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German Pages 223 Year 2021
Anthropologie dekolonisieren
Marc Rölli ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) / Academy of Fine Arts Leipzig. Zuvor war er als Professor in Zürich und Istanbul tätig. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören: Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus (2003, 2012, 2016) und Kritik der anthropologischen Vernunft (2011).
Marc Rölli
Anthropologie dekolonisieren Eine philosophische Kritik am Begriff des Menschen
Campus Verlag Frankfurt/New York
ISBN 978-3-593-51351-5 Print ISBN 978-3-593-44715-5 E-Book (PDF) ISBN 978-3-593-44716-2 E-Book (E-Pub) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich. Copyright © 2021. Alle Rechte bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Umschlaggestaltung: Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Satz: publish4you, Roßleben-Wiehe Gesetzt aus der Garamond Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany www.campus.de
»Je höher hinauf, je näher dem Ideal.« Theodor Fontane, Frau Jenny Treibel
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Inhalt
Anthropologie dekolonisieren. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Zur Geschichte und Kritik des anthropologischen Denkens . . . . 25 1.1 Kant und die pragmatische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . 28 1.2 Anthropologie und Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1.3 Anthropologie als biologische Weltanschauung . . . . . . . . . 38 2. Schwierigkeiten mit der ethnologischen Methode . . . . . . . . . . . 43 2.1 Feldforschung nach Malinowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.2 Strukturale Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.3 Idee der Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3. Religion und Aufklärung: Nietzsches Kritik der Säkularisierungsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.1 Geist des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.2 Nihilismus und Religionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.3 Verfall der Ideale und Pluralismus der Sprachspiele . . . . . . 79 4. Anthropologische Implikationen der Massenpsychologie . . . . . . 85 4.1 Massenpsychologie und Propaganda . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 4.2 Von der Masse zur Menge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 5. Völkische Anthropologie im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . 99 5.1 Rekonstruktion der Anthropologie von Ernst Krieck . . . . . 101 5.2 Kritik der anthropologischen Biopolitik . . . . . . . . . . . . . . . 113 6. Tier-Werden? Zwischen Menschen, Tieren und ihren Umwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 6.1 Jakob von Uexkülls Umweltforschung . . . . . . . . . . . . . . . . 123
6.2 Das Tier in der Anthropologie Helmuth Plessners . . . . . . . 132 6.3 Tier-Werden in Tausend Plateaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 7. Der Mensch im Anthropozän . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 7.1 Fechner und die Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 7.2 Anthropologie der Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 7.3 Bruchlinien der Anthropogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 8. Anthropologie der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 8.1 Affekte und Leidenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 8.2 Die anthropologische Extension – Marshall McLuhan . . . . 172 9. Sonnemanns negative Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 9.1 Marx und Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 9.2 Ideal und Verneinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 10. Feministische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 10.1 Carla Lonzis nicht-anthropologische Unterscheidung von Frau und Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 10.2 bell hooks und die ›intersektionale‹ Verkettung . . . . . . . . . 205 11. Perspektivismus und minoritäre Anthropologie . . . . . . . . . . . . . 209 11.1 Eine kunsthistorische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 11.2 Das Paradox des Perspektivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 11.3 Schamanisch-Werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
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Anthropologie dekolonisieren. Einleitung
In der ›europäisch-westlichen‹ Denktradition existiert ein anthropologisches Bild des Menschen, das als ›kolonial‹ bezeichnet werden kann. Es trennt Menschen, die ihrem Begriff entsprechen, von solchen, die dies nicht tun. Ihr Unterschied voneinander wird im kolonialen Abstand zwischen Menschen, die sind, was sie sind, und Menschen, die als wesentlich anders gelten, anschaulich. Die einen verstehen sich als zivilisiert, vernunftbegabt, allseits gebildet und moralisch gefestigt. Ihr Ideal verkörpert der männliche, gesunde, erwachsene und in mancher Hinsicht normale Europäer. Es hebt sich heraus aus dem Dunkel der anderen, die in einer mythischen Wiederholung, ans Animalische grenzend, befangen erscheinen. Die epistemische Konstruktion des anderen, minderwertigen, unterlegenen oder rückständigen Menschen stellt einen entscheidenden Aspekt der kolonialen Praxis dar. Walter Mignolo spricht von einer »Exteriorität«, die stets die Idee der Humanität begleitet: »Barbaren« oder »Primitive«.1 Und Achille Mbembe bestimmt als »das Kennzeichen dieser Andersartigkeit die fehlende Menschlichkeit«2: Menschen, die keine (echten, wirklichen, eigentlichen) Menschen sind. Es ist dieser Widersinn, der im Innersten des anthropologischen Menschen-Bildes steckt. Das zweifache Gesicht des Menschen wird in der anthropologischen Literatur verfertigt. Zwar gilt dies nicht ausschließlich, aber in erheblichem Maße. Bei dieser Textsorte handelt es sich um moderne Diskursphänomene, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehen. Sie kreisen um neue Wissensfelder, die sich in einer epistemischen Figur des Menschen an 1 Vgl. Walter D. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität [2006], übers. v. J. Kastner u. T. Waibel, Wien 2012, S. 117. 2 Vgl. Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft [2013], übers. v. M. Bischoff, Berlin 2019, S. 142. Mbembe bezieht sich hier auf einen »imaginären Menschen, den ›Schwarzen‹«. Ebd., S. 141.
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einanderschließen. Zu denken wäre an Buffons Naturgeschichte des Menschen oder an Rousseaus Schilderung des Naturzustands, an die zunehmende Bedeutung der empirischen Physiologie und Seelenkunde oder auch an die aus der kolonialen Reiseliteratur hervorgehenden wissenschaftlichen Abhandlungen über die spezifischen Eigenschaften der Völker und der ›Rassen‹. Vor Augen liegt eine erstaunliche und weit verzweigte Wissensproduktion, die sich im dezidiert anthropologischen Begriff des Menschen auf eigentümliche Art und Weise integrieren lässt. Michel Foucault hat nicht zuletzt aus diesem Grund die epistemische Struktur der modernen Humanwissenschaften als »anthropologische« bezeichnet.3 Um ihren Status zu verdeutlichen kann an Buffon und an Kant erinnert werden. Buffons zwei Abteilungen der Naturgeschichte des Menschen behandeln nacheinander den »einzelnen Menschen« und »die Geschichte der Gattung«.4 Beide Abteilungen stützen sich auf eine generelle Überlegung über den Menschen, der sich prinzipiell von allen anderen Lebewesen, insbesondere von den Tieren unterscheidet. Den Tieren fehlen nicht »mechanische Kräfte« und »materielle Werkzeuge«, aber ihnen fehlt es »an der geistigen Kraft und an dem eigentlichen Vermögen zu denken.«5 Die Vernunft zeichnet das Wesen des Menschen aus, doch innerhalb der Naturgeschichte ist nicht sie das Thema der Untersuchung. Auch von Kant wird die streng philosophische Betrachtung des Menschen grundsätzlich von einer empirischen abgehoben. Zugleich verwirft er den älteren cartesianischen Denkansatz – dem Buffon mit seinen Ausführungen zur körperlich-geistigen Doppelnatur des Menschen noch folgte –, indem er mit kritischer Emphase auf einer Rechtfertigung der wissenschaftlichen Erkenntnis besteht. Nicht zuletzt für die Anthropologie ist dieser Schritt folgenreich. Hier geht es darum, zwei Dinge zu unterscheiden. Erstens beginnt an diesem Punkt ein philosophisches Denken, das für die Entwicklung der Wissenschaften vom Menschen eine orientierende Relevanz beansprucht. Sie entfaltet sich mit und in einem philosophischen Diskurs der Anthropologie, der tatsächlich mit Kant beginnt. Gerade die Frage nach dem Wesen 3 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1966], übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1974, S. 410–412. 4 Georges-Louis Leclerc de Buffon, Allgemeine Naturgeschichte, übers. v. F.H.W. Martini, Berlin 1771–74, wiederabgedruckt Frankfurt a. M. 2008, S. 831 [Übersetzung leicht verändert; MR]. 5 Vgl. ebd., S. 669. »Der Mensch ist ein vernünftiges, das Tier ein unvernünftiges Wesen.« Ebd., S. 671.
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des Menschen, die das Tier auf Abstand hält, setzt in ihrem Kern zugleich ältere humanistische Traditionsbestände fort, insbesondere ein hierarchisches Verhältnis von Geist und Natur. Zweitens steht die kritische Wende für eine Neuausrichtung alles empirischen Wissens, das nicht auf der Grundlage mathematisch-physikalischer Methoden abgesichert ist. Biologie, Kultur und Geschichte bezeichnen zu Beginn des 19. Jahrhunderts Wissensgebiete, deren Theoriegrundlagen wenigstens problematisch sind. Für die Psychologie hatte bereits Kant die Konsequenzen gezogen; sie sind im Grunde dieselben wie diejenigen, die ihn dazu brachten, die Anthropologie als lediglich pragmatische Disziplin aufzufassen.6 Mit anderen Worten: bei Kant taucht die Anthropologie nicht nur einmal, sondern gleich zweimal auf. Es gibt sie als unausgeführte Philosophie, die sich auf das Wesen des Menschen bezieht, wenngleich sie dieses lediglich in kritischer Perspektive in den Blick nehmen kann. Dann gibt es sie als ausgeführte empirische Wissenschaft im Sinne einer populären Philosophie, die aber keinen Anspruch darauf erhebt, die Frage nach dem Wesen zu stellen oder zu beantworten. Es ist nur diese Anthropologie, die Kant in seinen Vorlesungen seit 1772 in fester Regelmäßigkeit behandelt und die in der Buchfassung von 1798 unter dem Titel einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht erscheint. Sie setzt damit ein Wesen des Menschen voraus – und bringt es in ihrem systematischen Entwurf zugleich zur Geltung.7 Das Wesen artikuliert sich im ersten Teil als »Person« und im zweiten Teil als »reiner Charakter«.8 Auf diese Weise bestimmt es den Begriff vom Menschen, wenngleich sich Kant in dieser seiner Anthropologie lediglich ›pragmatisch‹ mit den Vermögen und den Charakteren beschäftigt.9 Es ist leicht zu sehen, 6 Nach Kant sind psychische Phänomene nicht mathematisierbar. Da sie auch nicht länger in schulmetaphysischer Manier abgehandelt werden können, finden sie sich lediglich pragmatisch (und abgesetzt von ihren reinen Formen a priori) in der Anthropologie thematisiert. 7 Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798], Akademie-Ausgabe Bd. 7, Berlin 1917, S. 117–333, hier S. 121. 8 Es ist kein Zufall, dass Kant seine Anthropologie mit einer Überlegung über das Selbstbewusstsein im Sinne der »Ichheit« beginnt, die allen Tieren abgeht: »Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person […]. Die Erklärung dieses Phänomens möchte dem Anthropologen ziemlich schwer fallen.« Ebd., S. 127. Vgl. ebd., S. 285, 292, 324. 9 »Eine solche Anthropologie, als Weltkenntnis, welche auf die Schule folgen muß, betrachtet, wird eigentlich alsdann noch nicht pragmatisch genannt, wenn sie ein ausgebreitetes Erkenntnis der Sachen der Welt, z. B. der Tiere, Pflanzen und Mineralien in
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wie sowohl die pathologischen und pädagogischen Aspekte der anthropologischen Vermögenslehre (Erkennen, Fühlen, Begehren) als auch die Darstellung des empirischen Charakters (Geschlecht, Volk, Rasse) an einer wesentlichen Norm ausgerichtet sind, an der die Kranken und die Kinder ebenso wenig partizipieren wie die Frauen, die nicht-europäischen ›Rassen‹ oder der ›Pöbel‹. Diese Ambivalenz zwischen dem Wesen oder der höheren Natur des Menschen und seinem empirisch darstellbaren Leben lässt sich durch disziplinäre Einteilungen nicht vollständig beseitigen. Deutlich wird diese Ambivalenz bereits bei Buffon, wenn er zwischen Mensch und Tier einen »unermeßlichen Abstand« feststellt und doch erklärt, dass der menschliche Körper dem der »Tiere gleicht und man in einem Verzeichnis aller natürlichen Wesen genötigt ist, ihn an die Spitze der Tierklasse zu setzen.«10 Hier ist nicht allein eine methodische Differenz am Werk, vielmehr wird der prinzipielle Unterschied zwischen Mensch und Tier in die allzu selbstverständliche Annahme übersetzt, dass eben der Mensch an der Spitze der verschiedenen Lebewesen steht. Warum eigentlich, wäre zu fragen, wenn der metaphysische Stellenwert des menschlichen Wesens im Gebiet der Naturgeschichte wirklich keine Rolle spielte? Bei Kant spiegelt sich das theoretische Gefüge seiner systematischen Philosophie in der begrifflichen Struktur der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) wider. Es gibt im Feld der empirischen Menschenkenntnis eine quasi philosophisch-anthropologische Reflexion mit epistemologischem Gewicht. Dies wird nach Kant in der Ausbildung des philosophischen Anthropologiediskurses im beginnenden 19. Jahrhundert immer deutlicher. Und das zeigt seine integrative Kraft, indem in ihm eine Vielzahl nicht-philosophischer wissenschaftlicher Entwicklungen in den Grundlagen ihrer Theoriebildung zusammengeführt werden: in physiologischen und später auch biologischen Diskursen, in Psychologie, Anthropometrie, Medizin und Pädagogik, aber auch in historischen oder ethnologischen Arbeiten, die sich auf Kulturen und Religionen beziehen, sowie in den Wissensfeldern von Kunst, Politik und Ökonomie. Es ist kein Wunder, dass in allen genannten Bereichen spätestens in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Anthropologien entstehen, die in besonderem Maße den fachwissenschaftlichen verschiedenen Ländern und Klimaten, sondern wenn sie Erkenntnis des Menschen als Weltbürgers enthält.« Ebd., S. 120 (Herv. MR). Die pragmatische Erkenntnis ist keine naturgeschichtliche – und sie setzt »die Schule« voraus, d. i. die Transzendentalphilosophie und ihre Auseinandersetzung mit den Wesensfragen. 10 Vgl. Buffon, Allgemeine Naturgeschichte, a. a. O., S. 671, 667.
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Blick mit allgemeineren (philosophischen) Fragen des menschlichen Lebens vermitteln.11 Die aktuell vieldiskutierte Kolonialität der Macht ist nicht zuletzt ein epistemisches Problem. Es lässt sich nicht auf die Geschichte der Anthropologie einschränken. Aber diese bietet eine gute Angriffsfläche, eine Reihe von Schlüsselthemen zusammen in den Blick zu nehmen. Wenn Aníbal Quijano im Rassismus eine »mentale Konstruktion« erkennt, »in der sich die elementare Erfahrung kolonialer Herrschaft ausdrückt«12, dann liegt es nahe, die kritische Auseinandersetzung mit dem anthropologischen Denken zu suchen, in dem die Rassenlehre seit Kant eine zunehmend wichtige Rolle gespielt hat. Auch in die anthropologischen Entwicklungskonzepte biologischen oder historischen Typs schreiben sich Vorstellungen von einer natürlichen Primitivität und Wildheit ein, die eine hierarchische Rangordnung im Sinne des zivilisatorischen Fortschritts – und eine Legitimierung des Sklavenhandels und der Zwangsarbeit in den Plantagen – begründen. Physiognomie und Charakterkunde bilden ihrerseits einen integralen Bestandteil der anthropologischen Literatur und beruhen in der Regel auf vergleichenden Studien der Schädelvermessung, die in antiken Skulpturen und Idealvorstellungen des weißen, kaukasischen (bis nordischen) Menschen ihre normativen Maßstäbe findet. Anthropologie zu dekolonisieren bedeutet, ihre koloniale epistemische Struktur und mit ihr die Machtverhältnisse, die von ihr getragen werden, zu bestimmen und aufzulösen. Dass dies im Sinne einer Kritik der anthropologischen Vernunft möglich und dringend notwendig ist, scheint allerdings nicht auf der Hand zu liegen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Ein Grund liegt in der Unübersichtlichkeit der verschiedenen Disziplinen zugeordneten anthropologischen Diskursfelder. Ein anderer hat damit zu tun, dass es keine eindeutig bestimmbare Philosophie des postkolonialen Denkens gibt. Einerseits steht das moderne, an Kant, Hegel und Marx geschulte emanzipatorische Denken stark unter Beschuss.13 Ihm wird eine universalistische Position vorgeworfen, der es nicht gelingen kann, das »Kolonialproblem« – ebenso wenig 11 Vgl. Werner Sombart, »Beiträge zur Geschichte der wissenschaftlichen Anthropologie«, in: Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Phys.-math. Kl., Bd. XIII, Berlin 1938, S. 96–130. 12 Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika [2000], übers. v. A. Jenss u. S. Pimmer, Wien 2016, S. 23. 13 Vgl. Boaventura de Sousa Santos, Epistemologien des Südens. Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, übers. v. F. Schüring, Münster 2018.
