von Kant auch weiterhin als ein »Kenner« bezeichnet; wahrscheinlich wird sich Kant auch hier die Schuld selber zugewiesen haben, dass er schlicht noch nicht habe verständlich machen können, worum es ihm ging. Dies zeigt sich auch daran, dass er Mendelssohn weiterhin ernst nahm und sich von ihm vielfältige Hilfe zum Durchbruch seines kritischen Geschäfts versprach. Auch Mendelssohn schien begeistert von diesem Treffen. In einem Brief an seine Frau Fromet vom 8. August 1777 (also noch während der Reise aus Memel) schreibt er: »Dem Herrn Doktor Herz habe ich von seinem Freunde dem Herrn Kant al zu vil zu sagen, als dass ich es zu Papier bringen könnte.« (JubA XX/2, 338) Was wäre gewesen, hätten die beiden sich intensiver persönlich austauschen können? Diese Frage verführt auch Kuehn zur Spekulation: »Man kann durchaus die Frage stellen, wie sich ein solcher Einfluß Mendelssohns möglicherweise auf das kritische Unternehmen Kants ausgewirkt hätte. Hätte die Kritik der reinen Vernunft – an der Kant zur damaligen Zeit intensiv arbeitete – anders ausgesehen? Die Antwort auf derartige Fragen werden wir natürlich nie kennen.« (Kuehn 2004, 267) Dass Mendelssohns Reaktion auf die kritische Wende letztlich ernüchternd war, ist bekannt. Vgl. Kap. III.1, FN 75.

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Festzuhalten bleibt aber, zumindest auf der Ebene der veröffentlichten Schriften beider Philosophen, dass sie sich letztlich auf fundamental unterschiedliche Konzepte des Menschen beriefen und damit auch ihre philosophische Begründung von dessen Entwicklung erheblich differierten.122 Besonders deutlich zeigt sich dies, ohne im gegebenen Zusammenhang ausführlich darauf eingehen zu können, in Kants Begründung eines normativen Ansatzes in der philosophischen Betrachtung menschlicher Entwicklung. Deren Zweck scheint es nicht, eine Darstellung der Historie zu gewinnen, sondern vielmehr, die Verwirklichungsbedingungen einer wahrhaft bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen, die die normative Verfasstheit des Menschen, seine Autonomie, zu sichern vermag: »Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.« (»achter Satz«, AA VIII, 27) Letztlich ist aber die Wahl dieser Perspektive nicht dem Projekt einer Betrachtung und Analyse der ›Wirklichkeit‹ geschuldet, sondern verfolgt selbst einen erzieherischen Zweck: »Eine solche Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung – ist kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen.« (AA VIII, 30) Damit ist Geschichte keine Konservierung des Gewesenen, sondern deren Nutzung zu einem vernünftigen Zweck. Dies erlaube sogar, so Kant, eine selektive Geschichtsforschung. Nicht die »Last der Geschichte« (AA VIII, 30), sondern ihre fruchtbaren Momente sollen in der philosophischen Reflexion auf sie zugänglich gemacht werden. Dies zeige sich schon daran, dass bereits jetzt diejenigen Zeiten, von denen nur noch wenige »Urkunden« erhalten sind, nur aus einem spezifischen Gesichtspunkt betrachtet werden: »nämlich desjenigen, was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben« (AA VIII, 31). Geschichtsbetrachtung ist ein an einem Zweck orientiertes, kein in Analogie zur Naturwissenschaft entwickeltes, beobachtendes Verfahren.123 122

Ähnlich auch Altmann 1982, 213. Mit Blick auf Mendelssohns abweisende Kritik auf Kants Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume in der Metaphysik (1766) vermutet Lötzsch 1977, 168, dass Mendelssohn durch Kants Rückgriff auf Voltaires Candide und dem Abweis des Unsterblichkeitspostulats seine Ansicht des unendlichen Progressus hin zur individuellen Vollkommenheit gefährdet sah (vgl. Kuehn 2004, 207). Insgesamt ist ihre Korrespondenz nach diesem missglückten Beginn äußerst gering, bis auf den kurzen, fruchtbaren Austausch hinsichtlich Kants Inauguraldissertation, der jedoch in keine weiterführende Diskussion hinsichtlich der weiteren Ausführung in einer Kritik der reinen Vernunft mündete. Dies lag letztlich v. a. daran, dass Mendelssohn sich der Neuerung metaphysischer Theoreme durch Kant verwehrte. Dazu, leider gänzlich unkritisch, Engel 2001. 123 So hält Kant auch in der Rezension von Herders Geschichte der Menschheit (1785) gegen dessen Bestreben, das zukünftige Sein des Individuums aus einer Naturgeschichte und damit über ein Analogieverfahren abzuleiten, fest: »Hier läßt uns die Natur nichts anders sehen, als daß sie die

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

Auch in späteren Schriften, prominenterweise der Anthropologie von 1798, hält Kant an seiner Sicht fest, die sich bis in die Wortwahl hinein der Idee verdankt: »Die Summe der pragmatischen Anthropologie in Ansehung der Bestimmung des Menschen und die Charakteristik seiner Ausbildung ist folgende. Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren, wie groß auch sein thierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr thätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen.« (AA VII 325 f.) Alles, was geschieht, geschieht nicht aus einem Mechanismus heraus, sondern als ein Zusammenspiel der frei handelnden Wesen, »denen sich zwar vorher dictiren läßt, was sie thun sollen, aber nicht vorhersagen läßt, was sie thun werden.« (Streit der Fakultäten 1796, AA VII, 83) Es sei eine Frage des Standpunktes, von dem aus die Entwicklung als zyklisch, fort- oder rückschreitend oder als Verwirklichung der Vernunft gesehen werde; letzteres sei allerdings, man denke an die 1784er Überlegung, am sinnvollsten. Und trotzdem bleibt zwischen der geforderten und der tatsächlichen Handlung eine Kluft. Dass Mendelssohn sich dieser Idee nicht zuwenden konnte, da sie seines Erachtens die Würde des Einzelnen als einem unhintergehbaren Zweck der Schöpfung missachte124, zeigen auch seine Voten der »Berliner Mittwochsgesellschaft«. Dort hatte er in (schriftlichen wie mündlichen) Diskussionen Gelegenheit, sich mit Kants Ansicht auseinanderzusetzen. In seinem Votum »Über die beste Staatsverfassung« (JubA VI/1, 145–48) ist dies, so Hinske125, besonders deutlich. Zwar übernimmt er Kants Rede von einem Zweck-Mittel-Verhältnis, doch wendet er dies gerade gegen Kants Position: das Individuum, so Mendelssohn, müsse der Zweck, die Gesellschaft könne allein das Mittel sein (JubA VI/1, 146). Dies impliziert auch, dass kein ›Übergangsstadium‹ der ›Moralisierung‹ erlaubt sein kann, das zwar letztlich die Menschheit in eine höhere Stufe führe, aber in ihrem Prozess ein Opfer der Einzelnen verlange. Seine Absage gilt hier vor allem Kants »Interpretation der Fortschrittsgeschichte als Individuen der völligen Zerstörung überlasse und nur die Art erhalte; dort aber verlangt man zu wissen, ob auch das Individuum vom Menschen seine Zerstörung hier auf Erden überleben werde, welches vielleicht aus moralischen, oder, wenn man will, metaphysischen Gründen, niemals aber nach irgend einer Analogie der sichtbaren Erzeugung geschlossen werden kann.« (AA VIII, 53) 124 Dies macht wiederum deutlich, dass Mendelssohn der kantischen Trennung des Noumenalen und Phaenomenalen sowie der Begründung des noumenalen Aspekts der Freiheit/Autonomie im Menschen nicht folgen wollte. 125 Vgl. Hinske 1994, 153 ff. Dass Mendelssohn allerdings vor der Auseinandersetzung mit Kant anstelle von »Gesellschaft« den Begriff des »Geschlechts« verwendet habe, ist so nicht haltbar; vgl. die Rousseau-Übersetzung und das Sendschreiben von 1755, sowie den Aufklärungsaufsatz selbst.

IV.2 Das Individuum im Spannungsfeld von Geschichte und Gesellschaft

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Verfassungsgeschichte«126. »Der Endzweck ist nicht Fortgang der Gesellschaft, sondern der Menschen.« (JubA VI/1, 146) Mendelssohn geht sogar so weit, den eigenen Bestimmungsbegriff zu relativieren: die Bestimmung des Einzelnen, allgemein als »Glückseligkeit« formuliert, zeigt sich je nach Umständen verschieden (JubA VI/1, 146 f.) und könne also auch in einem aus historischer Perspektive minderwertigen Standpunkt als vollkommen gelten. Jedoch bleibt das Unsterblichkeitspostulat das eigentliche Ziel der Argumentation. Auch im »Staate Gottes« darf »kein Individuum blos andern zum Besten« (Jerusalem, JubA VIII, 190) leiden. Letztlich, so scheint mir, setzt sich Mendelssohn mit Kants Begriff des »Weltbürgertums« jedoch den falschen Gegner. Dieser greift ihn in Über den Gemeinspruch (1793) entsprechend scharf an, wobei er allerdings den Gedanken eines zyklischen Geschichtsverlaufs zuungunsten von Mendelssohns Konzept der individuellen Entwicklung überbetont (vgl. AA VIII, 307 f.). Die Bewertung des Konzepts bei Kant soll hier allerdings nicht Thema sein. Festzuhalten bleibt hinsichtlich Mendelssohns Votum, dass mit einer Vereinzelung und Individuierung des Rechtsbegriffs für einzelne Provinzen und Völker, wie er es dort, anschließend an Ernst Ferdinand Klein127, vorschlägt, anstelle des Rechts vielmehr eine (auch instrumentell nutzbare) Kasuistik erreicht wäre, die der ›Bestimmung‹ der Individuen sicherlich nicht zuträglich wäre. Deutlich steht hier Modernität unvermittelt neben dem Überkommenden – ein Grundzug in Mendelssohns Denken. Auch sein Begriff der Bildung steht in diesem Spannungsfeld. Mendelssohn scheint, dies soll auch das anschließende Teilkapitel zeigen, weitaus mehr die ›Würde‹ des Einzelnen, als seine tatsächlichen Rechtsansprüche begründen zu können.

126

Hinske 1994, 154. Hinskes darüber hinausgehende Folgerung, dass Mendelssohn sich an die »alte Eschatologie« halte, die dem Individuum »einen unbedingten Wert verleiht«, sehe ich vielmehr in Lessings Interpretation. Dagegen ist Mendelssohns aufgeklärter, aber metaphysisch über Leibniz gesättigter Begriff der monadischen Bestimmung durch Entwicklung hier stärker. 127 Altmann 1982, 208 weist hier auch auf die Wurzeln dieser relativistischen Einstellung bei Montesquieu hin.

IV. Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff »Eine vollkommene bürgerliche Verfassung ist nicht eher möglich, als bis gebildete Unterthanen vorhanden sind, welche gar keine andere Verfassung und Regierung leiden. Daher muß man die Menschen aufzuklären, und das Völkerrecht besser einzurichten suchen.« Kant, Menschenkunde 1781/82, AA XXV, 1201

Mit seiner Geschichtsphilosophie, oder besser: seiner Absage an sie hat sich Mendelssohn noch einmal deutlich zur Hinwendung zum Individuum bekannt. Eine Philosophie vom Menschen und seiner Entwicklung meint die Entwicklung des Einzelnen, auch wenn seine Philosophie nicht das individuelle Subjekt, sondern die Gesetzmäßigkeiten eines Idealtypus zu erfassen sucht. Es soll aber, so Mendelssohns Annahme, möglich sein, allgemein-abstrakt Bedingungen zu formulieren, die eine freie und allseitige Ausbildung des Einzelnen ermöglichen und dabei seine Angewiesenheit auf Andere, also auf eine Gesellschaft im weitesten Sinne, miteinbeziehen. So spricht er ausdrücklich nicht von monadisch vereinzelten Individuen, sondern nimmt auch Volks-, Stammes-, Traditions- und Sprachgemeinschaften an, die als notwendige Bedingung der individuellen Entwicklung in den Blick kommen. Da diese aber, so die Essenz seiner Zurückweisung einer geschichtszentrierten Betrachtung, qua abstrakte Größe nicht angemessen untersucht werden können, reformuliert er diese Bedingungen primär als rechtliche wie anthropologische. Es lassen sich demzufolge universelle Grundregeln menschlicher Geselligkeit fassen, die in den individuellen, menschlichen Bedürfnissen verankert sind und – dies zumindest rudimentär formuliert – eine weitergehende gesellschaftliche Anbindung benötigen. Mendelssohns Bildungskonzept ist ein Ausdruck dieser Überlegungen und hängt eng mit seinen in den vorangegangenen Kapiteln erläuterten Einsichten zusammen: Der Mensch ist ein Wesen, dass der Entwicklung bedarf – und diese Entwicklung wiederum benötigt gewisse gesellschaftliche und kulturelle Strukturen. Um zu wissen, was dem Menschen als Bildung zuträglich ist, war die Frage nach dem Wesen und nach dem Zweck des Menschen für die Aufklärer zentral.128 So reflektieren auch die Mitglieder der Berliner Mittwochsgesellschaft, mit der Mendelssohn assoziiert war, über die »Bestimmung des Menschen«129 bzw. noch ausführlicher über seine »Würde«130 als Kernpunkt ihrer Bestrebungen.

128

Vgl. Kap. I.1, sowie Cassirer 1932, Brasch 1880, Bd. I, X, Hinske 1977, XV. Vgl. Berlinische Monatsschrift II 270 und IV 488 (Kants Beitrag, der die Bestimmung zum Fortschreiten betont), sowie 566 (im Folgenden zit. mit der Originalpaginierung nach der Edition Hinske 1977). 130 Berlinische Monatsschrift III 411, 314, IV 490 (Kant). Biester spricht in seinem Aufsatz 129

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

427

Aufklärung als Epoche war, wenn eine exakte Zählung überhaupt möglich wäre, schon ungefähr 80 Jahre alt, als man sich um die intellektuelle Einholung ihrer Inhalte bemühte. 1783 entzündete sich die gelehrte Diskussion um die Aufklärung in der Berliner Mittwochsgesellschaft131 einmal durch einen Vortrag des Leibarztes Johann Carl Wilhelm Möhsen, der später unter dem Titel »Was ist zu thun zur Aufklärung der Mitbürger?« veröffentlicht wurde (Keller 1896, 67–94). Zum anderen durch zwei weitere, 1784 gehaltene Vorträge: Oberkonsistorialrat Johann Friedrich Zöllners »Was heißt aufklären?« und Leibarzt Christian Gottlieb Selles »Was ist Aufklärung? Wann verdient jemand aufgeklärt genannt zu werden und wann gehört er zur Zahl der Unaufgeklärten?« Mit diesen Ansätzen ergaben sich nach Hinske (1981, 87 f.) zwei Diskussionsstränge: a) Nach Möhsens Auffassung gelte es, zur Vollendung der Aufklärung neben einer inhaltlichen Bestimmung des Begriffes Aufklärung eine Untersuchung der Gründe vorzunehmen, warum trotz (der unter Friedrich II. herrschenden) Pressefreiheit noch immer wenig Fortschritte einer aufgeklärten Gesellschaft zu verzeichnen seien. Sind die Angriffe des Monarchen auf die Ohnmacht der Literatur und Wissenschaften

unter dem Pseudonym »Akatholicus Tolerans« auch von »Menschenliebe«, die auf einer konkreten Vorstellung menschlicher Bedürfnisse und Ansprüche, u. a. dem auf Toleranz, aufruht (siehe ebd., III, 180); auch der Begriff der »Rechte der Menschheit« fällt wiederholt (z. B. ebd., III, 325). Die rein terminologische Verschiebung zeigt m. E. recht deutlich, dass das Interesse sich zunehmend von der essentialistischen auf eine praktische Ebene verlagerte. 131 Sie wurde im Jahre 1783 gegründet; dem Diskussionszirkel gehörten u. a. Johann Samuel Diterich, Christian Wilhelm Conrad von Dohm, Johann Jakob Engel, Leopold Friedrich Günther von Göckingk, (Immanuel Kant), Ernst Ferdinand Klein, Johann Karl Wilhelm Möhsen, Friedrich Nicolai, Christian Gottlieb Selle, Johann Joachim Spalding, Karl Gottlieb Svarez, Wilhelm Abraham Teller und, als außerordentliches Mitglied, Moses Mendelssohn an, zu den Initiatoren zählten Johann Friedrich Zöllner, Karl Franz von Irwing, Friedrich Gedike und Johann Erich Biester (Vgl. Nehren 1994, 93–111, 96, Hinske 1981, 86, Ders. 1977, XXIV; Davies weist auf daneben auf die Freundschaft zwischen Gedike, dem Mitherausgeber der Berlinischen Monatsschrift, und Moritz hin, dessen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde im selben Jahr 1783 das erste Mal erschien; siehe auch Moritz: Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre an Herrn Direktor Gedicke (1782), Werke III, 87–99). Die Gesellschaft zielte auf Aufklärung der Mitbürger; um jedoch den Austausch der diesbezüglichen Gedanken frei zu halten, war Geheimhaltung des dort Geäußerten oberstes Gebot (Nehren 1994, 98); dies war auch nötig, um »freie und gewagte Sätze und Meinungen«, sowie »freie und ungewöhnliche Vorstellungsarten in Sachen, welche Religion und Moral betreffen«, äußern zu können, um das Ziel zu erreichen, »alles, was Erkenntniß und Wissenschaft heißt, was mittelbar oder unmittelbar zur Philosophie, Moral und Religion gerechnet werden kann, […] ohne Rücksicht auf Ansehn der Person, Verjährung oder gewähnete Heiligkeit […] freimüthig und dreist, obgleich immer bescheiden« dem Urteil der »gesunden Vernunft und des schlichten Menschenverstandes« zu unterwerfen (zit. nach Nehren 1994, 99). Das Geheimhaltungsgebot hat sie dennoch nicht abgehalten, die diskutierten Positionen in der Berlinischen Monatsschrift, zumindest teilweise, zu veröffentlichen, um so der allgemeinen Aufklärung zuzuarbeiten.

428

Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

durch diesen fehlenden Fortschritt gerechtfertigt? Und: wie sollte man die weitere Bekämpfung herrschender Vorurteile wirksam gestalten? In der darauf folgenden Diskussion verfolgte man v. a. den letztgenannten Punkt. In Anschluss an die 1778 von der Akademie aufgeworfene Frage, ob es ratsam sei, das Volk in seinen Irrtümern zu belassen oder es radikal aufzuklären, gab es verschiedenste Ansichten (es wurden auch tatsächlich unterschiedliche Ergebnisse prämiert; vgl. Keller 1896, 73–88). Doch so lange Uneinigkeit herrschte, was denn eigentlich Aufklärung sei, konnte diese Frage natürlich gar nicht befriedigend beantwortet werden. So erklärt sich der zweite Diskussionsstrang: b) In einem Streit über die Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit der Zivilehe fragte Zöllner 1783 in einer Fußnote: »Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!«132 Die berühmtesten Lösungsansätze, die auf die Vorträge Selles und Zöllners reagierten, sind die Aufsätze Kants und Mendelssohns. Dabei stellen beide keinen Aufsatz im landläufigen Sinne dar, sondern waren in erster Linie als Voten für die interne Diskussion in der Mittwochsgesellschaft konzipiert. Mendelssohns Schreiben ist mit 16. Mai 1784 datiert133; Kants Votum folgte etwas später. Neben diesen – veröffentlichten – Ansätzen gibt es jedoch noch eine Vielzahl weiterer, die im gegebenen Zusammenhang von Interesse sind. In der Mittwochsgesellschaft, die die oben genannte Diskussion anstieß, wurden die jeweiligen Überlegungen im Gespräch wie den genannten anonymen Voten diskutiert. Mendelssohns Einwürfe, soweit noch zugänglich und zuzuordnen, sind in einer Untersuchung seiner Einschätzung der Aufklärung schon allein deshalb von Belang, da er sich in ihrer schützenden Anonymität und dem anregenden intellektuellen Austausch freier äußern konnte als es die Furcht vor Zensur oder Ausbürgerung sonst erlaubt hätte. Sie zeigen einen offeneren Denker, der sich u. a. auch mit Kants Standpunkt eingehend auseinandersetzt und die im Aufklärungsaufsatz nur angerissenen Anstöße weiter ausführt. Den Aufklärungsaufsatz allein zu behandeln, reduziert das damalige Diskussionsfeld und muss zu Verkürzungen führen, die dieser Arbeit nicht gerecht werden. Mit der Berücksichtigung des Diskussionsumfeldes in der Mittwochsgesellschaft wird darüber hinaus eine weitere Anforderung auf nahezu ideale Weise erfüllt, die Mendelssohn schon länger beachtete und die sich auch in der bisherigen Werkanalyse widerspiegelt: Sein Denken ist auf Austausch angewiesen und ausgerichtet

132

In: Ders.: »Ist es rathsam, das Ehebündnis nicht ferner durch die Religion zu sanciren?« [im Übrigen eine sehr (aufklärungs)kritische Schrift], in: Berlinische Monatsschrift II (1783), 516. 133 Vgl. JubA VI/1, XXVII und Hinske 1981, 88. Beide sprechen von einer geringfügigen Überarbeitung des Votums für die Druckversion, vgl. JubA VI/1, 214 (Lesarten).

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

429

und gewinnt damit erst durch die Berücksichtigung umgebender Ansichten seine Vielfalt und Bedeutung. Eine Grundlage zu Mendelssohns Äußerungen sind seine Überlegungen zum positiven und natürlichen Recht im Jerusalem. Hier versucht er, wie im ersten Abschnitt gezeigt werden soll, die Grundlagen der gesellschaftlichen Institutionen wie Staat und Kirche, sowie der bürgerlichen Gesetze aus der »Natur der Freyheit des Menschen herzuleiten« (Brief an Herz Homberg vom 22. September 1783, JubA XIII, 133). Er wird auf dieser Grundlage seine weiterführenden Reflexionen zur Aufklärung ausführen (Abschnitt 2).

1. »Perfice te – perfice alios«: die Naturpflicht der Geselligkeit. Mit den im ersten Teil des Jerusalem entwickelten Ideen greift Mendelssohn auf frühere Ansätze134 und Überlegungen zum Begriff des Rechts zurück und verbindet sie zu einer Vision einer toleranten Gesellschaft. Um das Ideal einer gesellschaftlich geschützten und durch Religion gestützten Entwicklung des Individuums rechtlich zu begründen, unternimmt er eine auf seinen anthropologischen Überlegungen aufruhende eigene, aber auch durch so unterschiedliche Denker wie Wolff und Spinoza135 inspirierte Lesart des Naturrechts. Mendelssohn ist, um dies vorwegzunehmen, in Hinblick auf seine Theorie des Rechts und des Staats als ein Anhänger des gemäßigten Liberalismus zu charakterisieren. (a) Gemäßigt ist diese Einstellung, da sie sich letztlich nicht auf ein genuin staatsphilosophisches Interesse gründet. Mendelssohn verwendet die Begriffe Gesellschaft und Staat bisweilen synonym; immer wieder weisen Begriffskonflikte auf eine unzureichende Trennung dieser Bereiche hin.136 Ihn interessiert vielmehr, welche Voraussetzungen eine Gesellschaftsform erfüllen muss, um die Vervollkommnung der Menschen zu gewährleisten. Dass allein die Trennung zwischen äußerlichen und inneren, primären wie sekundären Bedürfnissen ein konziseres Verständnis von Staat auf der einen, Gesellschaft auf der anderen Seite verlangt, hat er nur unzureichend reflektiert.

134

Diese Ansätze beginnen, so Altmann 1982, 165 f. um das Jahr 1759 und setzen sich bis 1767 fort. 135 Vgl. Mack 2003, 80 f. und Goetschel 2004. 136 Laut Altmann 1982, 198 verwendet Mendelssohn diesen Staatsbegriff im Votum »Ueber die beste Staatsverfassung« , um seine Kritik an Kants Idee (1784) deutlicher zu machen (siehe Kap. IV.2, 424 f.); eine ähnliche Strategie wie in der Diskussion um die Rolle des »Menschen« und des »Bürgers« (siehe hier Abschnitt 2, Punkt 2, S. 453 passim).

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

Darüber hinaus ist die Sonderrolle Mendelssohns zu bedenken, denn diese ist »entscheidend von der bürgerlichen Situation der Juden her geprägt. [Sie] war von vornherein vom Begriff der Menschenrechte[137] aus bestimmt und trug sozusagen ›existentiellen‹ Charakter.«138 Gerade für gesellschaftliche und auch staatliche Problemfelder war diese Position sensibel. Es ging dabei nicht allein um eine Verbesserung des Status der jüdischen Mitbürger, sondern Mendelssohn begriff diesen als paradigmatisch, um insgesamt bessere Bedingungen für eine angemessenere Erfüllung individueller Bestimmung zu erreichen. Trotzdem also eine strengere Trennung zwischen staatlicher und sittlich-gesellschaftlicher Ebene zuweilen hilfreich gewesen wäre, um sein Konzept angemessener zu konturieren, führt er sie aus diesem Grund eng: denn er war sich der über das rein rechtliche Feld hinausreichenden menschlichen Interessen bewusst und wollte diesem Umstand auch in gesellschaftstheoretischer Hinsicht Ausdruck verleihen. (b) Mendelssohns republikanische oder liberale139 Einstellung gründet sich auf der für ihn fundamentalen und unhintergehbaren Rolle des Einzelnen.140 Wie Arkush (1994, 290) zu Recht hervorhebt, unterscheidet er sich in diesem Punkt signifikant von der Wolffschen Vorstellung eines schützenden Staates, der gegebenfalls auch den Einzelnen vor sich selbst bewahren darf. Mit dem betonten Bezug zum Individuum schließt Mendelssohn nahtlos an seine Absage an eine Geschichtsphilosophie an und entwickelt, ausgehend von grundlegenden individuellen Rechten, die in einem Staat aufgrund übereinstimmender Willenserklärungen zu positiven Rechten etabliert werden, ein Korrespondenzverhältnis

137

So verwendet Mendelssohn diesen Begriff sowohl in der »Vorrede zu Manasseh Ben Israel: Rettung der Juden« (JubA VIII, 325) als »Rechte der Menschheit«. Ebenso im »Sendschreiben an Lavater« (JubA VII, 8). 138 Altmann 1982, 166; er fügt noch hinzu: Mendelssohn »konnte die absolutistisch oder auch aufgeklärt-absolutistisch ausgerichtete Staatstheorie im Grunde nicht genügen.« Vergleicht man damit allerdings den Aufklärungsaufsatz von 1784 (JubA VI/1, 108), sowie sein Votum in den »Gedanken Verschiedener«, so spricht Mendelssohn sich deutlich gegen »Volksregierungen« aus (JubA VI/1, 133). Eine gewisse Skepsis gegenüber der Demokratie war also durchaus vorhanden, was auch Altmann 1982, 207 in Hinblick auf Mendelssohns Spätwerk einräumt. 139 »Liberalismus« war als Vokabel noch nicht geläufig; ich folge hier der Definition Forsts: »Die Lehre von den vorstaatlichen individuellen Rechten und der vertraglichen, mit Bedingungen versehenen Einrichtung politischer Herrschaft« (Ders. 2003, 223). Altmann 1982, 165 nennt Mendelssohn in dieser Hinsicht einen »Republikaner« (vgl. auch JubA II, 296 und IV, 329). Mendelssohn übte in dieser Hinsicht sogar gegen seinen – für die naturrechtlichen Fragen bestimmenden – Gewährsmann Christian Wolff leise Kritik: diesem habe »eine allzueingeschränkte Lebensart« bisweilen »Grundsätze eingegeben, die der natürlichen Freyheit des Menschen nicht günstig sind« (an Abbt am 1. Mai 1764, JubA XII/1, 44; dort hebt er auch seine Bewunderung für Montesquieu hervor); vgl. Arkush 1994, XIII. 140 Nach Altmann 1982, 199 ist das Hauptmoment des Staats in diesem Sinne der Schutz des Schwächeren und die Ermöglichung der freien Entfaltung der Bürger.

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

431

von Rechten und Pflichten, die sich nicht nur im Begriff der Menschen- oder Grundrechte erschöpfen, sondern darüber hinaus den Grundsatz der politischen Partizipation als eine Verwirklichung menschlicher Freiheit hervorheben. Dem Recht auf Partizipation entspricht dabei die Pflicht141, sich im Staat angemessen einzubringen; das Recht auf allseitige Ausbildung aller Fähigkeiten korrespondiert mit der Pflicht, sich soweit zu bilden, um am politischen wie gesellschaftlichen Leben und seinen Entscheidungen teilnehmen zu können. Im Falle der präkeren gesellschaftlichen Lage der Juden plädierte Mendelssohn beispielsweise rigoros für eine rechtliche Gleichstellung, um zugleich von den jüdischen Gemeinden eine weitgehende Öffnung zu fordern. Dazu gehörte für ihn vor allem das Erlernen der deutschen Sprache, um im Prozess der Gleichstellung integriert zu sein und letztlich zur Entstehung einer wenn nicht homogenen, so doch harmonischen, oder harmoniefähigen Gesellschaft beizutragen (s. IV.4.)142 Allein in einer solcherart miteinander verbundenen Gesellschaft schienen Mendelssohn die Bedingungen einer freien Entfaltung der eigenen Persönlichkeit gegeben zu sein. Gemäßigt ist dieser Liberalismus aber auch aus dem Grund, da er sich – und auch hier spielt sein religiöser Hintergrund mit hinein – des Missbrauchs der Freiheit wohl bewusst war und sie in pragmatischer Hinsicht begrenzt wissen wollte. 141

Vgl. JubA VIII, 115 und den Phädon: »Dem Rechte zu thun entspricht allezeit eine Verbindlichkeit zu leiden. […] So wenig es in der physischen Welt ein Wirken ohne ein Leiden giebt: eben so wenig kann in der sittlichen Welt ein Recht auf eine Person, ohne eine Verbindlichkeit von Seiten dieser Person gedacht werden.« (JubA III/1, 119) 142 Auffällig ist, dass Mendelssohn innerhalb seiner politischen Überlegungen der späten 1770er, frühen 1780er Jahre kaum auf Rousseau zurückkommt. Dessen zweiten Discours hatte er in den vorangegangenen Jahren eingehend behandelt (siehe hier Kap. II.1); ebenso findet sich eine ausführliche Rezension der Nouvelle Héloïse in den Litteraturbriefen, die Mendelssohn zugeschrieben wird. Aber kein Wort zum Contrat Social oder zum Émile, die beide 1762 erschienen und Mendelssohn also genug Zeit ließen, sich mit ihnen und der in ihnen enthaltenen positiven Gesellschafts- und Kulturtheorie auseinanderzusetzen. Rousseau schien auch kein besonders relevantes Thema der »Mittwochsgesellschaft« zu sein. Die tiefe Wirkung, die Rousseau auf Kant machte und die sich bis in dessen Reflexionen nachvollziehen lässt, kann man für Mendelssohns Denken so nicht diagnostizieren. Weitaus deutlicher hinter Mendelssohns Überlegungen steht allerdings John Locke. Mendelssohn erwähnt den Brief über Toleranz (Letter Concerning Toleration, 1667), er wird auch den Second Treatise on Civil Government (1690) gekannt haben (er besaß bspw. die Oeuvres diverses de Monsieur Locke, Amsterdam 1732, siehe Bücherverzeichnis 131/25). Auf dessen Eigentumstheorie war Rousseau in seinem Discours eingegangen (Anm. XII, JubA VI/2, 182–87); auch Mendelssohn reagierte darauf (vgl. JubA II, 104). Wichtiger noch ist ihm aber die von Locke vorgetragene Trennung zwischen Staat und Kirche und die strikte Absage an kirchliche Zwangsrechte, die er mit Anleihen an Spinozas Tractatus Theologico-Politicus (1670) verband. Dieser billigte dem Staat das Recht zu, Gerechtigkeit und auch die äußerlichen Formen der Religionsausübung zu definieren – ihm kommt aber keine Gewalt über die persönliche Religionsausübung zu. Auch mit Hobbes’ Staatstheorie war Mendelssohn vertraut. Im Jerusalem lehnt er dessen Begriff des Rechts qua Befähigung ab und schließt sich damit an Thomasius und Pufendorf an (vgl. Altmann 1982, 173 m.w.Vw.).

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

Mendelssohn begründet seine Theorie des Staats mit naturrechtlichen Überlegungen, in denen er versucht, den Rechtsgedanken mit den Grundsätzen einer vernunftfundierten Moral, also unabhängig von Konfessionen und Traditionen, zu vereinbaren. Nicht der Staat ist für ihn unhintergehbar, sondern der Mensch, seine unbedingte Rechtssphäre, sein spirituelles Selbstverständnis, sowie seine Fähigkeit, darauf aufbauend eine Gesellschaft zu bilden. Naturrecht ist in diesem Sinne der »Inbegriff von moralisch-gesetzlichen Pflichten und Rechten […], die aus der wesentlichen Natur des Menschen fließen«143 und das die unverzichtbare Grundlage einer Vertragstheorie bildet; es ist zu betonen, dass der Gesellschaftsvertrag, wie er Mendelssohn vorschwebt, nicht vollständig das Naturrecht abbildet, sondern nur einen (verhandelbaren) Teil von ihm.144 Mendelssohns Vorstellungen vom Naturrecht sind stark beeinflusst durch Wolffs Jus naturae145, der ebenfalls in der Tradition Grotius’146 für eine vernünftige Grundlage der moralischen wie rechtlichen Gesellschaftsordnung vor der spezifischen Religion plädiert.147 In dieser Tradition leitet er das Recht aus der obligatio ab: Recht ist in erster Linie eine Pflicht der Selbsterhaltung.148 Er verbindet damit Ideen Pufen143

Altmann 1982, 174, Hervorhebung A.P. Ich verweise hier generell auf den fundierten Artikel »Moses Mendelssohn über Naturrecht und Naturzustand« von Altmann; in: Ders. 1982, 164– 191 und »Prinzipien politischer Theorie bei Mendelssohn und Kant«, ebd., 192–216, die meinen Ausführungen zugrunde liegen. Laut Strauss (1959, 7) ist Mendelssohn mit seiner Betonung der Rolle des Einzelnen ein klassischer Vertreter der Theorie des Naturrechts, indem er seinen Überlegungen die teleologisch verstandene Interpretation menschlichen Wesens zugrunde legt. 144 Vgl. dazu die Analyse von Goetschel 2004, 157 f. 145 Laut Altmann 1982, 164 ist es nicht sicher, ob Mendelssohn Wolffs Institutiones juris naturae et gentium, Halle 1750 kannte; sicherlich jedoch dessen Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen [Deutsche Politik], Halle 1721. Der Naturrechtsgedanke lässt sich auch aus dem Jus Naturae, den Vernünfftigen Gedancken von der Menschen Tun und Lassen, zur Beförderung ihrer Glückseligkeit [Deutsche Ethik] (1728) und anderen Schriften hinlänglich gewinnen; siehe z. B. die §§ 20 und 22 der letztgenannten Schrift: die praktischen Gesetze können im Menschen »durch die Natur fest gestellet« werden, ob es einen »Obern« oder einen Gott gäbe oder nicht. »Es sey ferne, daß ich den Atheisten das Wort reden wolte! Ich kan doch aber nicht wieder die Wahrheit seyn.« So lange jedoch die Mehrheit der Bevölkerung zu diesen Gesetzen aus Vernunft nicht bereit sei, bildet die Religion die notwendige Stütze (vgl. Buschmann 1989b, 78). Mendelssohn ist zwar sicher auch beeinflusst von Leibniz’ Theodicée, §§ 182 f., jedoch hat Arkush 1994, 99 zu Recht festgehalten, dass Mendelssohn in Wolffs Ausführungen zur Politik weitaus mehr Material fand als bei Leibniz. 146 Vgl. Forst 2003, 220, zitiert dort aus der Einleitung von De jure belli ac pacis (1625): das Naturrecht entspringt der »der menschlichen Vernunft entsprechende[n] Sorge für die Gemeinschaft.« 147 Vgl. Christian Wolff: Oratio de Sinarum philosophia practica. Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Übers. u. eingel. hg. von Michael Albrecht. Hamburg 1985 148 Vgl. Wolff, Philosophia practica universalis (1738) §§ 129: Obligatio naturalis hat ihren zureichenden Grund im Wesen des Menschen; fällt mit lex naturalis zusammen (§ 135) und gibt so das Recht (jus) auf die Dinge, die zur Erhaltung des Lebens notwendig sind; vgl. Altmann 1982, 170 f.

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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dorfs, der gegen Hobbes das Recht nicht aus der Befähigung, sondern als eine »sittliche Fähigkeit« reformuliert hatte. Recht ist damit vom natürlichen Vermögen (der »Macht«) unterschieden.149 In den Anmerkungen zur zweiten Auflage des Phädon von 1768 hält Mendelssohn dementsprechend fest: »Der Mensch ist auch im Stande der Natur verbunden, für seine Erhaltung, Gesundheit und Vollkommenheit zu sorgen, und hat ein Recht, sich der erlaubten Mittel hierzu zu bedienen.« (JubA III/1, 368 f.) Dabei gilt – deutlich gegen Hobbes150 gerichtet – nicht das Recht des Stärkeren. »Das Gesetz des Stärkern kann in dem Reiche der Wahrheit keinen Rechtsfall entscheiden. Macht[151] und Recht sind Begriffe von so verschiedener Natur, daß die Macht so wenig ein Recht, als das Recht eine Macht erzeugen kann. Ein Recht an der einen, ohne Obliegenheit an der andern Seite, müßte durch die Macht entschieden werden, und dieses ist ungereimt.« (JubA III/1, 369) Darüber hinaus verstärkt Mendelssohn die Bindung an die Moralität noch, indem er das Grundprinzip des Rechts, die Gerechtigkeit, als eine Pflicht, »unsern innern Zustand vollkommener zu machen, und also weise und gütig zu seyn« (JubA II, 321) beschreibt.152 Strenger und zugleich mit unüberhörbarer Zielrichtung auf seine anthropologischen Prämissen153 formuliert er diese Dimension im Jerusalem: »Der Mensch kann ohne Wohlthun nicht glücklich seyn; Nicht ohne leidendes, aber 149

In diesem Sinne folgt Mendelssohn durchaus nicht Spinozas naturalistischer Überzeugung der Rechtssetzung (vgl. zu Spinoza Goetschel 2004, 68 f.) 150 So hebt Mendelssohn schon in seiner Besprechung von Michaelis’ Preisschrift über den gegenseitigen Einfluss von Sprache und Meinungen (1759) hervor, dass Recht sich auf Gesetz gründen muss, was der Formulierung im Jerusalem gegen Hobbes entspricht: dass ich etwas kann, sagt noch nicht, dass ich dazu ein Recht habe, sondern dieses leitet sich aus Verträgen, unter Rücksicht auf die Eigentums- und Persönlichkeitsrechte des Einzelnen, her. Vgl. auch zur Abhängigkeit des Rechts vom Gesetz JubA II, 101 (Sendschreiben), 290, 320 f. (Evidenzschrift), dazu Altmann 1982, 170. Dass Mendelssohns Ausführungen Hobbes’ Theorie nicht gerecht werden, indem sie seine Grundlagen als eine bloße »Übertreibung« werten, steht dabei auf einem anderen Blatt (vgl. Strauss 1959, 166–202). Doch gerade der These einer zutiefst unintelligiblen und damit rational nicht fassbaren Natur, der der Mensch nur mit einer eigenen Setzung, die fundamental durch seine Affekte bestimmt ist, begegnen kann, konnten den Leibnizianer Mendelssohn nicht überzeugen. 151 In der 3. Auflage steht hier: »Gewalt«, siehe JubA III/1, 369. 152 So auch in der »Vorrede zu Manasseh Ben Israel: Rettung der Juden«, JubA VIII, 1 f., 18. Beeinflusst ist er hier von Leibniz, Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison § 9, Theodicée II, 12. Auf diesen Komplex geht Altmann 1982 nur unzureichend ein, so dass das Moment der eigenen Vervollkommnung durch die Vervollkommnung Anderer im Naturrecht nicht einsichtig wird. 153 Dies hat schon Rotenstreich 1966, 28 f. treffend festgehalten: »Mendelssohn’s political philosophy presupposes a definite conception of the nature of man […] Without beneficience, men cannot be happy; and this is not alone without passive, but without active beneficience also. They can in no other way become perfect, except through mutual assistance […].«(Vgl. auch Albrecht 2005, XVII) Rotenstreich sieht das Modell hierfür in der durch Rousseaus Naturzustand transportierten Idylle, die Mendelssohn jedoch nicht im Sinne Rousseaus (siehe Kap. II.1 und IV.1), sondern in Anlehnung an Hobbes und, mehr noch, Locke ausbuchstabiert.

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

eben so wenig ohne thätiges Wohlthun. Er kann nicht anders, als durch gegenseitigen Beystand, durch Wechsel von Dienst und Gegendienst, durch thätige und leidende Verbindung mit seinem Nebenmenschen, vollkommen werden.« (JubA VIII, 116) Es kommt damit der Aspekt des »Wohltuns« zum Recht hinzu, der in einem Spannungsverhältnis zur ebenfalls unternommenen Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Rechten, bzw. zwischen Zwangs- und Unterlassungspflichten steht. »Güte« oder »Wohltun« berufen sich auf eine (moralische) Haltung des Einzelnen gegenüber Anderen, wohingegen das »Rechttun« nur auf den äußerlichen Aspekt dieser Handlungen geht. Strenggenommen können sich somit die Handlungen der Menschen im gesellschaftlichen Rahmen nur als unvollkommene und vollkommene Rechte und Pflichten reformulieren lassen, die diesen äußeren Aspekt betreffen. Immer bleibt die Reflexion auf das darüber hinausgehende Wohltun Bestandteil von Mendelssohns Überlegungen. Dabei beginnt er seine Überlegungen in Übereinstimmung mit Hobbes: Im Naturzustand hat der Mensch die vollkommene Pflicht der Selbsterhaltung; er erlangt darüber das Recht, sich der notwendigen Mittel dazu zu bedienen und darf sich gegen denjenigen wehren, der ihm den Gebrauch dieser Mittel verwehrt. Die Befugnis eines vollkommenen Rechts ist dem Inhaber dieses Rechts selbst zugänglich; es liegt in seinem Wissen und Gewissen (vgl. Mendelssohns Notiz vom November 1781, JubA III/1, 280 ff.). Nicht so beim unvollkommenen Recht, das vom »Wissen und Gutfinden des Pflichtträgers« (JubA III/1, 280) abhängt. In Mendelssohns154 Beispiel: der Bettler hat das vollkommene Recht, zu betteln; er hat jedoch nur ein unvollkommenes Recht, von einer anderen Person Almosen zu verlangen. Damit dies ein vollkommenes Recht wäre, müsste er über das Wissen des »Pflichtträgers«, also des Anderen, verfügen. In Anlehnung an Grotius ist dies nur eine bloße aptitudo, ein »moralischer Anspruch ohne Rechtstitel, im Unterschied zum Eigentumsrecht, das Recht auf Zwang verleiht«.155 Damit unterscheidet Mendelssohn hier zwischen Unterlassungspflichten, die erzwingbar sind, und wirklichen »Handlungen«, die den Willen des Gegenübers erfordern. Im Naturzustand gelten nur unvollkommene positive Pflichten (JubA III/1, 280 f., VIII, 117), wenn sie über das vollkommene Verbot der laesio, der Verletzung des Anderen, hinausgehen. Im Gesellschaftszustand können jedoch natürlich-unvollkommene Rechte und Pflichten zu vollkommenen erhoben werden, »wenn der Pflichttragende durch einen ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag auf sein Entscheidungsrecht Verzicht

154

Das Beispiel wurde ebenfalls von Pufendorf und Wolff verwendet. Grotius, De jure belli ac pacis (1625) II, 17, was u. a. auch Christian Garve übernimmt, dessen Anmerkungen zu seiner Übersetzung Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie [Institutes of Moral Philosophy, 1769] (1772) Mendelssohn bekannt waren (vgl. Altmann 1982, 178 und 180). 155

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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gethan« hat (Selle-Votum, 1784, JubA VI/1, 132).156 Damit wird die Etablierung der Gesellschaft als eine Verbindung durch freie Entscheidung reformuliert, die auch auf einen Zuwachs an vollkommenen Rechten und Pflichten abzielt. Kommen wir an dieser Stelle auf die oben genannten, auf den ›internen‹ Aspekt bezogenen Pflichten der »Güte« und des »Wohltuns« zurück, die sich auch als »Liebespflichten« bzw. officia humanitatis benennen lassen.157 Erst in der Gesellschaft können aus diesen »Liebespflichten«, die allein der Entscheidung des Einzelnen unterstehen, in gewissem Rahmen Zwangsrechte werden.158 Zu recht hebt diesbezüglich Goetschel (2004, 158) hervor, dass der sich aus den naturrechtlichen Überlegungen ergebene »Gesellschaftsvertrag« bei Mendelssohn weniger Rechte begründet oder zuweist, sondern primär auf die Kompetenz, Streitigkeiten zu schlichten, abzielt. Diese Vorsicht ist begründet, denn Mendelssohn verbindet mit der Gesellschaftsbildung explizit die Bestimmung des Menschen zur Glückseligkeit, die nicht erzwungen werden kann, sondern ein Akt der freien Bestimmung der Einzelnen bleiben muss.159 Ist dieser Akt unfrei (also juridisch gebunden und damit durch Zwangsgewalt vollstreckbar), kann er zur Vervollkommnung nicht hinreichen, da er wiederum einen bloß äußerlichen Aspekt beträfe. Damit schließt er das Recht als eine Funktion an die ans Naturrecht angelehnte Vollkommenheitsmoral: Perfice te;

156 »Nach meiner Theorie gründen sich die unvollkommenen Rechte und Pflichten auf die Möglichkeit der Collisionsfälle, deren Entscheidung bloß dem Pflichttragenden zusteht. Sie gehen also in vollkommene Pflichten über: 1) so oft die Collisionsfälle moralisch unmöglich sind [Fälle der Moral; denn es kann keine moralische Handlung zugleich geboten und verboten sein: ich darf Zwang anwenden, um einen Freund von einer durch Leidenschaft bestimmten Handlung abzuhalten, vgl. Altmann 1982, 181]; oder 2) wenn der Pflichttragende durch einen ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag auf sein Entscheidungsrecht Verzicht gethan; oder 3) wenn er augenblicklich in der Verfassung ist, von seinem Entscheidungsrechte keinen vernünftigen Gebrauch machen zu können.« (JubA VI/1, 132) 157 Vgl. Wolff, Jus naturae §§ 655–58, Altmann 1982, 179. 158 Dabei geht Mendelssohn nicht von einem einzigen Staatsvertrag aus, sondern von der Herausbildung umfassenderer Einheiten aus den kleinen Familien- und Stammesverbänden; siehe JubA VI/1, 52, 147 und JubA VIII, 119 ff (Fußnote), wobei er auch der Frau Rechte zuweist: »Muß die Frau Gewissenszwang leiden, weil der Mann Gewissensfreyheit haben will?« (121) Hier vermutet Altmann 1982, 215 f. einen Einfluss Mendelssohns auf das 1794 erlassene Allgemeine Preußische Landrecht; siehe Über den Zweck des Staates (1791) von Carl Gottlieb Svarez: es stünde dem Staat zu, im Interesse der Glückseligkeit der Einzelnen Zwangsrechte zu erlassen, die ihrem Wohl dienten, aber auf das Eigentum anderer zurückgreifen müssten. Allerdings: Mendelssohn hatte deutlich gesagt, dass letztlich die Glückseligkeit nur erlangt werden kann, wenn man das Gute gern und frei von Zwang vollbringt. Das wäre mit solchen Maßnahmen wohl kaum möglich. Altmann vermerkt dies so nicht, obwohl er an anderer Stelle die wichtige Rolle der Freiheit des Wohltuns in Mendelssohns Konzeption benennt (vgl. Altmann 1982, 188). 159 Soweit ich sehe, geht Mendelssohn mit dieser (rationalen) Glückseligkeitslehre über Spinozas Ansicht hinaus, der das Wohlwollen erst mit der Religion als »Nächstenliebe«, nicht im »Naturzustand« aufkommen sieht; vgl. Tractatus Theologico-Politicus (1670), Kap. 16, 244 f.

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

perfice alios an. Beide stehen in einer engen Verbindung zur Freiheit. Wirkliche Freiheit ist aber, so Mendelssohn gegen Rousseau, nicht eine dem Instinkt entgegengesetzte Fähigkeit selbstbestimmter Handlungen allein, sondern auch die Möglichkeit, sich der Mittel zur Glückseligkeit aus eigener Entscheidung zu bedienen. Die freie Entscheidung zum Wohltun ist damit das einzige Mittel, mit diesem die Glückseligkeit zu erreichen. Wohltun selbst kann also kein Zwangsrecht, keine vollkommene Pflicht werden, sondern muss immer frei bleiben. Dass das Wohlwollen in juristischer Hinsicht nur verschwommen in den Blick gerät, liegt also in der Natur der Sache: zu einem wirklichen »Wohtun« kann kein Recht verbinden, zu einem »Rechttun« sehr wohl.160 Den Übergang von der unvollkommenen Pflicht des Wohltuns im Naturzustand, bei der es im freien Ermessen des Einzelnen steht, wem er was und wie viel zukommen lässt (vgl. JubA VIII, 121 u. ö.)161 zur vollkommenen Pflicht desselben im Staat vollzieht Mendelssohn durch den rechtlichen Aspekt des Vollzugs der Entscheidung zum Wohltun. Wenn der Willensentschluss gefällt ist, so muss er auch wirksam sein (vgl. JubA VIII, 122, 124 f.); er wird ein erzwingbares Recht desjenigen, der das Angebot, den Willensentschluss bzw. seine Erklärung, angenommen hat.162 Durch die Verrechtlichung dieses Bezugs im Gesellschaftszustand wird der Einzelne ermächtigt, die je spezifische Form von Überfluss und Mangel, die sich seinen Talenten verdankt, auszuweiten. Er kann mit Anderen in Austausch treten und dafür von ihnen etwas erwarten, doch er ist dieser Erwartung nur im Rahmen eines Staats als eines (sozialen) Rechts sicher. Immer noch ist damit der interne Status des Wohltuns prekär. »Wohlwollen macht im Grunde glücklicher, als Eigennutz; aber wir müssen uns selbst und die Aeusserung unserer Kräfte dabei empfinden. Nicht wie einige Sophisten es auslegen, weil alles am Menschen Eigenliebe ist; sondern weil Wohlwollen kein Wohlwollen mehr ist, weder Werth noch Verdienst mit sich führet, wenn er nicht aus freyem Triebe des Wohlwollenden fließt.« (JubA VIII, 111, Hervorhebung A.P.) Die moralische Verbindlichkeit, sich und andere zu vervollkommnen und damit sich zu Gesellschaften zusammenzuschließen, findet damit keine positive Rechtsgrundlage – denn dies wäre 160 Etwas klarer ist hier Kant, der eine Einbindung der Liebespflichten in das Recht von vornherein ausschließt und diese der Tugendlehre zuweist, vgl. Metaphysik der Sitten, Erster Teil (Rechtslehre), AA VI, 220. Man könnte sagen, dass Mendelssohns Idee damit etwas näher an einer modernen Sozialstaatstheorie steht, wohingegen Kant das Prinzip des Liberalismus in seiner reinsten Form vertritt. 161 Ähnlich auch in einem Brief an Ernst Ferdinand Klein, 1784/85: »Niemand hat das Recht, im Stande der Natur mir seine Vernunft aufzudringen.« (JubA XIII, 260) 162 Dies ist das im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch gültige Konstrukt des Vertrags, der auf zwei übereinstimmenden Willenserklärungen, Angebot und Annahme, gründet und zusätzlich die Unterscheidung zwischen Besitz (Verfügung) und Eigentum (Macht, Rechtstitel) unterscheidet; vgl. BGB, §§ 854 (Besitz), 929 (Einigung und Übergabe), 985 (Herausgabeanspruch, wobei die Trennung zwischen Besitzer und Eigentümer deutlich wird).

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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nur äußerliche Zwangsgewalt –, sondern steht neben den politisch-rechtlichen Forderungen. Darüber hinaus besitzt der Begriff der Gesellschaft auch auf naturrechtlicher Basis eine moralische, nicht juridische Qualität und muss im Jerusalem als das Staat und Kirche umfassende Moment neu verortet werden; denn der Staat als rechtsetzende Instanz kann nicht diese auf das Innere des Einzelnen gehende Forderungen, sondern nur die äußerliche Form des Wohltuns verlangen. Damit wird ein Bereich des Naturrechts vom positiven Recht abgespalten. Mendelssohn versucht dessen Institutionalisierung in der »Kirche«. Um Handlungen zu initiieren, ist eine gute »Regierung« nötig, die mit Bewegungsgründen ausstattet – damit die richtige Gesinnung dabei vorherrscht, braucht es »Erziehung«, die sich auf »Wahrheitsgründe« stützt. »Die Gesellschaft hat also beide durch öffentliche Anstalten so einzurichten, daß sie zum allgemeinen Besten übereinstimmen.« (JubA VIII, 110) Mendelssohns Überlegungen sind also an einem Gesellschaftsbegriff orientiert, der nicht allein aus einer formalen Regulierung der Rechtsverhältnisse besteht, sondern der darüber hinaus auf die Wohlfahrt seiner Mitglieder abzielt und dafür andere gesellschaftliche Institutionen in den Blick nimmt. Klar formuliert er dies in seiner Kritik an Lockes Letter Concerning Toleration (1689), der die Wohlfahrt des Menschen als eine allein »diesseitige« missverstanden hätte. Mendelssohn hingegen will sogar das jenseitige Wohl mit in seine Überlegungen aufnehmen, da der Mensch naturrechtlich verpflichtet sei, in einem umfassenden Sinne für seine Glückseligkeit zu sorgen. »[…] was für einen Grund haben wir, die Absicht der Gesellschaft blos auf das Zeitliche einzuschränken?« (JubA VIII, 107) Da auch die Ewigkeit des Menschen ein »unaufhörliches Zeitliches« (JubA VIII, 108) ist, kann ein Gesellschaftsmodell, in dem die hiesige Fürsorge dem Staat, die jenseitige der Kirche übergeben wird, nicht den naturrechtlichen Anforderungen gerecht werden. Vielmehr ist in dieser Trennung wiederum die Gefahr der Unterdrückung gegeben: denn nach wie vor steht das Recht der Kirche höher als das des Staates; in Kollisionsfällen müsste der Staat den Forderungen der Kirche weichen. Ein Liberalismus dieser Art könnte also, so Mendelssohn (vgl. JubA VIII, 108) in sein Gegenteil umschlagen und würde darüber hinaus eine unangemessene Hierarchisierung menschlicher Pflichten und Bedürfnisse etablieren. Dem anzustrebenden ›Besten‹ für sich selbst und andere, dem jeder Mensch verpflichtet sei, kann nur durch die Berücksichtigung beider Sphären, der weltlichen wie der geistigen, Genüge getan werden. Mendelssohn schlägt deshalb eine andere Spezifizierung ihres Zuständigkeitsbereiches vor und trennt sie in der Bezugsrichtung: die Kirche geht demzufolge auf das Verhältnis der Menschen zu Gott, der Staat regelt das Verhältnis der Menschen untereinander. Dennoch bleibt der Konflikt bestehen, wenn beide Institute der umfassenden menschlichen Wohlfahrt dienen sollen: beide sind aufs Praktische ausgerichtet und sollen also zu Handlungen anleiten. Wenn eine wirklich gute Handlung, zu denen

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

beide ihre Art der Bewegungsgründe geben sollen, auch eine gute Gesinnung (vgl. JubA VIII, 109 f.) erfordert, so müsste Mendelssohn beiden erlauben, auf die Gesinnung der Menschen (gegenüber ihren Mitbürgern) zu wirken. Der Staat darf dies aber nur mit Rechtsmitteln, also äußerlicher Zwangsgewalt, die auch nur auf diesen Außenbereich bezogen gedacht werden kann; die Kirche darf nicht mehr als »Belehren und Trösten« (JubA VIII, 114). Immer noch bleibt also die Erfassung der »Liebespflichten« unscharf. Wie oben angedeutet, versucht Mendelssohn die Ausweitung des Einflusses von Staat und Kirche auf die Gesinnungen der Menschen und mit dem Begriff der »Erziehung«163; doch lässt gerade diese Ausweitung seinen Staats- und Gesellschaftsbegriff ineinander verschwimmen und bedrohte eine wie auch immer im einzelnen geartete liberale Auffassung ernsthaft. Mit seiner Reformulierung des positiven Rechts hat er sich selbst die Mittel genommen, einen Einfluss des Staats in die Gesinnungen zu begründen, denn es erfasst nur Handlungen und Güter. Dennoch finden sich Äußerungen Mendelssohns, die den Staat als zur Erziehung seiner Bürger berechtig erklären (JubA VIII, 110 f., 129 ff.), indem auch er über die Erziehung auf Gesinnungen »wirken« soll. Wie man sich diese Wirksamkeit vorzustellen hat, lässt er offen. Er nimmt sich sogar weiter zurück, indem er das Moment der Erziehung und Regierung unter den Oberbegriff der »Bildung« zusammenfasst und damit den Bereich des positiven Rechts verlässt. »Unter Bildung des Menschen verstehe ich die Bemühung, beides, Gesinnungen und Handlungen so einzurichten, daß sie zur Glückseligkeit übereinstimmen; die Menschen erziehen und regieren.« (JubA VIII, 110) Der Zustand der Bildung ist demnach ein glückliches Zusammenwirken von Kirche und Staat, das in den Gesinnungen der Bürger auf fruchtbaren Boden gestoßen ist. Die dazu am besten geeignetste Staatsform nennt Mendelssohn nicht, sondern lässt dies von der jeweiligen Entwicklungsstufe in der »Cultur« des betreffenden Volks abhängen (JubA VIII, 111). Er hält aber generell die Staatsform für die beste, in der der Bürger »anschauend erkennt«, und damit zugleich innere wie äußere Antriebe hat, dass er aus eigenem Antrieb für sich und andere »Wohltun« muss, so dass die Anwendung von Zwangsrechten überflüssig wird. In der höchsten Stufe der Gesellschaft ist der rechtsetzende und dieses auch durchsetzende Staat überflüssig. Zugleich sieht Mendelssohn den Staat aber nicht, wie sein Rückgriff auf ein moralgesättigtes Naturrecht zeigt, in einer von jeglicher Sittlichkeit unberührten Sphäre, sondern als eine Instanz der auch sittlichen Vervollkommnung des Menschen. Es ist dabei in seinem Werk eine Spannung zu verzeichnen zwischen der strikten Zurückweisung 163

Altmann 1982, 198 f., 204 f. 215 weist auf diese Stellen hin, ohne jedoch auf Mendelssohn gleichzeitige Überlegungen zur »Freiheit des Wohltuns« Rücksicht zu nehmen. Die Gegenüberstellung zu Kant ist aber mit dem letztgenannten Aspekt nicht mehr so eindeutig, wie Altmanns Aufsatz dies andeutet.

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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staatlicher Gewissenskontrolle (und damit einer Eingrenzung der Verrechtlichung von Liebespflichten) und zugleich der Annahme, dass der bestmögliche Staat ein moralischer Staat ist, der durch Erziehung auf Gesinnungen gegenüber Anderen wirkt (vgl. JubA VIII, 140 und VI/1, 129). Letztlich greift Mendelssohn hier auf keine politisch-rechtliche Theorie, sondern auf das in Leibniz’ Spätwerk so eindringlich formulierte Ideal des »Gottesstaats« zurück.164 Um den Menschen zum universellen Gleichklang nicht zu zwingen, sondern zu überzeugen, sieht er wohl auch deshalb wiederum die Religion als eine gute Hilfe des Staates an (JubA VIII, 112) »Ihr kömmt es zu, das Volks auf die nachdrücklichste Weise von der Wahrheit edler Grundsätze und Gesinnungen zu überführen; ihnen zu zeigen, daß die Pflichten gegen Menschen auch Pflichten gegen Gott seyen, die zu übertreten, schon an und für sich höchstes Elend sey; daß dem Staate dienen ein wahrer Gottesdienst, Recht und Gerechtigkeit der Befehl Gottes, und Wohlthun sein allerheiligster Wille sey, und daß wahre Erkenntniß des Schöpfers keinen Menschenhaß in der Seele zurücklassen könne.« (JubA VIII, 112) Kirche darf dies, wie erwähnt, allein auf dem Weg der Überzeugung unternehmen, es aber nicht erzwingen.165 Allerdings scheint Mendelssohn hier die Gefahr psychischen Zwangs nicht zu bemerken; ebenso wenig das Problem, dass er damit die vorher getrennten Sphären 164

Vgl. damit Jerusalem, JubA VIII, 193 f.; hier besingt Mendelssohn, wenig überzeugend in Rücksicht auf die von ihm verfochtene Trennung von Staat und Kirche, deren Einheit im »ursprünglichen« Judentum (unter der »mosaischen Verfassung«, ebd. 196, die durch die Zerstörung des Tempels außer (weltliche) Kraft gesetzt wurde). Es ist vor diesem Hintergrund einsichtig (wenngleich noch immer nicht denklogisch korrekt), dass Mendelssohn die im frühen Judentum konstatierte Übereinstimmung von Staat und Religionsgemeinschaft nicht als ein Gegenbeispiel zu seiner Theorie betrachten musste. Bourel (2007, 410 f.) beurteilt diese komplizierte Gemengelage etwas zu pauschal. Forst 2003, 354 hat diese »Zwitterstellung« in der Toleranzdebatte der Aufklärungszeit ebenfalls betont: es ist auffällig, dass sich der Diskurs der Aufklärung über Toleranz zuerst gegen die Kirchen, nicht gegen den Staat wendet. Forst setzt die allgemeine Durchsetzung der politischen wie religiösen Freiheit erst mit der Französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung an und setzt dies damit in die Nähe des Konstitutionsgedankens: »Dann erst wird der ›aufgeklärte Absolutismus‹ durch eine politische Durchsetzung der Menschenrechte, und zwar auch des Rechts auf politische und nicht nur religiöse Selbstbestimmung, abgelöst. So wandert schließlich die Respekt-Konzeption der Toleranz von der zivilen in die politische Sphäre ein, und die zwei unterschiedlichen Logiken einer Rationalisierung der Moral und einer Rationalisierung der Macht treffen sich in einem herrschaftskritischen Diskurs der politischen Rechtfertigung, der eine ›öffentliche Vernunft‹ voraussetzt. Erst im Zuge dieser Entwicklung wird die Autonomie dieser Form politischer Legitimation und des Staatswesens insgesamt gegenüber religiösen Fundamenten – etwa von Kant – vertreten; der Gedanke eines in religiöser Hinsicht gänzlich ›neutralen‹ Staates liegt den meisten Aufklärern allerdings fern.« (Forst 2003, 353 f., vgl. D. Grimm 2003, 7). Immerhin beschließt Mendelssohn den Jerusalem unter Hinweis auf die amerikanische Konstitution, siehe JubA VIII, 203. 165 Die strenge Zurückweisung des kirchlichen Rechts im Jerusalem nimmt die später in der »Mittwochsgesellschaft« stattfindende Debatte über die »Zivilehe« vorweg; siehe dazu die Beiträge

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

in ein umgekehrtes Abhängigkeitsverhältnis bringt, was nun wiederum zwar nicht dem Staat, aber den in Kirchen institutionalisierten positiven Religionen schaden könnte, indem sie an die staatsbürgerlichen Pflichten des Einzelnen anzuschließen gehalten sind. Aus dieser auch hier drohenden Mesalliance der Mächtigen, selbst wenn sie für einen guten Zweck steht, nimmt Mendelssohn jedoch wiederum den Bereich der Meinung, also auch der inneren Haltung und Gesinnung, aus dem Verfügungsbereich beider Institute heraus. Immer gilt, dass sie auf die Freiheit der Gesinnungen kein Recht haben. Auch und besonders gegen die bindende Gewalt der zu reinen Symbolen erstarrten Religionen begehrt Mendelssohn hier auf, indem er an den bei diesen Gebilden immer drohenden Umschlag in Despotie erinnert. Nur der frei glaubende Mensch glaubt auch wirklich. »Bindet den Glauben nur erst an Symbolen, die Meinung an Worte, so bescheiden und nachgebend ihr immer wollet; setzet nur ein für allemal die Artikel fest: Wehe dem Elenden alsdann, der einen Tag später kömmt, und auch an diesen bescheidenen, geläuterten Worten etwas auszusetzen findet? Er ist ein Friedenstöter! Zum Scheiterhaufen mit ihm!« (JubA VIII, 202) Wahrer Religionsfrieden ergibt sich für Mendelssohn aber erst, wenn der Einzelne frei auf seinen Glauben hören kann und in der Kirche, der von ihm frei gewählten Kirche, seinen Ort dafür findet. Auf diesen Fanfarenstoß der Meinungsfreiheit: »Das Recht auf unsere eigenen Meinungen ist unveräußerlich.« (JubA VIII, 129)166 wird zurückzukommen sein; im Jerusalem steht er den Problemen der Begründung und Begrenzung der Institute noch unverbunden gegenüber. Die Differenzierung zwischen Aufklärung (Regierung) und Kultur (Erziehung), die zusammen die Bildung kennzeichnen, hat Mendelssohn in seinem Aufklärungsaufsatz weiter entwickelt. Das zuerst die grundsätzliche Freiheit begründende Movon 1783, die vermutlich durch Biesters Schrift angestoßen wurden. Dieser wehrt sich in dem Aufsatz »Vorschlag, die Geistlichen nicht mehr bei Vollziehung der Ehen zu bemühen« (Berlinische Monatsschrift II, 265–76), gegen die »regiersüchtigen Geistlichen« (ebd.). Zugleich allerdings fordert er eine »Staatskirche« und vermengt die beiden Gebiete wiederum. Vgl. auch die darauf antwortenden Beiträge, u. a. von Johann Friedrich Zöllner: »Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren?« (II, 508–17, v. a. 16), der die Frage nach der Bestimmung der Aufklärung stellt. 166 Siehe im Folgenden Kap. IV.4. Vgl. Montesquieu, De l’esprit de lois, Buch XXV, Kap. 12: »Auf dem Gebiete der Religion muß man Strafgesetze vermeiden.« Forst 2003, 363 weist jedoch auf den fundamentalen Unterschied einer staatsphilosophischen, bei Montesquieu untersuchten Toleranzforderung und einer Frage nach der Toleranz zwischen Menschen und Gemeinschaften unterschiedlichen Glaubens hin: letztere tendiert zu einem auf der religiösen Identität aufbauenden Staatsbegriff und erschwert die Tolerierung Andersdenkender; sie fordert eine »ethisch-sittliche Einheit« der Mitbürger in einem letztlich religiös bestimmten Staat. Mendelssohn nimmt hier allerdings eine Sonderstellung ein: für einen jüdischen Staat hat er nicht argumentiert (so auch Vierhaus 1965, 411, 415 und K. Berghahn 2002).

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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ment des Wohlwollens hat er damit für sich bestehen lassen, um sich einem pragmatisch fassbareren Bereich zuzuwenden. Sein Begriff von »Bildung« lässt sich dabei auch reformulieren als eine Bildung zur Diskussions- und Denkkultur der Toleranz, die auch den positiven Religionen einen gesicherten Raum in der Gesellschaft ermöglichen soll. Die Freiheit der Meinung nimmt den höchsten gesellschaftlichen Stellenwert ein: Jeder sollte die Freiheit haben, sich in einem offenen Diskurs zu beteiligen. Dieser setzte wiederum nicht nur die Freiheit, sondern auch die allgemeinverbindliche Kenntnis der Argumentationsprinzipien voraus (s. dazu Abschnitt 2, ad (3)). Die (politische) Philosophie der Balance meint also nicht nur Freiheit von Repressalien, sondern auch argumentative Durchsichtigkeit, Nachvollziehbarkeit und Kompromissbereitschaft.

2. Was ist Aufklärung? Bildung. Bildung war ein zentraler Begriff für die Hochaufklärung, auch wenn er erst in den 1780er Jahren prominent verwendet wurde. Nicht mehr der Gelehrte, sondern der Gebildete war es, der den intellektuellen Reichtum der Philosophie ausmachte; nur noch bedingt die Mitglieder der Professorenschaft, sondern – zumindest anfangs – die Akademien167, die gelehrten Gesellschaften und Kaffeehäuser, aber auch die vornehmlich von wohlhabenden Jüdinnen geführten Salons (z. B. derjenige von Henriette Herz) waren die Sammelbecken der Vordenker. Die mit der Etablierung des Bildungsbegriffs zusammenhängende, erst spät erfolgte Klärung dessen, was Aufklärung eigentlich sei, sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass die in Mendelssohns und Kants Aufsätzen gefundenen Bestimmungen nicht für die späte, sondern für die Hochaufklärung galten (vgl. Zammito 2002, 16). Mendelssohns 1784 niedergeschriebenes Verständnis von Aufklärung kann also auch zur Charakterisierung seiner früheren Werke angewandt werden. Der Aufklärungsaufsatz wirft damit ein Licht auf die politische Dimension der anderen Schriften, die vornehmlich mit der menschlichen Psychologie beschäftigt schienen und, auch in ästhetischer Hinsicht, das Denken, Wollen, Empfinden und Handeln des Menschen thematisierten. Die Berücksichtigung dieser weit gefassten Bereiche menschlichen Lebens veranlassten Mendelssohn, seinen Begriff der »Aufklärung« ebenfalls möglichst weit zu fassen, aber zugleich auch die Konflikte innerhalb und zwischen diesen Gebieten operationalisierbar zu machen. Dass ihm dies hinsichtlich eines tatsächlich konsistenten politischen Konzepts nicht gelungen ist, soll mit dem Folgenden gezeigt werden, nicht ohne zugleich zu167

Dazu C. Buschmann 1987 bzw. 1989a und b, Zammito 2002, 25, die den Zeitraum des größten Einflusses der Akademien von 1750 bis in die 1770er Jahre veranschlagen.

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

mindest auf fruchtbare Anknüpfungspunkte, die seine Ausführungen zeitigen, hinzuweisen. Neben der primär politischen Dimension der Bildung ist der aufkommende Gebrauch dieses Begriffs auch durch die Anknüpfung an physiologische Überlegungen, prominent derjenigen Albrecht Hallers, bestimmt und zeigt einen generellen Zug zur Hinwendung zu einem umfassenderen Verständnis. Haller hatte – parallel zur Differenzierung von Seele und Körper – zwischen der Sensitivität (der Nerven), die nur indirekt über das Gefühl erfahren werden kann, und der Irritabilität (Reizbarkeit der Muskeln), die sich als Kontraktion beobachten lässt, unterschieden. Diese Entdeckung stellte, um eine tatsächliche Begründung körperlicher Reaktionen und sinnlicher Gefühle liefern zu können, die Forscher wiederum vor die Aufgabe, deren Arbeitsweise erklären zu können. Doch sind weder die Nerven als Medium der sensitiven Eindrücke an sich sensitiv, noch spricht das Fleisch der Muskeln auf Reize an, sondern wiederum wiederholt sich hier der Dualismus der höheren Ebene. Die Hallersche Forschungsweise verlangte aber, die Wirkungsweise der Natur durch ein immer näheres Eindringen in ihre Gesetze erklären zu können, die letztlich diese Dualität nicht überwinden, sondern nur verfeinern konnte. »This structure of argumentation in which nature is conceived as a Russian doll, each shell encapsulating a smaller but similar shell, is not uncommon in 18th-century-science […] and it appealed to the period’s fascination with the sublime, the infinitely small and the infinitely large. But it is a static view that does not conceive of nature as a source of productive and innovative forces, and that consequently assigns to the natural sciences the task of repetitive uncovering rather than that of comprehensive understanding.« (Müller-Sievers 2004, 349) Dieser Ansatz genügte den Haller nachfolgenden Wissenschaftlern nicht mehr, die sich deshalb – auch unter dem Postulat einer ›lebendigeren‹ Wissenschaft – dem Bildungskonzept in der Natur, als eine Wissenschaft der Entstehung und Entwicklung zuwandten. Bildung in dieser Hinsicht soll dabei nicht nur die Entwicklung der Pflanze o. ä. im Sinne eines Naturvorgangs bedeuten, sondern geht darüber hinaus, indem sie den aktivischen und v. a. teleologischen Aspekt – Mendelssohn nennt dies: einen »Vorsatz« (JubA XIII, 235) – in den Vordergrund rückt.168 Menschliche Bildung bedeutet Aneignung in zwei Richtungen. Im Jerusalem hatte Mendelssohn sie mit »Erziehung« und »Regierung« umschrieben. Im Aufklärungsaufsatz sucht er sie deutlicher zu fassen, wobei er letztlich Bildung nicht als einen Besitz, sondern als eine Lebensart reformuliert (vgl. Zammito 2002, 29). Der aktivische Aspekt drückt sich auch in einigen die Begriffswahl flankierenden Gedanken dazu aus, weshalb diese Überlegungen nicht auf eine »Harmonisierung«, 168

Auf diese aktivische und auf die Verbesserung angelegte Redeweise weist schon die Verwendung des lat. Begriffs »cultura« bei Augustinus hin: »Cultura ipsius esse in nos« (Sermo 87, I/1, zit. nach Bollenbeck 1994, 40).

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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die eher den Abschluss einer Entwicklung bzw. Bewegung darstellte, sondern eine herstellbare und aufrecht zu erhaltene »Balance« hin ausgelegt verstanden werden müssen.169 Mit seinem Bildungskonzept bietet Mendelssohn darüber hinaus eine Antwort auf die zentrale Frage in der Aufklärungsdebatte, wie der aufgeklärte Bürger geschaffen werden könnte. Denn es waren die Aufklärer, wie beispielsweise die Mitglieder der Mittwochsgesellschaft selbst, »welche den nicht mehr standes- und in der Intention auf nicht klassengebundenen Begriff des mit unveräußerlichen Rechten und gesetzlich gesicherter politischer Freiheit ausgestatteten, aus vernünftiger Einsicht handelnden und am Gemeinwesen teilhabenden Bürgers ausformulierten und Bürgerlichkeit als öffentliche und praktische Verhaltensmoral, als Erziehungsziel und politische Tugend verkündeten.« (Vierhaus 1981, 10) Die Konstitutionsbedingungen eines solchen Bürgertums waren deshalb Gegenstand ihrer Überlegungen. Allerdings sind Mendelssohns Ansichten zu diesem Thema, wie sie sich u. a. im Aufklärungsaufsatz zeigen, »in Wahrheit eine Art Problemkatalog, eine gedrängte Zusammenfassung der Themen, die die damalige Aufklärungsdiskussion charakterisierten« und damit mehr Diskussionsbeitrag, als deren vollständige Lösung.170 Dabei versucht er, einen richtigen Begriff von Aufklärung zu entwickeln und ihn zugleich einzuordnen. Die Besonderheiten seines Ansatzes lassen sich wie folgt charakterisieren171: 1. Der Idee der Aufklärung stellt er das Konzept der Kultur an die Seite und ordnet beide dem umfassenderen Begriff der Bildung unter. 2. Daneben unterscheidet er zwischen einer Menschen- und Bürgeraufklärung, um schließlich 3. Kollisionsfälle zwischen Aufklärung und anderen menschlichen wie bürgerlichen Interessen zu behandeln. In diesem Rahmen findet sich seine Verteidigung 169

Den begrifflichen Vorzug der »Balance« im Gegensatz zur »Harmonie« (Altmann 1982, 25) betonen Hinske 1977, 537 f. und Albrecht 1983, 146: die Vorstellung der Balance wird dem dynamischen Aspekt dieser Idee eher gerecht. 170 So Hinske 1981, 88 zum Aufklärungsaufsatz. Altmann bezeichnet Kants Beitrag gegenüber Mendelssohns als ein »flammendes Manifesto der Freiheit«, dahingegen sich bei Mendelssohn »das »Bewusstsein einer Krise, in der die Aufklärung sich damals befand« (Altmann 1982, 13 f.) ausdrücke. Sie musste Mendelssohn auch ungleich härter treffen, denn seine Philosophie der Aufklärungszeit »ganz und gar zugehörte« (ebd.). Über den Eindruck einer »Krise« hinaus (siehe dazu Kap. II.1) jedoch dürfte Mendelssohns politische Agenda der Judenemanzipation bestimmend auf seine vorsichtigen Abwägungen gewirkt haben. 171 Ich lehne mich hier an die Auflistung bei Hinske 1981, 90 f. an; siehe auch K. Berghahn 2001, 94, der lediglich die Punkte 1–3 nennt. Allerdings weicht die obige Darstellung von Hinske ab, indem ich die Bestimmung des Menschen als eine Bedingung von Mendelssohns Überlegungen den weiteren Spezifizierungen voranstelle. Sie ist damit deutlicher gefasst als das umfassende, vorauszusetzende Moment, die »anthropologische Grundierung« von Mendelssohns praktischer Philosophie.