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wie das »Frauenproblem« – konsequent in sich aufzunehmen.14 Andererseits befinden sich auch entschiedene Positionen der Modernekritik, die sich an Nietzsche oder am Strukturalismus orientieren, nicht in der Lage, die Kolonialität der Macht direkt zu adressieren. Sie liefern vielleicht dafür die Munition, tendieren aber dahin, die grundsätzlichen Fragen auf allzu abstraktem Niveau abzuhandeln. Hinzu kommt als dritter Grund die besonders enge Verflechtung der auf die europäischen Verhältnisse zugeschnittenen Kolonialgeschichte mit derjenigen des Kapitalismus. Sollte es stimmen, dass sich mit den ›neoliberalen‹ Veränderungen der Arbeitsverhältnisse, der flexiblen Stellung des einzelnen oder den global vernetzten Informationstechnologien eine epochale Wende innerhalb der Ökonomien vollzogen hat, wie wäre dann noch aktuellen Lebenspolitiken mit Anthropologiekritik zu begegnen? Selbst Foucault scheint seine immer auch anthropologiekritisch angelegten Untersuchungen zum Dispositiv der Sexualität in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität nicht weiterzuführen – und gerade auch das Rassismusproblem angesichts der neoliberalen Herausforderungen als antiquiert anzusehen.15 Überhaupt fällt es vielen schwer, in den differenzphilosophischen Kritiken der sogenannten postmodernen Philosophie mehr zu sehen als affirmative Beschreibungen des zeitgenössischen Wandels. Dieser ›postindustrielle‹ Wandel lässt den Machtkomplex der Kolonialität nicht unberührt. Und doch handelt es sich bei ihr um eine Vergangenheit, die nicht aufgehört hat, stets erneut aktualisiert zu werden. Sie besitzt einen impliziten Status, sofern sie die epistemische Struktur eines diskursiven Geschehens tradiert. Und sie zeigt sich ganz manifest in den globalen Interdependenzen ökonomischer und politischer Verhältnisse, die mit den Befreiungskämpfen in den kolonisierten Ländern nicht verschwunden sind. All dies ruft ihre dekolonisierende Kritik auf den Plan. Dass diese Kritik hier als eine verstanden wird, die »uns« in Europa nicht nur angeht, sondern die 14 Vgl. Aimé Césaire, »Rede über die Négritude« [1987], in: ders., Rede über den Kolonialismus und andere Texte, Berlin 2010, S. 130. Von einem »Frauenproblem« spricht Carla Lonzi, »Wir pfeifen auf Hegel« [1970, 1974], in: dies., Die Lust Frau zu sein, übers. v. S. Vagt, Berlin 1975, S. 5–34, hier S. 5. In beiden Fällen wird die Differenzthese (Schwarzer/Mensch, Frau/Mann) nicht essentialistisch, sondern historisch begründet. Genau darin liegt die epistemische Abweichung von der kolonialen oder auch patriarchalen Differenzierung des Menschen, die mit einer festgelegten (und minderwertigen) Natur des anderen Geschlechts oder der anderen ›Rasse‹ argumentiert. 15 Vgl. Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Vorlesung am Collège de France 1978–1979, übers. v. J. Schröder, Frankfurt a. M. 2006, S. 318.
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»wir« auch selbst durchzuführen haben, muss nicht verwundern. Schließlich war (und ist) die Machtrelation Kolonisierende(r)/Kolonisierte(r) eine, die beide Seiten umfasst.16 Als ein europäisches Phänomen verlangt der koloniale Diskurs eine kritische Auseinandersetzung mit den Denktraditionen, die ihn hervorgebracht haben und die gerade auch im akademischen Selbstverständnis der ›okzidentalen‹ Wissenskulturen fortwirken. Diese Kritik ist allerdings kein (eurozentristischer) ›Alleingang‹; vielmehr ist sie auf ein radikal pluralistisches Konzept transkulturellen Austauschs bezogen, auf ein Minoritär-Werden, das die strikten Vorstellungen moderner Totalität ihrer Fundierung beraubt. Mignolo formuliert diese Bedingung produktiver Kritik: »Wenn die Kolonialisator_innen dekolonialisiert werden müssen, dann können die Kolonialisator_innen nicht ohne die intellektuelle Begleitung der Verdammten zu den Agent_innen ihrer eigenen Dekolonialisierung werden.«17 Auch in diesem Sinne begreift sich die hier vorgelegte Arbeit als radikaldemokratisch. Vielleicht trifft eine Rekonstruktion der kolonialen Beziehungen der Anthropologiegeschichte im langen 19. Jahrhundert auf genügend Vorverständnis, um nicht als artifizielle und allzu bemühte Angelegenheit aufgefasst zu werden. Gerade aus philosophischer Sicht ist aber zu bemerken, dass die Anthropologie zumeist nur als ein sporadisches Phänomen wahrgenommen wird, das eher verstreut in den Arbeiten von Kant, Hegel oder Feuerbach auftaucht und Spezialstudien beschäftigt, nicht aber als ein kompakter und eng zusammenhängender Diskurs gilt. Erst dieser Befund klärt über die Kontinuität des anthropologischen Denkens in der Philosophie und über die von ihm geleistete Organisation des anthropologischen Wissens aus nicht-philosophischen Bereichen auf (s. Kapitel 1). Genau darauf aber kommt es an, sofern die idealistischen Positionen den verschiedensten Entwicklungsmodellen normative Maßstäbe an die Hand geben, die für die Beurteilung eines minderen Werts besonderer Menschen verantwortlich sind. Für die ›Perversion‹ wie auch für die ›Entartung‹ (im Kontext von Eugenik und Rassenhy 16 Immer wieder haben sowohl Frantz Fanon als auch Aimé Césaire auf diesen Sachverhalt hingewiesen. Nicht nur die oder der Kolonisierte wird zum Tier degradiert, auch der Kolonisator macht sich, wenn auch auf andere Weise und selbst als Akteur, zum Tier. Vgl. dazu neuerdings Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, a. a. O., S. 65–66, und Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, a. a. O., S. 290. 17 Walter Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, a. a. O., S. 76–77. Auch Mbembe kommt auf den reziproken Aspekt der kritischen Praxis des Dekolonisierens zu sprechen: »Einerseits gilt es, den Status des Opfers hinter sich zu lassen. Andererseits müssen wir Schluss machen mit dem ›guten Gewissen‹ und der Leugnung der Verantwortung.« Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, a. a. O., S. 324.
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giene) hat bereits Foucault die spezifisch anthropologischen Hintergründe im Diskurs über die Sexualität herausgestellt. Das Schlagwort der ›Bio-Politik‹ stellt die immer wieder diskutierte Verbindung her vom Diskurs über die Bevölkerung in der politischen Ökonomie des späten 18. Jahrhunderts bis zu den Menschenzüchtungsutopien im Nationalsozialismus. Der Schwerpunkt dieses Buches liegt allerdings nicht dort. Mir geht es vor allem um die Frage, was von der Anthropologie mitsamt ihren einigermaßen bekannten kolonialen oder auch rassistischen Bezügen heute noch übriggeblieben ist. Im deutschsprachigen Raum hat sich seit den 1950er Jahren die Annahme verbreitet, dass die philosophische Anthropologie aus den 1920er Jahren stammt und im Konzert mit den Entwicklungen von Phänomenologie und Hermeneutik (nach Dilthey, Husserl und Heidegger) eine womöglich eher konservative, aber doch zeitgemäße neue Form des Philosophierens darstellt. Diese Meinung kann sich auf ihre Protagonisten stützen, sofern sich mit wenigen Ausnahmen weder Max Scheler noch Helmuth Plessner mit den älteren Anthropologietraditionen (affirmativ, historisch oder kritisch) auseinandersetzen. Es scheint sie nicht zu geben, weshalb sich das Neue nicht gegen sie profilieren muss. Auch gibt es kein Erbe, das explizit ausgeschlagen werden müsste. Es ist genau diese Annahme, die eine Problemlage markiert, die aus meiner Sicht kritisch-genealogische Arbeit erforderlich macht. Sie ist keineswegs auf philosophische oder philosophiegeschichtliche Gegenstände beschränkt. Aber es kann gezeigt werden, dass auch in vielen anderen Theoriefeldern die anthropologische Episteme weiterhin ihre dirigierende Kraft entfaltet. Sie besitzt vielleicht nicht mehr diese Eindeutigkeit in ihren Abwertungsstrategien. Aber das macht ihre Entschlüsselung nur schwieriger und subtiler. Die Ethnologie oder Kulturanthropologie scheint sich einerseits um die Jahrhundertwende (1900) langsam dem älteren kolonialen Regime zu entziehen. Aber andererseits bringt sie mit der Einführung neuer Forschungsmethoden und kulturtheoretischer Ansätze die hierarchischen Relationen zwischen der Wissenschaft und der ›wilden Existenz‹ nicht wirklich zum Verschwinden (s. Kapitel 2). Sie verhält sich wie die künstlerische Avantgarde zum sogenannten Primitivismus.18 Andere, wenngleich ähnliche Schwierigkeiten werfen Säkularisierungstheorien auf, die sich mit ihrem Vernunftgebrauch auf der sicheren Seite wähnen, wenn es um die Aufklärung religiöser Glaubensfragen geht (s. Kapitel 3). Aber wohnt nicht in der Vernunft eine gleichsam demokratische Mehrstimmigkeit, die sich nicht 18 Siehe dazu exemplarisch Carl Einstein, Negerplastik, Leipzig 1915.
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ohne Verlust in eine dominierende Tonlage verwandeln lässt? Was ist von der hybriden Einstellung zu halten, die alles, was ihrer Selbsteinschätzung widerspricht, in puren Aberglauben transformiert? Ist nicht der in den letzten Jahren vieldiskutierte neue Realismus ein letzter Versuch in dieser Richtung, endlich wieder auf festen Grund und Boden zu stoßen?19 Auch die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Massenpsychologie entwickelt sich aus anthropologischen Denktraditionen (s. Kapitel 4).20 Die Masse ist der inferiore Teil der eigenen Bevölkerung, der wie andere ›minderwertige Menschentypen‹ einer Herde gleicht, die gut gehütet und geführt sein will. Ihre natürlichen Bedürfnisse überwiegen ihre geistigen Fähigkeiten und sie lässt sich insgesamt leicht lenken, weil der einzelne in ihr den Kopf verliert. Das Konzept der Masse zeigt koloniale Züge in ihrer wilden, zügellosen Natur und hält gleichermaßen Einzug in politische und ökonomische Propagandastrategien, die den ihr zugeordneten despotischen Führungsstil reproduzieren. Die kritischen Modelle von Massenkonsum, Massenmedien und Massengesellschaft stehen noch unkritisch in ihrer Traditionslinie. Ihr zeitgenössisches Gesicht offenbart sich im sogenannten Populismus und seinen Theorien. Die Masse nimmt als ein homogener Volkskörper Gestalt an, der sich in den wenigen Stimmen zu artikulieren scheint, die mit dem Anspruch auftreten, ihn zu repräsentieren und zu seinem Recht zu verhelfen. Das völkische Denken, das sich seit kurzer Zeit vermehrt auf politischer Bühne zu Wort meldet, findet nicht zuletzt einige seiner Wurzeln in der völkischen Anthropologie, die während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland Triumphe feierte (s. Kapitel 5). Auch diese Ideologie lässt sich gut in einem anthropologiegeschichtlichen Rahmen verorten, weshalb sie mit dem Rassismusthema der postkolonialen Kritik in einer engen Verbindung steht. Eine Philosophie, die sich selbst zu dekolonisieren vornimmt, 19 Vgl. den Furor in der Kritik des Fideismus bei Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz [2006], übers. v. R. Frommel, Zürich, Berlin 2014. Kein Idol auf weißer Wand – aber ist diese Wand nicht zugleich »abwesende Malerei«, wie Stoichita mit Blick auf den Bilderstreit im 16. Jahrhundert meint? Vgl. Victor I. Stoichita, Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei [1993], übers. v. H. Jatho, München 1998, S. 110. 20 Die Massenpsychologie von Gustave Le Bon entsteht vor dem Hintergrund seiner kulturhistorischen – mit Edward Said gesagt: typisch ›orientalistischen‹ – Arbeiten, die human- und insbesondere hirnphysiologische Studien voraussetzen. Beides findet in der Rassen- und Völkerpsychologie zueinander, die Le Bon kurz vor seiner Psychologie der Massen publiziert. Vgl. Gustave Le Bon, Les lois psychologiques de l’évolution des peuples, Paris: Félix Alcan 1894. Natürlich findet sich die Rede vom ›Herdenbewusstsein‹ und der ›Urhorde‹ auch bei Marx und Freud.
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ist daher gut beraten, sich mit ihrer eigenen Geschichte des anthropologischen Denkens auseinanderzusetzen. Sie kulminiert in einer totalitären Form der Biopolitik und wirft zugleich ein weiteres Mal die Frage auf, wie anders sie sich in den gegenwärtigen neoliberalen kapitalistischen Verhältnissen rund um den Globus konstituiert. Die aktuellen ›kontrollgesellschaftlichen‹ Machtverhältnisse setzen nicht nur alternative Minorisierungsprozesse in Gang, sie produzieren auch soziale Ungleichheiten, die sich gegenseitig stabilisieren.21 Integrations- und Solidaritätspolitik haben genau mit dieser Dynamik zu kämpfen – und ihnen gelingt es in aller Regel nicht, den polarisierenden Wirkungen moralisierender bzw. ›enttabuisierender‹ Kampagnen entgegenzutreten. Auch hier zeigt sich, dass das Festhalten an anthropologischen Stereotypen eine wirksame Unterbrechung der Spirale von Hass und Gewalt verhindert: einerseits die kosmopolitischen Eliten, die selbst nicht in der Lage sind, ihre privilegierte Stellung als Profiteure einer weltweiten Modernisierungslogik kritisch wahrzunehmen; und andererseits die auf nationale Kulturen und festgefügte Traditionen (im Verhältnis von Mann und Frau, schwarz und weiß) pochenden Konservativen, die sich von den globalen Entwicklungen bedroht sehen. Auf andere Weise findet sich die anthropologische Rassenlogik, die minoritäre Identitäten generiert, bereits in den Relationen von Mensch und Tier. Dies wird deutlich in den Beispielen der »verwilderten Menschen« oder »tierischen« Menschengesichter, die den Erwartungen an eine physiognomische Ästhetik nicht entsprechen und in der anthropologischen Literatur gegen Ende des 18. Jahrhunderts exemplarische Relevanz genießen.22 Nach Herder markiert die Gestalt des Menschen eine Organisationsform vitaler Kräfte, die sich aus dem Dunkel des Tierreichs heraushebt, wenn sie sich mit zunehmender Sensibilität (und entsprechendem Gehirn) aufrichtet. Im Affenschädel erscheint »die Richtung der Form verrückt«, die zur »schönen freien Bildung« des menschliches »Haupts« führt23: die Physiognomie der ›Ras 21 Vgl. Gilles Deleuze, »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften« [1990], in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, übers. v. G. Roßler, Frankfurt a. M. 1993, S. 254–262. 22 Vgl. Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1784–91], in: Herders Werke, Bd. 3, Berlin 1911, S. 133, 138. 23 Vgl. ebd., S. 139. Herders vergleichende Physiologie unterhält enge Beziehungen zu den Arbeiten von Haller, Blumenbach oder Camper und instruiert mit seinem Modell der organischen Kräfte ganz entscheidend die naturphilosophischen Spekulationen über die Trias Reproduktion-Irritabilität-Sensibilität, die seit dem jungen Schelling und seiner Deutung der Kantischen Lehre vom Organismus die Anthropologie nachhaltig definieren.