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der Meinungsfreiheit, die auch zur Verhinderung des zuletzt von ihm behandelten Aspekts, 4. der Dialektik der Aufklärung, dienen soll. Mit diesem vierten Punkt werde ich mich im anschließenden Teilkapitel (IV.4) näher auseinandersetzen. Die Besonderheit von Mendelssohns Ansatz ist, dass er ihn explizit unter eine umfassende Bedingung stellt: alle »Aufklärung«, worunter alle unter 1. genannten Bedeutungsaspekte fallen, muss sich an der Bestimmung des Menschen orientieren.172 Wie anhand der Bestimmungsdebatte mit Abbt schon gezeigt wurde, ist dabei die Bestimmung zweigliedrig und umfasst sowohl Definition wie Destination des Menschen. Diese Unterscheidung wird im Aufklärungsaufsatz schlicht vorausgesetzt; im gegebenen Rahmen konnte Mendelssohn auch von einem weitgehenden Konsens ausgehen. Das heißt für das Verständnis seiner Position, dass die definitio des Menschen als eines sinnlich wie vernünftig bestimmbaren und bestimmten Wesens für die Erklärung seiner Entwicklung zu berücksichtigen ist, sowie, dass die Aufklärung (im weiten Sinne) immer auf diese beiden Momente bezogen gedacht wird. Es überrascht daher wenig, dass Mendelssohn sie in zwei Momente aufspaltet, die der dualistischen definitio entsprechen und den dynamischen Charakter der Vervollkommnung hervorheben. Zugleich zeigen seine Überlegungen, dass er diese Dualität in einem umfassenden Moment zusammenzudenken bemüht ist, der als der Einheitspunkt des Bestrebens beider Aspekte verstanden werden kann und sich gerade nicht in der Ausübung intellektueller Fähigkeiten allein erschöpft. Die Definition des Menschen als eines der Vervollkommnung fähigen wie ihrer bedürftigen Wesens gründet, wie ebenfalls bereits gezeigt wurde (Kap. I), in der leibnizianischen Metaphysik. Das Prinzip der Monade als eines Kraftzentrums steht damit ebenfalls immer im Hintergrund auch der politischen Überlegungen: Alle Kräfte sind und müssen unaufhörlich wirksam sein, andernfalls wären sie inexistent. Zugleich zeitigt jede Kraftäußerung Veränderungen. Sie kann auch als ein Widerstand gegen eine andere Kraft bezeichnet werden. Die ständige Veränderung beruht also auf einer gewissen »Reibung«, in der diese ewige Veränderung festgelegt ist. Dass dies nun als »Fortschritt« bezeichnet werden kann, beruht auf der Anbindung der Kraftäußerung an das Perfektibilitätstheorem; so zumindest für Mendelssohn.173 Dass er 172 »Es bleibt jedoch immer noch die Aufgabe übrig, die Vielfalt der Kräfte, die die Ganzheit des Menschen ausmachen, auf ein metaphysisches Grundprinzip zurückzuführen.« (Altmann 1982, 24) 173 Vgl. seine Ausführungen in einem Brief an Iselin vom 10. September 1767, JubA XII/1, 143. Zusätzlich ließe sich hier mit Goetschel 2004, 47 daran zu erinnern, dass ein solches Modell der »Reibung« zweier Sphären – als zwei Seiten derselben Entität gedacht – auch für Spinoza zur Herausbildung des Individuums als notwendig aufgefasst werden. Auf das Problem eines im spinozistischen Modell inhärenten Naturalism (selbst wenn ein Determinism mit Goetschel 2004, 50 f. umgangen werden könnte) kann hier nicht weiter eingegangen werden; festzuhalten bliebe, dass

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seine Meinung seit der Bestimmungsdebatte nicht geändert hatte, zeigt eine mit ihr übereinstimmende Antwort auf die Frage August Hennings, der, beinahe in der Rolle Abbts, fragte: »Wozu der Mensch bestimmt sei?«, worauf Mendelssohn in seinem Brief vom 27. November 1784 antwortet: »Indessen dünkt mich, der Mensch sey bestimmt, alle seine Geistes- und Leibeskräfte und Fähigkeiten auszubilden; sich z. B. in Werken des Witzes und der Einbildungskraft so wie in allen Künsten der Schönheit und Verzierung des Leibes, sowohl als der Seele, zu üben und vollkommener zu machen.« (JubA XIII, 236) Hinske fasst die Konstituenten menschlicher Bestimmung in Hinsicht auf die Aufklärungsdiskussion wie folgt zusammen: Jeder Mensch hat seine individuelle »Widmung«, sich und seine ihm gegebenen Anlagen zu vervollkommnen. Aufklärung in ihrem weiteren Sinne als Bildung ist damit letztlich nur im Prinzip allgemein bestimmbar; ihre Inhalte sind individuell verschieden. Formal jedoch lässt sich eine Gemeinsamkeit ausmachen: Der Mensch braucht Widerstand, um seine eigenen Kräfte zu entwickeln.174 In Konfrontation mit der Wirklichkeit realisiert der Mensch das ihm Mögliche, wobei jegliche Ausbildung immer auf Vollkommenheit der individuellen Anlagen, auch auf deren Harmonie mit ihrer Umgebung, also mit anderen Menschen, abzweckt. Diese Vollkommenheit umfasst Theorie, zwischenmenschliche Praxis wie auch das Sinnliche und Schöne. Der Mensch ist demnach bestimmt, »[…] nach Wahrheit zu forschen, Schönheit zu lieben, Gutes zu wollen und das Beste zu thun.« (Anmerkungen zu Abbt, JubA VI/1, 48) Diese Vervollkommnung ist nicht auf das irdische Leben begrenzt; vielmehr ist die Grenze des Todes als keine endgültige Schranke ein spezifisch menschliches Merkmal: »Alles am Menschen verräth Unendlichkeit.« (ebd., 42) Alle Tätigkeit des Menschen weist damit immer über ihn hinaus. Der religiöse Aspekt des Mendelsohn’schen Menschenbildes zeigt deutlich, dass Aufklärung nicht sture Säkularisierung bedeutete, sondern einem leibnizianisch orientierten Bild der Vernunftreligion folgte. In der vorliegenden Debatte um die Aufklärung und ihrem Verhältnis zur Bestimmung des Menschen ist Mendelssohns Zusammendenken von Individuum und Allgemeinheit von besonderer Wichtigkeit: Neben einer Bestimmung der Aufklärung als einer umfassenden, zielgerichteten Bewegung, eines Programms, durfte niemals die Perspektive des Einzelnen vergessen werden.175 Seine Vervollkommnungsmög-

Mendelssohn dieser Sichtweise nicht ganz folgt, sondern hier mehr an Leibniz anschließt, dessen monistischer Ansatz, wenn überhaupt, eher idealistischer Natur ist. 174 Vgl. Hinske 1977, 526 f., sowie 1981, 97 ff. Dass Mendelssohns Auffassung hier wiederum derjenigen Spinozas nahesteht (vgl. Ethica Buch 3, Prop. 57; siehe Goetschel 2004, 49 f.) hat Hinske so nicht angemerkt. 175 Hinske 1981, 103 f. betont zu recht, dass Mendelssohn mit dieser Ansicht in der Mitt-

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lichkeiten und –fähigkeiten sind auch Kriterium und Begrenzung der Freiheit, um eine Dialektik der Aufklärung zu verhindern.

ad (1) Mendelssohns Definition der Aufklärung Mendelssohn leitet den Aufklärungsaufsatz mit einer neuartigen Differenzierung ein: Er spezifiziert Aufklärung als einen Teilbereich der Bildung. Den korrespondierenden Aspekt zur Aufklärung benennt er mit Kultur. »Bildung, Kultur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens; Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen ihren geselligen Zustand zu verbessern. […] Je mehr der gesellige Zustand eines Volks durch Kunst und Fleiß mit der Bestimmung des Menschen in Harmonie gebracht worden; desto mehr Bildung hat dieses Volk. Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung.« (JubA VI/1, 115) Damit fällt Bildung qua Oberbegriff die Priorität zu, die sich durch die Spezifizierung ihrer Teilbereiche weiter auszuweisen hat. Wie es Mendelssohn im erwähnten Brief an Hennings vom 27. November 1784 formuliert: »[…] es hat mir geschienen, als wenn Aufklärung mehr auf das Theoretische, Cultur hingegen mehr aufs Praktische sich anbringen lassen wollte. […] Aufklärung geht blos auf das Theoretische, auf Erkenntniß, auf Wegschaffung der Vorurtheile; Cultur hingegen auf Sitten, Geselligkeit, Künste, Thun und Lassen.« (JubA XIII, 235, 237) Aufklärung geht also auf das theoretische Wissen, Kultur auf dessen Ausführung. Doch das Bedingungsverhältnis zwischen beiden ist stärker, als es Mendelssohns Begriffsgebrauch vermuten lässt. Aufklärung, im Sinne des korrespondierenden Elements neben der Kultur, hat ihm zufolge eine begrenzte Gestalt: Sie geht auf die »vernünftige Erkenntniß (objekt.) und Fertigkeit (subj.) zum vernünftigen Nachdenken, über Dinge des menschlichen Lebens, nach Maaßgebung ihrer Wichtigkeit und ihres Einflusses in die Bestimmung des Menschen«. (JubA VI/1, 115) Die theoretische Seite meint Kenntnisse, vernunftgestütztes Nachdenken; mit der »Maaßgebung« ist jedoch bereits einen Anknüpfungspunkt der Kultur angesprochen. Wird das Maß der menschlichen Vervollkommnung abstrakt betrachtet, bewegen wir uns im Gebiet der Aufklärung. Ihre konkrete Umsetzung allerdings, die auf die Situiertheit des Individuums Rücksicht nimmt, muss auch die praktischen Dimensionen, und damit die Kultur berücksichtigen. Nur so findet der Umstand Beachtung, dass die Ausführung nicht nur das theoretische Wissen voraussetzt, sondern auch die erforderlichen Modi der Ausführung im wochsgesellschaft nicht allein stand. Siehe die Voten von Svarez am 23. Dezember 1783 und Gedike vom 16. Januar 1784; Siehe auch Keller 1896, 78 f. und 85.

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jeweils gegebenen Kontext beherrscht werden müssen; Mendelssohn nennt dies auch die Berücksichtigung der Schönheit und der Sitten. Die Anwendung erworbenen Wissens ist so nicht mechanisch, sondern auf den ganzen Menschen und seine kulturelle Situation bezogen zu denken, wobei nicht allein die theoretische Beherrschung der richtigen (aber nur symbolischen) Erkenntnisse, sondern auch der Wert und die Notwendigkeit der »anschauenden« Erkenntnis (vgl. Kap. II.2) zu betonen ist. Darüber hinaus repräsentiert die Kultur auch das sittliche ›Wissen‹, das Mendelssohn als auf den Menschen in der Gesellschaft hin ausgerichtet reformuliert. Der Begriff der Kultur ist, wie Mendelssohn selbst zu Beginn des Aufsatzes festhält, ebenso wie Aufklärung und Bildung ein »neuer Ankömmling« (JubA VI/1, 115)176; seine Anwendung ergab erwartungsgemäß einige Verständnisschwierigkeiten. Hennings verwendet ihn in einem Brief vom Juli 1782 zweideutig. Zum einen beschreibt er mit ihm in Anlehnung an die Botanik177 als »Pflege« oder »Aufrechterhaltung«: »Cultur können Pflanzen und Thiere, Aufklärung kann Menschen veredeln, aber ohne Cultur iedes Individui verfällt alles wieder.« (JubA XIII, 76) In seinem Brief vom 21. Oktober 1784 bezeichnet Hennings »Cultur« daneben als »Bearbeitung« (JubA XIII, 227 f.). Dabei lehnt er sich an die lateinische Wurzel colere (bewohnen, pflegen) an; ebenso findet sich diese Bedeutungsvariante in dem ersten auf »Cultur« referierenden Lexikonartikel. In seiner informativen, auf die sozialen Bedingungen der Begriffsbildung konzentrierten Studie zu den Begriffen Bildung und Kultur nennt Bollenbeck als älteste Eintragung die vierte Auflage von Walchs Philosophischen Lexicon von 1775, also neun Jahre vor Mendelssohns Aufsatz. Dort heißt es u. a. »Cultur, zeigt eine Verbesserung der Sache an, so durch hülfreiches Zuthun und Bemühen erreicht wird. Man sagt sowohl von leblosen als auch von lebenden Dingen, sie sind 176

»Kultur« als philosophischer Begriff beginnt bei Samuel Pufendorf »cultura animi« bzw. »vita cultura« zur Bezeichnung des Bemühens, den »status naturalis« zu überwinden. Velkley 2002, 15 zufolge meint der Begriff hier v. a. eine Überwindungslehre vom »natural barbarism«; ob nun durch an Cicero angelehnte teleologische Erziehungskonzepte, oder über andere Wege. Hennings gegenüber nennt Mendelssohn Kultur einen »Fremdling in der Sprache«, ein »vieldeutiges Wort« (Brief vom 17. November 1784, JubA XIII, 234 f.). Laut der Studie Bollenbecks (1994) war Mendelssohn nicht der Schöpfer des modernen Kultur- und Bildungsbegriffs; allerdings hat er sie an prominenter Stelle in die Debatte eingebracht. Herder als einen wichtigen Autor zur »Bildung« erwähnt Mendelssohn in dieser Hinsicht übrigens gar nicht; allerdings hatte dieser den Begriff schon 1774 in einen Titel aufgenommen (Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit) und das Begriffspaar Aufklärung und Bildung ebenfalls erwähnt (Werke 4, 87). Sein organologischer Begriff dieser »goldenen Kette« (vgl. Bollenbeck 1994, 120) ist jedoch auch dem normativen Bildungsbegriff Mendelssohns allzu fern. Der Beobachtung Bollenbecks, dass Herder mehr als Mendelssohn den »Menschen«, nicht den »Professionisten« herausstelle, ist allerdings nicht zuzustimmen (vgl. ebd., 124); vgl. dazu ausführlicher Kap. V.2. 177 In einer ähnlichen Weise wurde auch der Begriff der Aufklärung noch im 17. Jahrhundert als Synonym für »Ausklärung« zur Kennzeichnung eines Wetterwandels verwendet (vgl. Schmidt 1992, 79 f.)

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cultivirt, wenn sie nämlich in einen vollkommenern Zustand versetzet worden, in welchem sie nicht von Natur sich befinden. Man cultivirt den Ackerbau, die Pflanzen, Blumen, Menschen u. s. w.«178 Mendelssohn lag ganz offensichtlich daran, den Anwendungsbereich des Bildungsbegriffs auf den Menschen einzuengen und letztlich die Differenzierung zwischen Natur und Kultur zu verstärken. Dabei schwebt ihm ein an die Pflanzen- oder Tierwelt angelehnter Begriff ebenso wenig vor wie die von Velkley in Bezug auf Rousseau als »folk-spirit« umrissene Bedeutungsdimension.179 Vielmehr meinte er mit Kultivierung das durch das lateinische excolere (ausbilden, verfeinern) bezeichnete Bedeutungsfeld. Es ist die praktische Umsetzung der Aufklärung, die jedoch durch die Orientierung an der Bestimmung des Menschen – und damit in Anlehnung an die oben formulierte naturrechtliche Position eine Zielsetzung in der Glückseligkeit qua Vervollkommnung – eine bestimmte Richtung erhält. Sie meint eine Spezifizierung der allgemeinen Forderung nach Vervollkommnung als Verfeinerung des Gewussten, indem es als auf einen Zweck hin anzuwendend gedacht wird. In diesem Sinne weist Mendelssohn auch auf die Bedeutung »verehren« hin, für die ebenfalls colere gebräuchlich war und was ebenfalls den Aspekt der »Erhaltung« in sich birgt. »Cultur setzt also allezeit Bearbeitung des Nutzens willen zum voraus. Mühanwendung, damit eine Absicht erreicht werde, scheint also etwas vorsätzliches zu seyn; da hingegen Aufklärung den Begriff des Vorsatzes wenigstens

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Walch, Bd. I, Sp. 1536, vgl. Bollenbeck 1994, 312. Laut Bollenbeck 1994, 55–61 ist es Pufendorf, der den Begriff der Kultur für die deutschsprachige Tradition wenn nicht einführt, so doch ihn initiiert. Seine in Hinblick auf das Naturrecht in Rückgriff auf Ciceros »cultura animi« (als Pflicht gegen sich selbst) in der zweiten Auflage De jure naturae et gentium (1684) enthaltenen Ausführungen zeigen den Wandel des »cultura«-Begriffs, »nämlich die systematische Betrachtung von Gesellschaft und Geschichte (in eingeschränkten Sinne [denn Pufendorfs Denken fehlte die »geschichtsphilosophische Dimension«, ebd., 59]), von politisch-rechtlichen wie zivilisatorischtechnischen Zuständen, von Herrschaft und Staatsbildung aufgrund anthropologischer Annahmen, die den Menschen als entwicklungsbedürftiges und entwicklungsfähiges Mängelwesen beschreiben.« (ebd., 60) Das Wort findet sich dann zuerst in Leibniz’ Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache (1717), es setzte sich im Deutschen aber erst in Anlehnung an die Kameralistik durch (vgl. Bollenbeck 1994, 61 ff., der die Remineszenzen dieser funktionalistischen Verwendungsweise in den noch immer gebräuchlichen Ausdrücken der »Ess-« oder »Gesprächskultur« aufweist). Der intensionale Gehalt der »Verbesserung«, und damit die Verwendungsweise, die auch Mendelssohn vorschwebte, setzte sich Bollenbeck zufolge erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts durch »die Verzeitlichung und durch die diskursive Dynamik in der bürgerlichen Öffentlichkeit« (ebd., 68) durch, wozu die Bemühung Mendelssohns und anderer Mitglieder der Berliner Mittwochsgesellschaft (vgl. ebd., 68–86 mit weiteren Nennungen) beitrugen. In seinem hohen Abstraktionsgrad ermöglichte dieser Begriff es wie »Fortschritt«, oder »Zivilisation« eine Verwendung als ein »regulatives Prinzip geschichtlichen Erkennens und zukünftiger Planung«, ja sie machen das Phänomen des Fortschritts »beschreibbar« (ebd., 82) 179 Velkley 2002, 13 im Anschluss an Rousseaus Verständnis; der verbindliche Begriff im Französischen (wie Englischen) war allerdings nicht Kultur, sondern »Civilisation« (vgl. Bollenbeck 1994, 47–52).

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nicht voraussetzt.« (JubA XIII, 235) Velkley bezeichnet dies als »culture as cultivation of inwardness or free individuality«180 und meint damit gerade in Absetzung zu Rousseau die soziale Interaktion und Sittlichkeit aufgeklärter Individuen in einer Gesellschaft. Kultur ist Umgangsform und Sittlichkeit; sie ist Begrenzung der Aufklärung und ermöglicht zugleich deren Praktikabilität. Dabei erstreckt sich ihr Wert, wie Mendelssohn nahezulegen scheint, nicht allein auf Sitten des Umgangs und der Geselligkeit, sondern auch auf Künste und Wissenschaften (vgl. JubA VI/1, 115, ebenso JubA XIII, 235), die zweifellos für den »Menschen als Mensch« betrachtet (ebd., 116) von Bedeutung sind. Mendelssohn selbst ist demnach inkonsequent, wenn er in demselben Aufsatz statuiert, der Mensch als Mensch brauche keine Kultur (ebd.); es sei denn, man versteht hier unter Kultur deren Schwundform als einer bloßen »Politur« (ebd.) des rein Äußerlichen, dass den ungesellig gedachten Menschen tatsächlich, so in Anschluss an Rousseau, nicht interessieren muss. Eine weitere Möglichkeit ist, dass er hier das praktische Wissen in Wissenschaften und Künsten, welches im gewissen Sinne auch der solitär verstandene Mensch benötigt, dem praktischen Wissen um die Sittlichkeit, also die sozialen Umgangsformen und Handlungen, entgegensetzt und seine Aussage lediglich auf den letzteren Aspekt bezieht. Mendelssohns Begriffsverwendung im Aufklärungsaufsatz ist, wie das Vorangegangene zeigt, nicht frei von Inkonsistenzen. Dies liegt jedoch m. E. weniger daran, dass er sich des Bedeutungsumfangs unsicher gewesen sei, als vielmehr daran, dass er in einigen Absätzen von einer defizienten, scheinbaren Kultur spricht, die bloß das Äußerliche meint. In anderen Absätzen wird darüber hinaus deutlich, dass die tatsächliche Kultur nur dort existiert, wo auch eine ebenso entwickelte Stufe der Aufklärung zu verzeichnen ist.181 Aufklärung und Kultur im eigentlichen Sinn sind damit zwei Seiten einer Medaille; in ihrer Vollkommenheit meinen sie die vollständige Ausrichtung des Denkens und Handelns, sowie des gesellschaftlichen Umgangs unter dem Zweck der Glückseligkeit. Wo nur theoretischer Fortschritt herrscht, aber keine Angleichung des Menschen an ihn, dort ist keine Kultur, aber auch keine Aufklärung im eigentlichen Sinne. Bloß äußerliche Kultur dagegen ist Verweichlichung und Ästhetisierung der Sitten. Mendelssohn formuliert es schärfer: wo sich beides nicht auf einem Niveau befindet, ist nicht nur keine Bildung, sondern auch weder

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Velkley 2002, 18. Bei Rousseau wurden beide Begriffe, unangesehen ihrer Spannung gegeneinander, zugleich verwendet; »The common ground of the two notions is the idea, developed most profoundly in Rousseau, that human wholeness is achievable only through the recovery of or approximation to an original prediscursive or prerational natural unity.« (ebd., 13) 181 Die Vorzüge der Nichtfestlegbarkeit des popularphilosophischen Kulturbegriffs betont auch Bollenbeck 1994, 88–91. In diesem Sinne ist Mendelssohns Bestreben, die genannten Begriffe nun festzusetzen, mit dem eigenen Programm nicht zu vereinbaren und mithin überflüssig.

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

Aufklärung noch Kultur.182 (Streng genommen, dürfte er also im eigenen Aufsatz die Begriffe erst verwenden, wenn er ihre vollkommene Ausformung beschreibt.) Dies ist auch in Bezug auf seine Verwendung des Zweckbegriffs konsequent. Im Brief an Hennings hatte er den Bezug zwischen Aufklärung und Vollkommenheit sowie Kultur und Schönheit betont (vgl. JubA XIII, 236); letztendlich jedoch fielen in einer menschlichen Vollkommenheit beide Aspekte ineins. Eine rationale Vollkommenheit ohne Schönheit im Sinne der Fasslichkeit ist dem Menschen nicht zugänglich und lässt eine Ausbildung aller Fähigkeiten nicht zu; dies war die Essenz der Ästhetik. Erst beides zusammen – universelle Ratio und begrenzende Sinnlichkeit – ergibt das menschlich Beste. Menschliche Vollkommenheit ist damit in letzter Konsequenz auf theoretisches und praktisches Wissen, sowie deren Anwendungsbedingungen und sogar Schönheit angewiesen. Der Oberbegriff der Bildung ist damit nicht nur ein Sammel-, sondern vielmehr ein Funktionsbegriff, der die Herausbildung eines ausgewogenen Verhältnisses von Aufklärung und Kultur bezeichnet. Die von Zöllner und Selle angesprochene Aufklärung selbst im wahrsten Sinne (Bildung) ist also gegeben, wenn der Mensch tatsächlich zu seiner Bestimmung gelangt, wenn die Ausbildung seiner theoretischen Fertigkeiten (Aufklärung), vollendet und mit den praktischen Fertigkeiten (Kultur) versöhnt ist. Es wird also bei näherer Betrachtung klar – und hat sich als Verdacht in Hinsicht auf Mendelssohns Betonung der Vervollkommnung als Prozess bereits angekündigt –, dass er das Fortschreiten zur Vollkommenheit weitaus höher ansiedelt als ihren »Besitz«.183 Mit anderen Worten: Bildung, Aufklärung und Kultur meinen Prozess wie Ergebnis; Glückseligkeit ist nicht der Genuss, sondern das tätige, alle Seiten ansprechende Leben.184 Deutlich sind hier die Anleihen an Shaftesbury, dessen Vorstellung einer Schöpfung des Schönen und Guten nach seiner ihm innewohnenden Idee (»formation«) schon in der ersten Übersetzung des Soliloquy (1710) durch »bilden« und »Bildung« wiedergegeben wurde.185 182

Vgl. Jerusalem, 110 ff. In der Reflexion »Von dem Worte Kunst« weist Mendelssohn auf das notwendige gegenseitige Ergänzungsverhältnis hin: ohne die Kunst im Sinne der »techne« gibt es keine vernünftige Ausführung auch noch so vernünftig scheinender Gedanken. Oder, anders gesagt: Das Wissen um eine Sache macht noch lange nicht die Sache selbst. Im Kontext: Aufklärung ohne Kultur ist zwecklos, folgenlos, weshalb beide, »an und für sich betrachtet, (objektive) […] in dem genauesten Zusammenhange« stehen (JubA VI/1, 116), oder nicht vorhanden sind. 183 Vgl. Altmann 1982, 26; mit Vergleich zu Lessings Nathan. Bisweilen ist der Prozess dem Ergebnis vorzuziehen, denn wo nichts mehr zu bekämpfen ist, erschlafft das Selberdenken: »Ohne Kampf mit Vorurtheilen verwandelt sich die Vernunft selbst in eine frostige Nachahmung, und der Trieb zur Originalität führt wieder zu Vorurtheil und Aberglauben zurück.« (JubA VIII, 227) 184 In dieser Hinsicht ist Mendelssohn auch der epikureischen Richtung der Philosophie nicht fern; er teilt allerdings nicht ihre anti-stoischen Voraussetzungen. Seine Form eines »geläuterten Epikureism« ist vielmehr der lebensfrohe Stoiker, vgl. Kap. III.2, 301. 185 Siehe die Unterredung Antons [sic], Grafens von Shaftesburys, mit sich selbst, oder Unterricht für Schriftsteller, übers. v. Georg Vensky, Magdeburg/Leipzig 1738 (vgl. Bollenbeck 1994, 115 f.).

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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In Anbetracht dieser Bedeutungsdimensionen, die sich vollständig aus den bislang analysierten Aspekten des Mendelsohn’schen Menschenbilds herleiten ließ, wird die erstarkende Attraktivität des Bildungsbegriffs deutlich. »Daß der Begriff der Bildung schon bald nach dieser Feststellung [dem Aufklärungsaufsatz, A.P.] in der deutschen literarischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit Konjunktur haben sollte, ist wahrscheinlich weniger das Verdienst Mendelssohns als das von Autoren wie Wieland, Herder und selbstverständlich Goethe. Mendelssohns Ausführungen zum Bildungsbegriff können allerdings erklären, warum dieser so attraktiv werden konnte.«186 Die bei ihm ausgearbeitete Theorie der Verknüpfung von Natur und Geist war damit freilich noch nicht das letzte Wort. In der Folgezeit wurde sie unter dem kantischen Stichwort der »Autonomie der Vernunft«, der dennoch ein Bezug zur den Menschen umgebenden Natur beigeordnet werden sollte, erneut zu einem Problem. Schon in Mendelssohns Begriffsbestimmung sind jedoch, so Greiner, bereits die Grundlinien auch dieses Konflikts angedeutet. Er habe »am Begriff der Bildung ein Zugleich entgegengesetzter Orientierungen akzentuiert« und diese »dynamisiert«, indem er »er als Maßstab für beide Kenntnisse und Fertigkeiten [Aufklärung und Kultur] die ›Bestimmung des Menschen‹ einführt.« (Greiner 2003, 96) Mendelssohn unterscheidet dabei, und dies ist zum Verständnis seiner Position von großer Bedeutung, einen statischen und einen dynamischen Aufklärungsbegriff. Kants Diktion gemäß, kann man auch bei ihm zwischen dem aufgeklärten Zeitalter und dem der Aufklärung unterscheiden. Deutlich wird das Verständnis Mendelssohns für diese Auffassung in seinen Ausführungen zu Kants Aufklärungsaufsatz in einem Votum der Mittwochsgesellschaft. Dort weist er auf die von Kant explizit gemachte Differenzierung hin: Aufklärung heiße der Prozess, Aufgeklärtheit das Ergebnis – als ein Zugeständnis an die Kantische Position ist das Moment des Zusammenspiels von Kultur und Aufklärung in der Bildung hier unter dem umfassenderen Begriff von Aufklärung (im landläufigen Sinne) zusammengedacht. »Zustand der Aufklärung [und gemeint wäre hier: der Bildung, bzw. der genannten umfassenderen Aufklärung; A.P.] ist zuweilen besser, als Zustand der Aufgeklärtheit. Wenn der Widerstand gehoben ist, so erschlafft die Federkraft. Der Trieb zur Wahrheit verliert seinen Sporn, und die herrschenden Grundsätze verkennen die Vernunft, von der sie herstammen, und hören auf vernünftig zu seyn. Ohne Kampf mit Vorurtheilen verwandelt sich die Vernunft selbst in eine frostige Nachahmung, und der Trieb zur Originalität führt wieder zu Vorurtheil und Aberglauben zurück.« (JubA VIII, 227) 186

Greiner 2003, 95. Bollenbeck 1994, 98 betont die zur Jahrhundertwende stärker werdende Tendenz, den umfassenden Kulturbegriff durch den (schöngeistigen) der Bildung zu ersetzen. Eine »zweckfreie, geistige« Bildung geht allerdings über die Begrifflichkeit Mendelssohns deutlich hinaus.

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

Auch für die Interpretation anderer Voten im Umkreis der Diskussion in der Mittwochsgesellschaft ist diese Begriffsspezifizierung im Hinterkopf zu behalten. So spricht Mendelssohn in seiner Notiz »Soll man der einreißenden Schwärmerey durch Satyre oder durch äußere Verbindung entgegenarbeiten« (1785 im Februarheft der Berlinischen Monatsschrift erschienen, JubA VI/1, 137–41)187 ebenfalls von Aufklärung, wenn eigentlich Kultur gemeint ist. Der wahrhaft aufgeklärte Anhänger von Shaftesburys »test of ridicule«, so Mendelssohn, begegnet den aufzuklärenden Mitmenschen nicht mit Spott und Satire, sondern mit einer humanen Form des Mitleids, das nicht Verachtung impliziert, sondern auf eine freundliche Lenkung der Aufmerksamkeit auf Defizite (vgl. JubA VI/1, 140) zielt. Hier zeigt sich ein Bewusstsein von der Einsetzung aufklärerischer Wahrheiten, das er im Aufklärungsaufsatz mit Kultur übersetzt hatte, denn erst diese nimmt Rücksicht auf die Zuträglichkeit der »Wegschaffung der Vorurtheile« (JubA XIII, 237).

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Siehe auch die Preisfrage der »Patriotischen Gesellschaft« in Basel von 1763: »Finden sich dergleichen Vorurtheile, die Ehrerbietung verdienen, und die ein guter Bürger öffentlich anzugreifen sich ein Bedenken machen soll?« Eine Antwort Abbts dazu ist in seinen Vermischten Werken, Bd. IV, 137–88 (dort zum ersten Mal abgedruckt, siehe ebd., Inhaltsverzeichnis) erhalten. Mendelssohn kann sie erst um 1780 gekannt haben, da Abbt, so Nicolai in der Vorrede im sechsten Band der Werke, diese Schrift nie erwähnt habe (vgl. ebd., XVII f.). Dieser betont v. a. die konservative Funktion der Erhaltung von Vorurteilen zum Besten der Gesellschaft, die nun mal immer Mitglieder habe, die sich aus verschiedenen Gründen nur unzureichend aufklären könnten. Ihnen ihre Vorurteile zu nehmen, hieße, sie zu blenden, so dass sie überhaupt nichts mehr sähen (vgl. erster Abschnitt, 156 ff.). Manchen Vorurteilen sei dennoch mit »Ehrerbietung« zu begegnen; nicht, weil man diese absolut, sondern gemäß der gegebenen Situation für das Beste hielte (vgl. ebd. 159), indem sie die Gesellschaftsordnung aufrecht erhalten. Wenn Vorurteile aber diese Ordnung stören (wobei Abbt an die bürgerliche Ordnung einer Republik zu denken scheint, vgl. 151 f., 167), »hört das Gebot des Schweigens auf« (165). Ist der Mensch ein guter Bürger, so sind seine Vorurteile nicht per se auszuräumen: »Seine Vorurtheile werden verzeihbar, weil er ein Mensch ist; werden gut, in wie fern er Bürger, und an seiner Stelle ist.« (167) Vorurteile gelten Abbt in diesem Sinne als legitime »Bewegungsgründe« zur Ausübung der bürgerlichen Pflichten (151 f., 169 f.). Im Sinne politischer Bewegung wird dieser Begriff kaum verwandt, da er sich laut Abbt auf jede Staatsform, die dem »Besten« der Bürger diene, beziehen könne. Was das Beste der Bürger sei, bleibt hier unbestimmt (Abbt nennt: Schutz des Eigentums, Sorge für Mitbürger, Patriotismus und damit verbunden, den »Tod fürs Vaterland«, vgl. dritter Abschnitt, 166–81). Erst im vierten Abschnitt, explizit als ein »Anhang« deklariert (181), kommt Abbt auf die Ausräumung auch der nützlichen Vorurteile zu sprechen. Hier gilt ihm v. a. die Ausräumung der Xenophobie durch Kenntnis anderer Länder, Sprachen, Künste und Sitten (185 f.), sowie die richtige Literatur, die den Verstand in richtiger Weise fordert (187 f.), als ein wichtiger Bestandteil des Fortschritts eines »Volks«. In diesem Sinne ist auch Abbts Schrift, mit Abstrichen, da er zu vage bleibt, als eine vorsichtige Aufklärungsschrift zu lesen. »Seine selbständigen politisch- moralischen Studien Vom Verdienste (1765) und Vom Tode für das Vaterland (1761) bildeten wesentliche Anstöße eines umfassenden Politisierungsprozesses der Aufklärungsgesellschaft.« (Bödeker 1981, 225) Mit Mendelssohn hat er sich über seinen Entwurf zur oben genannten Preisfrage zumindest brieflich nicht ausgetauscht.

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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Mendelssohn scheint also mit seinem Aufklärungskonzept einen Weg zu suchen, die bestimmenden Faktoren menschlichen Lebens, Erkenntnis und Sinnlichkeit, in einem umfassenden, gesellschaftsbezogenen Begriff miteinander zu koordinieren. Der Hinweis auf die menschliche Bestimmung lässt sich dabei im Rückgriff auf die bisherigen Überlegungen als Bezugnahme auf die Konstituenten der eigenen philosophischen Auffassung, die sich seit den 1750er Jahren herausgebildet hatte, verstehen.

ad (2) Mensch und Bürger Systematisch betrachtet, war das Aufklärungsprojekt auf alle Menschen hin angelegt. Eindimensional als bloße »Menschen« hat jedoch auch Mendelssohn die, die da der Aufklärung harren, nicht verstanden. Ebenso, wie er den Begriff differenziert, sieht er auch die Adressaten in verschiedenen Kontexten und Ausprägungen begriffen, die zwar nicht immer mit der im Begriff der Bildung angedachten Differenzierung vollkommen übereinstimmen, jedoch aus dieser die spezifische Ausprägung der angedachten Rollen gewinnen. Die Entwicklung einer Gesellschaft zielt dabei auch über die Verbesserung Einzelner zur Verbesserung des Ganzen et vice versa. Damit gewinnt die Unterteilung in verschiedene Ebenen der Aufklärung eine politische Dimension. Mendelssohn war sich darüber im Klaren, dass die individuelle »Widmung« und ein gleichzeitig notwendiges gesellschaftliches Zusammenleben im Staat verschiedene Rollen der Menschen verlangt. So betont er schon im Aufklärungsaufsatz: »Die Aufklärung, die den Menschen als Mensch interessirt, ist allgemein ohne Unterschied der Stände« (JubA VI/1, 117). Sie geht, gemäß der einleitenden Distinktion, auf die Verbesserung der theoretischen Kenntnisse und muss allen gleichermaßen zugänglich sein. Dabei geht es Mendelssohn jedoch nicht, wie beispielsweise Abbt, um die Etablierung eines popularphilosophischen »Bürgerkatechismus« (Bödeker 1981, 237 f.), der die Unterschiede zwischen wissenschaftlicher Forschung und feierabendlicher Überlegung einreißen könnte, sondern vielmehr um eine Leerstelle im Staatswesen, die allen Mitgliedern der Gesellschaft Freiheit der Gedanken ermöglicht. In ein politisches Konzept übersetzt – was sich bei Mendelssohn so nicht findet – entsprächen dieser Forderung der gleichberechtigte Zugang zu Bildungs- und Ausbildungsstätten, sowie die »Freiheit der Feder«. Was sich bei ihm durchaus und in expliziter Form findet, ist der Freiraum zur Religion; ich komme später (Teilkapitel IV.4) darauf zurück. Desweiteren nennt er »die Aufklärung des Menschen als Bürger betrachtet«. Diese »modificiert sich nach Stand und Beruf. Die Bestimmung des Menschen setzet hier abermals seiner Bestrebung Maaß und Ziel.« (JubA VI/1, 117) Auch die Kultur spielt in dieser Hinsicht eine Rolle, denn sie bezieht sich auf den Menschen als geselliges

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Wesen, »indem alle praktischen Vollkommenheiten bloß in Beziehung auf das gesellschaftliche Leben einen Werth haben« (JubA VI/1, 116). Dabei gesteht er dem Menschen als Bürger eine symbolische Dimension188 zu: er handelt, als ob er die ganze Menschheit (und damit auch: eine ideale Gesellschaft) verträte. Wiederum betont er hier den Konstruktionscharakter einer übergeordneten Gattung, die als eine Art regulatives Prinzip des Handelns eingesetzt wird. Auch die nach Stand und Beruf eingeschränkte Bürgeraufklärung (gemeint ist hier: berufs- und standesbezogenes Fachwissen) besitzt einen allgemeingültigen Zug, denn sie ist immer auch praktisch wirksam. Sie fördert damit, und wiederum wird die Grenze zur Kultur fließend, nicht das Wissen an sich, sondern das nötige Wissen zum Leben, den Bezug zum Konkreten (vgl. Hinske 1981, 102). Der Gefahr, einzelnen gesellschaftlichen Klassen den Zugang zu bestimmten Wissensgebieten unter dem Vorwand zu verwehren, diese beförderten nicht das ihnen spezifische Fachwissen, stellt sich Mendelssohn entgegen. Es gilt das Primat der Aufklärung als schichtübergreifendes Unternehmen. Die Bestimmung des Menschen als Menschen, nicht als Bürger, behielten beim Zugang zur Ausbildung das letzte Wort. Unschwer zu erkennen ist hier Mendelssohns Kritik an der gängigen Praxis, gerade den Juden bestimmte Ausbildungszweige zu verwehren bzw. den Zugang zur universitären Bildung zu restringieren unter dem Vorwand, dieses fördere nicht ihre »Bestimmung«. In diesen bei Mendelssohn sehr knapp gehaltenen Ausführungen bleibt der Begriff der Gesellschaft etwas blass; er wäre im gegebenen Zusammenhang eher mit der Eigenverantwortlichkeit des Individuums zu übersetzen, enthält aber nur grobe Umrisse einer politischen Idee. Konkrete, vor allem politisch ausdeutbare Kategorisierungen sind Mendelssohn allein mit dieser Unterscheidung kaum gelungen. Es sei, so schreibt er an Hennings am 27. November 1784 mit Bezug auf die Verpflichtung zum Abbau von Vorurteilen, immer des »Aufklärers« eigene Angelegenheit, in welchem Maße er auf seine Umgebung wirken solle: »[D]ie Entscheidung muß ihm selbst überlassen werden, und keine öffentliche Anstalt darf hierin Maaß und Ziel setzen.« (JubA XIII, 237) Praktikabel ist eine solche Haltung nur bedingt. Die grundlegendste Form der politischen Beteiligung ist die Meinungsfreiheit, die Mendelssohn schon im Jerusalem so scharf verteidigt hatte. Sie allein ist es, die eine »Anarchie« sowohl in Politik als auch Philosophie als praktischer, und damit öffentlich wirksamer Weltweisheit verhindern kann. In der Evidenzschrift spricht 188

So auch Gleissner 1988, 114: Mendelssohn »politisiert den schon in der Frühgeschichte der ästhetischen Humanitätsidee anzutreffenden und von ihm selbst nicht selten bekräftigten Gedanken, daß einzelne Menschen – als mikrokosmisch organisierte Individuen – niemals unmittelbar die großen Linien der aufs Vollkommene zielenden Gattungsgeschichte repräsentieren, indem er die überkommene Art der Unterscheidung zwischen Individuum und Spezies auf das Verhältnis von Privatmann und Staatsbürger bezieht.«

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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er das Unternehmen der öffentlichen Ausbalancierung zwischen »Anarchie« und »Despotismus« zum ersten Mal aus. Dabei reformuliert er auch hier das Prinzip der »Reibung«, des Widerspruchs und des Streits um das bessere Argument als das Grundprinzip einer lebendigen Gemeinschaft. »In jeder Republik ist der Geist des Widerspruchs nicht nur eine nothwendige Folge, sondern öfters auch eine heilsame Stütze der Freyheit und des allgemeinen Wohlstandes. Nicht jeder Republikaner hat die Fähigkeit das Ruder zu führen, oder dem Steuermann zu rathen; aber die Freyheit will, daß jedermann seine Meynung sage, so ungereimt sie auch sey, damit sich niemand einkommen lasse, seinen Eigenwillen für weisen Rathschluß auszugeben, und seinen Mitbürgern aufzudringen.« (JubA II, 296) Im Sinne einer Äußerung der persönlichen Meinung wird also zwischen Steuermann und Matrose, d. i. zwischen der politischen Führungsschicht und den einfachen Bürgern nicht unterschieden. Zwar ist nicht jeder gleichermaßen qualifiziert, doch muss zur Verhinderung eines Despotismus prinzipiell jeder die Möglichkeit haben, seine Meinung frei zu äußern. Der wichtigste Aspekt ist hier, dass die Möglichkeit, selbst zu denken, offengehalten werden muss. »Dieselbe Beschaffenheit hat es mit der philosophischen Freyheit. Da nicht jeder die Fähigkeit hat, die Lehrsätze der Weltweisheit zu prüfen; so ist es besser, daß er seinen geringen Einsichten gemäß urtheile, als daß er einen philosophischen Pabst [sic] erkenne, und blindlings nachgehe, wohin ihn jener führen will. Wer sich über diese Freyheit beklagt, der hegt despotische Absichten, und ist ein gefährlicher Bürger in der Republik der Weltweisheit.« (JubA II, 296 f.)189 Zugleich ist mit dem Hinweis auf die freie Meinungsäußerung ein Punkt gegeben, der die Differenzierung zwischen Bürger und Mensch schärfer konturiert. Dabei gehen Kants wie Mendelssohns diesbezügliche Überlegungen zurück auf die von der Mittwochsgesellschaft eingehend diskutierten Bedingungen der Differenzierung zwischen Amt und Privatsphäre, öffentlichem Gehorsam und privater (Glaubens-)Freiheit, die sich ebenfalls vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheitsdebatte abspielten. In einem 1784 anonym in der Berlinischen Monatsschrift erschienenen Aufsatz »Ueber Denk- und Drukfreiheit. An Fürsten, Minister und Schriftsteller« wird dies in die Unterscheidung von »Subordination« und der »Freiheit zu denken« gefasst und damit ein Grundzug der beiden Aufklärungsaufsätze präfiguriert.190 189 Im Votum »über die Freiheit, seine Meinung zu sagen« (JubA VI/1, 121–25, 123) äußert Mendelssohn sich noch bestimmter: »Wenn die Freiheit des Menschen, seine Meinung zu sagen, eingeschränkt werden soll, so muß die eiserne Macht es thun, nicht die Vernunft.« 190 Siehe Berlinische Monatsschrift, Teil III, 1784, 312–30, hier 326 (zit. unter Angabe der Originalpaginierung nach Hinske 1977, 389–407; Hinske weist auf diesen Aufsatz auch in seiner Einleitung hin, s. ebd. L f.). Dabei wird als vornehmliches Interesse die Machterhaltung Friedrichs II. namhaft gemacht: ein Herrscher, der sich frei kritisieren lässt, ist mächtiger als einer, der seine Kritiker unterdrückt und ihrer Kritik damit etwas Erratisches verleiht (vgl. ebd., 316), sowie seine Untertanen in »Dummheit und Trägheit« (329) durch den alleinigen Zugang zu obsoleten wissen-

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Letztlich diene, so die Essenz dieses Aufsatzes, das Zusammenspiel aus beiden Aspekten erst einem sicheren Staat sowie der Erfüllung menschlicher Bestimmung. Hält Mendelssohn im Aufklärungsaufsatz noch an der Einheit der Person und damit der Unlösbarkeit eines solchen Konflikts fest, knüpft er in weiteren Überlegungen an die hier angedachte und von Kant191 ausgeführte Unterscheidung an und unterscheidet im oben genannten Votum »Öffentlicher und Privatgebrauch der Vernunft«, etwas besser verständlich, zwischen »Berufsgeschäften« und »Außerberufsgeschäften« (JubA VIII, 225–29, 228). Die Philosophie nimmt dabei die Position einer Mittlerin und Wächterin ein: denn sie untersucht gerade die Grenzgebiete zwischen diesen beiden Sphären, ermittelt Unterscheidungskriterien und Instrumente der Konfliktbewältigung, ohne sich von einer der beiden Sphären vereinnahmen zu lassen. Mendelssohn unterscheidet damit zwischen Privatmeinungen und solchen, die die Gesellschaft und deren Funktionieren betreffen. Ist man nun mit Geschäften für die Allgemeinheit betraut (also im Amt), so griffe man in die Freiheit der anderen ein, wenn man hier seine Vernunft nach eigenem Ermessen gebrauche. Eine hier geübte Eigensinnigkeit verhindere vielmehr den Fortbestand der Gesellschaft, die der Amtsinhaber repräsentiert. Zusätzlich höbe sich, so Mendelssohn, der Amtmann, der seine Privatmeinung über die im Amt zu vertretene stellt, über die »Mehrheit« hinweg.192 In »Berufsgeschäften« gilt also: Räsonniere, aber gehorche!193 Dennoch muss der entgegenstehende, zuweilen destruktiv-dysfunktionale, aber freie und Fortschritt fördernde Vernunftgebrauch möglich sein. Er wird von Mendelssohn in die »Außerberufsgeschäfte« (JubA VIII, 228) verlagert, die damit Kants Begriff vom »öffentlichen Gebrauch der Vernunft« entsprechen. Diese betreffen, schaftlichen Positionen der Vorfahren versinken lässt. Wer die freie Meinung unterdrückt, ist ein »ohnmächtiger Tyrann« (ebd, 318); nur der Pressefreiheit erlaubende Herrscher weist ein starkes Volk auf und kann von den angemahnten Neuerungen selbst profitieren (328). 191 Wobei die Unterscheidung Kants, dass der Privatgebrauch den kritischen Vernunftgebrauch des Amtmanns, der öffentliche Gebrauch der Meinung des Menschen als Privatmann, bzw. als »Gelehrter« entspricht (vgl. AA VIII, 37 u. ö.), auf den ersten Blick verwirrend erscheint. Gemeint ist die grundsätzlich freie öffentliche Meinungsäußerung in Buch und Presse, die Kant nicht müde wird zu verteidigen. Der »Privatgebrauch« ist hingegen angemessen, wenn es um eine Kritik der Regierungsgeschäfte geht, mit deren Durchführung man jedoch als Amtmann betraut ist. Für sich, also »privat« darf der Amtmann an seinem Auftrag zweifeln, nicht jedoch in seinem – öffentlich wirksamen, aber nicht im eigenen Namen vollzogenen – Handeln. 192 Hinske 1977, LVII äußert in diesem Zusammenhang die Vermutung, dass Mendelssohn mit seinem Votum für ein Zurückstehen der Privatmeinung in Berufsgeschäften wegen der entgegenstehenden »Mehrheit der Stimmen« (JubA VIII, 228) zumindest indirekt für eine demokratische Grundauffassung plädiert; zu den Zweifeln daran siehe oben, FN 138. 193 Dies sinngemäß nach dem Aufsatz Kants, der sich wiederum auf einen Ausspruch Friedrichs II. beruft, den auch der unbekannte Verfasser des oben genannten Aufsatzes erwähnt (vgl. ebd. 326 f.).

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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und auch hier mag die Adressatenliste des anonymen ersten Aufsatzes nachwirken, nicht nur Schriftsteller, sondern auch Lehrer und andere Staatsamtsträger. Die von Kant geforderte Freiheit der Presse liest Mendelssohn also paradigmatisch für alle »Außerberufszweige« mit Außenwirkung, die im »Zeitalter der Aufklärung« (JubA VIII, 228) freigesetzt werden müssen. In erster Linie richtet er sich damit gegen Formen institutioneller Verhärtung, die an das Konzept der ›lebendigen Überlieferung‹ von Religionen im Jerusalem erinnert: »[…] social knowledge is only valid when it constitues a direct response to the empirical challenges of communal life.« (Erlin 2002, 92) Die Etablierung von Institutionen ist damit immer mit einer die eigene Lebensspanne überdauernden Verantwortung verbunden: Institutionen haben eine Wirkung auch auf die nachkommenden Generationen, die es, so Mendelssohns Hoffnung, nicht mit abstrakten Wesen zu tun bekommen dürfen, die ein Eigenleben entwickelt haben und nicht mehr auf die lebendigen Bedürfnisse der Gesellschaft antworten, sondern ihnen »tote Gesetze« auferlegen (vgl. ebd., 93 ff.). Indem er aber diese kritische Sphäre in den Bereich der Meinungsäußerung, nicht in das System selbst verlegt, unterliegen die Veränderungsbedingungen bereits bestehender Institutionen einigen Schwierigkeiten. Denn wenn es dem Amtsträger nicht erlaubt ist, im Amt Ungehorsam zu üben, ist eine wirksame Waffe schneller Veränderung ausgeschlossen. Hier zeigt sich, dass es Mendelssohn trotz Betonung persönlicher Freiheit (und trotzdem er sicherlich allen Grund hatte, mit den bestehenden Institutionen unzufrieden zu sein), auch um die Funktionstüchtigkeit einer bestehenden Gesellschaft ging. Seine Ausführungen zu Kollisionsfällen zwischen amtlichen Gehorsam und wirklich rechtmäßigem Verhalten deuten ebenfalls auf diesen Aspekt hin, wie das Folgende zeigen soll.

ad (3) Kollisionen Gerade angesichts einer solchen Doppelkonstruktion von »Menschen« und »Bürgern«, die den pragmatischen Aspekt der Funktionstüchtigkeit – neben dem aufklärerischen der Verbesserung der Vernunft durch ihren freien Gebrauch – kennzeichnet, kann es zu Konflikten zwischen Pflichten als Bürger und als Mensch kommen. Im Aufklärungsaufsatz differenziert Mendelssohn in dieser Hinsicht zwischen wesentlichen und außerwesentlichen Bestimmungen des Menschen. Auf Nachfrage von Hennings, der sich wohl zu Recht am Begriff einer »außerwesentlichen Bestimmung« (die doch etwas Wesentliches bezeichnen müsste) gestoßen hatte, präzisiert er: »Die wesentlichen Bestimmungen des Menschen gehen aufs Daseyn, die außerwesentlichen aufs Besserseyn; jene erzeugen Vollkommenheit, diese Schönheit; und wenn sie beide nicht zu erhalten sind, so müssen jene allerdings vorgehen.« (JubA XIII, 236 f.) Damit greift er Wolffs Unterscheidung zwischen »essentialia« und »modi«

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auf 194 und wendet sie auf die Entwicklung eines »besseren« Staats im Sinne seines Aufklärungsverständnisses an. In dem Fall, dass in einem Staat unwesentliche Bestimmungen des Menschen als Menschen mit wesentlichen Bestimmungen des Menschen als Bürger kollidieren, ist die Lösung des Konfliktes leicht einsichtig; auch wenn ein dauernder Konflikt dieser Aspekte der Herausbildung der Kultur nicht förderlich sein dürfte. Denkbar ist nun natürlich auch der Fall, dass in einem Staat die jeweils wesentlichen Bestimmungen kollidieren. Dazu hält Mendelssohn in seinem Aufsatz fest: »Unglükselig ist der Staat, der sich gestehen muß, daß ihm die wesentliche Bestimmung des Menschen mit der wesentlichen des Bürgers nicht harmonieren, daß die Aufklärung, die der Menschheit unentbehrlich ist, sich nicht über alle Stände des Reichs ausbreiten könne; ohne daß die Verfassung in Gefahr sei, zu Grunde zu gehen. Hier lege die Philosophie die Hand auf den Mund! Die Nothwendigkeit mag hier Gesetze vorschreiben, oder vielmehr die Fesseln schmieden, die der Menschheit anzulegen sind, um sie nieder zu beugen[195], und beständig unterm Drukke zu halten!« (Aufklärung, 117; Hervorhebung A.P.) Was bedeutet die hier kursiviert wiedergegebene Äußerung? Einige Interpreten merken diesbezüglich eine unterschwellige Willfährigkeit Mendelssohns an, der angeblich vor einer radikalen Kritik des Staats durch die Philosophen zurückschreckt, bzw. dass der Jude Mendelssohn zwar schon zaghaft Menschenrechte für seine Glaubensbrüder gefordert hatte, sich aber den Ruf nach Bürgerrechten nicht getraute.196 Eine überzeugendere Lesart bietet m. E. Hinske (1981, 110), der auf die Entstehungsbedingungen und den ursprünglichen Adressatenkreis des Aufklärungsaufsatzes aufmerksam macht. Die Warnung geht demzufolge in erster Linie an dessen eigentliche Adressaten, die Mitglieder der Mittwochsgesellschaft, allesamt preußische Beamte. Mendelssohn plädiere hier dafür, der Verführung zu widerstehen, für eine angeblich notwendige Verletzung der Menschenrechte noch philosophische Begründungen zu suchen, sich also philosophisch mit dem Staat in irgend einem Sinne gemein zu machen. Die Warnung ist eine Mahnung zur Vorsicht, sich nicht mit den Mächtigen, die bei der Durchsetzung der fragwürdigen Maßnahmen qua politischer Macht doch das letzte Wort behielten, zu verbünden. Bei einer Verletzung der Rechte ist keine Rechtfertigung mehr möglich, die die Philosophen deshalb auch nicht versuchen sollten. Letztlich wäre damit Mendelssohns Aussage keine Kapitulation, sondern gemahne die Philosophen an ihre besondere Verantwortung. Doch auch diese Interpretation kann nicht verhindern, dass sich Mendelssohns Aussage weiterhin arg defensiv liest.

194 195 196

Siehe dessen Ontologia (1730) § 145; vgl. Hinske 1981, 108. JubA VI/1, 116 liest hier »bezeugen«. Vgl. dazu K. Berghahn 2001, 95; weitere Positionen referiert Albrecht 1983, 145 f.

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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Über Hinskes Argumentation hinaus lässt sich mit Rückgriff auf den anonymen Aufsatz zur »Drukfreiheit« argumentieren. Auch dieser enthält ein Plädoyer für freie Meinungsäußerung außerhalb der Amtsgeschäfte – um sogleich vor einem Missbrauch dieser Freiheit zu warnen. »Schriftsteller! wenn ihr Lehrer der Menschheit sein wollt, so beweist, daß ihr diesen erhabenen Titel verdient.« (Berlinische Monatsschrift III, 329) Wer sich das Recht auf freie Meinungsäußerung nimmt, dem obliegt zugleich auch die Pflicht, sich an einen ungeschriebenen Ehrenkodex zu halten und nicht auf den persönlichen Ruhm, sondern auf die Sache – in diesem Fall: die allgemeine Wohlfahrt zu schauen. »Nicht jede Wahrheit ist zu allen Zeiten, und unter allen Umständen gleich nützlich. Was jetzt eben zu sagen oder noch zu verschweigen sei, müßt ihr eben deswegen selbst überlegen, weil es sich durch keine Gesetze oder Beamten des Staats bestimmen läßt. Eure Schrift ist wie ein Pfeil, dessen Wirkung ihr nicht mehr aufhalten könnt, sobald ihr ihn abgeschnellt habt. Ihr könnt euch nicht mehr vor dem Publikum verbeugen, und die Hand auf den Mund legen, sobald der Verleger sich eures Manuskripts bemächtigt hat. Erscheint daher mit schüchterner Ehrfurcht vor der Versammlung eurer Richter. Und wenn Patriotismus und Menschenliebe euch begeistern, so laßt die Weisheit eure Schritte leiten. Kämpft muthig gegen die Vorurtheile aller Art; aber nicht mit dem Schwerdte Alexanders, sondern mit der Lanze Minervens.« (III, 329 f., Hervorhebung A.P.). Der Kampf gegen Vorurteile erfordert also individuelle Verantwortung. Jeder Aufklärer, und hier sind sich der anonyme Verfasser und Mendelssohn einig, hat zu bedenken, dass die einmal geäußerte Meinung eine eigene Kraft entfaltet, die derjenige, der sie äußerte, nicht mehr kontrollieren kann, für die er aber dennoch verantwortlich ist. Aufklärung als die Erlaubnis und die Pflicht der öffentlichen Meinungsäußerung erfordert immer eine Abwägung über die Wirkung des Gesagten, deren man sich nicht nachträglich durch kommodes Schweigen entledigen kann. Es ist dennoch festzuhalten, dass mit diesem Hinweis auf die Verantwortlichkeit des öffentlichen Vernunftgebrauchs noch kein befriedigendes Programm zum Schutz der Bestimmung der Menschen in einem diktatorischen Staat gegeben ist, noch, dass der Status der »Nothwendigkeit« in Mendelssohns strittiger Aussage gänzlich geklärt wäre. Mendelssohn entwickelt ein Programm der Zurückhaltung und Verantwortlichkeit, das die Erlaubnis eines freien Pressewesens bereits voraussetzt. In anderen Staaten ist ein mit seinen Ausführungen ausgerüsteter Philosoph machtlos; ihm bleibt tatsächlich, will er überleben, kaum etwas anderes, als – zu schweigen. Doch entwickelt Mendelssohn auch außerhalb des Aufklärungsaufsatzes Lösungsansätze für Gewissenskonflikte und ihre Bewertung. So fragt er im Jerusalem, wie sich ein vom Staat bestellter Lehrer, der in nach seiner Ansicht falschen Hinsicht auf die Gesinnungen der Menschen wirken soll, wehren könnte und wie dies zu bewerten sei. Mendelssohn eröffnet mehrere Handlungsoptionen. Zum einen könnte dieser Lehrer trotz seines innerlichen Vorbehalts seine Geschäfte weiterhin erfüllen. Er

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könnte aber auch stillschweigend das Amt niederlegen oder, wenn er den Mut dazu aufbringt, die Amtsniederlegung mit einer öffentlichen Bekundung seiner Bedenken verbinden. Mendelssohns prima facie überraschendes Fazit: »Mich dünkt, keiner von diesen Wegen sey unter allen Umständen schlechterdings zu verwerfen.« (JubA VIII, 139) Selbst die erste Möglichkeit ist nicht grundlegend verächtlich, denn im angegebenen Konflikt zeigt sich gerade, dass Entscheidungen im Amt ebenfalls Wirkung auf das Leben des Amtsträgers als Mensch entfaltet. Es kann deshalb keine allgemeingültige Verurteilung einer solchen Handlung geben. »Wer sich rühmt, nie in solchen Dingen anders gesprochen, als gedacht zu haben, hat entweder überall nie gedacht, oder findet vielleicht für gut, in diesem Augenblicke selbst, mit einer Unwahrheit zu pralen, der sein Herz widerspricht.« (JubA VIII, 139) Hier ruft Mendelssohn also in erster Linie zur Zurückhaltung in der Beurteilung auf. Es ist das Recht des Einzelnen, die Umstände abzuwägen und zu entscheiden. Allerdings ist deutlich, dass er mit seiner Argumentation gerade keine rechtliche, politische oder gar moralische, sondern eine persönliche Beurteilungsmöglichkeit der skizzierten Handlungen verfolgte. Im Votum zu Kant hingegen versucht er darüber hinaus, einen Weg der Begründungspflichten zu entwickeln, die in ihrer letzten Konsequenz zumindest einen Staat derart unterhöhlen können, dass eine innere Evolution bestmöglich vorbereitet wird. Mendelssohn ist wie Kant kein Freund der Revolution; weniger aufgrund einer fehlenden rechtlichen Begründung, als weil er deren individuelle Verluste für zu hoch einschätzt. Revolutionen setzen Menschen frei, die für diese Form der Freiheit noch nicht vorbereitet sind; eine allgemeine Anarchie wäre die Folge. Vielmehr will er ein Modell einer schrittweisen Befreiung bei gleichzeitiger Funktionstüchtigkeit der Gesellschaft entwickeln. Es soll damit ein Ausgang aus der Unmündigkeit durch freies Räsonnieren in öffentlich zugänglichen Räumen stattfinden, was Mendelssohn als eine Art pragmatischen Ansatz öffentlichen Vernunftgebrauchs ins Spiel bringt. So geht er im dritten und letzten Abschnitt seines Votums (JubA VIII, 228 f.) auf das Recht der »Volkslehrer« ein, in Amt und Würden die Gesellschaft zum Besseren (und damit »gegen« das eigene Amt handelnd) zu ändern. »Aber auch alsdann, wenn der Lehrer in Amt und Beruf ist, wird er sehr oft berechtigt seyn, den Grundsätzen zu widersprechen, auf welche er angenommen worden, und Neuerungen einführen.« (ebd.) Dieses Recht verbindet Mendelssohn mit drei Bedingungen, die den öffentlichen und Privatgebrauch der Vernunft koordinieren und damit engführen sollen: der reformwillige Amtsträger muss begründet darlegen, warum er was zu ändern gedenkt und außerdem rechtlich dafür einstehen. In diesem Sinne kann eine Reform, die prima facie den Vertrag bricht, den der Amtsträger bei seiner Amtseinführung mit der Gesellschaft (Mendelssohn spricht von der »Gemeine« i. S. v. Allgemeinheit) schloss, dennoch rechtlich erlaubt sein. Dafür sind die folgenden Bedingungen zu erfüllen: »1) Ich muß überführt seyn, daß es zum Besten des Gegentheils [gemeint ist die gegen die Reform eintretende »Gegenparthei«, A.P.] selbst geschehe, und [diese]

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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bey besserer Einsicht mein Verfahren billigen werde. 2) Sobald diese bessere Einsicht nicht erfolgt, und von Seiten der Gegenparthei auf Haltung des Vertrags gedrungen wird, so muß ich willig seyn, von meinem Vorhaben abzustehen, und mir nicht das Recht anmaßen, ihr meine Einsicht aufzudringen. 3) Endlich muß ich die feste Entschließung haben, alle Folgen und Gefahren der eingeführten Neuerung, Schadloshaltung und Bestrafung, Verachtung und Verfolgung über mich ergehen, und keinen Dritten darunter büßen zu lassen.« (JubA VIII, 228 f.) Das System der Vertragsänderung unter denjenigen, die selbst unter dem Vertrag stehen, soll unter diesen Abstimmungs- und Verantwortlichkeitsbedingungen gesichert werden. Kurz gesagt bedeutet dies: dem Reformer muss klar und deutlich bewusst sein, was er mit seinem Vorhaben bezweckt und er muss versuchen, die »Gegenparthei« von seinem Vorhaben begründet zu überzeugen. Gelingt dies nicht, muss er von seinem Vorhaben zurückstecken; in dieser Hinsicht geht nach Mendelssohn die Funktionstüchtigkeit der Behörden vor, der Einzelne muss gehorchen. Wird die Reform jedoch angenommen, so ist der Reformer selbst für ihre Folgen verantwortlich. Mendelssohn sieht dieses Vorgehen als bereits durch Erfahrung gesichert an – so scheint zumindest die Anspielung auf diejenigen Volkslehrer, »die wir alle in Gedanken haben« (JubA VIII, 228), gemeint zu sein. Dass er damit jedoch dem Einzelnen eine immense Verantwortung aufbürdet, hat er so nicht gesehen.

ad (4) Aufhebung der Vorurteile: Dialektik Neben den möglichen, aber insgesamt offenkundigen Kollisionsfällen in sich aufklärenden Gesellschaften ist noch ein weiterer Aspekt Gegenstand von Mendelssohns Überlegungen, der sich aus seinem Interesse am ganzen Menschen erklärt. So oft er sich auch gegen Rousseaus Kulturpessimismus stellte, waren ihm doch dessen Warnungen vor Gewissensmanipulation und Geisteskontrolle197 auch unter dem Deckmantel der Aufklärung bewusst, wie viele seiner Überlegungen, sei es in 197 Zur Gewöhnung an die Freiheit siehe auch Rousseaus Zugeignungsschrift zum zweiten Discours; in Mendelssohns Übersetzung JubA VI/2, 68 f.: » Denn mit der Freyheit ist es nicht anders, als mit jenen derben und saftigen Speisen, oder mit den starken Weinen beschaffen. Für feste und starke Temperamenten, die sich daran gewöhnt haben, sind sie nahrhaft; allein sie überladen, verderben und berauschen die schwachen und zärtlichen Menschen, die nicht für sie geschaffen sind.« Sie müssen langsam an Freiheit gewöhnt werden, denn sonst können sie nicht zwischen Demagogen und wahrhaftigen Revolutionären unterscheiden. »[S]ie gerathen durch die vielfältigen Revolutionen lauter Verführern in die Hände, die ihre Ketten nur immer mehr beschwehren.« (ebd., 69) Rousseau fordert ebenfalls, sich auch innerhalb einer guten Regierung mit Gesetzesänderungen zurückzuhalten. Notwendige Modifikationen sind darüber hinaus im angemessenem Rahmen zu veröffentlichen, um immer ein Gefühl dafür zu bewahren, dass Gesetze – auch unter Menschenhand geändert – »heilig und verehrungswürdig sind« (ebd., 70). Auch Rousseau plädiert hier dafür,

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

Aufsätzen, im Jerusalem, innerhalb der Schreiben des Lavater-Streits oder in den Voten zu Aufsätzen der Mitglieder der Mittwochsgesellschaft zeigen.198 Bei der Entfaltung des Einzelnen bietet das Geflecht aus Rechten und Pflichten, dem Erkenntnisfortschritt und der Religionskritik in Verbindung mit der Freiheit immer auch die Gefahr ihres Missbrauchs. Im Dienste der Aufklärung, so Mendelssohn, darf niemand, auch nicht mit den allerbesten Gründen, zu seinem Glück gezwungen werden; denn jede Entfaltung unter Zwang ist keine reale Vervollkommnung, sondern Rückfall. Bildung verlangt Einsicht, Verantwortung für die eigenen Taten und wiederum Berücksichtigung des Bildungsstands Anderer. Auch aus diesem Grund hat er in der Überlegung zur Legitimation von Reformen den Aspekt der Einsicht der Gegenpartei als eine notwendige Bedingung aufgeführt. Diese Verantwortung musste erhalten und verteidigt werden. In diesem Sinne ist auch K. Berghahns Resümee der Aufklärungsdebatte mit Vorsicht zu lesen. Dieser hatte festgehalten: »Nur eine radikale Aufklärung, die alle Vorurteile kritisierte und Anderssein duldete, konnte ein Bildungskonzept vorbereiten, an dem auch die Juden partizipieren konnten. Das ist die verdeckte Botschaft von Mendelssohns Beitrag zur Aufklärungsdebatte von 1784.« (K. Berghahn 2001, 94) So »radikal«, wie Berghahn es sieht, ist Mendelssohns Form der Aufklärung nicht. Vielmehr verlangt seine Auufklärungsauffassung als Bildung vielmehr, auf die jeweilige Position und Entwicklungsstufe des Anderen Rücksicht zu nehmen, sie in den Gebrauch der Freiheit aufzunehmen, immer die fremde Selbstbildung zu fördern und diese nicht durch aufoktroyierte Grundsätze zu ersticken. In dieser Hinsicht hat Mendelssohn auch in Bezug auf den Glauben von »Vorurteilen« gesprochen, doch wollte er damit die betreffenden Glaubenssätze nicht der Verhandlungsmasse des Aufzuklärenden einverleiben, sondern vielmehr deren Unverfügbarkeit für eine vernünftige Argumentation betonen: Alle »Vorurteile« zu zerstören kann der Aufklärung nicht dienen, weil dies halt- und orientierungslose Individuen erzeugt, die auch eines aufgeklärten Diskurses nicht fähig sind. Eine rückhaltlose Aufklärung nimmt nicht nur keine Rücksicht auf die menschlichen Bedürfnisse nach einem ganzheitlichen Weltbild, das die ›unvernünftigen‹ Sehnsüchte und Leidenschaften auszugleichen in der Lage ist, sondern sie zerstört auch gewachsene Gesellschaften, ohne einen positiven Wert an ihre Stelle setzen zu können. Die Frage, wie viel Aufklärung nötig und zuträglich sei, bestimmt die genuin praktische, aber auch pragmatische Seite der Diskussion in der Mittwochsgesellnicht immer alles verbessern zu wollen und damit das Volk zu verwirren, sondern sie soweit und so lange als möglich bei ihren Gebräuchen zu belassen. 198 Im Sendschreiben (1756) finden sich diesbezügliche Reflexionen noch nicht; sie brechen sich erst in den 1780er Jahren vehement Bahn (vgl. Erlin 2002, 91). Jedoch hat Mendelssohn die Gefahren des Luxus, die Rousseau benannte, schon in den 1750er Jahren erkannt; sie hatten dort allerdings noch keine weitreichenden Folgen auf die Konzeption des Individuums in der Gesellschaft.

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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schaft. Mendelssohns Überlegungen zum Wert von »Vorurteilen« bewegen sich in diesem Rahmen. Es ist wichtig, sich an dieser Stelle wiederum den Entstehungskontext der Aufklärungsschrift zu vergegenwärtigen, denn auch in der Mittwochsgesellschaft hatten Mitglieder im Sinne einer gerichteten und friedlichen Aufklärung die Zensur gefordert.199 Mendelssohn spricht sich mit seinen Überlegungen – bereits im erwähnten Passus der Evidenzschrift – klar gegen diese Tendenzen aus. Es liegt nicht in der Macht der Aufklärer selbst darüber zu entscheiden, was der Einzelne denkt, sondern die Aufklärung muss aus der je eigenen Vernunft kommen. Damit kann aber auch keine Institution darüber befinden, was allen zuträglich ist. Die Rückbesinnung auf den Einzelnen ist trotz aller Gefahren nicht zu ersetzen, denn ansonsten würden sich wiederum Einzelne dazu aufschwingen, über die Grundsätze der Vernunft Anderer zu entscheiden. In seinem Votum vom 26. Dezember 1783 äußert Mendelssohn sich entsprechend: »Wenn es auch wahr ist, (wie ich im Grunde nicht zweifle), dass gewisse Vorurteile, die national geworden, den Umständen nach von jedem rechtschaffenen Menschen verschont werden müssen; so ist noch die Frage: Sollen die Grenzen derselben durch Gesetze und Censores bestimmt, oder, wie die Grenzen des Wohlstandes, der Erkenntlichkeit und Aufrichtigkeit der Überzeugung eines jeden Einzelnen überlassen werden?« (JubA VI/1, 111) Er selbst hält es für unmöglich, hier Kriterien zu finden, die letztlich nicht auch dem gegenteiligen Zweck, also der Unterdrückung Anderer, dienen könnten. Er vertraut hier vielmehr auf eine Selbstregulierung über den individuellen Anstand, was an die »unsichtbare Hand« des Marktes nach Adam Smith erinnert. Mendelssohn verbindet diese Überlegungen mit seiner Kritik an Shaftesburys »test of ridicule«, der, falsch angewendet, ebenfalls ein Instrument der Unterdrükkung, aber nicht der Verbesserung falscher Meinungen sei. In der zweiten Auflage der Philosophischen Schriften (1771) hatte er im dritten der Philosophischen Gespräche auch Voltaires Theodizee-Parodie im Candide in eben dieser Hinsicht kritisiert. Noch in der Leibniz-Übersetzung Sache Gottes, also 1784/85 kommt er auf dieses Thema zurück: »Wie nennet ihr den muthwilligen Knaben, der dem Lahmen seine Krücke zerbricht, weil er sie selbst nicht braucht?« (JubA III/2, 237 (§ 57)) Auch die Aufgeklärten selbst hätten kein Recht, die Denkhilfen, die sie selbst nicht mehr benötigten, denjenigen durch eine rücksichtslose pseudo-Aufklärung zu nehmen, die noch dieser Stützen bedürfen. Selbst wenn es sich allein um »populäre Systeme« handle, die mit der Satire angegriffen würden, so ginge auch viel Wahres verloren. »Die Begriffe müssen verfeinert, aber nicht umgebildet werden.« (JubA III/2, 237) Als Instrument dieser Umbildung sah er den einzigen wirklich wirksamen Schutz darin, Aufklärung

199

Vgl. Hinske 1981, 89. Dazu der Brief an Hennings, JubA XIII, 237: »Lasset die Flamme nur recht auflodern, so wird sie den Rauch selbst verzehren, den sie hat aufsteigen lassen.«

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

mit einer nur schrittweisen »Verfeinerung« – und damit Annäherung an eine wirkliche Erkenntnis – der populären Meinungen abzustimmen. »Kann Aufklärung schädlich seyn? An und für sich freylich nicht; aber zufälliger Weise, so wie das Sonnenlicht blöden Augen. […] Aufklärung geht blos auf das Theoretische, auf Erkenntniß, auf Wegschaffung der Vorurtheile; Cultur hingegen auf Sitten, Geselligkeit, Künste, Thun und Lassen. Wenn Aufklärung der Cultur zu sehr voreilt, so kann sie allerdings schädlich seyn […].« (an Hennings am 27. November 1784, JubA XIII, 237) Damit klärt sich auch Mendelssohns Verhältnis zu der Frage, wie die Aufklärung als Volksaufklärung stattfinden soll. Denn es kann nicht die kultur- wie rücksichtslose Abschaffung aller Vorurteile sein, die letztlich die Aufzuklärenden missachtet. Wahre Aufklärung ist für ihn Bildung, die auf die kulturelle Situation und Bedürfnisse der Menschen Rücksicht nimmt. Ein schrankenloses Vorgehen gegen Vorurteile kann er also nicht befürworten, denn diese seien unter Umständen derart eng mit wichtigen Wahrheiten verbunden, dass der Philosoph schwerlich die Vorurteile ausräumen könne, ohne der Wahrheit selbst zu schaden. Es ist demnach nicht eine strikte, sondern eine humane Aufklärung erforderlich. Auch in dem öffentlichen Schreiben an Lavater (JubA VII, 13) kommt Mendelssohn auf die Unterscheidung zwischen gefährlichen und harmlosen (gar nützlichen) Vorurteilen zurück. Sind die Vorurteile dem sittlichen Leben des Menschen unmittelbar abträglich, so muss er sich gegen sie wehren. Sind die falschen (oder: für falsch gehaltenen) Grundsätze jedoch weit genug von einer Auswirkung in die Praxis entfernt, und bilden sie dennoch die Grundlage für das Leben vieler Menschen (»eben ihrer Allgemeinheit wegen«, JubA VII, 13), so müssten sie nicht bekämpft werden. Die Folge dieser grundsätzlichen Ausrottung unterschiedslos aller Vorurteile sei gerade schädlich, weil es die Lebensgrundlage ganzer Völker zerstöre. Solange die Wahrheit nicht erkannt ist (denn sich gegen für wahr Erkanntes zu erklären, ist nach Mendelssohn »verworfenste Niederträchtigkeit«, JubA VII, 9), kann an ihre Stelle auch diese eher ungefährliche Form des Vorurteils treten. »Ich kann also gar wohl bey meinen Mitbürgern Nationalvorurtheile und irrige Religionsmeinungen zu erkennen glauben, und dennoch verbunden seyn, zu schweigen, wenn diese Irrthümer weder die natürliche Religion, noch das natürliche Gesetz unmittelbar zu Grunde richten, und vielmehr zufälligerweise mit der Beförderung des Guten verknüpft sind.« (JubA VII, 14) Nicht berührt ist davon aber, die Aufklärung der sittlichen Grundsätze in angemessenem Maß fortzusetzen, denn letztlich sind erst die Handlungen, die aus der erkannten ›Wahrheit‹ des Guten folgen, gute Handlungen (ebd.).200 200

Eine Methode zum Aufdecken von Vorurteilen nennt Mendelssohn in den »Gegenbetrachtungen zu Bonnets Palingénésie«: »Bey allen übrigen Erzehlungen von Wundern, die ohne

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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Kant201, wie auch Hennings, argumentieren gegen diese Zurückhaltung der Aufklärung, indem sie auf die Gefahr des Rückschritts bzw. Stillstands und der Pervertierung der Aufklärung gerade durch selbstgesetzte Hemmungen hinweisen. Denn, so Hennings in seinem Brief vom 3. Dezember 1784, es mag sein, dass die Aufklärung in ihrem Fortschreiten bisweilen heftige Wirkungen hervorbringe, wie dies auch in der Natur der Fall sei. Aber sei dies ein gutes Argument dafür, ihren Fortschritt zu verlangsamen? Theoretische Aufklärung hat immer einen praktischen Aspekt, selbst wenn sie bestimmte Einsichten gerade zurückhält. »Aber die Frage ist nur, da die Natur mit ihrem langsamen und almähligen Würken ein solches schnell entstehendes Uebel verbunden hat, ob es da nützlich seyn würde, diesem Uebel, auch wenn wir könnten, zuvorzukommen, und, die Anwendung des Bildes auf Aufklärung, entstehet die Frage, ob es heilsam seyn würde, dem langsamen und almäligen Würken der Aufklärung Hindernisse in den Weg zu legen, um einen plötzlichen Ausbruch zu hemmen.« (JubA XIII, 241) Hennings tröstet sich über die im Einzelfall eventuell heftigen Folgen einer so verstandenen Aufklärung hinweg, indem er in der NaturAnalogie verbleibt: »Aber so geschwind und groß auch der Fortgang ist, so ist er immer in der Harmonie, welche die Natur in ihren Würkungen nie verläugnet, immer almählig und gemessen, nie abgebrochen und gewaltsam.« (JubA XIII, 242). Mendelssohn hat diese Analogie, zumindest teilweise, bereits verlassen; für ihn ist die Forderung, dass Gesellschaft und Individuum nicht auseinandertreten dürfen, ein Gebot, keine Beschreibung. Dass es bisweilen auch für den Einzelnen negativ erscheinende Entwicklungen geben könnte, hat er damit keineswegs ausschließen wollen. Wogegen er sich allerdings wendet, ist, diesen aus einer teleologischen Naturbetrachtung entliehenen Optimismus in ein politisches System zu kleiden. Der metaphysisch so optimistische Mendelssohn schien die Gefahren einer das Individuum übersteigenden ›Totalaufklärung‹, die auch auf gewachsene Traditionen im diese großen Anstalten, nicht so öffentlich, auch nicht so augenscheinlich geschehen seyn sollen, umfaßet uns der Unglaube mit seinen starken Armen, und wir können uns nicht leicht herauswinden. Wir wissen, wie leicht die Menschen zu verführen, und verführet werden können, wir wissen, was Vorurtheil, Aberglaube und Enthusiasmus für Gewalt über die Menschen hat [sic], wie oft sich in einem Charakter Vernunft und Enthusiasmus, Aberglauben und Betrug, List und Einfalt so feste verbinden, daß es dem Scharfsichtigsten schwer fällt, ihre Gränzen zu unterscheiden; wir wissen, wie oft die Menschen Gutes aus bösen Absichten, und Böses aus guten Absichten gethan haben, wir vergleichen Erzehlung mit Erzehlung, setzen Zeugnis gegen Zeugnis, ein ganzes Meer von Zweifeln schlägt über uns zusammen, und wir halten unser Urtheil zurück.« (JubA VII, 89, Hervorhebungen A.P., vgl. ebd., 99 und in der »Nacherinnerung« zu Lavaters zweitem Schreiben, Juba VII, 47). 201 Dazu in der »Menschenkunde«-Vorlesung (1781/82), AA XXV, 882 f. (vgl. 1048): das Fehlen, einen Irrtum nicht aufzuklären, sei gewiss; der Nutzen, der davon vielleicht zu erwarten sei, ungewiss. »Kein Nutzen kann dauerhaft seyn, außer dem, welcher durch die Wahrheit entsteht, und also kann und darf man aus der Ausbreitung des Betruges keinen Vortheil ziehen.« (AA XXV, 883) Diese Position ist allerdings härter als das, was Mendelssohn vorschwebt. Dieser meinte nicht Betrug, sondern Zurückhaltung.

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

Sinne von emotionalen Heimstätten keine Rücksicht nimmt, durchaus wahrgenommen zu haben. In diesem Sinne dürfte er auch den Prozess von Aufklärung und Kultur als eine in sich unabschließbare Bewegung aufgefasst haben, die nicht durch einseitig geförderte, schnelle Sprünge zu erhalten ist, sondern die Bildung im Sinne einer ewigen Bewegung zwischen Zufriedenheit (mit dem Erreichten) und Unruhe (wegen immer noch unabsehbarer Folgen bzw. dem klareren Blick darauf, was noch zu tun ist) verstanden haben. »Wenn man von einer der Aufklärung immanenten ›Dialektik‹ sprechen will, dann nicht in dem Sinn, daß sie notwendig wieder in mythische Gebundenheit zurückführt, sondern allenfalls so, daß die Aufklärung im Zuge ihrer Denkbewegung vor Aporien und Widersprüche gerät, die dann allerdings nur durch die kritische Vernunft selber, also durch Fortführung der Aufklärung, und das heißt letztlich auch durch Reflexion auf ihre eigenen Grenzen überwunden werden können.« (Jacobs 2001, 24) – Eine solche unendliche Bewegung der Vernunft hat sich auch Mendelssohn in seiner praktischen Ausformulierung der Vervollkommnung vorgestellt, ohne dass er damit sein Verständnis der Vernunft revidiert hätte. So versteckt sich auch in der leisen Warnung am Ende des Aufklärungsaufsatzes Mendelssohns Bewusstsein von den Gefahren einer selbstzufriedenen, und damit unbeweglich zu werden drohenden Vernunft. Im genannten Brief an Hennings deutet er dies mit einer skeptischen, fast hellsichtigen Frage an: Was geschieht, wenn die Menschen, Kantisch gesprochen, austreten aus dem Zeitalter der Aufklärung ins aufgeklärte Zeitalter und sich ihres »Nationalstolzes« allzu sicher werden?

Schluss Trotz der skeptischen und auch relativierenden Einwürfe gegen Kant war die Begründung von Menschenrechten der eigentliche Kernpunkt Mendelssohns Interesses. Es ging ihm um die humanen Voraussetzungen von Politik, nicht so sehr um die genaue Ausgestaltung der Politik selbst. Eine Konzentration auf Menschenrechte bedeutete auch, dass der Einzelne jeweils in die Lage gesetzt werden musste, sich selbst in den politischen Prozess einzubringen; Kultur und Aufklärung sollten zusammen dafür die Voraussetzungen schaffen. Mit seiner Theorie von Bildung weist Mendelssohn über die nachfolgende, idealistische Auffassung von Geschichte und Entwicklung bereits hinaus. Sein »Gesellschaftsbild mit seiner inhärenten Spannung von ›Geschichtlichkeit und anthropologischer Endlichkeit‹ tritt der von einer abstrakten ›ZweckMittel-Relation als Antriebsmotor des Fortschritts‹ und als Theodizee-Ersatz getriebenen Weltbürgerrepublik entgegen: konservativ, skeptisch und […] interessiert am hier und jetzt Machbaren für eine konkrete Menschheit.« (C. F. Berghahn 2001, 281) Eine genaue Ausformulierung des laut Berghahn an Montesquieu orientierten

IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff

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»Machbaren« findet sich jedoch, abgesehen der sehr konkreten Reformvorschläge zur rechtlichen Gleichstellung der Juden (s. Kap. IV.4), kaum. Auch ist sein Aufklärungskonzept in sich keineswegs einheitlich. Doch lassen sich als Grundlinien die Forderung nach Kritikfähigkeit und –bereitschaft, Zivilcourage und das Vertrauen auf die ausgleichende Kraft einer allseitigen Bildung festhalten. Es bleibt das Umsetzungsproblem, eine aufgeklärte Gesellschaft erreichen zu wollen, ohne die ganze Gesellschaft (vorerst) vollständig aufzuklären. In seiner Christian-Wolff-Vorlesung 2003 in Marburg wies Herbert Schnädelbach auf eine Grundnotwendigkeit der Aufklärung (Aufklärung strukturell, nicht historisch oder chronologisch verstanden) hin: Dass jeder sich selber aufkläre. Kants Forderung nach dem eigenen Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit hat, trotz aller Rigorosität, ihr Wahres. Es ließe sich darüber streiten, dass die Selbstverschuldung und Verantwortung für politische und gesellschaftliche Umstände übertrieben und wenig stichhaltig ist. Doch sobald sich das Individuum seine von außen gesetzten Beschränkungen anerkennend darein begibt, ist es »selbstverschuldet« unfrei. Aufklärung muss deshalb immer von selbst, von innen heraus statt finden und kann niemals aufoktroyiert werden. Dies hat auch Mendelssohn in seiner Schrift »Ueber die Grundsätze der Regierung« (JubA VI/1, 125–136) erkannt. Hier geht er auf die Wichtigkeit der Güter, die an sich einen Wert haben, ein. Andere dazu zu zwingen, diese Güter anzustreben, ist das zwar besser als nichts, aber sie sind dann ihres Eigenwertes verlustig gegangen: denn die gezwungene Person strebt diese Güter immer noch nicht an, weil sie für sie einen Wert in sich hätten, sondern weil sie dazu gezwungen wird. Dass sie diese Güter aus sich selbst heraus anstrebt, wird nur erreicht, indem die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die entsprechende Person sich wirklich frei entscheiden kann; dies war auch der Grundgedanke der diskutierten Naturrechtstheorie, insbesondere in Bezug auf das Wohlwollen. Wie die vorangehenden Ausführungen zur menschlichen Sinnlichkeit aufzeigten, ist eine Befreiung von verdunkelnden Leidenschaften durchaus möglich, ohne den Menschen zu einer vernünftigen Maschine zu degradieren. Letztlich kann der Aufklärer als »Volkslehrer« lediglich auf die ›wahren‹ Güter aufmerksam machen und in verschiedener Weise, anschaulich oder verständig, Gründe bereitstellen. Die Entscheidung zur guten Tat muss dabei, siehe hier Abschnitt 1, freiwillig bleiben. Mendelssohns optimistischer Glaube an eine eingeborene Neigung, seinesgleichen nicht zu schaden, ja mehr noch, dass die Glückseligkeit des Anderen allen Menschen naturgemäß am Herzen liege, begründet sein Geschichtskonzept – und erlaubt ihm in seiner gesellschaftsphilosophischen Position, auf Zensoren zu verzichtend, auf den ›natürlichen Gang der Dinge‹ zu vertrauen. Niemand darf bevormundet, noch aus seiner Selbstverantwortlichkeit entlassen werden. Der ›Mechanismus‹ einer tatsächlich ablaufenden, bestmöglichen »Auswicklung« aller Fähigkeiten, wenn ihnen nur Freiraum dazu verschafft wird, ist allerdings in Absehung von einer göttlich auf das

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

Beste eingerichteten Welt kaum denkbar. Mendelssohn hat es hier versäumt, ein umsetzbares System von ›checks and balances‹ zu entwickeln, dass eine politische Operationalisierung seiner Vorstellungen ermöglichte. Sein Interesse an Sicherheit, an einer neuen Gesellschaft, in der alle Menschen gleich welchen Glaubens zusammen leben könnten, zeigt sich auch in der spezifischen Differenz zwischen seinem und Kants Aufklärungsaufsatz. Kants konkretem, bahnbrechend am Kriterium der Selbstgesetzgebung (vgl. VIII, 35 f., 39) ausgerichteten Ansatz steht mit Mendelssohns Gedankengang ein weitaus konservativer erscheinendes und vielmehr tastend gewonnenes Konzept gegenüber.202 Doch auch er versuchte Grundlagen zu bestimmen, aufgrund deren allererst eine Gesellschaft der Würde und gegenseitigen Akzeptanz geschaffen werden kann. Seine Überlegungen zur Toleranz geben dem beredten Ausdruck.