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sen‹ greift derartige Überlegungen auf und platziert zwischen dem Affen und dem Europäer die afrikanischen, asiatischen und amerikanisch-indigenen Völker. Noch die sozialanthropologischen Vorstellungen von einem historischen ›Rassenkampf‹ um 1900 geben vor, ihre Einsichten auf der Grundlage kraniometrischer Erkenntnisse absichern zu können.24 Mit der Unterscheidung von Umwelt und Welt wird die Tier-Mensch-Differenz in einen Bereich verlagert, der exzentrische Weltoffenheit und das Pathos eigentlich-abgründiger Existenz von instinktgeleitetem, routinemäßigem Verhalten und perspektivisch abgeschirmten Lebenshorizonten trennt. Das wiederum gegen das Tier ausgezeichnete Menschsein hebt sich aus Strukturen heraus, die es weder aufgeben noch wirklich affirmieren kann – und bringt damit erneut eine Universalität in Anschlag, die diesmal in der Fähigkeit zur Reflexion auf die eigene Endlichkeit gründet. Vor dem Hintergrund der anthropologischen Diskussionen um die Uexküllsche Ethologie kann das von Gilles Deleuze und Félix Guattari aufgebrachte Konzept des Tier-Werdens als eines verstanden werden, das sowohl mit der Umwelt-Welt-Differenz als auch mit der Herabsetzung des Tiers (oder auch des Dunkels und des Unverständigen etc.) im philosophischen Selbstverständnis des vernünftigen Denkens Schluss macht (s. Kapitel 6).25 Adressiert an schwarze Sportler*innen perpetuiert dagegen das rassistische Affengeschrei in den Fußballstadien die kolonial geprägte und mit dem Tier abgestützte Menschenverachtung. Die Diskussionen um das Anthropozän, die sich mit der Bedeutung der menschengemachten Klimakrise beschäftigen, haben in Zeiten eines weit verbreiteten Posthumanismus zu einer anthropologisch gedeuteten Reaktion geführt: zur Wiederkehr des Menschen im Sinne seiner nicht zu vernachlässigenden Handlungsmacht (s. Kapitel 7). Ein wichtiger Strang in diesen Diskussionen liegt in der Technikanthropologie, die von Ernst Kapp in Anlehnung an den breiten Diskurs der naturphilosophischen Anthropologie in den 1870er Jahren entwickelt wurde.26 Im Kern geht es hier um die Frage, ob die Menschen imstande sind, die Technologien zu beherrschen, die sie im industriellen Verbrauch irdischer Energien einsetzen. Findet die Technik 24 Vgl. nur Ludwig Woltmann, Politische Anthropologie. Eine Untersuchung über den Einfluss der Descendenztheorie auf die Lehre von der politischen Entwicklung der Völker, Eisenach 1903. 25 Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus [1980], übers. v. G. Ricke u. R. Voullié, Berlin 1992, S. 317ff. 26 Vgl. Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877.
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im Menschen ihren Grund und kann daher immer wieder auf ihn und seine Zwecksetzungen zurückgeführt werden – oder dezentriert sie ihn heillos und verwickelt ihn in eine Eigendynamik, der er nicht länger gewachsen ist? Und hält nicht gerade der sogenannte Transhumanismus mit seinen grenzüberschreitenden Beschleunigungsphantasien in der Verkleidung künstlicher Intelligenz am antiquierten Ideal des perfekten Menschen fest?27 Wie lässt sich mit einer Technizität umgehen, die sich – mit Bruno Latour gesprochen – in Akteur-Netzwerken niederschlägt, die sich aus Kollektiven menschlicher ebenso wie nicht-menschlicher Aktanten zusammensetzen? Auch im Feld der Medientheorie sind seit den Arbeiten Marshall McLuhans anthropologische Fragen konstante Problemfelder, die im Vergangenheitscharakter der Gutenberg-Galaxis im Zeichen eines neuen Zeitalters der Elektrizität oder Digitalisierung handgreiflich werden (s. Kapitel 8).28 Wenn Medien selbst die Botschaft sind, die sich durch sie hindurch vermittelt, bedeutet das nicht, dass mit ihnen die anthropologisch bestimmten Fundierungsleistungen preisgegeben werden müssen? Wieder wird der zivilisierten Verstandes- und Schriftkultur eine Primitivität des wilden Denkens entgegengehalten, die in einer romantischen Fassung des Naturzustands auf kybernetische und posthumane Zeiten projiziert wird. Dieser Posthumanismus aber gründet seinerseits auf einer anthropologischen Denkungsart, sofern er sich an einem Idealbild orientiert, das den ›ganzen Menschen‹ im harmonisch austarierten Verhältnis seiner bewussten und unbewussten oder geistigen und natürlichen Seiten wiederbelebt. In einer Nähe zu Arnold Gehlen oder selbst Claude Lévi-Strauss gelingt es dieser Überwindungsstrategie des einseitig rationalen und fortschrittsorientierten Menschen letzten Endes nicht, die anthropologische Utopie des wiedergefundenen oder neugeborenen Menschen hinter sich zu lassen. Gerade die medial bedingte Ausweitung des Menschen besitzt nach McLuhan eine massenförmig hypnotisierende Kraft, die die kollektive Popularität, statt sie frei zu setzen, bindet. Die von Arturo Escobar und Walter Mignolo 2004 aufgeworfene Frage nach der Anschlussfähigkeit der Kritischen Theorie an den modernekritischen Diskurs der Dekolonialisierung könnte mit der Triftigkeit ihrer anth-
27 Vgl. Ray Kurzweil, Menschheit 2.0. Die Singularität naht, übers. v. M. Rötzschke, Berlin 2013, S. 304–325. 28 Vgl. Marshall McLuhan, Quentin Fiore, The Medium is the Massage. An Inventory of Effects, New York 1967: Random House.
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ropologiekritischen Überlegungen beantwortet werden.29 Tatsächlich gibt es eine entsprechende Tradition, die von Marx’ bekannten Thesen über Feuerbach bis zur Frontstellung von Geschichtsphilosophie und (naturphilosophischer) Anthropologie bei Jürgen Habermas reicht.30 Am Beispiel der aktuell wiederentdeckten Negativen Anthropologie von Ulrich Sonnemann wird hier der Versuch unternommen, das anthropologiekritische Potenzial der Kritischen Theorie auszuloten (s. Kapitel 9). Es zeigt sich, dass die sehr generell angelegte Beschreibung der Gegenwart, die auf Krisenphänomene der Entfremdung zielt, die mit dem Gebrauch der instrumentellen Vernunft entstehen, einer präzisen Analyse des anthropologischen Denkens mitsamt seiner kolonialen Aspekte an einigen wichtigen Stellen im Wege steht. Sie überschattet gleichsam ihre feineren Konturen. Sonnemann nimmt nicht wirklich die älteren Traditionen der philosophischen Anthropologie – und mit ihnen die Verfertigung des Menschen zwischen Mensch und Unmensch – in den Blick, sondern begnügt sich weitgehend damit, die objektivierende bzw. normalistische Festschreibung des Menschen zurückzuweisen, die in den zeitgenössischen Diskursen und auch bei Marx und Freud vorliegt, wenigstens wenn sie isoliert voneinander rezipiert werden. Fehlende Kritik aber schlägt fast zwangsläufig in Kritiklosigkeit um, die sich im Umgang mit den postkolonialen Themen artikuliert. Die Forderung nach einer notwendigen Erweiterung des kritischen Denkhorizonts wird auch im italienischen Feminismus von Carla Lonzi er 29 Vgl. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, a. a. O., S. 43–45. »Wie müsste sich die Kritische Theorie verändern, wenn die Verdammten dieser Erde gemeinsam mit dem Proletariat Max Horkheimers oder der Multitude als aktuelle Übersetzungen des Proletariats ins Spiel gebracht werden? Welche Transformationen sind innerhalb der Kritischen Theorie erforderlich, um Geschlecht, ›Rasse‹ und Natur vollständig in ihren konzeptuellen und politischen Rahmen einzugliedern?« Ebd., S. 44–45. Mignolo unterscheidet die Idee der »Befreiung« von derjenigen der »Emanzipation«, im Rekurs auf Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung [1977], übers. v. P. Penner, Hamburg 1989. 30 Vgl. Jürgen Habermas, »Anthropologie«, in: Das Fischer Lexikon Philosophie, hg. v. A. Diemer u. I. Frenzel, Frankfurt a. M. 1958, S. 18–35. Den Gegensatz zwischen Natur und Geschichte, womöglich auch im Sinne einer rechts- oder linksgerichteten Politik, affirmiert von anderer Seite Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1973, S. 122–144. Amy Allen unternimmt in ihrem neuen Buch den Versuch, die Kritische Theorie gleichsam von innen heraus zu dekolonisieren. Ihre Überlegungen zielen auf den (implizit geschichtsphilosophischen) Fortschrittsbegriff ab – mit Adorno gegen Habermas. Es bleibt offen, ob ihnen eine Anthropologiekritik an die Seite gestellt werden kann. Vgl. Amy Allen, Das Ende des Fortschritts. Zur Dekolonisierung der normativen Grundlagen der kritischen Theorie, Frankfurt a. M. 2019.
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hoben (s. Kapitel 10). Ihr geht es darum, die naturphilosophisch begründete Stellung der Frau im Denken von Hegel und Marx als patriarchales Gedankengut kenntlich zu machen. Ihre Kritik zielt damit im Kern auf die anthropologische Charakteristik, die in der Geschlechterdifferenz eine natürliche Bestimmung der Frau postuliert, die dafür sorgt, dass sie im Unterschied zum Mann auf eine passivische und sinnlich dominierte Existenzweise eingeschränkt wird. Es genügt daher nicht, das geschichtsphilosophische Emanzipationsmodell auf feministische Belange zu übertragen, solange nicht die anthropologische Fixierung der weiblichen Natur als Grundproblem einer in sich stagnierenden Frauenbewegung erkannt wurde. Ganz ähnlich macht bell hooks für den amerikanischen ›schwarzen Feminismus‹ deutlich, dass das politische Anliegen der Befreiungsbewegungen nicht erreicht werden kann, solange nicht intersektional die kritischen Einstellungen zu Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus zusammengeführt werden. Genau diesen Fokus aber stellt die hier vorgeschlagene Auseinandersetzung mit der anthropologischen Tradition bereit. Das Buch schließt mit einigen Bemerkungen zu einer dekolonisierenden Anthropologie, die sich mit Eduardo Viveiros de Castro als »minoritäre« begreifen lässt.31 Sie realisiert nicht nur die Kritik ihrer selbst, sondern findet zugleich positive Ausgangspunkte darin, immanent zu denken. ›Immanent‹ bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem: ›pluralistisch‹. Allerdings nicht im Sinne der Tradition des politischen Liberalismus. Eher ist an Nietzsche zu denken und an seine Idee des Perspektivismus.32 Hiermit findet sich auch in der europäischen Philosophietradition – und im ameri 31 Vgl. Eduardo Viveiros de Castro, Kannibalische Metaphysiken. Elemente einer post-strukturalen Anthropologie [2009], übers. v. Th. Mentrup, Leipzig 2019, S. 14. 32 An diese Idee lehnen sich auch die von William James 1907 am Manchester College in Oxford gehaltenen Hibbert-Lectures an, die zwei Jahre später unter dem Titel A Pluralistic Universe publiziert wurden. Ich erinnere an diese Vorlesungen, weil sie deutlich machen, dass unter Pluralismus ein philosophisches Konzept der Wirklichkeitserkenntnis verstanden wird – bei James: des sog. radikalen Empirismus –, das auf die politische Theorie durchschlägt. Wie James sagt, gleicht »die pluralistische Welt […] mehr einer föderativen Republik als einem Imperium oder einem Königreich.« William James, Das pluralistische Universum. Vorlesungen über die gegenwärtige Lage der Philosophie [1909], übers. v. J. Goldstein, Darmstadt 1994, S. 208. Während der Monismus einer idealistischen Philosophie dazu führt, elitenbasierte Herrschaftsverhältnisse hierarchisch zu konsolidieren, neigt der pluralistische Ansatz dazu, wie es im amerikanischen Pragmatismus insbesondere bei John Dewey der Fall ist, sich in einer anspruchsvollen Demokratietheorie zu explizieren. Ähnliche Überlegungen zu einem radikalen Pluralismus finden sich bei Paul Feyerabend, Michel Serres und Gilles Deleuze.
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kanischen Pragmatismus – ein Denken der Mannigfaltigkeit, das gerade in der ethnologischen Kulturtheorie produktiv gemacht werden kann. Es wäre möglich, in ihr genau jene anthropologische Reflexion auszumachen, die als philosophisches Komplement in der Ethnografie gefordert wird.33 Mit ihr wird vermieden, im Rahmen einer wissenschaftlich-dogmatischen Metareflexion eine menschliche Position über die andere zu stellen. Anthropologische Differenzen, wie sie aus der kolonialen Tradition der Charakteristik her überliefert sind, können damit in der Theorie ein für alle Mal ausgelöscht werden. Dasselbe gilt für die Annahme homogener Kulturkreise, sofern gezeigt werden kann, dass kulturelle Identitäten mit viel Aufwand produziert und reproduziert werden (müssen) – und dies stets vor dem Hintergrund primärer transkultureller Prozesse. Es mag sein, dass die dekolonisierende Praxis des Frantz Fanon uns heute nicht mehr zeitgenössisch erscheint. Und doch gibt es noch gegenwärtig ›Verdammte dieser Erde‹, Ausgestoßene, Vertriebene, Lagerinsassen, Gedemütigte und Erniedrigte, was nach Mbembe mit einem »institutionellen Rassismus« zusammenhängt.34 »Ausschluss, Diskriminierung und Selektion im Namen der Rasse sind […] weiterhin strukturierende – wenn auch vielfach geleugnete – Faktoren der Ungleichheit, der Verwehrung von Rechten […], und das selbst in unseren Demokratien. Man kann nicht so tun, als hätte es Sklaverei und Kolonisierung nie gegeben oder als wäre das Erbe dieser finsteren Zeit vollkommen beseitigt.«35 Das ist nicht der Fall, ganz gleich ob es sich um Minderheiten handelt, die von einer starken oder repräsentativen Majorität in Schach gehalten werden, oder ob es sich um ganze Populationen handelt, die in ökonomischer Hinsicht weitgehend machtlos sind. Mbembe spricht vom »Aufstieg zum Menschsein«, der erst dann gelingen kann, wenn die »Last der Rasse« abgeschüttelt wurde.36 Es wird nicht darum gehen, das Menschsein im universellen Sinne des traditionellen Humanismus wiederzufinden. Wie Mbembe oder Mignolo nicht müde werden zu erklären, verbirgt sich in der kolonialen epistemischen Stellung des Menschen ein universalistischer Anspruch, der immer zu 33 Vgl. Tim Ingold, »Anthropology is Not Ethnography«, Proceedings of the British Academy 2008: 154, S. 69–92. Der identitäre ›Ethnopluralismus‹ hingegen versteht unter einem Plural der Ethnien eine sehr begrenzte Anzahl fixer, geschlossener Kulturkreise (oder Rassen). Die Okkupation des Begriffs entspricht der politischen Strategie, einen echten Pluralismus (z. B. als ›Multikulturalismus‹) zu bekämpfen. 34 Vgl. Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, a. a. O., S. 311, 323. 35 Ebd., S. 322. 36 Vgl. ebd., S. 306, 307. Vgl. auch Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, a. a. O., S. 148.
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gleich als kulturalistischer »Fundamentalismus« bzw. anthropologischer Rassismus aufgetreten ist.37 Ein Ausweg aus diesem Machtkomplex kann nur gefunden werden, wenn ein radikal pluralistisches oder situiertes Denken an seine Stelle tritt und ihn zersetzt.38 Nicht die »Abspaltung von der Welt« kann dabei das Ziel sein, sondern nur die »Bejahung ihrer Vielfalt«.39 Die »Dekolonialität« eröffnet »pluriversale statt universale Lebenshorizonte«.40 Den »Sirenen des Inseldaseins« gilt es zu widerstehen und »Trennwände abzubauen«.41 Es wäre verfehlt, »den Titel der Universalität für einen Provinzialismus zu beanspruchen.«42 Wird diese Reflexion selbst eine quasi anthropologische, die nicht länger zwischen dem Allgemeinen und Besonderen hin und her pendelt, dann mag es ihr gelingen, sich in der Leere des verschwundenen Menschen aufzuhalten.
37 Vgl. ebd., S. 199. 38 Vgl. Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, a. a. O., S. 295, 307. 39 Vgl. ebd., S. 287. 40 Vgl. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, a. a. O., S. 189. In Jorge Luis Borges’ Grammatik möglicher Welten entziffert er einen radikal pluralistischen Ansatz, der zur Dekolonialisierung führt. Vgl. ebd., S. 139. Siehe dazu auch mit Blick auf Leibniz und Deleuze: Marc Rölli, Immanent denken, Bd. 1, Wien 2018, S. 135–175. 41 Vgl. Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, a. a. O., S. 292, 288. Hier noch ein Wort zu der um Mbembe und den israelkritischen BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) entstandenen Diskussion. Aus meiner Sicht ist Mbembes an der Geschichte Afrikas ausgerichtete Theorie kolonialer Strukturen weitgehend unabhängig von der im BDS-Umfeld (und wohl auch von Mbembe selbst) vertretenen Annahme israelischer Siedlungspolitiken als typisch koloniale. Gerade das Blockdenken aber, das sich im Streit der gegnerischen Positionen verfestigt – und sich in einer Weise zuspitzt, dass postkoloniale Theorie und Antisemitismuskritik gegen alle Vernunft als unvereinbar gelten müssten –, reproduziert lediglich die Problemlage. Stattdessen liegen in der Bildung heterogener Allianzen, im Anders-Denken des Anderen, in einem unerschrockenen Pluralismus die Mittel der Stunde: etwa um die »Dialogprojekte zwischen Palästinenser*innen und Israelis« zu fördern und auf beiden Seiten nicht zu blockieren. Vgl. Saba-Nur Cheema, »Kritik und Kritik an der Kritik. Warum die BDS-Debatte in eine Sackgasse führt«, in: Texte zur Kunst, 30:119, Anti-Antisemitismus, Berlin 2020, S. 47–51, hier S. 49. 42 Aníbal Quijano, zit. in: Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, a. a. O., S. 56–57.
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1. Zur Geschichte und Kritik des anthropologischen Denkens1 »Hirngespinste wie […] ›der Mensch‹ […].«2
Die Geschichte des anthropologischen Denkens ist vielfältig und verworren. Das hängt wie schon erwähnt in erster Linie damit zusammen, dass die Anthropologie nicht eindeutig in einem disziplinär und akademisch bestimmten Fachgebiet zuhause ist. Das hängt zweitens aber auch von der Entwicklung systematischer Anthropologiebegriffe ab, die nicht nur in unterschiedlichen Bereichen stattgefunden hat, sondern mit denen wiederum in historischer Auslegung und Verwendung gearbeitet wurde und gearbeitet wird. In diesem Sinne – und um ein Beispiel zu geben – sind in der Philosophie Anthropologiebegriffe konstruiert worden, die herangezogen werden können, um Theoriefelder (oder sogar Denkweisen oder Denkrichtungen) als anthropologische zu bezeichnen, die sich selbst zunächst einmal nicht als anthropologische verstanden haben. Es hat sich eingebürgert, in der politischen Philosophie von Hobbes bis Rousseau von einem anthropologischen Teilgebiet zu sprechen. Zwar ist der erste Teil des Leviathan »vom Menschen« betitelt – und von Anthropologie ist explizit nicht die Rede – aber für eine heutige Interpretin ist es durchaus naheliegend, diesen Teil – und zugleich den Schwerpunkt der in ihm ausgeführten Gedanken und Sachverhalte –
1 Der Text basiert auf mehreren Vorträgen, die ich in den Jahren 2017–18 an den Universitäten in Leipzig, Wuppertal und Bochum gehalten habe. Ich bedanke mich bei Norbert Ricken, Dirk Quadflieg, Nikolaos Psarros, Gerald Hartung, Heike Koenig und Pirmin Stekeler-Weithofer. Eine frühere Version findet sich in Olivier Agard, Gerald Hartung, Heike Koenig (Hg.), Die Lebensphilosophie zwischen Frankreich und Deutschland, La philosophie de la vie entre la France et l’Allemagne, Studien zur Anthropologie und Kulturphilosophie Bd. 1, Baden-Baden 2018, S. 281–298. 2 Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie [1845–46], in: dies., Werke Bd. 3, Berlin 1959, S. 9–530, hier S. 40.
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als »anthropologisch« zu bestimmen.3 (Und dies nicht einfach deshalb, weil vom Menschen die Rede ist.) Diese Problematik findet sich nicht allein in der Philosophie, wenngleich sie dort durchaus folgenreich gewesen ist. Auch die medizinische Anthropologie, die Kulturanthropologie, die literarische Anthropologie und die psychologische, die pädagogische und die historische –, all diese und weitere nicht-philosophische Anthropologien sind in die geschilderte historisch-systematische Ambivalenz hinein verwickelt. Angesichts dieser Gemengelage ist es notwendig, sich zu orientieren. Bereits an dieser Stelle kommt die Kritik ins Spiel. Denn die Art und Weise, sich im Denken zu orientieren, ist von Entscheidungen abhängig, die mehr oder weniger gute Gründe für sich geltend machen können. Aus meiner Sicht ergibt es Sinn, begriffsgeschichtlich und diskursanalytisch vorzugehen, um zwischen der Anthropologie einerseits und der Frage nach dem Menschen andererseits klar unterscheiden zu können. Es liegt zwar auf der Hand, dass sich die Anthropologie mit dem Menschen beschäftigt, aber sie tut dies spezifisch anders als andere Wissensfelder, die sich ja auch auf die eine oder andere Weise, wenigstens scheint es so, mit dem Menschen befassen. Diese Unterscheidung ist insofern eine kritische, als sie den typisch anthropologischen Anspruch, den Menschen ganz direkt und ganz konkret, gewissermaßen privilegiert zu adressieren, relativiert.4 Mit ihr verbindet sich eine analytische Perspektive, sofern sie sich von dem philosophischen Selbstverständnis löst, die Frage nach dem Menschen als eine geschichtsunabhängige zu begreifen. Überhaupt werden so die Beziehungen problematisiert, die zwischen einem anthropologischen Denken und der scheinbaren Selbstevidenz seines Gegenstandes – dem Menschen – besteht. In den Blick kommen die integrativen, in der Regel auch philosophiebezüglichen Bemühungen und Ansprüche, unter anthropologischem Blickwinkel das in Einzelheiten auseinanderfallende Wissen in einer Figur des Menschen zusammenzuführen und auf 3 Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt a. M. 1984, S. 9ff. Siehe dazu Otfried Höffe (Hg.), Thomas Hobbes. Anthropologie und Staatsphilosophie, Fribourg 1981 und Dirk Jörke (Hg.), Politische Anthropologie. Eine Einführung, Wiesbaden 2015. 4 Aus meiner Sicht genügt es nicht, die Frage nach dem Wesen des Menschen aus philosophischen Gründen als eine »unwissenschaftliche« zu bezeichnen. Sie ist auch philosophisch antiquiert, nicht weil sie auf ein unwandelbares Wesen abzielen muss, sondern weil und insofern mit ihr ein Anspruch auf privilegiertes Wissen in normativen Stellungnahmen (darüber, was der Mensch aus sich machen kann und soll) erhoben wird. Vgl. dazu Herbert Schnädelbach, Zur Rehabilitierung des animal rationale, Frankfurt a. M. 1992, S. 123.
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grundsätzliche theoretische und praktische Fragen zu beziehen, die mit dem Menschen und der Menschheit verbunden werden.5 Das anthropologische Pathos in diesem Sinn ist legendär – und wird seit Rousseau von Kant bis Scheler stets erneut reproduziert.6 Die bis hierher angestellten Überlegungen lassen sich mit Blick auf Kant und die Geschichte der philosophischen Anthropologie konkretisieren (I.). Zwar bleibt sich Kant in seiner Kritik physiologischer Ansätze in der Anthropologie nicht ganz treu und entwirft eine empirische Charakteristik der menschlichen Natur. Aber erst in den nach Kant einsetzenden Bemühungen, das Konzept des Organischen naturphilosophisch auszuarbeiten, erhält die Anthropologie eine systematische philosophische Grundlage (II.). Im Laufe des 19. Jahrhunderts und der zunehmenden Bedeutung der sich ausdifferenzierenden Humanwissenschaften findet eine Übernahme der zunächst philosophisch strukturierten Wissensfelder der Anthropologie in nicht-philosophische Bereiche statt. Die auf der Grundlage einer Theorie des Lebens entwickelten naturphilosophischen Überlegungen werden im Zuge ihrer biologischen Transformationen weiterhin dazu verwendet, zwischen Körper und Seele oder auch zwischen Natur und Kultur und ihren entsprechenden Wissensproduktionen zu vermitteln (III). Ist in einem philosophie- und wissenshistorischen Kontext von ›Vitalismus‹ die Rede, so wird in der Regel auf (klassische und moderne) Denkweisen Bezug genommen, die die Prozesse des Lebens von ihrer physikalisch-chemischen Reduktion im Sinne der mechanistischen causa efficiens prinzipiell unterscheiden. Im ersten (allgemeinen) Sinne wird dabei auf eine eigentümliche Kraft (vis vitalis, nisus formativus) Bezug genommen, die für bestimmte natürliche oder biologische Entwicklungsvorgänge – Schelling und Driesch sprechen beide von einer »Autonomie des Lebens« – geltend gemacht werden kann. Im zweiten (historisch engeren, anspruchsvolleren) Sinne steht der Ausdruck ›Vitalismus‹ (gerade auch im anthropologischen Kontext) nicht nur für ein naturphilosophisch inspiriertes Biologieverständnis, sondern für eine Metaphysik des Lebens, die zwischen den methodisch getrennten Wissensfeldern (Körper und Geist, Natur und Geschichte) Ver 5 Vgl. zum philosophisch-integrativen Anspruch Hans-Georg Gadamer, Paul Vogler (Hg.), Neue Anthropologie, 7 Bde., München 1984. 6 »Die nützlichste und die am wenigsten fortgeschrittene von allen menschlichen Kenntnissen [connoissances humaines] scheint mir die [Kenntnis] des Menschen [celle de l’ homme] zu sein.« Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit [1755], zweisprachige kritische Ausgabe, hg. u. übers. v. H. Meier, Paderborn 1990, S. 43.
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bindungen generiert. Mit Foucault könnte man sagen, dass das Leben, seiner Opazität, pulsierenden Intensität und begrifflichen Unfassbarkeit zum Trotz, in ein Netz praktischer Bezugnahmen eingebunden wird. Vitalistische Konzepte lassen sich damit historisch situieren: an der Schnittstelle eines bio-politischen Arrangements von Eugenik, Rassenlehre, Degenerationstheorien und Psychopathologie, Vererbungswissenschaften, Hirnforschung, Populationsstatistik und Anthropometrie. Schließlich ist eine die engeren naturwissenschaftlichen Geltungsgrenzen der Biologie überschreitende Konzeption des Lebens epistemisch gefordert, wenn qualitative Aspekte psychologischer, kultureller oder auch völkischer Überzeugungen mit biologischen Annahmen zusammengedacht werden sollen – wie dies z. B. im Sozialdarwinismus gang und gäbe gewesen ist.
1.1 Kant und die pragmatische Anthropologie In der Logik formuliert Kant seine berühmten vier Fragen – und die letzte dieser vier, die Frage »Was ist der Mensch?«, bezeichnet er dort als »anthropologische«. Sie hat zudem einen besonderen Status, sofern »sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen«.7 »Im Grunde könnte man alles dieses«, heißt es dort weiter, nämlich Metaphysik, Moral und Religion (im Sinne der weltbürgerlichen Bedeutung der Philosophie), »zur Anthropologie rechnen«.8 Wie ist dieser Grund beschaffen? Und liegt in der Erweiterung des Begriffs nicht zugleich ein Verlust seiner spezifischen Verwendung? Eine naheliegende Möglichkeit, diese Fragen zu beantworten, besteht darin, auf den Weltbegriff der Philosophie zurückzukommen, der für die Einteilung durch die vier Fragen vorausgesetzt ist. »Denn Philosophie in der letztern Bedeutung ist ja die Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den Endzweck der menschlichen Vernunft, dem, als dem obersten, alle andern Zwecke subordinirt sind und sich in ihm zur Einheit vereinigen müssen.«9 Endzweck kann nur der Mensch als moralisches Wesen sein, oder anders ausgedrückt: seine Bestimmung frei zu sein.