202 Dennoch würde ich nicht so weit gehen, mit Mack 2003, 86 ff. Mendelssohns Ansichten als ein implizites Gegenprogramm zum Kantischen Vernunftbegriff zu werten. Es ist aber nicht abzuleugnen, dass der von Mack herausgestellte »Irrationalism« im Mendelssohnschen Glaubensbegriff ein Feld eröffnet, das genau den Bereich des Menschen berücksichtigt, den der Kantischen Rigorismus (in dessen System: zu Recht) außen vor lässt. Bei Mendelssohn sind die Ebenen des Deskripiten und der Normativität nicht scharf getrennt, was immer wieder zu Problemen führt, aber gerade eine Lesart seines Werks als anthropologisch und damit in dem Zwischenraum von Normativität und Natur beheimatet erlaubt. Für Kant wiederum umfasst der Bereich des Normativen sowohl Epistemologie wie Moral; dies kann im Mendelssohnschen, anthropologischen Verständnis nicht der Fall sein; engt aber zugleich auch den Zugriffsbereich der von ihn verteidigten Normen entscheidend ein, bzw. legt sie auf eine starke Metaphysik fest. Ich komme im letzten Kapitel darauf zurück.

IV. Toleranz statt Assimilierung: normative Konsequenzen der Glaubenswahrheiten »Meine Religion, meine Philosophie und mein Stand im bürgerlichen Leben geben mir die wichtigsten Gründe an die Hand, alle Religionsstreitigkeiten zu vermeiden, und in öffentlichen Schriften nur von denen Warheiten zu sprechen, die allen Religionen gleich wichtig seyn müssen.« Mendelssohn, Sendschreiben an Lavater, JubA VII, 10

Der Kernpunkt von Mendelssohns Philosophie, besonders nach 1770, lässt sich mit Goetschel als das Projekt, »Alterität, Differenz und Minorität im Rahmen einer emanzipatorischen Theorie zu thematisieren«203, umschreiben. Letztlich zielen die Überlegungen über Sprache, Gesellschaft, Geschichte und Bildung genau auf diesen Punkt: auf den jedem Mitmenschen und jeder übergeordneten, diesseitigen Instanz unverfügbaren Kern der individuellen Persönlichkeit. Mendelssohn hat diesen – etwas einseitig – in den Glauben, die positive Religion gesetzt. Doch ist diese Ansicht auch auf andere Bereiche übertragbar; herauszuheben ist vielmehr die damit transportierte Grundüberzeugung, dass die Menschen aufgrund eines jeweils unverfügbaren Kerns einer auf diesen ausgerichteten Gesellschaftsform bedürfen. In Mendelssohns Toleranzforderung findet dieser Gedanke einen frühen Ausdruck; er wird, und dies weist über zeitgenössische Forderungen nach »Duldung« hinaus, ihn als einen bestimmenden Faktor der Bestimmung des Menschen reformulieren und dieser damit eine rechtliche sowie anthropologische Dimension zu geben versuchen. Dabei spielen die Schriften im Umfeld des Jerusalem sowie der Aufklärungsdebatte eine besondere Rolle. »Als zentrales Motiv der großen Essays der Aufklärung ist Toleranz der Prüfstein der Verwirklichung von Humanität.« (C.F. Berghahn 2001, 15) Ich werde auch deshalb im Folgenden nicht auf die Frage nach dem Gelingen seiner Verteidigung des Judentums eingehen204, sondern vielmehr auf den Aspekt, inwiefern positive Religion als solche zur Erfüllung menschlicher Bestimmung beizutragen 203 Goetschel 1996, 164, vgl. auch ders. 2004, 150. Zum Toleranzbegriff in historischer wie systematischer Hinsicht siehe Forst 2003 und ders. (Hg.): Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend. Frankfurt a.M./New York 2000 (=Theorie und Gesellschaft 48). Dabei ist in klarer Absetzung zu Wolff hervorzuheben, dass Mendelssohn auf der Notwendigkeit einer positiven Religion insistiert: it is »simply indispensable for the pursuit of true perfection« (Arkush 1994, 126). 204 An diesem Punkt ließe sich auch dem negativen Ergebnis Arkushs Überlegungen zu Mendelssohns apologetischen Versuchen im Jerusalem zustimmen (vgl. Arkush 1994, 230 f.): insgesamt gelingt es ihm nicht, die Vorwürfe Cranz’ auszuräumen. Jedoch ist dies auch nur bedingt sein Interesse: nicht die Verteidigung des Gewesenen, sondern der Aufbau des Künftigen in nunmehr genauerer Abstimmung mit der von ihm herausgearbeiteten »Bestimmung des Menschen« ist sein Ziel (dies deutet auch Arkush 1994, 231 an).

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

vermag. Zu einer vollständigeren Beantwortung dieser Frage stehen freilich alle vier Teilkapitel, die ein möglichst umfassendes Bild von der politischen wie religiös-praktischen Bestimmung des Menschen, eines sozialen, vernunftfähigen Wesen im Austausch mit seinen Mitmenschen und im Bewusstsein einer Tradition stehend, bieten sollen. Auf diese das positive Recht überschreitende Forderung nach einer nicht nur politischen, sondern auch humanen Toleranz kommt auch Lessings Nathan zu sprechen. Generell stimmt Mendelssohn mit dessen in der Ringparabel angedeuteten Implikationen überein: Jede positive Religion kann sich des Ringes würdig erweisen, wenn sie die eudaimonistische Glückseligkeitslehre der Vernunft nicht verletzt, sondern fördert.205 Mehr noch, ist der Streit um den Ring nicht mit einer gänzlichen Auslöschung der Kombattanten zu haben; denn damit wäre der Ring ohne Träger, mithin wertlos. Mit der Ringparabel allein sind in dieser Hinsicht die wichtigsten Punkte von Mendelssohns Überlegungen bereits angesprochen, aber noch nicht entscheidend zu Ende gedacht. Toleranz gewinnt im Nathan jedoch noch einen weiteren, nicht sofort sichtbaren Aspekt, der sich in der Schlussszene offenbart. Hier werden die bisher für sich betrachteten, bzw. sich in Dialogen in kleinen Gruppen und wechselnden Konstellationen miteinander auseinandersetzenden, sich aber letztlich als isoliert wahrnehmende Individuen zu einer großen Familie zusammengeführt: Recha, Nathans Adoptivtochter ist die Schwester des Tempelherrn (worüber sie glücklicher scheint als er); beide wiederum die verloren geglaubten Kinder vom Bruder des Sultan Saladin. In einer vielleicht absichtlich anrührenden bis ironisch-rührseligen Schlussaufstellung liegen sich alle Personen, und damit die von ihnen repräsentierten Religionen in den Armen. Doch einer fehlt in diesem Zusammengehörigkeitsrausch: Nathan steht am Rand. Ein Erklärungsansatz dieser Konstellation ist, dass er zwar nicht in die Familie integriert, sondern ihr über die Freundschaft verbunden ist. »Freundschaft wird hier zum Symbol einer rein menschlichen Beziehung, die alle religiösen und sozialen Fixierungen aufhebt«206 und damit zum besten Fundament für wahre, und das heißt auch: humane Toleranz erklärt werden könnte.207 Auch die sonstige

205

Schmidt 1975, 135 formuliert dies als das ewig zum Streben nach wahrer Religion animierende »Geheimnis« der positiven Religionen; Religionen sind in diesem Sinne immer auf Dialog ausgerichtet. Dass sie dadurch jedoch in sich »etwas Vorläufiges« haben, wird Mendelssohn gerade abwehren. 206 K. Berghahn 2001, 116. Freundschaft steht hier vor dem »bürgerlichen Prinzip der Gleichheit«, sie lässt sich nicht verrechtlichen. C. F. Berghahn 2001, 165 spricht dagegen, etwas unverständlich, angesichts Nathans Außenseiterrolle von einem »Missverständnis«. 207 Das mit der Schlusskonstellation jedoch auch gerade durch die nur unvollkommene Familienzusammenführung als eine Warnung dienen könnte, kann hier nur erwähnt werden. Zum Grundgedanken der Humanität im Nathan siehe Benno von Wiese: »Nathan der Weise«, in:

IV.4 Toleranz statt Assimilierung: Konsequenzen der Glaubenswahrheiten

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Anlage des Stücks spricht davon: Die Dialoge sind lange Dispute, die jedoch zumeist in Freundschaftsbekundungen enden. Und schließlich bleibt Nathan in einer freundschaftlichen Beziehung zu den Anderen. Ihre Beziehung beruht – und es lässt sich vermuten: ebenso sicher – weder auf rechtlichen noch auf im weitesten Sinne familiären Banden208, sondern ganz auf Freiheit und Sympathie, die nicht zuletzt in dem überragend tugendhaften209 wie klugen Charakter Nathans begründet sind. Zugleich wird die Existenz seiner Religion durch das Freundschaftsband nicht gefährdet – so zumindest die Hoffnung des Schlusses – , sondern mit ihm zusammen akzeptiert. Sich den Herausforderungen der Religionen zu stellen heißt also nicht, einen ihnen gemeinsamen Nenner zu finden und alles Übrige als überkommende Traditionen wegzuwerfen, sondern sie in ihrem Kern unangetastet zu lassen. Toleranz wird erst möglich, wenn trotzdem ein umfassendes gesellschaftliches Gefüge neben der Religion möglich ist, das dem inneren Menschen210 seine Freiheit lässt. Mendelssohn hat dies in seinen Überlegungen zur Gesellschaft und dem verbindenden Element der Vernunftreligion gesucht.

Nathan der Weise. Hg. von Klaus Bohnen. Darmstadt 1984 (=Wege der Forschung 587), 133–52 (zuerst 1931); eine Analyse der Schlussszene liefert auch Klaus Bohnen: »Nathan der Weise. Über das ›Gegenbild einer Gesellschaft‹ bei Lessing« im selben Band, 374–401 (zuerst 1979). Siehe auch Ernst Loeb: »Ringparabel und Erziehung des Menschengeschlechts: Widerspruch oder Ergänzung?«, in: Seminar 16 (1980), 125–35. 208 Die prinzipielle Gleichwertigkeit der drei Religionen in der Auflösung der Ringparabel zeigt dahingegen noch die familiären Bande zwischen Christentum, Judentum und Islam (vgl. Forst 2003, 406). Lessing scheint also zwischen dem gemeinsamen Ursprung der Religionen in einer wahrhaft göttlichen auf der einen Seite, und der Gleichwertigkeit, aber nicht unbedingt familiären Verbundenheit der Gläubigen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Letztere fordern eine tiefgreifendere Toleranz, da sie sich gegenüber einem ›Fremden‹ (i. S. eines nicht zur ›Verwandtschaft‹ Gehörenden) äußern muss. Nimmt man das Programm der Erziehung für gescheitert an, so ist es eben nicht »besser, [alle Religionen] liefen wieder auf einen gemeinsamen Punkt der Vereinigung zu« (Forst 2003, 407) – vielmehr muss die Vielfalt in Ermangelung besseren ›Wissens‹ bzw. fehlender einschlägiger Offenbarung erhalten werden. 209 Sorkin 1992, 7 hebt hervor, dass Lessing damit auf das größte Problem der Judenemanzipation in der Aufklärungszeit anspielt: nicht die Religion allein stand ihnen im Weg, auch ihre Tugendhaftigkeit wurde angezweifelt. Es war das Anliegen Gellerts (vgl. ebd., 8), Lessings, Mendelssohns und Dohms, gerade hierfür eine Bresche in die Mauer der Ablehnung zu schlagen. Zur gerade in der zeitgenössischen Literatur gebräuchlichen Figur des »edlen Juden« siehe Jürgen Stenzel: »Idealisierung und Vorurteil. Zur Figur des ›edlen Juden‹ in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts«, in: Juden in der deutschen Literatur. Hg. v. Stéphane Mosès und Albrecht Schöne. Frankfurt a.M. 1986, 114–26. 210 Vgl. Forst 2003, 404: »An mehreren Stellen des Stückes macht Lessing klar, dass die trennenden Unterschiede zwischen Christen, Juden und Muslimen zwar nicht vollkommen bedeutungslose Hüllen sind, die man ohne weiteres ablegen könnte, dass aber alle Individuen als Menschen durch gemeinsame Bedürfnisse, Gefühle, moralische Maßstäbe und den Glauben an einen Gott miteinander verbunden sind.« Auf die Besonderheit im Schluss des Stücks geht Forst allerdings nicht ein.

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Seine Forderung nach Toleranz211 liegt quer zu den Überlegungen zu Aufklärung, Kultur und Bildung; denn sie ist schon durch »schlichten gesunden Menschenverstand« (JubA VIII, 197) zu erkennen – sie geht damit der Etablierung einer besseren Gesellschaftsordnung als eine grundlegende Ordnungs- und Lebensmaxime voraus. Die höheren Stufen der »Cultur« sollten in dieser Hinsicht entsprechend nicht zu einer Einebnung führen, sondern zu einer Eingliederung Andersgläubiger im Staat bzw. der Gesellschaft, die die Anderen in ihrem Anderssein zu akzeptieren und zu integrieren in der Lage ist. Die Idee dieser Form von Toleranz war dabei auch negativ begründet: Mendelssohns Denken ist nicht eschatologisch. Er rechnet daher nicht mit einer allumfassenden und eben gleichmachenden Erlösung (vom positiven Glauben), sondern umgekehrt war er sich immer der menschlichen Beschränkung in diesem Gebiet bewusst. Gerade aufgrund des menschlichen, begrenzten Verstandes hielt er eine letztendliche, vernünftige Lösung in diesem praktischen212 Gebiet für unmöglich, weshalb ihm das Bedürfnis nach den Tröstungen positiver Religionsausübung als ein unhintergehbarer Bestandteil menschlichen Lebens erschien. Toleranz schien ihm die einzige Möglichkeit, sich der ewigen Verführbarkeit zur Unterdrükkung Anderer im Zeichen einer assimilierenden ›Akzeptanz‹ oder einer spekulativen Heilslehre zu widersetzen. Zugleich verfocht er bestimmt den allen positiven Religionen gemeinsamen Untergrund einer Vernunftreligion, die das Fundament einer wahrhaft aufgeklärten Gesellschaft bilde.

1. Wie tolerant war das aufgeklärte Preußen? Ein historischer Abriss Mendelssohns gelehrte Zeitgenossen hatten zumeist ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Judentum. »Es fiel ihnen offensichtlich leichter, die alten Hebräer […] aus einer geschichtsphilosophischen Perspektive zu loben, als sich mit den unter ihnen lebenden Juden zu beschäftigen.«213 Jüdische Zeitgenossen konnten aus der Perspek211

Dabei gilt auch für Mendelssohn, was Forst 2003, 352 für die Aufklärungszeit insgesamt konstatiert: es werden kaum neue Argumente entwickelt, sondern auf bereits vorhandene Ideen aufruhend – für Mendelssohn sind hier vor allem Shaftesbury, Locke, Wolff und Spinoza, aber auch Montesquieu zu nennen – die eigene Position entwickelt. Er nimmt freilich in Rücksicht auf sein Judentum eine Sonderstellung ein, die sich auch auf die an seine Position anknüpfenden Rechtsund politischen Folgerungen erstreckt. Für ihn ist Toleranz nicht zugleich Kritik der positiven Religionen, an denen er vielmehr festhält. Sein Festhalten an ihnen ist paradigmatisch für die von Forst 2003, 353 in dieser Hinsicht festgestellten »Grenzen der Aufklärung bei den Aufklärern selbst«. 212 Seine Skepsis umfasst keinesfalls, wie etwa dem Konzept Jacobis gemäß, die Wahrheiten der Metaphysik über die Bedingungen wahrer Erkenntnis. 213 K. Berghahn 2001, 3; vgl. auch ders. 66 in Bezug auf Schillers geschichtsphilosophischen Entwurf in der »Sendung Moses«: die großartigen Taten der »Hebräer« zu Zeiten des AT konnte er goutieren – mit der Akzeptanz seiner jüdischen Mitbürger allerdings tat er sich schwer.

IV.4 Toleranz statt Assimilierung: Konsequenzen der Glaubenswahrheiten

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tive einer christlich-eschatologischen Geschichtsbetrachtung nur Ungläubige sein, die den Ruf Jesu nicht gehört – oder ihn nicht akzeptiert hatten. Für viele christliche Aufklärer (allen voran wohl Lavater) war allein das Christentum in der Lage, aufgeklärt zu werden; die Juden hatten nach dem obigen Modell bereits ihre Uneinsichtigkeit bewiesen. Die Aufklärung des Christentums bedeutete allerdings nicht, dass der Glaube über Bord geworfen wurde; vielmehr häuften sich immer ›rationalere‹ Erklärungen Gottes – und zumeist war hier der christliche Gott gemeint. Ebenso problematisch war für die Position des Judentums daneben, sozusagen von der ›Gegenseite‹ aus betrachtet, dass es selbst nicht so homogen war, wie es prima facie den Anschein machte (vgl. Rengstorf 1977, 11). Auch hier stritten Reformer und Konservative um die richtige Art gesellschaftlicher Integration. Bislang hatte sich keine von allen Seiten geteilte, konstante integrative Strategie entwickeln können. Generell galt nur idealtypisch die Maxime, dass Gegensätzlichkeiten bezüglich der Religion aus der gesellschaftlichen Realität nicht wegzuleugnen waren und also ein Weg gefunden werden musste, mit ihnen produktiv, tolerant und aufgeklärt umzugehen. Zumeist bestand die ›Lösung‹, wenig ideal, in Unterdrückung, Verfolgung oder Leugnung. Um nun Mendelssohns Ausformulierung des Toleranzgebots angemessen reformulieren zu können, sei in einem ersten Schritt, zumindest umrisshaft, den Zustand religiöser Toleranz nachgezeichnet; ich schließe mich dabei an die diesbezüglichen Arbeiten Altmanns, K. Berghahns und – hinsichtlich Christian Wilhelm Dohms Emanzipationsschrift – Risses an.214

Probleme der Verständigung: Vorurteile, Projektionen und Verunglimpfungen Innerhalb der gelehrten Diskussion um Aufklärung hatte Abbt in seinen Notizen von 1763, die sich mit der Frage nach dem Wert von Vorurteilen befassten, dieses beschrieben als 1) ein »Urtheil, welches ein Subjekt fället; aber 2) so, daß das Subjekt selbst die Beständigkeit seines Urtheils nicht erkennet; und zwar 3) nicht erkennet: weder aus der Natur des Objektes, worüber das Urtheil gefället wird: im Falle, daß die Bestandheit des Urtheiles daraus erkannt werden kann; noch 4) aus andern Gründen der Wahrheit, wenn diese ausser dem Objekte liegen.« (Werke IV, 142) Wie schon der etwas verschwommene Verweis auf die »ausser dem Objekte« liegenden Gründe, die von der Berichtigung des Urteils abhalten, andeutet, so sahen sich tatsächlich diejenigen Volksgruppen, auf deren Beurteilung diese Beschreibung 214

K. Berghahn 2001, Altmann 1973 und 1982, Risse 1996, sowie darüber hinaus das Themenheft zu Judentum in der Aufklärung, Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 4 (1977), sowie das Beiheft zum Lessing Yearbook Humanität und Dialog, Detroit, München 1982.

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

zutrifft, einem komplexen Gefüge aus Fehlurteilen und Ausnutzung, Anfeindungen und murrender Duldung gegenüber; laut Forst (2003, 410 f.) gilt dies auch im 18. Jahrhundert für kaum eine Gruppe so wie für die Juden. Dabei dient das Vorurteil zum einen dem gesellschaftlichen Interesse nach Vereinfachung und restloser Konfliktlösung, es ist zum anderen aber auch der wirtschaftlichen und intellektuellen Situation Einzelner geschuldet. Wer nach Vorurteilen denkt (und sie nicht hinterfragt. bzw. »ihre Beständigkeit« (Abbt) nicht erkennt), kann seine Umgebung leicht erfassen; für ihn ist nichts unbekannt, sondern in feste Kategorien eingeordnet. Ein leises Gefühl der Ungerechtigkeit, das einen bei der Ausübung und Explizierung dieses argumentativ wenig tragfähigen Gedankenguts beschleicht, entläd sich nur zu gern in Aggression.215 Darüber hinaus konnte die Verfechtung eines Vorurteils wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen. Dass Vorurteile damit generell ein Interesse verfolgen216, hat Lessing in seinem Schauspiel Die Juden (1749) ironisch entlarvt: Das Abwälzen eines Verdachts auf den qua gesellschaftlich geteilten Vorurteilen in der schwächeren Position Befindlichen dient hier schlicht der persönlichen Bereicherung. Die tatsächlichen Räuber, so zeigt es Lessing, sind derart daran interessiert, ihr Verbrechen den Juden anzuhängen, dass sie zur Lenkung dieses Verdachts während ihres Raubzuges Judenbärte tragen, was wohl nur sehr dummen Juden eingefallen wäre; außerdem lassen sie sich in den folgenden Szenen auf erhitzte, deutlich antisemitische Schuldzuweisungen ein, um die eigene Weste als möglichst weiß zu präsentieren. Lessing parodiert damit geschickt die außerhalb des Theaters allgemein geteilte Bereitschaft, sich auch durch allzu offensichtlich falsch gelegte Fährten täuschen zu lassen, wenn sie nur dem eigenen Weltbild entsprechen. Doch eine wirkliche Verständigung zwischen (auch aufgeklärten) Christen und Juden war mit einigen auch kulturell zu erklärenden Schwierigkeiten behaftet. Schon allein die Art des jüdischen Glaubens mit einem Leben nach den Ritualgesetzen unter gleichzeitigem Verzicht auf Universalkirche und an dieser ausgerichteten Dogmatik konnten viele Christen nicht nachvollziehen.217 Beiden gemeinsam war zwar ein Begriff von religiösen Gesetzlichkeiten – doch die Umsetzung sah in der einen Hinsicht universale, in der anderen gemeindliche Richtlinien vor. Vor diesem Hintergrund wuchs das Unverständnis an den unterschiedlichen Ausdrucksarten des 215

Ein gutes Beispiel liefert der Diener mit dem sprechenden Namen Martin Krumm in Lessings Die Juden (vgl. Werke 1, 537). 216 Vgl. K. Berghahn 2001, 76, der in den folgenden Passagen einige zeitgenössische Edikte zitiert. Letztlich, so seine überzeugende Interpretation, laufen diese auf das bestmögliche Ausnutzen der Juden für wirtschaftliche Interessen hinaus. »Die Juden waren dem absolutistischen Staat nur genehm, wenn sie reich waren.« (ebd., 24) 217 Vgl. dazu Mendelssohns Brief an Bonnet vom 9. Februar 1770 (JubA VII, 316–26), in dem dieser die Lage der Juden in Bezug auf die Denker des 18. Jahrhunderts illustriert.

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Glaubens. Der jüdische entsprach dabei nicht den Idealvorstellungen des im Zuge des Mittelalters vielmehr an christliche Vorstellungen angepassten Staats. Auch deshalb wurde es zu einem Topos des Antijudaismus im 18. und 19. Jahrhundert, den Juden eine bewusste Ausgliederung aus dem Staatskörper zu unterstellen. Juden, so hieß es, praktizierten eine ›typisch jüdische Doppelmoral‹ (vgl. K. Berghahn 2001, 18) und bewegten sich als Fremde im Staat. Geschuldet waren diese Vorwürfe jedoch vielmehr den Verhältnissen der Juden in den jeweiligen Staatswesen: dass sie sich abkapselten, mag zu einem gewissen Grad in ihrem Glauben begründet sein, der (je nach Auslegung) mehr oder weniger streng vorschrieb, sich von den Christen fernzuhalten218 – jedoch ist unbestreitbar, dass die Christen selbst die Juden zur Isolation zwangen, indem sie Ghettos errichteten und deren Grenzen gegen jüdische Einwanderer (bzw. Versuche, aus ihm in die christlichen Stadtviertel auszuwandern) sicherten; dies trifft auf das Berlin der Aufklärungszeit in besonderem Maße zu. Die erzwungene Lage wurde, zur eigenen Gewissensentlastung, den Juden selbst angelastet. Ein deshalb so schwer zu entkräftender Vorwurf, weil er, siehe oben, der äußeren Erscheinung nach nicht völlig fehlgeleitet war, allerdings auf die falschen Gründe zurückgeführt wurde. Allzu deutlich ist in Bezug auf die inhaltliche Ausdeutung des Antijudaismus die Instrumentalisierung herrschender Denkmuster, die die Vorurteile immer in der »Gestalt ihrer Jahrhunderte« (Vorrede zu Manasseh Ben Israel, JubA VIII, 6) auftreten ließ. Unter dem Primat des theologischen Denkens des Mittelalters hatte man den Juden zumeist religiöse Verfehlungen vorgeworfen; im Zeitalter der Aufklärung konzentrierte man sich dahingegen auf ihre angeblichen moralischen und menschlichen Mängel (vgl. Schoeps 1977, 77). Allerdings ist es eine Sache, ob sich Juden von Christen fernhalten und eine ganz andere, ob sie dabei den christlichen Glauben gezielt diffamieren. Gerade diesen Unterschied aber wollten die Verfasser der vielen Hetzschriften nicht wahrhaben und unterstellten den Andersgläubigen vielmehr mit Vorliebe moral- und gesellschaftszersetzende, barbarische Sitten.219 So 218

Dies sollte auch zur Bewahrung der eigenen, immer gefährdeten Identität dienen, vgl. Rengstorf 1977, 16–20. Rengstorf hebt darüber hinaus die schwierige Koinzidenz der Ab- und Ausgrenzungsbewegungen hervor. »Da ist in weiten Bereichen Europas, aber auch in den vom Islam beherrschten Randgebieten ein Judentum, das meint, es könne nur überleben und sich für seine mit seiner Erwählung durch Gott gegebene Sendung erhalten, wenn es sich gegenüber seiner Umwelt so isoliere, daß es ungehindert nach seinen überkommenen Grundsätzen leben könne; […]. Auf der anderen Seite befindet sich eine christlich-kirchliche Gesellschaft, für die das Judentum in ihrer Mitte einen ebenso unerwünschten wie möglicherweise sogar gefährlichen Fremdkörper bildet […].« (19 f.) 219 Eines der zugleich prominentesten und abstoßendsten diesbezüglichen Hetzschriften war das 1711 erschienene antisemitische Pamphlet Entdecktes Judentum von Johann Andreas Eisenmenger (1654–1704). Dieses wurde zwar erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts (davor wurde es als unzeitgemäß und nicht mit den herrschenden rationalistischen Positionen vereinbar gesehen,

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wurde die »typisch jüdische Doppelmoral« den Juden aufgenötigt und zwang sie, außerhalb des jüdischen Ghettos höchste Zurückhaltung zu üben. Juden konnten nur darauf rechnen, dass man sie nicht angriff; weniger, dass man sie als Juden akzeptierte. Akzeptanz ihrer Person konnten sie zumeist eher dadurch erreichen, dass sie Hinweise auf ihre kulturelle wie religiöse Herkunft verschleierten. Wozu sie gezwungen waren, ließe sich also treffender mit Doppelleben als mit Doppelmoral bezeichnen. Ausgerechnet das 1750er Generalreglement Friedrichs II., des für seine Toleranz so gefeierten Monarchen, erschwerte auch von juristischer Seite das bürgerliche Leben der Juden entscheidend220; es war weniger ein aufgeklärtes, denn ein restriktives Gesetz über »die Judensachen in preußischen Landen«.221 Mirabeau bezeichnete es sogar als derart streng, dass es »einem Kannibalen würdig« sei (vgl. Schoeps 1977, 79). Das Edikt des Vorgängers, Friedrich Wilhelm I., wurde um das Sechsfache er-

vgl. K. Berghahn 2001, 15 u. 21.) in weitem Umfang rezipiert – jedoch der Vorwurf trifft gut mit Mendelssohns Positionen im Jerusalem zusammen. In seiner Schrift »Ueber die 39 Artikel der englischen Kirche« (1784 in der Berlinischen Monatsschrift erschienen; zit. JubA VIII) weist Mendelssohn sogar selbst – wenngleich in polemischer Absicht – auf dessen antisemitische Ausfälle hin: »[…] noch hat kein Eisenmenger selbst meine Mitbürger geradezu des Meineides beschuldigt« (JubA VIII, 222) Auch Dohm geht auf ihn als einem besonders ausfälligen Repräsentanten antijüdischer Schmähschriften ein (vgl. Dohm 1781, 22, FN). Britannien brachte zu just dieser Zeit mit der 1714 erschienenen Toleranzschrift des Deisten John Toland Reasons for Naturalizing the Jews in Great Britain and Ireland eine gänzlich anders gelagerte Diskussion hervor (siehe Forst 2003, 360). Immerhin muss aber auch hier angemerkt werden, das Toland seine Schrift anonym publizierte. 220 Vgl. C. F. Berghahn 2001, 34. In seinem »Testament politique« wendet Friedrich II. sich explizit – und damit inkonsistent in Hinsicht auf die gleichzeitige Forderung nach Toleranz – gegen die Juden als die gefährlichste aller Sekten. 221 Abgesehen von diesem (oberflächlichen) Unterschied war auch die weitaus größere Akzeptanz, die die Juden durch das Toleranzedikt Josephs II. in Wien 1782 erhielten, in erster Linie staatspolitischen Interessen geschuldet: »In Österreich, dem Haupt der katholischen Liga [und dem Erzfeind Preußens], mußte Joseph II. eine aktive Toleranzpolitik gegenüber allen religiösen Minderheiten betreiben, um die Einheit seines Vielvölkerstaates nicht zu gefährden und den Einfluß fremder Staaten einzudämmen.« (K. Berghahn 2001, 36) Interessanterweise ist das Toleranzedikt für die Juden eher eine Folgeerscheinung; denn hauptsächlich sollte die zerstrittene Christenheit geeint werden (siehe dazu Biester in der Berlinischen Monatsschrift III, 1784, 184–88). Erst nach den christlichen Minoritäten kamen die rechtlichen Verbesserungen auch den Juden zugute. Letztlich jedoch ist Berghahns Fazit durchaus negativ: »Sie [die christlichen Deutschen] gewährten Toleranz und Emanzipation und erwarteten Akkulturation und Assimilation. Die daraus sich ergebende Vorstellung von einer deutsch-jüdischen Symbiose war höchst selbstbezogen und einseitig, denn sie verlangte von den Juden kulturelle Anpassung und religiöse Selbstaufgabe.« (ebd., 39) Besser wäre es gewesen, die christliche Bevölkerung hätte aus allen Beispielen religiöser Unterdrückung (Biester nennt Beispiele der Unterdrückung der Lutheranischen Bevölkerung) gelernt, »stets solche Menschen an edlem toleranten Betragen so weit zu übertreffen, als wir sie sicherlich schon am Verstande und an Aufklärung übertreffen.« (ebd., 187) Damit wird en passant Toleranz als eine Forderung der Kultur, nicht der Aufklärung im engeren Sinne, reformuliert.

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weitert222, freilich ohne deshalb gerechter, sondern repressiver zu werden. Friedrich II. ging es auch nicht darum, die bürgerliche Integration der Juden voranzutreiben, sondern seinen Staatshaushalt aufzustocken. Finanziell waren die Juden auch unter seiner Herrschaft willkommen; weil er ihr Geld brauchte, musste er Rationalisierungen erfinden, um sie nicht, wie es der Geist des Edikts eigentlich gefordert hätte, samt und sonders auszuweisen. Die im Edikt schließlich formulierte rechtliche Stellung der Juden in Preußen ließe sich letztlich so umschreiben: ihr Geld sollte der Finanzund Wirtschaftspolitik zugute kommen, ihre Anzahl sollte unterdrückt, ihre soziale Stellung auf niedrigsten Niveau zementiert werden. »Fast könnte man behaupten, daß der Soldatenkönig seine Juden als persönliches Eigentum und Finanzmonopol betrachtete, um die Staatsmaschine in Schwung zu bringen […]. Die Juden wurden in Preußen sozusagen verstaatlicht.« (K. Berghahn 2001, 26, 35) Im Zuge dieser »Verstaatlichung« wurde eine differenzierte, aber immer ihren repressiven Charakter wahrende Abstufung der bürgerlichen Status’ von Juden festgelegt.223 Mendelssohn gehörte ab 1763 der dritten, noch relativ privilegierten Gruppe der »außerordentlichen Schutzjuden« an.224 Er war in Berlin, also an einem festgelegten Ort geduldet, durfte dort wohnen und einem Beruf nachgehen (wobei die Berufsmöglichkeiten wiederum v.a auf den Handel oder das Münzwesen beschränkt waren). Immer jedoch konnte dieser Status – auch gänzlich willkürlich, getarnt als Strafe für »unbotmäßiges Verhalten« jeglicher Form – aberkannt werden.

Dohm: der Befreiungsschlag? Erst mit Christian Wilhelm Dohms Über die bürgerliche Verbesserung der Juden225 gelang in Preußen ein Schritt über eine eher innerreligiöse und künstlerische Fassung der Toleranzdebatte wie von Lessing (im gegebenen Zeitraum lässt sich dies 222

Die Edikte von 1730 und 1750 sind abgedruckt in: Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen. Bd. II. Berlin 1912, 15–55. 223 Zu den Kriterien dieser Abstufungen siehe K. Berghahn 2001, 33 f., Thom 1989, 10. 224 Wobei sich der Schutz nicht auf seine Familie erstreckte; Fromet Mendelssohn erhielt ihre ›Privilegien‹ erst nach dem Tod ihres Mannes. Zu Beginn seiner Berliner Zeit, also 1743, jedoch hatte Mendelssohn lediglich den Status eines bloß geduldeten Juden inne, der aus der Stadt vertrieben werden konnte, sobald er keine Anstellung mehr hatte. Erst hielt ihn sein Lehrer Rabbi Fraenkel durch die Gemeinde in der Stadt, dann ab 1750 der Seidenmanufakturinhaber Bernhard. Anfangs war Mendelssohn dort als Hauslehrer, später (ab 1754) als Mitarbeiter in der Firma tätig. 225 Erschienen bei Friedrich Nicolai, Berlin und Stettin 1781, wesentlich verbesserte Auflage 1783 (hier zit. nach der ersten Fassung). Toury 1977, 57 weist in dieser Hinsicht auf ein ähnliches Dokument »Schreiben eines Juden an einen Philosophen, nebst der Antwort«, das 1753 anonym in Berlin erschien, hin. Hier wird der Einfluss der britischen Diskussion über die auch soziopolitische Gleichberechtigung der Juden im Staat zum ersten Mal formuliert.

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allein für das Schauspiel Die Juden von 1749 sagen; der Nathan erschien erst nach Dohms Abhandlung) hinaus. In seinen Überlegungen zur Judenemanzipation war eine umfassende staatstheoretische Perspektive mit angelegt; ging es doch darum, nicht nur die Toleranz des Anderen, sondern auch das Recht, anders zu leben und zu glauben festzuschreiben. Dohm appellierte in seiner Schrift nicht an herrscherliches Verantwortungsgefühl oder gar Nächstenliebe, sondern setzte ganz pragmatisch auf Eigennutz, Utilitarismus, Merkantilismus.226 Die nötige Abänderung der bürgerlichen Verfasstheit des Staates, die völlige Aussetzung oder tiefgreifende Umgestaltung sämtlicher Reformen, die letztlich auf eine Aufhebung der die Juden isolierenden Edikte abzielende Intention konnte anders als auf diesem Weg, der die moralisierende Argumentation klug vermied, erst gar nicht auf Erfüllung hoffen. Eine besondere Schwierigkeit war nicht zuletzt, dass der Staat nicht säkular ausgerichtet war. Die Staatskirche konnte keine andere Religion neben sich dulden, sondern musste allein mit anderen Überlegungen – eben merkantilen Nützlichkeitserwägungen – in Einklang gebracht werden. Andere, zu tolerierende Religionen konnten vor diesem Hintergrund allein als »Kulturen« betrachtet werden. Dohms Konzentration auf das Machbare, also der Bezug auf das Absehen von der Religion auf einen im gegebenen Kirchen- und Staatswesen realistischen Bereich, führte somit auf die Beschränkung auf das Recht und die sich daran anschließende Politik. Es ging rein um die »bürgerliche Verbesserung der Juden« im Staatswesen, aufgrund von Kosten-Nutzen-Überlegungen, wobei auch demografische Überlegungen eine Rolle spielten.227 Dohm argumentierte etatistisch, aber damit – zumindest für seine Zeit – praxisorientiert. Seine Abhandlung ist in dieser Hinsicht »eine echte Denkschrift für den aufgeklärtesten Absolutismus«.228 Vorurteile bekämpft er mit 226

Dies tat er selbst durch den anti-merkantilistisch erscheinenden Impetus (vgl. Liberles 1988, 37), dass die Juden nicht allein auf Tätigkeiten im monetären Sektor angewiesen sein sollten; auch hier stand der pragmatische Gedanke einer Durchmischung der Tätigkeitsbereiche, der letztlich Missbrauch verhindere, im Vordergrund. Dem steht jedoch nicht entgegen, dass Dohms erklärtes Argumentationsziel letztlich eine umfassende moralische Verbesserung der ganzen Gesellschaft darstellte (vgl. Liberles 1988, 38): indem jedes Mitglied der Gesellschaft einen nützlichen und sinnvollen Platz einnimmt, wird die gesamte Gesellschaft letztlich auch moralisch verbessert – das Ziel der Staatskunst geht auch für Dohm nicht in pragmatischen oder machtgeleiteten Überlegungen unter. Der merkantilische Gedanke war auch in der vorangegangenen Zeit ab 1650, in der den Juden die Wiederansiedlung in deutschen Städten und Gebieten erlaubt wurde, bestimmend; vgl. dazu Sorkin 1992, 5 f. 227 Dohm 1781 I, 3: »[D]ie immer fortschreitende Zunahme der Bevölkerung [ist] die wesentlichste Bedingung des größtmöglichsten allgemeinen Wohls«. Bevölkerungszunahme steigere die Produktion und folglich den Wohlstand; letztlich also müssten alle Bevölkerungsgruppen in diese Überlegung miteinbezogen werden, ganz wie es schon in Wien (siehe FN 221) geschehen war. Vgl. Risse 1996, 48 ff. 228 K. Berghahn 2001, 133. Vgl. damit die Argumentation des Orientalisten Johann David Michaelis, der vor den Folgen des Exodus »mehrere[r] bemittelte[r] Personen«, wie es die jüdischen

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exakten historischen (Gegen)Belegen, um zu zeigen, dass die angebliche Schlechtigkeit der Juden nicht die Ursache der Unterdrückung sei, sondern die Folge davon. »Alles, was man den Juden vorwirft, ist durch die politische Verfassung, in der sie itzt leben, bewirkt, und jede andre Menschengattung, in dieselben Umstände versetzt, würde sich sicher eben derselben Vergehungen schuldig machen.« (Dohm 1781 I, 35) Er wehrt sich vehement gegen die Ansicht, dass die Juden ein generell verderbtes Volk seien, bei denen auch »Erziehung, Aufklärung, äussere Lage« nichts fruchteten: »Ich gestehe, dass ich mir von einer durchaus unverbesserlichen Menschen-Rasse keinen Begriff machen kann; sie scheint mir ein Widerspruch wider alle Psychologie, wider alle Geschichte und Erfahrung.« (Dohm 1781 II, 23 f.) Das ›Problem‹ des Judentums im Staat könne vielmehr damit aufgelöst werden, dass seine tatsächlichen Ursachen beseitigt würden. Dohms diesbezügliche Forderungen sollen hier nur in den Grundzügen wiedergegeben werden229: 1. Vollkommene rechtliche Gleichstellung der Juden 2. Erwerbs- bzw. Berufsfreiheit 3. Recht auf Grundbesitz 4. Recht auf Handel erhalten, aber keine Sparte ausschließlich für Juden 5. Freier Zugang zu Künsten und Wissenschaften, auch Zugang zu öffentlichen Ämtern 6. Der Staat solle für »sittliche Bildung und Aufklärung« der Juden sorgen 7. Nicht nur die Juden sollen sich eingliedern, sondern die Christen sollen diese Eingliederung unterstützen, indem sie selber gegen ihre eigenen Vorurteile angehen 8. Freie Religionsausübung auch für die Juden; dies umfasste auch die (bislang verwehrte) Forderung, dass Juden eigene Synagogen bauen durften etc. 9. Juristische Autonomie in Rechtsstreitigkeiten, zumindest auf erster Instanz Insgesamt war Dohm dabei explizit darauf bedacht, jeden Sonderstatus von Mitbürgern, die sich allein aus religiösen Überzeugungen herleiten, zu verhindern und alle im Staatswesen zu gleichwertigen (und damit gleichermaßen verpflichteten) Bürgern zu erklären. Dabei war es, bei aller Übereinstimmung in der, ja, Begeisterung für die Sache, eine sprachliche »Kleinigkeit« (so K. Berghahn 2001, 140 f.), die Mendelssohn für seine eigene Argumentation fruchtbar machen sollte. Dohm sprach zumeist von der Händler waren, warnte; vgl. dessen Vertheydigung des wegen der jüdischen Selichot gestellten Bedenkkens seines Vaters […]. Halle, um 1746, 14, zit. nach Toury 1977, 56. 229 Vgl. Dohm 1781, I, 109–30. Für die genaueren Zusammenhänge verweise ich auf die Arbeiten von K. Berghahn 2001 und Risse 1996, 40–83; bei letzterer allerdings wenig Hinweise auf die auch negative Ausdeutungsmöglichkeit von Dohms Toleranzbegriff. Sie hebt vielmehr das Interesse an den Folgerungen aus einer allgemein gleichen Menschennatur hervor (ebd., 60, Dohm 1781 I, 9).

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»bürgerlichen Verbesserung«, ein Mal auch von der »Aufnahme« der Juden in den Staat (vgl. ebd., 26). Die letztgenannte Vokabel befreite zwar das Vorhaben von seiner notorischen Zweideutigkeit, denn es betont mehr die rechtliche Gleichstellung, als dass es zugleich auf eine angeblich gegebene Minderwertigkeit und die damit erforderliche »Erziehung« und also eher paternalistische Zuwendung verwies. Dennoch deuten beide Begriffe eher auf eine Assimilierung denn auf eine Tolerierung der Juden im Staat hin. Für diese Tendenz war Mendelssohn sensibel und er stellte sich ihr entgegen (s. auch Bourel 2007, 329 f.). Tatsächlich findet sich in Dohms Abhandlung wenig über eine Begründung und Ausformulierung religiöser Toleranz. Vielmehr wird, so K. Berghahn (2001, 148), der Einfluss der Religion auf die Einsichten und Verhaltensweisen der Menschen zugunsten des staatlichen »relativiert und reduziert«, was wiederum auch auf die pragmatische Anlage der Schrift hindeutet. Letztlich scheint es Dohm ausgemacht, dass mit der Aufnahme der Juden in den Staat ihre Assimilation am weitesten vorangetrieben werden könne. Um eine Erhaltung der positiven Religion ging es ihm dabei nicht, sondern um eine Perfektionierung des Staatswesens selbst. »›Aber dann werden die Juden aufhören, eigentlich Juden zu sein?‹ – Mögen sie doch! Was kümmert dies den Staat, der nichts weiter von ihnen verlangt, als daß sie gute Bürger werden, sie mögen es übrigens mit ihren Religionsmeynungen halten, wie sie wollen.« (Dohm 1781 II, 174 [Nachschrift]) Prima facie scheint Mendelssohns eigener Position nur bedingt mit Dohms Werk vereinbar; doch ist er, mit Dohm gut bekannt, sogar an der Entstehung der Schrift beteiligt gewesen.230 Sie erschien ihm als ein Zeichen eines rationaleren Umgangs mit der herrschenden gesellschaftlichen Misere, an die sich anknüpfen ließ, was er in der Folgezeit mit seinem Vorwort zu Herz’ Übersetzung von Manasseh Ben Israels Vindiciae Judaeorum (1656) in Angriff nahm. Der Anspruch, die von Dohm angestoßene Debatte zu verstetigen, zeigt sich bereits im Titel der Übersetzung: Als ein Anhang zu des Hrn. Kriegsraths Dohm Abhandlung. Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden erschien sie bereits ein Jahr nach dieser 1782 in Berlin. Diese Schrift rief, in der Tradition Lavaters, im selben Jahr eine Gegenschrift hervor, Das Forschen nach Licht und Recht in einem Schreiben an Moses Mendelssohn auf Veranlassung seiner merkwürdigen Vorrede zu Manasseh Ben Israel, in der Mendelssohn wiederum zur Konversion, dieses Mal im Sinne eines umfassenden Deismus, aufgefordert wurde. Dass dies die Initialzündung des Jerusalem darstellte, Mendelssohns so mutiger wie beredter Verteidigung seiner Religion, ist bekannt. Im Folgenden soll nicht in allen Einzelheiten auf den Mendelssohn als Reformer des Judentums eingegangen werden; hierzu liegen bereits einschlägige Abhandlungen vor, insbesondere die Arbeiten Arkushs und Sorkins (s. Bibliographie). Der Fokus wird vielmehr auf die Voraussetzungen zu Men230

Vgl. Albrecht 2005, IX f. und ausführlich Risse 1996, 40–43.

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delssohns Toleranzforderungen liegen, die sich in seinem Menschenbild begründen lassen. Dies steht im engen Zusammenhang mit den im Rahmen seiner geschichtsphilosophischen Position bereits diskutierten Überlegungen zur Differenz der Vernunfts-, Glaubens- und Geschichtswahrheiten. Es zeigt sich, dass Mendelssohn hier an die Folgerungen aus Lessings Schrift »Über den Beweis des Geistes und der Kraft« (1777) anschließt (vgl. Kap. IV.2, Abschnitt 1, S. 397–400), um ihnen eine Forderung beizulegen: gerade weil der Sprung über den tiefen Graben zwischen Glauben und Wissen unmöglich ist, muss dem Glauben ein Eigenrecht eingeräumt werden. Dies steht dem nicht entgegen, nach pragmatischen und praktikablen Lösungen der zur Debatte stehenden gesellschaftlichen Spannungen zwischen Christen und Juden zu suchen, sondern befreit diese Diskussion gerade von einem moralischen Ballast.

2. Die Notwendigkeit der Religion Nicht erst in zeitlicher Nähe zu Dohms Schrift, sondern bereits gute zehn Jahre früher wurde Mendelssohn zum ersten Mal unsanft an seine eigene prekäre gesellschaftliche Stellung als Jude erinnert. Der Auslöser, die sogenannte Lavater-Affaire, soll hier nicht umfassend dargestellt und analysiert werden; jedoch zeigen sich in ihr die Ansatzpunkte, die Mendelssohns Beharren auf der Notwendigkeit einer positiven Religion über dem Insistieren auf einem persönlichen Recht, oder auch aus der Position als eines Stellvertreters seiner Mitbürger hinaus, auf anthropologischen Prämissen aufruhend, erklärbar machen.

»The turning point«231 – die Lavater-Affaire Im Lavaterstreit war Mendelssohn zum ersten Mal in seiner philosophischen Karriere gezwungen, sich vermeintlich wohlmeinenden Aufforderungen zur Konversion entgegenzustellen. Lavater hatte ihn öffentlich, in der seiner Übersetzung von Charles Bonnets Palingénésie vorangestellten Widmung aufgefordert, entweder die Falschheit des Christentums zu beweisen oder zu konvertieren. Mendelssohn antwortete darauf 1770 mit seiner »Confessio Judaica«, dem Sendschreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich (JubA VII, 5–55; inkl. zweites Schreiben und Nacherinnerung). Er hoffte, damit einen raschen Schlussstrich unter diese für ihn gefährlichen Debatte zu ziehen. Nicht zuletzt aufgrund seines gefährdeten Status als außerordentlicher Schutzjude suchte er auch Halt in einer aufklärerischen, an der Funktionsfähigkeit der Öffentlichkeit orientierten Argumentation, die einen expliziten Beweis ebenso 231

Hier übernehme ich die Kapitelüberschrift bei Altmann 1973, Kap. 3, 194–263.

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vermied wie eine Bewertung religiöser Konfessionen. Letztlich, so sein Credo, fördern öffentliche Streitigkeiten über Religionssachen nicht das Verständnis füreinander oder gar die Sache der Religion, sondern nur »Menschenhaß«232. Religion berührt ein Feld, das nicht nur die Vernunft betrifft, sondern auch das Herz, so Mendelssohn in der »Nacherinnerung« an Lavater (JubA VII, 46 f.). Es ist, wie er schon hinsichtlich der Evidenz in der Metaphysik zeigte (siehe Kap. III.1) für Vernunfturteile noch nie von Vorteil gewesen, und führt hier zu großen Streitigkeiten, die sich nur durch Vernunft, deren eingeschränkte Zuständigkeit in Religionsangelegenheiten gerade zu betonen ist, kaum beheben lassen. Mendelssohn ging es auch aus diesem Grund darum, die Grenzen der Aufklärung in Gesellschaften und im Individuum zu verorten233 und betonte den Status der Glaubenswahrheiten, die sich einer umfassenden Aufklärung gerade verschlossen. Sie aufzuklären käme keiner Befreiung, sondern geradezu einer Pervertierung der Segnungen positiver Religion gleich. Zwar ist es möglich, via sittlicher Grundsätze über die genannten »Naturgesetze der Sittlichkeit« intersubjektive Einigung zu erzielen, niemals jedoch über Glaubenssätze. Sie deshalb aufzugeben, ergibt wiederum gerade die Gefahren einer Dialektik der Aufklärung, wie er sie im Aufklärungsaufsatz beschrieben hatte (vgl. Kap. IV.3, Abschnitt 2, ad 4, S. 461–66); denn wer konnte mit welcher Berechtigung etwas an ihre Stelle setzen? Für Mendelssohn bedeutete die Lavater-Affaire zweifellos einen Wendepunkt, denn bisher hatte er angenommen, dass die positiven Religionen friedlich neben der die aufgeklärte Gesellschaft einigenden Vernunftreligion bestehen könnten (vgl. C. F. Berghahn 2001, 49 f.) Der Lavater-Streit ist dabei in zweierlei Hinsicht durch äußerliche Faktoren geprägt. Zum einen zeigt er einen Denker, der sich auf ungewohntem Terrain neu orientieren muss; zum anderen musste dieser Denker äußerst vorsichtig agieren, um nicht mit der nicht übermäßig toleranten Obrigkeit ins Gehege zu kommen. »Meine 232

So Mendelssohn in seinen handschriftlichen Überlegungen »Was hat ihn zu diesem Schritte bewogen?« (JubA VII, 61–64, hier 63), die wahrscheinlich der ersten Erwiderung vorangingen. Im Sendschreiben selbst findet sich der Begriff nur in einem anderen Zusammenhang (siehe JubA VII, 13); jedoch ist die Intention des ganzen Schreibens genau darauf ausgelegt. Die Streitigkeit zog im Übrigen auch satirische Konsequenzen nach sich, bspw. Lichtenbergs Timorus, das ist, Vertheidigung zweier Israeliten, die durch die Kräftigkeit der Lavaterischen Beweisgründe und der Göttinger Mettwürste bewogen, den wahren Glauben angenommen haben. (1773) Letztlich allerdings war auch mit Lavater selbst noch eine menschliche Verständigung möglich; 1775 wandte sich Mendelssohn an ihn um Hilfe für zwei jüdische Gemeinden in der Schweiz. Diesen sollte verboten werden, sich weiter zu vermehren. Lavater erreichte tatsächlich, dass dieses Verbot nicht in Kraft trat (vgl. K. Berghahn 2001, 158 f.). Ein fanatischer Antisemit hätte Mendelssohns Bitte wohl nicht stattgegeben. 233 Für eine Ähnlichkeit dieser Position mit derjenigen Montesquieus De l’esprit de lois (1748) argumentieren Forst 2003, 359 f., 362 und C. F. Berghahn 2002.

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Religion, meine Philosophie und mein Stand im bürgerlichen Leben geben mir die wichtigsten Gründe an die Hand, alle Religionsstreitigkeiten zu vermeiden, und in öffentlichen Schriften nur von denen Warheiten zu sprechen, die allen Religionen gleich wichtig seyn müssen.« (JubA VII, 10) Er, Mendelssohn, sieht sich als Aufklärer vielmehr als ein Vertreter der natürlichen Religion: solange man in diesem Leben tugendhaft ist, werde man nicht verdammt, egal, welcher Konfession bzw. Religion man angehöre. Damit ummantelt er jedoch eine zweite, weiterreichende Position: auch in einer vollkommen aufgeklärten Gesellschaft sind neben der Vernunftreligion positive Religionen zu verstatten, ja, für bestimmte Völker qua göttlicher Offenbarung – und damit als positiver Glaube – sind sie sogar notwendig. Mendelssohn geht es um den Bereich der Religion, der auch der aufgeklärten, menschlichen Vernunft nicht zur Verfügung steht, sondern den diese akzeptieren muss.234 Seine Position ist damit nicht auf eine vernunftgemäße Überwindung von Religionen, wohl aber gegen die einigen religiösen Richtungen selbst innewohnende Ignoranz und Missionierungstendenz im Namen einer falsch verstandenen »göttlichen« Vernunft ausgerichtet. Die Reduzierung der Religion auf eine Vernunftreligion ist deshalb allein auf den öffentlichen Raum der vernunftgemäßen, aufgeklärten Diskussion beschränkt. Mendelssohn verfolgt ausdrücklich keine umfassende Glaubensreduktion, sondern eine Bereichsspezifizierung: das Gebiet der Aufklärung darf nicht gänzlich die Gebiete der positiven Religionen usurpieren, wenn sie nicht in unmenschliche Unterdrükkung ausufern soll. Um es in Termini der Aufklärungsschrift zu formulieren: die Kultur fordert hier eine Eingrenzung der verständigen Aufklärung, um den Zustand allseitiger Bildung überhaupt zu ermöglichen – und setzt damit positive Religionen erst frei. Es ist Mendelssohns Menschenbild geschuldet, dass für ihn per se Toleranz nicht Assimilierung bedeuten kann: der Bereich der Offenbarung ist ein Bereich menschlicher Unverfügbarkeit im Menschen, der Respekt, nicht Einebnung verlangt.235 234

Er befindet sich mit dieser Auffassung sehr nah an Rousseau; siehe dessen Brief an Voltaire (1756), 329: »Allein, ich bin […] aufgebracht, daß der Glaube eines jeden nicht die vollkommenste Freiheit genießt und daß der Mensch das Innerste des Gewissens, wohin er doch nicht dringen kann, zu überwachen wagt, also ob es nur von uns abhinge, zu glauben oder nicht zu glauben an Dinge, bei denen es keinen Beweis gibt, und als ob man jemals die Vernunft unter die Autorität zwingen könnte. Haben denn die Könige dieser Welt auch einige Aufsicht in der anderen und haben sie das Recht, ihre Untertanen hier zu quälen, um sie mit Gewalt ins Paradies hineinzutreiben? Nein, jede menschliche Regierung schränkt sich ihrer Natur nach bloß auf die bürgerlichen Pflichten ein […].« 235 Vgl. JubA VII, 97. Damit steht Mendelssohn quer zu der Tendenz, das »Programm der Aufhebung der Intoleranz« mit einer Aufhebung der »Toleranz erfordernden Situation« zu verwechseln (Forst 2003, 355). Die (positive) Begründung von Toleranz leistet Mendelssohn unter Rückgriff auf die Unvollkommenheit menschlicher Vernunft und Erkenntnis, um zugleich die Sinnhaftigkeit der eudaimonistischen Lehre praktisch erfahrbarer Glückseligkeit zu retten.

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Dabei ist auch von Seiten der positiven Religionen eine Leistung zu erbringen: Neben ihrer anthropologischen Rechtfertigung als eine dem Menschen notwendige Instanz, so fordert es Mendelssohn ebenso wie Lessing, müssen sie ihre Vereinbarkeit mit einer als umfassend verstandenen, jedoch für sich betrachtet nicht ausreichenden Vernunftreligion ausweisen. Ähnlich wie Lessing in Über den Beweis des Geistes und der Kraft verteidigt Mendelssohn dabei auch das Primat der praktischen Sphäre der Religion, das sich mit der Annahme der Lehre der positiven Religion vertragen muss: »So oft das Zeugnis eines Wunders kein offenbares Merkmal der Unglaubwürdigkeit an sich führet, und der Satz, der dadurch bestätiget werden soll, nicht nur an sich selbst annehmenswerth ist; sondern auch mit dem Inhalte jener von Gott bekant gemachten Lehre übereinstimmet; so bin ich sehr geneigt, es ohne weitere Untersuchung anzunehmen. Ich scheue den Vorwurf der Leichtgläubigkeit nicht, wenn dadurch Gutes unter den Menschen befördert [wird].« (JubA VII, 89, Hervorhebung A.P.) Wunderglaube ist also auch dem aufgeklärten Menschen erlaubt und möglich, wenn es zugleich die Sphäre der öffentlich geteilten und auch rational teilbaren Bereiche menschlicher Wohlfahrt nicht tangiert, und solange er Gutes zeitigt. Der Glaube an allein über Wunder oder Geschichtswahrheiten verbürgte Ereignisse, die den Gläubigen seiner Religion verbinden, sind in diesem Sinne streng von Vernunftwahrheiten unterschieden. Im Falle der ersteren erscheint diese, so Mendelssohn an Lavater, dem Glaubenden logisch; dem Ungläubigen jedoch seltsam und grundlos (Vgl. Sendschreiben an Lavater, JubA VII, 16)236. Der von Lessings konstatierte »Graben« ist auch für Mendelssohn vorhanden; der rationale und damit allen zumutbare Übergang zwischen Wissen und Glauben ist nicht begründbar, selbst wenn er ihm persönlich als im Judentum – wohlgemerkt einer reformierten Fassung, die nicht bei allen Zeitgenossen auf Gegenliebe stieß – am besten ermöglicht erschien.237 Im Glauben gilt so auch nicht die Wahrscheinlichkeitshypothese (JubA 236

So auch in der »Nacherinnerung« zu Lavaters zweiten Schreiben, siehe JubA VII, 46 f. In den unveröffentlichten »Gegenbetrachtungen« (JubA VII, 83) formuliert Mendelssohn dies schärfer. 237 Er nennt explizit in der »Nacherinnerung« zu Lavaters zweitem Schreiben als Besonderheit der jüdischen Religion, dass diese eben nicht entscheidend auf Wunderwerken beruhe, sondern auf »öffentlicher Gesetzgebung« (JubA VII, 43 ff., so auch JubA VIII, 192 f.). Aus diesem Grund, so argumentiert Mendelssohn hier, ist das Judentum auch am leichtesten mit der Vernunftreligion in Übereinstimmung zu bringen. In Anbetracht seiner Ausführungen über die unterschiedliche, rein persönliche Evidenz der Glaubenswahrheiten musste ihm Lavaters Argumentation im zweiten Schreiben vom 14. Februar 1770, das diesmal keine Bekehrung, sondern einen logischen Beweis von der »Göttlichkeit der jüdischen Religion« fordert, äußerst unsinnig erscheinen (siehe JubA VII, 27–37, hier 33). Strohschneider-Kohrs 1994, 279 spricht in diesem Zusammenhang von einer auch durch Lessings Nathan vorgenommenen Verschiebung in der »Begründung« eines Glaubens: es gehe nicht um

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VII, 84), da sich hier zwei Wahrscheinlichkeiten gegenüberstehen: der physischen Wahrscheinlichkeit, dass die Gegebenheiten gleichförmig ablaufen, und die also der Annahme eines Wunders entgegensteht auf der einen Seite; auf der anderen die moralische Wahrscheinlichkeit, dass nämlich die Zeugen, die dem Glaubenden für die Wahrheit der Wunder bürgen, durch und durch verlässlich sind. »Es ist schwehr, sehr schwehr hier den Ausspruch zu thun!« (JubA VII, 84)238 Ein vernunftgemäßer Beweis ist damit nur in Bereichen möglich, die nichts mit dieser letztlich persönlichen Entscheidung zum Glauben zu tun haben. Der Möglichkeit einer allseits geteilten und auch beweisbaren Vernunftreligion war Mendelssohn sicher. Dies heißt im Umkehrschluss, dass eine positive Religion immer den Freiraum der Vernunftreligion offenlassen muss (vgl, JubA VII, 90): sobald sie sich zur Erlangung der Glückseligkeit absolut setzt und also umfassende Gefolgschaft verlangt, da ohne sie keine Glückseligkeit erreicht werden könne, so ist dieser Glaube keine Hilfe, sondern »eine Last, darunter die menschliche Vernunft zu Boden liegt. Diese heilige Vernunft giebt mir die gewisseste Ueberzeugung, daß die Menschen von Gott berufen sind, durch die Ausübung der Tug[end] seelig zu werden.«239 Mendelssohn betont also zum einen, dass es abgesehen der Kriterien einer Vernunftreligion keine vernunftgemäßen Gegengründe gegen bestimmte Religionen gibt. Vielmehr erscheinen die Glaubensinhalte den Gläubigen zutreffender, ohne dass eine Begründung dieser Ansicht befriedigend möglich ist. Daneben hebt er, in Übereinstimmung mit Lessing, die praktischen Konsequenzen als eine Legitimiedie Darlegung einer causa logica oder ratio recta, sondern um die Darstellung der Religion als ein fundamentum. Es ließe sich jedoch zu Recht mit Arkush 1994, 168 festhalten, dass Mendelssohn letztlich nicht allzu viel zum philosophischen Fundament der Offenbarung zu sagen hat. Dass er es versäumte, Kriterien für eine glaubhafte Offenbarung zu nennen, mag u. a. auch in seiner indirekten Anknüpfung an Lessings Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777) liegen. Dass er darüber hinaus jedoch in einem Schreiben an Bonnet, auf das Arkush hinweist (vgl. ebd., 169), den Versuch unternimmt, die besondere Autorität der mosaischen Offenbarung am Sinai über den Rekurs auf die Zeugenschaft des gesamten israelischen Volks zu »beweisen«, legt Arkush als einen impliziten Rückgriff auf die mittelalterliche Tradition, namentlich durch Saadia Gaon, Yehuda Halevi und Maimonides aus. Der Aspekt der »lebendigen Tradition« als besonderer Form der Zeugenschaft wird im vorliegenden Abschnitt besondere Aufmerksamkeit zuteil; siehe aber auch Kap. IV.1. Indirekt wird hier ebenfalls ein Rückgriff auf Mendelssohns Wahrscheinlichkeitstheorie möglich, da das Zusammenfallen einander gleicher Beobachtungen an Evidenz gewinnt – ist ein ganzes Volk Zeuge, so der philosophisch dennoch nicht ganz befriedigende Schluss angesichts der immensen Tragweite der sich aus ihm ergebenden Folgerungen, so steigert sich die Evidenz zur nahezu absoluten Sicherheit. 238 Dennoch äußert er seinen Ausspruch: Die sicherste Geschichtstatsache für Mendelssohn im Judentum ist die mosaische Gesetzgebung (JubA VII, 87 f.) 239 »His effort to do so rested on his deep-seated assurance of human beings’ ability to discern the existence of a God who governed the world benevolently. Revelation, according to Mendelssohn, added nothing new to the essential truths of natural religion.« (Arkush 1999, 29) Das Neue musste also vielmehr auf anthropologischem Wege erklärbar sein.

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rungsinstanz positiver Religionen hervor und verlangt, dass alle positiven Religionen sich als mit der einen Vernunftreligion, die ihre Basis, aber keineswegs ihre vollkommendste Ausführung bildet, vereinbar erweisen. In einem Aufsatz der Berlinischen Monatsschrift unter dem Pseudonym »Akatholikus Tolerans« hat Biester 1784 in Bezug auf die katholische Kirche eine ähnliche Haltung angenommen.240 In Bezug auf die scheinbar tolerante Öffnung der lutheranischen Gotteshäuser für die Katholiken in einigen preußischen Reichsstädten (vgl. Berlinische Monatsschrift III, 180 f.) argumentiert Biester hier für die Einschränkung der Toleranz in dem Fall, dass die Toleranz fordernde Religion (hier die katholische) Grundsätze vertrete, die »offenbar gegen die Moral oder gegen die bürgerliche Gesellschaft« streiten (ebd., 182). Denn allein die katholische Kirche lehre »den Satz, daß nur ihre Kirche die alleinseligmachende sei; und übt so heimlich alle Kunstgriffe, daß sie wenigstens hier auf Erden die alleinherrschende werde.« (ebd., 189) Abgesehen von der Frage, ob dies für die katholische Kirche nun zutreffe, bemüht Biester hier die allgemein im Kreis der Berliner Aufklärung geteilten Grundsätze, die die Grenzen der Toleranz wie auch die Grenzen der Religionen deutlich werden lassen241: Nur wenn die positiven Religionen selbst ihren umfassenden Anspruch auf Alleinherrschaft aufgeben, sind sie tolerierbar. Mendelssohn setzt dem bereits im Zuge der Lavater-Affäre hinzu, dass der Verzicht auf Alleinherrschaft eben gerade nicht bedeutet, dass positive Religionen generell überflüssig und deshalb abzuschaffen seien. In seinem Sendschreiben an Lavater hat Mendelssohn in erster Linie die historisierende, relativierende und letztlich zutiefst intolerante Sicht auf das Judentum als eine zu überwindende Religion bekämpft. Gerade die Gerichtetheit des Menschen auf ein Jenseitiges und damit auf einen Glauben mache es unmöglich, ihn weder als ein rein historisch bestimmtes, noch ausschließlich rationalen Glaubensbeweisen zugängliches Wesen zu sehen. Damit hat Mendelssohn deutlich zwischen dem demonstrierbaren Vernunftglauben und den positiven Religionen unterschieden. Alle Menschen können den Weg zur Glückseligkeit gehen, doch sie können dies auf unterschiedliche Weise tun. Den Juden sei der ihre geboten, ohne dass sie sich berufen fühlten, andere zu bekehren – »Alle übrigen Völker der Erde, glauben wir [Juden], seyen von Gott angewiesen worden, sich an das Gesetz der Natur und an die Religion der Patriarchen zu halten. Die ihren Lebenswandel nach den Gesetzen dieser Religion der Natur und der Vernunft einrich240

Ebd., Bd. III, 1784, 180–92, zit. mit Angabe der Originalpaginierung nach Hinske 1977, 145–57. 241 Expliziter noch schließt Biester seine polemischen Überlegungen ab: »Toleranz ist ihnen [den Katholiken] ein Täuschungswort, unter dessen Schutz sie immer festern Fuß zu gewinnen trachten, bis sie endlich solches Schutzes nicht mehr bedürfen.« (ebd., 191) Die nachfolgenden Beiträge zur Debatte haben freilich diesen Aspekt differenzierter betrachtet (vgl. Hinske 1977, 158–362).

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ten, werden tugendhafte Männer von anderen Nationen genennet, und diese sind Kinder der ewigen Seligkeit.«242 Hier, im Sendschreiben sowie in den unveröffentlicht gebliebenen »Gegenbetrachtungen zu Bonnets Palingénésie« gerät ihm seine Verteidigung der jüdischen Religion etwas zu schroff 243; man gewinnt den Eindruck, dass er hier den Unterschied zwischen Vernunft- und Geschichtswahrheit einreißt, indem er die Offenbarung am Sinai als ein Ereignis des ersteren, nicht dem letzteren zuordnet244 und damit den »Graben« in Bezug auf seine Religion zu überspringen geneigt ist. Er knüpft daran zusätzlich, in Absehung dieser Offenbarung, eine historische Betrachtung der Religionen an, die an Lessings teleologisches Konzept der Erziehung erinnert, indem es die »groben Vorurtheile« der ersten Religionen als 242

JubA VII, 10 f. Arkush (1994, 203) betont den rhetorischen Trick, später anstelle des Gesetzes der Patriarchen vom Naturgesetz zu sprechen. C. F. Berghahn nennt als eine mögliche Wurzel dieser Auffassung Rousseaus Émile, viertes Buch; auch die Ausrichtung auf das sich in der Religion selbst (als eines Teils) findenden Individuums ist Rousseaus dort geäußerten Überlegungen ähnlich, sowie der Bezug des Einzelnen nicht nur zu einer universellen Vernunftreligion, sondern seine Verwurzelung in der je eigenen Tradition. Eine direkte Bezugnahme auf diesen Text hat sich allerdings nicht nachweisen lassen. Das Recht auf den persönlichen, durch Überlieferung mit einer Gruppe geteilten Glauben will Mendelssohn festschreiben, und zwar in der lebendigen Tradition, die er für verlässlicher hält als die schriftliche Überlieferung (siehe IV.1, Abschnitt 3, S. 378–89). Hier konnte sogar der erste Discours von Rousseau fruchtbar gemacht werden, denn dieser hatte nicht nur die Warnung vor den Künsten und Wissenschaften als die Auslöser fortschreitender Isolation und Entfremdung des Einzelnen von der Gesellschaft beinhaltet (die Mendelssohn bemerkenswerter Weise in seinen Überlegungen zur Sprache und Idolatrie im Jerusalem versteckt mit aufnimmt), sondern auch den gemeinschaftserhaltenden Wert der positiven Religionen betont (vgl. C. F. Berghahn 2001, 47 ff.). Daneben ist natürlich die jüdische Tradition der Erklärung und Rechtfertigung der Offenbarung nicht wegzudenken; vgl. dazu Wenzel 2001, Schulte 2002, Guttmann 1985. Interessant in diesem Zusammenhang ist insbesondere die Kritik Arkushs (1994, Kapitel 6 und 7), siehe dazu FN 244. 243 »Neither his theory of Judaism nor his personality were as unified as might have appeared on the surface.« (Altmann 1987, 248) Mendelssohns judaistische Philosophie soll hier allerdings nicht Thema sein (durchaus kritisch, aber in den Ansätzen durchaus zuzustimmen ist hier der Analyse Arkushs 1994). Als Aufklärer ging es ihm – so schwierig die Verbindung mit seinem Glauben gewesen sein mag – um eine philosophisch-anthropologische Begründung der Freiheit positiver Religionen. Dass sich seine Konzeption nicht nur mit dem Judentum, sondern auch allen anderen Religionen nicht besonders gut verträgt, steht auf einem anderen Blatt: die Anwendung oder Praktikabilität seiner Ausführungen ist tatsächlich nur begrenzt. Es geht im gegebenen Rahmen jedoch um die Rekonstruktion seines Interesses. 244 Arkush 1999, 31 bzw. 1994, Kap. 6 erinnert hier an die Wurzeln von Mendelssohns Argumentation im jüdischen Mittelalter und fragt zurecht (Arkush 1994, 230 u. ö.), warum sich Mendelssohn nicht in seinem Gegenbeweis den zeitgenössischen Kritiken stellt. Sein eigener Antwortversuch fällt wenig befriedigend aus, da die Vermutung, Mendelssohn selbst habe nicht an eine mögliche Rettung des hergebrachten Judentums geglaubt und er sei eigentlich reiner Theist, in weiten Teilen in Spekulation verbleibt. Dennoch stimme ich seiner grundlegenden Argumentation zu, dass es Mendelssohn weniger um eine Rechtfertigung, denn um eine Reform des Judentums (was er wahrscheinlich eher als eine »Besinnung« bezeichnet hätte) ging. Mit einer Philosophie vom Menschen im Hintergrund ist diese Reform m. E. am aussichtsreichsten zu begründen.

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bloße Vorbereitungen der Vernunft zu einer höheren Erleuchtung reformuliert (vgl. JubA VII, 73–76). Erst mit Bezug auf das Judentum lässt er von diesem Aspekt wieder ab.245 Hier wurde aus rational uneinsichtigen Gründen ein Volk eine bestimmte Religion offenbart, die alle Nachgeborenen dieses Volks nun zu tragen haben; er, Mendelssohn, sieht sich nicht legitimiert, diese Last selbstherrlich abzuwerfen. Auch ihm selbst erschien hier offensichtlich ein Glaubensaspekt derart logisch, dass er ihn als Vernunftwahrheit missverstand.246 Dennoch: auch einen von C. F. Berghahn so genannten »kosmopolitischen« Horizont in Mendelssohns hier formulierter Ansicht einer universalen Religion, die alle positiven Religionen letztlich transzendieren soll, trägt der Text gerade nicht. Vielmehr formuliert er das Aufgehen der positiven Religionen in der Vernunftreligion als einen »Traum«, der die menschliche Vernunft überfordert, will sie ihn ins Werk setzen (JubA VII, 98). Die »Pflicht des Weltweisen« ist es deshalb, sich der Gefahr einer Überstrapazierung der Vernunft bewusst zu sein: die messianische Hoffnung auf ein dereinst in einem einzigen Glauben vereintes Menschengeschlecht ist, sobald Menschen sich daran machen diesen Traum zu verwirklichen, ein Mittel allgemeiner Unterdrückung, nicht Entfaltung. Wie Mendelssohns Überlegungen zur Religion zeigen, formuliert er die Forderung nach religiöser Toleranz v. a. auf dieser Grundlage der condition humaine. Zwar mögen auch ihm selbst seine ersten Lösungswege in den »Gegenbetrachtungen zur Palingénésie« nicht konsistent genug erschienen sein; sie motivierten ihn aber dazu, sich in der Folgezeit der Ausarbeitung eines Kulturmodells der Aufklärung zuzuwenden, das sich dem Aspekt der Versöhnung von Kultus und Vernunft, Tradition und universeller Bestimmung zur Menschheits-Gesellschaft befasst. Dabei ist sein Ziel nicht, die positiven Religionen zu ›überwinden‹, sondern ihre Eigenart in einem gesellschaftlichen Modell von Toleranz, Respekt und schließlich Anerkennung zu bewahren. Die Möglichkeit einer noch erfolgenden Offenbarung, um die Juden von ihrem Gesetz zu lösen und mit den anderen Religionen zu vereinigen (damit eine Offenbarung, die an alle Religionen gerichtet sein müsste), sieht Mendelssohn auf philosophischem Wege nicht (vgl. Jerusalem, JubA VIII, 198).

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Dies scheint C. F. Berghahn 2001, 57 so nicht bemerkt zu haben. Siehe zu diesem Aspekt auch die Diskussion bei Arkush 1994, Kapitel 6, insb. 181 f. Die drei »Hauptgrundsätze« der jüdischen Glaubensprinzipien Gott, Unsterblichkeit und Gesetz seien entweder durch Offenbarung oder durch Vernunft einsehbar. Dennoch muss dies im Umkehrschluss nicht zwangsläufig bedeuten, dass jedwede vernünftige Einsicht in diese »Hauptgrundsätze« einen Nicht-Gläubigen automatisch zu einem gläubigen Juden machen muss; vielmehr könnte es hier bereits andeuten, dass ein solches Konzept des Judentums entscheidend unterbestimmt ist. Arkush hält zu recht fest (ebd., 186), dass Mendelssohn in diesen frühen Ansätzen keine überzeugende Lösung des Problems präsentiert. 246

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Praktische Konsequenzen Abgesehen von der – hier nicht zu behandelnden – Frage, ob und in welchem Umfang positive Religionen für diese starke Form der Toleranz in ihren Grundsätzen tatsächlich offen sind, zeigt Mendelssohns Bemühung um gesellschaftliche Toleranz der positiven Religionen deutliche Anleihen an seiner Rechts- und Staatsphilosophie. Biographisch lässt sich der Übergang von privatem zu öffentlichem Engagement für die Zeit nach der Episode mit Lavater, noch einmal verstärkt für die Jahre ab 1780 feststellen. Um Assimilierung ging es ihm dabei nach wie vor nicht. Was seinen Toleranzbegriff (als positive Forderung der Akzeptanz) betrifft, so war dieser auf Rechte und korrespondierende Pflichten bezogen, wie er sie schon für das Staatsrecht gefordert hatte: Toleranz gewährte nicht nur Akzeptanz, sondern die forderte auch von allen Beteiligten, sich, soweit wie es das Gewissen erlaubte, den Erfordernissen des Zusammenlebens im Staat zu öffnen. Von dieser Voraussetzung ist Mendelssohns praktisches Emanzipationsbestreben hinsichtlich des Judentums durchgehend bestimmt. Es beruht dabei Kahn (1993, 4) zufolge auf drei Säulen: 1) Reinigung der Religion von irrationalen und mystizistischen Elementen und damit eine Rationalisierung und Stärkung religiöser Positionen, ohne damit zugleich sämtliche Traditionen aufzugeben. 2) Ausgang der Juden aus ihrer Isolation und ihre Ermächtigung zum gesellschaftlichen Diskurs, indem sie die deutsche Sprache erlernen 3) Rechtliche Gleichstellung. Öffentlich verteidigte er insbesondere den dritten Punkt, während die beiden erstgenannten auf die innerjüdische Reform zielten. Mit seinen Bestrebungen der Emanzipation waren auch große Opfer für die jüdische Bevölkerung verbunden, die nicht immer auf Gegenliebe stießen. So lehnte Mendelssohn die Beschränkung auf das Jiddische ab und fordert neben der traditionellen Ausbildung durch Thora und Talmud auch eine allgemeine Schulbildung, sowie das Erlernen der deutschen Sprache. Er wollte eine Reform der Erziehung, die u. a. die Allmacht der Schriftgelehrten schmälern würde, was auch innerhalb der jüdischen Gemeinde zu Spannungen führen musste.247 Doch Mendelssohn sah diesen Weg als den einzig gangbaren an. Er »glaubte, dass die wahre, nicht länger zu unterdrückende Toleranz der Juden in der Gesellschaft nicht mit deren Konversion erkauft werden sollte, wohl aber die Ausbildung eines aufgeklärten Judentums erforderte.« (Forst 2003, 411) Toleranz ist damit eine »reziproke Beziehung«, die von beiden Seiten die Aufgabe und Transformation verhärteter Positionen verlangte.248 247

So führte bspw. seine deutsche Übersetzung des Pentateuch zu einer scharfen Kontroverse mit den orthodoxen Rabbinern; vgl. K. Berghahn 2001, 52 f. 248 K. Berghahn 2001, 51. Zum Toleranzbegriff innerhalb des Judentums siehe Jacob Katz: Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times. Lon-

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1782 erschien, wie erwähnt, Mendelssohns Vorrede zur Rettung der Juden, als »Anhang« zu Dohms Schrift. Hier tritt er deutlich für das bereits skizzierte Anliegen ein und nimmt die an Dohm angelehnte Akzentverschiebung vor: nicht Verbesserung, sondern Gleichstellung der Juden sei letztlich das einzig vertretbare gesellschaftliche Ziel. Dabei nimmt seine Argumentation auch auf den Wandel des Antisemitismus Rücksicht und geht weniger auf die Apologie des Judentums (Ritualmord etc.) ein, sondern auf die Diskussion ihrer gesellschaftlichen Rückständigkeit, die Mendelssohn in Übereinstimmung mit Dohm eben nicht als Ursache, sondern als Folge der jahrhundertelangen gesellschaftlichen Ausgrenzung identifiziert. Seine Analyse kulminiert in der schlichten Aussage: »Man bindet uns die Hände, und macht uns zum Vorwurfe, daß wir sie nicht gebrauchen.« (JubA VIII, 6) Er will keine Sonderstellung des Judentums erreichen, keine exklusiven Rechte, die nur dem Vorwurf des Staats im Staate Vorschub leisteten, sondern eine Gleichstellung. Bezeichnenderweise erfordert gerade dieser Gedanke ein tiefgreifendes Umdenken, da er mit den Konsequenzen der Toleranz ernst macht und die positiven Religionen einem anderen Bereich zuordnet als dem rechtlichen und staatlichen Handeln (vgl. dazu bereits Kap. IV.3, z. B. 437 f.). Mendelssohn stellt sich damit nicht nur gegen die herrschende staatsrechtliche Auffassung, sondern auch gegen diejenige vieler jüdischer Orthodoxer. »Die wahre, göttliche Religion maßt sich keine Gewalt über Meinungen und Urteile an; […] [sie] kennet keine andere Macht, als die Macht durch Gründe zu gewinnen, zu überzeugen, und durch Überzeugung glückseelig zu machen.« (JubA VIII, 18) Mendelssohn vertritt eine schon fast paulinisch klingende Religion der Achtung und Liebe. »Liebet, so werdet ihr geliebt werden.« (JubA VIII, 25) Dies wurde auch von einigen Kritikern als ein Schritt Mendelssohns zur christlichen Religion (miss)verstanden, und tatsächlich war es auch ein erneuter Bekehrungsversuch, der Mendelssohn zum Abfassen des Jerusalem, in dem er die angedeutete Position ausführte, nötigte.249 Ein solcher, der zweite solcherart publik gemachte, erfolgte 1782 durch August Friedrich Cranz (vgl. hier Kapitel IV.1, 383). Unter dem Pseudonym »S***«, das auf don 1961. Interessant ist in dieser Hinsicht der Rückgriff auf eine »natürliche Moral«, die den Juden vorschrieb, welche »Heiden« sie zumindest dulden könnten; vgl. K. Berghahn 2001, 54. Mendelssohn wird diese Ansicht im Lavater-Streit fruchtbar machen. Ein wichtiger Unterschied in der Realität des 18. Jahrhunderts ist bei der Bewertung der Toleranzdebatte nicht zu vergessen: die Toleranz-Bewegung hatte es mit zwei prinzipiell ungleichen Partner zu tun. »Die Christen lebten in ihrem eigenen Land, sie waren die Majorität und besaßen die politische Macht; die Juden waren als eine Minorität auf die Duldung durch ihre christliche Umgebung angewiesen, ja ihre bürgerliche Existenz hing von diesem Wohlwollen ab.« (K. Berghahn 2001, 51) Dass die Argumentation von Seiten der jüdischen Bevölkerung, milde ausgedrückt, ›vorsichtiger‹ war, liegt wohl auf der Hand. 249 Einen weiteren Aspekt hebt Schulte 2003 hervor: die innerjüdische Verketzerung Hartwig Wesselys, die »nach einer publizistischen Antwort verlangte« (ebd., 94).

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den konvertierten Juden und angesehenen Wiener Staatsmann Joseph von Sonnenfels hindeuten sollte, wendete er sich in einem Pamphlet mit dem barocken Titel Das Forschen nach Licht und Recht in einem Schreiben an Herrn Moses Mendelssohn auf Veranlassung seiner merkwürdigen Vorrede zu Manasseh Ben Israel (JubA VIII, 73–87) an ihn. Cranz nun griff Mendelssohn mit einem anderen Ziel an, als sein ›Vorgänger‹ Lavater dies getan hatte. Er forderte ihn nicht zu einer Konversion auf, um das Christentum, sondern vielmehr den Deismus, als dessen Anhänger er sich selbst sah, zu stärken.250 Mendelssohn hatte nun nicht nur zu beweisen, dass sich Judentum mit Deismus vertrug, sondern auch, warum sich überhaupt eine über den bloßen Deismus hinausgehende positive Religion innerhalb eines Staatswesens behaupten sollte. Außerdem enthielt die Schrift neben diesem, Lavater an Deutlichkeit übertreffenden Bekehrungsversuch noch eine Neufassung des Vorurteils, dass die unterdrückten Juden durch ihre Eigenheit selber mit schuldig seien an ihrer Ausgrenzung. Sie müssten doch nur einige, von Cranz als unbedeutend abgetane Schritte tun, um endlich bürgerliche Anerkennung zu gewinnen. Letztlich lief auch diese Argumentation auf dieselbe Folgerung hinaus: »Aufgabe aller jüdischen Besonderheiten – und schließlich und endlich Konversion.« (K. Berghahn 2001, 167) Obwohl Mendelssohn aus den oben angegebenen Gründen öffentliche Debatten über Glaubensangelegenheiten scheute, musste er sich auch dieser Debatte stellen, denn es ging letztendlich um die Ausformulierung von Rechtssätzen, um die Realisierung des aufgeklärten Projektes eines guten Lebens aller Bürger. Grundsätzliche staats- und kirchenrechtliche Fragen waren aufgeworfen worden, und zwar von Mendelssohn selbst, wenn es um die Austarierung des Rechts von Staat und Gemeinden ging. Eine neue Rechtsordnung durfte jedoch nicht um den Preis der Identität der jüdischen Gemeinden erkauft werden. Mit dem Jerusalem löste Mendelssohn den polemischen Aspekt der Herausforderung sehr geschickt. Er verzichtete seinerseits auf Religionspolemik und schrieb einen Traktat über das Verhältnis von Staat und Glaube, Naturrecht, natürliche Religion und die unterschiedlichen Glaubensrichtungen. Letztlich setzte er Cranz nicht schlicht eine andere Meinung entgegen und stellte auch nicht explizit die Unkorrektheit von dessen Thesen heraus, sondern ließ seine Auffassung argumentativ aus einem 250 Vgl. Levy 1984, 296 f. »The explanation had to include the question of the relationship between religion and State, in order to furnish a philosophical argument that Jews may be full-fledged citizens in the modern State and participate in its general cultural life without forsaking Judaism.« Eine solche Antwort konnte nicht, wie im Falle Lavaters, brieflich geschehen, sondern erforderte eine eingehendere Stellungnahme: den Jerusalem. Es ist hier jedoch, gegen Levy, zu betonen, dass Mendelssohn schon im Falle Lavaters die Notwendigkeit einer eingehenderen Verteidigung sah, wie seine umfangreichen Notizen zum Thema zeigen. Jedoch erschien ihm wohl die Thematik für eine Veröffentlichung zu gefährlich; meinte er doch christliche Glaubenswahrheiten öffentlich und direkt infrage stellen zu müssen.

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kunstvollen Gesamtzusammenhang erfolgen, der neben judaistischen Überlegungen vor allem auf die grundsätzlichen Fragen des Rechtsstatus positiver Religionen eingeht, sowie auch deren Zusammenhang zu den Bedingungen menschlicher Bildung (s. Kap. IV.3) und zur Sprachphilosophie (s. Kap. IV.1) reflektiert und somit die Toleranzforderung in ein umfassendes Bild der Ermöglichungsbedingungen menschlicher Gesellschaft zur Beförderung allgemeiner wie individueller Glückseligkeit stellt. Dabei steht neben der Verteidigung der eigenen Religion sein Konzept des ganzen Menschen im Hintergrund. »Mit dem Anspruch, als Mensch anerkannt zu werden, setzte Mendelssohn ein naturrechtliches Zeichen, nämlich frei und gleich geboren zu sein.«251 Aus diesen Konstituenten menschlicher Besonderheit musste sich die Forderung nach Toleranz ganz organisch ergeben. Eine Quelle seiner Überlegungen war, wieder einmal, die Auseinandersetzung mit Wolff. Dieser hatte in den Vernünfftigen Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (1724) zwischen »zweierley Arten der Wahrheiten, natürliche[n] und übernatürliche[n]« unterschieden. In der unpaginierten Vorrede hält er fest: »Jene erkennen wir durch die Vernunfft; diese aus der Heiligen Schrifft. Von jenen sind die Weltweisen zu urtheilen geschickt, die ihre Vernunfft geübet: von diesen aber die Gottes=Gelehrten, welche den eigentlichen Sinn der Schrifft inne haben. Wer von beyden zugleich urtheilen will, der muß ein Weltweiser und ein Gottes=Gelehrter zugleich seyn.« Nun waren dies die wenigsten, und auch Mendelssohn fühlte sich nicht berufen, den Glaubenslehrer zu spielen. Dies würde auch dem Problem nicht abhelfen, denn eine vernünftige Erklärung bestimmter Glaubenssätze hebt immer noch nicht ihre Verbindlichkeit für den Einzelnen. In bestimmten Gebieten ist die menschliche Vernunft, so Mendelssohn, machtlos – und deshalb lässt sich sein Festhalten an den positiven Religionen auch als eine Konsequenz seiner anthropologischen Position beschreiben. Den Juden, das verteidigt Mendelssohn im Jerusalem scharf, ist es nicht erlaubt, das ihnen geoffenbarte Gesetz252 zu missachten: »was Gott gebunden hat, kann der Mensch nicht lösen« (JubA VIII, 199). An diesem Punkt endet die menschliche Macht; hier ist er innerlich verbunden und kann davon nicht zurückstehen. 251

K. Berghahn 2001, 55 (Hervorhebung A.P.). Er erwähnt ebenfalls die »Teilhabe an der Erziehung des Menschengeschlechts«. Dies verträgt sich jedoch gerade nicht mit Mendelssohns Abweis dieses Konzepts im Jerusalem, für das ich in IV.2 argumentiert habe. 252 Mit Levy 1984, 328 f. ist zu betonen, dass für Mendelssohn das Judentum sich nicht auf das geoffenbarte Gesetz allein reduzieren lässt, sondern darüber hinaus in seiner Essenz eine umfassende vernunftreligiöse Konzeption des Glaubens enthält, die jedoch allen Religionen gemeinsam sei. Ihre Einzigartigkeit erhält die mosaische Religion erst durch das mosaische Gesetz. Nur durch eine solche Definition kann verhindert werden, Mendelssohn die allzu simple Auffassung zu unterstellen, Judentum sei einzig und allein Gesetzesgehorsam. »[…] according to Mendelssohn Judaism conforms to general deistic principles while its particular distinctive feature derives from Mosaic Law.« (Levy 1984, 328)

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Eine wahrhaft tolerante Gesellschaft muss diesen Bereich akzeptieren.253 Der gesamte erste Teil des Jerusalem bereitet auf diese Aussage vor: die Trennung von Kirche und Staat macht Toleranz, wenigstens im rechtlichen Sinne, sogar erforderlich. Diese Trennung ruhte darüber hinaus auf der naturrechtlichen Forderung, sich und andere vollkommener zu machen, auf (s. Kap. IV.3, Abschnitt 1, S. 429 passim). Die alle Mitglieder der Gesellschaft verbindende Vernunftreligion benötigt nicht die Offenbarung (durch Wort oder Schrift), sondern den aufgeklärten Gebrauch der Vernunft. »Es ist wahr: ich erkenne keine andere ewige Wahrheiten, als die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kräfte dargethan und bewährt werden können.« (JubA VIII, 156)254 Daneben stehen die Glaubens- und Geschichtswahrheiten, die sich nur einer begrenzten, aber doch zu akzeptierenden Gültigkeit erfreuen. Alles, was über die (vernunftreligiös reformulierbaren) Wahrheiten hinausgeht, fällt unter das Diktum der menschlichen Unverfügbarkeit, das so lang tolerabel ist und sein muss, wie es die gleichberechtigte menschliche Gesellschaft in einem gerechten Staat nicht unterläuft. Der Grundsatz dabei ist die Unverfügbarkeit des Glaubens als einer unveräußerlichen Gesinnung: »Ich kann auf keine Gesinnungen, als Gesinnungen betrachtet, aus Liebe zu meinem Nächsten Verzicht thun; kann ihm keinen Antheil an meiner Urtheilskraft aus Wohlwollen überlassen und abtreten, und eben so wenig Recht auf seine Gesinnungen mir anmaßen, oder auf irgend eine Weise erwerben. Das Recht auf unsere eigene Gesinnungen ist unveräusserlich, kann nicht von Person zu Person wandern; denn es giebt und nimmt keinen Anspruch auf Vermögen, Gut und Freyheit.« (JubA VIII, 129) Positive Religion besteht nicht allein aus Handlungen, sondern braucht immer die entsprechende Gesinnung (JubA VIII, 113 f.): diese ist nicht zu erzwingen, sondern nur anzusinnen. Deshalb gilt die Freiheit der Gesinnung auch in Religionsangelegenheiten, und zwar sowohl gegenüber dem Staat, als auch gegenüber der (Amts)Kirche. Letztere besitzt, wie in Kap. IV.3 gezeigt wurde, kein Zwangsrecht, doch darüber hinaus argumentiert Mendelssohn hier, dass auch keine einzelne positive Religion in einem Staat eine bevorzugte institutionelle Stellung einnehmen dürfe, da dies einen indirekten Zwang produziere. Denn präferiert ein Staat eine bestimmte Glaubens253 »Die weltanschauliche Diskussion über Toleranz konnte nur befriedigend zu Ende geführt werden, wenn sich aus der Achtung des Andersdenkenden auch ein Recht auf Anderssein ergab.« (K. Berghahn 2001, 67, Hervorhebung A.P.) In der zeitgenössischen Debatte wurde auch von »Duldung« gesprochen (siehe z. B. Biester in der Berlinischen Monatsschrift III, 1784, 182 f.). Mendelssohns Konzept geht mit der Toleranzforderung als eine Bedingung menschlicher Vervollkommnung darüber hinaus. 254 An die Freunde Lessings, JubA III/2, 197 f. »Nun dünkt mich, die Evidenz der natürlichen Religion sey dem unverdorbenen, nicht gemisleiteten Menschenverstande eben so hell einleuchtend, eben so unumstößlich gewiß, als irgend ein Satz in der Geometrie.«

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richtung, so wirkt der mit ihrer Annahme verbundene gesellschaftliche Vorteil wie eine Bestechung auf die Gläubigen, die durch Annahme einer (äußerlichen) Gesinnung zu Privilegien – oder deren Verlust – kommen können (JubA VIII, 129 f.). Jegliche rechtsaffine Organisation der Kirchen, bei denen die Freiheit des Gedankens sogleich durch das Streben nach Ämtern und Würden pervertiert wird, ist zu vermeiden (ebd., 130).255 Auch macht Mendelssohn einen emotionalen Aspekt, der bei der Institutionalisierung der Kirche wirksam werde, geltend: Indem Grundsätze, die den Einzelnen zu seiner Glückseligkeit führen, verrechtlicht werden, wirken sie nicht mehr auf seinen Verstand, sondern sein Gefühl (JubA VIII, 130, 137 f.) und verhindern also gerade eine freie Hinwendung zum Glauben. Urteile über das Gute und Böse stehen in diesem Sinne nur dem Einzelnen, nicht jedoch einer Zwang ausübenden Institution, wie es eine so verstandene Kirche wäre, zu, da sie nur aus der freien Perspektive des Einzelnen angemessen vollzogen werden können. Eben diesen verfälschenden Aspekt des heimlichen Zwangs sieht Mendelssohn auch in Überlegungen zu einer Religionsvereinigung am Werk. Er glaubt an deren Möglichkeit nicht, da bei einem solchen Prozess der »Einigung« wiederum Interessen im Hintergrund stünden und das Ergebnis von vornherein verfälschten: »der Wolf wird mit dem Lamme wohnen, und der Leopard neben der Ziege u. s. w. – Sie, die Sanftmüthigen, die dieses in Vorschlag bringen, sind bereit Hand ans Werk zu legen; sie wollen als Unterhändler zusammentreten und sich die menschenfreundliche Mühe geben, einen Glaubensvergleich zu Stande zu bringen; um Wahrheiten wie um Rechte, wie um feiles Kaufmannsgut, zu handeln, wollen fordern, bieten, dingen, abdrohen und abbitten, übereilen und überlisten, bis die Parteyen sich einander in die Hände schlagen, und der Vertrag zur Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts niedergeschrieben werden kann.« (JubA VIII, 201) Deutlicher kann man eine Absage nicht formulieren: in einem unwürdigen Gefeilsche um die ›wahre Religion‹ liegt eine Vermischung der Ebene des Marktes mit derjenigen des Glaubens vor, die die Idee einer geeinigten Religion fundamental ad absurdum führte. Die Toleranzforderung ist für Mendelssohn auch die Folgerung daraus, dass bestimmte Lebensbereiche solcherart

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Die in diesem Zusammenhang und auch mit den Rezensenten des Jerusalem diskutierte Ablehnung des Eids sei hier nur erwähnt. Der religiöse Eid in Amtsgeschäften, so Mendelssohns Ansicht, versucht, eine innerliche Haltung zu verrechtlichen, worauf sich niemand festlegen kann. Siehe JubA VIII, 133, 138 und Mendelssohn in der Berlinischen Monatsschrift (III, 1784, 24–41) in einer Antwort auf eine Rezension des Jerusalem von Michaelis; abgedr. in JubA VIII, 213–24, hier 221: »Der Inhalt meiner Schrift [gemeint ist der Jerusalem], ersten Abschnitts geht völlig dahin, zu beweisen, daß in Absicht auf Glauben und Nichtglauben keine Verbindlichkeit, kein Kontrakt, und folglich keine Beeidigung schlechterdings statt finde; daß die Freiheit zu denken, und das Recht, seine Meinungen zu ändern, auf keine Weise veräußert und einem andern übertragen werden könne.«

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Verhandlungen eben nicht zur Verfügung stehen. Menschliche Bestimmung ist das gute, gottgefällige Leben, das nicht durch falsch verstandene Assimilation erreicht werden kann. In diesem Sinne spricht er sich scharf gegen jeglichen Versuch zur Etablierung einer Universalkirche o. ä. aus: »Glaubensvereinigung ist nicht Toleranz« (JubA VIII, 203), sondern Zwang. Sie kann nichts anderes sein, da sie den Grund der Vernunft längst überschritten hat und also den Andersgläubigen nicht überzeugen, sondern bloß noch überreden – oder unterdrücken kann. In einem Brief an Jacob Hermann Obereit vom 13. März 1770 hält Mendelssohn, in einer ersten, dem Jerusalem vorgreifenden Überlegung, seine Skepsis zum Wert praktischer Streitigkeiten fest: »Jede Parthei [also: die unterschiedlichen Konfessionen] wird Ihnen [auf die Frage, welche Religion »allein vollkommen tugendhaft« mache, A.P.] antworten: in der ihrigen; aber ich glaube, Gott habe uns das System der Moral durch Natur und Vernunft, nicht durch Worte und Buchstaben, offenbaren wollen.«256 Die Erkenntnis dieses natürlichen Moralsystems leistet jeder Mensch für sich, fern der einander widersprechenden Autoritäten. Die Vernunftreligion, die »Hauptgrundsätze, in welchen alle Religionen übereinkommen« (JubA VIII, 131) sind dagegen so einfach wie notwendig: »Ohne Gott und Vorsehung und künftiges Leben ist Menschenliebe eine angeborne Schwachheit, und Wohlwollen wenig mehr als eine Geckerey, die wir uns einander einzuschwatzen suchen, damit der Thor sich placke, und der Kluge sich gütlich thun und auf jenes Unkosten sich lustig machen könne.« (ebd.) Hier geht er von einem bei allen wirksamen Gesetz, das zum Erlangen von begründeter Erkenntnis der Tugend vorausgesetzt ist, aus: dem Streben nach Verbesserung. Abgesehen von diesen sittlichen Naturgesetzen, die jeder Vernunftfähige einsehen könne, sei aber kein übergreifender, allgemeiner Standpunkt möglich. Ebenso steht Mendelssohn der Möglichkeit, ein fremdes Religionssystem überhaupt zu verstehen, skeptisch gegenüber (vgl. JubA VIII, 179). Damit wären Vereinigungsbestrebungen, die eine alle Teile integrierende und damit zuvor verstehende Bewegung voraussetzte, von vornherein aufgrund hermeneutischer Schranken unmöglich. Der Jerusalem schließt deshalb mit einem Aufruf zur Meinungs- und Glaubensfreiheit ab: »Regenten der Erde! […] Wer die öffentliche Glückseligkeit nicht störet, wer gegen die bürgerlichen Gesetze, gegen euch und seine Mitbürger rechtschaffend handelt, den lasset sprechen, wie er denkt, Gott anrufen nach seiner und seiner Väter Weise, und sein ewiges Heil suchen, wo er es zu finden glaubet.« (JubA VIII, 203 f.) Die Trennung zwischen der Vernunftreligion, die alle Menschen eint, und der jeweiligen positiven Religion, die wiederum auch institutionell (aber nicht auf staat256

JubA XII/1, 215; dies nimmt Mendelssohns Haltung im Jerusalem von 1783 »fast wörtlich vorweg« (Altmann, JubA XII/1, 319) und ist auch als ein Hinweis zu werten, dass die Frage der politischen und religiösen Bestimmung des Menschen sich für Mendelssohn als eine noch offen gebliebene Frage aus der Bestimmungsdebatte ergab.

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

licher, sondern gesellschaftlicher Ebene) gebunden ist und eine jeweils nach eigenen ›Gesetzen‹ lebende Gesellschaftsgruppe innerhalb eines Staates darstellt, führt dazu, dass diese positiven Religionen in der Theorie seltsam blass erscheinen. Vielleicht spiegelt sich in diesem Effekt die Tatsache, die letztlich auch Mendelssohn verfocht: dass die Religionen kein Gegenstand der Philosophie sind, sondern ihren eigenen Bereich innehaben. In seinen Bemühungen um Toleranz und rechtliche Gleichstellung hat die zugleich anthropologische Forderung, den innersten Bereich des Menschen für sich zu belassen, ihren Ort als Grenzpunkt philosophischer, staatsphilosophischer und auch naturrechtlicher Bestimmbarkeit. Mendelssohn, der Philosoph des Judentums, muss damit aber auch, m. E. nach exakter, als ein Philosoph auf der einen und zugleich ein Verfechter des Judentums (und ein außerordentlicher Schriftgelehrter) auf der anderen Seite verstanden werden. Dies trennt freilich die beiden Bereiche seines Interesses, doch würde der Versuch, die Seiten zu vereinen, zu einer empfindlichen Verfälschung seiner philosophischen Prämissen der Entwicklungsbedingungen des Menschen führen. Dies mag auch Mendelssohns prekären Status als »jüdischer Aufklärer« innerhalb der weiteren Entwicklung des Judentums selbst erklären. So stellt Mendelssohn für dieses »a Figure at the Gate«257 zu einer neuen Zeit dar, der ein Umdenken bisheriger traditioneller Vorstellungen forderte. Er wie auch sein Freund Lessing waren der festen Überzeugung, dass die Juden der Bildung zugänglich sind, sobald dafür ein angemessener rechtlicher Rahmen, nämlich allgemeine rechtliche Gleichstellung, gegeben war. Alle weiteren Überlegungen der Ausgestaltung des Judentums waren nicht mehr auf dem Gebiet der philosophischen Untersuchung zu leisten. Das Judentum selbst hatte im 18. Jahrhundert einige signifikante Änderungen im Selbstverständnis zu bewältigen. »Now in the middle of the eighteenth century, and vastly accentuated after the meteoric appearance of Mendelssohn, the fresh air invading the ›house‹ of Judaism caused it to shake from the impact.« (Kahn 1993, 4) Mendelssohns Einfluss auf dieses Umwälzungs- und auch Verbesserungsgefühl war von großer Bedeutung, auch wenn er die nachfolgenden Generationen mehr durch sein vages Vorbild als eines tugendhaften Menschen258 mehr beeinflusste als durch seine Ideen. Am größten war die Wirksamkeit seiner Arbeiten in Berlin: unter seinem Einfluss entwickelte sich ein jüdisches Bürgertum, das bald nach Mendelssohns Tod in Form der jüdischen Salons das gesellschaftliche und intellektuelle Leben der Stadt jenseits der Akademie bestimmte. Hinsichtlich der religiösen Entwicklung im Judentum, im Zusammenhang auch mit der mächtigen Bewegung der Maskilim, 257

So der Titel im einleitenden Kapitel in Kahn 1993, 3–7. »His physical handicap, unprivileged birth, widely recognized ›virtue‹, and defeat of Lavater in their epistolary duel all contributed to the creation of the Mendelssohn legend.« (Kahn 1993, 5) 258

IV.4 Toleranz statt Assimilierung: Konsequenzen der Glaubenswahrheiten

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beging Mendelssohn allerdings mit seinem unbedingten Vernunftglauben, der sich auch im Jerusalem Bahn brach, den Fehler, das Judentum allzu stark auf reine Gebotsbefolgung und die Geltung der Zeremonialgesetze zu beschränken und diese Traditionen als den unwandelbaren Kern des Judentums anzunehmen (vgl. ebd., 7). Die weitere Geschichte strafte ihn Lügen: gerade die Zeremonialgesetze wurden als antiquiert zurückgewiesen oder auf eine lediglich symbolische Bedeutung zurückgestuft. Mendelssohns Auffassung konnte den Nachfolgenden nichts mehr sagen und geriet so in Vergessenheit. Sein Einstehen für die Meinungsfreiheit wurde aus anderen Gründen in der Philosophiegeschichtsschreibung lang übersehen259, jedoch, wie ich gezeigt zu haben hoffe, zu Unrecht. Empirisch betrachtet scheiterte Mendelssohns Bemühen um rationale Toleranz auch im größeren Maßstab. Die weitere Geschichte des Judentums in Deutschland steht hier einer letztlich positiven Deutung entgegen.260 Dem entspricht das Ergebnis von Rengstorfs Überlegung zu Emanzipationsbewegungen im 18. Jh.: letztlich bezogen sich erfolgreiche Emanzipationsversuche eher auf Individuen, denn auf das Judentum insgesamt. Auch die Nachkommen gesellschaftlich anerkannter Juden, wie es Mendelssohn zweifellos war, erschien die Konversion doch erfolgversprechender als das Beharren auf Gleichberechtigung. »Es mag erlaubt sein, angesichts dessen zu fragen, ob selbst ein Mann wie Moses Mendelssohn wirklich zu hinreichender Klarheit hinsichtlich des Ausmaßes und des Gewichts der Vorurteile gekommen war, die zunächst abgebaut werden mußten […].«261 Vielleicht hat sich hier der Menschenkenner gefährlich verschätzt. Abseits der Empirie jedoch sind Mendelssohns hier aufgezeigte Überlegungen für eine angemessene Reformulierung des Toleranzbegriffs von großer Bedeutung. Seine Rolle (und die der Mittwochsgesellschaft) verdeutlichte der Moses-Mendelssohn-Preisträger 2006, Tim Guldimann, in seiner Dankesrede in Berlin vom 11. 259

Wie Altmann in seiner Analyse vom Mendelssohn-Bild im Deutschen Idealismus, das mehr der Selbstvergewisserung diente, als dass es einen vorurteilslosen Blick auf den jüdischen Aufklärer erlaubte, deutlich gezeigt hat; siehe Ders. 1982, 276–85. 260 Nur kurze Zeit klingt dieses optimistischer. So Biester in seinem Nachruf auf Mendelssohn: »[…] was verdankt Deutschland ihm vorzüglich? […] Ihm verdankt vorzüglich seine Nation, und dadurch ganz Deutschland und die gesammte Menschheit, einen großen Theil ihrer moralischen und intellektuellen Bildung. […] Endlich stehe auch hier das Verdienst: daß er durch seinen untadelhaften Wandel, durch seine hohe Rechtschaffenheit, und durch sein eifriges Lehren wichtiger Wahrheiten, es dahin brachte, daß man erkannte: auch ein Jude, auch ein Unchrist, könne ein guter Mensch sein, könne Religion haben, könne unter uns Christen Religion und Tugend befördern. […]« (Berlinische Monatsschrift 1786; JubA XXIII, 19–26, hier 24 ff.) 261 Rengstorf 1977, 31; vgl. dazu auch Schoeps 1977, 78 f., der die negativen Folgen für die soziale Einbindung derjenigen Juden, die sich als Schutzjuden in beiden Gesellschaftssphären zugleich bewegten, hinweist.

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Kapitel IV · Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur

September 2006.262 Dort wies er darauf hin, wie Mendelssohn die Bedingungen für eine erfolgreiche Verständigung (von Konfliktparteien) formuliert: »Ersten müssen sich alle Betroffenen an der Diskussion über eine Verständigung beteiligen können, und ein Gespräch muss stattfinden. Zweitens müssen die Beteiligten gleichberechtigt sein oder sich zumindest gegenseitig respektieren. Drittens darf eine Verständigung weder durch Zwang oder Gewalt noch durch deren Androhung herbeigeführt werden.« Unschwer lassen sich bereits hier die idealen Diskursbedingungen späterer Modelle wiederfinden. Mendelssohns Beharren auf dem Wert des Individuums und dem unhintergehbaren Faktum des persönlichen Glaubens führen auf einen positiven Toleranzbegriff, der die Achtung der individuellen Integrität, wie auch den Wert von Gemeinschaften umfasst und den Eigenwert der diesen entspringenden Bestrebungen achtet. Die Akzeptanz der Andersartigkeit bewegt sich dabei immer im Spannungsfeld zwischen der Freiheit des Einzelnen und dessen Koordination mit der Gesellschaft, da ein ungestörtes Nebeneinander einander überschneidender Sphären immer auch Konflikte mit sich bringt. Um diese in formaler Hinsicht gerecht zu lösen, hat Mendelssohn erste Ansatzpunkte, v. a. die Grundeinstellung betreffend, gegeben. Die hier diskutierte, tragende Grundannahme lautet kurz: Anerkennung des Anderen aus Respekt vor seiner Würde.

262

Gekürzt abgedr. in DIE ZEIT Nr. 40, 28. September 2006, 12.

KAPITEL V Metaphysik als ›subjektive‹ Theodizee

V. »Der Mensch ist bloss ein unaufhörliches Zeitliches …« Mendelssohns Theorie der Unsterblichkeit »Wir müssen zur Entscheidung unserer Streitfrage um ein merkliches näher gerückt seyn, bevor wir uns mündlich unterhalten, und ich bin eitel genug, mir dieses von meiner Abhandlung zu versprechen. Zwar nichts Neues enthält sie, das sage ich Ihnen zum Voraus. Da aber jede Beweisart eine eigene Disposition von Seiten dessen, der überzeugt werden soll, voraussetzt; so hoffe ich eine Wendung gewählt zu haben, die der unsrigen am angemessensten ist. Wenn uns die Lehre von der Unsterblichkeit gleich zuweilen zweifelhaft geschienen; so haben wir doch allezeit so zu leben gesucht, daß wir vernünftigerweise nichts zu verlieren fürchten konnten, wenn sie auch allenfalls wahr seyn sollte. Mithin konnten wir nicht anders, als von der Affirmative überzeugt zu seyn wünschen.« Mendelssohn an Abbt, 22. Juli 1766, JubA XII/1, 118 f. »Ohne Gott und Vorsehung und künftiges Leben ist Menschenliebe eine angeborne Schwachheit, und Wohlwollen wenig mehr als eine Geckerey, die wir uns einander einzuschwatzen suchen, damit der Thor sich placke, der Kluge sich gütlich thun und auf jenes Unkosten sich lustig machen könne.« Mendelssohn, Jerusalem, JubA VIII, 131

Die Würde des Anderen als ein unhintergehbarer Punkt, ohne den die wahrhaft aufklärende bzw. aufgeklärte Bildung unmöglich ist, kann als der Kerngedanke von Mendelssohns Toleranzforderung angesehen werden. Daneben ist das Postulat der unendlichen Bewegung der menschlichen Vernunft zwischen Aufklärung und Kultur, zwischen der Verbesserung des Gewussten und dessen Eingliederung in eine menschliche Gesellschaft das Grundmoment seines Aufklärungsaufsatzes. So modern einige Theorieelemente scheinen mögen, so sind sie letztlich doch auf ein umfassendes metaphysisches System gegründet, das Mendelssohn zeitlebens nicht infrage stellte und das sich als Fundamentalprämisse auch im Hintergrund seiner anthropologischen Überlegungen der Definition des Menschen als leib-seelisches wie auch geselliges Wesen findet. In Nachfolge der Bestimmungsdebatte mit Abbt hatte Mendelssohn, seiner eigenen Ansicht nach, das nötige »Rüstzeug« gewonnen, um sich seinem Anliegen der Stärkung und wahrhaftigen Einkleidung der von ihm verteidigten Metaphysik zu widmen. Noch bevor der Aufklärer Mendelssohn zum Vorschein kommt,

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Kapitel V · Metaphysik als »subjektive« Theodizee

hat der Metaphysiker Mendelssohn seine Ansichten gefestigt. Wann immer im Aufklärungsaufsatz also vom »Maaß und Ziel« der Bestimmung die Rede ist, so ist auch diese Grundlage zu beachten. Im folgenden Abschnitt soll nun keine eingehende Exegese des Mendelssohns Ruhm begründenden Werks Phädon oder Über die Unsterblichkeit der Seele erfolgen, noch wird die dort verteidigte Grundthese von der Unsterblichkeit der Seele ausführlich oder gar abschließend diskutiert. Vielmehr soll hier die Frage bestimmend sein, inwiefern Mendelssohn seine Abhandlung als eine Anknüpfung an die Bestimmungsdebatte mit Abbt verstand und ihr damit den Status einer die bisher formulierten Ansätze einer Anthropologie abschließenden Position zuwies.1 Die Streitfrage, auf die Mendelssohn im oben angegebenen Motto Bezug nimmt, ist die nach einer erfüllbaren jenseitigen Zweckhaftigkeit des Menschen, und, damit einhergehend, der Zusammenhang zwischen jenseitiger und diesseitiger Erfüllung menschlicher Bestimmung. Die Annahme, dass menschliche Entwicklungs- und Bildungsfähigkeit nicht leer läuft, bzw. menschliche Perfektibilität sinnvoll und kein Ausdruck eines grundlegenden Mangels ist, war von Abbt in der brieflichen Debatte immer wieder angezweifelt worden. Mit dem Beweis der Unsterblichkeit und der mit diesem zusammenhängenden Aspekte will Mendelssohn nun diesen Zweifel endgültig abweisen und seine Auffassung einer Destination des Menschen inhaltlich füllen, ohne damit schlicht Leibniz’ Argumentationsarsenal in der Theodicée zu wiederholen. Eine Diskussion der Ergebnisse des Phädon hat es nicht mehr gegeben; Abbt verstarb bereits vor der Drucklegung. In der Vorrede eignet Mendelssohn sein vollendetes Werk dem Freund zu: »[…] Unserer Abrede gemäß, sollte ich folgende Gespräche ausarbeiten, und darinn die vornehmsten Lehrsätze, worinn wir übereinkamen, auseinandersetzen; und diese sollten in der Folge zur Grundlage unseres Briefwechsels dienen.« (JubA III/1, 7) 2 Die hier konstatierte Übereinstimmung in den Lehrsätzen war allerdings denkbar dünn. Abbt hatte lediglich seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, dass die Unsterblichkeit und die beständige Vervollkommnung der Seele bewiesen werden könnten; keines von Mendelssohns im Briefwechsel angeführten Argumente ließ er jedoch

1

Deshalb kann an diesem Ort nicht auf die Frage nach dem Ursprung und der Legitimation des jüdischen Unsterblichkeitsglaubens eingegangen werden, den sowohl Nadler 2001, 62, als auch Arkush 1994, 157 im Pharisäischen Glauben ansiedeln. Zweifellos ging Mendelssohn davon aus, dass das Judentum in seiner Begründung auf der natürlichen Religion dem Unsterblichkeitsglauben gar nicht entgegenstehen konnte. 2 Es blieb nicht nur bei dem Hinweis auf den engen Zusammenhang zwischen der Bestimmungsdebatte und dem Phädon in der Vorrede. Ein mehr äußerliches Zeichen für eine An- oder besser: Zusammenknüpfung beider ist die Tatsache, dass sie in einem Nachdruck (Amsterdam 1767) gemeinsam erschienen. Der Untertitel lautete entsprechend: »Vermehret mit den Zweifeln und dem Orakel, über die Bestimmung des Menschen« – siehe Hinske 1994, 146.

V.1 »Der Mensch ist bloß ein unaufhörliches Zeitliches …«

501

gelten. Ob der im Phädon durchgeführte Lösungsansatz diesen Zweifeln hätte den Wind aus den Segeln nehmen können, wird zu untersuchen sein. Die Anlage des Phädon geht in ihrer Gesamtheit freilich über die Bestimmungsdebatte hinaus; der Beginn der Vorarbeiten datiert bereits ins Jahr 1757.3 In ihm begann Mendelssohn, fasziniert von der antiken Philosophie, das Studium der griechischen Sprache, um den bewunderten Platon im Original lesen zu können (vgl. Altmann 1973, 24). Vielleicht geschah die Anregung zu ersten eigenen Übersetzungen durch das Gefühl des Ungenügens an bereits vorliegenden Arbeiten, jedenfalls hört man dies in den einschlägigen Rezensionen Mendelssohns für die Litteraturbriefe unschwer heraus. Dass er selbst sich für einen geeigneten Übersetzer (im wörtlichen wie philosophischen Sinne) von Sokrates’ Gedanken hielt, wird durch die Tatsache erhärtet, dass er in einer Rezension eine eigene Übersetzung einer längeren Passage aus Platons Kriton als Vorbild veröffentlicht – und diese später in seine eigene Fassung des Phädon übernimmt.4 Die Begeisterung für die platonischen Dialoge lässt sich auch durch die immer wieder durchschimmernde Identifizierung mit Sokrates’ Charakter aufzeigen. Diese Identifizierung gilt nicht nur der Person. Vielmehr erkennt Mendelssohn das sokratische Vorgehen als vorbildlich für seine eigene Zeit an. Der mäeutische Stil, die Sprache und die mit all dem einhergehende praktische Grundausrichtung wünschte er für seine eigene Epoche und charakterisiert sie nicht als eine künstlerische, sondern philosophische Darstellung, die wiederzuerwecken sei.5 Selbst den Weg von Sokrates’ philosophischer Bildung hält er für nachahmenswert: So sei dieser zwar von der Naturlehre ausgegangen; aber er merkte »gar bald, daß es Zeit sey, die Weisheit von Betrachtung der Natur auf die Betrachtung des Menschen zurückzuführen. Dieses ist der Weg, den die Weltweisheit allezeit nehmen sollte. Sie muß mit der Untersuchung der äußerlichen Gegenstände anfangen, aber bey jedem Schritte, den sie thut, einen Blick auf den Menschen zurückwerfen, auf dessen wahre Glückseligkeit alle 3

Bereits 1756 im Sendschreiben an Lessing über Rousseaus zweiten Discours spielt Mendelssohn auf Sokrates als ein Muster eines harmonisch ausgebildeten, das Beste des »edlen Wilden« und gesitteten Menschen vereinigenden Persönlichkeit an (JubA II, 95). 4 Vgl. LB 118: 17. Juli 1760, JubA V/1, 223 f. mit »Leben und Charakter des Sokrates«, in: Phädon, JubA III/1, 35 (so auch Altmann 1973, 143). 5 Siehe LB 119: 17. Juli 1760, JubA V/1, 228: Wie Mendelssohn dort festhält, bricht Diderot sein Tragödien-Fragment zu Recht vor der Beschreibung von Sokrates’ Tod ab. Mendelssohn betont, dass eine für die Schaubühne geeignete Fassung dieses Ereignisses auch gar nicht möglich wäre, denn wenn es der Philosoph schaffe, seine Jünger von der Gerechtigkeit des Todesurteils bzw. der Notwendigkeit, auch ein ungerechtes Todesurteil anzunehmen, zu überzeugen, würde das Publikum gähnen – wenn allerdings zugunsten der Dramatik auf eine philosophische Grundlegung der Ausführungen verzichtet werde, seien die Denker im Publikum unbefriedigt. Kurz: eine zugleich dramatisch wie philosophisch zureichende Lösung sei mit einer Bearbeitung des Stoffes für die Schaubühne nicht zu erreichen (vgl. Kap. III.2, 318–22).

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Kapitel V · Metaphysik als »subjektive« Theodizee

ihre Bemühungen abzielen sollten.« (JubA III/1, 14) Ebenso scheint Mendelssohn auch sein Zeitalter zu betrachten. Die Physiologie soll zurückgeführt werden in eine metaphysisch abgesicherte Seelenkunde; Materialismus und auch Empirismus durch eine vernünftige Grundlage entschärft und an ihren eigentlichen Zweck – ihren Beitrag zur menschlichen Glückseligkeit – gebunden gedacht werden. Um dieses Ziel mit seinem Phädon zu erreichen, musste das Werk mehr sein als eine bloße Übersetzung. Auch deshalb spricht Mendelssohn in den diesbezüglichen Briefen nicht von einem Übersetzungsvorhaben, sondern wie im Schreiben an Lessing vom 19. Dezember 1760 von einer eigenen »Abhandlung« (JubA XI, 190). In Anlehnung an den vorgefundenen Denkstil versucht er also vielmehr, ›seinen‹ Sokrates ins 18. Jahrhundert zu heben. Nicht umsonst zeigt die Schrift letztlich keinen historischen, »sondern einen Socrates redivivus, der die Sprache der modernen Aufklärung spricht«.6 Die Berücksichtigung dieses Aspekts, der Wiederbelebung eines sokratischen Denk- und Lehrstils macht einsichtig, inwiefern sich Mendelssohn mit dem Phädon einer doppelten Strategie bedient. Zum einen versucht er den inhaltlichen Beweis der Unsterblichkeit der Seele. Dabei ist der Nutzen der empirisch verfahrenden Wissenschaften als eine Bereicherung und Unterstützung der metaphysischen Systeme von großer Wichtigkeit. Sie verhülfen den »vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« (JubA III/1, 150) erst zu ihrer »Evidenz«, die sie den »Einsichten der Alten« wahrhaft überlegen mache. Zum anderen jedoch scheint er zeigen zu wollen, dass eine Antwort auf diese grundlegenden Fragen nach einer bestimmten Art des Philosophierens verlangt. Das Bemühen um praktische Relevanz und Überzeugungskraft benötigt eine eigene Methode, die einem »trockenen System« überlegen sein soll. Wie die nachfolgende Analyse (Kap. IV.1) verdeutlicht, bleibt Mendelssohn Phädon allerdings formal wie inhaltlich hinter den gesteckten Zielen zurück – und es ist kein Wunder, dass sich unter anderen Herder als ein »zweiter Abbt« in die Reihe der Fundamentalkritiker einreihte (Kap. IV.2). Beide Teilkapitel sind dementsprechend der Frage gewidmet, inwiefern seine Ausführungen dennoch dem Gedanken einer rationalistischen Anthropologie genügen, wenn diese hinsichtlich der menschlichen Destination auf ein teleologisch fundiertes Unsterblichkeitstheorem festgelegt ist.

6

»…but a Socrates redivivus who spoke the language of the modern Enlightenment« (Altmann 1973, 150).

V.1 »Der Mensch ist bloß ein unaufhörliches Zeitliches …«

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1. Die Entstehung des Phädon im Umriss Der einzig erhaltene Entwurf (siehe JubA III/1, 1–4) aus den 1760er Jahren zeigt eine noch stark am platonischen Dialog angelehnte Struktur. Der erste Beweis lautet dort: Alle Dinge unterliegen andauernder Veränderung infolge gradueller Übergänge von einem Stadium ins andere. Auch Leben und Tod seien als zwei solcher Stadien zu verstehen. Da aber in der Natur zwar Veränderung, aber kein Sprung möglich sei, kann der Tod nicht als eine gänzliche »Zernichtung« des Lebens verstanden werden. Der Tod ist kein Ende des Lebens, er ist aber auch kein völlig »einförmiger, unveränderlicher« Vorgang, sondern ein »Uebergang in einen anderen Zustand«, und zwar wiederum zum Leben. »Die Veränderungen in der Natur geschehen mehr nach einer krumen[7] als nach einer graden Linie. vid. c. 17 [Phaidon 17. Kap.].« (JubA III/1, 3 f.) Diese Struktur entspricht ungefähr dem 15. und 16. Kapitel von Platons Phaidon und wurde in der Endfassung des Phädon in das erste Gespräch übernommen.8 Der zweite Beweis im Entwurf beruht auf dem leibnizianischen Grundsatz, dass die Seele eine Kraft sei, die sich in der fortwährenden Aufklärung eingeborener Begriffe zeige. Wie Platon auch im Menon festhält, bewirken die äußeren Vorstellungen deshalb keinen neuen Begriff, sondern sie machen bestimmte, bereits dunkel vorhandene Vorstellungen deutlicher. Leibniz nimmt, wie Strauss (JubA III/1, XIV) festhält, das Theorem der »Wiedererinnerung« spätestens in den Nouveaux Essais, wenn auch in einer gemäßigten Variante, wieder auf und legt den Schwerpunkt nicht auf den Aspekt der Erinnerung, sondern auf den der Tätigkeit. Auch bei Mendelssohn ist diese Verschiebung zu beobachten. Noch im Entwurf hält er fest: Beim Aufgeklärtwerden ist die Seele aktiv, sie muss Ähnlichkeiten auffassen, Begriffe zuordnen, »allgemeine ont[o]logische Grundsätze« anwenden (vgl. JubA III/1, 4). Diese sind der Seele eben nicht schlicht gegeben, sondern müssen aktiv ergriffen, und zwar »wiedererinnert« werden. Diese Tätigkeit weist sie aus als eine »Krafft«, ergo, so schließt Mendelssohn hier bündig, sei sie »schon würksam gewesen, ehe sie noch mit diesem Leibe verknüpft worden.« (ebd.). Diese Folgerung ist nur in modifizierter Form in den Phädon übernommen worden. Vor allem die Lehre von der »Wiedererinnerung« hat Mendelssohn so nicht mehr verfolgt, obwohl er wiederholt, auch in der Bestimmungsdebatte, von einem »Auswickeln« der Fähigkeiten spricht. Anscheinend wollte er den passiven Zug der sich in Übergängen befindlichen Seele, den eine solche Beschreibung innehat, vermeiden. Allein ein Zusatz, der prima facie 7

Laut Leo Strauss, JubA III/1, XIV ist dieser letzte Schritt »im Phädon ganz verschwunden«. Herder wird diesen Aspekt wieder aufgreifen, siehe Kap. V.2, 547–49. 8 Vgl. Leo Strauss in JubA III/1, XIV. Dies gleicht den Ausführungen in den Briefen über die Empfindungen, JubA I, 103 ff., in denen Palemon seinen Diskussionspartner Eudox, wie er in einem Brief an Euphranor berichtet, eben diese Vorstellung einer unendlichen Vervollkommnung entwickeln lässt.

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Kapitel V · Metaphysik als »subjektive« Theodizee

nichts mit dem zweiten Beweisgang zu tun hat, aber die Aktivität der Seele stärker betont, bietet einen Anknüpfungspunkt an das zweite Beweismoment der Endfassung des Phädon: »Daß die Seele kein zusammengesetztes Ding sey erhellet unter andern, aus dem Vermögen sich die Realitäten ohne ihre Schranken vorzustellen. Denn dieses vermag kein zusammengesetztes Ding, deren Veränderungen, bloß in der Bewegung bestehen.« (JubA III/1, 4; vgl. Platon, Phaidon Kap. 27 ff.) Im zweiten Gespräch des Phädon ist dieser Ansatz ausgeführt. Zwar ist dort nicht mehr von »Realitäten ohne Schranken« die Rede, sondern spezifischer von Vollkommenheit und Harmonie; beides verbleibt jedoch im Rahmen leibnizianischer Bestimmungen von Vollkommenheit. Der Harmoniegedanke (nicht der der Realität) ist hier das entscheidende Moment, das von der Erfassung durch einen Geist abhängig ist. Seelenkraft wirkt synthetisierend9; dagegen ist körperliche Kraft reine Bewegung, nicht Erfassung, Ordnung und Einheit. Das Primat liegt damit auf der Einheit gebenden Tätigkeit der Seele, nicht der Erkennbarkeit der Welt, die vielmehr aus der Erkenntnis der Seele abgeleitet wird. Völlig neu gegenüber dem Entwurf ist das dritte Gespräch angelegt mit seinen Anklängen an eine metaphysische, moralphilosophische und naturrechtliche Theodizee, also der Versuch einer Beantwortung von Abbts Fragen. Ein »Erster Theil« des Werks, so zeigt Mendelssohns Briefwechsel mit Iselin (v. a. sein Schreiben vom 5. Juli 1763, JubA XII/1, 14 ff.), lag bei Einsetzen der Diskussion mit Abbt bereits vor; er wurde 1761–63 niedergeschrieben. Ein die Argumentation abschließender und vollendender »zweiten Theil«, der sich, so Mendelssohn in seinen Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz von 1782, mit der »Bestimmung des Menschen« auseinandersetze10, wurde erst nach dieser Diskussion vollendet.

9

Daran schließt sich bei Leibniz das Postulat des beständig tätigen Vorstellungsvermögens an, das die Person qua Zusammenhangs aller Erfahrungen konstituiert. Mendelssohn nun setzt die Person mit der Seele gleich: dies ist diejenige Instanz, die Ich sagt und alle Vorstellungen in sich zusammenfasst. Dabei ist seine Vorstellung durchaus nicht mit der kantischen transzendentalphilosophischen Position zu verwechseln: Mendelssohn spricht von der Seelensubstanz. Der Beweis ihrer Realität ist einer Kombination aus dem ontologischen Gottesbeweis und dem cartesischen cogito entnommen, siehe Evidenzschrift, JubA II, 294 im Anschluss an Leibniz: »Aber die verständige Seele, die erkennt, was sie ist, und die das Wort Ich sagen kann, was sehr viel sagt, hat Dauer und Bestand in viel größerem Maße als die anderen, nicht nur im metaphysischen Sinne, sondern sie bleibt auch im moralischen Sinne dieselbe und macht dieselbe Person aus.« (Leibniz, Discours de métaphysique, §34) 10 »Diese Anmerkungen […] erscheinen hier […] zu früh für mich, der ich seitdem weder die Zeit noch die Kräfte habe, sie gehörig auszuführen, und in diejenige Form zu bringen, in welcher der wichtige Theil derselben, welcher die Bestimmung des Menschen angeht, zum zweiten Theile des Phädon gebraucht werden sollte.« (JubA VI/1, 29)

V.1 »Der Mensch ist bloß ein unaufhörliches Zeitliches …«

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Was auch immer der »erste Theil« des Phädon vor 1764 umfasste; sicher ist, dass die endgültige Fassung nicht mehr vollständig mit den ersten Entwürfen zu dieser Arbeit übereinstimmt. So ist die Struktur der drei Dialoge in dieser Form kaum noch mit der Vorlage vergleichbar. Vielmehr ist, so übereinstimmend Altmann (1973, 145) und Strauss (JubA III/1, XV), die Aufteilung aus Leibniz’ Theodicée, § 89 und Wolffs Deutscher Metaphysik, §§ 926 ff. übernommen. Dementsprechend musste zuerst die bloße Unverweslichkeit gezeigt werden, also die »Fortdauer der Seelensubstanz«. In einem zweiten Schritt war darüber hinaus der Nachweis eines fortgängigen Bewusstseins (»des gegenwärtigen und vergangenen Zustands«) der Seele verlangt, um die tatsächliche Unsterblichkeit zu sichern. Nach diesem Beweis hatte auch Abbt in seinem Zweifel gefragt: »Gehört wohl zu meiner Existenz auf der Erde noch eine Fortdauer mit angeknüpftem Faden der Begebenheiten unter zurückerinnerndem Bewußtseyn«? (JubA VI/1, 15) Im Phädon erfüllen das erste und das zweite Gespräch die erstgenannte Aufgabe, während das dritte die tatsächliche Unsterblichkeit der Seele nachzuweisen versucht.11 Allerdings fällt es schwer, mit Altmann (1973, 156) zu glauben, dass Mendelssohn allein das erste Gespräch als »ersten Theil« bezeichnete und damit die Argumentation zumindest für ausreichend hielt, um sie als einen Beitrag für die Patriotische Gesellschaft an Iselin zu schicken. Dagegen spricht auch, dass er bereits in einem diesbezüglichen Schreiben vom 5. Juli 1763 (JubA XII/1, 15) davon spricht, dass diese »erste Hälfte des Plans«, die er hiermit an Iselin sende, die Beweise für die Unverweslichkeit vortrügen und dementsprechend auch das zweite Gespräch beinhalten müssten. Andererseits aber sind das zweite und dritte Gespräch durch die zu Anfang des zweiten Gesprächs formulierten Fragen, deren Beantwortung in beiden Gesprächen vollzogen wird, miteinander verzahnt – liefert das zweite Gespräch doch eine Antwort auf Simmias’, das dritte auf Cebes’ Einwürfe. Es ließe sich allenfalls annehmen, dass Mendelssohn das erste und zweite Gespräch in den Grundzügen bereits abgeschlossen hatte, als er es an Iselin schickte, und das zweite Gespräch dann auf Anregungen Abbts nach 1764 überarbeitete, um daran anschließend das dritte Gespräch zu entwerfen.12 Ein sicherer Hinweis auf Abbts Einfluss scheint zumindest der Beginn des zweiten Gesprächs zu sein. Dort erwähnt

11

So argumentiert Mendelssohn in einem Brief an Nicolai im Februar 1768 (JubA XII/1, 156; als Reaktion auf einen Beweis zur Unsterblichkeit von Schmettow, ebd. 153–56) entsprechend: »Zur Unsterblichkeit der menschlichen Seele gehört mehr als Unvergänglichkeit. Die Elemente der Körper können gar wohl unvergänglich, aber gewiß nicht unsterblich seyn. Unvergänglichkeit, Bewußtseyn des gegenwärtigen und Erinnerung des vergangenen Zustandes, diese Bestimmungen zusammengenommen, machen die wahre Unsterblichkeit aus.« 12 Zwar argumentiert Altmann 1973, 146 dafür, dass das gesamte zweite Gespräch nach 1764 geschrieben sei, doch ist dies aufgrund des engen Zusammenhangs des ersten und zweiten Gesprächs relativ unwahrscheinlich. Die Antwort auf Cebes (Abbt) erfolgt in Gänze erst im dritten Gespräch; Mendelssohn musste also, um diese Anregungen aufzunehmen, lediglich die Anfangs-

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Simmias in seiner Frage ausdrücklich die »Bestimmung des Menschen« und formt Einwände, die auf Abbts Zweifel hinweisen: »Meine Begriffe von der Gottheit, von der Tugend, von der Würde des Menschen, und von dem Verhältnisse, in welchem er mit Gott stehet, lassen mir keinen Zweifel mehr über seine Bestimmung.« (JubA III/1, 80) Denn zwar ergäben all diese »Wahrheiten« zusammen mit dem Unsterblichkeitspostulat ein harmonisches Ganzes, auf das der Mensch seine Hoffnungen vernunftgemäß bauen könnte. Simmias fordert von Sokrates aber, ganz wie Abbt von Mendelssohn, einsichtige und vernünftige Gründe, um diese Sicherheit auf mehr als eine Hoffnung bauen zu können. Wie auch immer die unterschiedlichen Überarbeitungsstadien des Phädon ausgesehen haben mögen – letztgültig zu beantworten wird diese Frage nicht sein, da es an Beweismaterial fehlt. Sicher ist auf jeden Fall, dass vor allem das dritte Gespräch von der Bestimmungsdebatte profitierte; es soll deshalb hier auch den Schwerpunkt der Analyse bilden. Dabei steht die Frage im Vordergrund, auf welche Weise Mendelssohn meint, mit ihm auf Abbts Zweifel eingegangen zu sein.

2. Der Beweisgang Die menschliche Bestimmung, seine Perfektibilität, macht Mendelssohn schon in der Bestimmungsdebatte von der individuellen Unsterblichkeit abhängig. Hier, im Phädon, benennt er drei Ebenen, auf denen die Vervollkommnung stattfindet und in denen sie letztlich ihren Sinn gewinnt, um nicht in eine leer laufende Akkumulation von »Seelenfertigkeiten« auszuwachsen. (a) Zum einen muss die Beschaffenheit des Menschen als ein offenes, vervollkommnungsfähiges Wesen spezifiziert werden. Welchen Platz nimmt er in »dem gesamten Reich der denkenden Wesen« (JubA III/1, 105) ein? Mendelssohn kommt dabei auf die Spaldingsche Bestimmung des Menschen in der »Kette der Wesen« und die eigenen Ausführungen in der Bestimmungsdebatte zurück, indem er die Offenheit des Menschen mit dem Vervollkommnungsgedanken zu vereinbaren sucht. (b) Zum anderen wird dieser Platz nicht allein durch sein Wissen, sondern auch sein Handeln bestimmt. Die wahre »Ausbildung« menschlicher Fähigkeiten umfasst damit zusätzlich eine praktische Ausrichtung, die letztlich das gesellige Wesen des Menschen (als ein »zoon politicon«) erweist.13 In diesem Sinne folgt Mendelssohn passage im zweiten Gespräch überarbeiten. Die Annahme einer bloß ergänzenden Überarbeitung des zweiten Dialogs hat darüber hinaus den Vorteil, die von Strauss vorgestellten Alternativen in sich zu vereinen (vgl. JubA III/1, XV f.). 13 So auch Mendelssohn im Brief an Herder vom 2. Mai 1769, JubA XII/1, 187.

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eindeutig den Anstößen Abbts, der in seinen Schriften zumindest auf der Notwendigkeit eines weltbezogenen Handlungskriteriums gedrungen hatte. Beide Dimensionen stellen darüber hinaus c) eine Engführung von menschlicher Determination und Destination dar: die wesenhafte Vervollkommnung und Geselligkeit weisen über sich selbst hinaus, auf eine ins »Unendliche« gerichtete Struktur, der durch die göttliche Vorsehung ein Sinn gegeben ist. Dieser letztgenannte Aspekt durchzieht wie ein roter Faden das dritte Gespräch und spiegelt wieder einmal den auch bei Spalding vorhandenen Gedanken wider, dass der Verweis auf eine Offenheit auch auf dessen Erfüllung hindeute. Im Phädon wird Mendelssohn die Bedingungen zu explizieren versuchen, unter denen eine solche Erfüllung tatsächlich als einlösbar betrachtet werden kann. Auf diesem Aspekt ruht auch der methodische Ausgangspunkt der Argumentation; er wird deshalb im Folgenden im Zusammenhang mit den beiden erstgenannten Punkten diskutiert. Wie bereits erwähnt, liefern das erste und zweite Gespräch größtenteils Beweise für die »Unverweslichkeit« der Seele; dieser Beweis lässt sich aus der antiken Überlieferung sowie Leibniz’ Metaphysik herleiten und ist nicht neu. Dabei dient das erste Gespräch als Obersatz: Zusammengesetztes ist vergänglich, Unzusammengesetztes unvergänglich,14 um dann im zweiten Gespräch (dem »Untersatz«) die Einheit der Seele zu erweisen und daraus zu folgern, dass die Seele qua Einheit unvergänglich ist.15 Erst mit dem dritten Gespräch kommt – mit der Ankündigung der Frage im 14

Wichtig hier das Prinzip der Kontinuität, das Mendelssohn von Leibniz (vgl. ders.: Über das Kontinuitätsprinzip, in: Hauptschriften I, 62–70) und auch Pater Roger Joseph Boscovich ableitet; vgl. den Anhang zur zweiten Auflage, JubA III/1, 135 (3. Aufl. 147 f.). 15 Vgl. Altmann 1973, 155. Mendelssohn selbst nennt im Anhang zur 2. Aufl. ebendalls Reimarus und Baumgarten als Vorbilder dieses Beweisschritts (vgl. JubA III/1, 139). Zu Mendelssohns Argumenten, die v. a. gegen den Materialismus gerichtet waren, siehe die fundierten Analysen von Leo Strauss (JubA III/1, v. a. XXVII ff. vgl. auch Altmann 1973, v. a. 154 f., Ders. 1982 und Cassirer 1929, 52 ff.). In ähnlicher Anlage (allerdings umgekehrter Reihenfolge) bringt Mendelssohn diesen Beweis auch in der Abhandlung von der Unkörperlichkeit der menschlichen Seele, JubA III/1, 161–88. Eine schöne Zusammenfassung bietet ein Bericht von Christoph Friedrich Rink (Hofund Stadtvikarius in Karlsruhe, der Mendelssohn bei einem Berlin-Besuch traf ) von 1783/84; JubA XXII, 238 f., hier 239: Rink fragt Mendelssohn nach einem Detail im Phädon, aus dem er nicht habe schlau werden können: »Mendelssohn nemlich beweißt die Immaterialität der Seele daraus, weil die Seele nicht[wahrscheinlich zu streichen] denke, aber aus der Zusammensetzung nicht denkender Weesen entstehen könne. Ich wendete ihm ein, welches er auch berührte, nur mir nicht deutlich genug, aus unharmonischen Steinen entstehe ein harmonisches Ganzes, aus einzelnen Tönen eine vollkommene Musik. Warum nicht aus Nichtdenkenden Wesen ein denkendes? Allein, sagt mir Mendelssohn, worinn besteht das Ebenmaß eines Hauses – die Harmonie der Musik? In einzelnen Teilen? oder im Ganzen? in der Verbindung der Teile? Ich wählte das lezte. Nun frägt er: existirt dann das Ganze? existirt die Verbindung der Teile für sich? Ich sagte, nein! es existirt nur in der Vorstellung meiner Seele. Also, sagte er, sezt iede Harmonie, iede Verbindung schon ein denkendes Wesen zum Voraus, die sie beobachtet. Sollte diß Gott seyn, daß wir nur Vorstellungen in seinem Verstande wären, so hätten wir kein Bewußtsein unserer selbst. Nun war es mir deutlich.«

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zweiten Gespräch – die Thematik der Bestimmungsdebatte ins Spiel. Man darf also davon ausgehen, dass für Mendelssohn die menschliche Bestimmung zumindest auf den metaphysischen Argumenten für die Unverweslichkeit der menschlichen Seele aufruht, sich aber keinesfalls in ihnen erschöpft. Er muss zeigen, wie und zu welchem Ende in dieser Seele die Fähigkeit der Perfektibilität angelegt sei. Cebes hatte seine dahingehenden Zweifel im zweiten Gespräch (JubA III/1, 83 f.) so formuliert: Welcher Art ist die Unsterblichkeit der Seele? Ist dies ohne den Körper nicht ein bloßes Dahinvegetieren in dunklen Begriffen? Zur Beantwortung dieser Frage greift Mendelssohns Sokrates zu Beginn des dritten Gesprächs zuerst einen der Sache nach abgelegen erscheinenden Aspekt auf: die Güte Gottes.16 Denn Zweifel an der göttlichen Vorsehung, bspw. mit der Annahme einer zwar unsterblichen, aber letztlich dahinvegetierenden Seele würden den Eindruck eines im schlechten Sinne des Wortes eifersüchtigen Gottes erwecken, der rachsüchtig die fehlenden und schwachen Menschen verfolgt, sie streng bestraft und ihr irdisches Übel billigend in Kauf nimmt – demgegenüber sei es jedoch die Güte Gottes, die aus der vernünftigen Ordnung und Verknüpfung der Dinge spreche. Sei es nicht auch hinsichtlich der praktischen menschlichen Fragen angebracht, von dieser Güte auszugehen? Mit diesem Hinweis begibt sich Mendelssohn in die schwierige Lage, bereits vor der Analyse der epistemologischen (a) wie praktischen (b) Ebene das Beweisziel, die Güte Gottes, als Argumentationsgrundlage zu verwenden und sich damit der Gefahr einer petitio principii auszusetzen. Hinzu kommt, dass er hier zumindest Abbts Fragestellung, die dieser mit seiner Parabel im Zweifel formulierte, unterläuft. In der Parabel hatte Abbt nämlich weder einen gütigen noch rachsüchtigen Gott ins Spiel gebracht, sondern vielmehr als Problem die Unerkennbarkeit göttlicher Vorsehung gerade wegen der offensichtlich fehlenden durchgehenden Ordnung und Harmonie der sichtbaren Welt thematisiert. Mendelssohns Sokrates scheint hier von einer unvollständigen Disjunktion auszugehen: dem gütigen Gott steht nicht nur das Konzept eines rachsüchtigen, sondern vielleicht auch dasjenige des nichtexistenten – oder per se unerklärbaren – Gottes gegenüber. Mendelssohn wird zeigen müssen, inwiefern seine Disjunktion dennoch alle denkbaren Fälle abdeckt. Dies wird er auf zwei Wegen unternehmen: zum einen versucht er zu beweisen, dass ohne die Annahme eines Gottes, oder etwas neutraler formuliert: eines teleologischen Musters, menschlichenmögliche Rationalitätsformen wie insbesondere der SvG undenkbar sind. Zum anderen will er zeigen, dass selbst

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Er bringt damit deutlich schon von Anfang an die Problematik der Geltung des Satzes vom zureichenden Grund in die Debatte ein. Vgl. dazu Leibniz, Theodicée, Vorrede 7 f. Die Güte Gottes ist ein besseres Argument als seine »unwiderstehliche Macht«, denn erstere umfasse eindeutiger den Aspekt der »vollkommenen Weisheit«, den Zusammenhang der Welt durch Prinzipien, nicht durch Machtsprüche.

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die Bescheidung auf eine innerweltliche Moral ohne einen vorangehenden Gottesbegriff unmöglich ist. Beide Beweisschritte hängen mit den vorher genannten Ebenen a) und b) zusammen. Die menschliche Perfektibilität wird als die grundlegende Form der Vollkommenheit dargestellt, der das Phänomen der Unvollkommenheiten in der Welt lediglich zum Anstoß der Entwicklung dient. Das teleologische Muster ist also eine Art menschlicher Welterfassung und -wahrnehmung. Zugleich wird der monadische Charakter der Seele mit einem Begriff der Praxis enggeführt, der die Ausrichtung des Einzelnen auf den Anderen verlangt, um damit letztlich die Vollkommenheit in der Dynamik des leibnizianischen Weltmodells zu beweisen.

(a) Das Wesen des Menschen bestehe in seiner Vervollkommnungsfähigkeit Mit der Wendung zur Güte Gottes greift Mendelssohns Sokrates indirekt auf den Schluss des zweiten Gesprächs zurück. Dort (JubA III/1, 99 ff.) hatte er diesen Punkt in Form einer Vertiefung von Simmias’ Frage bereits angesprochen, indem er das Primat des denkenden Wesens vor den gedachten Gegenständen bewies. Die Realität äußerer, insbesondere komplexer Dinge sei nur gewiss, da sie auf der Selbstgewissheit des Denkenden aufruhe: »Das Begreifende gehet allezeit vor dem bloß Begreiflichen her. […] Ohne Beziehung auf das Einfache, auf denkende Wesen, […] kann dem Zusammengesetzten weder Schönheit, Ordnung, Uebereinstimmung, noch Vollkommenheit zugeschrieben, ja sie können ohne diese Beziehung, nicht einmal zusammengenommen werden, um Ganze auszumachen. […] das Leblose dient dem Lebendigen zu Werkzeugen der Empfindungen, und gewähret ihm nicht nur sinnliches Gefühl von mannigfaltigen Dingen[17], sondern auch Begriffe von Schönheit, Ordnung, Ebenmaß, Mittel, Endzweck, Vollkommenheit, oder wenigstens den Stoff zu allen diesen Begriffen, die sich das denkende Wesen hernach[18], vermöge seiner innern Thätigkeit, selbst bildet.« (JubA III/1, 100 und 107) Das Zusammennehmen des Mannigfaltigen ist Wirkung des »Denkungsvermögens«. Oder, anders formuliert: durch die Wahrnehmung und Zusammenfügung in der Seele wird aus den Gegebenheiten der Welt erst Harmonie und Vollkommenheit. Ihre Realität haben diese Qualitäten nicht in den Dingen, sondern in den »begreifenden« Wesen. Der Wechsel in der Qualität dieser Erscheinungen sei deshalb nicht in Hinblick auf diese Erscheinungen selbst, sondern unter Bezugnahme auf ihren Einheitspunkt in der

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Die es zur Vollkommenheit ebenfalls braucht, vgl. Simmias’ Position im zweiten Gespräch, JubA III/1, 90. 18 Diese Formulierung ist irreführend. Gemeint ist, in Anlehnung an die vorausgegangene Argumentation, dass das Wesen die Begriffe auf Anregung der Sinne ausbildet; sie gehen der Sache nach den Erfahrungen allerdings voraus.

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menschlichen Erkenntnis zu erklären. Wenn sich nur am erkennenden Wesen die Vollkommenheit tatsächlich realisiert, ist es auch legitim, sich die Vollkommenheit als auf es abgezweckt vorzustellen: »Ist nun das Zusammengesetzte an sich selbst keines Fortdauerns fähig [siehe auch 2. Gespräch]: wie viel weniger wird es ihre Vollkommenheit seyn, die ihnen, wie wir gesehen, niemals an und für sich selbst, sondern nur in Beziehung auf das Empfindende und Denkende in der Schöpfung zugeschrieben werden kann? Dahero sehen wir in der leblosen Schöpfung das Schöne verwelken und aufblühen, das Vollkommene verderben und in einer andern Gestalt wieder zum Vorscheine kommen, scheinbare Unordnung und Regelmäßigkeit, Harmonie und Mißstimmung, Angenehmes und Widriges, Gutes und Böses in unendlicher Mannigfaltigkeit mit einander abwechseln, so wie es Gebrauch, Nutzen, Bequemlichkeit, Lust und Glückseligkeit der lebendigen Dinge erfordert, um deren Willen jene hervorgebracht worden.« (JubA III/1, 108) Nun ist hier zu bedenken, dass die Vorstellung der Menschen als Endzweck der Schöpfung immer noch etwas zu hoch gegriffen sein mag. Denn es ist zwar gezeigt worden, dass das Begreifende einen höheren Stellenwert hat als das Begriffene. Aber damit ist nicht erwiesen, dass der Mensch das einzige Wesen sei, welches begreifen könne, ebenso wenig, dass damit die umfassende Vollkommenheit der Welt – für den Menschen – bewiesen ist. Es ist also immer noch möglich, dass einiges in der Welt dem Menschen unzugänglich bleibt, weil es als für andere Wesen geschaffen vorstellbar ist. Diesen Gedanken hatte Mendelssohn im Orakel angedacht; im Phädon taucht er nicht mehr auf. Vielmehr stellt sich in Mendelssohns abstrakter Betrachtung die phänomenale Veränderlichkeit – und zugleich auch zumindest phänomenale temporäre Unvollkommenheit – der Welt als eine conditio sine qua non für die menschliche Vervollkommnung dar.19 Damit ist das, was Abbt im Zweifel Stein des Anstoßes war, zu einer notwendigen Bedingung menschlichen Lebens, gar menschenmöglicher Glückseligkeit geworden und die im Orakel bloß angesprochene Entwicklungsbedürftigkeit stärker hervorgehoben. Die sichtbare Unvollkommenheit wird damit zum bloßen Phänomen mit rein instrumentellen Wert herabgestuft. Die Notwendigkeit des »Widerstands« hat Mendelssohn auch in seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen betont (s. Kap. IV.2, 408). Der Mensch ist erschaffen zur Ausführung und damit Erfüllung der Vollkommenheit in der Zeit. Wie das Tier, das zwar nicht denken, aber sinnlich empfinden und genießen kann, ist er damit auch ein Zweck in sich selbst (vgl. JubA III/1, 108 f.), der – im Gegensatz zum Tier – sich selbst und die Welt vernünftig er- und begreifen kann. Da ohne diese Formgebung durch den Geist keine Ordnung entstünde, dürfe der Mensch die Welt als auf sich ausgerichtet verstehen. 19

So später im Aufklärungsaufsatz: ist alles erreicht, so bleibt nur »der leidige Genuß ohne Erwerb« (JubA VI/1, 145). Vgl. auch Leibniz, Theodicée, Vorrede 30.

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Ausgangspunkt ist die »Natur« des Menschen, wie sie sich auf der Erde darstellt. Der Mensch ist – dies postulierte schon das Orakel – ein Mängelwesen: »Er bringet auf diesen Schauplatz weder Fertigkeit, noch Naturtrieb, noch angebornes Geschick, weder Wehr noch Schutz mit, und erscheinet bey seinem ersten Auftritte dürftiger und hülfloser, als das unvernünftige Thier.« (JubA III/1, 111) Ihn zeichnet sein Potential, das »Streben, sich vollkommener zu machen« aus, was er als Anlage – nicht als Produkt – in sich trägt. Dieses Potential umfasst nicht nur das Individuum allein und ist also nur bedingt selbstbezogen, sondern auch mit einer Neigung zur Geselligkeit verbunden (vgl. JubA III/1, 112). Letztlich stellen Selbstvervollkommnung und Gemeinschaft mit anderen Menschen, so Mendelssohn in Anlehnung an Spaldings Argumentation (und in Ablehnung Rousseaus, siehe Kap. II.1), Stufenfolgen dar. Aus der Gemeinschaft mit anderen Menschen heraus entwickelt der Mensch ein Wissen von seiner »Gemeinschaft mit dem Schöpfer«. Eine vollkommene Ausbildung und Nutzung seiner intellektuellen Ressourcen, die Erkenntnis der Welt biete letztlich Gotteserkenntnis, indem alles als zweckmäßig und zielgerichtet erkannt wird. Dies ist die Bekräftigung von Mendelssohns Position in der Bestimmungsdebatte: »Wollt ihr seine [des Menschen] Bestimmung hienieden wissen: so sehet nur, was er hienieden verrichtet.« (JubA III/1, 111) Die Zeichenhaftigkeit der Welt, die Mendelssohn 1764 postulierte, tritt damit im Phädon verstärkt hervor. Letztlich jedoch, und dies ist auch deswegen wichtig, um Mendelssohns Position als streng von derjenigen Kants unterschieden zu begreifen, ist es erst die Sicherheit der Gotteserkenntnis, die den Menschen auch der Verlässlichkeit seiner Fähigkeit, Vollkommenheit in der Welt zu erkennen, versichert und die »Lesbarkeit der Welt« (vgl. Kap. I.2, 113, FN 163) als ein tatsächliches Wissen qualifiziert. Ein Mangel an Instinkten wird durch das menschliche Bestreben, bzw. seine Lernfähigkeit und -bereitschaft ausgeglichen. Sobald er seine Sinne öffnet, arbeite »die gesamte Natur« an seiner Vervollkommnung (ebd.); abgerundet wird diese Bildung jedoch erst mit dem Eintritt in den geselligen Zustand, also unter anderen Menschen (siehe b), und durch die darauf aufbauende Erkenntnis Gottes. Noch einmal übernimmt Mendelssohn also Spaldings Argumentationsaufbau. Die skizzierte Abfolge sei der Weg der Vernunft. Dies bedeutet auch, dass diese Stufenfolge keine Beschreibung der Natur, sondern eine Rekonstruktion idealtypischer Entwicklungslinien ist.20 Empirisch betrachtet, gehe die menschliche Selbstvergewisserung zumeist einen anderen Weg. Die sinnlichen Eindrücke drängten sich ihm so ausschließlich auf, dass er sie als vorgängig, und das geistige Wesen (das Begreifen) als etwas sekundäres wahrnehme. Dieser Erkenntnisgang läuft freilich zu-

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Vgl. dazu die Notizen zur Sprachphilosophie, JubA VI/1, 22: »Die Ordnung der Natur ist nicht die Ordnung unserer Methode im Denken.«, vgl. Kap. IV.1, 369.

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meist auf einen Materialismus21 hinaus, v. a. deshalb, weil sich von den Körpern – als zusammengesetzten, in Bewegung befindlichen Entitäten – ausgehend kaum auf einen Geist schließen lasse und also die körperliche Welt als die einzig erkennbare und damit einzig mögliche ausgewiesen zu sein scheint. Wer den Weg der Untersuchung derart beginne, sei zumeist auf bloße »Meynungen« (JubA III/1, 101), eben empirische Untersuchungen und bloße Wahrnehmungen angewiesen. Er müsse aber seinen Beweis vielmehr auf »Vernunft und Nachdenken« (ebd.) stützen: ausgehend von Überlegungen über die »erschaffenen Wesen«, die selbst begreifen, aber auch von anderen, gleichartigen Wesen begriffen werden können, führe dieser Weg »zu jener Urquelle des Denkenden und Gedenkbaren, zu jenem alles begreifenden, aber allen unbegreiflichen Wesen, von dem wir, zu unserm Troste, so viel wissen, daß alles, was in der Körperwelt und in der Geisterwelt gut, schön und vollkommen ist, von ihm seine Wirklichkeit hat, und durch seine Allmacht erhalten wird. Mehr braucht es nicht zu unserer Beruhigung, zu unserer Glückseligkeit in diesem und in jenem Leben, als von dieser Wahrheit überzeugt, gerührt, und in dem Innersten unsers Herzens ganz durchdrungen zu seyn.« (JubA III/1, 101) Mit diesem Passus, der in seinem hymnischen Charakter stark an Shaftesbury erinnert, beendet Mendelssohns Sokrates das zweite Gespräch. Dabei scheint der interne Widerspruch, dass ein unerkennbares Wesen dennoch in den grundlegendsten Zügen als erkennbar und bereits erkannt dargestellt wird, wenig zu stören. Dies liegt m. E. auch daran, da hier keine durch Offenbarung erlangte Erkenntnis Gottes gemeint ist, sondern Mendelssohn vielmehr auf eine Vernunftidee Gottes anspielt, die allein über die Gültigkeit der Prinzipien des Denkens erkannt werden könne. Dies wird im dritten Gespräch expliziert. Auf der Grundlage der Vorgängigkeit von Vernunft vor Erfahrung ist der Ausgangspunkt der Argumentation, den Sokrates in der »Güte Gottes« wählt, folgerichtig: es darf nicht – wie dies Abbt in seinem Zweifel getan hatte – von einer Analyse irdischer Mängel ausgegangen werden. Vielmehr ist zu zeigen, dass sich eine kohärente und überzeugende Erklärung des menschlichen Wesens nur über den umgekehrten Weg erreichen lässt.22 Dabei geht Mendelssohns Sokrates auf beide Aspekte menschlicher Bestimmung, seine Determination und seine Destination, ein – immer aber unter der Prämisse, sie innerhalb eines harmonischen und vernünftigen Systems zu erklären, dem die Güte Gottes entsprechen soll. Die angebrachten Zweifel hingegen 21

Gegen den »Materialismus« ist das zweite Gespräch gerichtet. Allerdings erlaubt der kosmologische Gottesbeweis, den Ausgangspunkt bei den zufälligen Wesen zu setzten. Wie Altmann 1982, 140 betont, sind die zufälligen Wesen hier jedoch in Absehung jeglicher Einstufung bzgl. anderer möglicher Attribute zu denken. Der Beweis ginge also nur von logischen Parametern aus (Existenz – Nichtexistenz, Zufällig – Notwendig), mehr ist nicht enthalten. An diesen Beweis schließt Mendelssohns ›Beweis‹ der Möglichkeit einer Moral an, siehe Abschnitt (b). 22

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stützten sich auf kontingente historische Ereignisse und könnten auf diese Weise in ihrer Haltlosigkeit gezeigt werden. In diesem Sinne kann man das dritte Gespräch auch als eine Art trostvolle Polemik gegen Abbts Vorgehen im Zweifel charakterisieren. Sokrates’ Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Erkenntnissphären weist wiederum auf das Bedingungsverhältnis zwischen Destination und Determination hin. Auf der einen Seite stehen die natürlichen, notwendigen und von der Erkenntnis Gottes abhängigen Begebenheiten, auf der anderen Seite die zufälligen, die auf dem göttlichen Für-Gut-Befinden beruhten. Die Tatsache des Zufälligen weist über sich selbst hinaus auf einen zureichenden Grund, der nur in einem notwendigen Wesen liegen kann: in Gott. Diesen Gottesbeweis zeichnete Mendelssohn in seiner Preisschrift Ueber die Evidenz nach und legte ihm in den Morgenstunden noch ein leicht verschobenes Fundament, das an das Vorgehen im Phädon erinnert. »In Morning Hours he laid particular stress on a certain aspect of Leibniz’ doctrine which Wolff does not seem to have utilized in his presentation of the proof. I am referring to Leibniz’ view that contingent truths depend on the principle of fitness or choice of the best in contrast to eternal truths which follow from God’s understanding.« (Altmann 1982, 142) Dasselbe gilt auch für die einschlägigen Paragraphen in der Sache Gottes (entstanden um 1784/85, vgl. JubA III/2, 225–31, §§ 19–43). Diese Unterscheidung nun spielt auch im dritten Gespräch eine entscheidende Rolle. Auf der einen Seite lässt sich die Stellung des Menschen im Weltganzen aus der vollkommenen Harmonie der ewigen (Vernunft-)Wahrheiten ableiten. Dieser Teil in der Untersuchung menschlicher Determination ist der statischen Interpretation der Leibnizschen Monadenlehre verpflichtet: Alle zufälligen Dinge sind eingebunden in den Kosmos, aber nicht von dessen logischen Zusammenhang abhängig, sondern vielmehr von Gottes Wahl und Gutfinden – und entsprechen damit nicht allein dem SvW, sondern dem SvG.23 Kriterium hier ist nicht Vorangegangenes, was das Folgende kausal determiniert, sondern vielmehr eine Begründung, ein zureichender Grund für das Handeln oder eine Entwicklung im Wesen Gottes als einer vollkommenen Harmonie. In weniger spekulativem Vokabular: es muss ein vernünftiger Grund aufgefunden werden, warum ausgerechnet diese Entwicklung die Beste ist und unter Zuhilfenahme welches Endpunktes sie es sein kann. Die so verstandene Vervollkommnung des Menschen ist von seinem Wesen aus betrachtet ein nahezu ›automatisch‹ ablaufender Vorgang, wie Mendelssohns Sokrates in Anlehnung an das Orakel postuliert, indem er die unvermeidliche Vervollkommnung menschlicher Fähigkeiten durch sinnliche Affizierung beschreibt (vgl. dazu Kap. I.2, bspw. 101–4). Auf der anderen Seite, konzentriert in der Lehre von der menschlichen Glückseligkeit, wird die Betrachtung des Menschen als entwicklungsbedürftiges Wesen und, 23

Altmann verweist auf die Monadologie, §§ 46, 53–55 und Theodicée, Buch I, § 7.