7 Vgl. Immanuel Kant, Logik, Akademie-Ausgabe Bd. 9, S. 25. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 24.
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Die Anthropologie als Wissenschaft der Beziehung der Vernunft auf ihren Endzweck ist offenbar eine praktische Philosophie, die sich nicht als eine separate Disziplin begreifen lässt. Eine mögliche separate Disziplin wäre die Anthropologie, die in der Metaphysik der Sitten der Moral an die Seite gestellt wird.10 Bei ihr scheint es unklar zu sein, inwiefern sie aufgrund ihres empirischen Bezugs ein Teilgebiet der praktischen Philosophie sein könnte. Außer den genannten Anthropologiebegriffen hat Kant eine Anthropologie als Vorlesung konzipiert, die er in kontinuierlicher Lehrtätigkeit seit dem Wintersemester 1772–73 vorgetragen und weiterentwickelt hat. Sie behandelt in erster Linie Themen der empirischen Psychologie im praktischen Interesse – und aus ihrer regelmäßigen Ausarbeitung ging die 1798 publizierte Anthropologie in pragmatischer Hinsicht hervor. Diese Vorlesung war weniger akademisch als andere – und, nach allem, was man hört, bei den Studenten beliebt. Wie Manfred Kühn in seiner Kant-Biografie schreibt: »Die Vorlesungen waren ›populär‹ sowohl in dem Sinne, daß er seinen Stoff ›populär‹ behandelte, als auch in dem Sinne, daß sie gut besucht waren.«11 Unter ›populär‹ versteht Kant zudem: nach der Schule – und das bedeutet, dass die pragmatische Anthropologie als populäre Disziplin die Schulphilosophie voraussetzt. Sie steht damit außerhalb der systematischen Philosophie – und hat mit der Frage nach dem Wesen oder der Bestimmung des Menschen nicht direkt zu tun. Dieser Befund erhält Relevanz, weil er den Blick auf eine Geschichte des anthropologischen Diskurses ermöglicht, die sich nicht mit der Frage nach dem Wesen des Menschen im Sinne der praktischen Philosophie (von Moral und Recht, Religion und Geschichte) auseinandersetzt. Man könnte sogar sagen, dass die Bestimmungsfrage des Menschen eben gerade keine anthropologische Frage ist.12 Tatsächlich hat Kant nur eine Anthropologie ausgeführt oder verfasst, eben die pragmatische – und mit ihr beginnt ein philoso 10 »Das Gegenstück einer Metaphysik der Sitten, als das andere Glied der Einteilung der praktischen Philosophie überhaupt, würde die moralische Anthropologie sein, welche aber nur die subjektiven, hindernden sowohl als begünstigenden Bedingungen der Ausführung der Gesetze der ersteren in der menschlichen Natur, die Erzeugung, Ausbreitung und Stärkung moralischer Grundsätze (in der Erziehung, der Schul- und Volksbelehrung) und dergleichen andere sich auf die Erfahrung gründende Lehren und Vorschriften enthalten würde, und die nicht entbehrt werden kann, aber durchaus nicht vor jener vorausgeschickt oder mit ihr vermischt werden muß.« Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe Bd. 6, S. 217. 11 Manfred Kühn, Kant. Eine Biografie, München 2004, S. 241. 12 Vgl. Reinhard Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007.
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phischer Diskurs der Anthropologie in einem Bereich, der thematisch – aber nicht methodisch – der älteren empirischen Psychologie zugerechnet werden kann. Odo Marquard, der einschlägige Begriffshistoriker der Anthropologie im deutschsprachigen Raum, bezeichnete in diesem Zusammenhang die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht passend als eine »Lebensweltphilosophie«.13 Zwar unterhält sie einen immanenten Bezug auf die Transzendentalphilosophie –, aber zugleich widersetzt sie sich sowohl der älteren Metaphysik als auch den Naturwissenschaften. Das ist auch der Grund, weshalb der begriffsgeschichtliche Befund aussagekräftig ist. Mit Kant beginnt nicht nur ein anthropologischer Vortrag in der Philosophie, sondern es entwickelt sich im ständigen Rekurs auf ihn ein ganzer Diskurs, der sich in einigen der von Kant geebneten Bahnen abspielt. Mit Marquard, aber auch mit Foucault könnte von einem spezifisch modernen Diskurs der philosophischen Anthropologie gesprochen werden, der die ›kritische Wende‹ bzw. eine Umwälzung epistemischer Strukturen voraussetzt. In der Philosophie fällt die Frage »Was ist der Mensch?« daher nicht mit der Anthropologie zusammen. Und zwar deshalb nicht, weil sich die Anthropologie als Text und Institution im Kern mit dieser Frage tatsächlich und ausdrücklich nicht befasst. Aber bedeutet das, dass die Wesensfrage obsolet ist? Und womit beschäftigt sich die philosophische Anthropologie, wenn sie sich nicht mit der Beantwortung dieser Frage beschäftigt? Im Rekurs auf Marquard wurde betont, dass die pragmatische Anthropologie Kants weder metaphysisch noch naturwissenschaftlich angelegt ist. In ihrem Weltbezug liegt ihre besondere Modernität und diskurskonstitutive Bedeutung. Mit anderen Worten: Kant grenzt seine pragmatische Anthropologie von der älteren medizinischen und physiologischen ab, die zu seiner Zeit dahin tendiert, ganzheitliche Ansprüche auf eine Kenntnis des Menschen als eines nicht nur physischen, sondern auch psychischen Wesens zu erheben. 1772 erschien in Leipzig die Anthropologie des ebenda lehrenden Medizinprofessors Ernst Platner, die einiges Aufsehen erregte und nicht zu Unrecht für die sogenannte literarische Anthropologie einen wichtigen ersten Referenztext darstellt.14 Mit der Konzeption seiner Anthropolo 13 Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 122f. 14 Vgl. Ernst Platner, Anthropologie für Ärzte und Weltweise, Erster Teil [1772], Hildesheim 2000 und Alexander Kosenina, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie: der ›philosophische Arzt‹ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul, Würzburg 1989.
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gievorlesung reagiert Kant darauf. Aus seiner Sicht ist es völlig umsonst, aus physiologischen Erkenntnissen Aussagen über den ›ganzen Menschen‹, wie es Platner im Sinn hat, abzuleiten. An diesem Punkt verknoten sich gleich mehrere Diskurslinien: ein gutes Indiz für die epistemische Konsequenz des Kantischen Theorieansatzes. Erstens und ganz wesentlich: seit den 1770er Jahren entwickelt Kant seinen ontologiekritischen Erfahrungsbegriff – mit anthropologierelevanten Auswirkungen, sofern die cartesianisch geprägte res-composita-Lehre des Menschen, die für die ältere medizinische Anthropologie und noch für Platner maßgeblich war, aufgegeben werden musste. Sämtliche Überlegungen, wie es möglich sein könnte, zwischen dem Körper und der Seele (als substanziellen Einheiten) zu vermitteln, verfallen der Kritik. Mit der Entwicklung eines transzendentalphilosophischen Erfahrungsbegriffs verbindet sich zweitens eine metaphysikkritische Position, die den Schulbegriff der Psychologie (als empirische und als rationale Disziplin) transformiert. Der philosophische Diskurs der Anthropologie resultiert aus der Transformation der empirischen Psychologie. Sie ist gewissermaßen nur pragmatisch, nicht aber physiologisch möglich – eine Option, deren theoretische Voraussetzungen in dem nach Kant sich bildenden Anthropologiediskurs der Philosophie immer präsent sind. Das hat grundsätzlich und drittens damit zu tun, dass die empirischen Zeit-Verhältnisse der Seele instabil sind und keine objektive Quantifizierung erlauben. Die Psychologie lässt sich als empirische Disziplin nicht wissenschaftlich konsolidieren, wie Kant in Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) explizit macht.15 Festzuhalten ist, dass die Anthropologie als ein genuin philosophischer Diskurs mit Kant als eine spezifische Variation der empirischen Psychologie beginnt, die auf den praktischen und gesellschaftlichen Weltzusammenhang menschlicher Seelenvermögen reflektiert – und dies in Abhängigkeit von einer systematischen, transzendentalphilosophischen Erläuterung der reinen Fähigkeiten des Erkennens, Fühlens und Wollens. In diesem Sinne ist sie von Beginn an kritisch angelegt, weil sie einen extern definierten Geltungsrahmen übernimmt, der eine Inanspruchnahme empirischer Erkenntnisse auf transzendentaler Ebene untersagt. Mit den Worten Foucaults: »In dem Moment, in dem man glaubt, das kritische Denken auf der Ebene einer positiven Erkenntnis zur Geltung bringen zu können, vergißt man in der Tat das, was in der von Kant erteilten Lektion das Wesentliche war. […] Sie besagt 15 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Akademie-Ausgabe Bd. 4, S. 471.
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auf jeden Fall, daß die Empirizität der Anthropologie sich nicht auf diese selbst gründen kann; daß sie nur möglich ist, insofern sie die Kritik wiederholt […].«16 Ich denke, man könnte sagen, dass aus dieser kritischen Positionierung heraus verständlich wird, weshalb die Anthropologie in ihrer pragmatischen Veranlagung bei Kant nicht schulbildend werden konnte. Mit ihr beginnt zwar ein anthropologischer Diskurs in der Philosophie – aber dieser konsolidiert sich auf drei Theorieachsen, die grundlegende Einteilungen der Kantischen Philosophie verschieben. Diese drei Richtungen des philosophisch-anthropologischen Denkens können als positivistisch, romantisch und dialektisch bezeichnet werden. Ihre ersten Protagonisten sind Fries, Schelling und Hegel. Zwischen ihnen und ihren vielfältigen Auswirkungen bildet sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein breiter und institutionell gefestigter anthropologischer Diskurs heraus. Seine Konsolidierung erfolgt auf postkantischem Niveau auf der Grundlage einer rehabilitierten Naturphilosophie und im Aufgreifen der von Kant bereits aufgefächerten anthropologischen Themenfelder. Im Anschluss an die Unterscheidung zwischen Didaktik und Charakteristik kann man sagen, dass Kant im ersten Teil der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht auf die in der menschlichen Natur liegenden Defizite zu sprechen kommt, die für die Passivität und vernunftwidrige Ausübung der Vermögen verantwortlich sind.17 Ihre rationalitätskonforme Ausbildung und Disziplinierung ist ebenso Programm wie die Erläuterung der Pathologien des Seelenlebens. Wenn es darum geht, die Vermögen in der Welt in Aktion zu sehen, so ist es für Kant mehr als naheliegend, ihre reale Ausübung mit den endlichen Gebrechen des Menschen – und d. h. mit einer (quasi vitalen) Natur, die nicht von vornherein einer vernünftigen Regelung unterworfen ist – in einen Zusammenhang zu stellen. Anders gesagt: das große Thema der anthropologischen Didaktik sind die Gemütskrankheiten. Neben der Didaktik steht die Charakteristik. In diesem zweiten Teil seiner Anthropologie behandelt Kant verschiedene Möglichkeiten, vom Charakter des Menschen im Plural bzw. von anthropologischen Differenzen zu sprechen.18 Der Charakter im Singular ist dagegen stets der reine moralische Charakter der Menschheit in Person oder Gattung – und muss in der Anthropologie vorausgesetzt werden. Anders formuliert: das ›Wesen des Men 16 Michel Foucault, Einführung in Kants Anthropologie [1961, 2008], übers. v. U. Frietzsch, Frankfurt a. M. 2010, S. 111. 17 Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a. a. O., S. 125ff. 18 Vgl. ebd., S. 283ff.
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schen‹ spiegelt sich in der implizit normativen Darstellung des anthropologischen Wissens. Es sind fünf Kapitel oder Bereiche der Charakteristik, die den allgemeinen Menschen nach den Besonderheiten von »Person«, »Geschlecht«, »Rasse«, »Volk« und »Gattung« sortieren.19 Wie schon im Feld der Didaktik werden auch hier natürliche Bestimmungen für die Diversität verantwortlich gemacht. Es sind natürliche Anlagen, die den individuellen Charakter des Menschen – seine Sinnesart, sein Naturell oder Temperament – bestimmen können; und dies in einem Ausmaß, dass nicht der Mensch als freihandelndes Wesen etwas aus sich selbst macht, sondern eher die Natur etwas aus ihm macht. Die Vielfalt der Charaktere steht immer auch für die Abweichung von einer singulären anthropologischen Norm. Nicht der Mann, sondern die Frau; nicht der Gesunde, sondern der Kranke; nicht der ›weiße‹ Europäer, sondern andere ›Rassen‹; nicht die Bürger eines Staates, sondern der Pöbel; nicht der Erwachsene, sondern das Kind oder der Alte. Stets bringt sich eine menschliche Natur zur Geltung, die empirisch gegeben ist und die Entwicklungsdefizite erklärlich macht, die aus dem von Rechts wegen universal gefassten Begriff des Menschen (Charakter im Singular) nicht abzuleiten sind. Mit diesen wenigen Bemerkungen ist bereits angedeutet, wie der mit und nach Kant entstehende Diskurs der philosophischen Anthropologie aussieht – und warum seine Kritik aktuell ist. In die Charakterlehre sind die naturgeschichtlich abgestützte Physiognomie, die Rassenlehre und Themen der Vererbung und Degeneration eingebunden – und dies in einer Weise, die sowohl die »technischen« wie auch die »pragmatischen Anlagen« berücksichtigt.20 Mit diesen Ausdrücken bezeichnet Kant die physiologische Organisation und die mit ihr in einem Resonanzverhältnis stehende Befähigung zu Kultur. In geschichtsphilosophischer Perspektive entstehen an dieser Stelle anthropologische Auffassungen von ›Rassen‹ und Völkern, die von Volksgeist und Rassecharakter bis zu späteren Diskursen der Völkerpsychologie und Rassenhygiene reichen. Und sie bedienen sich der Schädelsammlungen und kraniometrischen Untersuchungen genauso wie kulturhistorischer Stereotypen, kolonialer Denkmuster und Naturzustandsphantasien.
19 Ebd. 20 Vgl. ebd., S. 323.
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1.2 Anthropologie und Naturphilosophie Die philosophische Disziplinierung der Anthropologie vollzieht sich im Durchgang durch das Kantische Denken und ganz entscheidend durch die Übernahme des in der dritten Kritik entwickelten Begriffs des Organismus als Naturzweck der reflektierenden Urteilskraft.21 Durch diese Übernahme wird die populäre Stellung der Anthropologie außerhalb des Schulwissens mitsamt der ihr gegenüber gehegten kritischen Distanz aufgegeben. Die Ausarbeitung einer auf den teleologischen Gedanken der Zweckmäßigkeit gegründeten Philosophie der Natur verbindet sich mit einer philosophisch inspirierten Rehabilitierung der physischen oder physiologischen Anthropologie. Damit rücken nicht nur die bereits von Kant mit den Gemütskrankheiten und den empirischen Charakterunterschieden anvisierten Themen (einer Verschränkung von Natur und Geist, Körper und Seele) in den Mittelpunkt des Interesses. Zudem wird die Anthropologie als philosophische Disziplin etabliert, indem sie den Menschen oder das menschliche Erkennen in einer Natur verankert, die einen konstitutiven und nicht länger nur regulativen Status für sich beansprucht. Schelling bereitet der romantischen Anthropologie mit seinen Überlegungen zur spekulativen Identität der natürlichen Organisation eine Grundlage. Eine solche liefert den vor allem mit empirischen Methoden arbeitenden Wissenschaften vom Menschen auch Fries mit seiner Erläuterung der anthropologischen Bedingungen der Erkenntnis in seiner neuen oder anthropologischen Kritik der Vernunft.22 Die Anthropologie wird zur philosophischen Disziplin, wenn sie sich gemäß der Trennung der sogenannten zwei kantischen Schulen (im Sinne einer mehr skeptischen oder mehr fundamentalphilosophischen Ausdeutung der kritischen Methode z. B. bei Gottlob Ernst Schulze bzw. Carl Leonhard Reinhold) auf verschiedenen Wegen naturphilosophisch bestimmt, indem sie aus dem Organismus nach dem Modell der teleologischen Urteilskraft
21 Die naturphilosophische Transformation des Naturzwecks nach Kant findet sich vor allem in Friedrich W.J. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur [1797], in: ders., Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 5, Stuttgart 1994, S. 59ff. Seine an die Ideen anschließenden Forschungen zur Weltseele etc. arbeiten die Konzeption des Lebens weiter aus. Die Zusammenhänge sind ausführlich dargestellt in Marc Rölli, Kritik der anthropologischen Vernunft, Berlin 2011, S. 108–156. 22 Vgl. Jakob F. Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft [1807], Heidelberg 1828.