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hinsichtlich seiner Destination, als eine sich vervollkommnende und vollkommenheitsfähige Seele auf die dynamische Interpretation der Monadenlehre bezogen.24 Vervollkommnung erscheint so als Aufgabe, die weder von den umgebenden notwendigen Wahrheiten abhängt, noch aus ihnen abgeleitet werden kann. Dies macht einen Rückgriff auf die praktischen Hinsichten und Absichten Gottes notwendig; sie ist aber auch zugleich gezwungen, die zufälligen Begebenheiten durch eine Hypothese zu erklären: dem von ihm selbst erkannten teleologischen Muster kann sich der Mensch als Mensch nie allzu sicher sein. Aus der im Vorangehenden betonten Sicherheit der Ausrichtung der Welt auf den Menschen ist hier – unter der Hand – wiederum eine Hoffnung geworden. Um die Dynamik dieses teleologischen Musters zu erhalten, muss das Streben nach Vollkommenheit als ein Vorgang beschreibbar sein, der durch eine Zunahme an Vollkommenheit definiert ist, aber zugleich die Stufen dorthin auf der phänomenalen Ebene als ›Noch-Unvollkommen‹ charakterisiert. Zum einen kann die Charakterisierung der Bestimmung des Menschen also mit Rücksicht auf den Kosmos als ein Aspekt eines universellen Phänomens, der Vollkommenheit der Welt, vorgenommen werden; aus einer anderen Perspektive jedoch gerät die menschliche Glückseligkeit als dynamischer Aspekt in den Blick. Auch diese dynamische Sicht soll als eingebunden in das Vollkommenheitspostulat verstanden werden, indem die Vervollkommnung als phänomenale Seite der Vollkommenheit reformuliert wird. Indem menschliche Determination und Destination letztlich in je unterschiedlicher Ausprägung von einem derart umfassenden Gottesbegriff abhängig gemacht werden, gerät leicht die Abbtsche Perspektive aus dem Blick. Letztlich, das sollte schon Kapitel I.2 zeigen, führt diese Lesart ›vom Ende her‹, also von einer bereits zu unterstellenden erreichbaren Vollkommenheit, die in der Vervollkommnung selbst bereits angelegt und aus ihr herauszulesen ist, mit sich, dass die subjektive Dimension der Bestimmungsfrage – inwiefern sich der Einzelne zur Glückseligkeit bestimmen kann – zunehmend von der objektiven Dimension, der Einpassung des Einzelnen in ein vollkommen organisiertes Ganzes, verdrängt bzw. von ihr überformt wird. Eine Theodizee ist nur unter der objektiven Perspektive möglich, nicht jedoch in Rücksicht auf den je Einzelnen,25 solange nicht dessen Unsterblichkeit berücksichtigt wird. Aus diesem Blickwinkel erklärt sich auch der methodische Ansatz im dritten Gespräch: In einem ersten Gang wird von den individuellen Bestimmungen einzelner

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Die Voraussetzung ist, »daß nämlich der individuelle Begriff jeder Person ein für alle Male alles in sich schließt, was ihr jemals begegnen wird« (Leibniz an Arnauld, Hauptschriften II, 389) 25 So auch Leibniz, Theodicée, bspw. in der Nachschrift Über den Ursprung des Übels, 446 f.: Der individuelle Schmerz ist Gott im wahrsten Sinne des Wortes gleich-gültig, er hat also denselben Wert wie die individuelle Glückseligkeit, solange dies im System des Besten eingepasst ist.

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Wesen abgesehen und das Argument über die grundsätzliche Einrichtung der Welt geführt. Alle denkenden und empfindenden Wesen seien nur graduell unterschieden; also muss auch allen dasselbe Schicksal nach dem Tod beschieden sein (vgl. JubA III/1, 104 f.). Alle angeborenen Fähigkeiten werden durch Übung entwickelt und vervollkommnet, vom einen mehr, vom anderen weniger (105 f.). Diese Erklärung hatte Mendelssohn auch im Orakel gegeben; er ist offensichtlich nicht abgekommen von der unbewusst ablaufenden Erfüllung des menschlichen telos’: »Wir erwerben alle dieselben Vollkommenheiten, und der Unterschied bestehet nur in dem mehr oder weniger; wir erwerben sie alle, sage ich, meine Freunde!« Er schließt unmittelbar daran einen weiteren Beweisschritt an: »[…] denn auch dem Gottlosesten ist es nie gelungen, seiner Bestimmung schnurstracks zuwider zu handeln. Er streube, er widersetze sich mit der größten Hartnäckigkeit: so wird sein Widerstreben selbst einen angebornen Trieb zum Grunde haben, der ursprünglich gut, und bloß durch unrechte Anwendung verdorben seyn wird. Diese fehlerhafte Anwendung macht den Menschen unvollkommen und elend; allein die Ausübung des ursprünglich guten Triebes befördert gleichwohl, wider seinen Dank und Willen, den Endzweck seines Daseyns.« (JubA III/1, 106, 113) Mendelssohn hat mit dieser Argumentation seine Position des Orakels radikalisiert – denn nun versucht er zu beweisen, dass letztlich historische, gesellschaftliche, soziale oder psychologische Beobachtungen nur einen eingeschränkten Beitrag zur Erkenntnis der menschlichen Bestimmung leisten können. Was auch immer sie zeigen, sie sind zur Widerlegung eines rationalen Systems ungeeignet.26 Jegliche Empirie wird mit dem Einwand beiseite gewischt, dass selbst die Pervertierung des Triebes, selbst dessen unvollkommene Ausübung doch zur Vervollkommnung beitrüge, mehr noch, dass eine solche Unvollkommenheit als Ansporn weiterer Entwicklung notwendig sei. Weltliche, physische Übel sind damit ebenso wenig Indikatoren für Gottes Abwesenheit oder die Zwecklosigkeit irdischer Existenz wie moralische Übel, sondern sie müssen als in das vernünftige System integrierbar gedacht werden. Damit ist Mendelssohns Interpretation menschlicher Bestimmung, zumindest seiner Auffassung nach, nicht mehr empirisch, sondern nur ebenfalls rational angreifbar. Er greift damit indirekt auf zwei Aspekte des Orakels zurück. Zum einen hat er dort (mit Abbt) darauf hingewiesen, dass die menschliche Einsichtsfähigkeit bisweilen nicht ausreiche, um zu erkennen, ob ein bestimmtes Ereignis tatsächlich ein Übel sei – vieles würde aus einer umfassenderen Perspektive lediglich als schlecht »scheinen«, wo es doch an sich »gut« sei (vgl. Kap. I.2, 90). Letztlich diente dieser Aspekt auch für Abbt als Warnung, die eigene Sichtweise nicht als die einzig 26

Diesen Weg schlägt Mendelssohn wiederum in Tradition von Leibniz’ Theodicée ein. »Leibniz’ Auffassung zufolge können empirisch-aposteriorische Argumente niemals zu Instanzen avancieren, die sich gleichwertig unserer apriorischen Kenntnis Gottes und seiner Attribute entgegensetzen können.« (Lorenz 1997, 95)

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mögliche zu hypostasieren. Der zweite Aspekt der Selbstbescheidung bezog sich parallel dazu auf die menschliche Einsichtsmöglichkeit in die spezifischen Zwecke, die Gott mit einem einzelnen Lebewesen verfolgen könnte. Es sei wenig vernünftig, den Zweck einer Fliege als ihr Gefressenwerden zu definieren, wenn wir doch über die Konstatierung, dass ihr bloßes Leben ihr einzig erkennbarer und sinnvoller Zweck sei, nicht hinauskämen. Die Beschränkung auf die allgemeine Zwecksetzung Gottes unter Absehung der individuellen Zwecke, die niemand mit begrenztem Erkenntnisvermögen feststellen könne, führt auf die erstgenannte Selbstbescheidung zurück. Wann immer der Mensch seine eigene, begrenzte Perspektive als die einzig mögliche verabsolutiert, gerät er in Gefahr alles als sinnlos zu empfinden, weil er es gar nicht in allen seinen Aspekten erfassen kann. Hätte Abbt diesem Punkt noch zugestimmt, so hätte er sich zweifellos gegen Mendelssohns weitere Folgerung daraus gewehrt: Wenn der Mensch sich dahingegen nicht auf den Augenschein, sondern die vernünftige Überlegung verlässt, käme er nicht umhin, die objektiv vollkommene Einrichtung der Welt zu erkennen. Grundlegend gilt also für Mendelssohn das aus dem Theorem der Vorsehung Gottes abgeleitete Postulat der Unvermeidbarkeit von Vervollkommnung. Davon unberührt ist allerdings, dass diese in unterschiedlichen Graden stattfindet. Die phänomenale Ebene ist gegenüber der ›noumenalen‹ Basis durchaus durch Unvollkommenheiten und Brüche geprägt. Mendelssohn versteigt sich ausdrücklich nicht zu der Behauptung, ein Tyrann vervollkommne seine Seelenfertigkeiten in demselben Maße wie ein Heiliger. Er versucht lediglich zu begründen, dass dieser sich, wenngleich unfreiwillig, um einen gewissen Grad durch die Ausbildung seiner Fähigkeiten vervollkommne – so korrekturbedürftig diese auch seien. »So lange sie [die Menschen] mit Selbstgefühl empfinden, denken, wollen, begehren, verabscheuen, so bilden sie die ihnen anerschaffenen Fähigkeiten immer mehr aus; je länger sie geschäftig sind, desto wirksamer werden ihre Kräfte, desto fertiger, schneller, unaufhaltsamer werden ihre Wirkungen, desto fähiger werden sie, in der Beschauung des wahren Schönen und Vollkommenen ihre Seligkeit zu finden.« (JubA III/1, 106) Von einer parallel zur Perfektibilität gegebenen Möglichkeit der Korruptibilität27 ist hier nicht die Rede. Vielmehr führt Mendelssohn das Argument noch weiter: All diese erworbenen Vollkommenheiten können nicht mit dem Tode wieder zunichte gemacht werden, denn dies machte die begonnene Ausbildung sinnlos. Diesen Aspekt hervorzuheben dient eine zentrale Passage des dritten Gesprächs: Sokrates’ hymnische Rede auf die Vorsehung. Es ist auffällig, und ich deutete eingangs darauf hin, dass Mendelssohn an diesem neuralgischen Punkt der Beweisführung weitaus mehr die rhetorischen Mittel der Überredung nutzt, als dass er ein tatsächlich valides Argument anführte. 27

Diese stände Mendelssohns Perspektive auf notwendige Vervollkommnung auch empflindlich entgegen; siehe Kap. I.1, Abschnitt 2 b), S. 66, FN 86.

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Er lässt Sokrates vielmehr die Stufenfolge weltlicher Vollkommenheit nachzeichnen: Vom unbelebten Stein über das Tierreich und die einzelne Seele führt er diese in lichtere Höhen der menschlichen Gemeinschaft letztlich zur Erkenntnis Gottes – um diesen harmonischen Stufengang, der darüber hinaus in allen Stufen durch ein harmonisches Verhältnis zwischen Bedürfnissen und deren Erfüllung gekennzeichnet ist, dann abrupt – und affektheischend – abzubrechen (JubA III/1, 114): Und all das, was der Mensch auf Erden erworben hat, soll ganz umsonst sein, wenn es nach dem Tod einfach ins Nichts zurück fällt? Deuteten seine Fähigkeiten nicht – im Gegensatz zum Tier – auf unendliche Vervollkommnung hin? Wieso sollte diese Kapazität ausgerechnet beim Menschen unerfüllt bleiben, wo es doch dagegen jedes Tier zu seiner Vollkommenheit bringen dürfte?28 Es sei, so Mendelssohns Sokrates, sehr viel einsichtiger, den Menschen als »Nachahmer der Gottheit«29 zu charakterisieren. Mendelssohn kommt hier noch einmal auf die menschliche Konstitution zurück und betont den wichtigsten Aspekt: »Das Ziel dieses Bestrebens bestehet, wie das Wesen der Zeit, in der Fortschreitung. Durch die Nachahmung Gottes kann man sich allmählig seinen Vollkommenheiten nähern, und in dieser Näherung bestehet die Glückseligkeit der Geister; aber der Weg zu denselben ist unendlich, kann in Ewigkeit nicht ganz zurück geleget werden. Daher kennet das Fortstreben in dem menschlichen Leben keine Grenzen.« (JubA III/1, 113, Hervorhebung A.P.) Ebenso würde man dieses doch so vernünftige wie harmonische Denkgebäude zerstören, wenn man die ewige Glückseligkeit überhaupt nicht in Betracht ziehen wollte. In ähnlicher Weise hat er später im Jerusalem (1783) argumentiert (vgl. Kap. IV, v. a. 437 f.). Zielt dieser jedoch stärker auf die rechtlichen und auch moralischen Grenzen und Forderungen der irdischen »Wohlfahrt«, so legt er im Phädon den Schwerpunkt auf die jenseitige Dimension, auf die Vollendung menschlicher ›Offenheit‹ in einem alles abschließenden Jenseits. Der letzte Schritt des Beweises basiert allerdings, wie Sokrates’ Hymnus zeigt, eher auf einem Gefühl denn auf einem Grund. Das menschliche Streben zeige, um letztlich überhaupt als sinnvoll angesehen werden zu können, die Notwendigkeit seiner zeitlichen und unendlich dauernden Erfüllung. Letztlich ist auch der frühe Kindstod nur ein Beweis dafür, dass es nach dem Tode eine fortgesetzte Vervollkommnung geben muss, um nicht in Verzweiflung über weltliche Ungerechtigkeit zu geraten. Beides, Sinn- und Zwecklosigkeit sind jedoch Zustände, die von einer 28

Zumindest in folgender Hinsicht ist Mendelssohns Stufenfolgenargument recht stringent, da er den Tieren die virtuelle Möglichkeit, irgendwann einmal ebenfalls zu einer ähnlichen Vervollkommnung zu gelangen wie der Mensch, nicht abspricht (vgl. JubA III/1 110); wie auch die Menschen sich einmal zu den höheren Geistern aufschwingen könnten (ebd., 113; vgl. hier Kap. IV.1, FN 49). 29 Vgl. Leibniz an Arnauld, Hauptschriften II, 405 (in Bezug auf den Körper!) »[…] die vernunftbegabte Seele aber ist erst zur Zeit der Bildung ihres Körpers geschaffen, da sie von allen andren Seelen, die wir kennen, dadurch gänzlich verschieden ist, daß sie der Selbstbesinnung fähig ist und im Kleinen das göttliche Wesen nachahmt.«

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rationalen Weltsicht nicht zu akzeptieren, und mit ihr auch nicht zu verteidigen sind. Auf ihrer Verneinung – oder besser, auf ihrer argumentativ geführten Abwehr – ruht letztlich die gesamte menschliche Rationalität auf. Ohne sie könnte der Mensch nicht davon ausgehen, durch seine Vernunft Einsichten in die Vorsehung Gottes zu haben, und seien diese Einsichten auch nur rudimentär. Die Wahl ist also scheinbar klar: auf der einen Seite steht Vernunft, Vervollkommnung und Unsterblichkeit, auf der anderen Irrationalität, Statik und Sinnlosigkeit. Mendelssohn fügt dieser Gegenüberstellung ein weiteres Gegensatzpaar hinzu: mit Bezug auf den ›geselligen‹ Menschen stehen zusätzlich Moral und Gesellschaft ihren Antipoden Chaos und Anarchie gegenüber. Bevor auf die Bewertung der genannten suggestiven Gegenüberstellung eingegangen werden kann, sei dieses zusätzliche Gegensatzpaar behandelt.

(b) Der Mensch als geselliges Wesen In einem zweiten Schritt versucht Mendelssohn gegen Abbt die Notwendigkeit des Unsterblichkeitspostulats mit Bezug auf die moralischen Konsequenzen zu beweisen. Wenn der Mensch als ein gesellschaftsfähiges und –bedürftiges Wesen verstanden wird, das seine Handlungen auch auf Andere ausrichten muss, so macht allein dieser Wesenszug ein funktionstüchtiges Moralsystem notwendig. Dieses sei, um das Ergebnis vorwegzunehmen, nur unter Annahme individueller Vervollkommnungsfähigkeit und Unsterblichkeit30 – also Erfüllung der Vervollkommnung auch nach

30

Spalding hatte in dieser Hinsicht den ewigen Fortgang der Vervollkommnung als eine Bedingung benannt, das irdische Leben überhaupt als zweckhaft begreifen zu können: »Wenn ich dieß Leben, als den letzten entschiedenen Zustand des Menschen betrachte, so kann ich in meinen Begriffen hierüber nichts mit einander reimen. So bald ich es aber, als einen Zustand der Erziehung, der Prüfung, und der Vorbereitung auf etwas weiteres, ansehe, so wir mir alles helle und voll begreiflichen Zusammenhanges.« (Spalding, Die Bestimmung des Menschen, 7/1763, 45 f.) Hinske 1994, 143 weist darauf hin, dass es in der 9. Auflage von 1768 vorsichtiger: »von begreiflichem Zusammenhange« heißt. So argumentiert auch Mendelssohn: überblickte man sein gesamtes Leben in dem Wissen, dass dies alles umfasse und auf kein jenseitiges Fortexistieren zu hoffen sei, so sei tatsächlich weder Anlage zur gänzlichen Vervollkommnung, noch Gerechtigkeit (diese Argumentation ab JubA III/1, 120) gegeben. Im zweiten Gespräch lässt Mendelssohn Simmias (nicht Sokrates!) dies aussprechen: »[…] und der Mensch, der Hoffnung der Unsterblichkeit beraubt, ist das elendeste Thier auf Erden, das zu seinem Unglücke über seinen Zustand nachdenken, den Tod fürchten, und verzweifeln muß. […] Meine Begriffe von der Gottheit, von der Tugend, von der Würde des Menschen, und von dem Verhältnisse, in welchem er mit Gott stehet, lassen mir keinen Zweifel mehr über seine Bestimmung. Die Hoffnung eines zukünftigen Lebens löset alle diese Schwierigkeiten auf, und bringet die Wahrheiten, von welchen wir auf so mancherley Weise überzeugt sind, wieder in Harmonie.« (JubA III/1, 80); jedoch wählt auch Mendelssohns Sokrates im dritten Gespräch eben diese Worte: »Ja der Begriff einer bevorstehenden Zernichtung streitet so sehr wider die Natur der menschlichen Seele, daß wir ihn mit seinen nächsten Folgen nicht zusam-

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dem Tode – gegeben: »Es ist also nicht möglich, die moralische Welt von Widersprüchen zu befreyen, wenn man kein zukünftiges Leben verstatten will.« (Anhang zur 3. Auf., JubA III/1, 158) Dass Mendelssohn sich diesem Thema zuwendet, ist auch als eine Antwort auf Abbts Zweifel zu verstehen. Denn es war gerade die Moral, die Abbt zufolge allein aus innerweltlichen Erwägungen und Gründen abzuleiten sei und also noch den einzigen, vom Menschen ohne Gott greifbaren Punkt darstellte. Wenn Mendelssohn auch diesem Ansatz den Boden entziehen kann, so seine Auffassung, dann habe er Abbts gesamtes Anliegen in seinem eigenen Sinne beantworten können. Er lässt zu diesem Zweck Sokrates folgendes Szenario imaginieren: Gesetzt den Fall, es gäbe nur dieses irdische Leben, so müsste auch unsere Moral und Gesellschaftsordnung auf dessen Erhaltung ausgerichtet sein. Ist das Leben das höchste Gut, so stellt es für jede Handlung zur höchsten Maxime das eigene Überleben vor. Die Folge davon: eine konstante, oder auch verlässliche Gesellschaftsordnung wäre unmöglich, da sich die in ihr miteinander kollidierenden Pflichten als unlösbar gleichwertig erwiesen. Wie argumentiert Mendelssohns Sokrates für diese Folgerung? Gesellschaften sind auf Rechte gegründet, denen wiederum Pflichten korrespondieren; im Extremfall kann dies die Pflicht sein, sein Leben einer gesellschaftlichen Anforderung aufzuopfern – eine direkte Anspielung auf Abbts Abhandlung Vom Tode für das Vaterland (1761). Dies ist jedoch unmöglich konsequent durchführbar, wenn das eigene Leben das höchste und letzte Gut ist. »Jedem moralischen Wesen kömmt nach dieser Voraussetzung, ein entschiedenes Recht zu, den Untergang der ganzen Welt zu verursachen, wenn es sein Leben, das heißt sein Daseyn, nur fristen kann. Ebendasselbe Recht haben alle seine Nebenwesen. Welch ein allgemeiner Aufstand!« (JubA III/1, 117)31 Alle prima facie selbstlos erscheinenden Handlungen, die ein unverbesserlicher Empirist noch zum Gegenbeweis anführen könnte (abgesehen von der Tatsache, dass Mendelssohn aus eingangs genannten Gründen ohnehin empirische Begebenheiten als schlagende Beweise nicht zulässt, wenn sie sich nicht in ein entgegenstehendes rationales System eingliedern lassen), können nicht aus moralischer Überzeugung, sondern aus Leidenschaft ausgeführt worden sein: »Aber gewiß hat sie das Herz, und nicht der Verstand dahin gebracht.« (JubA III/1, 116) Erst wenn das Leben zu einem Wert neben anderen gesehen werden kann, sind in Hinblick auf es Abwägungen möglich, die auch den eigenen Tod zugunsten anderer Güter, z. B. der Erhaltung der Gesellschaft, beinhalten können (vgl. JubA III/1, 117). Solange dies nicht der Fall ist, ist eine solche Abwägung völlig unsinnig; denn in diesem Falle könnte noch men reimen können, und wohin wir uns wenden, auf tausend Ungereimtheiten und Widersprüche stoßen.« (JubA III/1, 115) Diese Widersprüche galt es aufzulösen. 31 Vgl. Kap. IV.3, v. a. 431–37 und FN 141: Pflichten entsprechen Rechte und umgekehrt. Wie Mendelssohn mit Rekurs auf die Naturrechtslehre betont, kann kein Vertrag der Welt Rechte völlig neu erschaffen, sondern nur unvollkommene in vollkommene verwandeln; vgl. Anhang zur 2. Aufl., JubA III/1, 140.

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nicht einmal ein allwissender Gott32 aus Mangel an eindeutigen Argumenten diesen inneren Widerstreit entscheiden.33 Letztlich ist dieser Teil des Arguments metaphysisch und logisch fundiert: im »Reich der Wahrheit« kann es keine zwei kontradiktorischen, aber völlig gleichberechtigten Gründe geben. Also kann es nicht sein, dass der absolute Grundsatz der Erhaltung des eigenen Lebens beispielsweise mit dem ebenso absolut geltenden Grundsatz der Rettung Anderer etc. sich tatsächlich – unter Berücksichtigung aller Umstände – unvereinbar gegenüberstehen. In dieser Hinsicht gilt das Postulat der Unmöglichkeit des Ununterscheidbaren; bzw. der Grundsatz der »allervollkommensten Harmonie« im »Reiche der Wahrheiten« (JubA III/1, 118): gegeben zwei völlig gleichwertige Positionen (Erhaltung des eigenen Lebens und Rettung eines anderen), wäre dies äquivalent der Zuschreibung von A und non A in derselben Situation. Eine Frage, die auch Garve in seiner Rezension angesprochen hatte, bleibt hier jedoch noch offen. Diesem zufolge ist Mendelssohns Argumentation zirkulär. Um die moralischen Grundsätze aus metaphysischen Prinzipien abzuleiten, fundiert Mendelssohn die letzteren wiederum im moralischen Prinzip von der Priorität menschlichen Lebens. »Our knowledge that we were obliged in certain circumstances to renounce life was based on our belief that there were higher purposes than life. Should this belief be disproved, those obligations would lose their validity, and, consequently, no contradiction would be found to exist.« (Altmann 1973, 156) Mendelssohns derart konstruierter Fall vermische also zwei unterschiedliche Prämissen. Denn letztlich erlangt die Pflicht der absoluten Erhaltung des eigenen Lebens ihre Legitimität allein durch einen höher gelagerten Glauben, der aber hier gerade erst zu beweisen war. Im »Anhang zur dritten Auflage des Phädon« (JubA III/1, 156–59) reagiert Mendelssohn auf Garves Einwurf. Im vorliegenden Fall sei die Pflicht, sich für andere aufzuopfern, gar nicht höheren Prinzipien, also einem Glauben an Gott und/oder Unsterblichkeit geschuldet, sondern vielmehr auf naturrechtlicher Basis gegründet. Selbst Epikur, Spinoza und Hobbes hätten diese Pflichten nicht leugnen können, »ob sie gleich keine höhere Endzwecke, als das Leben, erkennen wollten.« (JubA III/1, 157) Diese Denker hätten allerdings die andere Seite der Medaille übersehen, und mit dieser Wendung erhält das Postulat von der Unsterblichkeit der Seele erst seine Kraft: Wenn man von diesen korrespondierenden Verbindlichkeiten, die schon das Naturrecht, und noch mehr die menschliche Determination als Gesellschaft suchendes und diese benötigendes Wesen fordern, ausgehe, so müsse man gleichzeitig akzeptieren, dass das Leben als eine Größe neben anderen fungiert. Dies ist nur 32

Der an dieser Argumentationsstelle nicht zwingend gütig sein muss, was das Argument hier

stärkt. 33

Dieses Argument findet sich schon im Sendschreiben an einen jungen Gelehrten zu B. (1756), vgl. Altmann 1973, 156.

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möglich, wenn das Leben nicht das höchste Gut ist, und dies wiederum ist nur der Fall, wenn es nicht den absoluten Endpunkt menschlicher Entwicklung darstellt. Das metaphysische Prinzip der Unsterblichkeit ließe sich also sehr wohl aus naturrechtlichen Positionen herleiten, die allesamt letztlich auf ein in sich konsistentes System hinwiesen. Mendelssohns Sokrates entwickelt noch einen weiteren imaginären34 Einwurf: eigentlich könnte man bei einer rein aufs Diesseits bezogener Betrachtung und mit mehr »Demut« schon den Lohn der Tugend in sich entdecken, egal, wie die weltlichen Güter wie Ehre und Reichtum verteilt sind: »Die Tugend hat mehrentheils eine innere Selbstberuhigung zur Gefährtinn, welche eine süßere Belohnung für sie ist, als Glück Ehre und Reichthum.« (JubA III/1, 121, vgl. Abbt im Zweifel, JubA VI/1, 16) Doch auch diese indirekte Aufnahme der Abbtschen Beruhigung dient lediglich der Stärkung des eigenen Arguments – denn selbst die Tatsache, dass die wahre Tugend mit mehr Seelenruhe belohnt würde, verweise wiederum auf einen Glauben an Unsterblichkeit oder zumindest göttliche Vorsehung. Die Seelenruhe betrachtet Mendelssohns Sokrates als ein Resultat aus der Gewissheit, dass die Qualen des Diesseits im Jenseits ein gutes Ende fänden. »Aber was hält den schadlos, der unter diesen Qualen sein ganzes Daseyn aufgiebt? und mit dem letzten Odem auch alle Schönheiten seines Geistes fahren läßt, die er durch diesen Kampf erworben?« (JubA III/1, 121) Wie könnte man den Schöpfer dann noch gerecht nennen? Dies setzt allerdings einen Gottesbegriff voraus, den Abbt ebenfalls geleugnet hatte, Mendelssohn aber mit dem Vorangegangenen als gerechtfertigt ansah. Und, im Rückgriff auf die eigene Argumentation im Orakel: selbst wenn es ein Gleichgewicht gäbe zwischen innerlich befriedigend erlebter Tugend und den Qualen, die man dafür auf sich zu nehmen hätte, wäre es dann nicht dennoch ungerecht denen gegenüber, die in dieser Welt ihre Seele in die falsche Richtung vervollkommneten? (JubA III/1, 121) Dürfen die sich niemals »richtigere Begriffe« vom Guten und Bösen machen, niemals Gott erkennen? Denn dass es diesen Gott gebe, sei für die Tugendhaften offenbar. Dem steht auch nicht entgegen, dass die physische und sittliche Welt so diskrepant erscheinen, denn dies sei letztlich ein übereilter Fehlschluss. Schaue man sich beide Sphären genauer an, so falle ins Auge, dass auch in der physischen Welt nicht alles vollkommen erscheint (Stürme, Gewitter, Erdbeben etc.), ein unterschiedliches Maß an Vollkommenheit also gar nicht gegeben sei. Beiderlei Unvollkommenheiten sind aber in einer universalistischen Betrachtungsweise aufgehoben: Die physischen Unvollkommenheiten stehen im allumfassenden kausalen Zusammenhang der Dinge und werden letztlich auch als sinnvoll erfahrbar. Ebenso 34

Es ist auffällig (vgl. auch Altmann 1973, 155), dass Mendelssohn zunehmend keinen weiteren Gesprächspartner mehr zu Wort kommen lässt, sondern Sokrates in einem Monolog seine Überzeugungen mehr kundtun als von Anderen entwickeln lässt.

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ist menschliches Leid nicht absolut, sondern ein Teil des harmonisch organisierten Reichs der Geister, ja sogar Ansporn und Prüfung (JubA III/1, 122). Die »anscheinende Unordnung und Ungerechtigkeit in dem Schicksale der Menschen [erweist sich im Hinblick] auf eine lange Reihe von Folgen, in welcher sich alles auflöset, was hier verschlungen scheinet« als Teil der allumfassenden Harmonie in der Vorsehung Gottes (JubA III/1, 123). Die Einsichtsfähigkeit begrenzter menschlicher Wesen in diese Harmonie sieht Mendelssohn über die Begründung von Natur und Geist in den allumfassenden philosophischen Prinzipien der leibnizschen Philosophie und in der damit verbundenen vernünftigen Erkennbarkeit der Vernunftreligion und -moral gegeben. Allerdings: Eine Unterscheidung des physisch Schlechten und moralisch Bösen kann es unter dieser Perspektive gar nicht geben. Auch hier zeigt sich, dass Mendelssohns Spiritualismus in einen Naturalismus humescher Prägung überzugehen droht (vgl. Kap. III.1): Moralische und physische Welt gehorchen letztlich denselben Prinzipien und verweisen aufeinander. Wie Mendelssohn schon im Orakel zeigen wollte, ist so in die physische Welt bereits die moralische eingeschrieben und beide im Sinne einer göttlichen Botschaft lesbar. Damit hält er gegen Abbt fest: wenn dem Menschen genug Licht gegeben sei, seinen irdischen Weg zu erkennen, so weise ihn dies zwingend bereits auf dessen weiteren Verlauf hin. Um diesen weiteren Verlauf zu verdeutlichen, kommt Mendelssohn anschließend auf den im Orakel geäußerten Erziehungsgedanken zurück. Das Schlechte auf der Welt ist aufgefangen in der Gottesstrafe, die die Menschen erst ihres Werts versichert. Moses, der Gottes »Herrlichkeit« sehen wollte, durfte seine Güte »sehen«; und Gott versprach ihm, er sei die Güte, die aber keine menschliche Sünde ungeahndet lassen würde (JubA VIII, 188). Der Wert des Menschen liegt also auch darin, dass er überhaupt einer Strafe wert ist. Diese Strafe kann aber nicht – und hier wehrt sich Mendelssohn besonders gegen Leibniz’ Causa Dei – die totale Verdammung, noch eine Art »Rache« bedeuten. Den Abweis der Vergeltungstheorie betont er auch in der 1780 entstandenen und 1783 in der Berlinischen Monatsschrift (II, 1–11) abgedruckten Notiz »Ueber Freiheit und Notwendigkeit«: »Kein Böses geschehe, weil Böses geschah! Die Unordnung, die ein sittliches Uebel in der Welt hervorgebracht, wird durch das physische Uebel nicht aufgehoben, wenn diese nicht etwas Sittlichgutes zur Folge hat.« (JubA III/1, 350) Das Leiden sei zwar, so auch Leibniz, notwendig zur Wahrnehmung und Würdigung des Guten. Mendelssohn reformuliert dies in seiner Leibniz-›Übersetzung‹ der Causa Dei um 1784/85: »Leiden wird zum Genuß, so wie Fäulniß zum Wachsthum erfodert.« (Sache Gottes, § 54, JubA III/2, 235) Woraus folgt: »Die Uebel sind nicht nur nützlich, sondern auch zur Erhöhung und Erkennung des Guten erfoderlich.« (§ 55, JubA III/2, 235) Mendelssohn schließt diese Betrachtung aber mit dem Kommentar: »Soweit Leibnitz.« (ebd.) Er bemängelt hier, dass Leibniz damit das »Gute« als eine von den Individuen vollständig abgekoppelte

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Größe behandelte.35 Er selbst findet darin eine »populäre Sittenlehre« (JubA III/2, 235), die die Übel als nützlich reformuliert und auch den Lohn der Tugend in etwas außer ihr befindliches setzt und damit die Moral ökonomisiert – ein Argument, das er 1782 in der Anmerkung r) zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz (JubA VI/1, 43–48, bes. 44) wiederholt. Seine Ausführungen dazu, in der Sache Gottes als »Übersetzung« getarnt (JubA III/2, §§ 55–60), stellen in dieser Hinsicht eine »ausdrückliche Polemik gegen Leibniz« dar.36 Genau betrachtet, kann die Strafe nicht als eine Rache oder Vergeltung denkbar sein, sondern dient zur Verbesserung des Bösen. »Er selbst würde dieses Leiden wünschen, wenn er seinen Vortheil recht kennete und sein eignes Wohl in dem gehörigen Lichte betrachtete.« (JubA III/2, 238, § 57) Zur Erfüllung des Besten auch am Einzelnen ist wiederum die Unsterblichkeit der Seele eine notwendige Annahme (§ 58, JubA III/2, 238 f.). Schließlich hält Mendelssohn in § 60 fest: auch Leiden muss als eine Ermöglichung weiterer Vervollkommnung, hier: als Erziehung reformuliert werden. Ewig kann damit keine Strafe währen. Damit wendet er sich ausdrücklich gegen Leibniz. Denn somit kann die Vollkommenheit nicht nur als im Ganzen des Universums, sondern auch als in jedem Einzelnen erfüllt betrachtet werden. Wieder ist die Perspektive der Wohlfahrt des Individuums angedacht, allerdings auffällig betont ins Jenseits versetzt: Das Leben allein hat diese Ordnung für uns nicht (JubA III/2, 249, § 76); eingeschlossen zwischen Geburt und Sterben gibt es die Vollkommenheit nur bedingt, der Verweis auf die Vollkommenheit des Ganzen ist eher zynisch. »Jedes empfindende und denkende Wesen ist ein System für sich, hat in dem Dasein sein eigenes Interesse, kann also ohne Ungerechtigkeit nicht leiden, damit einem andern wohl sei, nicht aus einer Unvollkommenheit in die andre übergehen, und am Ende vernichtet werden, damit das Ganze vollkommener werde.« (§ 76, JubA III/2, 250) In § 78 schließlich benennt Mendelssohn die Lebensweise nach dem Vorbild der Leibnizschen Monaden. »So wie jedes Atom in der leblosen Natur, eben also ist jedes lebendige Wesen, jedes Ich in dem ganzen Weltall von unendlicher Dauer, und erfüllet in jedem Augenblicke seines Daseins eine Absicht der Vorsehung. Jedes wan35 Mendelssohn führt dies auf die christliche Dogmatik der Ewigen Verdammung zurück, die sich mit »unserer Vernunft und unserem Glauben« (§ 60, JubA III/2, 240) nicht vertrüge. Das Personalpronomen kann auf das Judentum (JubA III/2, XCVIII), eventuell aber auch auf die in seinen Schriften zur Toleranz verteidigte Vernunftreligion bezogen sein, vgl. Kap. IV.4. 36 Strauss, JubA III/2, XCVI. Ab § 70 bewegt sich Mendelssohn ohnehin frei von der Vorlage weg und übernimmt beispielsweise nicht die Rechtfertigung der christlichen Sünden- und Gnadenlehre von Leibniz, auch wenn er in einigen Punkten mit ihm übereinstimmt, vgl. JubA III/2, XCVI f. Dabei ist vor allem seine Wendung gegen den Christen Leibniz von Bedeutung. Es ließe sich auch so formulieren: hier äußert er unversteckt seine Enttäuschung darüber, dass selbst Leibniz sich in der Metaphysik von persönlichen Glaubenswahrheiten beeinflussen ließ. Mendelssohn dagegen vermeidet religiöses Vokabular (vgl. JubA III/2, CII) und setzt seine Sache Gottes als einen Gegenkommentar aus der Vernunft.

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delt seinen eigenen Lauf der Bestimmungen hindurch, und wird durch jede Bestimmung, die es erfüllt, zur nächsten Bestimmung aufgelegt, die es bestimmen soll.« (JubA III/2, 251) Jede dieser vernünftigen (im Gegensatz zu den leblosen) Wesen ist »nur ihres eigenen Genusses wegen da, und mach[t] jedes gleichsam seine eigene kleine Welt aus« (ebd.). Die Abfolge der »Bestimmungen« sieht Mendelssohn als eine Art Aufwärtsbewegung. Alles führt zur Vervollkommnung, jedoch nur annäherungsweise: »denn zufällige Wesen werden nie Dasjenige ganz, was sie werden können, und ihre Glückseligkeit bestehet bloß in der Annäherung.« (JubA III/2, 251, § 78) In der Sache Gottes lässt Mendelssohn sozusagen Leibniz gegen sich selbst antreten.37 Auf der einen Seite die – den Einzelnen eher instrumentalisierende – Bevorzugung der Ganzheit und Schönheit des Universums, in dem der Einzelne nur ein Teil ist (vgl. Theodicée §§ 118 ff.). Auf der anderen Seite die Monadenlehre, die das Individuum als unhintergehbaren Bestandteil und Urgrund des Universums versteht. So, wie Mendelssohn hier Leibniz reformuliert, habe dieser zu viel Wert auf den ersten Aspekt, und damit auf die Weisheit Gottes gelegt, um daran die christliche Lehre der »Verdammung der Gottlosen« (§ 60, JubA III/2, 240) dogmatisch anzuschließen. Mendelssohn will demgegenüber – im Anschluss an den Phädon – die sich aus der Monadenlehre ergebende Güte Gottes betonen, die alle Individuen betrifft (vgl. JubA III/2, CIII f., JubA II, 319). Letztlich ist zwar auch eine erzieherische Bestrafung des Bösen berechnend; jedoch ist dies zum Besten des Individuums, nicht der harmonischen Welteinrichtung. Der Aspekt, dass strenggenommen Weisheit und Güte nicht auseinandertreten dürften, ist damit allerdings nicht befriedigend berücksichtigt. Zuletzt lässt Mendelssohn seinen Sokrates im Phädon die Frage eines weiteren »Jemands« (JubA III/1, 123) – und wiederum greift Mendelssohn nicht auf einen realen, vielleicht wortgewandteren Gegner Sokrates’ zurück – stellen: nämlich wie die Seelen im Jenseits weiterlebten. Doch er weist dies ebenso ab, wie er es in der Diskussion mit Abbt getan hatte (siehe Kap. I.2, 105 f.) und auch in den Anmerkungen nicht zulässt (JubA VI/1, 42 f., 48, 61). Damit sind die Akten geschlossen. Sokrates beendet seine Rede und bereitet sich wohlgemut auf den Tod vor – seine Jünger hat er, und auch dies ist auffällig, zwar vor ihrem Verstande überzeugt, aber der Tränen können sie sich dennoch nicht enthalten (JubA III/1, 127).

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Sie ist daneben auch entscheidend durch seine Überlegungen zur Bestimmungsdebatte geprägt, worauf nicht zuletzt die Wortwahl hinweist. § 59: auch wenn den Einzelnen das Schicksal trifft, wird er weiter »anbethen und wohlthun«, wie es auch Abbt in seinem Zweifel ausdrückte; vgl. JubA VI/1, 18.

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3. Der Phädon als letztes Wort? Wichtig für die Charakterisierung von Mendelssohns Haltung zur »Bestimmung des Menschen« ist hinsichtlich des Phädon die Engführung von Unsterblichkeit der Seele und Verteidigung der Moral. Er will zeigen, dass man mit einigem Grund auf den aufstrebenden Weg der individuellen Vervollkommnung rechnen kann. Wohl zu Recht hält Altmann fest: »The success of the Phaedon was ultimately due to the pervasiveness of this moral concern« (Altmann 1973, 156) Mendelssohn versucht in Anlehnung an die Bestimmungsdebatte, die Unsterblichkeit als einen Kernpunkt der Bestimmung des Menschen darzulegen. Dies nicht, um eine religiöse Lehre zu stützen, sondern um dem Theorem der Perfektibilität eine Richtung und Berechtigung zu verleihen. »The formula expressing this convergence was the term ›infinite progress toward perfection‹. The Leibnizian idea of a deathless world in which each monad strives toward perfection was turned into the notion of infinite perfectibility, and this concept provided the ›solace‹ for which the Age of Reason was yearning.« (ebd.) Doch liefert Mendelssohns Tröstung auch einem Zweifler überzeugende Gründe? Wie die vorangegangenen Überlegungen zeigen sollten, hat er vielmehr die internen Schwierigkeiten in Leibniz’ System aufgezeigt, als dass er sie beseitigt hätte. Die Spannung zwischen objektiver und subjektiver Seite der Bestimmung bleibt bestehen. Ebenso ist die Gefahr eines Anthropomorphismus, den Leibniz gerade abzuwehren versuchte, in Mendelssohns Interpretation durchaus gegeben. Folgende Punkte lassen sich nichtsdestotrotz als späte ›Antworten‹ auf Abbts Zweifel verstehen: Zum ersten hält Mendelssohn daran fest bzw. versucht erneut zu begründen, dass kontingente historische und gesellschaftliche Beobachtungen keine Gegenbeweise zur Annahme einer umfassenden Perfektibilität sind. Dies blieb im Orakel noch unbestimmt: Zwar wurde die subjektive Perspektive als unvollkommener, aber notwendiger Ausgangspunkt menschlicher Vervollkommnung bezeichnet. Darüber hinaus jedoch fehlte dort, um die Irreduzibilität plausibler zu machen, eine Erklärung, warum Abbts Versuche, mit der Parabel auch eine nicht von Offenbarung, Gott oder auf einen jenseitigen Zweck eingerichteten Welt aufgebaute Moral zu etablieren, ohne die Berücksichtigung der objektiven Perspektive von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Mit den Phädon versucht Mendelssohn zu begründen, dass auf dem Abbtschen Weg nur empirische Beobachtungen, nie jedoch moralische Standards zu erreichen seien. Dabei kollidiert jedoch das Bemühen, eine dem naturhaften und gesellschaftlichen Geschehen übergeordnete normative Ebene zu erweisen, mit dem Versuch, diese Ebene sogleich auch unter Hinweis auf die ›eigentliche‹, von Gott intendierte wie geschaffene Weltordnung, die alle menschliche Erfahrung zu einem bloßen Phänomen herabstuft, zu ontologisieren. Der eigentliche Grund alles Seins und die Richtung auch menschlichen Strebens ist damit der Sphäre menschlicher

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Erkennbarkeit und Beeinflussbarkeit wiederum entzogen. Eine derart starke metaphysische Position ist also, aufs Ganze gesehen, Mendelssohns rationalistischer Anthropologie abträglich. Es steht aber zu befürchten, dass sie zur Festigung einer tatsächlich den rationalistischen Prämissen verpflichteten Perspektive notwendig ist. Desweiteren baut Mendelssohn im Phädon seine schon im Orakel angeführte Ansicht aus, dass der Mensch als entwicklungsbedürftiges Wesen Anstöße benötige, die sich prima facie als »Unvollkommenheiten« ausnehmen, jedoch bei objektiver Betrachtung ein in die umfassende Vollkommenheit integrierter Motor individueller Entwicklung sind. Zum einen birgt auch diese Sichtweise die Gefahr der Reduktion der subjektiven Seite als eines bloßen Phänomens der objektiven ›Realität‹. Zum anderen wirkt die Bezeichnung eines Schmerzes als ›Motor‹ zynisch. Mendelssohn will betonen, dass das Idealbild eines glückseligen Menschen ohne die stetige Verwirklichung dieser Glückseligkeit in Handlungen nicht möglich ist. Der Antrieb dieser Handlungen, man denke an Sulzer, soll jedoch bezüglich des Menschen auch aus dem Reich der verworrenen, prima facie unvollkommen erscheinenden Ideen kommen. Die Sicherheit, dass sich dieser Eindruck in Wohlgefallen auflösen wird, ist allerdings mit den von Mendelssohn angeführten Mitteln kaum zu erreichen und bleibt auf der Ebene des Einzelnen eine »göttliche Beruhigung«, oder eben dieses: zynisch. Mendelssohns wichtigstes Argument gegenüber Abbt bezieht sich jedoch nicht auf die Frage der Realität individueller wie umfassender Vollkommenheit, sondern auf die Ebene der Moralbegründung. Im Phädon versucht er zu zeigen, dass auch die natürliche Geselligkeit des Menschen nicht ohne das Unsterblichkeitspostulat auskommt: letzte gesellschaftliche Pflichten wären unhaltbar. Zugleich damit musste jedoch der göttliche Erziehungsgedanke betont werden, um das anfangs aufgestellte Postulat der Güte Gottes zu festigen. Das »Prinzip Hoffnung« auf ein Weiterleben nach dem Tod als berechtigt zu erweisen, scheint für die Ausarbeitung des Phädon das vordringliche Ziel gewesen zu sein.38 Was Mendelssohn in einem Brief an Abbt vom 1. Mai 1764 noch zurückhaltender formuliert, soll damit auf ein festeres Fundament gestellt werden: »Ich besitze Eigenliebe genug, eine jede Lehre zu adoptiren, die meine Gemüthsruhe befördert, 38 In eine ähnliche Richtung argumentiert im Anschluss an Mendelssohn auch Johann August Eberhard in einem fiktiven Dialog zwischen Bayle und Shaftesbury, den Johann Jakob Engel im ersten Teil des Philosoph für die Welt (1775) veröffentlichte (vgl. Lorenz 1997, 185) und der den Optimismus als eine »weltanschauliche Grundüberzeugung« gar nicht mehr zu beweisen sucht, sondern schlicht auf das optimistisch zu lesende »Buch der Natur« verweist. Die dort gleichermaßen zu verzeichnende wie irritierende Auffassung, dass das Zweifeln zu vermeiden sei, wenn man nicht in einen überwältigenden, den Optimism verunmöglichenden »Strom der Vernunft« (ebd., 184) geraten wolle, kann man wohl zu recht als eine aufkommende Skepsis an einem leibnizianischen, menschlich erfassbaren Rationalismus werten.

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ohne meinen Fehlern zu schmeicheln. Ich kann nicht glauben, daß uns Gott auf seine Erde, etwa wie den Schaum auf die Welle gesetzt hat: und da ich in der entgegengesetzten Meinung weniger Ungereimtheit und mehr Trost finde; so umarme ich sie, und erwarte festen Fußes den grausamen Freund, der sie mir entreissen will.« (JubA XII/1, 43) Der »grausame Freund« kam und brachte Gegengründe vor, die Mendelssohn zu beantworten suchte. Der Beweis von der Unverweslichkeit der Seele (erstes und zweites Gespräch) reichte dazu nicht aus. Die Unsterblichkeit im Sinne eines fortdauernden Bewusstseins und postmortaler Vervollkommnung musste, wie von Abbt gefordert, auch aus diesseitigen Gründen bewiesen werden. Mendelssohn antwortet darauf, indem er den diesseitigen Gründen nicht einen empirischen, sondern einen rationalen – oder gar: anti-empirischen – Kern verleiht. So nutzt er die Einwände des Freundes, um seine Gegenposition zu entfalten. Auffällig ist jedoch, dass er sie zunehmend nicht mehr von Teilnehmern des Dialogs – also des Gesprächs zwischen Sokrates und seinen Jüngern in der Nacht vor der Vollstreckung seines Todesurteils – sondern von Sokrates selbst in einem zwar glänzenden, aber dennoch sehr zielgerichteten und bisweilen als dogmatisch zu bezeichnenden Monolog eingewoben präsentiert. Sieht man auf den Phädon selbst, so ist eine starke Tendenz zur »Belehrung«, Verwissenschaftlichung und streng rationaler Beweisführung zu verzeichnen. Wie auch Altmann (1973, 155) zu Recht festgehalten hat, so ist gerade das dritte Gespräch am wenigsten dialogisch. Weit mehr als eine ›Entdeckung‹ ist es eine ›Antwort‹. Wie nicht nur der Haupttext, sondern auch die »Zusätze« der späteren Auflagen39 zeigen, gibt es zwar eine Tendenz hin zu Argumentationssträngen der Geschichtsund politischen Philosophie, sowie Anknüpfungspunkte zu früheren ästhetischen und im weitesten Sinne physiologischen Überlegungen. Doch ist dies zu wenig ausgeführt, um von einer wirklichen Aufnahme von Abbts Anstößen zu sprechen. Die Änderungen erfolgten erst mit einiger zeitlicher Verzögerung. Doch sollte man an Abbts Einfluss denken, wenn man sich fragt, warum Mendelssohn in den Morgenstunden neben einen schulgemäßen Gottesbeweis neuartige Überlegungen über die Konstitution des Menschen und seines »Vermögenshaushaltes« anstellt, die immerhin indirekt bis auf Schiller gewirkt haben mögen (vgl. Kap. III.3). 39 Relevant sind die zweite von 1768 (obwohl hier nach Albrecht 1983, 70 weniger einschneidende Änderungen zu verzeichnen sind als in der folgenden Fassung) und die dritte von 1769. Bezugstexte für die Modifikationen waren neben einschlägigen Briefen (vgl. JubA XII/1) v. a. Rezension Riedels in der Deutschen Bibliothek, von Garve in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste und von Resewitz in der AdB (vollständige Aufzählung der Referenztexte bietet JubA III/1, 408 ff.) Ab 1769, also nach der 3. Aufl. hat Mendelssohn nichts mehr geändert; die 4. Aufl. 1776 ist lediglich ein Nachdruck der 3. Aufl. Seine Erwiderungen auf Herder finden sich dahingegen in rudimentärer Form in den »Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz«; vgl. Kap. V.2.

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Auch im Jerusalem versucht Mendelssohn den Übergang vom metaphysischen Beweis über die Unsterblichkeit der Seele zu Überlegungen über Politik und geschichtlicher Menschheitsentwicklung, indem er den Zusammenhang zwischen einem Gott der Vernunftreligion und irdischen Tugenden und Geschehnissen herstellt. »Die Rede ist nur von jenen Hauptgrundsätzen, in welchen alle Religionen übereinkommen, und ohne welche die Glückseligkeit ein Traum, und die Tugend selbst keine Tugend mehr ist. Ohne Gott und Vorsehung und künftiges Leben ist Menschliebe eine angeborne Schwachheit, und Wohlwollen wenig mehr als eine Geckerey, die wir uns einander einzuschwatzen suchen, damit der Thor sich placke, und der Kluge gütlich thun und auf jenes Unkosten sich lustig machen könne.« (Jerusalem, JubA VIII, 131) Diese Argumentation ist im dritten Gespräch des Phädon vorgezeichnet und greift auf das Orakel und die Anstöße aus Abbts Zweifel zurück.40 Aber den Phädon selbst hat Mendelssohn nicht als das alleinige Medium einer Anthropologie gelten lassen – mehr noch, stellt dieser in letzter Konsequenz sämtliche empirische Bestandteile der Anthropologie infrage. Es schien Mendelssohn notwendig gewesen zu sein, diese extreme Position einzunehmen (auch wenn er sie vor der Hand als eine notwendige Remineszenz an das platonische Vorbild bezeichnete), um die Grundlagen der leibnizschen Philosophie – und damit die von ihm befürwortete Auffassung von Moral – ein für allemal zu retten. Vielleicht hat Kant den Grund dieses Dilemmas Mendelssohns am besten getroffen, indem er dessen Festhalten an den grundlegenden Prämissen des Rationalismus mit deren Rechtfertigungspotential normativer Standards begründet: »Drei Lehren, meinte [Mendelssohn], müßten unangefochten, heilig und aufrecht gehalten werden, weil ohne sie kein Vertrag geschloßen, Treue und Glauben nicht bewährt werden können, kein Band der Geselligkeit übrig bleibt. Diese Lehren sind der Glaube an die Gottheit, die Nothwendigkeit der Tugend, eine belohnende oder in Strafen beste[h]ende Zukunft. Von den beyden ersten liegt in uns nicht blos das Gefühl der Nothwendigkeit, sondern auch der Abscheu gegen die Abläugner und Verächter […]. Wenn aber iemand so unglücklich ist, eine Fortdauer nach dem Tode zu bezweifeln, welche Beweise haben wir, um ihm Gewißheit zu geben? Ich dachte an Plato’s und Mendelsohns Phedon. Ueberreden mögen beyde den willig forschenden Geist, aber Beweise liefern sie nicht. Mendelsohn berief sich auf keinen andern, als das moralische Gefühl. Es ist mir einerlei, sagte er, wie ich fortdauern werde, unter welcher Gestalt und Organisation es auch ist. Nur muß es seyn das fließet aus der Lehre von Gott und der Vorsehung.«41 40

Siehe Mendelssohns Brief an Raphael Levi von Hannover, dazu Altmann 1973, 155, 161ff. Kant zur Methode des Phädon in: Logik-Vorlesung. Unveröffentlichte Nachschrift. I, Logik Bauch. Hg. v. Tillmann Pinder. Hamburg 1998, 208, Hervorhebungen A.P. Zur Kritik Kants an Mendelssohns Unsterblichkeitsbeweis siehe Krochmalnik 2008, 33 ff. Mendelssohns Fehlgriff, aus 41

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Den Beweis der Unsterblichkeit, zusammen mit dem Postulat der immer fortgehenden und auch den individuellen Tod (des Körpers) überdauernden Vervollkommnung der Seele hat nach dem Phädon viel Widerspruch erfahren.42 In unserem Zusammenhang wird die Diskussion mit Herder, der sich in diesem Gespräch als Nachfolger Abbts sah, interessieren. Noch 1782 sind die Nachwirkungen der Einreden des ›zweiten Abbt‹, wie dieser sich nannte, in Mendelssohns Werk zu verzeichnen.

Nachsatz: Nach Mendelssohns Tod erschien im Philosoph für die Welt von Johann Jakob Engel ein kurzer Dialog, betitelt: Über die Furcht vor der Rückkehr des Aberglaubens.43 In Anlehnung an die aus der Bestimmungsdebatte bekannte Rollenverteilung zeichnet Engel hier ein Gespräch zwischen einem »Skeptiker« und einem »Dogmatiker« nach. Dabei gilt für die Bezeichnung der letzteren Position noch nicht der kantische, abwertende Begriff, sondern meint die aufklärerische Schulphilosophie.

dem synthetischen Vermögen der Seele seine Substantialität zu folgern, lässt sich als ein Paradebeispiel des Paralogism formulieren. 42 Zwar behauptet Reich 1935, 11 ff., dass Mendelssohns Phädon Kant zur Ausformulierung seiner Zwei-Reiche-Lehre inspirierte, doch scheint der alleinige Verweis auf die Popularität dieses Werkes nicht ausreichend, um einen solch weitreichenden Einfluss zu beweisen. Kant beherrschte die griechische Sprache und kannte die platonischen Texte im Original. Mendelssohns »Übersetzung« konnte ihn höchstens dazu angeregt haben, sich näher mit dem Text auseinanderzusetzen – aber selbst die Hinweise darauf sind nicht gegeben und der Sache nach auch nicht nötig: Platonismus war schon durch die Tradition der Cambridge Platonists und auch in der deutschen Philosophie nach Leibniz eine lebendige Option. Hinzu kommt, dass Kant, wie ein Brief an Mendelssohn vom 8. April 1766 (JubA XII/1, 104–8, insb. 106 f.), bereits in den Jahren vor der Veröffentlichung des Phädon von der Frage umgetrieben wurde, »wie […] die Seele in der Welt gegenwärtig sowohl den materiellen Naturen als denen anderen von ihrer Art« sei. Kants eigene, im selben Brief geäußerte Vermutungen dazu sprechen nicht dafür, dass ihm Mendelssohns Version einer Antwort im Phädon sonderlich zugesagt hätte. Er hatte vielmehr explizit abgewiesen, was dieser aus metaphysischen Prämissen beweisen wollte: dass »Geburth (im metaphysischen Verstande) Leben und Tod etwas sey was wir […] durch Vernunft werden einsehen können.« (JubA XII/1, 107 f.) Die Tatsache, dass Kant Mendelssohns Beweis der Unsterblichkeit der Seele (unvollständig) in der B-Auflage der KrV aufgriff, zeigt vielleicht allein, dass er ihn ernst nahm – oder aufgrund dessen Popularität ernst nehmen musste, um der gängigen Philosophie ein für alle Mal den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dies heißt jedoch nicht, dass der Mendelsohn’sche Beweis die von Reich anvisierte Rolle spielte. 43 Johann Jakob Engel: An Herrn G*z. Über die Furcht vor der Rückkehr des Aberglaubens, in: Ders. Schriften. 12 Bde. Berlin 1801 ff. (Nachdruck Frankfurt a.M. 1971) Bd. II, 333–374. Diesen Hinweis verdanke ich Hinske 1981, 115, der allerdings diesbezüglich nicht auf die Bestimmungsdebatte eingeht.

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Der Dogmatiker hebt die Bedeutung des Skeptikers hervor, der ihm zufolge auf der höchsten Stufe der Erkenntnis und der Aufklärung sei; auch Abbts Zweifel darf man wohl hierzu zählen. Doch das Lob ist zweischneidig. Zwar hat der Kopf des Skeptikers in diesen Disziplinen die höchste Stufe erreicht, nicht aber der ganze Mensch. Wenn der Verstand allein in diese Höhen steigt, müsse zwangsläufig ein Rückfall in den Aberglauben die Folge sein – der Mensch fordert die Wärme des Glaubens zurück, und er tut dies mit umso vehementer, je »kälter« es zuvor in den skeptischen Verstandeshöhen war. Engel formuliert diese Folge hier als ein zwangsläufiges Ereignis, da es auf dem »Gipfel der Erkenntnis […] für das Herz zum Erfrieren kalt sey« (Engel 337). Mit Rückgriff auf Mendelssohn ließe sich jedoch sagen: wenn es gelänge, den Zweifel nicht grenzenlos und herzvernichtend zu machen, sondern immer auf die Bedingtheit des Menschen dabei zu reflektieren, so seien erfolgversprechendere Schritte in der Aufklärung möglich. Engel nennt den »Glauben« (372 f.). Zwar wird Mendelssohn diesem Aspekt zugestimmt haben, doch ist insgesamt m. E. seine Anthropologie weitaus reichhaltiger. Wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt werden sollte, bemühte er sich immerhin darum, die sensitive bzw. affektive, aber auch theoretische und praktische Ausrichtung des Menschen auf Erkenntnis seiner selbst, Integration der einzelnen Vermögen und Verbesserung seiner Gesellschaft zu erläutern. »Mendelssohn war einer der ersten, der das Wort vom Wahren, Guten, Schönen als der Essenz des Humanismus prägte.« (Altmann 1982, 25) Dabei habe Mendelssohn dem Heiligen keine weiteren Rechte eingeräumt, über den Menschen zu verfügen; es muss das genügen, was die Vernunftreligion allen Menschen offenbart. Dies bedeutet jedoch nicht eine Säkularisierung des Menschenbildes; sondern fasst durch die Betonung des teleologischen Zugs, den zu begründen der Phädon gewidmet schien, den Gottesbezug im Sinne eines Angewiesenseins auf Rationalität und Güte in sich. Jedoch ist dieser Gottesbezug ein anderer als beispielsweise derjenige Spaldings und letzten Endes auch als derjenige Leibniz’, da er sich nicht mehr auf spezifische, konfessionell gebundene Aspekte erstreckt. Gott wird verstanden als »Archetypus der Vollkommenheit« und dient als Garant der beiden grundlegenden Prinzipien vernünftiger – und dies heißt für Mendelssohn auch: weiser wie gütiger Welteinrichtung. Auch gegen Herder wird Mendelssohn diese Sichtweise verteidigen.

V. Die Seele als Münzensammler. Mendelssohn und Herder im Dialog »Da nun aber unser spezifischer Charakter eben darin liegt, daß wir, beinah ohne Instinkt geboren, nur durch eine lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität als die Korruptibilität unseres Geschlechts hierauf beruhet, so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition zum ersten bis zum letzten Gliede.« Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784), Werke 6, 337 »Was zum Charakter unseres Geschlechts gehört, jede mögliche Vervollkommnung desselben, dies ist das Objekt, das der humane Mann vor sich hat, wonach er strebet, wozu er wirket. Da unser Geschlecht selbst aus sich machen muß, was aus ihm werden kann und soll: so darf keiner, der zu ihm gehört, dabei müßig bleiben.« Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität (1793–97),Werke 7, 164

In der Gegenüberstellung von Mendelssohn und Herder anhand ihres Briefwechsels im Jahre 1769 zeigt sich, so auch Marion Heinz (1992, 263), der Kontrast zweier divergierender Denkrichtungen. Auf der einen Seite steht der leibnizianisch argumentierende Mendelssohn. Auf der anderen Seite Herder, der zwar Ideen Leibniz’ und auch Baumgartens übernimmt, sich aber nicht mit dem Primat der Ratio zufrieden gibt, sondern eine holistische Vorstellung von Geist und Materie zu erreichen sucht.44 Das gesamte Spektrum dieser Gegenüberstellung kann an dieser Stelle natürlich nicht aufgezeigt werden, darüber hinaus wird im gegebenen Zusammenhang lediglich auf Herders Ansichten der 1760er Jahre, der Zeitraum des hier analysierten Dialogs, Bezug genommen.45 In dieser Hinsicht ist von besonderer Bedeutung, dass 44

M. Heinz nennt als eine wichtige Quelle neben Spinoza (oder spinozistischen Gedanken) auch Herders akademischen Lehrer, Kant (vgl. ebenfalls M. Heinz 1992, 272 und Arnold 2001, 96) und hebt dessen vorkritische Naturphilosophie, v. a. der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) sowie den Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763) hervor. Der Einfluss Kants auf Herder soll hier jedoch nicht eingehend diskutiert werden; daneben müssten auch Hume, Shaftesbury, Rousseau u. a. Erwähnung finden. Siehe dazu Zammito 2002, Adler 1990. 45 Es kann also nicht auf einschlägige Schriften späterer Jahre, wie die Humanitätsbriefe (seit 1793), die Vorlesung in der vierten Sammlung der Zerstreuten Blätter: Ueber die menschliche Unsterblichkeit (1792) und in der sechsten Sammlung die an Lessings Erziehung des Menschengeschlechts (1780) anknüpfende Abhandlung Palingenesie. Vom Wiederkommen menschlicher Seelen (1797) oder auch die drei Gespräche Über die Seelenwanderung (1782) eingegangen werden (der Kommentar weist auf Modifizierungen in den genannten späteren Werken hin, die sich auf Mendelssohns Ein-

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erst in die späten 1760er Jahre die erste eingehende Beschäftigung Herders mit der Philosophie Leibniz’ fällt.46 Später nennt er als große Gewährsmänner seiner Philosophie Leibniz, Spinoza47 und Shaftesbury. Die Aufnahme platonischer Gedanken kommt erst 1766/68 hinzu, wie der Entwurf »Plato sagt…« zeigt. Ab 1769 verbin-

fluss beziehen könnten, vgl. Werke 4, 1173; letztlich ist dafür die Beweislage aber etwas zu dünn). Gerade die letzteren stellen, in enger Verbindung zu Herders Geschichtsphilosophie eine Revision des »sensualistisch-materialistisch anmutenden Standpunktes« dar (siehe Herder, Werke 4, 1173). Ihr skeptischer Grundzug gegenüber spekulativen Systemen bleibt jedoch erhalten (Altmann 1982, 132 f.). Es ist oft betont worden (bspw. Unger 1922, 22 und Arnold 2001, 94), dass Herder sich Zeit seines Lebens mit dem Unsterblichkeitsgedanken beschäftigte, ohne zu einem »abschließenden, eindeutigen und widerspruchslosen Resultat« (Unger 1922, 22) zu gelangen. 46 Von Baumgartens Metaphysica (1739) hatte Herder schon seit Beginn seiner Studien bei Kant in Königsberg, also seit 1762 Kenntnis, wobei freilich die Lektüre bereits durch Kants kritische (hier im untechnischen Sinne) Lesart geprägt ist. Ein Exzerpt von Leibniz’ Meditationes (1684) wird auf 1768 datiert (siehe Adler 1990, 56, FN 49), ein Exzerpt von dessen Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison (1714) auf 1769 (siehe Herders Notizen zu Leibniz in SWS 32, 211–31; vgl. Arnold 2001, 96, 98 und Proß 1987, 850 ff., der auf das Diktum Herders verweist, dass die Seele immer »im Horizont ihres Körpers« verbleibe). So ist wohl die Aussage von M. Heinz (1992, 272), die die Beschäftigung mit Leibniz auf 1769 ansetzt, um ein Jahr vorzuverlegen. Immerhin bedeutet dies, dass die Briefe an Mendelssohn nicht die allerersten Skizzen einer Leibniz-Auseinandersetzung darstellen, sondern bereits eine Phase des Überdenkens und Einpassens in eigene Gedanken hinter sich hatten. Dennoch scheint auch der Briefwechsel noch eine Unentschiedenheit hinsichtlich der Einschätzung des Werts von Leibniz’ System zu zeigen. 47 Bereits im um 1763/64 (vgl. Adler 1990, 50 m.w.V. und M. Heinz 1994, Kap. I) entstandenen Manuskript Versuch über das Sein erweist sich Herder mit dem Hinweis darauf, dass für Gott allein alles im inneren Sinn liegt und demgemäß auch alle Welt im Sein Gottes, bzw. Äußerung seiner Gedanken ist, als Spinozist. »Wenn es wahr ist, daß alles andere außer Gott durch Gott gedacht wird, ist sein allumfassendes Denken das einzige Prinzip des Seins. Und das heißt, daß alle anderen denkenden Wesen und alle menschlichen Wesen nur Gedanken von Gott sind. Gott als die ›eine egoistische Gedankenwelt‹ ist das Eine eines spinozistischen Monismus in Begriffen Wolffscher Metaphysik. Herders Vorstellung eines göttlichen Egoismus enthüllt einen Spinozismus avant la lettre […] der aus Elementen eines sensualistischen Idealismus konstruiert werden kann.« (Baum 1990, 128 ff.) Die genaue Bedeutung des Begriffs »sensualistischer Idealismus«, den auch M. Heinz übernimmt, bleibt allerdings unklar. In seinen frühen Entwürfen versucht Herder zweifellos, leibnizianisch-idealistische, empiristische und auch sensualistische Elemente zu verbinden, ohne sich jedoch über den prekären Status nicht-sinnlicher Begriffe wie den Gottes oder den der Seele, wenn das Prinzip der Genese aus empirischen Ursachen heraus allein erklärt wird, im Klaren zu sein. Wie M. Heinz 1994, Kap. V ohne Hinweis auf diese Problematik anhand der 1774 entstandenen Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele zeigt, erweitert Herder vielmehr noch den naturalistischen Zug seiner Philosophie, bis das Konzept eines Gottes nur noch als ein Appendix erscheint. Den nicht zuletzt in den verschiedenen Auflagen dieser Schrift (1775, 1778) unternommenen Versuch der Vereinigung von Natur und Geist durch gegenseitige Anverwandlung führt M. Heinz 1994, 24, FN 103 und 89–93 auch auf den Einfluss von Mendelssohns Erstlingswerk, die Philosophischen Gespräche (ersch. 1755), zurück. Herder ging es darum, die universale Harmonie in Gott mit der Idee der auch im physischen Austausch stehenden Monaden zu verbinden. Ob dies gelungen ist, steht hier nicht zur Diskussion.

V.2 Die Seele als Münzensammler. Mendelssohn und Herder im Dialog

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den sich dann das spinozistische und das psychologisch-anthropologische Denken.48 Auch die Bestimmungsdebatte scheint eine – wenig beachtete – Station auf diesem Weg gewesen zu sein. Der sich in ihr offenbarende grundlegende Dissens, den Marion Heinz mit »Bestimmung des Menschen« etwas ungenau umschreibt, betrifft die Frage, dem Phädon entsprechend, nach der Unsterblichkeit – und damit v. a. nach der Konstitution der menschlichen Seele. Eng damit zusammen hängt das sich daraus ergebende Problem menschlicher Individualität. Herder stellt Mendelssohns Konzept der Perfektibilität vehement in Frage und ist damit für die Ausformulierung von dessen anthropologischen Überlegungen eine wichtige Bezugsperson, auch wenn der direkte Kontakt begrenzt ist. So beschränkt sich der briefliche Austausch beider zur Bestimmungsdebatte auf lediglich drei Briefe. Er endet in gegenseitigem Unverständnis, wofür neben der Uneinigkeit im Grundsätzlichen auch Herders Äußerung zum Lavater-Streit (vgl. JubA XII/1, 201) gesorgt haben mag. Doch davon abgesehen ist Herders Ansicht als ein Gegenpol zu Mendelssohns Denken beachtenswert. Spuren der Auseinandersetzung finden sich noch in den 1782 erschienenen Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz, in denen Mendelssohn seine in der Bestimmungsdebatte und im Phädon eingenommene Position durchaus nicht preisgibt, sondern verteidigt. Herders Einwürfe mögen ihn also dazu angeregt haben, seine Vervollkommnungstheorie weiter auszuformulieren. Mendelssohns spekulative Tendenz, die auch das Verhältnis von Körper und Seele betrifft49, wird durch Herder nicht zurückgedrängt, aber doch reformuliert und verfeinert. In der neueren Forschung wird der anthropologische Impetus von Herders Werk betont. Als eine Stimme hierfür mag stellvertretend diejenige Adlers zitiert werden: »Herder, der wie Mendelssohn durchaus von einem umfassenden Plan Gottes – einer Totalität der Schöpfung – ausgeht, macht einen großangelegten Versuch, Philosophie menschlich, das heißt als Weg zur Aneignung und Entfaltung menschenmöglichen Wissens über sich selbst als ganzheitliches Wesen und über seine Welt, zu betreiben. In diesem Sinne ist seine Anthropologie ›menschliche Philosophie‹[50]. Auch er will, wie Kant, zeigen, was der Mensch kann und soll. Im Unterschied aber zu Kant ist ›Vernunft‹ für Herder ein durch Erfahrung Werdendes: 48

Siehe M. Heinz 1994, 24, allerdings ohne Hinweis auf die Bestimmungsdebatte. Adler 1994, 137. Ein hier nicht auszuarbeitendes, dennoch interessantes Nebenthema ist wiederum der Unterschied zu Kant. Dieser setzt als Primat die praktische Philosophie (in einigen Aspekten teilt Mendelssohn diese Vorgehensweise: allerdings versucht er stets, praktische Prinzipien auf spekulatives Fundament zurückzuführen) und führt die Entwicklung des Menschen und auch der Menschheit als eine Onto- und Phylogenese des Vernunftwesens vor – ohne dass eine tatsächlich stattfindende Entwicklung für die Geltung der praktischen Sätze konstitutiv ist. 50 In Anlehnung an Herders Ausdruck in einem Brief an Kant vom November 1768; Herder, Briefe 1, 120. 49

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Aufgabe und Problem für den Menschen.[51] Damit steht Herder der Position Abbts näher als der Mendelssohns, weil das Historisch-Soziale entscheidend mitbestimmt, was der Mensch sei, und was er werden mag, wie Herder knapp formuliert: ›Die Natur des Menschen ist Kunst‹. Geschichte ist die Realisierung der menschlichen Fähigkeiten in der Erscheinung.«52 Problematisch an Herders Sichtweise ist jedoch der Status von sinnlicher Empfindung und deren Zusammenhang mit dieser »werdenden« Vernunft. In der 1784er Geschichtsphilosophie formuliert er selbst dies prägnant: »Die Vernunft ist ein Aggregat von Bemerkungen und Übungen unsrer Seele; eine Summe der Erziehung unsres Geschlechts, die, nach gegebnen fremden Vorbildern, der Erzogne zuletzt als ein fremder Künstler an sich vollendet.« (Werke 6, 337) Insgesamt ist Herders Ansicht der hier berücksichtigten Jahre von vielen Umbrüchen, aber auch Inkonsistenzen und dem Versuch, Unvereinbares zu vereinbaren, geprägt. So betont er zwar bezüglich der Konstitution der Seele das Primat der Sinnlichkeit vor den eingeborenen Ideen.53 Zugleich allerdings will er dies nicht als einen Lockeschen Sensualismus verstanden wissen, der alle Begriffe auf ihr sinnliches 51

Dazu Hornig 1980, 227 mit Bezug auf Herders Gesamtwerk: Der Mensch »ist noch nicht im Besitz der Humanität, wohl aber zur Humanität bildbar. Die Verwirklichung dieser Bestimmung des Menschen vollzieht sich jedoch nicht in der Weise einer gleichsam ablaufenden naturnotwendigen Entwicklung, sondern ist vielmehr Ergebnis eines bewußt gewählten ethischen Bildungs- und Handlungsprozesses, der unablässig fortgesetzt werden muß.« Die frühen Entwürfe, die hier diskutiert werden sollen, weisen aber kein Kriterium dieser »bewussten« Wahl auf. 52 Adler 1994, 137. Er zitiert hier aus den Humanitätsbriefen, zweite Sammlung, 25. Brief, in: Werke 7, 126. ›Kunst‹ meint hier nicht ein ästhetisches Verständnis des Menschen, sondern betont die Auffassung, dass sich der Mensch selbst und frei zu bestimmen hat, um sein Wesen zu entfalten; im 29. Brief setzt Herder dementsprechend fest: Der Mensch »konstituiert sich selbst« (vgl. Werke 7, 817 f.). 53 Schon im Versuch über das Sein (siehe FN 47) sucht Herder das grundlegende und unhintergehbare Sein als eine vorreflexive, nur sinnlich nachvollziehbare und deshalb grundlegend aisthetische Kategorie nachzuzeichnen. »Dieses Sein ist der Nullpunkt, die ontologische Origo für Herders Philosophieren und für seine Erkenntnislehre. Die Gewißheit dieses Seins ist subjektiv durch die Empfindung verbürgt, so daß die Ich-Konstitution kein rationaler, sondern ein sinnlicher Akt ist, der reflexiv nicht hintergehbar ist.« (Adler 1990, 56) Damit redet Herder jedoch nicht einem umfassenden Irrationalismus das Wort, sondern will vielmehr die Grenzfälle der Ratio aufzeigen (wie es Adler 1990, 58 auch für dessen gesamtes Werk feststellt). Auch M. Heinz (1994, 1) plädiert dafür, dass dieses Werk die Grundlinien von Herders reifer Philosophie vorzeichnet. Streng genommen, bewegt er sich also im Dialog mit Mendelssohn ebenfalls auf einem Feld, das aus der Philosophie auszugliedern wäre. Dass Herders Plädoyer für einen »zentrifugal« (Adler 1990, 61), also vom Individuum aus verfahrenden, »der menschlichen Konstitution angemessenen Holismus« (ebd.) auch mit einem empirisch-sensualistischen Naturalismus einhergehen könnte, wird von Adler nicht in Erwägung gezogen. Es ist jedoch zu beachten, dass der radikal sinnlich bestimmte Ausgangspunkt im je eigenen Sein (dessen Gewissheit uns »angeboren« sei [Herder, Werke 1, 19]) eine starke Begründung von Normativität benötigt, um nicht in bloße Deskription zu verfallen. Herder leistet dies – zumindest in den frühen Schriften und soweit ich sehen kann – nicht.

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Fundament zurückführt54, sondern meldet – mit Hume – Zweifel an: letztlich sei die Frage nach der absoluten Grundlage jeder Erfahrung empirisch nicht beantwortbar. Er sucht diesem Problem aus dem Weg zu gehen, indem er seine Philosophie von vornherein nicht auf die metaphysische Wahrheit, sondern auf die spezifischen, dem Menschen in seinem Menschsein zugänglichen Wahrheiten hin konzipiert, oder, um es mit einem später gefundenen Schlagwort auszudrücken: durch die »Einziehung der Philosophie auf Anthropologie«.55 Aufgrund seiner beschränkten Einsichtsfähigkeit erscheinen dem Menschen einige Begriffe verworren, die in einem göttlichen Bewusstsein klar wären – aber es steht ihm keine verifizierbare Möglichkeit offen, diese Begriffe ›gottgleich‹ aufzuklären. Um diesem Defizit gerecht zu werden, zielt Herder nicht auf eine Grundlegung metaphysisch sicherer Prämissen, sondern auf eine genetische Entwicklung von Grundsätzen und Grundbegriffen aus dem Subjekt.56 In Anlehnung an die platonische Tradition spricht er in diesem Zusammenhang von einer »Auswicklung« der bereits eingeborenen Ideen, die aus Anlass der Erfahrung nicht entstehen, sondern aufgeklärt bzw. wiedererinnert werden. So platonisch dies anmuten mag, so hält Herder doch fest, dass alle Begriffe, geht ihnen keine sinnliche Erfahrung vorweg, leer und unbrauchbar sind. Seine »menschliche« Philosophie, zumindest in den 1760er Jahren, lässt die aufgrund empirischer Empfindung erst sich bildende Vernunft allein auf erfahrbaren Fakten aufruhen. Diese Vernunft ist damit keine Instanz praktischer Ideen, da sie für sich keine Geltung generieren kann. So ist auch eine normativistische Theorie menschlicher Bestimmung kaum möglich, da diese das Fundament eines sich gleichbleibenden menschlichen Wesens, relativ zu dem eine universale Bestimmung formuliert werden kann, voraussetzte. Dementsprechend notiert Herder in Anlehnung an Kants Frage in der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755): »Wie sehr die Zeit unsern Geschmack ändern könne« schlicht: »Alles.«57 – Die Zeit habe bereits das gesamte Antlitz der Erde unumkehrbar und grundlegend verändert. Ebenso wandelten sich Nationen, Sprachen und Regierungsformen und dementsprechend sei der innere wie äußere Mensch durch Geschichtlichkeit bestimmt, nicht durch eine universalistisch zu denkende Menschenvernunft. Dass damit auch das Vervollkommnungstheorem prekär wird, liegt auf der Hand. Die hier skizzierte Spannung in Herders eigener Ansicht, deren grundsätzliche Diskussion nicht das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist, soll als Kontrastfolie 54

Wobei auch dessen Position nicht so eindeutig ist; siehe v. a. die Ausführungen im IV. Buch des Essay. 55 Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann (1765), in: Herder, Werke 1, 132. 56 Vgl. viertes Kritisches Wäldchen (entst. 1769, ersch. 1846), Werke 2, 274–77 und M. Heinz 1994, 8. 57 Vgl. Suphans Nachwort, in: SWS XIV, 655.

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Kapitel V · Metaphysik als »subjektive« Theodizee

zu Mendelssohns Verteidigung seines Orakels dienen. Wie schon im Phädon wird Mendelssohn in dieser Debatte einen Schwerpunkt auf die im weiten Sinne normativische Auslegung menschlicher Entwicklung legen, derzufolge es etwas Nichtgewordenes geben muss, auf dessen Grundlage allererst das in der Entwicklung Erworbene beurteilt werden kann. Perfektibilität wäre eine leerlaufende Entwicklung, wenn sie kein rational formulierbares Ziel hätte. Dieses siedelt Mendelssohn nicht in der Geschichte an, die parallel oder nach ähnlichen Gesetzen wie die Naturgeschichte abliefe, sondern zum einen auf der Ebene einer umfassenden Bestimmtheit allen Geschehens, sei es physischer oder moralischer Natur, durch die Prinzipien der leibnizianischen Metaphysik. Zum anderen insistiert er auf Berücksichtigung des Individuums, das er als eine im Laufe ihrer Entwicklung vollständig zu sich selbst kommende Seele interpretiert. Das von Herder in den 1760er Jahren vorgestellte Modell der Wiedergeburt ist aus dieser Perspektive unnötig und unbegründbar. Dennoch war Herders Standpunkt ein weithin geteilter Ausdruck des Ungenügens an bisherigen Theorien.58 Seine Kritik am wolffschen Rationalismus59 wurde sogar in gewisser Hinsicht von Mendelssohn geteilt, der dessen mathematische Methode zwar nicht explizit angreift, jedoch für seine eigene Arbeit nicht nutzt und damit ihre Applizierbarkeit auf und Brauchbarkeit für generell alle philosophischen oder gar menschenmöglichen Bereiche in Zweifel zieht, bzw. ihnen ein ihm angemessener erscheinendes Konzept an die Seite stellt. Ebenso wie Herder, wenngleich letztlich reservierter und eher bereit, sie mit rationalistischen Konzepten zu überformen, wendet sich auch Mendelssohn den Ideen der Physiologie zu (vgl. Kap. II.2, 173–76), einer um die Jahrhundertmitte bereits starken Wissenschaft. Doch ihrer beider Übereinstimmung reicht, wenig überraschend, nicht bis zur letzten Konsequenz. So ließe sich Herders Programm mit Zammito folgendermaßen zusammenfassen: »One must investigate how much the vocation of man is determined by nature.«60 Mendelssohns Werk zeigt dahingegen, dass es nicht allein die Natur ist, sondern ihr Zusammenspiel mit intellektuellen Ideen, das das Verständnis und die Durchführung menschlicher Bestimmung erst ermöglicht. Um diesen Standpunkt zu verdeutlichen, soll im Anschluss an die Diskussion mit Herder auf einige 58 Vgl. Zammito 2002, 157 f.: »What Herder proposed to do was to access this not from the vantage of logic, which he found a hopeless and backward endeavour, but rather via physiology, drawing on Rousseau, on Reimarus, and on Krüger.« 59 Die, siehe die Ausführungen im vierten Kritischen Wäldchen, jedoch von Herder nicht absolut gesetzt wurde. Wahrhaft unphilosophisch waren ihm dagegen die »Schönschreiber«, die Wolffische Grundsätze nachbeteten, ohne selbst zu denken und über dem schönen Ausdruck den Inhalt vergäßen. Gemeint war damit nicht Mendelssohn, den Herder vielmehr mit den anderen Verfassern der Litteraturbriefe zur »Baumgartenschen Schule« rechnete (vgl. Adler 1990, 79, 85). 60 Zammito 2002, 158; Hervorhebung A.P., vgl. auch M. Heinz 1994, 49 (vs. Leibniz).