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Kants eine Wissenschaft vom Leben macht.23 Mit der am Horizont sich abzeichnenden Biologie verändert sich die erkenntniskritische Reflexion. Physik und Chemie werden als mechanistisch und verstandeslogisch verfasst einem erweiterten Naturbegriff subsumiert, der das Leben, das sich von toten mechanischen Prozessen unterscheidet, in sich aufgenommen hat. Die zunächst von Schelling seit Mitte der 1790er Jahre aufgebrachte Naturphilosophie kreist um diesen Begriff des Lebens – und sie schwankt zwischen streng wissenschaftstheoretischer Aspiration und einer mehr spekulativ-idealistischen Ausrichtung. Hatte bereits Kant den Gedanken vorbereitet, dass der Organismus nicht vor dem Hintergrund mechanischer Kausalität (und damit der bestimmenden Urteilskraft) verständlich sei, so entzieht sich auch bei den ihm nachfolgenden Philosophen der Natur das Leben dem endlichen Verstand. In ihm liegt eine eigentümliche Opazität, die als Unbewusstes problematisiert, mit Vernunft durchleuchtet oder in natürlichen Prozessen erfahren werden kann.24 Auf diese Weise, in unterschiedlichen Ausprägungen, etabliert sich das anthropologische Denken auf der Basis einer Konzeption des Lebens als ein philosophischer Diskurs. Um ein Beispiel zu nennen, das einen exemplarischen Wert besitzt: im Anschluss an Kants Überlegungen aus der Kritik der Urteilskraft skizzierte der Zoologe und Botaniker Karl Friedrich Kielmeyer in seiner berühmten Stuttgarter Rede (1793) eine Entwicklungsreihe der Organisationen, die sich aus einer inneren Logik im Verhältnis der Lebensprinzipien zueinander ergibt.25 Schelling interpretierte diese Lebensverhältnisse dialektisch, und zwar so, dass sich in der bestimmenden Funktion der Sensibilität (und der angemessenen Zuordnung der Irritabilität und der Reproduktionskräfte) die Entwicklungspotenziale des Lebens optimal entfalten.26 Dieser Gedanke ist 23 Vgl. zu den zwei Schulen Kants in Jena: Kuno Fischer, Akademische Reden, Stuttgart 1862 und zur Kritik der fundamentalphilosophischen Richtung etwa Jakob F. Fries, Reinhold, Fichte und Schelling, Leipzig 1803. 24 Dies gilt für Fries, Schelling und Hegel, wenngleich sie sich darin unterscheiden, wie der Begriff der Vernunft genauer (im Verhältnis zum Leben) gefasst wird. Vgl. zu dieser These unisono Odo Marquard, Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987 und Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 367ff. 25 Vgl. Karl Friedrich Kielmeyer, Ueber die Verhältniße der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, Stuttgart 1793. Über Kielmeyers Text lässt sich auch der Herderbezug der romantisch-idealistischen Naturphilosophie nachvollziehen. 26 Vgl. Friedrich W.J. Schelling, Von der Weltseele – eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus [1798], in: ders., Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 6, Stuttgart 2000, S. 64–271, hier S. 250ff.
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insofern anthropologietypisch, als er die menschliche Natur aus einer allgemeinen Entwicklung heraus begreift, die über Pflanzen und Tiere verläuft. Die menschliche Natur wird dabei als höchste Form und Bestimmung angesehen, die sich in der Ausbildung des Nervensystems – und in erster Linie des Gehirns – manifestiert. Die vitalistische Entwicklungslogik folgt dabei Fortschrittskriterien, die sich mit den naturphilosophischen Erkenntnissen in anthropologischer Hinsicht, d. h. bezogen auf eine Selbsterkenntnis des ganzen Menschen, verbinden lassen. Die Ausbildung der Sensibilität steht für die Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten, die im Grunde dahin tendieren, die Natur zu idealisieren, also eine Idee der Natur zu entwickeln. In ihrer spekulativen Identität fallen die zwei Seiten körperlicher und geistiger ebenso wie natürlicher und kultureller Verhältnisse zusammen. Das bedeutet in der Pathologie wie in der Charakterlehre, also in den zwei Feldern, die nach Kant den anthropologischen Diskurs immer mitstrukturieren, dass die körperlichen Aspekte der Vermessung von Schädel und Hirn mit den seelischen, geistigen oder kulturellen Verhältnissen eines sei es degenerierten oder charakterspezifisch minderwertigen Lebens korrespondieren. An dieser Stelle schließen sich die Themen der Vererbung und der Perversion an, wie sie Foucault im Rahmen des von ihm so genannten Sexualitätsdispositivs analysiert hat.27 Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Geschichte der philosophischen Anthropologie, so wird sichtbar, wie auf das Leben des individuellen und des allgemeinen Menschen, auf die Charakteristik der Person, ihre leiblich-seelische Disposition und auf die Besonderheiten eines fragmentierten Lebens der Gattung (nach Alter, Krankheit, Geschlecht und Rasse) Bezug genommen wird. Von Fries bis Schleiden wird die Empirie der sich ausdifferenzierenden Humanwissenschaften auf der Grundlage einer anthropologischen Erkenntnistheorie geordnet.28 Im Rahmen der romantischen Anthropologie wird im Anschluss an Schelling physiologisches und medizinisches Wissen in eine im Leben begründete Relation mit psychologischen, kulturhistorischen, auf die Entwicklung des Menschen bezogenen Erkenntnissen gebracht. Und selbst wenn sich Hegel zunächst romantikkritisch äußert – und in der Phänomenologie des Geistes (1807) die physiologischen Ansätze 27 Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen [1976], übers. v. U. Raulff u. W. Seitter, Frankfurt a. M. 1992, S. 125ff. 28 Vgl. Matthias J. Schleiden, »Ueber die Anthropologie als Grundlage für alle übrigen Wissenschaften, wie überhaupt für alle Menschenbildung«, in: Westermann’s Jahrbuch der illustrierten Deutschen Monatshefte, Bd. 2. Braunschweig 1862, S. 49–58.
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von Physiognomie und Phrenologie verspottet – spätestens in der Heidelberger Enzyklopädie (1817) entwirft er eine Anthropologie als Teilgebiet der Philosophie des Geistes – und er tut dies ganz dezidiert auf naturphilosophischen Grundlagen, indem er den Geist als eine von Natur durchdrungene und bestimmte Entität begreift: als Seele.29 Wie bereits vor ihm bei Kant, Fries und in der romantischen Anthropologie exemplarisch bei Heinrich Steffens, kommt Hegel im Laufe der 1820er Jahre zunehmend ausführlich auf den anthropologischen Menschen, d. h. auf seinen natürlich bestimmten Geist, auf seine pathologischen Erscheinungen (in seiner physio-psychischen Anlage) und auf seine empirischen Charaktere, in aller Ausführlichkeit damit auch auf die Rassenunterschiede, ihre Entwicklungsgrade und ihre geografisch-historische Lokalisierung zu sprechen.30 Und auch im Hegelianismus ist dies kein Einzelfall, sondern setzt sich im kompletten Spektrum seiner links wie rechts orientierten Schule fort.31 Mit Blick auf Kant wurde hervorgehoben, dass der anthropologische Gedankengang von einem anthropologiekritischen begleitet wird, der sich durch die Weigerung auszeichnet, dem empirischen anthropologischen Wissen transzendentale Gültigkeit zu verleihen. In veränderter Form findet sich dieser kritische Ansatz auch bei Hegel, wenn er mit der Idee einer Vermittlung abstraktes Wissen einem Verfahren dialektischer Konkretisierung unterzieht. Die natürlichen Bestimmungen der Menschenseele sind damit stets insofern ambivalent, als sie einerseits mehr oder weniger feststehen und als Grundlagen gelten, und zugleich andererseits in den Regionen des objektiven Geistes weiterbestimmt werden können, d. h. in konkreteren substanziellen Fassungen aufgehoben werden. Etwas plakativ könnte man sagen, dass bei beiden, bei Kant und bei Hegel, Anthropologie und Anthropologiekritik parallel zueinanderstehen und sich gegenseitig bedingen. Zugleich erweist 29 Vgl. Georg W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Frankfurt a. M. 1991, S. 236–258 und Georg W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1817], in: Sämtliche Werke Bd. 6, hg. v. Hermann Glockner, Stuttgart 1956, S. 1–310, hier S. 231f. 30 Vgl. Georg W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830], Bd. 3, Werke Bd. 10, Frankfurt a. M. 1999, S. 57ff. 31 Vgl. Ludwig Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft [1843], in: ders., Werke in sechs Bänden, Bd. 3, Kritiken und Abhandlungen II (1839–1843), hg. v. E. Thies. Frankfurt a. M. 1975, S. 247–322 und Carl Ludwig Michelet, Anthropologie und Psychologie oder die Philosophie des subjectiven Geistes. Berlin 1840. Karl Rosenkranz und Johann Eduard Erdmann schreiben ebenfalls ausführlich über Anthropologie – und diese Traditionslinie lässt sich bis zu den spätidealistischen Arbeiten von Rudolf H. Lotze und Immanuel H. Fichte weiterführen.
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sich aus meiner Sicht ihr kritischer Ansatz als zu eng, selbst wenn er in konsequenter Auslegung durchaus einige Wirksamkeit besitzt. Problematisch ist der Gegensatz, der zwischen dem reinen und dem empirischen Charakter konstruiert wird. Während Kant den reinen Charakter (als Moralität und als geschichtliches telos) aus einer empirisch angelegten Anthropologie heraushebt, wird er bei Hegel in den Prozess einer Konkretisierung des Geistes integriert. Trotz dieses Unterschieds zeigt sich in beiden Fällen, dass das Ideal des Charakters die historische Entwicklungslinie dominiert, d. h. in den Bestimmungen des empirischen Charakters, seiner körperlichen und seelischen Disposition oder auch in der Stufenfolge der Organisationen wiederkehrt. Der ideale Mensch schlechthin wird empirisch durch eine besondere ›Rasse‹, ein besonderes Geschlecht, eine besondere Veranlagung, besondere politische und kulturelle Verhältnisse usw. repräsentiert. Entwicklungsdefizite empirischer Charaktere hingegen, die nicht an die normative Ordnung der praktischen Vernunft gebunden werden, ergeben sich aus ihrer dogmatisch fixierten Natur. Überhaupt erklärt sich die anthropologische Emphase der Lebensverhältnisse aus der asymmetrischen Privilegierung des Geistes, sofern die Vielfalt der menschlichen Besonderheiten nur dort (quasi defizitär und pathologisch) in den Blick rückt, wo der allgemeine Mensch selbst nicht Thema ist. Im Abschnitt über das Geschlecht des Menschen ist eben grundsätzlich nicht vom Mann die Rede. Die Kritik muss daher radikaler ansetzen – und den Gegensatz und seine asymmetrischen Verhältnisse selbst in Frage stellen. In der nötigen Schärfe wird diese Kritik spätestens bei Nietzsche und Peirce (und den Anfängen des amerikanischen Pragmatismus) formuliert. Aus meiner Sicht bezieht sie sich dann auch auf die Grundlagen des anthropologischen Diskurses in der Philosophie, weil sie das Ideal des ganzen Menschen oder sein Wesen problematisiert: nicht nur die Konstruktion des reinen Menschen, sondern auch die Korrespondenzregeln zwischen Körper und Geist, Natur und Kultur. Anders gesagt, gewinnt die philosophische Anthropologiekritik erst an diesem Punkt eine postkoloniale Qualität.
1.3 Anthropologie als biologische Weltanschauung Wie es Aimé Césaire in seiner Rede Über den Kolonialismus gesagt hat: der Kolonialismus gehört zur europäischen ›Zivilisation‹, ihr Humanismus oder
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»Pseudohumanismus« ist »letzten Endes übel rassistisch«.32 Und man könnte vielleicht mit ihm noch hinzufügen, dass der »Nazismus […] die Anwendung kolonialistischer Praktiken auf Europa« ist.33 Nun scheint zwischen derartigen Praktiken und einem philosophischen Diskurs ein großer Abstand zu liegen. Dieser Abstand aber verringert sich deutlich, wenn herausgestellt wird und werden kann, dass die disziplinäre fachphilosophische Verortung der Anthropologie auf eine markante Weise instabil ist. Dies ist mit Händen zu greifen, wenn der Aufstieg der anthropologischen Disziplin zur Denkungsart einer prima philosophia nachvollzogen wird. Dies ist bei Fries von Beginn an der Fall, wenn er in seiner Neuen Kritik von 1807 die Vernunftkritik selbst als anthropologische deklariert. In der romantischen Anthropologie wird derselbe Anspruch auf breiter Front spätestens seit den 1820er Jahren erhoben. Und selbst im Hegelianismus, etwa bei Feuerbach in den 1840er Jahren, werden die anthropologischen Grundsätze einer Philosophie der Zukunft formuliert.34 Mit dieser Entgrenzung der Anthropologie verbindet sich ein fundamentalphilosophisches Anliegen. Und mit ihr verbindet sich darüber hinaus eine Orchestrierung des anthropologischen Wissens der nicht-philosophischen Humanwissenschaften, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in allen möglichen und unmöglichen Bereichen bemerkbar macht. Die These vom Bedeutungszuwachs des anthropologischen Denkens kann zuletzt an einem wichtigen Befund festgemacht werden. Mit der Bildung der wissenschaftlichen anthropologischen Gesellschaften in Europa seit den frühen 1860er Jahren verschiebt sich das Monopol auf die Produktion menschenbildrelevanter Erkenntnisse von der Philosophie auf die Naturwissenschaften.35 Diese Verschiebung erfolgt nicht nur im Zeichen der Anthropologie. Vielmehr beruht sie auf einer überraschenden Kontinuität 32 Vgl. Aimé Césaire, Über den Kolonialismus [1955], übers. v. M. Kind, Berlin 1968, S. 12. 33 Vgl. ebd. Mit dieser durchaus strittigen These sind letztlich auch weiterhin offene Fragen verbunden: Inwiefern lässt sich die Antisemitismuskritik innerhalb der postkolonialen Kritik situieren – und welche Unterschiede zwischen Rassismus und Antisemitismus sind irreduzibel? Ist eine Theoriebildung überhaupt möglich, die diese komplexen Verhältnisse adäquat thematisieren kann? 34 Vgl. Rölli, Kritik der anthropologischen Vernunft, a. a. O., S. 219–234, 344–365. 35 Zur diesbezüglichen Bedeutung des sog. Materialismus-Streits vgl. Andreas Arndt, Walter Jaeschke, Materialismus und Spiritualismus: Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000; und zur anthropologischen Relevanz des Darwinismus Eve-Marie Engels (Hg.), Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995 und Achim Barsch, Peter Hejl (Hg.), Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850–1914), Frankfurt a. M. 2000.