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dem Thema nahestehende und zumeist später entstandene Reflexionen zum Wesen der Seele hingewiesen werden. Herders Einreden schienen eher geeignet zu sein, den eigenen Standpunkt stärker zu konturieren, als ihn zu ändern; aber seine Hinweise sind bis 1782 spürbar. Ich werde darauf am Ende des Kapitels kurz eingehen. Dass Mendelssohn umgekehrt auch auf Herder Einfluss ausgeübt haben soll, kann im gegebenen Rahmen nicht weiter verfolgt werden; als einschlägige Werke seien hier die beiden geschichtsphilosophischen Entwürfe von 177461 und 1784, die Abhandlung vom Ursprung der Sprache (1772), sowie die Abhandlung Gott. Einige Gespräche (1787) genannt. Es muss aber schon vorab betont werden, dass Herders Aufnahme und Vermischung rationalistischer, empiristischer und ohne Zweifel auch theologischer Elemente eine eindeutige Diagnose, ob Mendelssohn irgendeinen nennenswerten Einfluss auf diese Werke ausübte, entscheidend erschwert. In der Verknüpfung dieser Theorien gewinnt der Begriff der Vervollkommnung ebenso eine völlig andere Bedeutung wie derjenige der Vernunft.62

1. Herder ›als‹ Thomas Abbt: Grundzüge einer Ansicht zur Seelenwanderung In Bezug auf den Briefwechsel zu Mendelssohns Phädon und der vorangegangenen Bestimmungsdebatte mit Abbt ließe sich Herders Perspektive als eine »Radikalisierung« beschreiben.63 Um diese adäquat zu erfassen, soll, bevor auf die Diskussion selbst einzugehen ist, ein der Debatte vorausgehendes Dokument erwähnt werden: Herders Erinnerungsschrift Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmal, an seinem Grabe errichtet (zuerst Riga 1768, zit. nach: Herder, Werke 2, 565– 608), in der sich einige Hinweise auf die Art und die Rolle der »Natur« finden, die Herder zufolge entscheidenden Einfluss auf die menschliche Entwicklung und Bestimmung hat. Darüber hinaus lässt sich mithilfe des Torsos zeigen, inwiefern Herder Thomas Abbt schätzt und sein eigenes Werk als eine Fortführung in dessen Sinne begreifen konnte.64

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Hier ist die teleologische Linie von Entwicklung strenger verneint (vgl. Werke 4, 828) und zugleich, ähnlich wie in den Briefen an Mendelssohn, die Bedeutung des Individuellen hervorgehoben. 62 Besonders deutlich wird dies in den Humanitätsbriefen. Im Brief 25 präsentiert Herder unter der Überschrift »Über den Charakter der Menschheit« seine Version einer Vervollkommnungstheorie, die sich stark von Mendelssohns Ansicht unterscheidet; siehe Werke 7, 123–31. 63 So übereinstimmend auch M. Heinz 1992, 272 und Zammito 2002, 169. 64 Darüber hinaus erfordert der Torso eine eigenständige Behandlung, da die anderen Schriften und Entwürfe, die die Grundlage zu einer Charakterisierung von Herders Denken der 1760er Jahre bieten, ausführlich in Adler 1990 und M. Heinz 1994 behandelt werden. Der Torso hingegen taucht in beiden Untersuchungen nicht, oder nur am Rande, auf.

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Zweck des Torsos war es auch, die eigene Interpretation von Abbts Werken, mit der Aura des Totengedenkens versehen, als alleingültige Lesart zu etablieren. Herder fertigte das Denkmal angeblich aus Abbts »eigenen Materialien« (Werke 2, 566); er lege also dem Leser lediglich dar, was ohnehin in Abbts Werken zu finden sei. Die Einladung an den Leser, mit Mendelssohn, aber auch Abbt im Gedächtnis den Phädon erneut zu lesen, ist dabei nicht nur ein Lob, sondern zugleich die Aufforderung zur Kritik: Denn obwohl Herder den Phädon einen Abbts Denken angemessenen Nachruf nennt, ist sein Lob auf ihn reserviert. »Lies, als hörtest du noch aus dem Grabe die Stimme des philosophischen Zweiflers, und alsdenn denke, wie wenn du seinen unsterblichen Schatten vor dir sähest.« (Werke 2, 568) Dieses zweite Nachdenken im Abbt’schen Geist könnte, so der unausgesprochene Nachsatz, infrage stellen, ob der Phädon die wirklich adäquate Antwort auf Abbts Zweifel ist. Auch seine eigene, nun folgende Re-Lektüre von Abbts Werk dient letztlich dazu, die eigenen Ansichten als legitime Nachfolge der dort geübten Skepsis zu stützen. Das Problem verfälschender Interpretation hebelt Herder dabei recht simpel aus: »Das haben die Seelen, sagt Plato, mit dem Magneten gemein, daß sie einander ihre Kraft mitteilen und sich, wie in einer fortgehenden Reihe von Wundern beseelen.« (Werke 2, 569) Später, in der Geschichtsphilosophie von 1784, nennt er dies etwas profaner das »unsichtbare Commercium der Geister und Herzen«, initiiert durch die »Buchdruckerei« (Werke 6, 13). Der »Abdruck seines [des Autors] Geistes« (Werke 2, 569), wie er in den Schriften zu finden ist, scheint sich also, dies legt zumindest die Formulierung des Torso nahe, dem (wahren) Leser wundersam ohne Schranken und Wandlungen mitzuteilen – wenn er nur ›richtig‹ liest. Ein Gelingenskriterium bietet Herder hierfür nicht; im Gegenteil, spricht er im Folgenden sogar davon, dass man das »vollenden« müsse, was große Denker begonnen hätten (Werke 2, 569) – die übliche captatio benevolentiae am Ende der Einleitung (Werke 2, 570) bietet kaum Grund für die Annahme, dass er für sich selbst diesen Weg auch in Bezug auf Abbts Werk nicht für gangbar hielt. Herder bietet im Torso eine ideelle Form der Unsterblichkeit an: das Weiterleben in den Gedanken der Nachfolgenden: »Denn das, glaube ich, ist die wahre Metempsychosis und Wanderung der Seele […], wenn uns ein Genius oder ein Sokratischer Dämon daran zu erinnern scheint, daß der Geist dieses verstorbenen Weisen uns belebe […].« (Werke 2, 569) Abbts über seine Schriften vermitteltes Denken wäre also in seinem Sinne weiterführen. Dies biete zumindest eine Möglichkeit, mit dem allzu frühen Tod eines Menschen zurechtzukommen, der für die Entwicklung der Menschheit doch so wichtig war. »Um die unsichere Unsterblichkeit mögen sich die Werke meines Abbts selbst bemühen, oder nicht bemühen: meine Schrift soll unsrer Zeit nützen« (Werke 2 570, Hervorhebung A.P.) – und damit den von Abbt begonnenen Gedankengang zu Ende führen, um ihn so wahrhaft unsterblich zu machen.

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Nutzen soll die Schrift daneben auch, indem sie auch das Wesen der Seele und die Art ihrer Erforschung deutlich umreißt. Nach dem Vorbild der Physiologie65 soll diese wie eine »körperliche Erscheinung« (Werke 2, 571) betrachtet werden, da der Geist des Menschen letztlich das sei, was das individuelle Kräfteverhältnis aus Anlage, Erziehung und Erfahrung aus ihm gemacht habe: »Eine Menschenseele ist ein Individuum im Reiche der Geister: sie empfindet nach einzelner Bildung, und denket nach der Stärke ihrer geistigen Organen.« (Werke 2, 571) Derart wird jede geistige Regung oder Tätigkeit auf ein körperliches Substrat zurückgeführt, das von der je spezifischen Erziehung (durch die Außenwelt) abhängt.66 »Durch die Erziehung haben diese eine gewisse eigne, entweder gute oder widrige Richtung bekommen, nach der Lage von Umständen, die da bildeten, oder mißbildeten. So wird also unsre Denkart geformt, zu einem ganzen Körper, in welchem die Naturkräfte gleichsam die spezifische Masse sind, welche die Erziehung der Menschen gestaltet.« (Werke 2, 571) Dies ist letztlich nicht die Entwicklung der Seele, sondern der Leibhaftigkeit des Menschen. Die konstituierenden Momente liegen in Körperlichkeit, Außenwelt und Erfahrung, nicht in geistigen Vermögen. Dies mag seinen Grund jedoch auch, so Herder, in der noch unzureichenden methodologischen Schärfe der Wissenschaft von der Seele haben. Denn noch sei die Psychologie im Gegensatz zur Physiologie zu ungenau, um den Menschen als ein Individuum darzustellen. Sie errät mehr dasjenige, was allen gemeinsam ist; das Individuelle habe sie demgegenüber noch nicht zeigen können. Mit diesem Einwand richtet sich Herder sowohl gegen die rationale als auch die empirische Psychologie. Man kann ihn auch so reformulieren: solange die empirische Psychologie nur als Hilfsmittel zur rationalen Psychologie benutzt wird, wird sie keine Aussagen über individuelle Seelenlagen und diese konstituierende Erfahrungen treffen können. Eine erstzunehmende, wirklich empirisch verfahrende Psychologie hingegen wird nicht auf allgemeine rationale Gesetze über die

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Später, in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) formulierte Herder die methodische Vorbildlichkeit der Physiologie etwas vorsichtiger, ohne sein Urteil gänzlich zurückzunehmen. Wenn die Physiologie je die Erkenntnisse der Seelenlehre würde beweisen können, so würde sie auch auf die Zergliederung des »Nervenbaus« zurückgreifen, also nervenphysiologische »Tatsachen« als Beweise psychischer Vorgänge anführen. Allerdings könnte sie dabei die Erkenntnisse des Nervenbaus auch »in Einzelne, zu kleine und stumpfe Bande zertheilen.« (Werke 1, 698) Dies ist keine umfassende Kritik an der Verwendung physiologischer Erkenntnisse in einem metaphysisch besetzten Feld, sondern stellt vielmehr die Bedeutung eines auch in einer empirisch ausgerichteten Wissenschaft wie der Physiologie zugrunde liegenden systematischen Zugriffs, der eine zweckmäßige und die Funktionen erhaltene Einteilung ermöglichte, heraus. 66 Dabei kommt der frühen Kindheit eine herausragende Rolle zu, siehe auch Werke 2, 585: Die ersten Eindrücke in der Kindheit liefern die Formen späterer Denkweisen und Charaktereigenschaften. »Stärke und Schwäche unsrer Augen ist eine Gabe der Natur; aber zu welchen Aussichten, zu welcher Nähe, zu welchem Sehwinkel wir uns gewöhnen, von welcher Seite, und so gar oft in welcher Farbe wir die Gegenstände erblicken wollen; dies kommt auf die frühe Bildung an.«

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Seele abzielen, noch von hypothetisch oder kategorisch aufgestellten Gesetzen dieser Art ausgehen, sondern vielmehr ihre Gesetzmäßigkeiten durch die Abstraktion von real ablaufenden Vorgängen reformulieren. Psychologie in diesem Sinne ist das Sammeln von Fakten, nicht das Entwickeln von Vermögenskategorien.67 Ihr Zweck ist die Erfüllung des eigentlich für die Seelenlehre geltenden Imperativs »Erkenne dich selbst«68. Nur aus dieser Perspektive wird die Zielrichtung des Torsos ganz verständlich: Herder untersucht Abbts Werk nicht, um seine Wahrheiten herauszustellen, sondern er nimmt das Werk als die Äußerung eines individuellen Geistes, um an ihm spezifische Äußerungsformen einer genialen Seele zu exemplifizieren. In ihnen könne sich auch der ihm Seelenverwandte wiedererkennen und so Lehren über sein eigenes Selbst gewinnen.69 Der allgemeinen Psychologie ist damit als notwendige Ergänzung die Betrachtung seltener, besonderer Geister, von Genies70 zur Seite zu stellen. Denn bislang sei die Selbsterkenntnis via psychologische Untersuchungen höchstens verworren und gäbe allein eine anschauende Erkenntnis.71 Wir verste67

Vgl. dazu auch Adlers Einschätzung von Herders Ästhetik: »Die Ästhetik findet Herders besondere Aufmerksamkeit deshalb, weil jegliche Reflexion von der inneren Empfindung des Seins ausgeht und alle Arten der äußeren Empfindung überhaupt die Grundlagen für die Wahrnehmung von Welt abgeben. […] Die Grundformen sinnlicher Wahrnehmung ›kennenzulernen‹ und zu ›sammeln‹, das ist sein vorläufiges Ziel. Damit bekommen Psychologie und Physiologie als empirische Wissenschaften ein neues Gewicht, und, weil Arten und Formen der Wahrnehmung ihre Geschichte haben, rücken sie nicht als überzeitlich gleichbleibende Vermögen in den Mittelpunkt des Interesses, sondern als historisch sich entwickelnde und wandelnde.« (Adler 1992, 84) 68 So auch in den Entwürfen für Baumgartens Denkmal, Herder, Werke 1, 688. 69 Das Paradigma der Einfühlung, »fühle dich in alles hinein« (Werke 4, 33), wird Herder ebenfalls in der Bückeburger Geschichtsphilosophie Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) vertreten. Damit ist nicht gemeint, dass ein spezifisches Individuum selbstmächtig sich »seine« Version der Geschichte via vermeintlicher Einfühlung (und Identifikation) entwirft, sondern dass die Geschichte durch einen menschlichen Repräsentanten menschlich verstanden wird (wobei nach wie vor der Zusammenhang zwischen Menschheit und Individuum in Herders Seelenkonzeption nicht ganz klar erscheint). Darüber hinaus wendet Herder diesen Gedanken in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1774/78) an, vgl. dazu M. Heinz 1994, 139. Insgesamt zeigt sich der Torso den Grundgedanken dieser späteren Arbeit schon sehr nah. 70 Zu beachten ist hierbei Herders Verständnis des Genies zur Zeit der Abfassung des Torso: es ist kein Mensch, der leicht und mühelos alles (mehr als) richtig macht, sondern vielmehr der Überschäumende: »Das schöpferische Vergnügen, unter seiner Feder Gedanken werden, Bilder entstehen zu sehen, paaret sich selten mit der sparsamen Genauigkeit, Bilder zu ordnen, Gedanken zu feilen. Hingeworfen liegt eines über das andere, aber das hingeworfne sind Schätze.« (Werke 2, 594) Dieses Konzept ist den Überlegungen Mendelssohns nicht unähnlich, siehe Kap. II.3, Abschnitt 2. 71 Für diese Unkenntnis ist nicht zuletzt der »dunk[le] Grund unsrer Seele« (Werke 2, 572) verantwortlich. Herder nennt diesen Terminus, ohne auf dessen Urheber Baumgarten (zumindest in Bezug auf die gegenwärtige Debatte) hinzuweisen. Dies mag darin begründet sein, dass ihm dieser so offensichtliche Hinweis unnötig erschien, aber auch, dass er sich durchaus kritisch gegenüber diesem Vorgänger verhielt. So auch im vierten Kritischen Wäldchen, verfasst 1769 (postum 1846 erschienen). Dort verwendet er diesen Terminus, um sich gerade von Baumgarten abzusetzen (vgl. Menke 1999, 599). Mit dem Grund der Seele bezeichnet er dort die vorrationale Natur des

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hen uns jedoch besser, wenn uns ein uns verwandter Gedanke, geäußert von einem Anderen, begegnet. »Selbst können wir nicht vollständig darauf antworten, wie die Gestalt unsres Antlitzes sei; wohl aber werden wir aus uns fahren, wenn uns ein Bild unser selbst, ein zweites Ich, aufstieße.« (Werke 2, 572) Dies könne derzeit der »Geschichtsschreiber« (Werke 2, 572) besser leisten als der Metaphysiker oder Psychologe72 – eben gerade weil er es mit Individuen, mit herausragenden Persönlichkeiten zu tun hat. Er muss sich dabei allerdings auf die Worte und Handlungen des zu Porträtierenden konzentrieren, und sich nicht der Abwechslung oder des rhetorischen Kontrasts wegen in der Darstellung zu ästhetischen Kniffen hinreißen lassen (Werke 2, 573). Nimmt eine neue Generation von Psychologen, an Herders Darstellung und der Historie geschult, ebenfalls das Besondere in ihre Untersuchung auf, so sei ihre Arbeit von gleichem, wenn nicht gar systematisch höherem Wert. Psychologie ist damit eine Geschichte der Entwicklung der Seele. Dies kann, das ist Herder bewusst, nur auf der Basis individueller Phänomene geschehen, für die dennoch ein Verwandtschaftsverhältnis zu anderen Seelen gilt. In der paradigmatischen Darstellung des Einzelnen vermag man auch die Bedingungen der Konstitution dieses Selbst kennenlernen und kann damit Rückschlüsse auf allgemeine Entwicklungsgesetze ziehen. Herders grundlegendes Anliegen scheint dabei immer zu sein, dass das Interesse an der Auffindung allgemeiner Gesetzlichkeiten kein Präjudiz für die Auf- und Annahme empirischer Beobachtungen sein darf und er wird nicht müde vor Verfälschungen in diesem Sinne zu warnen. Wie dieser Grenzgang praktikabel gemacht werden soll, ist aber unklar. Problematisch in Bezug auf Herders Darstellung von Abbt ist nun allerdings, dass nur ein Aspekt des Menschen in den Blick genommen wird, und der Torso nicht viel mehr als ein Teilstück einer umfassenden Charakterstudie liefern kann. Es soll nicht das menschliche, sondern das gelehrte Denken Abbts und dessen Konstituenten geschildert (vgl. Werke 2, 574), also auch nur eine intellektuelle, nicht eine psychologische Biographie entworfen werden. Vor diesem Hintergrund ist aber gerade fraglich, ob eine derartige Arbeit der Psychologie Zulieferdienste leistet, oder nicht vielmehr als Metaphysikkritik o. ä. (je nachdem, wie Herder Abbts Werk interpretiert) firmieren sollte. Herder zufolge spiegelt die gelehrte gerade auch die menschliche Seite des Beschriebenen wider, ohne das Manko menschlicher Betrachtungen zu besitzen, nämlich den Beschreibenden (den beobachtenden Psychologen) für den Beschriebenen (seinen ›Untersuchungsgegenstand‹) einzunehmen und damit zur beschönigenMenschen, die sich allein durch ihr Bewusstsein von Identität auszeichnet. Der Anklang an den »Seelenkeim«, der in der Debatte mit Mendelssohn bezüglich menschlicher Individualität eine Rolle spielt, wird im Folgenden diskutiert. 72 Damit wird Herders anti-wolffianische Aufwertung der cognitio historica (in Bezug auf das aus der Vergangenheit Überlieferte) deutlich, vgl. damit Herder: Ueber Christian Wolffs Schriften (1766), SWS 22, 13 f. bzw. Werke Proß, 10 ff.; vgl. M. Heinz 1994, 22 f.

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den Darstellung zu verführen. Die Werkbetrachtung eines Anderen sei also die beste Methode, sich diesem Anderen gegenüber neutral zu verhalten, und dennoch seine Interessen und sein Wesen zu erkennen. Die Widerspiegelung des Menschen in seinen Werken soll allerdings auch nicht eine bruchlose Applizierung der Ideen des betreffenden Menschen auf seine Lebensführung darstellen. Herder werde demnach Abbt nicht zu den Helden des Vaterlandes zählen, weil er den Tod fürs Vaterland geschrieben hat, sondern das Interesse Abbts an dieser Thematik als ein Teilstück einer gesamten Lebensbetrachtung nehmen. Dementsprechend liefert der Torso keine Werkexegese, ja, insgesamt ist aus ihm enttäuschend wenig über Abbts Denken zu entnehmen. Vielmehr werden die Abbts Charakter und Schreibart konstituierenden Momente, wie Abbts Vorliebe für die Antike, bestimmte Autoren und einen damit verbundenen Stil hervorgehoben. Damit stellt diese intellektuelle Biographie tatsächlich nicht die von Abbt geäußerten theoretischen Überlegungen, sondern die Genese, die zur Affinität zu gerade diesen Überlegungen führte, in den Fokus der Betrachtung. Welche konkreten Gedanken dieser Stil formte, ist Herders Ausführungen kaum zu entnehmen; vielmehr beschwören sie – oftmals redundant – einzelne Aspekte dieser intellektuellen Biographie und ihre individuelle Zusammenführung. Allein durch seinen Stil, dessen Charakterisierung in Herders Torso einen langen einleitenden Teil einnimmt, ist Abbt »ein Philosoph des Menschen, des Bürgers, des gemeinen Mannes, nicht ein Gelehrter: er war durch die Geschichte, wie unter Taten, gebildet: in Tacitus Kürze verliebet, die er aber mit französischen Wendungen, und Brittischen Bildern mischte: zur Theologie erzogen, von welcher er auch etwas Biblische Sprache behielt; und übrigens nicht für den strengen Systematischen Vortrag.« (Werke 2, 604) Sein Stil geht vielmehr auf sinnliche Aspekte. Herders Beschreibung liest sich wie aus dem Handbuch zur empirischen Psychologie, oder zumindest aus einem Baumgartenschen Kompendium für eine »vollkommen sinnliche Rede« entnommen: »Sinnliche Aufmerksamkeit heftet sich auf jeden Punkt des Gegenstandes, fliegt von Seite zu Seite, und auf jeden wirft sie Strahlen: seine Idee wird lebhaft, gehäuft, helle, und seine Rede schimmert. Das Licht ist nicht scharf, nicht strenge, aber ausgebreitet[73], immer im neuen Zustrome. Er wird faßlich, durch die Menge seiner Merkmale: er kläret auf, wenn er auch nicht bewiese: er stellt ins Licht, wenn er auch nicht entwickelte: er macht sicher, gewiß, stark: wenn er auch nicht überzeugte, so überredet er bis zum Augenschein.«74 (Werke 2, 605) Wie erwähnt, führen diese Beobachtungen, oder Interpretationen jedoch nicht auf ein umfassendes Bild, weder von Abbts Werk, noch seines ganzen Charakters. 73

Im Sinne von Baumgartens Konzept der extensiven Klarheit. Dies stellt eine indirekte Absetzung gegen die über Kant vermittelte Passage aus Baumgartens Metaphysica (§ 531) zur Persuasio dar (vgl. AA XXIV, 143 f., sowie später KrV A 820 ff.): das Fürwahrhalten, also das bloße Glauben, von Kant wie Baumgarten für eine strenge Wissenschaft zurückgewiesen, beschreibt Herder hier klar affirmativ. 74

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Der Torso erschöpft sich vielmehr in beschwörenden Wendungen, die das anvisierte Ergebnis: eine Erfassung des Menschen, des Genies Abbt, nicht erreichen. Im gegebenen Kontext vor allem relevant, sind gerade Gedanken über den durchdringenden Zweifel, der Abbts Ausführungen gegen Mendelssohn prägt, in Herders Darstellung nicht zu finden. Vielmehr stellt der Torso allein eine erste Anwendung von dessen Verständnis einer sinnvollen Psychologie dar: der Mensch ist das, was die Einflüsse aus ihm machten. Ob dies allein den Modus der Kombination einzelner EinflussElemente klären kann, bleibt fraglich. Ebenso formuliert Herder hier ein Modell der ideellen Unsterblichkeit, auf das er allerdings im Briefwechsel mit Mendelssohn nicht zurückkommt. Vielmehr wird er den ersten Aspekt – der Bildung der Person durch äußere Einflüsse –, mit Gedanken zur Leib-Seele-Problematik verknüpft, seiner Argumentation gegen eine unendliche Vervollkommnung einverleiben. In der Allgemeinen deutschen Bibliothek erschien 1770, also kurz nach dem Briefwechsel, eine Rezension des Torsos, die Mendelssohn zugeschrieben wird. Ebenso ist das Werk in Mendelssohns Bücherverzeichnis aufgeführt.75 Der Rezensent bezeichnet die Schrift als »ein noch seltsameres Meteoron« (JubA V/2, 141), als es Abbt selbst gewesen sei. Er kritisiert allerdings die genialische Schreibweise, die versuche, ihre Vorlage zu übertreffen und dies in einigen Punkten nur mit der Überzeichnung des Gegenstands erkauft. Daneben vermerkt er ebenfalls das Problem, das sich aus der Lektüre einer intellektuellen Biographie ergibt: Rückschlüsse auf den Menschen sind unter dieser Voraussetzung schwerlich beweisbar (JubA V/2, 142). Allerdings ergeht sich der Rezensent darüber hinaus lediglich in Stilanalysen und kritisiert Herders Metaphern, ohne sich darüber hinaus grundlegend zu der im Torso angelegten Überlegung der Seelenerkenntnis und Unsterblichkeit zu äußern. Zum Ende seiner Ausführungen schließt er mit der Empfehlung, die »Alten, die besten Engländer, die besten Franzosen, und von den unsrigen, Spalding und Mendelssohn« (JubA V/2, 145) zu lesen, als habe er die Kritik des Torso gerade an den beiden Letztgenannten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Dass Mendelssohn sich selbst als leuchtendes Beispiel deutscher Dichtkunst anpreist, ist einigermaßen unwahrscheinlich und könnte höchstens dem Eingriff des Herausgebers Nicolai zugeschrieben werden. Darüber hinaus jedoch stimmt bezüglich seiner Autorschaft skeptisch, dass er die Schrift gerade im Briefwechsel mit Herder völlig unerwähnt lässt und auch in der Rezension selbst mit keinem Wort auf die im Briefwechsel angesprochenen Problemfelder eingeht. Vielleicht jedoch lässt sich auch die in Mendelssohns Briefen bemerkbare leichte Irritation über Herders in den Briefen 75

Siehe Bücherverzeichnis 264/16. Darüber hinaus besaß Mendelssohn die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von 1784 (irrtümlich mit »86« angegeben, siehe Bücherverzeichnis 296/18) und die Kritischen Wälder 1–3 von 1769 (ebd. 151/26).

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vertretenen Standpunkt damit erklären, dass er von dem Autor des Torsos andere Einlassungen erwartet hätte (was aber wiederum nicht zwingend die Vermutung stützt, dass Mendelssohn die Rezension schrieb). Doch diese Überlegungen müssen aufgrund mangelnder weiterer Dokumente Spekulation bleiben; in erster Linie sollte der Rekurs auf die im Torso vorgestellten Ansichten als ein Beispiel von Herders Abbt-Rezeption dienen, sowie um Herders Standpunkt in den späten 1760er Jahren eingehender zu beleuchten und zu zeigen, dass bereits parallel zur Diskussion über Palingenesie divergierende Konzepte angedacht waren.

2. Die Debatte zwischen Herder und Mendelssohn zur Unsterblichkeit Herders erste Einrede: Vervollkommnung des Seelenkeims in Lebensaltern Kommen wir nun auf den Briefwechsel zwischen Mendelssohn und Herder bezüglich der Unsterblichkeitslehre des Phädon zurück. Bevor Herder sich an Mendelssohn wendet, formuliert er in einem Brief an Hamann vom 22. November 1768 bereits einige Vorüberlegungen, ein »viertes Gespräch« zum Phädon zu schreiben, das er mit »Zweifel« betiteln wolle (Briefe I, 114). Auch Nicolai kündigt er ein viertes »socratische[s] gespräch« an, das er als eine Rezension für die AdB verfassen könne (am 27. Dezember 1768; Briefe I, 127).76 Im April 1769 erreicht Mendelssohn dann der erste Brief Herders. Auch in diesem identifiziert sich Herder implizit mit Abbt, indem er seine Stimme als die des »Zweifels« bezeichnet (JubA XII/1, 174). Es ginge ihm, so betont er, um eine »Sache der Menschheit« (ebd.). Sein wichtigster Kritikpunkt: Zur Erfüllung menschlicher Bestimmung und zu seiner Vervollkommnung dürfe der Mensch nicht allein seine Seelenkräfte ausbilden und üben, wie dies Mendelssohn in seinem Orakel und vor allem im Phädon zu sehr betont habe. Vielmehr sind die Anforderungen des Menschen als Natur- und Sinnenwesen zu berücksichtigen. Mehr noch, wertet Herder sie als für den Menschen konstitutiv. Indem Mendelssohn wie auch Spalding77 allein die Vervollkommnung der Seele propagieren, offenbaren sie eine tief sitzende Doppeldeutigkeit ihres Vollkommenheitsbegriffs. Denn bedeutete Vollkommenheit »hienieden« noch die Harmonisierung zwischen sinnlichen und verständigen Aspekten, so werde das Dasein der Seele in einem eigentlich höherwertigen Stadium schließlich als absolut un76

Siehe Herder, Briefe Bd. 1, 273. Herders Vorarbeiten sind abgedruckt in SWS 32, 200 f. Herder bezieht sich hier laut Arnold 2001, 95 auf Spaldings Predigt: »Über den Zustand des zukünftigen Lebens als eine eigentliche Folge des gegenwärtigen«, in: Predigten von Johann Joachim Spalding, Oberkonsistorialrat und Probst in Berlin, 2. Ausgabe, Berlin und Stralsund 1768, 331–65, die Mendelssohn zum Zeitpunkt des Briefwechsels nicht bekannt war. Es genügte ohnehin, auf Spaldings Bestimmung des Menschen zurückzugreifen. 77

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körperlich oder unsinnlich betrachtet – aber dennoch als vollkommener bezeichnet. Streng genommen ist aber diese höchste Stufe der Vollkommenheit, die allein die menschliche Seele berücksichtigt, nicht mit dem im erstgenannten Sinne verwendeten Vervollkommnungsbegriff kompatibel. Gemessen an diesem, der auf die Harmonisierung zwischen leiblichen und seelischen Bedürfnissen zielt, ist eine angeblich vollkommenere, vom Körper unabhängige Seele sogar, so polemisiert Herder, »ein Monstrum« (JubA XII/1, 175). Dagegen hält er – in seinen Augen konsistenter – das Postulat des grundsätzlich gemischten Wesens des Menschen aufrecht. Die Grundlagen seiner Philosophie sollen eben nicht in einer Metaphysik des Möglichen bzw. Denkbaren baumgartenscher Provenienz, sondern in einer fundierten Kenntnis der Natur und Genese des Menschen bestehen.78 In der Argumentation des Briefes spitzt er dies zu: Rationale Abstracta, also von sinnlichen Daten »abgezogene Begriffe« sind lediglich Verzierungen. Eine von »sinnlichen Begriffen«79 befreite Philosophie ist für den Menschen leer, da sie auf die einzige, für ihn überhaupt verständliche Möglichkeit von Bedeutung verzichtet. Ohne sinnliches Substrat, ohne korrespondierende Erfahrung sind sie nicht wahrheitsfähig, ergo eine gänzlich unsinnlich gedachte Seele für menschliches Verständnis gar nicht erfassbar. Menschliches Denken und Erkennen ist aber gerade der Ausgangspunkt einer Untersuchung über die Bestimmung des Menschen, die dementsprechend nicht ohne Sinnlichkeit gedacht werden kann. Der Körper als Lieferant der Sinneseindrücke ist nicht nur ein Phänomen der Seele, sondern »zugleich ihr notwendiges Organon, mittelst dessen sich allein die Vorstellungskraft der Seele realisieren kann« (M. Heinz 1992, 276). Damit ist die Sinnlichkeit entscheidend aufgewertet: denn es ist ihre Vervollkommnung, die als ein Zweck des Menschen verstanden werden muss, der damit als nur diesseitig erfüllbar vorgestellt wird. Dass Herder die Vervollkommnungslehre nicht gänzlich abstreitet, zeigt eine Passage aus dem vierten Kritischen Wäldchen: »Noch empfindet der zum Säuglinge gewordene Embryon alles in sich; in ihm liegt alles, was er auch außer sich fühlet. – Bei jeder Sensation wird er, wie aus einem tiefen Traume geweckt, um ihn, wie durch einen gewaltsamen Stoß an eine Idee lebhafter zu erinnern, die ihm seine Lage im Weltall jetzt veranlaßet. So entwickeln sich seine Kräfte durch ein Leiden von außen; die innere Thätigkeit des Entwickelns aber ist sein Zweck, sein inneres dunkels Vergnügen, und eine beständige Vervollkommnung seiner selbst.« (Werke 2, 274, Hervorhebung A.P.) 78

Vgl. Adler 1990, 73 f. Recht originell polemisiert Herder gegen die auf den Prämissen der Metaphysica aufruhende Aesthetica von Baumgarten als »unphilosophisch: da sie alle philosophischen Begriffe der Aesthetik, die sie entwickeln soll, der Metaphysik voraussetzt, sie ihr nachbetet, und eine Menge leerer, falscher, zu feiner Folgerungen herauszieht; bei den Grundbegriffen verschluckt sie Kamele, zuletzt fängt sie Mücken […].« (Herder, Werke 1, 673. 79 In seinem Versuch über das Sein spricht Herder gar von »allersinnlichsten Begriffen« (vgl. Herder, Werke 1, 12), was M. Heinz 1994, 9 mit »Vorstellungen« übersetzt.

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Vielleicht ist es ein Anzeichen seiner Suche nach einer überzeugenden systematischen Grundausrichtung, dass diese Passage kurz vor (oder gar während) der Bestimmungsdebatte mit Mendelssohn entstand, er aber diesem gegenüber eine gänzlich andere Position einnimmt und jeglichen teleologischen Aspekt menschlicher Entwicklung abstreitet.80 Sicher scheint aber, dass sein Verständnis von Vervollkommnung sich auch in der zitierten Passage von demjenigen Mendelssohns unterscheidet. So ist die Seele zwar in einer ständigen Entwicklung begriffen; doch Streitpunkt bleibt, was die Natur und das Ziel dieser Entwicklung darstellt. Neben der Betonung der sinnlichen Diesseitigkeit offenbart Herders Brief auch Spuren seiner Auseinandersetzung mit platonischen, oder vielleicht gar leibnizianischen Gedanken. So wird die Art der Ausbildung von Sinnlichkeit in leibnizianischen Termini als eine Entwicklung bereits in der Seele eingeborener Anlagen beschrieben. Marion Heinz (1994, 44 ff.) hat darauf hingewiesen, dass Mendelssohns Preisschrift Über die Evidenz an diesem Aspekt von Herders Ansicht der 1760er Jahre nicht unschuldig ist. Die Aufhellung bereits seit der Geburt in der Seele angelegter dunkler Vorstellungen von ihrer Stellung im Weltganzen erwähnt Mendelssohn dort mit Bezugnahme auf Platons Menon, um damit die analytische Methode der Metaphysik zu begründen (vgl. Kap. III.1, 261 passim). Die Seele wird durch sinnliche Empfindungen lediglich veranlasst, deutliche Ideen des dunkel Angelegten zu entwickeln. Letztlich ist die klar und deutlich empfindende Seele der klare und deutliche Ausdruck dieser dunkel bewussten Anlage. Den Aspekt der Entwicklung als einer Aufhellung spricht Herder mit seiner Argumentation nun ebenfalls an, um dies sogleich wieder zurückzunehmen. Gemäß seinen Überlegungen aus dem Versuch über das Sein und auch des Manuskripts »Plato sagt…«81 liegt der Grund dieser dunklen Empfindungen eben nicht in einer leibnizianisch verstandenen, ›schon immer‹ in sich vollständigen und vollkommenen Monade, die lediglich den Grad der Perzeption steigert, sondern in dem Empfinden vom Sein – oder auch: vom Leben – der Seele. Dieses Faktum ist rational unhintergehbar und deswegen fundamental von der leibnizianischen Auffassung unterschieden. Deshalb ist das im Brief an Mendelssohn vertretene Diktum Herders: »ich werde, was ich bin« (JubA XII/1, 176), das bereits aus dem Torso in abgewandelter Form bekannt ist, nicht leibnizianisch zu verstehen, sondern drückt den genetischen Aspekt seiner, 80

Unger 1922, 9 spricht von einer »überraschenden Verneinung des Entwicklungsgedankens«. Es scheint, dass Herder dies zur besseren Profilierung gegen Mendelssohns Position unternahm. 81 Vorab sei bemerkt, dass das dort vertretene, von der Position im Briefwechsel abweichende Individualitätskonzept hier nicht weiter thematisiert werden kann. Es ist im Einzelnen dargestellt bei M. Heinz 1994, 66–71. Der wichtigste, sich schon in diesem Manuskript manifestierende Unterschied zu Leibniz: gemäß Herders Auffassung erwirbt sich die Seele erst Individualität durch die sinnlichen Eindrücke; der Gedanke des Aus-wickelns wird hier also kaum gestützt (vgl. M. Heinz 1994, 68).

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Herders, Anthropologie aus. Die Psyche eines Menschen wie z. B. diejenige Abbts wird zu dem, was sie ist, indem sie sich einer spezifischen Mischung äußerer Einflüsse gemäß entfaltet. Als notwendige Konstitutionsbedingungen müssen die Sinne ebenfalls für die Wesensbestimmungen der Seele von Bedeutung sein; sie vermitteln zwischen dem bloßen, nackten Sein und der Welt und bilden zuerst das, was man Seele nennt. Nach dem physischen Tod ist der Verlust der Sinne zugleich ein Verlust aller über ihr bloßes Sein hinausgehenden Modifikationen; doch sie werde sich nach einem Tod wieder einen Körper bilden und sich neu entwickeln ad infinitum. Ist diese Entwicklung Selbstzweck, stellt sich die Frage nach einer Konservierung einmal erreichter Tätigkeiten bzw. ›Vollkommenheiten‹, so zumindest Herder, nicht. Damit wendet er sich auch gegen Mendelssohns Begriff menschlicher Entwicklung. Wenn tatsächlich der Tod aus dem Menschen ein rein geistiges Wesen mache, so sei dies die Vernichtung des vermischten Wesens Mensch und die Neuerschaffung eines rein geistigen, über dessen genauere Natur wir nichts sagen können. Eine solche Ansicht durchbricht die seiner Auffassung nach unverzichtbare Verbindung zwischen sinnlicher Erfahrung und menschlicher Erkenntnis, ohne die eine Erklärung menschlicher Unsterblichkeit außerhalb der Sinnlichkeit unmöglich ist. Im Briefwechsel nutzt Herder die Metapher der Lebensalter82, um diesen Zusammenhang und eine damit verbundene, allein mögliche Art der Entwicklung zu skizzieren und zugleich die Notwendigkeit einer Wiedergeburt in Gestalt eines Neubeginns zu betonen: »… allein jede Kraft entwikelt sich nur bis zu einer Stuffe u. macht einer andern Plaz. […] Diese Ausbildung u. Entwiklung auf dieses Leben, sie ist Zweck, sie ist Bestimmung; aber das ein unrechter Gesichtspunkt, zu leben, damit man die Welt vollkomner verlaße, als man sie betrat.« (JubA XII/1, 177) Zum einen würde man in dieser Welt nur Fähigkeiten für diese Welt erwerben, die uns in einem möglichen Jenseits gar nichts nützen. Zum anderen könne Mendelssohn nicht ernsthaft wünschen, dass wir an genau der Stelle weiterlebten, an der unser diesseitiges Leben endete: »Da stirbt keine Herrlichkeit der Schöpfung. Was wäre 82

Z. B. JubA XII/1, 177 ff., ähnlich auch im Journal meiner Reise im Jahr 1769, Werke 9.2, 113 ff., in dem auch der Ausdruck der »jungen Greise, greisen Jünglinge« (116) fällt. Adler 1990, 170 f. nennt als Vorlage für die auch in der Bückeburger Geschichtsphilosophie von 1774 verwendete Lebensalteranalogie (vgl. Werke 4, 41, 81) Herders »Gegner«, nicht dessen eigene frühe Schriften. Es ist allerdings erstaunlich, dass Herder die Lebensalteranalogie zuerst – gegen Mendelssohn – in polemischer Hinsicht verwendet, um sie später in die eigene Philosophie zu integrieren. »Als Instrument zur Destruktion der Gegenpositionen ist die Analogie indes geeignet. Als Grundlage oder metaphorisches Instrument zum positiven Entwurf einer eigenen Geschichtsphilosophie ist die Lebensalteranalogie untauglich. Vor allem widerspricht sie der zentralen Annahme der Bückeburger Schrift, die Herder so formuliert: ›Das Menschliche Gefäß ist einmal keiner Vollkommenheit fähig: muß immer verlassen, indem es weiter rückt.‹ (Herder, Werke 4, 29) Dieses ›Gefäß‹, der Körper, ist aber eben das, was die Geschichte erst zur menschlichen Geschichte macht.« (Adler 1990, 171)

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es für eine mühselige Herrlichkeit, unsere hier so einseitig vollkomnen Fertigkeiten in einen andern Zustand mitzunehmen? Greise Kinder, kindische Greise!« (JubA XII/1, 177) Vielmehr würden die Seelen die Ausbildung der Fähigkeiten wieder von vorn beginnen; der Genuss dieser Ausbildung ist Selbstzweck, nicht Vorstufe zu einer postmortalen Fortentwicklung. Daneben betont Herder ein Ausschlussverhältnis der Lebensstufen. Wie die beobachtbare, natürliche Entwicklung zeigt, bringt in der Abfolge der Stufen ein Zuwachs an Fähigkeiten auf der einen Seite einen Verlust an Kraft auf der anderen Seite mit sich.83 Jeder Wechsel zu einer höheren Entwicklungsstufe hat also seine Vorform zugleich ausgeschlossen – jede Kraft, etwas Neues zu erschaffen bzw. zu erreichen, negiert zugleich die alte Stufe oder Daseinsform.84 Die Kraft dieser Veränderung und Entwicklung ist immer weltimmanent und dient dazu, den Genuss des diesseitigen Lebens zu ermöglichen. Darüber hinaus kann sie nicht führen, sondern leitet immer wieder auf einen Anfangspunkt zurück, von dem aus sich die Entwicklung erneut entspinnt. Eine solche Stufenfolge der Entwicklung konstituiert sich über den Wechsel der »Lebensalter«, nicht aber durch stetige – und prinzipiell unendliche – Steigerung, wie Mendelssohn dies annimmt. Zugleich schließt das Bild des Kreislaufs in den Entwicklungen eines Wesens den Übergang in eine qualitativ andere Kategorie aus. Der Mensch bleibt, egal auf welcher Stufe der Lebensalter er sich befindet, immer Mensch. Das Verständnis des Individuums85 ist damit statisch: denn, so Herder, eine feststehende Ordnung würde »verrückt«, wenn der Mensch sich zum 83 Dagegen Mendelssohn schon in den Zusätzen zur zweiten Auflage des Phädon von 1768: »Ueberhaupt sind die entgegengesetzten Bestimmungen, die durch natürliche Veränderungen an einer Sache möglich sind, alle von der Art, daß zwischen beiden äussersten auch ein Mittel statt findet. Im Grunde sind sie nur durch das Mehr oder Weniger von einander unterschieden. Verändert gewisse Theile in ihrer Lage, bringet diese näher zusammen, jene weiter von einander; so wird das Schöne häßlich, das Lange kurz, u. s. w. Verdunkelt diese Begriffe, und heitert jene auf, schwächet diese Begierden, stärket jene Neigungen, so habet ihr die Einsichten und den Charakter eines Menschen verändert. Alles dieses kann durch einen allmähligen Uebergang, ohne die geringste Zernichtung geschehen, und solche Veränderungen sind der Natur allerdings möglich. Aber zwo entgegengesetzte Bestimmungen, zwischen welches es kein Mittel giebt, können niemals natürlicher Weise auf einander folgen, und ich kenne kein Gesetz der Bewegung, das diesem Satz zuwider seyn sollte.« (JubA III/1, 135; mit Verweis auf die Werke des »Paters [Roger bzw. Rugjer Josip] Boscovich«: »Abhand. de lege continui« (De continuitatis lege, Rom 1754) und »Princ. phil. nat.« (Philosophiae naturalis theoria redacta ad unicam legem virium in natura existentium, Wien 1758 und 1759; erw. und verb. Neuauflage: Theoria philosophiae naturalis, Venedig 1763). 84 Vgl. seine Fragmente einer Abhandlung über die Ode (Von der Verschiedenheit der Odengegenstände) (um 1765 entstanden): »Je mehr sich die Gegenstände erweitern, die menschlichen Geisteskräfte sich entwickeln, desto mehr ersterben die Fähigkeiten der sinnlichen Thierseele.« (Werke 1, 85) 85 Dies mag aus der Perspektive der Geschichte des Menschengeschlechts anders aussehen, wie dies M. Heinz 1994, 98 in Anlehnung an Heinz Heimsoeth: Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters. Darmstadt 51965, 194 f. betont. In dieser Zeit formuliert Herder zugleich das dynamische Bild ewiger geschichtlicher Entwicklung: Natur wie

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Engel wandeln könnte (vgl. JubA XII/1, 178). Dynamisch zu verstehen ist lediglich der Wandel zum Immergleichen: jede Entwicklung erfordert eine Vernichtung bzw. Umwandlung bereits vorhandener Fähigkeiten bzw. die Umsetzung und den Verbrauch eines Potentials. Doch über die sinnliche Umsetzung des Potentials kommt der Mensch nicht hinaus; seine Unsterblichkeit kann nicht unsinnlicher Natur sein. Noch im Torso hatte Herder den Ausweg der Unsterblichkeit individueller Ideen geboten, die sich über Einfühlung und Überlieferung auf andere, verwandte Geister übertragen könnten. Diese Aneignung der Ideen Anderer (oder: Verstorbener) als Form der Unsterblichkeit wird hier nicht erwähnt. Jedoch ist ohnehin fraglich, ob Mendelssohn eine solche Antwort akzeptiert hätte. Später, in der Preisschrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1774/78) weist Herder darüber hinaus Spekulationen über Unsterblichkeit a limine zurück: die Seele als »Urgrund und Summe unsrer Gedanken, Empfindungen und Kräfte« (Werke 4, 393) kann nicht auf etwas jenseits ihrer selbst Liegendes verweisen. Zusammengefasst gesagt, ist Herders Standpunkt streng weltimmanent: »Umzirkter, eingeschränkter Genuß innerhalb der Grenzen seines Wesens: Gebrauch aller seiner Kräfte und Anlagen: das ist unsre Bestimmung und Glück! da sind wir alle gleich! da haben wir uns alle wenig vorzuwerfen (ich rede Metaphysisch) was drüber ist, das ist – vom Uebel; vielleicht Gott und der Welt, unserm Wesen u. der Analogie aller Dinge zuwider.« (JubA XII/1, 179) Der Vervollkommnungsprozess ist damit keineswegs vollständig negiert; er wird jedoch von einem linearen Prozess individuellen Aufstiegs, wie Mendelssohn ihn vertritt, in einen Zirkel der Lebensalter umformuliert, der dieselben Stufen ad infinitum umkreist.86

Herders zweite Einrede: Die Natur des Vergnügens Damit ist der Weltimmanenz ein Aspekt hinzugekommen: das Sein, das Herder schon in früheren Schriften umkreist hatte, steht als das bedingende Moment vor der jeweiligen, extern bestimmten Entwicklung. Jeder Status hat damit, vermittelt

Geschichte sind progressiv verlaufend und sich ändernd. Der statische Charakter kommt dagegen den Individuen zu, die immer dasselbe Lebensprinzip realisieren. 86 Den Gedanken historischer Entwicklungslinien, wie sie Herder in Auseinandersetzung mit den Schriften Leibniz’ und Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) entwickelt, erwähnt er im Briefwechsel nicht; Mendelssohn konnte ihn auch nicht unterstellen. Dies mag auch erklären, warum er in der Folgezeit nicht sonderlich begierig auf Herders Geschichtsphilosophie ist: So konstatiert er in einem Brief an Nicolai vom 3. Mai 1774, in dem er um Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit fragt, er sei »neugierig« darauf, sie »zu lesen, wiewohl ich mir nicht viel davon verspreche« (JubA XII/2, 43 f.). Anscheinend erwartete er keine nennenswerte Übereinstimmung mehr.

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über das Modell der immer gleich bleibenden, lediglich in andere Phänomene umgewandelte Potentiale, seinen Eigenwert als eines jeweils bestimmten, mit Genuss erfahrenen Seins. Vollkommenheit ist demnach auch kein Begriff, der in Herders Entwicklungslehre eine herausragende Rolle spielte. In der Diskussion mit Mendelssohn liegt der eigentliche Streitpunkt vielmehr auf der Bewertung des Verhältnisses von Kraft, Streben und Lust, das Mendelssohn mit dem Begriff der Vervollkommnung im Sinne einer aufstrebenden Linie, Herder als Zirkelbewegung reformuliert. Für Mendelssohn ist, da er ein Stufenmodell der Heraufentwicklung vertritt, die Frage nach der weiteren Entwicklung nach dem Tode wichtig; für Herder taucht diese Frage gar nicht auf – eine Wiedergeburt ist ebenso vollkommen. Allerdings wird damit die Stellung des Individuums, über das mit Herders Grundannahmen nur spekuliert werden kann, prekär. Denn die Wiedergeburt als eine Rückkehr der Seele auf die erste Lebensstufe bedeutet auch den Verlust dessen, was die einzelne Seele an spezifischeren Eigenschaften ausmachte. Eine wiedergeborene Seele ist zwar wiederum ein Individuum; jedoch eines, das sich erst noch bilden muss – und in dem keine Spuren früherer Individualität vorhanden sind. Davon auszugehen, dass alle formenden Einflüsse der Umwelt wiederum dieselben wären, ist zumindest gewagt. Letztlich erscheint das Beharren der reinen Seelensubstanz hier vielmehr als das Beharren des bloßen Lebens, in Abwandlung der »Lebensalter« und des je »gebauten« Körpers. Oder, anders formuliert, ist Herders Philosophie des Individuums – denn das es bei ihm eine unhintergehbare Größe darstellt, sei unbestritten – allein diesseitig orientiert. Die tatsächliche Entwicklung des »Seelenkeims« bleibt dabei unklar. Mit Herders Ausführungen im hier diskutierten Brief stimmt auch die Analyse der ästhetischen Grundkraft der Seele, wie er sie im vierten Stück seiner Kritischen Wäldchen entwickelt, überein. Dieses Werk konnte Mendelssohn nicht kennen, da es, zwar um 1769 verfasst, erst 1846 postum erschien; dennoch liefert es zusätzliche Reflexionen zu Herders Idee des »Lebens«. Laut exaktem Titel stellt dieses Werk eine (vernichtende) Kritik an Friedrich Just[us] Riedels Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Ein Auszug aus den Werken verschiedener Schriftsteller (1767) dar.87 Allgemeiner gesprochen entwickelt Herder in ihm in Auseinandersetzung mit gängigen Geschmacks- und Schönheitskonzepten eigene Ansätze einer Ästhetik ›von unten‹, also auf empirisch-induktivem Wege. Er geht im Gegensatz zu Baumgarten und auch Mendelssohn88 nicht davon aus, dass der Geschmack eine klar umrissene 87

Zu Riedels Anmerkungen über das Publikum verfasste auch Mendelssohn abschlägige Notizen; die Theorie war im sicherlich ebenfalls bekannt. Vgl. JubA III/1, 285–89 (siehe Kap. II.3, 226 f., FN 198). 88 Seine Hauptgrundsätze erwähnt Herder hier explizit als Gegenbeispiel, siehe Werke 2, 393. Die Abwehr einer deduktiven Methode mag sich dabei auch Herders Auseinandersetzung mit Mendelssohns und Kants Schriften zur Evidenz verdanken; siehe Proß 1987, 848 m.w.Vw.

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und gerichtete Grundkraft der Seele sei, sondern weist auf die bestimmende Kraft der individuellen Entwicklung der Seele zu einem Geschmack hin.89 Dieser ist demnach zwar eine Grundäußerung der Seele, allerdings in seiner genauen Ausgestaltung nicht vorgegeben, sondern äußeren Einflüssen gegenüber offen. In ihm äußert die Seele eine bestimmte Strebenstendenz, die sie in einer vorrationalen Phase ihrer Entwicklung erwirbt. Die Konstituenten des Geschmacks, des ästhetischen Vermögens bzw. des Vermögens, ästhetisch zu urteilen, liegen in ihrem »dunklen Grund«, der sich aus den sinnlich empfangenen Eindrücken speist (vgl. Werke 2, 273). Diese bilden das Grundgerüst menschlicher Aktivität, den »dunklen Mechanismus der Seele« (Menke 1999, 600), der allein durch das bloß dunkle Bewusstsein der eigenen Identität zusammengehalten wird. Diese Fähigkeit, Eindrücke mit dem Bewusstsein zu begleiten, dass es die eigenen sind, ist sowohl aus Mendelssohns Argumentation im Phädon, als auch – prominenter – durch Lockes Begriff der »reflection« (Essay II, 1 § 4) bekannt. Jedoch ist es nach Herders Auffassung – und dies unterscheidet sie fundamental von ihnen – zum einen relativ zu den tatsächlichen Erfahrungen des Individuums und zum anderen in seiner Wurzel nicht mehr hintergehbar; dieses Sein der Seele ist ein Faktum des Lebens. Bezogen auf ein Seelenmodell, wie es bei 89

In gewissem Sinne hält er an dieser Grundeinsicht auch in späteren Schriften, wie bspw. in Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume von 1778 fest. In einem Brief an Lavater vom Juli 1779 formuliert er dies folgendermaßen: »Meine Hauptabsicht war dabei [beim Verfassen dieses Werks] mit, zu zeigen, daß von Menschengestalt und Geistesform in derselben sich Alles herschreibe, was wir von Schönheit unter Mond und Sonne wißen.« (Herder, Briefe IV, 97) Die Abhängigkeit ästhetischer Konzepte von ihrer Genese im Laufe der (sinnlichen) Entwicklung ist auf andere Bereiche durchaus übertragbar. Auch die der Schrift zugrunde liegende These von der unmittelbarsten und damit authentischsten Welterfahrung durch den Tastsinn zeigt das Gewicht, das Herder den in der Schulphilosophie als dunkel (ab)qualifizierten Empfindungen beimaß. Den dunkelsten Sinn wertet er eben nicht ab, sondern erklärt ihn zum eigentlichen Instrument der Entwicklung. Der Tastsinn erfasst am stärksten rein individuelle Bedeutungen; er führt das Besondere einer Sache, nicht ihre Allgemeinheit vor. Auch Mendelssohn kam im Hinblick auf das ästhetisch Unangenehme auf die Sensibilität des Tastsinns (neben der Unausweichlichkeit des Geruchssinns, welcher ebenfalls in der rationalistischen Skala ganz unten stand; vgl. Kap. II.3, 205–09) zu sprechen. Das Ekelhafte sei v. a. für diesen Sinn wirklich unerträglich; in der Malerei, also für den Gesichtssinn, sei es dahingegen eher akzeptabel. Die Weltzugewandtheit und –verbundenheit dieses Sinns wurde jedoch auch von Mendelssohn gerade wegen dieser Qualität als tendenziell das ästhetische Erleben gefährdend dargestellt. Er vermittelt das eindrücklichste körperliche Gefühl, das es zugleich erschwert, die ästhetische Distanz aufzubauen, die die Wirksamkeit der vermischten Empfindungen erhöht. Der Auffassung Adlers 1992, 105 f., dass Herder im Gegensatz zu Lessing und auch Mendelssohn gerade wegen seiner Präferenz der dunklen Empfindungen die Produktions- während die Baumgartensche Schule die Rezeptionsästhetik verfolge, muss deshalb nicht zugestimmt werden. Der Vorstellungsprozess, wie in Mendelssohn bzgl. des Schönen und Erhabenen vorstellt, verlangt durchaus eine eigene Leistung des Rezipienten, der damit an der Produktion des Kunstwerks in seinem Verweischarakter notwendig beteiligt ist.

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Baumgarten, Wolff, Mendelssohn und nicht zuletzt Leibniz vorliegt, ist dieser Seelenkeim rational betrachtet unterbestimmt: ein solcherart sich bildendes Wesen ist kaum als eine individuelle Seele, sondern höchstens als deren Keim, als das Prinzip des Vitalen mit Selbstbezug zu definieren. Die Empfindungen werden in einem Punkt zusammengefasst, der letztlich die Summe dieser erfahrenen Empfindungen sowie die bloße Fähigkeit, diese Empfindungen zu bündeln, darstellt. Nach dem Tod oder dem Verlust individueller Eigenschaften ist das Lebensprinzip in seinen Grundfesten nicht angetastet. Dieses »Ich« als Bezugspunkt aller Empfindungen ist das bloße Sein, ein amorphes Faktum, das dem Möglichen erst seinen Rahmen gibt: es ist der rationalen Analyse ebenso wenig zugänglich wie einem empiristischen Zugang und muss geglaubt90 werden. Der Aspekt der Unsterblichkeit als einer individuellen Fortdauer der Seele, wie sie Mendelssohn im Anschluss an Leibniz im Phädon verteidigt hatte, wird hier überhaupt nicht mehr beachtet, sondern die individuelle Seele ist ein von ihren Erfahrungen geprägter und geformter Ausdruck des Lebensprinzips. Darauf aufruhend verficht Herder im vierten Kritischen Wäldchen eine eigene Wahrnehmungs- und Entwicklungstheorie, die zur Illustrierung seiner Ansicht kurz erwähnt werden soll. In ihr werden die grundlegenden, unzergliederbaren Begriffe Raum, Zeit und Kraft den Sinnesorganen Gesicht, Gehör und Gefühl zugeordnet und deren schulphilosophische Bewertung attackiert. Die aus diesem Grundvermögen entspringenden Begriffe der Schönheit werden zugleich, der Ansicht vom Lebensprinzip und seiner erfahrungsabhängigen Prägung entsprechend, auf eine grundlegend sensualistische Basis gestellt.91 In der Bewertung der Abstufung der Sinnesorgane lehnt sich Herder an Sulzers Ansicht an: Je dunkler der Sinn ist, desto eindrücklicher – und damit unmittelbarer wirkt er. Der dunkle Geschmacks- und Geruchssinn, so Herders über Sulzers Theorie der psychologischen Verwertbarkeit dieser Einsicht hinausgehende Ansicht, kommt also dem ursprünglichen Sein der Seele näher; er verdeutlicht zugleich auch, dass diese ›dunklen‹ Ursprünge deren rationale Durchdringung prinzipiell verhindern. Ebenso betont dies den genetischen Aspekt der seelischen Entwicklung und legt ihn als eigentlichen Gegenstand der Philosophie (über den Menschen) fest. Im 1758 erschienenen Aufsatz Zergliederung des Begriffs der Vernunft fragt Sulzer: »[W]enn wir das innere (auf eine uns unbegreifliche Art vermittelst der thätigen Kraft der Seele, und einer gewissen Organisation des Körpers hervorgebrachte) Gefühl voraussetzen, 90

Dies in häufiger Wiederholung auch in Vom Erkennen und Empfinden… (1774/78), vgl. bspw. Werke 4, 335–38, 344, 348. 91 Vgl. M. Heinz 1994, 43 f. Siehe auch die Bemerkungen in Herders Journal meiner Reise im Jahr 1769: Metaphysik ist »das Resultat aller Erfahrungswissenschaften, ohne die sie freilich nichts als eitle Spekulation wäre« (Werke 9.2, 49). Eben dieses gilt auch für die Regeln der Schönheit, die das abstrakte Resultat »langer Betrachtungen sind, die nicht anders als aus einer Menge feiner und seltner Verbindungen und Assoziationen mit andern haben entstehen können« (ebd., 122).

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wie entsteht das Vermögen vernünftig zu denken und zu schließen?« (ebd., 247) In seiner Antwort setzt Herder entsprechend auf eine Untersuchung der Genese der Handhabung dieser Vermögen, und formuliert somit auch den Fall des ästhetischen Urteils als »ein habituelles Anwenden unsres Urteils auf Gegenstände der Schönheit« (Werke 2, 282). Die Kriterien der Schönheit findet er in allgemein geteilten formalen Aspekten, mit denen sich das vierte Wäldchen – sehr rhapsodisch – auseinandersetzt und freilich nicht anders als genetisch begründen kann. In der Erklärung der Verbindung zwischen einem sinnlichen Eindruck und der Seelentätigkeit schließt Herder dabei an Abbt an. Dieser hatte mit der Unterscheidung zwischen sensation und sentiment (Empfindung und Empfindnis) die – genetisch verstandene – Steigerung von einem sinnlichen Eindruck (Empfindung) zu einem (intellektuellen) Abbild (Empfindnis) desselben in der Einbildungskraft betont (Abbt 1766, 125–31).92 Das Ich gewinnt über die ersten Empfindungen zuerst zwar einen tiefgehenden Eindruck, kann diesen aber nicht in Relation zu sich setzen. In Abbts Bild: die »lebendig-werdende Bildsäule«93 wird sich, konfrontiert mit einer bestimmten Sinnesqualität, vollständig mit diesem Eindruck identifizieren, bis sie anhand mehrerer verschiedenartiger Eindrücke zu verstehen lernt, dass diese Eindrücke ihr gegenüberstehen und sie aus ihnen ihre Welt bildet (Abbt 1766, 135 f.). Die Unterscheidung dient ihm ebenfalls dazu, das Verhältnis der Seele zu den Empfindungen zu verdeutlichen: erst in einen gewissen Abstand gebracht bzw. intellektuell überformt kann die Seele schreckliche Eindrücke ertragen, indem sie sie von den Empfindungen in Empfindnisse übersetzt.94 Herder nun verschiebt den 92

Zur Diskussion zwischen Nicolai, Mendelssohn und Abbt über diese Wortverwendung vgl. JubA XII/1, Briefe 252 ff., 257, sowie Mendelssohns Verteidigung von Abbts Abhandlung Vom Verdienste gegen Gerstenberg in JubA II, 333 ff. und Altmann 1973, 108 f. Letztlich ist der Streit allerdings eher lexikalischer Natur; wegen besserer Ableitung schlägt Mendelssohn Fühlung (sensation) und Empfindung (sentiment) vor. Keine der beiden Begrifflichkeiten konnte sich durchsetzen, gleichwohl die Unterscheidung an Bedeutung gewann. 93 Abbt, Vom Verdienste, 134–39 (134). Zu Abbts Auffassung von der Philosophie, die mit Herder übereinzustimmen scheint, siehe auch seine Rezension von Süßmilch in LB 245: 1. Juli 1762, 68: Philosophie ist eine vom Menschen ausgehende und auf den Menschen hin ausgerichtete Wissenschaft. Sie ist »eine Kenntnis oder Wissenschaft oder Kunst […], die Verhältnisse des Menschen gegen alles, was er ausser sich denket, anzugeben.« Um über diese Verhältnisse etwas sagen zu können, müsse man die »Kräfte« des Menschen, aber auch der von ihm wahrgenommenen Wirkungen kennen; demenstprechend übersetzt auch Herder dies als »Anthropologie«, »Menschenkenntnis« (Werke 2, 270). Allerdings gibt Abbt auch hier zu bedenken (und das spricht dagegen, seine Philosophie mit derjenigen Herders vollständig zu identifizieren): Der Mensch ist nicht Mittelpunkt und Maß aller Dinge – »welches wohl einer der grössesten und allgemeinesten Irrthümer seyn dürfte« (ebd.) – und dürfe deshalb nicht vergessen, dass er seine Erkenntnisse von einem bestimmten Standpunkt aus gewinne. 94 Folgerichtig spricht Abbt in Beziehung auf die künstlerische Nachahmung – durchaus im Gefolge von Mendelssohns Mitleids- und Illusionstheorie (s. Kap. II.1 und 3) – von einem »Empfindnis des Mitleides« vs. einer »Empfindung des Leidens« (Abbt 1766, 130).

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Fokus dieser Betrachtung von den Funktionen der menschlichen Fähigkeiten hin zur Analyse ihrer Rolle innerhalb der Selbstkonstitution. Grundlage sind dabei die dunklen Empfindungen des Ich und die ersten sinnlichen Eindrücke, die das Wesen der Seele in der Entwicklung entscheidend prägen, bevor sie zu klaren Erkenntnissen werden können. 1784 hat sich auch Mendelssohn, ebenfalls außerhalb des Briefwechsels mit Herder, zu diesen Zusammenhängen geäußert. In einer Reaktion auf ein bei Condillac (1754) und Bonnet (1760) verwendetes Modell und als Antwort auf (oder Fortsetzung von) Überlegungen von J. J. Engel95 warnt er noch einmal vor den Folgerungen der »Materialisten« aus diesen Beobachtungen, ohne zugleich die Sinnlichkeit gänzlich zu einer bloßen Funktion des Geistes herunterzuspielen. Nicht umsonst benennt er das metaphysisch-allegorische Traumgesicht Engels in ein »psychologisch-allegorisches« (Hervorhebung A.P.) um, um die Irreduzibilität der Wahrnehmung der einzelnen Sinnesorgane und ihre wichtige Rolle bei der menschlichen Bewusstseins- und Erfahrungsbildung zu betonen (JubA VI/1, 78). Eine Spitze gegen Herder, und zwar den Herder des Briefwechsels, nicht des vierten Wäldchens96, lässt sich hier dennoch erkennen: so wenig die »Seele« eine bloße bewegte Materie ist, so wenig entsteht sie in ihrer Eigenheit bloß aus Empfindungen, die sie künstlich zu Empfindnissen stilisiert, ohne den letzteren und der diese konstituierenden Funktionen Realität zuzugestehen. Die Seele ist der eigentliche »Virtuose«, der die Eindrücke zu einer sinnvollen 95

Zur Tradition von »Molineux’ Problem«, das sich mit der Beeinflussung der Sinnlichkeit auf die Erkenntnisse befasst siehe den Kommentar in Herder, Werke 4, 980–85. Zur Diskussion Engel / Mendelssohn siehe JubA VI/1, 69–73 (Engel), 67–87 (Mendelssohns Text). Engel selbst hatte den Wert der Kenntnis der Seelenkräfte zur Erkenntnis des Wesens der Seele (und damit den genetischen Zugang) bekräftigt: »So weit ich in der Entwikkelung der Kräfte und Eigenschaften der Seele kam; eben so weit kam ich in der Erkenntniß von ihrem Wesen. Ich kenne noch nicht ihr Wesen; was heißt das? Ich habe von jener Entwikkelung nur noch einen so dürftigen Anfang gemacht. Schauete ich alle ihre Eigenschaften und Kräfte in ihrem innigsten Zusammenhange durch und durch, so würde ich eben damit ihr Wesen kennen; denn die eine Erkenntniß ist auch die andre; also will ich fleißig in der Erforschung von jenen fortfahren, und eben damit werd ich zu einer hellern Erkenntniß von diesem kommen.« (JubA VI/1, 73) Es ist hier zu beachten, dass Mendelssohn seinen Text nicht direkt auf Bonnets (ohnehin sehr gemäßigte) Version des Sensualismus bezogen wissen wollte (vgl. JubA VI/1, XVII). Dieser hatte die Existenz einer spirituellen Seele nicht vollständig abgelehnt, sondern sie mit den physiologischen Modellen der Wahrnehmung in Übereinstimmung zu bringen gesucht (vgl. C. F. Berghahn 2001, 40 ff., Lovejoy 1936, 283–87; auch Cassirer 1932, 133 ff. zu Condillac). Mit Bonnet hatte sich Mendelssohn im Zuge des Lavater-Streits (denn der Bekehrungsaufruf Lavaters war dessen Übersetzung von Bonnets Palingénésie angehängt) auseinandergesetzt, siehe JubA VII, »Gegenbetrachtungen zu Bonnets Palingénésie«, 65–107. 96 Dennoch ist zu betonen, dass auch dort der Begriff des »Urteils« unklar bleibt. Zwar ist es die Grundunterscheidung des Menschen zwischen Sich und dem Anderen, dem »Eins und […] Mehr als Eins« (Werke 2, 275) immer wirksam, doch sind alle Grundkräfte sinnlich erworben und lediglich dunkel bewusst. Das Verhältnis einer Urteilskraft aus rein sinnlicher Tätigkeit sowie als angeborene Fähigkeit bleibt verworren.

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Einheit zusammenfügt; sie ist dieses aus dem ihr eigenen Vermögen heraus, das die Grenzen der Sinnlichkeit eindeutig überschreitet, ohne dadurch bloßes Konstrukt zu werden97 und ohne dass diese Modifizierungen der Einheit als reversibel zu verstehen sind. Damit trennen sich Mendelssohns und Herders Auffassungen grundlegend, was sich bereits innerhalb des Briefwechsels festmachen lässt.

Mendelssohns Antwort: Was ist ein »Körper«? Auf den ersten Brief Herders antwortet Mendelssohn am 2. Mai 1769, um nun den Streitpunkt genauer zu fixieren. Auch er sei der Auffassung, dass keine Seele vollständig eines Körpers entbehren könne. Wenn Herders Kritik vornehmlich auf diesen Aspekt abziele, so sei der Dissens schnell auszuräumen. Er, Mendelssohn, habe im Phädon allerdings diese Materie unentschieden gelassen, da das Angeführte ohnehin schon kontrovers genug war. Gehe Herders Kritik jedoch weiter, so wolle er nun ausführlich Stellung nehmen. Und tatsächlich umfasst die Kritik Herders einen weiteren Rahmen, denn die Gewichtung der sinnlichen Eindrücke für die Vervollkommnung des Menschen, ja generell die exakte ›Übersetzung‹ des Vollkommenheitsbegriffs macht den eigentlichen Streitpunkt der beiden aus. Herder setzt ihn mit diesseitigem Genuss und Ausbildung der Fähigkeiten als Selbstzweck, Mendelssohn einer stetigen, letztlich über das Körperliche hinausweisenden Verbesserung gleich. So bedeutet schon die Rede von einem der Seele zugehörenden ›Körper‹ bei Mendelssohn etwas anderes als bei Herder. Jeder eingeschränkte Geist habe, so führt jener im Brief in Anlehnung an Leibniz aus, einen Körper, der sich auch als eine diesen Geist nahe angehende Bündelung verworrener und dunkler Vorstellungen paraphrasieren lässt.98 Damit wird Körperlichkeit nicht im Vokabular der Sinnlichkeit oder

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Als »Virtuose« wäre auch Gott vorzustellen – dadurch allerdings würde die Annahme des prinzipiellen Eigenwerts jeder Empfindung und die Spontaneität der Seele unterminiert und Mendelssohns Denken einem spinozistischen Vorstellung der Seelen als Gedanken Gottes angenähert. Mendelssohn verwahrt sich aber gerade gegen die Passivität der Seele, die beiden Theoremen innewohnt. 98 Mendelssohn reformuliert Leibniz’ Intention im LB 34. vom 19. April 1759 folgendermaßen: »Ich [Leibniz, A.P.] halte die Materie, oder dasjenige, was in dem körperlichen Wesen ausgedehnt und träge ist, für keine Substanz. Ich behaupte, sie sey bloß eine Erscheinung, deren zureichender Grund in den einfachen Substanzen zu suchen ist, die nach einem gewissen Gesetze mit einander verknüpft sind, einen Körper auszumachen. Ich lege aber allen Substanzen, die zusammengesetzten nicht ausgenommen, eine Wirkungskraft bey, von welcher alle Veränderungen die natürlicher Weise mit ihnen vorgehen, hergeleitet werden müssen; aber nicht wie einige, die Gott unmittelbar alles verrichten lassen, auch nicht wie diejenige, die zu erzeugenden und belebten Naturen ihre Zuflucht nehmen, um die Erscheinungen in der Natur zu erklären. Diese sind Hirngeburten der Weltweisen, die mehr träumen, als philosophiren. Die Bewegungskraft, die ich

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eines wie auch immer gearteten Sensualismus reformuliert, sondern als eine psychologisch erfahrbare Tatsache, die sich allein auf die eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit (aufgrund begrenzter Vermögen und der Perspektivität aller Erkenntnis) bezieht. In diesem Sinne korrespondieren den klaren und deutlichen Vorstellungen der Seele immer auch verworrene, die sich als ›körperlich‹ benennen lassen; deren Entwicklung jedoch letztlich als eine seelische zu kennzeichnen ist.99 Eine »von aller Sinnlichkeit befreuete [d. i. befreite, A.P.] Seele« (JubA XII/1, 183) sei tatsächlich ein Unding und benehme den Menschen die ihn zukommende Entfaltungsmöglichkeit – aber es ist eine seelische Entfaltung, die hier geschieht und die allein philosophisch begründbar ist. Letztlich liegt der Zweck des vermischten Wesens Mensch darin, seine sinnlichen Eindrücke für die seelische Vervollkommnung zu nutzen. Eine Forderung nach ganzheitlicher Ausbildung aller Fähigkeiten bedeutet nicht, so Mendelssohn, dass ein Nachlassen der körperlich-sinnlichen Eindrücke mit dem Tode zugleich auch das Ende des individuellen Wesens der Seele darstelle. Vielmehr wird die menschliche Sinnlichkeit als ein (mögliches) Mittel zur Vervollkommnung akzeptiert, ohne dass dem eine Forderung nach Aufrechterhaltung dieser spezifischen Form der Sinnlichkeit korrespondiert. Anders formuliert: eine Seele, der keine körperlich-sinnlichen Eindrücke mehr zukommen, muss deshalb nicht als weniger vollkommen, oder gar als ein Monster bezeichnet werden, sondern sie stellt folgerichtig eine weitere Stufe menschlicher Vervollkommnung dar (vgl. JubA XII/1, 183). Welcher Art verworrener Vorstellungen sie sich nach dem Tode bedient, oder ob alle Vorstellungen sodann per se klarer sind, will Mendelssohn dahingestellt sein lassen: dies sei tatsächlich aus menschlichem Ermessen nicht spezifizierbar. Für die Begründung reicht es jedoch vorerst aus, das Faktum der Vervollkommnung gegen ein Konzept des Rückgangs zum bloß fühlenden Wesen zu erweisen. Hierzu muss allerdings der Status der durch sinnliche Empfindung gewonnenen Kenntnisse geklärt werden. Unter Rückgriff auf seine Ansichten zum Zusammenwirken zwischen Körper und Seele, die er schon in den Briefen über die Empfindungen vertrat (vgl. Kap. II.2), stellt Mendelssohn dazu den körperlichen Genuss in enge Verbindung mit einem damit verbundenen seeliallen Körpern zuschreibe, hat weder Leben, noch Bewußtseyn, sondern ist gewissen mechanischen Gesetzen unterworfen, nach welchen sie ihre Wirkungen ausübt, so bald ihr durch einen Stoß, die Gelegenheit dazu gegeben wird.« (JubA V/1, 44) 99 Vgl. Mendelssohns »Gegenbetrachtung zu Bonnet«, JubA VII, 68: »Ich glaube, daß kein eingeschränktes Wesen empfinden und denken könne, ohne sich aus der vorhandenen Materie einen Leib zu bilden; aber daß diese Krafft bey dem Menschen seinem freyen Willen nicht unterworfen sey. Wenn also die Seele niemals aufhören wird, ein empfindendes und denkendes Wesen zu seyn; so wird sie auch nicht aufhören, sich nach Maasgebung dieser Vorstellungen, einen organischen Leib zu bilden.« Dessen Wesen beschreibt Mendelssohn nicht als Unzerstörbarkeit, oder cartesianische Undurchdringlichkeit, sondern mit einem dynamischen Prinzip: Sein »Wesen ist Entstehen, unaufhörlich gebildet werden.«

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schen Vergnügen. Auf Verbesserung, bzw. Vervollkommnung zielten alle diese mit Vergnügen verbundenen Tätigkeiten, indem sie eine Übung der gegebenen Fähigkeiten darstellen. Dies leistet eine sinnliche Erfahrung ebenso wie eine intellektuelle. Wiederum unter Rückgriff vorheriger Ansichten wird Vergnügen als eine Abwesenheit an hemmender Einwirkung beschrieben und mit »Erweiterung« gleichgesetzt: vergnügt ist die Seele, wenn sie angeborene Fähigkeiten durch Übung verbessert, also leichter ausüben kann. Der Genuss weist damit immer auch über sich hinaus: er bedeutet nicht nur ein (angenehmes) gegenwärtiges Gefühl, sondern eine prospektive Verbesserung. Damit ist »lernen und anwenden«, »erwerben und genießen« (vgl. JubA XII/1, 185) nicht getrennt, sondern als Einheit zu verstehen.100 Mendelssohn wehrt sich so gegen die Interpretation, er betrachte die Seele als »befreit« von der Sinnlichkeit im Jenseits. »As a bel esprit and aesthetic philosopher he could not, in fairness, be lumped together with the advocates of arid intellectualism.« (Altmann 1973, 172) Verbesserung heißt darüber hinaus nicht, zugleich an Fähigkeiten zu- wie abzunehmen. Hier dringt Mendelssohn gerade auf Ausbalancierung: wenn man einseitig geistige Fähigkeiten ausbilde, ginge dies auf Kosten der körperlichen und führe zu einer von Herder befürchteten monströsen Verformung. In einem solchen Falle könne zwar, mit Herder, von einem gleichzeitigen Gewinn und Verlust, und von einer Begrenzung der Ausbildungsmöglichkeiten gesprochen werden. Jedoch erst bei allseitiger harmonischer Ausbildung würden die einzelnen Kräfte sich gegenseitig fördern und stärken. So denkt er selbst es auch in den Briefen über Kunst von 1757/58 an: Vollkommenheit entsteht erst »in der Übereinstimmung der untern Seelenkräfte mit den obern.« (JubA II, 168) Das Erlangen einer Fähigkeit bedeutet dann – gegen Herder – nicht den Verlust einer vorgängigen Fähigkeit, sondern deren qualitative Aufwertung qua Bereicherung und Differenzierung. Schärfer formuliert er dies in einer vermutlich zwischen 1768 und 1774 entstandenen Abhandlung von der Unkörperlichkeit der menschlichen Seele: »Jeder Untergang zielet auf eine Entstehung, jeder Tod bahnet den Weg zu einem neuen Leben.« (JubA III/1, 175) Es ist in der ganzen Welt, in Natur und Kosmos, keine Vernichtung möglich. Jede Einwirkung auf ein Atom ruft wiederum eine ›Antwort‹ dieses Atoms, also ebenfalls eine Einwirkung auf den Kosmos hervor. »Alle Weltkörper zusammen genommen können kein Sonnenstäublein in Nichts verwandeln, können die Bewegungskräfte eines Atoms nicht völlig unterdrücken. Sie werden auf daßselbe würcken, aber nicht ohne von demselben zu leiden; das heißt; nicht ohne von demselben, durch eine verhältnißmäßige Gegenwürckung, in etwas verändert zu werden. So gering diese Veränderung 100

Die genaueren Spezifizierungen des Vergnügens, wie sie Mendelssohns psychologischästhetische Theorie der vermischten Empfindungen liefert, spiegelt sich hier im Übrigen nur unzureichend wider.

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auch seyn möchte; so beweiset sie doch das Daseyn des Gegenwürckenden und die Äußerung seiner Kraft, die der gantzen Natur unüberwindlich ist. Zwischen Seyn und Nichtseyn ist eine Kluft, die die Natur nicht übersteigen kann. Sie kann so wenig Etwas in Nichts verwandeln, als sie aus Nichts Etwas hervorbringen kann.« (Abhandlung, JubA III/1, 175) Dass immer »Spuren« erworbener Vollkommenheiten vorhanden sind, sei jedoch keine logische, sondern eine Tatsachenwahrheit. Der Verlust der Vollkommenheit sei also nicht in sich widersprüchlich, sondern wird es in Hinsicht auf einen fehlenden zureichenden Grund. »Alles geschieht nach Recht und Gerechtigkeit, Liebe und Barmherzigkeit, so wie es die höchste, die unendliche Weisheit bestimmt« (vgl. JubA III/1, 212 f.). Doch ebenso wie gegenüber Herder stützt sich dieser Glaubenssatz auf die leibnizianische Metaphysik. Kurz: Jeder Gewinn ist nicht mit einem Verlust behaftet, sondern vielmehr eine Umwandlung gegebener Fertigkeiten in eine höhere Form, was der Güte Gottes entspreche. In diesem Sinne ist eine unendliche Ausbildung der Seelenfertigkeiten ad infinitum möglich, ohne durch den Verlust körperlicher Erfahrungsmöglichkeit gänzlich zum Erliegen kommen zu müssen. Hier geschieht also zum einen eine Umwandlung (ein neues Sensorium wird gebildet, wie auch immer es aussehen mag) – und zum anderen eine differenzierte Bereicherung. Alte Fähigkeiten gehen nicht verloren, oder wandeln sich komplett um, sondern ihnen werden weitere, komplementäre Fertigkeiten an die Seite gestellt, die in ihrer Verbindung eine neue Qualität erreichen. Das sich entwickelnde Wesen greift so vernünftigerweise nicht mehr auf die vorherige, nun inadäquate Form zurück – aber es nutzt diese nach wie vor. Wichtiger war es Mendelssohn im gegebenen Zusammenhang, den Aspekt der Kontinuität, nicht der sprunghaften oder die Schritte voneinander kategorial abtrennenden Stufen zu betonen, um letztlich diesen Aspekt auf das Unsterblichkeitstheorem anzuwenden. Daneben akzeptiert Mendelssohn nicht das von Herder geforderte Primat des diesseitigen Lebens bzw. der körperlichen Fähigkeiten als alleinigen Lebenszweck. Die Ausübung der (körperlichen) Fertigkeiten sei zugleich ihre Übung wie ihre Anwendung. Diese ist jedoch nicht allein weltimmanent – als Vergnügen – zu verstehen, sondern zeitigt auch einen bleibenden Effekt, auf den die Seele auch nach dem Tod des Körpers soll zurückgreifen können. Wie diese weitere Vervollkommnung vonstatten geht, wird auch von Mendelssohn nicht ausformuliert. Dieser scheinbare Defekt des Systems ist zugleich seine Stärke, denn eine solche Begründung benötigt stärkeres spekulatives Geschütz, als es ihm zur Verfügung stünde.101 Er strebt dies auch gar nicht an; wichtig ist nur, dass die sinnliche Empfindung 101

Dementsprechend begibt sich Mendelssohn in der Abhandlung Die Seele in eine schlechtere Position, da er hier in populärer Manier diese Ausformulierung versucht, vgl. JubA III/1, 212 f.