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der anthropologischen Wissensordnung. Der fundamentalphilosophische Anspruch verwandelt sich in eine naturalistische Deutungshoheit, die nicht wissenschaftsspezifisch determiniert und methodisch eingegrenzt ist.36 Spätestens hier manifestieren sich die internen Bezüge der naturphilosophischen Lebenslehre zu einer Anthropologie des Rassecharakters, die zwischen den beiden Achsen einer physischen oder biologischen und einer kulturell-ethnologischen Anthropologie operiert, in zunehmend differenzierten Verhältnissen einer Biomacht. Populärmaterialisten wie Ludwig Büchner begreifen ihre natürliche ›natürliche Philosophie‹ (hier: im Anschluss an Feuerbach) als anthropologische. Populärdarwinisten wie Ernst Haeckel machen aus der Anthropologie eine umfassende Lebens-Wissenschaft, die dazu berufen ist, alle Welträtsel zu lösen. Die anthropometrischen Verfahren Adolphe Quetelets, die degenerationstheoretische Perspektive Bénédict Morels, Rassenlehren aller Art oder auch die demographischen Überlegungen von Thomas Robert Malthus werden in einen teilweise von Darwin inspirierten anthro pologischen Diskurs integriert, der sich in der Eugenik Francis Galtons, in den sich bildenden Sozialanthropologien und in der Rassenhygiene der ersten Generation wiederfindet.37 Von hier aus gesehen ist es dann nur noch ein kleiner Schritt von der Theorie zu einer Praxis, die über wissenschaftliche Messungen, Zählungen, Experimente bis zur Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im NS reicht. Den Einteilungen der nach wissenschaftlichen Maßstäben der damaligen Zeit durchaus als solide geltenden Arbeit von Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz, die den deutschsprachigen Rassediskurs seit den 1920er Jahren dominierte38, entspricht die Struktur des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, in dessen Auftrag beispielsweise Josef Mengele tätig war. Eugen Fischer, der die wahrscheinlich 36 Zu einer erkenntnistheoretisch motivierten Kritik der illegitimen Überschreitung von Disziplinengrenzen vgl. Oscar Hertwig, Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus, Jena 1918. 37 Vgl. Marc Rölli, »Biopolitik-Analyse. Entwurf einer Forschungsperspektive«, in: Stephan Schaede, Reiner Anselm, Kristian Köchy (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 3, Tübingen 2016, S. 37–70. Vgl. auch die umfassende Anthologie von Nicolas Pethes, Birgit Griesecke, Marcus Krause, Katja Sabisch (Hg.), Menschenversuche, Frankfurt a. M. 2008. 38 Vgl. Erwin Baur, Eugen Fischer, Fritz Lenz, Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, München 1921. Zur Bedeutung des »Baur-Fischer-Lenz« vgl. Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988.
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›glänzendste‹ Karriere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Anthropologe im deutschsprachigen Raum hingelegt hatte – sein Ruhm gründete auf einer Studie in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika über europäisch-afrikanische ›Mischlinge‹, die Aufschluss geben sollte über die Geltung der Mendelschen Gesetze bei der Vererbung sogenannter Rassenmerkmale – war in eine ganze Reihe biopolitischer Aktivitäten der Nationalsozialisten verstrickt und wurde 1952 schließlich zum Ehrenmitglied der wieder neu gegründeten Deutschen Gesellschaft für Anthropologie ernannt.39 Das liegt alles lange zurück – und es ist zunächst einmal nicht einsichtig, inwiefern dieses anthropologische Erbe aktuelle Fragen aufwirft. Hat sich nicht im 20. Jahrhundert eine philosophische Anthropologie konstituiert, die die kolonialen Denkweisen aus dem 19. Jahrhundert (ganz abgesehen von den Verbrechen der NS-Zeit) längst hinter sich gelassen hat? Aber so einfach ist es nicht. Tatsächlich kämpft die Philosophie auch gegenwärtig um ihre Anschlussfähigkeit an den postkolonialen Diskurs – und sie tut dies in Bereichen, die nicht gerade als konservativ gelten: in der Kritischen Theorie und im Poststrukturalismus. Und nur dort, ließe sich ergänzen. Eine enge Verbindung zu den kritischen ethnologischen Ansätzen ist sie nur in den USA nach 1900 und in Frankreich v. a. nach dem 2. Weltkrieg eingegangen. Hier wäre an John Dewey zu denken, der die ethnologischen Überlegungen von Franz Boas und Bronislaw Malinowski methodisch aufgreift – und an die Bedeutung von Marcel Mauss und Claude Lévi-Strauss für den philosophischen Strukturalismus.40 Die in den 1920er Jahren (und später) publizierten Arbeiten einer neuen philosophischen Anthropologie im deutschsprachigen Raum bewegen sich relativ ungebrochen in einem von älteren Sichtweisen durchsetzten Diskursmilieu.41 Ihr kritisches Potenzial ist zumeist auf Kanti 39 Vgl. Eugen Fischer, Die Rehobother Bastards und das Bastardisierungsproblem beim Menschen. Anthropologische und ethnologische Studien am Rehobother Bastardvolk in Deutsch-Südwestafrika, Jena 1913. Einen Namen gemacht hat sich Fischer zudem als Gründungsdirektor des genannten Kaiser-Wilhelm-Instituts in Berlin (von 1927–1942), als Befürworter der »Rassegesetze« (gemeint sind die 1935 verabschiedeten Gesetze zu Blutschutz und Reichsbürgern), als Rektor der Berliner Universität in den Jahren 1933– 34 (der zahlreichen jüdischen Kollegen kündigte) oder auch als Kommissionsleiter der Zwangssterilisierung sog. Rheinlandbastarde im Jahre 1937. 40 Vgl. François Dosse, Geschichte des Strukturalismus, Bd. 1, Das Feld des Zeichens, 1945–1966 [1991], übers. v. Stefan Barmann, Hamburg 1996, S. 32ff. und die Beiträge in Marc Rölli (Hg.), Fines Hominis? Zur Geschichte der philosophischen Anthropologiekritik, Bielefeld 2016. 41 Plessners explizite Kritik der politischen Anthropologie Ludwig Woltmanns (als Repräsentantin einer sozialdarwinistischen Spielart) markiert eine Ausnahme, die sich von
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sche oder Hegelsche Denkfiguren beschränkt – und zielt eben gerade nicht auf den anthropologischen Menschen selbst. Ihr teils neuartiger Ansatz leitet sich von hermeneutischen, phänomenologischen oder ›lebensphilosophischen‹ Überlegungen ab – aber die aus ihnen resultierende Vernunft bleibt doch eine, die sich in allgemeinen Lebens-Strukturen wiederfindet.42 Eine überzeugende Kritik der Anthropologie des 19. Jahrhunderts findet nicht statt; ja selbst eine Auseinandersetzung mit ihr kommt – von vereinzelten Ausnahmen abgesehen – nicht zustande. Stattdessen werden Geschichtsmythen konstruiert – wie die Erzählung von einem Wandel der Paradigmen: von der (idealistischen) Vernunft über die (darwinistische) Entwicklung zum (lebensphilosophischen) Leben – die die kontinuierliche Relevanz der, wie ich sagen würde: ›anthropologischen Vernunft‹ unsichtbar machen.43 Um es vielleicht etwas stark zu pointieren: mit der Kontinuität anthropologischer Denkmuster und vitalistischer Kategorien verbindet sich ein impliziter Rassismus – und erst mit einer Kritik, die sie (und ihn) in den Blick nimmt, wird der fällige Anschluss an das dekolonisierende Denken möglich.
den sonst vorherrschenden Traditionslinien (bei Scheler, Gehlen, Rothacker) ein wenig heraushebt. Vgl. Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur (1935), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt a. M. 2003, S. 135–234, hier S. 144–145. 42 Der neuere Begriff der Lebensphilosophie ist ein Konstrukt, das in den 1910er Jahren von Rickert, Scheler und Simmel mit strategischem Hintersinn entwickelt wurde. Aus unterschiedlichen Beweggründen wird es dazu verwendet, zwischen Dilthey, Nietzsche, Bergson, Klages u. a. theoretische Gemeinsamkeiten zu postulieren, die in einem von ›mechanistischen‹ bzw. darwinistischen Ideen abweichenden Lebensverständnis gründen. Scheler und Plessner legen beide großen Wert darauf, dass eine theoretische oder philosophische Biologie die vitalistischen Grundlagen der (geisteswissenschaftlichen) Anthropologie bereitstellt – während die Ansätze bei Nietzsche etc. mehr als romantische Visionen betrachtet werden, die ins Verständliche zurück zu übersetzen sind. Zu Plessners Lesart von Drieschs Philosophie des Organischen vgl. Gerhard Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, S. 66–68, 106–115. 43 Vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch [1928], Berlin 1975, S. 3.
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2. Schwierigkeiten mit der ethnologischen Methode1
Der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen liegt in einer schlichten und doch merkwürdigen Koinzidenz: dass sich eine bestimmte Lesart der Geschichte des anthropologischen Wissens als ein Instrument ihrer Dekolonisierung begreifen lässt. Diese These ist insofern schlicht, als sie auf ein gängiges Muster der Geschichtsschreibung der Ethnologie oder Kulturanthropologie rekurriert. Um 1900 herum, so heißt es, erhebt sich die Kulturforschung aus ihrem Lehnsessel, verlässt den sicheren Ort am Schreibtisch und begibt sich in die Wälder – und erst dann findet sie sich in einer Lage, die vornehme Distanz kolonialer Verhältnisse infrage zu stellen oder womöglich aufgeben zu können. Die These ist aber nicht nur schlicht, sondern auch merkwürdig, weil sie einen Zusammenhang voller Widersprüche und Unklarheiten postuliert. Mit ihr werden eine Menge Fragen aufgeworfen, von denen ich hier nur die folgenden herausgreife: Wie kommt es, dass sich mit der neuen ethnografischen Methode der so genannten ›Feldforschung‹ kolonialismuskritische Überlegungen verbinden – und können diese bis in die sich explizit als postkolonial verstehende Kulturtheorie hinein verfolgt werden? Wie sehen die philosophischen Implikationen der ethnografischen Neuorientierung genauer aus, wenn sich mit ihr eine Linie der Dekolonisierung anthropologischen Wissens ziehen lässt? Ist es möglich, von der philosophischen Befragung nicht nur der kolonialen Fassung des anthropologischen Wissens, sondern auch der neuartig operierenden ethnografischen Methoden Anschlussstellen zwischen dem philosophischen und dem postkolonialen Diskurs abzuleiten?
1 Als Textvorlage dieses Kapitels diente mir das Manuskript eines Vortrags zur Kritik der politischen Ethnologie, der im Rahmen der Vorlesungsreihe Phänomenologische Forschungen am Institut für Philosophie der Universität Wien im Dezember 2018 gehalten wurde. Bei Georg Stenger und Gerhard Unterthurner bedanke ich mich für die Einladung nach Wien.
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Die genannten Fragen gliedern die Struktur dieses Kapitels. In einem ersten Schritt werden die implizit auf koloniale Zusammenhänge bezogenen Aspekte der methodischen Reflexion ›moderner‹ ethnografischer Praxis herausgestellt. Dabei kommt es mir in erster Linie auf einige epistemische Schlüsselmomente an, die in der genannten Reflexion artikuliert werden (oder doch artikuliert werden könnten). Zweitens werden die philosophisch relevanten Theoreme der ethnologischen Reflexion bzw. philosophische Konsequenzen ihrer Ausrichtung diskutiert. Ich beschränke mich dabei im Wesentlichen auf die Bedeutung, die die strukturale Anthropologie für einen philosophischen Strukturalismus gewinnt. Und drittens wird es darum gehen, die Begriffe der Differenz und des Anderen, die in der gern als ›postmodern‹ titulierten Philosophie Konjunktur hatten, mit einer postkolonialen Kritik zu konfrontieren, die in der Konstruktion des Anderen, im Othering, die spezifisch koloniale Eigenart im Diskurs über andere Kulturen, den eigentümlichen ›Orientalismus‹ europäischer Prägung (und damit nicht zuletzt die Krise der ethnografischen Repräsentation: wie über andere – oder doch nur mit ihnen – sprechen?) ausfindig macht.
2.1 Feldforschung nach Malinowski Ich beginne damit, eine für das Selbstverständnis der ethnografischen Feldforschung historisch bedeutsame Arbeit genauer zu betrachten: Malinowskis Argonauts of the Western Pacific (1922). Im einführenden Teil fordert Malinowski die Ausübung einer wissenschaftlich »unvoreingenommenen« Methode, indem unter möglichst transparenten Bedingungen empirische Daten gesammelt und von Interpretationen, »den Schlußfolgerungen des Autors«, getrennt werden.2 Auf diese Weise kann es gelingen, die »pauschalen Verallgemeinerungen« zu vermeiden, die »in der Vergangenheit« eben wegen besagter methodischer Mängel an der Tagesordnung waren.3 Malinowski unterscheidet zwischen amateur- oder laienhaften Verhalten einerseits und methodisch unredlicher oder sorgloser wissenschaftlicher Praxis andererseits. In beiden Fällen sind Vorurteile im Spiel, die nicht zuletzt (– wenn auch mehr 2 Vgl. Bronislaw Malinowski, Argonauten des westlichen Pazifik [1922], übers. v. H. Herdt, Frankfurt a. M. 1979, S. 24, 25. 3 Vgl. Malinowski, Argonauten, a. a. O., S. 25, 24.
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implizit als explizit –) in einen Zusammenhang mit kolonialen Verhältnissen gestellt werden können.4 Der eine Aspekt wird adressiert, indem auf die »unbearbeiteten Informationen von Reisenden, Missionaren etc.« Bezug genommen wird, die in den ethnologischen Arbeiten »Bastians, Tylors, Morgans und der deutschen Völkerpsychologen« umgeformt und begrifflich geläutert wurden.5 Die andere Seite kommt ausführlicher zur Sprache, indem auf die komplizierten Verhältnisse eingegangen wird, die zwischen Theoriebildung und empirischer Forschung bestehen. Zum Beispiel gibt es laut Malinowski gute Gründe dafür, dass »[d]er Begriff Animismus [den sinnlosen Ausdruck] ›Fetischismus‹ [verdrängte].«6 An diesem Punkt können zwei nahe liegende Missverständnisse vermieden werden. Es wäre verfehlt anzunehmen, dass sich mit der neuen ethnografischen Methode keine wichtige Zäsur in Theorie und Praxis verbinden würde. Und ebenso verfehlt wäre es, keine Kontinuität und fortlebende wissenschaftliche Tradition in Malinowskis Vorgehen wahrzunehmen. Er rekurriert dabei insbesondere auf die wertvollen empirischen Forschungen der »Cambridge-Schule«, aber genauso auf die theoretischen Arbeiten Frazers und Durkheims.7 Nicht zuletzt hat gerade Frazer das Vorwort zu den Argonauten geschrieben, d. h. ein britischer Ethnologe, der für seine evolutionistischen Auffassungen und dafür bekannt war, seinen gepolsterten Armsessel nicht zu verlassen. Die ethnografische Methode im Feld zu forschen begreift Malinowski generell als wissenschaftliche Methode, auch wenn er gleichzeitig in einigen Punkten deutlich macht, dass sie sich von älteren ethnologischen Verfahren unterscheidet. Sie verfolgt drei Ziele, mit denen zusammen genommen ein »vollständiges und adäquates Bild der Eingeborenenkultur [native culture]« gegeben werden kann: (1.) ein abstraktes »Skelett« kultureller Regeln 4 Malinowski spricht von dem »in der Gegend wohnenden [weißen] Informanten«, der »seine routinierte Art hat, die Eingeborenen zu behandeln« – und der weit davon entfernt ist, die ethnografische Arbeit zu verstehen, da er kein Interesse aufbringt für ihren »wissenschaftlichen Schatz«, nämlich die »Kultur der Eingeborenen« als solche. Vgl. ebd., 26, 27. »Zum größten Teil hegten sie […] einseitige und vorurteilsvolle Meinungen, die beim durchschnittlichen Mann der Praxis unvermeidlich sind, sei er Verwalter, Missionar oder Händler, und die dennoch auf den, der sich um eine objektive, wissenschaftliche Sicht der Dinge bemüht, stark abstoßend wirken müssen.« Ebd., S. 27. 5 Vgl. ebd., S. 31. 6 Vgl. ebd. 7 Vgl. ebd. Die Cambridge-Schule gilt Malinowski auch ausdrücklich in Bezug auf die Erfordernisse der »Feld-Arbeit« als erstrangig progressiv, v. a. in den Arbeiten von »Haddon, Rivers und Seligman«. Vgl. ebd., S. 47.