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nicht als ein Wert für sich, und auch nicht allein als Mittel für etwas gewertet wird, sondern dass sich ihr Zweck aus dem Zusammenspiel ihrer Ausübung und ihrer gleichzeitigen Verbesserung ergibt: sie ist damit unverzichtbar und in sich bereits vollkommen. Sie führt zugleich in dieser Vollkommenheit über sich selbst hin-aus. Sinnliches Vergnügen korrespondiert einer Vervollkommnung der Seele – indem dieses Spiegelungsverhältnis gestärkt wird, kann die Empfindung immer auch eine unsinnliche Rolle im unendlichen Emporstreben der Vervollkommnung einnehmen. Allein, die Apodiktizität, mit der Mendelssohn diesen Schluss behauptet, ist bereits im vorangegangenen Teilkapitel in ihrer Berechtigung angezweifelt worden. Auch beschreibt er selbst das Korrespondenzverhältnis zwischen Körper und Seele nicht als konsequent wechselseitig. Mitnichten wird die Seele nach dem Tod des Körpers in harmonischer Entsprechung und den vom Körper gelieferten dunklen Empfindungen bzw. dem Verlust jeder sinnlichen Empfindung ebenfalls verdunkelt. Vielmehr stellt Mendelssohn, wie er schon im Phädon bezüglich des Beweises der Einfachheit der Seele deutlich gemacht hatte, den Körper als nicht wesenhaft zur Seele gehörig vor: er beliefert sie mit Eindrücken, aber er ist, qua Teilbarkeit, nicht zu ihr gehörig. Oder, anders formuliert: der Körper ist das, was sich die Seele als sie nahe angehend, aber nur verworren oder dunkel bewusst vorstellt. Der physische Tod ist damit für die entsprechende Seele nicht real. Sie bliebe immer noch eine »eingeschränkte« Seele (vgl. JubA XII/1, 182), die einiges dunkel oder verworren wahrnimmt, die also nach wie vor eine Art Körper hat. Ob dieser mit sinnlichen Begriffen beschreibbar sein wird, lässt Mendelssohn offen. In der Abhandlung spekuliert er darüber, dass sich ein feineres Sensorium ausbilde, mit dem die Vervollkommnung weitergeführt wird.102 Einen Rückschritt aber kann es auch mit dem physischen Tod nicht geben: »Das Emporstreben ist in der Seele […] nicht zu läugnen…« (JubA XII/1, 186) Beschreibt Herder die Entwicklung der Seele als stufenweise Abfolge verschiedener Seinsmodi, in denen Gewinn und Verlust sich die Waage halten, so ist eine Entwicklung immer zugleich ein Fort- als auch ein Rückschritt. Nach Mendelssohns Modell ist dies kaum möglich: der Seele kann keine Eigenschaft genommen werden, ohne das Gesetz der Kontinuität und des vernünftigen Zusammenhangs aller Dinge und Entwicklungen zu verletzen. Ist es zusätzlich noch denkbar, dass die sinnlichen Eindrücke im Laufe der Entwicklung wiederum dazu genutzt werden, weitere, geistige Fähigkeiten zu entwickeln, so kann in einer darauf folgenden Entwicklungsstufe mithilfe der neuen Fertigkeiten der Verlust eines zureichenden sinnlichen Sensoriums ausgeglichen werden. Die Art dieser Umwandlung wird, wahrscheinlich angeregt

102

Man beachte die schon von Abbt kritisierte Parallele zu Spalding, der ebenfalls über ein »feineres« Sinnesorgan nach dem Tode spekulierte; siehe Kap. I.2, 90.

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durch Herders Kritik, in einigen Notizen in zeitlicher Nähe, sowie den Anmerkungen weiter ausgearbeitet; ich komme darauf zurück (s. Abschnitt 4). Es ist jedoch offensichtlich, dass Mendelssohn die vermeintliche ›Beobachtung‹ unendlicher Vervollkommnung letztlich aus einer Kombination empirischer Daten mit leibnizianischen Grundsätzen gewonnen hat. Die Unmöglichkeit der Vernichtung des Seins ist eine logische, keine beobachtbare Prämisse, mit der dennoch – mit Herder – ebenfalls für eine Wiedergeburt argumentiert werden kann. Darüber hinaus entbehrt die Aussage, dass kein Rückschritt möglich sei, hinsichtlich empirisch verifizierbarer Beobachtungen sogar einiger Evidenz, wie Herder mit dem Ausdruck der »kindischen Greise« verdeutlichte. Kant hat in einem Brief an Mendelssohn vom 8. April 1766 auf genau dieses Problem, sozusagen als einer Vorform der Dialektik der reinen Vernunft, aufmerksam gemacht: »Diese Untersuchung [durch »Vernunfturteile a priori diese Kräfte geistiger Substanzen auszumachen«, ebd.] löset sich in eine andere auf: ob man nämlich eine primitive Kraft, d. i. die erste Grundverhältnis der Ursache und Wirkung durch Vernunftschlüsse erfinden könne, und da ich gewiß bin, daß dieses unmöglich sei, so folget, wenn mir diese Kräfte nicht in der Erfahrung gegeben sind, daß sie nur erdichtet werden können. Diese Erdichtung aber (fictio heuristica, hypothesis) kann niemals auch nur einen Beweis der Möglichkeit zulassen, und die Denklichkeit (deren Schein daher kommt, daß sich auch seine Unmöglichkeit davon dartun läßt) ist ein bloßes Blendwerk […].« (JubA XII/1, 107; Hervorhebung A.P.) Solange »die data fehlen« (ebd.) ließe sich über das Wesen und Weiterleben der Seele nichts Beweisbares sagen. »Wenn wir dennoch die Beweisthümer aus der Anständigkeit oder den Göttlichen Zwecken so lange bey Seite setzen und fragen ob aus unseren Erfahrungen iemals eine solche Kentnis von der Natur der Seele möglich sey die da zureiche die Art ihrer Gegenwart im Weltraume sowohl in Verhaltnis auf die Materie als auch auf Wesen ihrer Art daraus zu erkennen so wird sich zeigen ob Geburth (im metaphysischen Verstande) Leben und Tod etwas sey was wir niemals durch Vernunft werden einsehen können.« (JubA XII/1, 107 f., vgl. hier Kap. V.1, FN 42.) Mendelssohns Antwort auf dieses Schreiben ist nicht erhalten. Auch im Briefwechsel mit Herder, der dies, wenngleich mit anderer Intention als Kant thematisiert, ist keine Spur eines kantischen Einflusses zu bemerken. Allerdings ist Mendelssohn in der ursprünglich auf Hebräisch verfassten Abhandlung Die Seele diesem kantischen Einwurf als ein echter Leibnizianer begegnet: die Seele könne nach dem Tode nicht dahinvegetieren, sondern müsse sich fortentwickeln. Zwar sind beide Szenarien prima facie denkbar und stellten also – nach menschlichem Ermessen – als Alternativen jeweils Möglichkeiten dar (SvW). Nach den Gesetzen der göttlichen Vernunft zu urteilen müsse jedoch der Version der Vorzug eingeräumt werden, die dem Satz vom zureichenden Grunde und den »Absichten des Schöpfers« gehorcht (vgl. JubA III/1, 210 f. und Kap. V.1) »Das Äusserste, was wir wissen können, ist: ob die betreffende Möglichkeit Gott angemessen ist und mit den Regeln seiner Weisheit,

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Güte und Treue übereinstimmt oder nicht?« (ebd., 211) Zur Vernichtung einer vormals (im Diesseits) ausgebildeten und verbesserten Seele gebe es letztlich schlicht keinen rationalen, zureichenden Grund. Dass sich Mendelssohn hier auf dem schmalen Grad zwischen vernünftiger Begründung und Glauben bewegt, ist nirgends schärfer abzulesen. Doch so empfindsam die Sprache, in der er diese Gedanken äußert, auch erscheint; wie für Leibniz ist auch für Mendelssohn das rationale Handeln Gottes aus dem bestmöglichen Grund ein Fundament der rationalen Weltordnung. Deshalb kann er die angeführten Sätze als rationale Begründung reklamieren, in der die Liebe Gottes die Stelle eines Prinzips – das des zureichenden Grundes – einnimmt. Die Kontroverse mit Herder war nach diesem ersten Briefwechsel – unter Berücksichtigung außerhalb seiner liegenden Schriften – keinesfalls abgeschlossen, sondern vielmehr ihre grundlegende Divergenz freigelegt. Mendelssohn sucht zwar versöhnliche Worte, hat aber, um mit Altmann (1973, 172) zu sprechen, offensichtlich den tiefen Graben zwischen ihrer beider Auffassungen unterschätzt.

Der dritte Einwurf: Was ist das »Wesen« der Seele? In seinem zweiten Brief an Mendelssohn vom 1. Dezember 1769103 wird Herder deutlicher. Zwar spricht er von einer grundlegenden Übereinstimmung und auch davon, dass Mendelssohns Belehrungen über die Leibnizsche Philosophie ihn überzeugt hätten. Doch seine Formulierungen zeigen, dass er Mendelssohn – und Leibniz – in einer bestimmten Hinsicht interpretiert und damit der Sinnlichkeit einen anderen Stellenwert zugesteht. Er versucht hier, seinen Briefpartner mit dessen eigenen Waffen zu schlagen: »Von der andern Seite bin ich, wie Sie, der Meinung, daß, nach Ihren Bestimmungen, die Ausbildung unsrer Seelenkräfte der Zweck unsers Hierseyns sei: wenn präsupponirt wird, daß die Seele unser Ich, und unser Körper gleichsam nur das Phänomenon ihres Daseyns, und das mittelbare Organum ihrer 103

Siehe Altmann 1973, 174: Nicolai, der die Briefe zwischen den Diskutierenden vermittelte, plante ursprünglich, die Briefe vom Frühjahr 1769 in eine weitere Auflage (der dritten) des Phädon zu integrieren. Herder wies dieses Vorhaben zurück, da er von Mendelssohns Antworten noch nicht befriedigt sei, jedoch keine Zeit habe, eine weitere Nachfrage zu schreiben. Er nahm mit »Erleichterung« zur Kenntnis, dass Nicolai seine Absage akzeptierte – und setzte die Debatte erst nach Erscheinen der dritten Auflage fort. Zur Gestalt und den Einflüssen auf Herders zweiten Brief siehe Proß 1987, 885–95. Die Skizze Vom Sinn des Gefühls (um 1769) entstand ihm zufolge aus dieser Auseinandersetzung. Proß’ Analyse ist allerdings hier eher eine Reformulierung von Herders Vorbehalten: er spricht von einer »Einschränkung des Selbstgenusses« auf Harmonie und Vollkommenheit als »Diktate des Verstandes« und »unter der Kuratel Weisheit«, was die durchaus nicht körperfeindlichen Überlegungen, die im Hintergrund von Mendelssohns Theorie stehen, übersieht und die Seele somit auf reine Naturhaftigkeit einschränkt (vgl. ebd., 890 f.).

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Vorstellungen sei.« (JubA XII/1, 197)104 Die Art der Entwicklung dieser Vorstellungen steht jedoch zur Debatte. Anhand der Ausführungen lässt sich erkennen, dass es Herder um die angemessene Definition des »Seelenkeims«105 geht. Während Mendelssohn die Individualität und damit die Unzerstörbarkeit erworbener Fertigkeiten der Seele verteidigt, will Herder den allem zugrunde liegenden Seelenkeim als eine zwar unsterbliche, aber letztlich weiter nicht bestimmbare Einheit aufgefasst wissen. Diese Einheit bliebe sich ewig gleich: Entwicklung ist ihr Ausdruck von Leben, aber dieser Ausdruck ist immer nur Form, nicht jedoch Wesen. Aus diesem Grunde ist der Verlust erworbener Fähigkeiten für diese Ansicht kein Problem: strenggenommen gehen der Seele nur sekundäre Ausformungen ihres Seins verloren, niemals aber ihr Sein selbst. Die Ausbildung von Fähigkeiten sei allein für das Diesseits von Nutzen, denn jede Fertigkeit benötigt zugleich einen Anwendungskontext, der, Herder zufolge, nur in der Sinnlichkeit gegeben sein kann (vgl. JubA XII/1, 198). »Wenn unser Lernen Nichts als Erinnern, wenn unser Vollkommenwerden Nichts als Entwickeln ist, so ist’s nichts, als Lernen, Ausbilden, Entwickeln in und für diesen Zustand.« (JubA XII/1, 198) Fehlt die Anwendungsmöglichkeit, so ist auch die Vollkommenheit dieser Fähigkeit nicht mehr existent. Er geht noch weiter: die Vervollkommnung, wie sie Mendelssohn ausformuliert, ist letztlich eine Ausbildung individueller Habitus106 (vgl. JubA XII/1, 199). Die Entwicklung, heißt sie nicht mehr als Änderung des Modus und damit die Aufklärung vom dunkel Vorhandenen zum klar und deutlich zu Gebrauchenden, fügt der Seele nichts Neues hinzu. Also ist auch die Rückkehr in den dunklen Modus nur eine akzidentielle Veränderung, nicht eine des Wesens. Die von Mendelssohn postulierte Vervollkommnung geht dahingegen nur auf die Attribute der Seele, sowie auch das 104

Ähnlich äußert sich Herder im 1769 entstandenen Versuch Zum Sinn des Gefühls: der Tod vernichtet die »Maschine« des Körpers, die Seele »bleibt im Universum« und »fängt gleich an, sich wieder einen Körper zu bauen« (Werke 4, 240). An sich bleibt die Seele immer, was sie ist, und entwickelt sich durch körperliche Einflüsse nicht bleibend weiter. 105 Im vierten Kritischen Wäldchen reformuliert Herder die Seele als ein lebendiges Prinzip (Herder, Werke 2, 272–79). Vgl. Altmann 1982, 125. »Bonnet [und anscheinend Herder in seinem »Gefolge«] hatte seine Theorie vom unzerstörbaren Keim des spirituellen Körpers als dem Sitz der Persönlichkeit von der Leibnizschen Auffassung des im Tode reduzierten organischen Körpers streng abgegrenzt.« Im Gegensatz zu Mendelssohn, der sich von Theorien der Palingenesie abgegrenzt (vgl. JubA VII, 68), lobt Herder Bonnet explizit, siehe dessen Brief an Lavater vom 30. Oktober 1772 (Briefe II, 252 ff.); siehe auch: Ralph Häfner: »›L’âme est une neurologie en miniature.‹ Herder und die Neurophysiologie Charles Bonnets«, in: Schings 1994, 390–409 und Beate Monika Dreike: Herders Naturauffassung in ihrer Beeinflussung durch Leibniz’ Philosophie. Studia leibnitiana, supplementa. Bd. X. Wiesbaden 1973. 106 Vgl. viertes Kritisches Wäldchen (Herder, Werke 2, 250–57): ein Habitus ist das erlernte und automatisierte (deshalb unbewusste) Anwenden eines Urteils über sinnliche Erfahrung. Herder betont, dass die Habitualisierung dazu verführe, das Urteil als eine originäre Empfindung zu qualifizieren und dadurch wiederum das Primat der sinnlichen Erfahrung zu unterlaufen.

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Unsterblichkeitspostulat allein auf Aussagen über bloße Attribute aufruht. Herder hingegen nennt den Tod eine Änderung des Zustands bzw. der »Position im Universum« (JubA XII/1, 199), also, mit Leibniz zu sprechen, ein Wechsel in der Darstellung der Welt der einzelnen Monade. Sie selbst ist sich gleich geblieben, wird aber im ›neuen‹ Leben, also der neuen Position, das Universum aus einer neuen Perspektive spiegeln. Veränderung und Wechsel hat ein gleich bleibendes Substrat. Damit allerdings spricht Herders Argumentation genau gegen den Aspekt, auf den Mendelssohn so viel Wert legt: den der unendlichen Vervollkommnung als einer faktischen und individuellen Verbesserung einer sich selbst immer klarer durchdringenden Seele. Wird diese nicht als ein linear aufstrebender Prozess, sondern als ein immer wieder (in ähnlicher Form) abgewandelter Zirkel der Entwicklung individueller Habitus’ verstanden, gerät das anthropologisch-metaphysische Postulat der Perfektibilität aus dem Blick. Der größte Fehler an einer Position wie der Mendelssohns läge darin, so Herder, dass sie »abstrakte Begriffe als individuelle Existenzen betrachtet und realisiert« (JubA XII/1, 199). Einer dieser Begriffe ist die Vollkommenheit, die letztlich ein reiner Relationsbegriff sei. Das Individuum lernt durch Erfahrung, sich relativ zu gegebenen Erfordernissen zu verhalten; dies formt sein Denken, Empfinden und Handeln. Letztlich ist jedoch – durch die qua Gewöhnung erworbene Schnelligkeit der sinnlichen Urteile – das Bewusstsein darüber verloren gegangen, dass vieles als unvermittelt Wahrgenommene auf erworbenen Urteilen beruht. Das »habituell[e] Anwenden unsres Urtheils« (Herder, Werke 2, 256) bildet den »sensus communis«, auf den sich alle Entwicklung der Seelen hinbewegt und auf den auch der Philosoph in vermeintlich rationalen Überlegungen zurückgreift.107 Dieser ist aber keine sinnesunabhängige Wahrheit, sondern gerade über die Sinne erworben und nur für diese gültig. Ein Abstractum wie die Perfektibilität dagegen als etwas für sich Sinnvolles zu begreifen, sei letztlich ein fehlgeleitetes Urteil über Relationsverhältnisse. Demzufolge könne Vollkommenheit nicht als ein »Ding« der Seele zukommen, wie man »Geldstücke sammle« (JubA XII/1, 199), sondern sie beschreibt das auf dem Weg der sinnlichen Erfahrung sich verändernde Verhältnis der Seele zu einem Gegenstand. Die Seele kann nicht ›mehr‹ und ›anders‹ werden, als sie immer schon ist. Der Zusammenhang aller Ereignisse (und damit auch der Personalität) sieht Herder in »Raum und Zeit« und im »Grundstoff der Kräfte« (vgl. JubA XII/1, 200).108 Diese wiederum sind 107

Laut Adler 1992, 99 hypostasiert die rationalistische Philosophie für Herder lediglich »einen bestimmten historischen Zustand der menschlichen Erkenntnisfertigkeiten zu zeitenthobenen Erkenntnisfähigkeiten.« 108 Vgl. dazu Adler 1990, 121 ff.: An der Rolle der Raum- und Zeitwahrnehmung, die für Herder eben gerade kein Apriori, noch weniger eine als solche bestehende Anschauungsform darstellen, sondern grundlegende Erfahrungsbegriffe sind, wird er sich noch bis zur Metakritik 1799 an Kant beschäftigen. Schemata sind ihm zufolge ebenfalls habitualisierte Wahrnehmungsmodi und damit

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weltimmanent und führen die Spekulation nicht über sie hinaus. Damit setzt er sich, wie Marion Heinz (1992, 275) festhält, wiederum klar von Leibniz’ Theorie der kontinuierlich abgestuften Vorstellungsmodi ab. Die sinnlich erfahrbaren Dinge sind dem Menschen einzig in den genannten Relationen des Raumes, der Zeit und der Kräfteverhältnisse zugänglich; durch sie allein kann sie sich ausbilden und entwickeln. Dies unterstützt zugleich seine Sichtweise, dass die so gewonnenen Kenntnisse ebenfalls relationaler Natur sind und also in einer neuen Lebensstufe für den Menschen an Bedeutung verlieren. Diese erworbenen Fähigkeiten über den Tod hinaus zu vervollkommnen macht aus dieser Perspektive keinen Sinn. Allein die im Torso geäußerte Theorie der (idealischen) Unsterblichkeit durch Weitergabe dieser relational gewonnenen Erkenntnisse über die Geschichte – die Herder wohlgemerkt im Briefwechsel mit Mendelssohn nicht nennt – gibt diesen Erkenntnissen irdische Dauer, nicht aber als Eigenschaften einer individuell ausgeprägten Seele. Für diese hat Herder im Briefwechsel eine Unsterblichkeit als individuelle Steigerung verneint.

Fazit: Engel oder Vieh? Um Herders und Mendelssohns Differenz auf den Punkt zu bringen, hilft ein von Herder verwendetes Bild: bei Mendelssohn wird aus dem Mensch irgendwann ein Engel, bei Herder bleibt »Gott Gott […], der Mensch ein Mensch, der Löwe ein Löwe und der Baum ein Baum« (JubA XII/1, 200).109 Jedes geschaffene Wesen bleibt, was es ist; der einmal geschaffene »Grundstoff« wird in seiner Möglichkeit und Wirklichkeit nicht angetastet, sondern erscheint lediglich in anderen Modalitäten von Zeit, Raum und Kraft. Damit versucht Herder, so auch M. Heinz 1992, 272, eine an Kants Einzig möglichen Beweisgrund für eine Demonstration Gottes (1763) angelehnte Argumentation. Die Wirksamkeit der Seele wird über ihre innere Möglichkeit begründet, die allein durch ein Zusammenwirken mit einem Körper möglich ist. Diese Realisierung der Möglichkeit ist die einzig denkbare; durch Vernichtung dieses Nexus würde zugleich die Möglichkeit der Seele selbst aufgehoben. Das von Mendelssohn vorgebrachte Gesetz der Kontinuität wahrt Herder, indem er dessen Geltungsbereich spezifiziert: die Veränderungen der Seele sind bloße Phänomene, die mit dem Tod wechseln können, nicht jedoch ihr »Grundstoff«. Zugleich verneint

nicht apriorische Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, sondern vielmehr ihr erstes und notwendiges Substrat. Zur Grundlegung der Begriffe im Anschluss an den vorkritischen Kant siehe M. Heinz 1994, 16 f. m.w.V. und 23 f. 109 Vgl. schon den vorangegangenen Brief, JubA XII/1, 178, sowie die 1774er Geschichtsphilosophie, Werke 4, 81.

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er, dass eine weitere Fortentwicklung der Seele im Jenseits dem Kontinuitätsgrundsatz entspreche, da es den Menschen in seinem Wesen verändere und ihn zu einem Engel mache. Einzig das Konzept der Wiedergeburt sei hier sinnvoll. Letztlich hängt Herder jedoch nicht so stark an dieser noch irgendeiner Form der Unsterblichkeit, wie seine Überlegungen glauben machen: im gegebenen Zusammenhang geht es ihm um den Nachweis einer wesenhaften Verknüpfung der Seelen in Raum und Zeit, also in Geschichte. Das individuelle Überleben interessiert dabei nicht, sondern der ideelle Nexus der wechselnden Gestalten in einer Überlieferung. Diese Form der Gattungsgeschichte hat Mendelssohn bereits in der Bestimmungsdebatte zurückgewiesen; und auch in der Folgezeit ist hier keine Annäherung ersichtlich (vgl. Kap. IV.2). Dennoch lässt sich mit Blick auf Herders Einwände in den Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz in der Anmerkung x) eine Nachwirkung dieser Debatte feststellen. Abbt hatte Mendelssohn in seinen Briefen wiederholt nach dem »Wozu« und »Wohin« menschlicher Entwicklung gefragt, was Mendelssohn schon 1765 mit dem Hinweis auf das bloße Leben einer Fliege unangesehen ihres Nutzens zur Ernährung anderer Tiere, und damit der Betonung des Selbstzwecks individuellen Lebens beantwortete. Nun fügt er im Sinne Herders eine kurze Betrachtung über den Eigenwert der menschlichen innerweltlichen Vervollkommnung hinzu. Alles, worauf die Übung der Kräfte hinauslaufe, sei eben diese Ausübung und damit Erfüllung der Kräfte, die als Selbstzweck verstanden werden: sie sind in ihrer Ausführung bereits Vollkommenheit. »Wir haben gesehen, daß dieses bonum absolutum, dieses finis bonorum eigentlich, dasjenige, worauf am Ende alle bona secundum quid hinauslaufen, und worin sie übereinkommen, nichts anders sey, als Thätigkeit und Uebung der Kräfte; also läßt sich weiter kein Ziel angeben, dahin diese Beschäftigung führen soll. Sie ist ihr eigenes Ziel; sie ist Erwerbung mehrer Realität, sie ist Genuß und Glückseligkeit!« (JubA VI/1, 57, Hervorhebung A.P.) Die wichtige Modifikation gegenüber Herders Standpunkt: die »Erwerbung mehrer Realität«, die schon im Trauerspielbriefwechsel von Lessing angesprochen wurde, ist letztlich als auf eine leibnizianische Weltharmonie hin ausgerichtet vorzustellen. Sich Realität zu erwerben bedeutet eben nicht, neue Eigenschaften hinzuzugewinnen, sondern die gegebenen Eigenschaften immer klarer und deutlicher zu erkennen, um somit eine vollständigere Definition seiner selbst geben zu können; klarer und deutlicher in mehr Aspekten bestimmt und bestimmbar zu sein und dieses in Handlungen zu manifestieren. Eine Bestimmung, die der Definition der Vollkommenheit bei Leibniz und Baumgarten sehr wohl entspricht (vgl. Kap. II.1, 62–66). Erst in der Ausführung der Vervollkommnung zeigt sich die Vollkommenheit von Welt und Mensch; der Vervollkommnungsgedanke scheint in dieser Hinsicht vor allem praktisch bestimmt. Nach Herders Auffassung im Briefwechsel kann es Unsterblichkeit nur als Palingenesie geben – und dies bedeutet, dass jedes neue Leben wiederum auf seinen

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Genuss ausgerichtet ist, nicht als eine Vorbereitung auf etwas anderes. Leben ist somit durch Antithesen und deren notwendige Ausbalancierung gekennzeichnet, aber, zur Erhaltung seines absoluten Werts, zirkelhaft strukturiert. Mendelssohn denkt an eine lineare Aufwärtsbewegung und –entwicklung des je Einzelnen. Der Streit über Unsterblichkeit vs. Palingenesie führt auf die Bestimmung der immanenten und transzendenten Zwecke und Aufgaben des Menschen, die sich aus der Herausbildung individueller Strukturen ergeben sollen. Die Vorstellung einer Palingenesie ohne Weitergabe von in einem Leben erworbenen, individuellen Zügen unterminiert, so fasst Zammito bezüglich des nun interessierenden Aspekt der ethischen Lebensführung zusammen, jeglichen Begriff von Belohnung oder Strafe in einem Jenseits »und wirft, wie Abbt bereits vorschlug, die gesamte Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens auf die individuelle existentielle Situiertheit in der Welt zurück.«110 Mendelssohn zufolge kann es, wie bereits erwähnt (siehe Kap. V.1, 522 f.), eine pure Bestrafung nicht geben, sondern immer eine auf Verbesserung gerichtete Erziehung. Herder zufolge jedoch sind – gerade in dieser Hinsicht – Spekulationen über ein wie auch immer geartetes Jenseits nicht hilfreich; das Leben an sich müsse »schon an sich ein Ganzes ausmachen« (JubA XII/1, 180). Eine aus derartigen Spekulationen, wie sie Mendelssohn veranstalte, abgeleitete Moral sei nicht viel mehr als eine Hypostasierung menschlicher »Schwachheiten« (JubA XII/1, 180). Irritierend ist jedoch, dass auch Herder den Tod Einzelner und die Frage der Theodizee lapidar beantwortet: »Das sind Opfer des Ganzen!« (JubA XII/1, 180).111 Auch er kann eine ›subjektive‹ Theodizee nicht verteidigen. Vielmehr geht es ihm letztlich um eine über das Individuum hinausgehende Philosophie historischer Abläufe und der Begründung umweltrelativ erworbener Lebensweisen.

Praktische Konsequenzen der Unsterblichkeitslehren Herders Zurückweisung von Mendelssohns leibnizianischer Vervollkommnungstheorie geht explizit auch auf den weiteren, im Phädon hervorgehobenen Aspekt der Begründung moralischer Normen (s. Kap. V.1, Abschn. 2 b). Mendelssohn hatte argumentiert, dass der Abweis der Unsterblichkeit zu einer Verabsolutierung des diesseitigen Lebens führe und moralische Dilemmata hervorrufe, in denen sich zwei Werte – das eigene Leben und eine gute Handlung – unvereinbar gegenüberstünden. 110

»[…] and, as Abbt had already suggested, thrust the entire question of the meaning of human life back upon the indvidual’s existential situatedness in this world.« (Zammito 2002, 171) 111 In Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) spricht Herder von einem »Fortgang, fortgehende[r] Entwicklung, wenn auch kein Einzelnes dabei gewönne! Es geht ins Große!« (Werke 4, 42)

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Indem der Endzweck nicht auf den Genuss im Diesseits, sondern die ewige Vervollkommnung gelegt werde, könne eine Pflicht zur Aufopferung für ein Ideal wie das eines gerechten Vaterlandes überhaupt gedacht werden. Der Hintergedanke dieser Theorie ist das Festhalten an einer vernunftgemäßen Moral: es kann und darf keine sich kontradiktorisch gegenüberstehenden wahren moralischen Sätze geben – sonst ist die gesamte Moral unmöglich. Zusätzlich gilt nicht das diesseitige Leben, sondern die Vernunft selbst – als eine Manifestation des göttlichen Willens – als normative Instanz. Lassen sich solche Dilemmata von bestimmten Systemen nachweisen, ist von ihrer Falschheit auszugehen. Die rationalen leibnizianischen Prinzipien gelten also auch hier. Die Aufopferung des Einzelnen für eine Sache könne aber laut Herders Argumentation auch ohne das Unsterblichkeitstheorem gefordert werden. Es sei ohnehin keine menschliche, sondern eine »politische« Pflicht (JubA XII/1, 179). »Das Recht, andre zu tödten, bleibt immer ein politisches Recht der Obrigkeit: zum Menschlichen kanns nie gemacht werden.« (JubA XII/1, 180) Was begründet nach Herder ein politisches Recht? Festzuhalten ist als erstes sein polemischer Gehalt: ein politisches Recht ist implizit ein nicht-moralisches Recht. Moral lässt sich nicht begründen, es sei denn über extramundale Spekulationen, die Herder aber explizit zurückgewiesen hatte. Vielmehr sind die Normen als gegenseitige Einfluss- und Rücksichtsnahmen aus der Vielfalt menschlicher Bestrebungen und Handlungswünsche abzuleiten.112 Einen solcherart »abgezogenen« Begriff in der einen Moral zu verabsolutieren, bedeutet dahingegen eine Unterschlagung der Vielfalt menschlicher Kulturen, die Herder in seiner Geschichtsphilosophie, aber auch in seinen sprachphilosophischen Schriften eingehend behandeln und ihnen ihren Eigenwert zugestehen wird. Auch sie sind »Lebensalter«, in sich vollkommen und einander gleichwertig. Die Vielfalt des Wirklichen verschließt sich also einer generalisierenden und abstrahierenden Betrachtungsweise und macht diese Form politischen Rechts zu einem relativen Recht sui generis; auch die apodiktische Aussage, das es niemals ein Recht auf Töten geben könne, entbehrt also bei näherer Betrachtung der Rechtsbegründung einer kriteriellen Grundlage.113 Problematisch an dieser Sichtweise ist jedoch – dies liegt auf der Hand – dass sie die Geltung moralischer Normen damit weitestgehend relativiert. 112 Siehe FN 91: im Reisejournal hatte Herder ebenfalls auf die Wurzel der Sittlichkeit in der abstrahierten Erfahrung hingewiesen. 113 M. Heinz 1992, 281 spricht hier, etwas unkritisch, von der »Umwertung vom Ideal des ›allgemeinen Menschen‹ der Aufklärungsphilosophie zum Ideal möglichst umfassender Entfaltung der Individualität der Geniezeit«. Ihre Betonung der Berücksichtigung der Vielfalt und des Einzelnen verträgt sich nicht mit der abschlägigen Wertung des individuellen Todes als »Opfer des Ganzen«, die auch Herder vornimmt. Nach wie vor ist zu betonen, dass Herders Sichtweise in den hier berücksichtigten Dokumenten durchaus nicht widerspruchsfrei ist und deshalb mit Vorsicht bewertet werden muss.

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So ist es zwar ein empirisch beobachtbares Faktum, dass sich moralische Grundsätze unvereinbar gegenüberstehen. Dass dies ein grundlegendes und unvermeidliches Konfliktpotential birgt, hat Herder so nicht benannt; er spricht lediglich von einem »Reichtum« der Welt. Dies zeigt sich auch in seiner Rezension zu Kants Geisterseher: »Die Moralische Einheit, und das uneigennützige Gefühl dörfte ja zu seinem Mittelpunkte der Anziehung nicht eben die Geisterwelt, sondern blos die Welt des Lebendigen haben, und überhaupt hat die ganze Hypothese mehr Schönheit wie eine Synthese betrachtet; als sie haben dörfte, wenn sie immer bey den Datis bliebe.« (SWS 1, 129) Einen mundus intelligibilis zur Begründung der Freiheit befindet Herder für unbeweisbar und auch unnötig. Eine diesseitig ausgerichtete Moral dahingegen schien er bei Abbt durchaus angemessener ausformuliert zu sehen. Mit dem Konzept einer übersinnlichen Ordnung verabschiedet er sich zugleich von der Idee einer philosophischen Begründung immaterieller Prinzipien.114 Mendelssohn hingegen will Politik und Moral nicht streng getrennt wissen. Beide stünden »im Lehrbuch der Natur […] in einer und derselben Abtheilung« (JubA XII/1, 187). Damit weist er jede Relativierung des Rechts zurück. Politik ist damit – im besten Falle – ein Ausdruck moralischer Grundsätze und ruht unverbrüchlich auf ihnen auf. Indem auch die Moralität nicht an einen konfessionellen, sondern einen rational begründbaren Gottesbegriff gebunden gedacht wird, schien ihm diese Gleichwertigkeit unproblematisch (vgl. Kap. IV.3, Abschnitt 1). Vorauszusetzen ist jedoch auch hier eine Unterstellung eines sich selbst gleich bleibenden Grundes menschlicher Vernunft (vgl. Kap. III.3). Im Briefwechsel mit Herder wird dieser Komplex nicht weiter diskutiert. Mendelssohns eigene Ansicht wurde bereits in Kap. IV.3 eingehend dargelegt. Festzuhalten bleibt, dass sich auch auf praktischem Gebiet keine Einigkeit, sondern vielmehr derselbe tiefe Graben unterschiedlicher philosophischer Überzeugungen auftut. Eine Anthropologie Mendelsohn’scher Provenienz hat mit Herders historisch-anthropologischen Ansichten wenig gemein.

3. Nachwirkungen: vom sinnlichen Eindruck zur Eigenschaft der Seele Als Mendelssohn den zweiten Brief Herders erhält, ist gerade der Lavater-Streit im vollen Gang, was ihn von einer Antwort abhält. Er trägt sich aber mit dem Gedanken, gerade das 3. Gespräch im Phädon zu modifizieren, wie Marcus Herz 1770 an Kant weitergibt.115 Jedoch ist, wie in Kap. V.1 erwähnt, in die vierte Auflage von 1776 keine Neuerung mehr aufgenommen worden; vielmehr liefert Mendels114

Vgl. M. Heinz 1994, 40. Davon unberührt ist die Geltung göttlicher Gebote, die auch Herder auf Offenbarung, nicht Vernunftsätze zurückführt. 115 Vgl. Herz’ Brief an Kant vom 11. September 1770, AA X 99–102, v. a. 101.

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sohn diesbezügliche Überlegungen mit der Veröffentlichung der Anmerkungen 1782 nach, die in weiten Teilen seine Position der Bestimmungsdebatte noch einmal betonen. Eine Vorarbeit dazu ist der dritte Teil seiner Abhandlung über die Unkörperlichkeit116 der menschlichen Seele. Diese entstand zwischen 1768 und 1774117 und wurde 1784 von Joseph Grossinger zuerst in seiner lateinischen Übersetzung des Phädon, ebenfalls auf Latein, veröffentlicht. Ein Jahr später erschien sie in gekürzter Fassung auf Deutsch.118 In enger Verwandtschaft dazu stehen die Notizen Über einen schriftlichen Aufsatz des Herrn le Luc119, sowie die als hebräisches Pendant zum Phädon konzipierte Abhandlung Die Seele120. Letztere besteht v. a. aus Paraphrasierungen von Leibniz; sie schien eher eine Art Lehrbuch der leibnizianischen und wolffianischen Philosophie auf Hebräisch zu sein, als dass Mendelssohn in ihr eine eigenständige Meinung vertritt. In gewisser Weise ist sie als eine Vorbereitung auf die an Leibniz orientierten und gegen Voltaires Candide gerichteten Änderungen in den Philosophischen Gesprächen innerhalb der zweiten Auflage der Philosophischen Schriften von 1771 zu sehen. Die Spezifität und Funktion der Seele als Verbindungselement von an sich bloße Aggregate bildenden Einzelheiten hatte Mendelssohn bereits im Phädon eingehend diskutiert; die Wiederholung dieser Überlegungen, die die angegebenen Notizen be-

116

Es ist hierbei zu beachten, dass der Titel nicht von Mendelssohn, sondern von Joseph Grossinger stammt, der diese Abhandlung seiner lateinischen Übersetzung des Phädon (1784) beifügte (vgl. JubA III/1, XXXIV). Ihr Thema ist vielmehr die Unsterblichkeit der Seele und damit keine generelle Absage etwa an Herder. Überhaupt ist der Charakter dieser Schrift mehr ein Entwurf als eine tatsächliche, in sich zusammenhängende Abhandlung und kann schon aus diesen Gründen nur mit Vorsicht für die Interpretation verwendet werden. 117 Mendelssohn bezieht sich auf einige »Gedanken« d’Alemberts, die dieser zuerst 1767 im 5. Band der Mélanges de Litterature, d’Histoire et de Philosophie unter dem Titel Eclaircissemens sur différens endroits des élémens de philosophie veröffentlichte. Die zweite Auflage, die Mendelssohn benutzt zu haben schien, stammt von 1768 (vgl. JubA III/1, XXXVII), was damit als frühestmögliches Entstehungsdatum firmiert. Einige weitere Bemerkungen weisen darauf hin, dass die Jahre 1772–74 noch wahrscheinlicher sind. Sicher auf die Abhandlung bezogen sind diese Aussagen jedoch nicht, weswegen der Entstehungszeitraum mit zwischen 1768 und 1774 angegeben werden muss. Ein Teilstück daraus hatte Mendelssohn unter dem Titel Hylas und Philonous Ein Gespräch über die Immaterialität der Seele separat 1777 im von J. J. Engel herausgegebenen Periodikum Der Philosoph für die Welt, 2.Teil, 24. Stück, 172–80 veröffentlicht. 118 Nach der Angabe der JubA III/1, 428 ist die Übersetzung jedoch derart nachlässig und unzureichend, dass für den Abdruck in der JubA eine neue Übersetzung angefertigt wurde. 119 Entstanden 1778, veröffentlicht in GS IV/1, 124–27; zit. nach JubA III/1, 195–99. 120 Entstanden nach 1768; veröffentlicht 1787/88; kurz darauf übersetzt. Laut den Herausgebern der JubA (III/1, XL) sei deren zweiter Teil von Bedeutung, da sie »Mendelssohns einzige ausführliche Äußerung zu dem Problem der Verbindung von Seele und Körper enthält«. Es fällt allerdings auf, dass Mendelssohn hier nicht viel mehr als die im Wolffianismus üblichen Argumente und Ansichten vorbringt.

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stimmen121, ist im gegebenen Zusammenhang von geringer Bedeutung. Wichtiger ist die Frage, wie Mendelssohn die Beziehung und Abhängigkeit zwischen Seele und Körper begründet und welche Argumente er für seine Theorie der unendlichen Steigerung i. S. d. Perfektibilität anbringt. Nach dem Vorbild des Phädon befasst sich der dritte Teil der Abhandlung mit der Entwicklung der Seelenkräfte sowie deren Unabhängigkeit vom Körper. Damit einher geht, dass die Seele nicht alle Fertigkeiten, die die Seele im Leben – und damit im Zusammenhang mit dem Gebrauch ihrer (körperlichen) Organe – erworben hat, mit dem Tode verloren gehen, da sie eben geistige Vermögen sind. Die Tätigkeit der Seele vergleicht Mendelssohn dabei mit einem Spiegel, der die Welt in Empfindungen und Vorstellungen mal klarer, mal dunkler reflektiert. Modifikationen der Seele entsprechen zwar Veränderungen der körperlichen Organe, jedoch erzeugt diese Beziehung keine gegenseitige ausschließliche Abhängigkeit. »Alle Veränderungen im lebendigen Körper beweisen also nur, daß die Gedancken mit den sinnlichen Begriffen, und diese mit den sinlichen Eindrücken im Gehirn in Verbindung stehen.« (JubA III/1, 173) Mehr allerdings ist damit nicht erklärt. Ebenfalls widerstreitet Mendelssohn so der Verortung der Seele im Gehirn (wie dies Platner in seiner Anthropologie von 1772 versuchte und was ebenfalls ihre Verkörperlichung implizierte, vgl. Kap. I.1, 39–41).122 Wenn diese Verbindung nicht reziprok in dem Sinne ist, dass das Absterben der Materie das Absterben der Seele notwendig nach sich zieht, so kann auch der Tod des Körpers nicht zwingend denjenigen der Seele bedeuten. Ein Tod der Seele ist nur über gänzliche Vernichtung möglich, die aber – selbst von Herder – verneint wird. Eher wird sich die Seele ein »feineres Werckzeug« als das Gehirn zum Organ ausbilden (vgl. JubA III/1, 175). Jedoch, und das betont die abschließende »vierte Betrachtung«123, sind mit diesem wie auch immer gearteten Sensorium tatsächlich – im Herderschen Sinne – allein relationale Verhältnisse wie die Änderung in Raum und Zeit verbunden. Dies mag Vorstellungen bewirken; es hat jedoch mit der Wahrnehmung dieser Vorstellungen nichts zu tun. Die Seele mag sich also in Raum und Zeit äußern und wird durch diese Verhältnisse auf spezifische Weise geprägt. Doch Mendelssohn trennt hier nachdrücklich zwischen Anlass der Vorstellung bzw. den Mechanismen, die die Aufnahme dieses Anlasses zulassen auf der einen, und den Vorstellungen der Seele selbst auf der anderen Seite. In gewisser Weise schließt er sich hier Abbts Diffe121

»Versetzet die Theile der Materie so oft und so vielfältig ihr wollt, ihr werdet dadurch das Sichtbare und Fühlbare in mancherley Formen bringen, aber niemals in das Sehende und Fühlende verwandeln.« (JubA III/1, 199, vgl. hier 509 f.) 122 Obwohl er als ein körperliches Substrat oder einen körperlichen Vereinigungspunkt aller Eindrücke die »kleine wundervolle Maschine im Nervensaft« vermuten möchte, ohne sich weiter auf diese Spekulation einzulassen, vgl. JubA III/1, 174. 123 JubA III/1, 176–88; der längste, gegen d’Alembert gerichtete Teil der Abhandlung, vgl. FN 117.

V.2 Die Seele als Münzensammler. Mendelssohn und Herder im Dialog

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renzierung zwischen Empfindung und Empfindnis an, wobei er der intellektuellen Überformung der sinnlichen Wahrnehmung im »Empfindnis« erst die wahre Realität für die Seele zugesteht. Die geistige Natur der Seele erschließt er also über einen Umwandlungsprozess. Die spezifischen sinnlichen wie intellektuellen Vorstellungen greifen derart ineinander, dass sie förmlich zusammenwachsen: »So wie in den Organen Eindrücke des Vergangenen zurück bleiben; so müßen in der Seele auch Begriffe des Vergangenen zurück bleiben. […] Da wir nun gesehen, daß in unsern sinnlichen Empfindungen selbst sich das Vergangene mit einmische, indem viele durch Gewohnheit und Übung erlangte Erfahrungs Urtheile unvermerckt mit einfließen, und die sinnliche Empfindung modificiren; so ist offenbar, daß auch die Begriffe des Vergangenen in der Seele mit den Spuren des Vergangenen im Gehirne harmoniren müßen, wenn die Seele das gegenwärtige gehörig wahrnehmen soll. Mit einem andern Werckzeuge, als das sich gleichsam mit ihr zugleich gebildet hat, kann sie ohne Wunderwerck niemals in Harmonie kommen, und ohne diese Harmonie können die Verrichtungen der Seele niemals von Statten gehen.« (Abhandlung, JubA III/1, 188) Damit argumentiert Mendelssohn auf der Grundlage seiner Überlegungen zur Gewohnheit als Transformation sinnlicher Eindrücke in intellektuelle Konzepte (vgl. Kap. III.1 und IV.1). Für die Datierung der Entstehung der Abhandlung mag hierbei interessant sein, dass er diese Anmerkung in Bezug auf »einige Weltweise« (JubA III/1, 187), die nicht zugeben wollten, dass sich die Seele bleibende Fähigkeiten entwickele, verstanden wissen will. Genau dies hatte Herder in seinen Schreiben bestritten und es liegt deshalb nahe, diese Einlassung auch auf Herder gemünzt zu verstehen.124 Mendelssohn hält dagegen die Verbindung und gegenseitige, wenngleich im Sinne von Leibniz’ prästabilierter Harmonie rein ideell verstandene Einflussnahme von Körper und Geist für enger. Indem Körper wie Geist sich harmonisch nach ihren jeweiligen Gesetzen verändern, gleichen sie sich einander an und entwickeln dasselbe »Gedächtnis«. Wie die Organe, so tragen auch die intellektuellen Funktionen das Gepräge ihrer Erfahrungen, die wegen ihrer dauernden Übung jedoch allmählich die direkte Verbindung zu ihrer jeweiligen Herkunft verliert. Fortdauernde sinnliche Affizierung und damit ein fortwährend funktionierender Körper ist also nicht zwingend nötig, sondern die Erinnerung an sinnliche Eindrücke kann ebenso zur weiteren Vervollkommnung der Seele dienen. Eine ähnliche Argumentation findet sich auch in den Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz (Anmerkung s, JubA VI/1, 48 ff.). Die individuelle Stellung der Monade in der Welt lässt einige Vorstellungen, vermittelt über das »Sensorium« näher, andere ferner (mittelbarer) erscheinen. Sie alle wachsen mit dem Ich zu einem individuellen »Leib« zusammen, der die Seele auch nach dem Tod des Kör124

Zumindest hinsichtlich des vierten Teils wäre also die Zeit des Briefwechsels mit Herder als frühestmögliches Entstehungsdatum zu nennen.

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pers, also dem Verlust des Sensoriums, nicht vollständig verlässt. Wie genau diese jenseitige leibliche Tätigkeit dann aussähe, will auch Mendelssohn nicht beantworten: dieses könne »von keinem Sterblichen angegeben werden, ohne der Einbildungskraft ein gar zu ungebundenes Spiel zu verstatten.« (JubA VI/1, 49) Worauf es ankommt ist es, größtmögliche diesseitige Klarheit zu erreichen, da dies in unserer Macht steht – oder auch da es das einzige ist, was in unserer Macht steht. »[…] kein endlicher Geist [kann] sich die ganze Schöpfung unmittelbar vorstellen.« (JubA VI/1, 48; vgl. dazu Anm. q, ebd., 40 f.) Eine Fähigkeit, die die Seele mithilfe der Sinnlichkeit erlernt – dies erwähnt Mendelssohn, so Altmann (1973, 177), mit einem indirekten Zitat Herders – ist es, Aufmerksamkeit und Begehrungsvermögen nach spezifischen Signalen (zuerst sinnlichen Reizen) auszurichten. Auch hier ist die Nähe zu den Ausführungen über Gewohnheit greifbar: ein sinnlicher Eindruck wird durch Wiederholung langsam überformt, so dass es seiner letztlich gar nicht mehr bedarf, bzw. dieser ins Unbewusste zurücktritt und das Gewohnte ohne Hinzukommen der Sinnlichkeit als ein Erfordernis der Seele ausgeführt wird. »[…] die Seele des Kindes hat nicht nur das Licht sehen; sondern die Augen nach dem Lichte willkührlich hinkehren, das heißt, ihr Begehrungs-Vermögen von der stärksten und lebhaftesten Empfindung lenken, und nach dem Genusse derselben streben gelernt. Dieses ist Neigung und Fertigkeit des Geistes, die der Seele bleiben können, wenn auch alles Gefühl und alle Erinnerung von Licht und Farbe verschwinden sollte […].« (JubA VI/1, 49, Hervorhebung A.P.) Um diese Neigung auszubilden ist also die Sinnlichkeit notwendig; sie ist aber nicht generell unverzichtbar, sondern sie wird umgeformt in die intellektuelle Kraft des Gedächtnisses und die individuelle Prägung der willentlichen Handlungsausrichtung. Mit diesem Konzept versucht Mendelssohn die Frage nach der Individualität der menschlichen Seele zu beantworten. Die Entwicklung dieser Individualität allein durch Erfahrung oder auch durch Anlage kann er damit – in der Abhandlung – als »spekulatif« (JubA III/1, 185) beiseite lassen und weist daneben – in den Anmerkungen – die Ausgestaltung eines jenseitigen Lebens vom Standpunkt des Diesseits aus, sobald es die Grenzen des Wahrscheinlichen zu verlassen droht, streng ab (vgl. JubA VI/1, 43, 61), ohne das Postulat der Unsterblichkeit aufzugeben. Die Wirksamkeit der Kräfte und Neigungen bildet sich (auch) in der Entwicklung aus und bleibt der Seele qua Gedächtnis und Umformung in die je eigene Gewohnheit und Ansicht erhalten; die erworbenen Fähigkeiten bilden damit ein je eigen ausgeprägtes Instrumentarium der Welterfahrung und –vergegenwärtigung. »Die Geister mögen sich gleich oder ungleich gesetzt werden; die Menschen können nicht anders als verschieden sein.« (JubA III/1, 186) Wenn letztlich jeder (eingeschränkte) Geist mit einem Sensorium versehen vorgestellt wird, so kann auch für ihn das Diktum der wesenhaften vollständigen Gleichheit mit anderen nicht aufrechterhalten werden; der uniforme »Seelenkeim« wandelt sich unumkehrbar zum Individuum.

V.2 Die Seele als Münzensammler. Mendelssohn und Herder im Dialog

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Alle Empfindungen laufen entsprechend »am Ende dennoch in Eins zusammen« (JubA VI/1, 50). Mendelssohn benennt hier nicht, was dieses Eine ist. Naheliegend ist jedoch, dieses Eine als die individuelle Person zu bestimmen. Alle Bestandteile, die zu ihrer Vervollkommnung beitrugen, bilden einen individuellen Geist heraus. Dieser ist mitbestimmt durch einen Organismus und seine spezifische Reizbarkeit und die ihn faktisch umgebenen Reize. Er ist jedoch als die Einheitsfunktion all dieser Eindrücke und Dispositionen etwas von ihnen Unterschiedenes. Durch die bloße Tatsache des Todes, so Mendelssohn, lässt sich die gewordene Einheit von Körper und Geist, aber auch ihre wechselseitige Unabhängigkeit nicht ableugnen. Letztlich favorisiert er hier Leibniz’ Modell der Verbundenheit von Geist und Körper, in dem die Seele zwar immer auch als leiblich aufgefasst wird, diese Leiblichkeit jedoch niemals die moralische und individuelle Gestalt der Seele korrumpieren kann.125 Es gibt, so auch Leibniz in den Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison (Abschnitt 6, Hauptschriften II, 596) keine Seelenwanderung, sondern nur die Umgestaltung ein und derselben Seele, die immer im Zusammenhang mit einem Körper zu denken ist. So stellt sich auch Mendelssohn, gemäß der dort eröffneten Disjunktion, auf die Seite der »Metaphysiker«, die die Vervollkommnung der Seele aus der Geltung der rationalen Prinzipien ableiten. Dem entgegen stünden, so Leibniz im sechsten Abschnitt (ebd.) die »Physiker«, angemessener übersetzt wohl mit »Physiologen«, die sich allein um die aus der biologischen Organisation der Wesen ergebenden Gesetzmäßigkeiten kümmern – Herder scheint im Briefwechsel eine solche Rolle eingenommen zu haben. In der Gegenüberstellung von Herder und Mendelssohn lassen sich, wie eingangs angedeutet, zwei fundamental von einander abweichende Tendenzen des letzten Drittels des achtzehnten Jahrhunderts aufweisen. Dabei repräsentiert Herders Ansatz der 1760er Jahre eine Kombination aus naturalistischen und geschichtsphilosophischen Ansätzen und ist skeptisch und kritisch bemüht, die umfassende Theorie des herrschenden Rationalismus durch einen organologisch verstandenen, aber auch spezifisch durch äußerliche, als kulturvariant verstehbare Einflüsse geprägten Seelenbegriff als Realisationsinstanz menschlicher Entwicklung zu ersetzen. Mendelssohn hingegen verteidigt eine rationalistisch-normative126 Theorie leibnizianischer Prägung, um die absolute Geltung des Unsterblichkeitstheorems zu retten, das er als die unverzichtbare Grundlage menschlicher Perfektibilität ansieht.127 Mendelssohns Position ist hierbei zum einen durch ihre Abhängigkeit von eben diesen leib125

Vgl. die Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison, Abschnitte 3 f. (Seele und »Körper« und der Tod als »Betäubung«), und 12 ff.: die jenseitige Fortexistenz. 126 »Normativ« hier bezogen auf den ontologischen Rahmen der leibnizianischen Metaphysik (vgl. Kondylis 1981, 343). 127 Mendelssohns Auseinandersetzung mit Herder mag, bei aller gegenseitigen Verständnislosigkeit, dennoch auch zeigen, was Duncan in Bezug auf die gesamte Sturm und Drang Bewegung

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nizianisch-metaphysischen Prämissen, die einmal mehr als Erfordernisse rationaler Welterfassung und –aneignung formuliert werden, gekennzeichnet. Zum anderen jedoch zeigen sich seine anthropologischen Überlegungen zur Erfassung des ganzen Menschen durch die Ausformulierung des Perfektibilitätsbegriffs in sinnlicher, sittlicher und erkenntnistheoretischer Hinsicht als das Konzept einer umfassenden Bildung der Seele, das mehr Deutungsebenen offenlässt als die einer mechanistischen Optimierung eines Perzeptionspunktes.

ausgemacht hat: Dieser ist keine Gegenbewegung, sondern aus der Aufklärung heraus zu verstehen: »rather, they conform to the whole eighteenth-century’s consuming interest in the sources, nature, and uses of human feeling.« (Duncan 2003, 48)

SCHLUSS Ansätze zu einer rationalistischen Anthropologie

Der Verweis auf die Unabschließbarkeit, aber zugleich auch anthropologische Notwendigkeit der Bildung als eines fortwährendes Versuchs der Selbstversicherung menschlicher Vernunft kann als der Kerngedanke von Mendelssohns rationalistischer Anthropologie bezeichnet werden. In der Abhandlung über die Unkörperlichkeit der Seele (1768/74) formuliert er dieses Konzept selbst folgendermaßen: »Wir müßen aber folgende Maximen nicht aus den Augen laßen. 1) Ein jeder Liebhaber der Wahrheit sey stoltz genug, sich durch kein Ansehen der Person blenden, durch keine Schwierigkeit abschrecken zu laßen, mit eignen Augen zu sehen. Große Männer haben diese Schwierigkeiten unauflöslich gefunden? – Vielleicht gelingt es unserer Kleinheit sie aufzulösen. – Jahrhunderte hat man hierüber vergeblich philosophirt? – Wer weiß was morgen geschieht? Ein jeder übe seine Kräfte, und versuche, wie weit er kommen kann. 2) Der Weltweise sey nie zu eitel, zur rechten Zeit mit der Antwort einzutreten, die unserer Schwachheit so anständig ist; Dies weiß ich nicht! Aus dem Wahne auf alle Fragen eine Antwort in Bereitschaft zu haben, sind die ungereimtesten Meynungen entsprungen, die der Philosophie zur Unehre gereichen. 3) Weil wir dies und jenes nicht wißen; so folget daraus noch nicht, daß wir gar nichts wißen. Wenn wir gleich vom Zirckel das Verhältniß des Durchmeßers zum Umkreise nicht gantz genau wißen; so sind die Wahrheiten, die in der Geometrie von dem Zirckel gelehrt werden, nichts destoweniger unumstößlich: so wenig wir die Völker kennen, die in den innersten Theilen von Africka sich aufhalten; so sind uns doch die Völker nicht unbekanndt, die hier und da an der Küste wohnen.« (JubA III/1, 178) Die hier angeführten ›Maximen‹ erfassen recht genau, worin er den Zielpunkt seiner Untersuchungen gesetzt hatte. Jeder muss »mit eigenen Augen sehen«, aber er muss auch den Mut haben, sich gegen herrschende Denkmuster durchzusetzen und – trotz aller Begrenzungen – auf die eigene Vernunft vertrauend diese Begrenzungen zu erweitern suchen. Wie Mendelssohn zum Abschluss der Bestimmungsdebatte, die ihn von der Lektüre Spaldings über die Diskussion mit Abbt bis zum Briefwechsel mit Herder, und schließlich, gegen Ende seiner philosophischen Karriere zu den allein verfassten, die Debatte lediglich kommentierenden, sie aber auch in seinem Sinne zusammenfassenden Anmerkungen (1782) gebracht hatte, festhält, ist es das Streben, das die menschliche Vernunft auszeichnet – und das der Philosoph in anthropologischer

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Schluss

Hinsicht auszuweisen und zu begründen hat. Anthropologische Untersuchung der ›Bestimmung des Menschen‹ ist damit immer auch das Unternehmen, menschliche Bestrebungen aufzuklären, zu begrenzen und zu leiten. In der letzten Anmerkung (z) beschreibt Mendelssohn im pädagogischen Bild der bestmöglichen Einrichtung des individuellen Bildungswegs, wie sich ein »junger Mensch« (JubA VI/1, 59) am angemessensten der »Weltweisheit« nähern könne. Deutlich ist damit das Modell vorgezeichnet, das ihm allgemein als die beste Möglichkeit erschien, um der Bestimmung des Menschen gerecht zu werden. Dabei fasst er das Wechselverhältnis zwischen den als allgemein gültig verstandenen metaphysischen Grundsätzen und dem Weg zu ihrer Herausbildung als das menschliches Wissen und seine Vollkommenheit konstituierende Moment. Der Mensch kann und sollte wahre Sätze nicht schlicht präsentiert bekommen, sondern er muss sie prüfen und den eigenen Erkenntnis- und Erfahrungshorizont an ihnen üben und aus Einsicht angleichen. Abbt hatte sich in einem Brief über die Unverständlichkeit der metaphysischen Begriffe wie Substanz und Kraft beschwert (siehe Kapitel I.2, 79, FN 106). In den Anmerkungen nun diagnostiziert Mendelssohn, darauf zurückgreifend, zwei problematische Aspekte solcher Klagen. Zum einen sei die Unzufriedenheit an metaphysischer Verworrenheit eben dem Umstand einer falsch ausgerichteten Ausbildung geschuldet, die die Wahrheiten zwar in fasslicher Form dargelegt habe, jedoch ohne hinreichend deutlich zu machen, dass um diese Wahrheiten immer und individuell gerungen werden muss. Ohne Diskussion von Gegenansichten oder Missdeutungen sei der von ihnen bereitete Boden nicht verlässlich, der ›Schüler‹ werde unzufrieden und sei allzu leicht vom weiteren Weg abzubringen. Die »Ungenügsamkeit mit dem Erworbenen, dieses Weiterhinausstreben ist dem Forschungstrieb des menschlichen Geistes und seiner Bestimmung angemessen« (JubA VI/1, 58), jedoch über eine falsche Lehrart eher dazu geeignet, unzufrieden zu machen, als tatsächlich zur selbständigen Auffassung der Inhalte anzuregen. Zum anderen weise Abbts Ungenügen darauf hin, dass der Umgang mit metaphysischen Ideen, da er im Medium menschlicher Sprache geschehen muss, immer die Gefahr des grundsätzlichen Missverständnisses in sich birgt (vgl. JubA VI/1, 60). Durch die langen, abstrakten Beweisketten der Schulphilosophie wird der Leitfaden der Sinnlichkeit schnell verlassen, und auch die Hilfe symbolischer Erkenntnis ist nur begrenzt. Es müsste immer ein auch anschaulicher Nachvollzug des nur durch unzureichende Begriffe Erkannten möglich sein; ansonsten führt ein kleiner, unbemerkter Fehler in der Schlusskette schon zu völlig falschen Ergebnissen, bringt schlechte metaphysische Systeme und letztlich wiederum Unzufriedenheit. Das Bewusstsein um dieses Ungenügen nun soll im Sinne einer fruchtbaren Bildung, so zumindest Mendelssohn, derart eingerichtet sein, dass es zwar zu Nachforschungen aufgelegt, aber niemals die menschliche Begrenzung vergessen macht.

Ansätze zu einer rationalistischen Anthropologie

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Anstelle einer fehlleitenden Lektüre von »Compendien« (JubA VI/1, 61), die zwar einen raschen Zugang zur ›Wahrheit‹ versprechen, aber eigentlich unzureichend sind, empfiehlt er die direkte, intensive Auseinandersetzung mit Ideen; er fordert den Mut, trotz allgemeinen Nichtwissens die eigenen Kräfte zu beanspruchen – und schließlich, zur Erhaltung innerweltlicher Zufriedenheit, greift er auf den Glauben zurück. Diese »gefälligere« Schwester der Metaphysik sei doch der menschlichen Schwachheit weitaus zugeneigter (vgl. JubA VI/1, 61). Doch auch hier bringt er eine leise Warnung an, indem er wiederholt darauf verweist, dass selbst diese die »Wahrheit nur zu gewähren scheinet« (JubA VI/1, 62, Hervorhebung A.P.). Glaube ist allein zur Beruhigung über die genaue Ausgestaltung einer künftigen Bestimmung des Menschen eingerichtet, nicht zur An- und Aufnahme schon diesseitiger Inhalte. Damit ist nicht allein die Vernunft, sondern auch der Einflussbereich eines Glaubens wiederum begrenzt. Beide sind, so ließe sich Mendelssohns Intention verstehen, nur dann den rationalen Erfordernissen angemessen, wenn sie zugleich mit ihren Grenzen aufgefasst und erkannt werden. Die die universelle Anwendung der Vernunft einschränkenden Gegenkräfte dürfen nicht ihrerseits in ihre Bereiche eingreifen, sondern verbleiben an den Rändern der Vernunft, ohne sie, so die Hoffnung, zu bedrohen, sondern sie zu bereichern. »Bei Geistern wie Lessing, Mendelssohn, Kant, Lichtenberg oder Schiller gewinnt diese selbstkritische, undogmatische, tolerante Einstellung den Rang einer höheren Aufgeklärtheit, die darum schon über die Aufklärung á la Campe hinausgeht, weil sie die neuen seelischen Erfahrungen, die zu einer revolutionären Umbildung des Menschenbildes führen, in das eigene Denken einläßt.« (Pikulik 2001, 11) Inwiefern Mendelssohn die Ausgestaltung eines konsistenten und den Bedürfnissen der Aufklärung angemessenen Menschenbildes gelungen ist, war die umfassende Fragestellung dieser Arbeit. Eine Grundvoraussetzung dieses Denkens und der Aufnahme »seelischer Erfahrungen« hat Mendelssohn selbst in einem Brief an Lessing vom 29. April 1757 anhand eines (unvollendet gebliebenen) Gedichts auszudrücken versucht.1 Wie sich insgesamt Mendelssohns Werk in einem Vor- und Rückgang innerhalb der Theorieelemente und Zeitebenen erschloss, so soll hier abschließend dieses frühe GedichtFragment zur Zusammenfassung von Mendelssohns Anliegen dienen. »Itzt liegt der träge Schwarm von steten Qualen matt, Nachlässig hingestreckt, auf weicher Lagerstatt. Das Thierische ist todt. Empfindung, Sinn, Bestreben Hört plötzlich auf, und nur die Pflanze hat noch Leben. Der rege Trieb entschläft, der sie durchs Leben jagt.

1

Auf dessen konzeptionelle Nähe zu Schillers ästhetischer Theorie habe ich andernorts, siehe Pollok 2008, hingewiesen.

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Schluss

Als Pflanze ruht der Mensch, als Mensch ist er geplagt. Wer niemals denkt, wer sich [nur so] wie Thiere weidet, Verfehlt des Schöpfers Zweck; wer immer denkt, der leidet. Die steinerne Vernunft wetzt jenen Stachel ab, Der uns zum Fühlen reizt, und wird der Freuden Grab. Versuchts, o Sterbliche! bekämpft der Thorheit Götzen, Die Sucht nach eitlem Ruhm, den Dunst nach feilen Schätzen. Besiegt den weichen Trieb, der euren Geist entnervt, Die Seel’ in Schlummer wiegt, den Reiz der Sinne schärft. Verjagt die Phantasie und ihre Zauberschatten, Die auch der Wahrheit Glanz mit Rauch umnebelt hatten, Und sucht in Weisheit Ruh. Doch sagt, erlangt ihr sie? O zieht die Menschheit aus, seyd Engel oder Vieh, Wenn ihr die Ruhe liebt. Kein Mittelding von beyden Frißt unbekümmert Gras, verträgt des Engels Freuden etc.« (JubA XI, 119) Die Inspiration zu diesen Versen wird v. a. Albrecht von Haller, dem Mediziner, Naturforscher und Autor des Lehrgedichts »Die Alpen«2, zugeschrieben. Von ihm übernahm Mendelssohn als zwei signifikante Elemente zum einen das Metrum, den als heroisch charakterisierten Alexandriner, meist ruhig gleitend, hier nur in Zeile vier leicht aufgelockert. Er ist auch von Haller im thematisch verwandten Gedicht »Über den Ursprung des Übels« von 1734 verwendet worden. Zugleich lehnt sich Mendelssohn an das diskursive Schema von Hallers Anthropologie an. Dieser hatte, wie Mendelssohn und auch andere, die zeitgenössische Theoriedebatte über Anthropologie bestimmende Philosophen, dem Menschen die Stellung zwischen himmlischen Heerscharen und Viehherden zugewiesen und ihn folglich als »Mittelding« bezeichnet.3 Mendelssohns Ausdeutung dieser conditio humana unterscheidet sich allerdings, wie gezeigt wurde, in einigen Hinsichten von seinem Vorbild. Den Menschen dabei schlicht als ein »Mittelding« zu bezeichnen, konnte nur ein Problem benennen, es aber nicht lösen. Um dies zu leisten, lässt sich auch in Anlehnung an die gewonnenen Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel vorerst eine spezifischere Differenzierung reformulieren. Mendelssohn spricht im Gedicht von zwei Ursprüngen des Leidens: in Z. 5 nennt er den »tierischen«, abgemildert in Z. 13 zu einem »weichen« (also eher pflanzlichen) Trieb, der sich auch als Sinnlichkeit paraphrasieren 2

Vgl. JubA XI, 425 und Zelle 2003, 218. Hallers Lehrgedicht »Über den Ursprung des Übels« von 1734 war von Mendelssohn nahezu zeitgleich in Über das Erhabene und Naive als Beispiel »von erhabenen in Witz eingekleideten Gedanken« angeführt worden; vgl. JubA I, 213 und 483. 3 Vgl. dazu den Aufsatz Zelles 2003, 216 ff., der auf die Bedeutung der »Mesotes-Lehre« der vernünftigen Ärzte hinweist. Siehe auch hier Kap. II.2, 173–76.

Ansätze zu einer rationalistischen Anthropologie

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lässt. Z. 9 f. weist daneben die Vernunft als das zweite aufstörende Vermögen auf. Der tierische Trieb unterscheidet Tier und Mensch von der Pflanze, die Vernunft Menschen (und Engel) vom Tier. Jedoch spricht Mendelssohn keinesfalls von einer diskreten Stufenfolge. Vielmehr sind dem Menschen pflanzliches Leben, tierischer Trieb sowie ›englische‹ Vernunft gegeben. Dieses von derart unterschiedenen Kräften bestimmte Mittelding nun, so Mendelssohns Wortwahl, ist gejagt, geplagt und leidet – und zwar auch, wenn es seine ›niederen‹ Wesenszüge mit den Waffen der Vernunft zu bekämpfen versucht. Die Vereinigung dieser Wesenszüge ist also die eigentlich menschliche Aufgabe, ein untrennbarer Teil seiner Bestimmung. Er soll nicht ganz Pflanze oder gar »Vieh« sein – und sich aber auch nicht völlig der »steinernen Vernunft« hingeben. Die letzten Zeilen zeigen das Dilemma, ist das diejenigen geraten müssen, die mithilfe dieser Vernunft die tierischen und pflanzlichen Bestandteile in sich selbst abtöten wollen. Die Folge der Vertreibung von Sinnlichkeit sowie der »Phantasie und ihre[r] Zauberschatten« (Z. 15) wird, auch wenn dies im Gedicht lediglich als rhetorische Frage auftaucht, kaum zu befriedigenden Ergebnissen führen. Eindeutig ist die Antwort, wenn man die in den vorangegangenen Kapiteln analysierten Schriften Mendelssohns berücksichtigt. Seine Beschreibung menschlicher Weltzuwendung geht über das einfache Konzept einer einseitigen Vernunft- oder Naturausbildung hinaus, indem es die menschliche Haltung zu den gegebenen Vorstellungen (die Art dieses Gegebenseins hat er nicht problematisiert) als eine Weltkonstruktion beschreibt, die die Einbringung eigener Beurteilungs-, Beobachtungs- und nicht zuletzt Empfindungskompetenzen verlangt. Sich in Bezug zur Welt setzen bedeutet, im eigenen Denken und Empfinden die Ganzheit erst herzustellen. Wird, so auch das Gedicht, dabei eine Kompetenz vernachlässigt, schlägt die Weltzugewandtheit um in ein ›erkältendes‹, ›versteinerndes‹ oder auch ›zum Tier herabwürdigendes‹ System. Mendelssohns Theorie von den Bedingungen der Erfüllung dieser Bestimmung zeichnen die vorangegangenen Kapitel nach; es ist ein Weg der Differenzierung und Spezifizierung menschlicher Vermögen unter einer umfassenden Idee vom ganzen Menschen. In der allgemeinen Diskussion um die Debatte über die ›Bestimmung des Menschen‹ als eines Kerngedankens früherer Anthropologiekonzeptionen erwies sich die von Spalding, Mendelssohn und an die Bestimmungsbücher anschließenden Autoren verfolgte Richtung als ein den beiden dominanten Linien der physiologischen und der ethnologischen Anthropologien beizufügende Konzeption des Menschen, die sich insbesondere durch die Ausformulierung der menschlichen Perfektibilität in leibnizianischen Termini auszeichnete. Mit ihrer Hilfe sollte die auch von den genannten Ansätzen problematisierte Doppelnatur des Menschen in Übereinstimmung gebracht werden. Mit der Unterscheidung zwischen Determination und Destination, sowie die Aufspaltung der Determination in die Bereiche menschlichen Gefühls, bzw. Vergnügens, menschlichen Wollens und menschlicher Erkennt-

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Schluss

nis operationalisierte Mendelssohn die in der Tradition der Psychologie gebildeten anthropologischen Kategorien menschlicher Welterfassung. Die Aufgabe auch des Mendelsohn’schen Ansatzes war es dabei, diese Teilbereiche mit diesem dem Zugrunde gelegten Zug zur Perfektibilität zu vereinbaren. Das interne Strebensmoment der Vollkommenheit unterlegt allen Teilbereichen ein teleologisches Muster, das nicht allein auf die Unterstützung des leibnizianischen Systems, sondern auch auf die Erklärung menschlicher Kultur, und damit die Absicherung ihrer eigenen Geltung zielt. Schon von vornherein war dieser Ansatz tiefgreifenden Zweifeln ausgesetzt, da sich das Phänomen menschlicher Offenheit nur bedingt mit dem es zu überlagern drohenden metaphysischen Prinzip der besten aller möglichen Welten vertrug. Abbts Zweifel sind dabei nur ein Beispiel des dagegen geübten Widerstands, wirkten jedoch direkt auf Mendelssohns Überlegungen. Wahrscheinlich ist es nicht zuletzt ihnen zu verdanken, dass sich der apodiktischen Sicherheit von der Erfüllung der Bestimmung im Orakel der Gedanke einer durchgängigen Suche als Bestimmung des Menschen beigesellte und erstere entscheidend modifizierte. Mendelssohn ist zwar bestrebt, alle Erscheinungen der Welt als ein Zeichen göttlicher Ordnung zu lesen, muss diesen Aspekt jedoch näher ausweisen: die »Lesbarkeit der Welt« (vgl. Kap. I.2, 113, FN 163) muss im Zuge individueller Entwicklung erlebt, erkannt und realisiert werden. Die Verwirklichung der Einfügung in diese Ordnung durch Lernen und »Verbesserung seiner selbst« qua verständiger Durchdringung des nur dunkel Gefühlten, sowie das auch gegen die Abbt’sche Skepsis angeführte Moment der zugrunde liegenden menschlichen Güte musste, um sich als einschlägige Untersuchungsrichtung behaupten zu können, gegen die negative Kulturtheorie Rousseaus verteidigt werden (II.1). Mendelssohn versucht, die menschliche Freiheit und Vervollkommnungsfähigkeit in Begriffen der rationalen Abwägung und umfassenden Entwicklung aller Anlagen, die auf Ausbildung drängten, darzulegen und ihnen so den Zug einer zwar nicht erzwungenen, aber an den rationalistischen Prämissen der Vervollkommnung durch Aufklärung orientierten, individuellen Aufwärtsbewegung zu verleihen. Vervollkommnung macht zwar auf Defizite aufmerksam, zeigt aber zugleich die breiten Möglichkeiten menschlicher, rationaler wie affektiver Vermögen. Als ein prominentes Beispiel fungiert hier, wie in der Trauerspieldebatte mit Lessing, das Mitleid, das nicht nur als eine Quelle der Vollkommenheit, sondern auch des theatralischen Vergnügens aufgewiesen wurde. So versuchte Mendelssohn, den auch affektiven Bezug des Einzelnen auf das Wohlergehen anderer als ein Gefühl sui generis zu erweisen; ebenfalls in Gegensatz zu Rousseau, der dies mit einer Theorie affektiver Identifikation unternahm. Die Gesetzmäßigkeiten des Affektiven, der Emotionen und Leidenschaften, wie auch der Wert des Schreckens gelangten zu eingehender Behandlung in dem im weitesten Sinne ›ästhetischen‹ Schriften bis in die 1770er Jahre. Die ästhetische Welterfassung ist irreduzibel auf die am oberen Erkenntnisvermögen orientierten Formen von Erkennen und Wollen; sie fungiert darüber hin-

Ansätze zu einer rationalistischen Anthropologie

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aus als Integrationsinstanz körperlichen Erlebens (II.2). Die Aufspaltung des opaken psychologischen Akts des Vergnügens in seine dreifache Quelle führt zugleich auf die Grundfrage, welche Gegenstände mit welcher Berechtigung als ›schön‹ oder ›interessant‹ (im prä-romantischen Sinne) erfahren werden. Dem Dubos’schen Gesetz vom menschlichen Streben nach bloßer Beschäftigung geht Mendelssohn wiederum mit einer differenzierenden Reformulierung und Ebenenbildung ästhetischen Vergnügens aus dem Weg. Indem ein komplexer Vorgang in möglichst für sich positiv wirksame Aspekte aufgespalten wird, stellt sich sogar das Grauen als ein Paradefall menschlicher Vervollkommnungsfähigkeit dar. Jedoch wird dies auch durch eine Entrückung von der Realität erkauft: Ästhetisches Vergnügen erfordert die Übersetzung in ein Bild, selbst wenn der Affekt an sich nicht als abgeschwächt begriffen wird. Im Bild werden allerdings darüber hinaus die eigene Zurückweisung des Unvollkommenen, wie auch die Verkörperung menschlicher Geisteskräfte gefeiert (II.3). Menschliche Freiheit bedeutet hier aber nicht nur, gegen Rousseau, sich aus Gründen zu entscheiden, sondern auch, so die ästhetische Anthropologie Mendelssohns, angesichts der Gegebenheiten zwischen unterschiedlichen Formen der Hinwendung zu wechseln, ohne dass diese ihren Eigenwert verlieren; wiederum sind dies Pole menschlichen Erlebens, die nur in der Bewegung zwischen ihnen lebbar und lebenswert sind. Auch in der Argumentation gegen Hume ist letztlich die begründete Freiheit Mendelssohns wichtigster Bezugspunkt. Ihm zufolge kann es wahrscheinliches Wissen, und damit auch die Möglichkeit angemessener Abwägung nur geben, wenn die rationalen Prinzipien der Welterschließung in epistemologischer wie praktischer Hinsicht gültig bleiben (III. 1 und 2). Der fehlende innere Bezug auf Gründe, sei es im Handeln oder Wissen, disqualifiziert, so zumindest Mendelssohns Ansicht, Humes Kausalitätstheorie als verursacht durch einen natürlichen »Instinkt« zur bloßen Psychologie, die in dieser Fassung weder menschliche Erkenntnis noch praktisches Handeln philosophisch befriedigend erklären könne. Freiheit als allgemeine Vervollkommnung in Harmonie mit der Erkenntnis und dem Gefühl für Vollkommenheit soll in ihrem Zusammenspiel zwischen klarer, verworrener und deutlicher Vorstellungstätigkeit als Motor und Begrenzung der menschlichen Entwicklung, die bereits in Kap. I.2 angesprochen wurde, gelten. Die auch im Gedicht geforderte Übereinstimmung der gegenläufigen Bestrebungen des »Mittelwesens« sieht Mendelssohn durch das Konzept der Versinnlichung oberer Vermögen in der Übung, im Geschmack und dem Gewissen gesichert (II.2). Letztlich macht dabei allein die Ausrichtung an einem allgemeinverbindlichen Kriterium wie der Vollkommenheit eine Handlung begründbar und deshalb frei; dies erfordert zugleich eine Offenheit der Welterfassung, die zuerst zur Bewusstwerdung, dann zur Wertung führen soll (III.3). Eingebunden ist menschlicher Wissenserwerb und praktische Vervollkommnung nicht nur in solipsistische Selbstbeobachtung und –übung, sondern auch in

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Schluss

das ihn umgebene Feld menschlicher Gesellschaft. Mendelssohn hält, wiederum gegen Rousseau, die Sprache als ein Mittel zur Menschwerdung hoch; nicht ohne zu betonen, dass das unsinnlich zu werden drohende Instrument immer auch der zugleich entstehenden gesellschaftlichen Fundierung in Tradition und emotionalem Austausch bedürfe (IV.1). Mithilfe seiner Reformulierung der Sprachentstehungstheorie greift er – mit Herder – eine weitere menschliche Besonderheit auf: es ist die Fähigkeit der »Besonnenheit«, also die Kräfte zu bündeln, aufmerksam zu sein und dadurch empirische Beobachtungen unter die symbolische Erkenntnis überhaupt subsumieren zu können, wie auch für Anwendungsfälle sensibel zu sein. Diese Gerichtetheit zeigt zugleich eine spezifische Orientierung auf die Verbesserung seiner Selbst und Anderer in Auseinandersetzung mit Gegebenheiten und Erfordernissen der Umwelt. Der Mensch braucht Tradition, Überlieferung und Austausch ebenso wie Widerstand, Veränderung und die auf der Ebene der eigenen Empfindung erlebte Unvollkommenheit als Anreiz zur Vervollkommnung. Dies ist, gegen Lessing, die einzige Ebene einer generellen Betrachtung menschlicher Entwicklung: nicht eine Vervollkommnung der Gattung, wie es für einen Leibnizianer auch hätte naheliegen können, sondern allein die menschliche Bildung des Einzelnen als eine individuelle Ausgleichsbewegung zwischen Aufklärung und Kultur, die immer beide Pole in Bewegung hält, schien Mendelssohn philosophisch begründbar (IV. 2 und 3). Auch die möglichen Konfliktfälle sollten sich dabei als offen zur Diskursivierung erweisen. Im praktischen Handeln müssen daher dessen Konstitutionsaspekte, im staatlichen Handeln die Mechanismen der Verantwortlichkeitsverteilung differenziert berücksichtigt werden. Die Notwendigkeit von selbständiger, rationaler und nachvollziehbarer Begründung in Konfliktfällen, das Insistieren auf Selbstdenken und Eigenverantwortung neben der Unerlässlichkeit gegenseitigen Respekts zeichnen Mendelssohns Versuch einer Reformulierung und Begründung der Aufklärungsforderung aus. Er verfolgte, wie schon seine ästhetischen Überlegungen ahnen ließen, nicht das Ideal einer umfassenden Aufklärung alles Dunklen, Gefühlten und Geglaubten, sondern grenzte die Zuständigkeit menschlicher Vernunft hier entscheidend ein (IV.4). Worin jeder Mensch die ihm angemessene Erfüllung findet, kann damit materialiter philosophisch gar nicht festgelegt werden, sondern ist unverfügbarer Kern jeder Persönlichkeit, die Mendelssohn deshalb geschützt wissen will. Der Versuch, diese Theorie des Menschen mithilfe der leibnizianische Prinzipien zu einem umfassenden, lückenlosen Netz der Begründungen zu verbinden, misslingt zumindest in Hinblick auf die Erfassung und Festlegung menschlicher Destination (V.1 und 2). Wie die Auseinandersetzung mit Herder zeigt, lassen sich im Argumentationsgefüge immer Aspekte ausmachen, die eine kontradiktorische, ebenso wahrscheinliche Lösung erlauben. Mit dem Versuch, die Sicherheit der Erfüllung menschlicher Destination zu beweisen, verstößt Mendelssohn letztlich gegen die eigene, oben erwähnte Voraussetzung der Begrenzung menschlicher Vernunft: mit

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dieser »göttlichen Beruhigung« ist die Vernunft an ihr Ende gekommen; mit der Reformulierung menschlichen Strebens als ›immer schon‹ seines Zwecks sicher hat er die eigene Forderung nach einer offenen Denkbewegung wiederum negiert. Die rationalistische Anthropologie Mendelssohns kann erst normativen Status gewinnen, wenn dies sich aus Einsicht in die Unabwendbarkeit der Einschränkung ergibt, ohne dass deshalb allein alle Kriterien normativer Welterschließung haltlos wären. Mit Kant (»Was heißt, sich im Denken orientieren?«, 1786) zu sprechen, war es »[…] nicht Erkenntniß, sondern gefühltes Bedürfniß der Vernunft, wodurch sich Mendelssohn (ohne sein Wissen) im speculativen Denken orientirte.« (AA VIII, 139) Den Weg von diesem Bedürfnis zu einem befriedigenden Vernunftbegriff ist Mendelssohn nicht zu Ende gegangen; in einer strikt ontologischen Lesart der zugrundeliegenden Prinzipien konnte er dies auch nicht. Seine Ansätze und Anfänge liefern jedoch zum einen Einsicht in eine umfassende Debatte über menschliche Natur und Bestimmung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zum anderen – zumindest hoffe ich dies gezeigt zu haben – bietet die Rekonstruktion einer Anthropologie Moses Mendelssohns eine befriedigendere Perspektive auf dessen Werk als zuvor, indem sie ihm einen seine wichtigsten Aspekte umfassenden, interessanten und fruchtbaren Einheitspunkt verleiht.

ABKÜRZUNGEN / SIGLEN

Abkürzungen AdB LB bzw. Litteraturbriefe

Bibliothek

SvW SvG

Allgemeine Deutsche Bibliothek. Hg. von Friedrich Nicolai. Berlin, Stettin 1765–94 (Bd. 118, 1796). Briefe, die neueste Litteratur betreffend. Hg. von Friedrich Nicolai, Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn (u.a.). Berlin, Stettin 1759–66. Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Hg. von Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn, ab Bd. 5 Christoph Friedrich Weisse. Leipzig 1757–65. Satz vom Widerspruch, auch Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs Satz vom zureichenden Grund, auch Prinzip des zureichenden Grundes

Siglen Herder, Werke Bd., S SWS Bd., S.

Herder, Briefe Bd., S. (Band 11 zitiert als Arnold 2001, S) AA Bd., S.

Leibniz, Hauptschriften Bd., S.

Leibniz, Theodicée, S.

Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Bibliothek deutscher Klassiker. Hg. von Ulrich Gaier u. a.. Frankfurt 1985. Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1877 ff. Reprographischer Nachdruck: Hildesheim, New York 21978 f. Ders.: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. Hg. von der Stiftung Weimarer Klassik. Bd. 11: Kommentar zu den Bänden 1–3. Bearbeitet von Günter Arnold. Weimar 2001. Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften und von der Deutschen Göttinger Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900 ff. (= Akademieausgabe). Gottfried Wilhelm Leibniz: Hauptschriften zur Philosophie. Teil I und II., in: Ders. Philosophische Werke in vier Bänden in der Zusammenstellung von Ernst Cassirer. Bd. 1 und 2. Hamburg 41996 (= PhB 496 f.). Ders.: Versuche über die Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Artur Buchenau. Bd. 4 der Phi-

586

GWL Bd., S. Lessing, Werke Bd., S.

LM Bd. S.

JubA Bd., S.

GS

Bücherverzeichnis Nr./S.

Characteristicks, Bd., Abt.

NA

Werke in Kürzeln: Deutsche Metaphysik, Deutsche Logik etc.

Abkürzungen / Siglen losophischen Werke in vier Bänden in der Zusammenstellung von Ernst Cassirer. Hamburg 41996 (= PhB 499). Ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. von C. I. Gerhardt. Berlin 1875–90, Nachdruck Hildesheim 1978. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Bibliothek deutscher Klassiker. Frankfurt a. M. 1988–94. Ders.: Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann, vermehrt durch Franz Muncker. 23 Bde. Stuttgart, Berlin, Leipzig 1886– 1919 (Neudr. Berlin 1968). Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Begonnen von Ismar Elbogen, Julius Guttmann, Eugen Mittwoch, fortgesetzt von Alexander Altmann, Eva J. Engel. Berlin 1929–32, Nachdruck Stuttgart, Bad Cannstatt 1971–. Moses Mendelssohn’s gesammelte Schriften. Nach den Originaldrucken und Handschriften. Hg. v. Georg Benjamin Mendelssohn. 7 Bde (zuerst Leipzig 1843–1845) Hildesheim 1976. Verzeichniß der auserlesenen Büchersammlung des seeligen Herrn Moses Mendelssohn. Berlin 1786. Wiederabgedruckt (und mit einem Nachwort von Hermann M.Z. Meyer) von der SoncinoGesellschaft der Freunde des jüdischen Buches E.V., Berlin. Leipzig 1726. Shaftesbury [Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury]: Characeristicks of Men, Manners, Opinions, Times, etc. Ed., with an Introduction and Notes, by John M. Robertson. 2 Vols. London 1900. [Friedrich] Schillers Werke. Nationalausgabe. Historisch-kritische Ausgabe. 1940 begründet von Julius Petersen. Fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese und Siegfried Seidel. Hrsg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers. Weimar 1943–. Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hg. und bearb. von Jean Ècole u. a. Hildesheim 1962 ff. (reprograph. Nachdruck der Originalausgaben).

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PERSONENREGISTER

Abbt, Thomas 11, 15 f., 20 f., 24, 27 f., 32, 46, 51, 54 ff., 61, 69, 71–117, 139, 182, 184 ff., 230, 236, 242, 246, 279–82, 285, 290, 326 f., 339, 344, 353, 356, 367 f., 390, 412, 416 ff., 430, 444 f., 452 f., 473 f., 499 f., 502, 504–08, 510, 512–16, 518 f., 521–30, 534, 537 f., 540–44, 547, 553, 559, 565 f., 568, 570, 575 f., 580 Abel, Jacob Friedrich 7, 50, 242, 339 Addison, Joseph 155, 174, 209, 228, 237, 304, 340 Adelung, Johann Christoph von 367 Adler, Hans 19, 37, 44 f., 47, 51, 54, 73, 85 f., 99, 155 f., 158–63, 177, 531–34, 536 f., 540, 545, 547, 551, 563 Albrecht, Michael 10, 24, 203, 223, 273, 321, 339, 383, 432 f., 444, 458, 480, 527 Alt, Peter-André 7, 241 Altmann, Alexander 9 f., 14, 23, 62, 73, 81, 84, 103, 105, 107, 109, 114, 116, 119 f., 124, 141 ff., 165 f., 168 ff., 172, 176, 194, 240 f., 245 f., 248 f.,

252, 257, 261, 268, 272, 276 f., 279, 282 ff., 290, 292, 298–301, 304, 306, 308, 310, 314, 317, 323 f., 326, 328 f., 331, 336, 345, 347, 352, 367, 382, 385, 388, 406, 410, 423, 425, 429–35, 438, 443 f., 450, 473, 481, 487, 495, 497, 501 f., 505, 507, 512 f., 520 f., 525, 527 f., 530, 532, 553, 557, 561 f., 572 Aristoteles 31, 151, 202, 233 Arkush, Allan 9, 277, 382, 384, 386, 430, 432, 469, 480, 485, 487 f., 500 Arndt, Hans Werner 158, 262 f., 265 Bach, Carl Philipp Emanuel 215 Bachmann-Medick, Doris 32, 36, 45, 291 Baeumler, Alfred 162 Bamberger, Fritz 138, 169 f., 172, 228 f., 258, 261, 283 f., 347 Batteux, Charles 177, 196 f., 202, 209, 213, 215, 222 f., 231 Baum, Manfred 532 Baumeister, Friedrich Christian 392 f. Baumgarten, Alexander Gottlieb 11, 14, 16 f.,

19, 22, 38, 47 ff., 52, 64, 72, 148 f., 157–63, 167 f., 171 f., 181, 197 ff., 201, 214, 216, 219, 221–26, 233, 245, 261, 264, 268 ff., 277, 282, 284, 290, 303 f., 312, 319, 337 f., 341, 401, 421, 507, 531 f., 536, 540, 542, 545, 550 ff., 565 Bayle, Pierre 109, 113, 128, 277, 526 Belke, Ingrid 405 Bergengruen, Maximilian 184, 312 f. Berghahn, Cord-Friedrich 393 f., 396 f., 400–06, 412, 414, 466, 469 f., 476, 482, 487 f., 554 Berghahn, Klaus L. 402– 05, 415, 440, 443, 458, 462, 470, 472–80, 482, 489–93 Biester, Johann Erich 426 f., 440, 446, 486, 493, 497 Bödeker, Hans Erich 55, 67, 79, 83, 95 f., 452 f. Boileau-Despréaux, Nicolas 204, 231 Bollacher, Martin 397 Bollenbeck, Georg 442, 447–51 Bonnet, Charles 48, 105, 174, 261, 464, 474, 481, 485, 487, 554, 556, 562

614 Boscovich, Pater Roger 327, 507, 548 Bourel, Dominique 9, 23, 439, 480 Brandt, Reinhard 23, 29, 34, 47, 49 f., 204, 305, 421 f. Burke, Edmund 34, 132, 195, 232–36, 243, 304 Buschmann, Cornelia 45 f., 60, 265, 279, 281, 306, 432, 441 Cassirer, Ernst 10, 12, 14, 32, 54, 64 f., 128, 130 f., 140, 154, 159, 177, 194, 243, 250 f., 263, 277, 336, 339 f., 358, 393 ff., 397 ff., 404, 411–14, 426, 507, 554 Cicero 173, 365, 447 f. Condillac, Étienne Bonnot de 35, 153, 359 ff., 363, 366, 368, 377, 379, 554 Costazza, Alessandro 39, 277 Cranz, August Friedrich 383, 469, 490 f. Crusius, Christian August 261, 269 D’Alessandro, Giuseppe 56, 70 Dahlstrom, Daniel 54, 270, 286 Davies, Martin L. 42 ff., 427 Descartes, René 46 f., 65, 123, 128, 158, 164, 167 f., 262, 268, 275, 277 ff., 290, 358, 393 De Pierris, Graciela 29, 249, 289

Personenregister d’Helvétius, Claude Adrien 35, 89, 123, 324, 387 Diderot, Denis 123, 368, 501 Dohm, Christian Wilhelm Conrad von 427, 471, 473, 476–81, 490 Dörr, Volker C. 402 ff., 406 Dubos, Jean-Baptiste 14, 27, 145, 168, 176, 178 f., 181, 184 ff., 195, 202, 204, 223, 243, 304, 581 Duncan, Bruce 33, 218, 309, 573 f. Dürbeck, Gabriele 41, 45, 49, 52, 144, 155, 159, 162, 166, 169, 174, 307, 309, 318 Eberhard, Johann August 306, 355, 526 Eibl, Karl 70, 73 Eisen, Arnold 386 Eisenmenger, Johann Andreas 475 f. Engel, Eva J. 11, 24, 72, 222, 224, 284, 358, 365, 423 Engel, Johann Jakob 36, 43, 198, 291, 367, 427, 526, 529 f., 554, 569 Engfer, Hans-Jürgen 61, 262 f., 266, 270, 274 Epikur 365, 520 Erlin, Matt 143, 387, 403, 410, 415, 457, 462 Euler, Werner 251, 278 Falkenstein, Lorne 257 Ferguson, Adam 35, 148, 247, 255, 401, 434 Fetscher, Iring 118, 132, 143

Fick, Monika 136 Fischer, Bernhard 211 Forst, Rainer 126, 131, 398, 400, 404, 414, 430, 432, 439 f., 469, 471 f., 474, 476, 482 f., 489 Fraenkel, Rabbi David 386, 477 Friedrich (der Große) II. 455 f., 476 f. Gaier, Ulrich 366 Garber, Jörn 8, 53 Garve, Christian 35 f., 45, 63 f., 211, 242, 255, 291, 434, 520, 527 Gedike, Friedrich 427, 446 Gellert, Christian Fürchtegott 314, 471 Gerard, Alexander 35, 222, 304 Geyer-Kordesch, Johanna Maria 11, 169, 171, 174 f., 178, 181, 192, 203, 233, 320 Gleissner, Roman 147, 204, 332, 454 Goethe, Johann Wolfgang 331, 451 Goetschel, Willi 7, 11 f., 27 f., 54, 145, 147 ff., 152, 157 f., 168, 189, 241, 298, 382, 429, 432 f., 435, 444 f., 469 Goldenbaum, Ursula 27, 119, 122 f., 127, 158, 168, 172, 319 Gombrich, Ernst H. 208 Gottsched, Johann Christoph 146, 197, 221, 350 Greiner, Bernhard 451 Grimm, Dieter 439

Personenregister Grimm, Gunter E. 219 Grimm, Hartmut 213, 216 Groß, Steffen W. 264 Grossinger, Joseph 569 Grotius, Hugo 432, 434 Gumpertz, Aaron 406 Guttmann, Julius 487 Guyer, Paul 165, 176, 180, 184, 198, 219, 340 Haimberger, Hans von 207, 214, 321 Haller, Albrecht 38, 41 f., 45, 174, 304, 338, 442, 578 Hartung, Gerald 323 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 68 Heidsiek, Arnold 145, 147, 154 Heinekamp, Albert 38 Heinz, Jutta 12, 14, 16, 22, 33, 37, 45, 49, 53, 180, 273, 304 Heinz, Marion 73, 87, 89, 96, 172, 269, 531–37, 540 f., 545 f., 548, 552, 564, 567 f. Hennings, August von 71, 256, 322, 407 f., 410, 445 ff., 450, 454, 457, 463–66 Henrich, Dieter 25 f., 61 Herder, Johann Gottfried 8, 12, 21, 24, 27, 45, 51, 61, 66–69, 77, 86, 105, 115, 136, 154, 156, 184, 189, 240, 269, 273, 306 f., 363, 365–68, 372, 379 ff., 423, 447, 451, 502 f., 506, 527, 529–73, 575, 582

Herz, Henriette 441 Herz, Marcus 42 f., 221, 260, 284, 421 f., 480, 568 Hinske, Norbert 52, 55 f., 73, 82, 97, 107, 110, 115, 416, 418 f., 424–28, 443, 445, 454 ff., 458 f., 463, 486, 500, 518, 529 Hobbes, Thomas 431, 433 f., 520 Homberg, Herz 367, 386, 429 Homes, Henry (Lord Kames) 223, 304, 317 Hornig, Gottfried 58 f., 66 ff., 114, 129, 534 Hume, David 18, 27, 35 f., 49, 73, 82, 154, 169, 247–61, 276, 278 f., 281, 283 f., 289, 291, 293, 297 ff., 304, 306, 309 f., 412, 522, 531, 535, 581 Hutcheson, Francis 35, 73, 132, 146 f., 154, 165, 223, 247, 303 f., 308, 340 Hütter, Anton 359, 385, 387 Iselin, Isaak 45, 81, 444, 504 f. Jacobi, Friedrich Heinrich 158, 278, 284, 347, 472 Jacobs, Jürgen 132, 144, 179, 228, 466 Jannidis, Fotis 55 ff., 66, 69–74, 77, 89, 116 Janz, Rolf-Peter 241 Jasper, Willi 406

615 Jerusalem, Karl Wilhelm 176, 184 John, Matthias 39 Juchem, Hans-Georg 169, 351 Kahn, Lothar 489, 496 Kant, Immanuel 6, 8, 12, 21 f., 24, 27, 34 ff., 48–52, 54 f., 61, 63, 76, 105, 115, 118, 121 f., 159, 187, 189, 204, 208, 223, 228, 238, 241 f., 249 f., 253, 257, 260, 262 f., 269, 272, 277, 282, 284, 288, 300, 304 f., 314 f., 326 f., 331, 334 ff., 340 f., 347, 351 ff., 355, 383, 398, 416–29, 431 f., 436, 438 f., 441, 443, 451, 455 ff., 460, 465–68, 504, 511, 528 f., 531 ff., 535, 542, 549 f., 560, 563 f., 568, 577, 583 Keller, Ludwig 427 f., 446 Kimpel, Dieter 147 Kinkel, Walter 335 Kirnberger, Johann Philipp 215 ff. Klein, Ernst Ferdinand 425, 427, 436 Klemme, Heiner F. 248, 252, 257, 259, 284, 310 Kondylis, Panajotis 14, 16, 45, 67, 98, 573 Krüger, Johann Gottlob 37 f., 41 f., 45, 53, 172, 174, 180, 304, 309, 536 Kuehn, Manfred 8, 29, 35, 94, 154, 247 f., 250–60, 303, 309, 315, 352, 381, 421 ff.

616 Lambert, Johann Heinrich 43, 359, 365, 367, 369 Lausch, Hans 259, 326 f. Lavater, Johann Caspar 11, 50, 66, 115, 174, 276, 383, 403, 414 ff., 430, 462, 464 f., 473, 480 ff., 484, 486, 489 ff., 496, 533, 551, 554, 562, 568 Leibniz, Gottfried Wilhelm 11, 13 f., 16, 22, 25, 27, 32, 38, 45 ff., 49, 58 ff., 62–65, 67, 73, 91, 97 ff., 103, 108 ff., 113, 116, 132–35, 137, 140, 148, 155–64, 166, 170 ff., 175, 177 f., 180, 189 f., 221, 228, 245, 247 f., 250, 252, 254, 256, 258, 260–66, 268 f., 271, 274, 285 f., 290–93, 296, 301, 305, 336, 357 ff., 367, 374, 376, 387, 393, 400 ff., 404 f., 408, 410, 425, 432 f., 439, 445, 448, 463, 500, 503 ff., 507 f., 510, 513 ff., 517, 522–25, 528–32, 536, 546, 549, 552, 555, 561–65, 569, 571, 573 Lessing, Gotthold Ephraim 8, 20, 24, 27, 45, 58, 64 f., 71 f., 105, 111, 116, 118 ff., 132, 136 f., 139, 145–48, 150 f., 154, 158, 176, 179–85, 194 f., 200, 203 ff., 210 ff., 214, 220 f., 228, 230, 234, 241 f., 252, 265, 277, 304, 311, 314, 318–21, 324, 339, 356, 364 f., 375, 383 f., 392 f.,

Personenregister 395–407, 409–15, 425, 450, 470 f., 474, 477, 481, 484 f., 487, 496, 501 f., 531, 551, 565, 577, 580, 582 Leventhal, Robert S. 383 Levy, Ze’ev 378, 491 f. Liberles, Robert 478 Linden, Mareta 12, 34, 36, 53, 55 f., 68 Locke, John 47, 49, 170 f., 189, 213, 247 f., 252, 265, 279, 304, 309, 358 f., 367, 371, 376, 378, 393, 431, 433, 437, 472, 534, 551 Lorenz, Stefan 39, 75, 80 f., 87, 89, 93, 95, 105, 112 f., 292, 515, 526 Lötzsch, Frieder 423 Lovejoy, Arthur Oncken 37, 46, 554 Lühe, Astrid von der 249, 252, 257 Lütteken, Laurenz 214–17 Keller, Ludwig 427 f., 446 Mack, Michael 383 f., 429, 468 Maimonides 49, 303, 377, 383, 414, 485 Malebranche, Nicolas 41, 268, 338, 343 Mandeville, Bernard 132, 143 f., 146 f. Manasseh Ben Israel 480 Marks, Jonathan 131 Marquard, Odo 31, 33, 51 f. Martino, Alberto 14, 117 f., 172, 178, 202, 240, 243 Maupertuis, Pierre Moreau

de 173, 326, 328, 360, 368 Mauser, Wolfram 35, 37 f. Meier, Georg Friedrich 21, 38, 41, 162, 169, 291, 309, 358 f. Meier, Jean-Paul 223, 338, 343, 345, 347 f. Melzer, Arthur M. 131, 143 Mendelssohn, Fromet 422, 477 Mendelssohn, Georg Benjamin 43 Menke, Christoph 540, 551 Meyer, Herrmann M.Z. 24 Michaelis, Johann David 365, 368, 433, 478, 494 Michelsen, Peter 24, 145, 169, 203, 411 Montesquieu 82, 84, 96, 425, 430, 440, 466, 472, 482 Moravia, Sergio 33 Moritz, Carl Philipp 8, 42–45, 51 f., 221, 308, 427 Moser, Friedrich Carl von 84, 93 Mühlmann, Wilhelm E. 130 Müller, Ernst 39, 194, 277 Müller, Reimar 123, 130, 132 f Müller-Sievers, Helmut 442 Nadler, Steven 500 Nehren, Birgit 427 Nicolai, Friedrich 11, 24, 79, 81, 145 ff., 150, 179, 202 f., 230, 279, 368, 371, 427, 452, 477, 505, 543 f., 549, 553, 561

Personenregister Nolte, Fred O. 145, 147–50, 203 Nowitzki, Hans-Peter 33, 35, 40 ff., 45, 49, 52 f., 55 f., 58, 174, 223, 352 Obereit, Jacob Hermann 137, 139, 329, 495 Oetinger, Friedrich Christoph 71 Osinski, Jutta 29, 44, 308 Paetzold, Heinz 65, 159, 162 f., 168, 201 Pauen, Michael 207, 209, 218 Pikulik, Lothar 169 f., 577 Platner, Ernst 8, 12, 34, 38–42, 45, 48, 50, 52 f., 58, 155, 173, 223, 367, 570 Platon 27, 187, 189, 332, 366, 501, 503 f., 528 f., 546 Pope, Alexander 88, 105, 401 Pouilly, Jean Levesque de 168, 172, 174 ff. Proß, Wolfgang 33 ff., 160, 173, 181, 189, 214, 252, 307, 359, 361, 365–68, 532, 541, 550, 561 Pseudo-Longinos 25, 231, 234 f. Pufendorf, Samuel von 431, 434, 447 f. Rand, Nicholas 306 Redekop, Benjamin W. 88 f., 93–96 Reich, Klaus 529 Reimarus, Hermann Samuel 58, 263, 366, 379, 398, 402, 407, 507, 536

Rengstorf, Karl Heinrich 473, 475, 497 Resewitz, Friedrich Gabriel 79, 182, 223, 323, 327, 330, 527 Ricken, Ulrich 357, 359 f., 363, 379, 389 Riedel, Friedrich Justus 226 f., 231, 339, 527, 550 Riedel, Wolfgang 7 f., 11, 34, 47–51, 72 f., 174, 213, 215, 307, 314, 332, 339 Rind, Miles 165, 340 f. Risse, Regina 473, 478 ff. Rotenstreich, Nathan 142, 433 Rousseau, Jean-Jacques 17, 19, 27, 58, 64, 66 f., 111, 117–37, 140–48, 151–54, 184, 209, 212, 214 f., 224, 231 f., 238, 277, 290, 302, 324, 355 f., 360–64, 366, 369, 372 f., 375, 378 f., 381, 396, 398, 401, 409, 415, 418 f., 424, 431, 433, 436, 448 f., 461 f., 483, 487, 501, 511, 531, 536, 580 ff. Sauder, Gerhard 52, 73 Schillemeit, Jost 145, 149, 202, 210 Schiller, Friedrich 7 f., 12, 50, 130, 194, 238, 241 ff., 314, 317, 351 ff., 403, 472, 527, 577 Schings, Hans-Jürgen 11, 33, 37, 44, 49, 53, 142, 144–47, 149, 170 f., 562 Schlegel, Johann Adolf 197, 206, 235

617 Schmidt, Gerhart 447, 470 Schmidt, Jochen 222 Schneider, Hans Joachim 10, 272 f. Schoeps, Julius H. 475 f., 497 Schorch, Grit 232, 236, 240 Schrader, Wolfgang H. 43, 305 Schulte, Christoph 386, 487, 490 Schwaiger, Clemens 56, 70, 73, 103, 164, 229, 265 f. Seeba, Hinrich C. 392, 399 Segreff, Klaus-Werner 230, 320 Selle, Christian Gottlieb 427 f., 435, 450 Sextus Empiricus 374 Shaftesbury 11, 27, 35, 43 ff., 56, 67, 72 f., 93, 95, 103, 132, 147, 155, 169 ff., 211, 220 f., 226, 229, 247, 303 f., 317, 336, 339 ff., 414, 450, 452, 463, 472, 512, 526, 531 f. Sokrates 188, 243, 501 f., 506, 508 f., 512 f., 516–19, 521, 524, 527 Sommer, Robert 47, 352 Sonnenfels, Joseph von 491 Sorkin, David 9, 471, 478, 480 Spalding, Johann Joachim 31, 50, 54 ff., 69–82, 85 f., 89 ff., 97 f., 100, 108–112, 228 f., 339, 408, 416, 427, 506 f., 511, 518, 530, 543 f., 559, 575, 579 Spinoza, Baruch de 27 f.,

618 65, 148 f., 152, 155 f., 158 ff., 164, 168, 172, 189, 268, 319, 382, 414, 429, 431, 433, 435, 444 f., 472, 520, 531 f. Stahl, Ernst 41, 45, 172 f., 307 Stamm, Marcelo 26 Stanford, P. Kyle 298 f. Stolnitz, Jerome 340 Stolzenberg, Jürgen 29, 274, 278 Strauss, Leo 122, 347, 432 f., 503, 505 ff., 523 Strohschneider-Kohrs, Ingrid 398, 400, 406 f., 484 Strube, Werner 38, 204, 234, 236 f., 239, 339, 359 Sturm, Thomas 47 Süßmilch, Johann 82 f., 88, 92, 553 Sulzer, Johann Georg 8, 11, 14, 19, 27, 41, 45, 48, 138, 143, 148, 156, 158 ff., 165–68, 172, 174, 176, 178, 188, 194 f., 199, 215, 222 f., 238, 242 f., 245, 248, 250 f., 253 f., 256 f., 259 f., 291, 303–08, 310, 314, 319, 322, 332, 337 ff., 343, 346, 351, 356 ff., 367, 372 f., 526, 552 Svarez, Karl Gottlieb 427, 435, 446

Personenregister Terras, Rita 169, 338, 349 f. Tetens, Johannes Nikolaus 48, 55, 57 f., 273, 307, 345, 352 Till, Dietmar 231 f., 234 f., 237 f. Toland, John 476 Tomasoni, Francesco 98, 408 Totok, Wilhelm 65, 395, 402 Toury, Jacob 477, 479 Tubach, Frederic C. 120, 135 ff., 140, 222 Unger, Rudolf 532, 546 Unzer, Johann August 38, 42, 45, 53, 174, 178, 324 Vazsonyi, Nicholas 82 Vidal, Fernando 45 Vierhaus, Rudolf 33, 440, 443 Vogt, Wolfgang 246 f., 272, 292, 381 Vollhardt, Friedrich 40, 80 Voltaire 128, 131, 140, 393 ff., 397 f., 401, 423, 463, 483, 569 Walch, Johann Georg 34, 447 f. Walzel, Oskar F. 43, 103 Wellbery, David E. 113, 155, 157, 177 f., 181, 193, 204, 207, 213 f., 221, 236, 241

Wenzel, Rainer 304, 414, 487 Wessely, Hartwig 490 Wieland, Christoph Martin 222, 238, 397, 451 Wilson, Catherine 46 f., 402 Wokler, Robert 6 Wolff, Christian 8 ff., 13 f., 16, 27, 32, 40, 43, 45–49, 52, 59 f., 63 f., 73, 98, 141, 149, 152 f., 156, 158 ff., 163 ff., 167–70, 172, 177 f., 194, 197 f., 205, 213 f., 240 f., 243, 244, 248, 250 f., 254, 261 ff., 265 f., 269–75, 277 ff., 282, 292, 298, 300, 302–05, 307, 313, 315, 318 f., 326, 331, 337, 358 f., 361, 374, 388, 428 f., 432, 434 f., 457, 469, 472, 492, 505, 513, 532, 536, 541, 552 Zammito, John H. 18, 35, 38, 81 f., 117, 154, 223, 441 f., 531, 536 f., 566 Zantwijk, Temilo van 39, 48 Zelle, Carsten 11, 14, 35, 38, 44 f., 52 f., 117, 149, 169, 179, 184 f., 200, 203 ff., 209, 239, 241, 247, 350, 578 Zöller, Günter 101 Zöllner, Johann Friedrich 427 f., 440, 450

SACHREGISTER

Vorbemerkung: Einschlägige Wortgruppen oder -zusammensetzungen sowie die französischen, lateinischen und englischen Entsprechungen sind erfasst. Ausgelassen wurden schlichte Nennungen in Werktiteln. Abscheu (s. a. Ekel) 17, 146, 180, 183–86, 197, 205, 239, 315 f., 337, 342, 349 f., 516, 528 Abstraktion 44, 59, 148, 162, 171 f., 226, 267, 280, 287, 355, 362 f., 377, 381, 412, 448, 540, 567 abstrakt, Abstractum 8, 54, 129, 147 f., 163, 193, 204, 304, 327, 357 f., 360 f., 363, 372–77, 387, 390, 409 f., 413, 415, 426, 446, 457, 465, 510, 545, 552, 563, 576 Affekt(ion), Affektivität 10, 38, 142, 145, 147–51, 153, 158, 163–66, 169, 173, 178, 183, 189, 195, 199, 204, 207 f., 210, 215–18, 229 f., 236, 272, 281, 312 ff., 319, 322 f., 328, 330, 332, 368, 381, 408, 433, 517, 530, 580 f. Aggregat 106, 109, 262, 412, 417, 534, 569 Anerkennung 24, 150, 156, 232, 290, 334 f., 353, 415, 467, 488, 491, 498 angenehm (s. a. Lust, Vergnügen) 6, 103, 115, 135, 143, 151,

164 f., 167 f., 173, 175 ff., 179–83, 185 f., 188, 195, 201, 203 f., 206, 210, 216, 232–35, 237, 239 ff., 244, 287 f., 300 f., 310–14, 318, 320 f., 326, 328, 342 f., 345, 350, 379, 510, 557 Antagonismus (von Kräften) 14, 20, 418, 420 Anthropologe 21, 25, 155, 175, 246, 410 Anthropologie 7 ff., 12, 15 f., 21, 23, 28, 31–37, 39–42, 44, 46–57, 73, 107, 118, 130, 170, 192, 223, 243, 279 ff., 325, 331, 356, 390, 409, 419, 424, 500, 528, 533, 535, 547, 553, 578 f., – rationale / rationalistische / vernünftige / metaphysische 9, 12 f., 23, 32, 37, 49 f., 54, 240, 245, 281, 378, 410, 502, 575 – Mendelssohns 9, 12, 15, 23, 27 f., 49, 51, 53 f., 78, 109, 157, 191, 219, 229, 246, 355, 408, 411, 415, 429, 433, 443, 468, 492, 499, 526, 530, 533, 568, 574 f., 581, 583

– physiologische / naturalistische / medizinische 12, 34, 37, 39, 49, 174, 192 anthropologisch 7, 12, 14, 18, 25, 28, 33, 35, 37 f., 41 f., 45 f., 49, 51, 53, 55, 57, 59 ff., 65–68, 74, 118, 130, 161, 171, 173, 189, 191, 193, 200, 207 f., 213, 243, 247, 264, 270, 279, 281, 283 ff., 304, 323 f., 332, 336, 340, 366, 369, 397, 402, 408 f., 421, 426, 448, 466, 469, 481, 484 f., 487, 496, 533, 563, 568, 575 f., 580 – e Wende 11, 39, 53, 55 Aufklärung, aufklärerisch 7 ff., 11, 16 f., 19 ff., 27, 31 ff., 35 ff., 45, 49, 53–56, 58 ff., 67–71, 81 ff., 89, 97, 110, 116 f., 119, 121, 129–31, 134, 139, 144, 149, 154, 159, 179, 193, 213, 231 f., 242, 246, 262 f., 268, 277, 282, 286, 305, 325, 355 f., 359 f., 363, 365, 367, 386 f., 391 f., 395, 398, 404 f., 411 f., 414, 418, 426–29, 439 ff.,

620 443–54, 457 ff., 461–67, 469, 471 ff., 475 f., 479, 481 ff., 486 ff., 496 f., 499, 502 f., 529 f., 562, 567, 574, 577, 580, 582 – Dialektik der 117, 444, 446, 482 Balance (Ausbalancierung) 10, 20, 33, 225, 243, 322, 441, 443, 455, 557, 566 Bestimmung des Menschen 8 f., 11 ff., 15, 17, 20 f., 23, 27 f., 31, 35, 37, 50 f., 53–57, 65 f., 68– 75, 77, 79–90, 92 f., 95, 97–102, 104–07, 112 f., 115 f., 122 f., 141, 153, 156 f., 167, 182, 196, 246 f., 262, 265, 282, 320, 322, 359 f., 363, 390, 392, 394 f., 405, 408 f., 413, 415, 419 f., 422, 424 ff., 430, 435, 443–46, 448, 450 f., 453 f., 456–59, 469 f., 495, 500, 504, 506, 508, 511 f., 514 f., 518, 524 f., 529, 533–37, 544 f., 547, 549, 576 f., 579 f., 583 Beweg(ungs)grund, -prinzip (s. a. Motivation, Triebfeder) 41, 140, 185, 291, 293 ff., 300, 302, 310 ff., 315 f., 344, 423, 437 f., 452 Bewunderung 11, 133, 145 ff., 149 ff., 198, 212, 215, 229 ff., 233 f., 236–39, 319, 430, 501

Sachregister Bildung 13, 19 f., 28, 34, 54, 68 f., 78, 97, 101, 104, 112, 115 f., 128, 213, 241, 285, 306, 355, 392, 405, 415, 425 f., 438, 440–43, 445–51, 453 f., 462, 464, 466 f., 469, 472, 479, 483, 492, 496 f., 499 ff., 511, 534, 539, 543, 574 ff., 582 Billigung 22, 336, 338–41, 345 f., 348–53, 508 – svermögen 19, 166, 268, 333–37, 340 f., 344, 346 f., 349–52, 394 Beifall 268, 333 ff., 338, 348, 350 Bürger, bürgerlich 24, 86, 94 ff., 121 f., 192, 418 ff., 423, 425–30, 436, 438, 440, 443, 448, 452–55, 457 f., 464, 466, 469 f., 472, 476–81, 483, 486, 490 f., 495 f., 542 Commercium (mentis et corporis) 39, 48 ff., 53 conditio humana 378, 488, 578 Dialog 10, 22, 27, 79, 155, 169, 330 f., 358, 470 f., 473, 501, 503, 505 f., 526 f., 529, 531, 534 Dichtkunst 214, 218, 230, 233, 387, 543 (Er)Dichtung, Gedicht 133, 147, 168, 197, 199, 201, 212, 222, 225, 232 f., 238, 313, 318, 331, 350, 387, 560, 577 ff., 581

Dichter 183, 198, 201, 203, 221 f., 235, 239, 320 Drama 117, 147, 200, 292, 501 Dynamik, dynamisch 11, 14, 41, 46, 57, 62, 64 f., 85, 98, 101, 109, 112, 135, 153, 155, 158, 160, 164, 170, 175 ff., 194, 215, 229, 240 f., 282, 304, 320, 352, 359, 401 f., 411 f., 443 f., 448, 451, 509, 514, 548 f., 556 Egoismus, egoistisch 74, 94, 110 f., 144, 152, 182, 532 Einheit (des Mannigfaltigen) i. S. v. Perfektion 59, 62–65, 106 f., 134, 138, 144, 163, 167 f., 173, 195, 211 f., 215, 223, 262, 273, 278, 286, 300, 353, 401, 444, 456, 504, 509, 555, 557, 568, 573, 583 – der Seele 75, 144, 307, 332, 507, 562 Ekel (s. a. Abscheu) 185, 199, 206 f., 227, 243, 551 Emotion 10, 14, 17, 150 f., 153 f., 163, 167, 172, 179, 193, 198, 207, 213 ff., 218, 223, 228, 234, 240, 242, 275, 282, 287, 301 f., 304, 306, 309, 312, 314, 319–23, 327, 329 f., 332, 337, 371, 466, 494, 580, 582

Sachregister Empfindung, Empfindlichkeit 40 f., 49, 54, 74 f., 96, 99 f., 102, 104, 114 f., 142 f., 145–53, 156, 159 f., 162 ff., 165 ff., 170, 172 f., 175, 177 ff., 182, 186–90, 192, 197, 199, 202, 204, 208 ff., 214, 216, 219 f., 222, 224, 228, 230 f., 233 ff., 237, 239–43, 270, 281, 285–88, 290 f., 299–303, 306–12, 314, 316–22, 324, 327, 332 f., 336–39, 343–46, 348, 350–53, 357, 363, 372, 374, 387, 396, 436, 441, 509 f., 515 f., 523, 534 f., 539 f., 545 f., 549, 551–56, 558 f., 562 f., 570–73, 577, 579, 582 – vermischte 16 f., 111, 115, 144, 146, 154 f., 157, 176, 178, 182, 184–89, 191, 193, 196, 198 f., 201 f., 205–10, 213, 215 f., 219 f., 229 ff., 233 f., 238–41, 304, 311, 313 f., 318–22, 342, 353, 551, 557 – angenehme 115, 164 f., 176, 181 f., 185 f., 188, 206, 210, 239, 241, 301, 310–14, 318, 321, 342 f. – unangenehme 143, 165, 182, 185 f., 188 ff., 201, 204, 206, 328 f., 342 Empfindsamkeit 96, 184, 243, 307, 561 Enthusiasmus 169 ff., 221, 304, 317, 332, 341, 465

Erhaben 63, 111, 133, 145, 157, 191, 193, 195, 215, 222, 225, 227–40, 243 ff., 317, 344, 352, 442, 459, 551, 578 Erkenntnis 10, 18, 28, 32 f., 39 f., 42, 46, 48, 53, 55, 69, 74 f., 92, 95 f., 99 ff., 106, 113, 125, 128 f., 153, 155 f., 158 f., 160 f., 163 f., 168, 171, 173, 175–79, 183, 186, 192, 217, 219, 221, 226, 240, 242, 245–48, 251, 253, 258, 261, 264 f., 268, 273 f., 276 f., 284, 293, 295, 297 f., 315, 317, 319, 332–37, 339, 341 ff., 346, 348–53, 357, 360, 362, 375, 383, 385, 391 f., 393 f., 397 f., 402, 404, 413, 453, 462, 464, 472, 483, 495, 504, 511 ff., 517, 529, 534, 539 ff., 543, 553 f., 556, 564, 576 – anschauende 44, 151, 165, 197, 200, 218, 221, 245, 267, 277, 283–86, 288, 290, 305, 307, 310–14, 318, 320 f., 387, 447, 540 – sinnliche / klare und verworrene / physiologische / empirische 38, 40 f., 45, 47, 50, 52, 76, 156, 161 f., 165, 167 f., 172, 201, 214, 270, 309, 314, 316, 374 f., 539 – rationale / klare und deutliche / adäquate 11, 14, 38, 46, 60, 106, 160 f., 167 f., 170–73,

621 175 ff., 201, 208, 245, 269 f., 272, 277 f., 287, 290 f., 303 f., 307, 309, 311 f., 314, 374, 376 f., 385, 554 – dunkle 46, 156, 173, 176, 374 – intuitive 164, 177, 195, 221, 272, 357 – menschliche 7, 18 f., 22, 49, 52, 99, 112, 156, 161, 172, 194 f., 247, 263, 273, 275, 280, 293, 297, 387, 395, 510, 547, 581 – pragmatische / praktische 47, 299, 303, 315, 334, 345 – symbolische / figürliche 161, 319, 357, 378, 447, 576, 582 Erkenntnisvermögen 223, 242, 281, 283, 310, 337, 342, 344 ff., 348 f., 352, 516, 563 – unteres 47, 155, 167, 308 – oberes 155, 206, 220 f., 244, 291, 580 Erziehung 37, 72, 111, 122, 126, 149, 186 f., 194, 311, 403, 406 f., 411, 419, 423, 437–40, 442 f., 447, 479 f., 489, 518, 522 ff., 526, 534, 539, 566 Fasslichkeit 11, 47, 268, 270, 273, 275, 282, 450, 542, 576 Freiheit 10, 19, 22, 24, 50 f., 63, 68, 93 f., 97, 118, 121 f., 124–32,

622 140 ff., 148, 153 f., 194, 203, 209, 215, 238, 241 f., 260 f., 263 f., 268 f., 277, 287, 290–302, 306, 309, 316, 318, 320 f., 324, 329, 331, 338, 341 ff., 347 f., 351, 361, 372, 383, 386, 397, 414, 417, 424, 426 ff., 430 f., 435 f., 438–41, 443 f., 446, 453–57, 459–62, 467, 471, 479, 483, 487, 492–95, 497 f., 534, 568, 580 f. Fortschritt (s. a. Teleologie) 36, 54, 59, 67 f., 70, 77, 113, 115, 117 f., 123, 128–31, 139, 144, 164, 223, 356, 384 f., 390–93, 395, 405 f., 410, 424, 426 ff., 444, 448 ff., 452, 456, 462, 465 f., 487, 517 fundus animae (Grund der Seele) 19, 159, 290, 540 Furcht (s. a. Schrecken) 144, 151 f., 206, 239, 334, 346, 518 Gefallen (a. Wohlgefallen) 61, 164 f., 177 ff., 181, 184, 190, 196 f., 200, 202 f., 205, 208 f., 217, 227, 232 f., 239, 300 f., 318, 332, 335 f., 339 f., 342, 348, 351 f., 526 Gefühl 18 f., 21, 33, 74, 89 f., 96, 101 f., 105, 111, 118, 121, 127, 135 f., 142–47, 150–53, 163 ff., 171 f., 176 ff.,

Sachregister 180, 182 f., 185, 187, 189 f., 202, 204, 206, 208 ff., 213, 215, 218, 220, 222, 227, 229 ff., 236–40, 243, 247, 252, 287, 299, 304, 309 f., 312, 314 f., 318, 322, 327, 334, 344, 351, 353, 363, 374, 379, 413, 442, 461, 471, 474, 478, 494, 509, 516, 528, 551 f., 557, 568, 578–83 Geist 16, 32 ff., 40, 42, 47, 49, 72, 74, 79, 100, 102 f., 105, 108, 125, 128, 131, 137, 140, 155, 159, 171, 173 f., 176, 183, 191 f., 212, 214, 219, 221, 223 ff., 237, 241, 249, 257, 264, 275, 298, 301, 305 ff., 336 f., 339, 341, 356, 360, 363, 372 f., 388, 391, 394, 402, 412, 437, 445, 451, 504, 510 ff., 517, 521 f., 528, 531 f., 538 ff., 547 ff., 554 f., 557, 559 f., 570–73, 576, 578, 581 Gemeinsinn (a. common sense / sensus communis) 8, 11, 72 f., 77, 94 f., 154, 169, 247, 303, 305, 314 f., 333, 338, 563 Genuss 8, 36, 74, 102 f., 121, 126 f., 165, 170 ff., 183, 187 ff., 200, 203, 205, 207, 210, 212, 215, 218 ff., 228, 231 f., 244, 312 f., 318, 320 f., 323, 330, 332, 336, 339, 342, 344, 346, 349–52, 408, 450, 510, 522, 524, 548,

550, 555 ff., 561, 565 ff., 572 Genie 37, 128, 157, 191 f., 195, 205, 212, 215, 220–26, 228–31, 236–40, 242, 267, 310 f., 318 f., 321, 405, 540, 543, 567 Gerechtigkeit 21, 24, 82, 91 f., 96, 111, 169, 275, 407 f., 431, 433, 439, 474, 477, 493, 501, 517 f., 521 ff., 558, 567 Geschmack 168, 179, 201, 206, 217, 221 f., 225–28, 287, 291, 303 f., 308, 310, 318, 320 ff., 335, 339 f., 351, 374, 394, 509, 535, 550 ff., 581 Geselligkeit 13, 15, 20, 42, 66, 74, 92, 94, 103 f., 109 f., 122, 124 f., 127, 140 f., 143, 145, 147 f., 152, 234, 355 f., 378, 380, 385, 387, 389, 413, 415, 426, 429, 446, 449, 453, 464, 499, 506 f., 511, 518, 526, 528, 531 Gesellschaft 8, 15, 19 f., 37, 66 ff., 70, 77, 81, 84, 89, 92–96, 103, 115, 119–24, 126–31, 133, 139–42, 144 f., 147 f., 154, 192, 204, 232, 246 f., 322, 325, 353, 355, 360–64, 366, 368 f., 378, 380 ff., 387–90, 401, 408, 411, 413 ff., 418 ff., 423–27, 429–32, 434–38, 441, 447 ff., 452–57, 460 ff., 465–69, 471–75, 478,

Sachregister 480–83, 486–90, 492 ff., 496–99, 515, 518 ff., 525 f., 530, 582 Gewissen 95, 282, 291, 302 ff., 308, 310 f., 314, 320 ff., 335, 434 f., 439, 459, 461, 475, 483, 489, 581 Gewissheit 250, 253, 257, 265 f., 280, 294, 296, 302, 313, 384, 412, 509, 521, 534 Gewohnheit 105, 110, 149, 189, 213, 226, 250–53, 255 f., 258, 260, 269, 275, 279, 287, 291, 297 ff., 309–12, 314, 320 f., 326, 330, 333, 359, 364, 368, 370, 395, 407, 571 f. Glaube (s. a. Religion, Offenbarung) 20, 59, 68, 76 f., 88, 91–97, 171, 182, 224, 250, 254, 288, 328 f., 334, 381–84, 386 f., 397–400, 402 ff., 412, 414 f., 440, 450 f., 455, 458, 462, 464 f., 467 ff., 471–75, 478, 481–88, 491–95, 497 f., 500, 520 f., 523, 527–30, 542, 558, 561, 577 Glückseligkeit 20, 33, 36, 40, 58, 63, 65–69, 73, 75, 78, 84 ff., 88, 91 f., 102, 104, 107, 111, 115, 119 ff., 131, 138, 141, 143, 163, 167, 174, 183, 245 f., 275, 277, 288, 303, 316, 402 f., 406 ff., 413 f., 417, 420, 424 f., 432, 435–38, 448 ff., 467, 470, 483, 485 f.,

492, 494 f., 501 f., 510, 512 ff., 517, 524, 526, 528, 565 Gott, göttlich 13, 19, 33 f., 36, 39, 45 f., 50, 54, 58–63, 74–77, 82–85, 87–90, 93–100, 103, 105, 107 ff., 111–14, 116, 118 ff., 131, 138, 152, 161, 164, 171, 177, 190 f., 194 f., 197 f., 212, 220 f., 228, 239, 244, 259, 262 ff., 268 f., 274, 276 ff., 280, 282, 284, 288, 292–302, 311, 317, 324 f., 328 f., 336, 341 ff., 351 f., 357, 367 ff., 375, 378, 382, 384, 386 ff., 390, 393, 395 f., 403, 407, 409, 411 f., 414, 417, 425, 432, 437, 439, 467, 471, 473, 475, 483–86, 488, 490, 492, 495, 499, 504, 506–09, 511–22, 524–28, 530, 532 f., 535, 549, 555, 558, 560 f., 564, 567 f., 580, 583 Güte 17, 59, 64, 74, 76, 97, 110 f., 120, 145, 163, 188, 190, 211, 231, 271 f., 292, 310, 314, 329, 342, 345, 384, 391, 434 f., 508 f., 512, 522, 524, 526, 530, 558, 561, 580 gut 19, 21 f., 36, 40, 59, 69, 82, 85 f., 88, 90, 92, 95, 106, 110 ff., 122, 124, 130, 133 ff., 143 f., 150, 164, 183, 185 f., 190, 197, 199, 203, 208,

623 211, 218, 227, 230, 233, 238, 261, 268, 281, 287, 295 ff., 299–303, 305, 308, 311 ff., 317–23, 325, 335, 337 f., 340–47, 349, 351 ff., 379, 384, 389, 406, 409, 419, 434 f., 437 f., 440, 445, 450, 452, 461, 464 f., 480, 484, 491, 493 ff., 510, 512 f., 515, 519, 521 f., 530, 539 Handlung 18 ff., 36, 49, 59, 74, 83, 92, 94, 97, 101, 103 f., 110, 121, 125, 141, 145, 154, 245, 260 f., 272, 290–98, 299–303, 306, 309, 311 ff., 315 ff., 319, 321 ff., 328, 332, 334 f., 338–41, 343, 345, 351, 353, 362, 364, 369, 372, 376, 385 ff., 413, 417, 424, 434–38, 449, 459 f., 464, 493, 507, 518 f., 526, 534, 541, 565, 567, 572, 581 – freie 19, 140 f., 153, 277, 292 f., 296, 298 f., 301 f., 383 – gute / moralische / tugendhafte 94, 110 f., 115, 121, 141, 144, 253, 272, 290 f., 299, 302, 316 f., 353, 435, 437, 464, 467, 566 hässlich 179, 191, 200, 205, 207, 209, 220, 229, 231, 300, 313, 349, 353, 548 Harmonie 10, 40, 42 ff., 49, 54, 60, 62, 90, 98 f.,

624 102 f., 106–09, 112, 116, 134, 136, 138, 140, 144, 168, 173, 176, 178, 186, 201, 215, 222, 228, 240, 242, 252 f., 262, 266, 271, 288, 292, 307, 309, 321 f., 325, 341, 346, 351, 387, 389, 401, 431, 442 f., 445 f., 458, 465, 501, 504, 506–10, 512 f., 517 f., 520, 522, 524, 532, 544 f., 557, 559, 561, 565, 571, 581 Humanismus, Humanität 34, 46, 67, 69, 78, 93, 152, 155 f., 194, 242 f., 324, 388, 405 f., 435, 452, 454, 464, 466, 469 f., 530, 534 Ideal 10, 18, 46, 62, 133, 169, 184, 205, 212, 226 f., 229, 281, 283, 303, 311 f., 420, 426, 429, 439, 454, 473, 475, 511, 526, 564, 567, 582 Idealisierung 193, 212, 217, 223 Individuum 13 ff., 20 f., 44, 46, 52, 54, 62, 66 f., 69, 78, 82, 84 f., 89 ff., 95, 103, 105–08, 114 ff., 123, 129, 132, 138 f., 142, 152, 161 ff., 190, 226 ff., 232, 258 f., 263, 266, 279, 281, 304, 308, 322, 330, 355 ff., 362, 373, 377, 381–85, 390 ff., 396, 401, 403–08, 410–14, 419, 423–26, 429 f., 444–47, 449, 453 f., 459 f., 462 f., 465, 467, 469 ff., 482,

Sachregister 487, 492, 497 f., 506, 511, 514, 416, 518, 522–26, 529, 533 f., 536 f., 539–42, 546, 548–52, 556, 562–67, 571 ff., 576, 580, 582 Instinkt 66, 101, 106, 126, 136 f., 221, 250 f., 254, 256, 258, 297, 361 f., 366, 379, 417, 436, 511, 531, 581 Interesseloses Wohlgefallen 165, 335 f., 340 ff., 345 f., 351 f. Judentum 9, 20, 22, 24 f., 109, 141, 158, 232, 288, 324, 331, 383–86, 393 f., 403, 406, 414, 416, 430 f., 433, 439 ff., 443, 454, 458, 462, 467, 469, 471–82, 484–92, 496 f., 500, 523 Körper 12, 16, 33 f., 37, 39–44, 46–50, 57, 72, 77, 90, 100, 102 f., 105, 125 f., 135 f., 140, 155, 159, 168, 172–78, 185 f., 190, 214, 223, 235, 238, 241, 243, 259, 267, 271, 274, 290, 301, 310, 312, 324 f., 329, 332, 341, 362, 372, 374, 377, 389, 421, 442, 504 f., 508, 512, 517, 529, 532 f., 539, 545, 547, 550 ff., 555–59, 561 f., 564, 569 ff., 573, 581 Kraft 10, 14, 26, 36, 46, 48, 50, 59, 63, 65, 79, 101, 103 f., 106, 110, 113, 118, 125–28, 132,

134, 136, 138, 144, 159, 163 f., 167, 171, 175, 177, 180, 186, 189 f., 204, 207, 210, 216, 220, 222 f., 225, 227 f., 237, 256, 260 f., 265, 278, 280, 296, 298 f., 301, 307, 311, 315, 320, 328 f., 336 f., 339, 342, 346, 359, 366, 375, 379, 394, 398, 400, 407 ff., 411, 417 f., 420, 436, 439, 444 f., 451, 459, 467, 493, 502, 504, 516, 538 f., 545, 547–55, 557 f., 560, 563 f., 572, 575 ff., 579, 581 f. – Seelen- 58, 72, 76, 101 ff., 108, 136, 208, 233, 235, 285, 307, 311, 320, 330, 375 f., 379, 388, 415, 503 f., 544, 550 ff., 554, 557, 561, 570 – Einbildungs- 104, 144, 185, 206, 230, 236, 243, 268, 270, 279, 357 f., 364, 369–72, 445, 553, 572 – Erkenntnis–/Verstandes-/Vernunft48, 220, 242 f., 249, 291, 315, 366, 375, 418 – Vorstellungs- 159, 166 f., 178, 204, 223, 225, 237, 240, 251, 311, 545 – Urteils- 223, 267, 276, 304, 318, 320, 322, 350 f., 493, 554 Kultur 8, 12, 14, 17, 19 f., 24, 28, 31, 34, 36 f., 53 f., 67 f., 70, 77, 103,

Sachregister 118, 121 f., 124–32, 134, 140, 142 ff., 154, 204, 238, 314, 317, 353, 361 f., 396, 401, 407 ff., 415, 418 f., 426, 431, 438, 440–43, 446–54, 458, 461, 464, 466, 472, 474, 476, 478, 483, 488, 491, 499, 567, 573, 580, 582 Künstler (s. a. Schöpfer) 36, 43, 46, 145, 157, 191 ff., 196, 198, 201, 204 f., 211 f., 217 f., 220–24, 228 ff., 235, 239 f., 318, 320, 534 Kunst 42, 46, 52 f., 128, 133, 145, 151 f., 155 ff., 175, 177, 179, 181, 183, 187, 191–209, 211–26, 228 ff., 232 f., 235, 237 f., 242 ff., 272, 277, 286 f., 291, 313, 318, 321, 339 f., 342 f., 348, 350, 353, 358, 360, 371, 387, 391, 396, 409, 415, 424, 445 f., 449 f., 452, 464, 477, 479, 487, 492, 501, 534, 543, 551, 553 Leben 8, 19 f., 22, 33, 35 ff., 39, 41 f., 44, 55 f., 73, 76–80, 83, 86–90, 92, 96, 102, 105, 108 f., 112, 114, 120, 122 f., 125–28, 133 ff., 137, 140 ff., 147, 158 f., 163 f., 169, 171, 186, 189, 204 f., 208, 210 f., 249, 275, 277, 289 f., 309 f., 315, 317, 324–29, 331, 343, 353, 355 f., 361 f., 380, 385, 387,

402 f., 404, 406 f., 409, 415, 417, 424, 430 ff., 441 f., 445 ff., 450, 453 ff., 457, 459 f., 464, 469, 472, 474 ff., 478 f., 483, 485 ff., 489, 491, 494 ff., 499, 503, 509 f., 512, 516–21, 523, 526, 528 f., 532, 538, 542, 544, 546–53, 556 ff., 560, 562–68, 570, 572, 577, 579, 581 Leidenschaft 32, 101 ff., 118, 126, 128, 135 f., 144, 146 f., 151 ff., 165, 169, 171, 180, 183 f., 196, 200, 202 ff., 207, 209 f., 213, 218, 224 f., 229, 233, 239, 242 f., 260, 266, 287, 290 f., 294, 296 f., 300, 304, 306, 311 f., 314, 319 f., 323, 325, 328 f., 334, 339, 341–44, 347, 352, 371, 380, 393 f., 435, 462, 467, 519, 580 Lust 14, 63, 65, 69, 95, 100, 103, 127, 146 f., 150, 164 ff., 168, 171 ff., 176, 179 f., 185, 187 f., 205, 207, 211, 224, 234, 240 f., 243, 270, 286 f., 300 f., 311, 313, 319, 332, 342, 344, 348 f., 368, 510, 550 Menschenbild 10, 13 f., 18, 20, 33, 109, 118, 145, 155, 175, 180, 182, 184, 192, 196, 220, 246, 264, 284, 303, 332 f., 340, 347, 413, 418, 445, 451, 481, 483, 530, 577

625 – »der ganze Mensch« 17, 37, 40, 43, 49, 104, 136, 148, 155, 200, 226, 228, 242 f., 309, 316, 322, 336, 350, 352 f., 360, 389, 447, 461, 492, 530, 574, 579 Menschengattung 15, 20, 33, 66, 74, 105, 107, 115 f., 199, 362, 379, 390, 402, 410, 417 f., 420, 423, 454, 479, 565, 582 Menschheit 8, 13, 36 f., 57, 66 f., 94, 115, 121, 129 f., 135, 353, 385, 392 f., 395, 403, 406–09, 411, 420, 423 f., 427, 430, 454, 458 f., 466, 488, 497, 528, 531, 533, 537 f., 540, 544, 578 Mitleid 118, 123 ff., 127, 131, 137, 142–54, 179, 183, 188, 206, 209 f., 218, 230, 287, 304, 314, 318, 320, 328, 358, 381, 387, 452 f., 580 Monade 14, 46, 58 f., 62, 64 f., 67, 103, 109, 132, 139, 163, 186, 228, 241, 262 f., 266, 271, 274 f., 282, 298, 359, 401, 404, 410, 425 f., 444, 509, 513 f., 523 ff., 532, 546, 563, 571 Moral, Moralität (s. a. Sittlichkeit, Tugend) 13, 15 f., 18 f., 32, 34–40, 42 f., 46, 48, 55, 57, 60, 64 ff., 74 f., 77, 91–97, 106, 109, 111, 113, 115, 119 ff., 125 f., 140 f., 144, 147 f., 157, 163,

626 166, 178, 183 f., 189, 191, 199 f., 203, 209, 211, 216, 219, 221, 230 f., 247, 253, 260, 264 ff., 268, 271 f., 276, 280, 285, 288, 291, 294, 297–306, 313–22, 324, 332 f., 335 ff., 342, 344, 349 ff., 353, 383, 402, 405, 413 ff., 418 f., 424, 427, 432–39, 443, 452, 460, 468, 471, 475 f., 478, 481, 485 f., 490, 495, 497, 504, 509, 512, 515, 517–20, 522 f., 525 f., 528, 536, 566 ff., 573 Motivation (s. a. Bewegungsgrund, Triebfeder) 192, 260 f., 291 f., 298, 302, 311, 317, 325, 328, 330, 359, 391 Musik 204, 213–17, 290, 507 Nachahmung (a. Imitation, Mimesis; s. a. nachahmende Zeichen) 94, 177, 181, 183, 194, 197–203, 204 ff., 207 f., 210 f., 217–20, 222, 228, 239, 242, 313, 331, 362, 371 f., 450 f., 501, 517, 553 naiv 133, 231 f., 236–39, 241, 385 Natur des Menschen, menschliche Natur 11, 13, 15, 17, 31, 33, 35, 41, 51, 55, 57 f., 62, 66, 68, 73, 77, 80, 90, 96, 100, 103, 105, 107, 109, 113, 116, 121 f.,

Sachregister 124, 133, 142, 153, 159, 166 f., 181, 184, 189, 192, 211, 250, 253, 273, 315, 344 f., 394, 402, 411, 420, 432, 534, 579, 583 Naturgesetz 105, 125, 135, 143, 146, 152, 254, 284 f., 300, 370, 388, 412 f., 415, 432, 464, 482, 486 f., 495 Naturalismus, Naturalisierung 33, 39, 53, 158, 204, 242, 298, 433, 444, 522, 532, 534, 573 Neigung 16, 19, 92, 104, 109 f., 121, 127, 143, 148, 183, 189, 275, 298, 306, 316, 318, 329, 345 f., 349 f., 378, 467, 511, 548, 572 – zur Vollkommenheit 144 ff., 148, 153, 171, 322 Nerven 41 f., 49 f., 155, 173–76, 178, 185, 188, 190, 234, 256, 309, 442, 539, 570 Notwendigkeit 13 f., 48, 62, 67, 87, 89, 91, 93, 101, 103 f., 111, 115 f., 123, 132, 153, 189, 205, 225, 229, 245, 249 ff., 253 f., 256 ff., 260 f., 263 f., 269, 273 f., 285 f., 293 f., 296–99, 301, 309, 316 ff., 321, 326, 330, 347, 355, 361 f., 366, 369, 371, 378, 381 f., 388 f., 398, 400–03, 408, 414, 417–20, 426, 432, 434, 444, 447, 453, 461 f., 466 f., 469, 481,

483 f., 495, 501, 507, 510, 512–18, 523, 525 f., 534, 545, 547, 564, 566, 572, 575, 582 Offenbarung 55 f., 76 f., 83, 85, 87 f., 96 f., 265, 384, 386, 393, 398 ff., 402 f., 405, 407 f., 411 f., 414, 471, 483, 485, 487 f., 493, 512, 525, 568 Optimismus 59, 67, 85, 112 f., 119, 123, 176, 285, 291, 308, 317, 332, 378, 393, 415, 465, 467, 497, 526 Perfektibilität 13, 17 f., 21, 58, 62, 66–69, 76, 78, 113, 116 ff., 121, 123– 26, 129 f., 132 f., 135 ff., 139 f., 148, 153 f., 187, 229, 240, 355 f., 364, 385, 392, 402, 444, 500, 506, 508 f., 516, 525, 531, 533, 536, 563, 570, 573 f., 579 f. Perzeption 103, 132, 158 f., 175, 178, 262, 281, 350, 401, 546, 574 – kleine / unbewusste 106, 177, 286, 290 Physiologie 12, 16, 33–43, 45, 48–51, 53, 55, 60, 114, 126, 155, 174 ff., 190, 192, 234, 280 f., 324, 366, 368, 419, 442, 502, 527, 536, 539 f., 554, 562, 573, 579 Person 21, 24, 26 f., 51, 66, 134, 138, 146, 150 ff., 226, 228 ff., 278, 284, 290, 295, 298, 302, 391,

Sachregister 405, 407, 427, 431, 456, 467, 470, 476, 493, 501, 504, 514, 543, 563, 573, 575 Persönlichkeit 239, 321, 343, 431, 433, 469, 487, 501, 541, 562, 582 Popularphilosophie 8, 11, 21, 32 f., 36 ff., 45, 47, 50, 52, 174, 246, 291, 310, 449, 463 f., 523, 553, 558 pragmatisch (s. a. p. e. Erkenntnis) 37 f., 50 f., 161, 189, 254, 276, 295, 360 f., 386, 414, 424, 431, 441, 457, 460, 462, 478, 480 f. Praktikabilität 14, 18, 22, 33, 38, 41, 244, 247, 261, 335, 449, 454, 481, 487, 541 Psychologie (a. Seelenkunde, -lehre) 16–19, 22, 34 f., 37–41, 44–48, 50–53, 60, 114, 142, 144 ff., 151 f., 154–57, 159, 174 ff., 180 f., 184, 192–95, 198 ff., 208, 218, 220, 223, 235, 240, 243, 245 ff., 250–54, 257 f., 260 f., 266, 269 ff., 276, 280 ff., 285, 293, 298, 300 f., 303 ff., 306 ff., 310, 313, 315, 325, 331 f., 335 ff., 348, 358, 368, 370, 375–78, 381, 394, 397, 400, 403, 441, 479, 502, 515, 533, 539 ff., 543, 552, 554, 556 f., 580 f. – empirische 12, 16,

46 ff., 69, 155, 170, 539, 542 – rationale 12, 16 f., 39, 47 f., 170, 193, 539 Recht 20, 24, 61, 74 f., 91, 103, 107, 111, 113, 128, 131, 133, 141, 192, 194, 224, 249, 277, 296 f., 301, 321, 324, 370, 382 f., 390, 402, 414 f., 425–40, 443, 448, 457–63, 466 f., 469–72, 476–81, 483, 487, 489–98, 515, 517, 519 f., 525, 530, 558, 567 f. – Natur- 289, 300, 330, 383, 388, 429 f., 432 f., 435, 437 f., 448, 467, 491 ff., 496, 504, 519 ff. Rechtfertigung 21, 34, 39, 82, 89, 92, 110, 187, 194, 216, 242, 244, 252, 255, 258, 270, 277, 327, 329, 350, 356, 369, 384, 395, 403, 423, 428, 439, 458, 484, 487, 521, 523, 528 Religion (s. a. Glaube) 9, 20, 67, 69, 74, 86, 92 ff., 97, 122, 265, 288, 323, 325, 328, 382 ff., 385 ff., 397–400, 402–06, 412, 414 f., 427 ff., 431 f., 435, 439 f., 445, 453, 457, 462, 464, 469–80, 482–97, 523, 525, 528 – positive 288, 398 ff., 402 f., 405 f., 411 f., 414, 440 f., 469 f., 472, 480–93, 495 f. – natürliche 97, 398,

627 414 f., 464, 483, 485, 491, 493, 500, 502 Schöpfer (s. a. Gott, Künstler) 17, 37, 43, 140, 157, 191, 194, 198, 211 f., 219–22, 229, 273, 439, 447, 511, 521, 540, 560, 578 Schön(heit) 7 f., 44, 52 f., 63, 74, 86, 102 f., 108, 165, 168, 170, 172, 175, 179, 182, 184, 187, 191–95, 197–217, 219 f., 222 f., 226–31, 234 f., 237 ff., 241, 243, 245, 264, 286 ff., 300, 305, 308, 310, 313, 318, 320 f., 336–41, 344–48, 350–53, 359 f., 363, 445, 447, 450, 457, 509 f., 512, 516, 521, 524 f., 536, 548, 550–53, 568, 581 schrecklich 44, 117, 178–81, 187 ff., 199, 204, 207, 209 f., 220, 228, 231, 234, 239, 288, 322, 337, 342, 349 f., 352 f., 553 Schrecken (s. a. Furcht) 77, 146 f., 151, 179, 186 f., 206–10, 216, 220, 230, 232 ff., 239, 318, 353, 580 Seele (s. a. Seelenkraft, Psychologie, Vermögen) 10, 12 f., 21, 33, 35, 37, 39–50, 58, 63 f., 69, 75 f., 91, 94, 98, 100–04, 106, 108, 111, 113, 119, 125, 131, 134, 136–39, 144, 149 f.,

628 152, 156, 159, 163, 165–68, 174 ff., 178–81, 183, 185 f., 189 f., 192 f., 197, 205–08, 210, 216, 223–27, 240, 259, 267 f., 270 f., 280 f., 285–88, 290 f., 297, 302, 306 f., 309, 311, 313, 315 f., 319, 321, 324 f., 328 f., 332, 336, 338 f., 343 f., 346, 348 f., 351 f., 357, 370, 374–77, 388 f., 391, 397, 402, 404 f., 410, 413, 439, 442, 445, 500, 502 f., 505–09, 514, 516 ff., 520 f., 523 ff., 527 ff., 532 ff., 536–41, 543–65, 569–74 Sinnlichkeit 11, 15–19, 22, 33, 35, 38, 48, 52, 58, 69, 74, 77, 89 f., 97–100, 102 f., 106, 113, 116 f., 123, 126, 135 f., 144, 146, 148 ff., 153, 155 ff., 161 f., 165, 168, 170, 172, 176 ff., 184 f., 188 f., 193–99, 208, 210 ff., 214–17, 227, 230, 233 f., 236 f., 239 f., 243, 245, 248 f., 251, 254, 257, 264, 271, 273 f., 287, 290 ff., 303, 305, 308–11, 313–17, 322 f., 330 ff., 335, 337, 339, 341, 345, 352 f., 355, 358 f., 362, 366, 371, 373 ff., 378–82, 385, 387 ff., 394, 442, 444 f., 450, 453, 467, 509 f., 513, 530, 532, 534 f., 540, 542, 544–49, 551, 553–59, 561–64,

Sachregister 568, 570 ff., 574, 576, 578 f., 581 f. Sinn, Sinne (s. a. Wahrheits-, Gemein-) 47, 90, 124 f., 156, 165–68, 173, 175, 187, 190, 197, 199 ff., 206, 211, 216, 235 ff., 243, 271–74, 283–87, 299, 304 f., 309 f., 332, 350, 369 f., 373–76, 511, 532, 544 f., 547, 551–54, 559, 563, 577 f. Sittlichkeit (s. a. Moral, Tugend) 38, 69, 100, 121, 150, 183 f., 191, 202 f., 291, 300 f., 309, 317–20, 322, 332, 347, 350, 388, 404, 409, 413, 415, 430 f., 433, 438, 440, 447, 449, 464, 479, 482, 495, 521 f., 567, 574 Sprache 19 f., 34, 105, 111, 123 f., 127, 204, 207, 212–18, 232, 310, 355–89, 410, 415, 426, 431, 433, 447, 452, 469, 479, 487, 489, 492, 501 f., 535, 542, 561, 567, 576, 582 Teleologie 20, 43, 54, 58, 61, 92, 96, 105, 114, 116, 126, 136, 232, 282, 392, 394 f., 402, 407, 409, 415, 417, 420, 432, 442, 447, 465, 487, 502, 508 f., 514, 530, 537, 546, 580 Tod 21, 75 f., 77, 82, 90, 97, 107 f., 113, 239, 315, 325, 328 f., 381 f., 417, 445, 457, 501, 503,

515–19, 524, 526–29, 538, 547, 550, 552, 556–60, 562 ff., 566 f., 570 f., 573, 577, 579 Toleranz 20, 289, 367, 385, 392, 398, 406 f., 414, 427, 429, 431, 439 ff., 468–73, 476–83, 486, 488 ff., 492–99, 523, 577 Tradition (a. Brauch) 20, 232, 303, 324, 331, 378, 384 f., 387, 389, 391, 395, 406, 408, 410, 413 f., 418, 426, 432, 448, 462, 465, 470 f., 485, 487 ff., 496 f., 531, 582 Trauerspiel, Tragödie, tragisch 142, 145 ff., 151, 153, 179, 181, 204, 208, 210, 230, 235, 238, 242, 304, 321, 501 Triebfeder (s. a. Bewegungsgrund, Motivation) 92, 102, 193, 311, 313, 315 f. Tugend (s. a. Sittlichkeit, Moral) 19, 36, 69, 74, 78 f., 82, 87 ff., 92–96, 111, 121, 127, 132, 139, 147, 211 f., 230, 239, 297, 314, 317–20, 396, 406, 436, 443, 471, 483, 487, 495 ff., 506, 518, 521, 523, 528 Überzeugung 18, 85, 140, 165, 168, 208, 218, 234, 246, 257, 259, 264, 266 ff., 270, 275, 277, 281, 298, 302, 314, 319, 330 f., 334 f., 359 f.,

Sachregister 373, 383 ff., 400, 415, 439, 463, 479, 485, 490, 495 f., 499, 501 f., 512, 518 f., 521, 524 ff., 542, 568 Übung 76, 102, 104, 110, 115, 137, 223, 227, 304 f., 310 ff., 314 ff., 318, 320 ff., 357, 364, 380, 417, 515, 531, 534, 557 f., 565, 571, 581 unangenehm 143, 151, 165, 179 f., 182 f., 185–90, 201–6, 239 f., 318, 326, 328 f., 342, 345, 551 Unbewusst 16, 19, 42, 48, 103 f., 106, 134, 164, 177, 213, 225, 228, 241, 287, 290 ff., 297 f., 302 f., 305–08, 314, 316, 515, 551, 562, 572 Unlust 144, 146, 167, 180, 188, 205 ff., 286 f., 311, 313, 319, 344, 346, 348 f., 368 Unsterblichkeit 21, 36, 50, 69, 74 f., 77, 90 f., 93, 108, 111, 113, 329, 410, 413, 423, 425, 488, 499 f., 502, 505 f., 508, 514, 518, 520 f., 523, 525–29, 532 f., 538, 543 f., 547, 549, 552, 558, 562–67, 569, 572, 575 Unvollkommenheit 17, 58, 75 f., 107, 134, 139, 149, 173, 180, 183, 185, 190 f., 199, 220, 229, 233, 240, 262, 300, 327, 338, 349, 408, 434 ff., 470, 483, 509 f., 514 ff.,

519, 521, 523, 525 f., 581 f. Verbesserung 17 f., 21 f., 38, 42, 46, 59, 94 ff., 100, 102, 109, 111 f., 115, 125 ff., 131 f., 134, 136 f., 139, 141, 147 f., 152, 154, 176, 227, 229, 247, 261, 265, 285, 291 f., 300 ff., 304 ff., 309 ff., 318, 320, 330 ff., 344, 349 f., 361 f., 368, 379, 388, 401, 406, 411, 417, 419, 430, 442, 446 ff., 453, 457, 462 f., 476, 478 ff., 490, 495 f., 499, 523, 530, 555, 557, 559, 561, 563, 566, 580, 582 Vergnügen 14, 17, 42, 65, 74, 100, 102 f., 106, 114, 133, 146, 148 ff., 153–57, 161, 163 f., 166 ff., 170–79, 181 ff., 185–92, 197 f., 205, 207, 209, 214, 216, 218, 220, 226 f., 234, 237, 245 f., 287, 301, 339 f., 342 ff., 348–53, 540, 545, 549, 557 ff., 579 ff. Vermögen (s. a. Billigung, Erkenntnis, Seele) 12 f., 17, 19, 34, 39, 47, 59, 103, 110, 116, 123, 125 f., 130, 132, 135, 138, 140, 153–56, 166, 169, 190, 197, 210, 212, 216, 224–27, 239, 242, 247, 259, 282, 291, 303, 307–10, 316 f., 319 f., 335–40, 342–46, 348–53, 356 f., 369,

629 379 f., 392, 404, 415, 417, 433, 509, 527, 529 f., 539 f., 551 ff., 555 f., 570, 579 ff. – Seelenfertigkeit 102, 104, 106, 176, 267, 343, 506, 516, 558 – Begehrungs- 163, 223, 313, 315 f., 334, 337, 345 f., 348 ff., 352, 572 – Vorstellungs- 155, 181, 337, 504 – Urteils- 221, 319 Verstand (s. a. common sense) 7, 17, 19, 47 f., 60, 74, 99, 102 f., 107, 111 f., 115, 126 f., 130, 136, 139 f., 143, 147 ff., 165, 168, 172, 177, 196, 209, 216, 221 f., 243, 245, 249, 251, 254, 257, 265 ff., 270, 276, 285, 287, 290, 293, 298, 303 ff., 307, 310, 313 ff., 318 ff., 334, 338 f., 346, 350, 353, 372, 375, 377, 387 f., 394, 396, 403, 405, 408, 422, 452, 467, 472, 476, 494, 504, 507, 519, 524, 529 f., 544, 560 f., 580 – gesunder (Menschen)74, 213, 228, 234, 287 f., 310, 399, 427, 472, 493 Vernunft 9 f., 18, 21, 23, 33, 35, 37, 50, 54, 58, 60, 62 f., 69, 73 f., 76 f., 83, 85 f., 89, 97–100, 103 f., 106 ff., 113, 116 ff., 120, 123 ff., 127 ff., 131, 133, 135 ff.,

630 140–45, 147 ff., 151–54, 158, 165, 167, 169 ff., 174, 179, 192, 194, 211, 213, 216 ff., 222 f., 225, 228, 232, 234, 236, 243, 247–51, 253–61, 264 f., 268, 272, 277 f., 284 f., 287 ff., 291, 295, 298 f., 303 f., 308–12, 314 f., 317, 321 f., 324 f., 328, 330 ff., 334, 338, 341, 343 f., 346 f., 350, 352 f., 355–58, 361–64, 366, 368–71, 375–79, 382– 87, 389, 395, 397–406, 408, 410–18, 422 ff., 427, 432, 435 f., 439, 443–46, 450 f., 455 ff., 459 f., 462 f., 465–68, 470 f., 476, 481–88, 492 f., 495, 497, 499, 502, 506, 508, 510–13, 515–18, 522 ff., 525 f., 528 ff., 533 ff., 537, 553, 558–61, 567 f., 575, 577 ff., 582 f. – -glaube 74, 76, 131, 289, 384, 398, 402–05, 408, 411 f., 414, 445, 471 f., 482–88, 492 f., 495, 522 f., 528, 530 Vervollkommnung (s. a. Perfektibilität) 11, 13 f., 17, 21, 50, 58 f., 62, 64–70, 73–77, 85, 90 f., 96, 98, 100, 103–09, 111, 113 f., 116, 118, 123–26, 128 f., 132–40, 148, 150, 152–55, 157, 163 f., 172, 179, 184, 188, 190, 194 ff., 201, 226 f., 232, 241, 244, 247, 265 f., 290, 296 f.,

Sachregister 300 f., 316, 319, 321 f., 329, 342 ff., 346, 350, 353, 355, 357, 359, 366, 368 f., 376, 378 f., 388 f., 391, 397, 401 f., 407 f., 410 f., 416 f., 419 f., 429, 433, 435 f., 438, 444 ff., 448, 450, 462, 466, 493, 500, 503, 506 f., 509 ff., 513–18, 521, 523 ff., 527, 529, 531, 533, 535, 537, 543–46, 549 f., 555–60, 562–67, 571, 573, 580 ff. Vollkommenheit 13 f., 33, 44, 59–65, 67 ff., 73 f., 83, 88, 98, 100–04, 106–09, 112, 114, 116, 121, 123 ff., 130, 132– 40, 142, 144 ff., 148 ff., 152 f., 155, 163–73, 175–80, 182–91, 194 f., 197–201, 203, 205, 207, 209 f., 212, 215, 219 ff., 227–31, 233 f., 236–41, 243, 258 f., 262, 269, 271, 278 ff., 300 f., 305, 311, 313 f., 322 f., 327, 341–44, 346 f., 350, 353, 355, 369, 376, 383, 390 f., 395, 397, 401 f., 404 f., 411, 417, 419 f., 423, 425 f., 433–36, 445, 448 ff., 453 f., 457, 469, 471, 483, 486, 493, 495, 504, 507–17, 519 ff., 523, 525 f., 530, 542, 544–47, 550, 555–59, 561 ff., 565, 567, 576, 580 f. – menschliche 8, 11, 75, 98, 101 f., 134, 211, 265, 450

– -sparadigma 12, 64, 155, 177, 179, 190 f., 194, 280 Vorstellung (s. a. Kraft, Perzeption, Vermögen) 12, 18, 46, 49, 59 f., 62, 64 f., 136, 138, 142, 148, 153, 157, 159–63, 166 ff., 171–75, 177–83, 185 ff., 190, 197 ff., 201 f., 205–09, 220, 223, 233, 235, 237, 240 ff., 256, 259, 268, 270 f., 279 ff., 283 f., 300 f., 306 f., 309–13, 316, 319, 328 f., 332, 337, 339, 342, 344, 346, 349, 352 f., 358, 370–75, 377 ff., 384, 387, 409, 427, 503 f., 507, 510, 545, 551, 556, 562, 564, 570 f., 579, 581 – klare und deutliche 156, 160, 162 f., 167, 173, 175, 304, 306, 334, 556 – verworrene 101, 115, 149, 156, 158, 160, 162, 199, 221, 555 f. – dunkle / unbewusste 16, 48, 132, 136, 149, 158, 160, 175 f., 304 f., 546, 555 Vorurteil 11, 24, 44, 89, 117, 119, 129, 179, 208, 232, 269, 275 ff., 308, 339, 395, 397, 409, 428, 446, 450 ff., 454, 459, 461–65, 471, 473 ff., 478 f., 487, 491, 497 Wahrheit 10 f., 14, 18, 22, 43, 52, 54, 60 ff., 65, 69,

Sachregister 74, 76 f., 86, 97, 100, 102 f., 110 f., 117, 119, 143, 164, 180, 183, 212, 227, 235, 245 ff., 249 f., 252 f., 257 f., 260, 263 f., 266–70, 273–80, 283, 285 f., 288, 292, 294, 298, 303, 305, 308, 314, 331, 334, 337 ff., 341, 343, 345–49, 351 ff., 358, 371, 375 f., 378, 381–86, 399 f., 402, 405 f., 411, 415, 428, 432 f., 437, 439, 445, 451 f., 459 f., 463 ff., 472 f., 485, 492 ff., 497, 501 f., 506, 512 f., 514, 518, 520 f., 530, 535 f., 540, 545, 563, 567, 575–78 – Tatsachen- 17, 62, 251, 255, 258, 263 f., 269, 278, 289, 393, 398, 558 – Geschichts- 384 f., 387, 397–402, 407, 414, 481, 484, 487, 493 – Glaubens- 33, 414, 481 f., 484, 491, 493, 523 – Vernunft- 263 f., 285, 289, 382, 384 f., 391, 397–400, 402, 484, 488, 513 – -sinn 291, 302 ff., 308, 310, 314, 322 Wahrnehmung 48, 54, 74 f., 80, 100, 105, 150, 157 f., 175–78, 181, 183, 185 ff., 191, 193, 195, 200, 206, 214 f.,

217, 220, 229, 237, 240, 245 f., 254 ff., 258, 270, 273, 280, 284, 308 f., 314, 318, 321, 338, 341, 350 ff., 357, 373 f., 384, 393, 398, 470, 509, 511 f., 522, 540, 551 f., 554, 563, 570 f. Wahrscheinlichkeit 18, 182, 217, 245, 248 f., 253–59, 261, 266, 270, 277, 282 f., 288 f., 292–99, 302, 310, 329, 371, 384, 414, 484 f., 572, 581 f. Wesen des Menschen / der Seele 13 f., 21, 33, 37, 41, 44 f., 47, 51, 58, 62 f., 66–69, 74, 80, 84, 97–101, 103, 106 f., 109, 114, 116, 124 ff., 129–33, 135 f., 138, 142, 144, 151, 162–65, 180, 188, 196–99, 209, 217, 221, 225 f., 243, 262, 296 f., 300 f., 328, 337, 343, 347 f., 353, 355 f., 366, 377, 380, 389, 394 f., 411 f., 417, 424, 426, 432, 444, 448, 454, 457 f., 470, 486, 499, 506 f., 509–13, 515, 517–20, 522 ff., 526, 532–35, 537, 539, 542, 544 f., 547 ff., 552, 554 ff., 558–62, 564 f., 572 f., 579, 581 Würde 11, 83, 107, 121, 229, 380, 411, 414, 424, 426, 460, 468, 494, 498 f., 506, 518

631 Zeichen 19, 99, 113, 152, 161, 197 f., 200, 204, 207, 212–15, 218 f., 231, 239, 273, 280, 283, 287, 357, 359, 361 f., 365, 369–72, 375–83, 385–88, 416, 511, 580 – willkürliches 212–18, 269, 273, 357, 359, 369 ff., 375, 380 f. – wesentliches 272 f., 357 f. – natürliches 113, 212 ff., 218 f., 272, 359, 366, 371, 375 – nachahmendes 214, 357, 370 ff., 375 Zweck (s. a. Teleologie), Zweckhaftigkeit 13, 15, 20, 44, 50 f., 57 f., 65, 68 ff., 80, 84 f., 87 f., 91 f., 99 f., 104 f., 107 ff., 111 f., 122 f., 134, 139, 143, 145 ff., 156, 167, 178, 183, 195, 203, 205, 211, 222, 295, 310, 316, 320 f., 343, 351, 360, 380, 402, 413, 416, 420, 423 f., 426, 445, 448–51, 463, 466, 500, 502, 510, 515–19, 540, 545, 547 f., 555 f., 558–61, 565 f., 578, 583 – End- 59, 63 f., 86, 88, 104, 106 f., 112, 137, 139, 147 f., 167, 173, 226, 280, 425, 509 f., 515, 520, 525, 567 – -mäßigkeit 132, 194, 511, 539