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ausfindig zu machen, (2.) ihre Verwirklichung im »Fleisch und Blut« des alltäglichen Lebens zu beobachten und (3.) den »Geist« in den »Anschauungen, Meinungen und Äußerungen des Eingeborenen« aufzuzeichnen.8 Die drei Aufgaben sind nicht unabhängig voneinander, vielmehr ermöglicht es lediglich eine genaue Kenntnis der Alltagspraxis, ein allgemeineres Verständnis bestimmter Regelungen z. B. magischen oder auch ökonomischen Typs zu entwickeln. Anders gesagt steht es für Malinowski außer Frage, dass zwischen dem Sammeln empirischer Daten und kulturtheoretischen Überlegungen wechselseitige Beziehungen existieren, sofern die »wunderbare Kraft« der ethnografischen »Arbeit im Feld« darin liegt, dass es den Forschern durch »möglichst enge[n] Kontakt mit den Eingeborenen« (natives) gelingt, sich gleichsam in die fremde Kultur einzuleben oder sich kulturell zu integrieren.9 Erst auf diesem Weg können die gesammelten Daten angemessen interpretiert werden.10 Deshalb spiegelt eine allzu abstrakte, quasi von außen an eine Kultur herangetragene Ordnung nur das Unverständnis des unbeteiligt Distanz wahrenden Kulturtheoretikers wider. Für Malinowski ist die Rede vom »Wilden« eine romantische Illusion, sofern das Wilde und chaotisch Ungeordnete lediglich die Kehrseite einer Ordnungsfigur ist, die ihr eigenes Vorurteil als kulturelle Ordnung schlechthin missversteht.11 Tatsächlich zeichnet sich dagegen gute ethnografische Praxis im Nachvollzug der vor Ort im Feld vonstattengehenden kulturellen Organisationsleistungen aus. Die »natives« leben keineswegs »nach Lust und Laune am Busen der Natur«, sie sind nicht das »Opfer abnormer, phantasmagorischer Glaubensvorstellungen«, sondern sie sind in ein Netz vielfältiger sozialer Institutionen eingebunden – und »ihren Gebräuchen mangelt es in keiner Weise an Folge 8 Vgl. ebd., S. 46. 9 Vgl. ebd., S. 28. »Der ganze Unterschied besteht zwischen dem sporadischen Eintauchen in die Gesellschaft der Eingeborenen und dem wirklichen Kontakt mit ihnen.« Ebd., S. 29. Der Kontakt erlaubt es dem Forscher zudem, sich selbst wie Luft zu betrachten, da er als Mitglied der von ihm untersuchten Gruppe als Störfaktor und Fremdkörper gleichsam verschwindet. Vgl. ebd. 10 »Für einen Ethnographen besteht dieser [Weg] im Sammeln von konkretem Belegmaterial, aus dem er für sich generalisierende Schlüsse zieht. Dies scheint unmittelbar einleuchtend zu sein, wurde aber erst entdeckt oder zumindest praktiziert, als in der Ethnographie Wissenschaftler mit der Feldforschung begannen.« Ebd., S. 34. 11 »Von der berühmten Antwort eines repräsentativen Fachmanns auf die Frage, was Sitten und Gebräuche der Eingeborenen seien: ›Sitten keine, Gebräuche tierisch‹ führt ein langer Weg bis zur Position des modernen Ethnographen!« Ebd., S. 32. Vgl. zur »althergebrachten Lehrmeinung« auch Malinowskis Fußnote ebd. Das verzerrte Bild vom wilden Menschen wurde »durch die Wissenschaft gelöscht.« Ebd., S. 33.
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richtigkeit, und ihr Wissen um die Außenwelt genügt, um sie bei vielen ihrer anstrengenden Unternehmungen und Aktivitäten zu führen.«12 Die spezifischen Qualitäten der Feldforschung machen sich in erster Linie dort geltend, wo schematische Gesetzmäßigkeiten kultureller Regeln in den miterlebten Alltagspraktiken Wirklichkeit gewinnen. An diesem Punkt tendiert Malinowski zu einer Trennung abstrakter und konkreter wissenschaftlicher Forschung. Ein Verständnis fremder Kulturen kann nur dadurch erreicht werden, dass die gesammelten empirischen Daten und die Berichte von Informanten vor dem Hintergrund einer im Feld erworbenen Vertrautheit mit der jeweiligen Existenzweise angemessen interpretiert werden. Hier spielt auch eine verminderte Reflexivität eine Rolle, sofern »die Eingeborenen […] den Zwängen und Vorschriften des Stammeskodex [gehorchen], ohne sie zu verstehen, genau wie sie ihren Instinkten und Impulsen folgen, aber kein einzelnes Gesetz der Psychologie angeben können.«13 Zwar verhalten sich diese Dinge auch in »irgendeiner modernen Institution« nicht anders, d. h. ihre Mitglieder agieren in ihr ohne eine klare Vorstellung ihrer strukturellen Organisation. Aber der »Unterschied liegt darin, daß jede Institution unserer Gesellschaft ihre intelligenten Mitglieder besitzt, ihre Historiker, ihre Archive und Dokumente, wohingegen eine Gesellschaft von Eingeborenen über nichts dergleichen verfügt.«14 Halten wir fest: das Eigene und das Fremde wird hier von Malinowski mit den Begriffen Intelligenz und Instinkt erläutert. Gerade weil es nicht genügt, quantifizierbare Daten zu sammeln, übersichtlich zu tabellieren und Interviews zu führen ist es so wichtig, im Feld konkrete Erfahrungen zu machen. »Es existiert mit anderen Worten eine Reihe sehr wichtiger Phänomene, die möglicherweise nicht durch Befragung oder Auswertung von Dokumenten in Erfahrung zu bringen sind, sondern in ihrer vollen Wirklichkeit beobachtet werden müssen. Nennen wir sie die Imponderabilien des wirklichen Lebens.«15 Es ist paradox: Die ureigenen wissenschaftlichen Forschungsqualitäten kulminieren im Postulat der Integration, sich als Ethnograf der untersuchten fremden Kultur zu assimilieren, in ihr reibungslos aufzugehen! Wie aber kann sich das Eigene im Fremden festhalten – und zugleich verschwinden? Für diesen dialektischen Zug hatte Hegel den operativen Begriff der Aufhe 12 Ebd., S. 32. Ausdrücklich attestiert Malinowski auch ihren künstlerischen Erzeugnissen »Bedeutung« und »Schönheit«. 13 Ebd., S. 33. 14 Ebd., S. 34 (Herv. MR). 15 Ebd., S. 42–43.
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bung entwickelt. Nach Malinowski liegt das Ziel der ethnografischen Arbeit darin, »den Standpunkt des Eingeborenen, seinen Bezug zum Leben zu verstehen und sich seine Sicht seiner Welt vor Augen zu führen.«16 Ist das aber möglich – und wenn ja, in welcher Weise? Das wissenschaftliche Pathos, objektives Wissen zu maximieren, indem alles und jedes aufgezeichnet und aufgesammelt wird, konzentriert sich zuletzt im Bild einer Kultur, das nicht nur ihre besonderen Eigenheiten anschaulich macht, sondern auch überhaupt ihr eigenes ist (oder sein soll). Ihr eigenes Bild also, das aus einer wissenschaftlichen Arbeit hervorgeht, die sich wiederum dem voll und ganz widmet, was sie nicht ist. Wie Malinowski sagt, geht es darum, in die jeweils kulturspezifische »Geisteshaltung einzudringen«, indem die »gesetzmäßige« Seite ihrer anatomischen Struktur durch die »persönliche« des Zusammenlebens im Feld ergänzt wird.17 Die Wahl dieses Adjektivs ist einigermaßen bezeichnend. Sie bringt den abenteuerlichen Aspekt (oder auch die ›Zumutung‹) des Sich-Aussetzens in der Fremde zum Ausdruck, das Involviert-sein in Vorgänge, die nur durch Partizipieren erfahrbar oder verständlich gemacht werden können. Malinowski schreibt: »[B]ei dieser Art von Arbeit [nützt es] dem Ethnographen, manchmal Kamera, Notizbuch und Bleistift zur Seite zu legen und sich selbst am Geschehen zu beteiligen.«18 Man weiß aus den postum veröffentlichten Tagebüchern seines Aufenthalts auf den Trobriand-Inseln, wie schwer ihm dies gleichsam ›persönliche Engagement‹ gefallen ist. Möglicherweise macht die Rede vom Persönlichen ganz gut deutlich, dass letzten Endes die Textproduktion, die niemals mit der teilnehmenden Beobachtung zusammenfällt, auf Bedingungen basiert, die im wissenschaftlichen Gegenstand nicht wirklich aufgehen.19 Die Rede von der Geisteshaltung, die in erster Instanz auf die Ausdeutung qualifizierter Erfahrungen im Feld bezogen ist, setzt nach den Knochen und den vitalen Dimensionen drittens den »Geist« der Eingeborenen-Kultur ins Licht, d. h. die Vorstellungen der Leute, wie sie sich in der artikulier 16 Ebd., S. 49. 17 Vgl. ebd., S. 43. 18 Ebd., S. 45. 19 »The publication of Malinowski’s Mailu and Trobriand diaries (1967) publicly upset the applecart. Henceforth an implicit mark of interrogation was placed beside any overtly confident and consistent ethnographic voice. […] How was its ›objectivity‹ textually constructed?« James Clifford, »Introduction«, in: Clifford, Marcus (Hg.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley and Los Angeles: University of California Press 1986, S. 1–26, hier S. 14.
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ten Rede der Informanten darstellen. Erneut rekurriert Malinowski auf die wissenschaftlich gut entwickelte Forschungspraxis der Schule aus Cambridge und insbesondere auf die in ihren Reihen herausgestellte Bedeutung der linguistischen Expertise.20 »In dem Maße, in dem meine Sprachkenntnisse zunahmen, notierte ich mehr und mehr in der Kiriwina-Sprache, bis ich mich zuletzt in der Lage sah, ausschließlich in dieser Sprache zu schreiben und rasch Wort für Wort jeder Aussage zu notieren.«21 Aufzeichnung und Auswertung der mündlich kommunizierten Informationen ist ohne den entsprechenden Erwerb sprachlicher Fähigkeiten ebenso partiell und willkürlich wie das teilnehmende Beobachten selbst. Eine der methodischen Implikationen der ethnografischen Feldforschung liegt in diesen pluralistischen Voraussetzungen ihrer linguistischen Erfordernisse. Zugleich werden sie mit der Hypostasierung einer besonderen ›Geisteshaltung‹ als kulturelle Einheit insofern überspielt, als sie auf eine wissenschaftlich gesicherte anthropologische Grundlage, die für die menschliche Natur insgesamt (sogenannte funktionalistische) Geltung beansprucht, bezogen werden. Erst auf dieser Folie lässt sich nach Malinowski einsehen, welche Bedeutung dem Gesagten und Erlebten inmitten einer kulturellen Praxis zukommt. Hier kommt ein Allgemeines ins Spiel, das im Hintergrund der Relationen der besonderen Kulturen zueinander (oder der interkulturellen Relationen) sein Wesen oder Unwesen treibt. Nach Malinowski ermöglicht das ethnografische Wissen über fremde Kulturen ein besseres Verständnis der eigenen – und dies gerade weil sich über die konturierten Unterschiede die Gemeinsamkeiten, die den Menschen als solchen oder die Menschheit in ihm charakterisieren, deutlicher fassen lassen. »Vielleicht wird sich uns ihre Mentalität offenbaren und uns in einer bisher unbekannten Weise näherrücken. Indem wir die menschliche Natur in einer für uns entfernten und fremden Gestalt wahrnehmen, fällt vielleicht auch auf unsere eigene Natur etwas Licht.«22
20 Vgl. Malinowski, Argonauten, a. a. O., S. 47. 21 Ebd., S. 47–48. 22 Ebd., S. 49.
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2.2 Strukturale Anthropologie Die epistemischen Schlüsselstellen, die in dem Text von Malinowski ausfindig gemacht wurden, können mit Bezug auf Lévi-Strauss weiterverfolgt werden. Ein erster Anknüpfungspunkt liegt in der Emphase, mit der gerade in der Linguistik die methodischen Voraussetzungen aufgespürt werden, die für eine Einführung der Strukturanalyse in die Kultur- oder Sozialanthropologie relevant sind.23 Es ist bekannt, dass nach Lévi-Strauss die Verwandtschaftsbezeichnungen soziale und zugleich sprachliche Systeme bilden, die sich wie die Phoneme in der Phonologie des russischen Linguisten Nikolai Trubetzkoy in »unbewussten Infrastrukturen« konkretisieren lassen. Zwar geht die Phonologie »vom Studium der bewußten Spracherscheinungen« aus; aber sie behandelt die verwendeten sprachlichen Ausdrücke nicht »als unabhängige Entitäten« und macht »die Beziehungen zwischen [ihnen] zur Grundlage ihrer Analyse«.24 Die strukturellen Elemente stehen in differentiellen Relationen zueinander – aus ihren je konkreten Verhältnissen lassen sich womöglich »allgemeine Gesetze« ableiten.25 An diesem Punkt wird das Pathos verständlich, mit dem Lévi-Strauss die Sprachwissenschaft als die einzige Sozialwissenschaft ansieht, die – nicht zuletzt aufgrund ihres Gebrauchs mathematischer Modelle – »den Namen Wissenschaft verdient«.26 Die strukturale Analyse zielt über die Verwandtschaftsverhältnisse hinaus auf die »totemistische Klassifikation« und damit auch auf eine »Wissenschaft vom Konkreten«, die für das wilde Denken charakteristisch sei.27 Der Begriff der ›totemistischen Klassifikation‹ kann und sollte in Anführungszeichen gesetzt werden, da Lévi-Strauss in seinem (wie Das wilde Denken ebenfalls 1962 erschienenen) Buch Le Totémisme aujourd’hui ausführlich den Totemismus als Konzept einer antiquierten Ethnologie herausgestellt oder dekonstruiert hat.28 Anders und etwas plakativ gesagt, wird die ethnologische Ordnung des Totemismus durch die Strukturanalyse ersetzt oder in einigen wichtigen
23 Vgl. Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie [1958], übers. v. H. Naumann, Frankfurt a. M. 1967, S. 43ff. 24 Vgl. ebd., S. 45. 25 Vgl. ebd., S. 46. 26 Vgl. ebd., S. 43. 27 Vgl. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken [1962], übers. v. H. Naumann, Frankfurt a. M. 1968, S. 49, 11. 28 Vgl. Claude Lévi-Strauss, Das Ende des Totemismus [1962], übers. v. H. Naumann, Frankfurt a. M. 1981, hier insb. S. 25–26.
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Punkten transformiert.29 Sie umfasst eine Zeitspanne, die von den Anfängen der Disziplin zu Frazers und Durkheims umfangreichen Monographien – und über den »funktionalistischen Totemismus« Malinowskis bis in die Zeit nach 1945 reicht.30 Hier ist zu beachten, dass die strukturale Logik die »totemistische Illusion« zerstreut, weil sie imstande ist, die rigide Unterscheidung von Natur und Kultur aufzulösen.31 Sie definiert Beziehungen zwischen den Reihen natürlicher und kultureller Dinge (als Strukturelemente), die in ihrer Gesamtheit ein konkretes Verständnis der Mythen ebenso wie der Heiratsregeln oder der Identifikationsmerkmale einzelner Clans oder Gruppen ermöglichen. »Die Tierwelt wird also in Begriffen der sozialen Welt gedacht.«32 Ihre symmetrische und nicht einseitig reduzible Relation verhindert, dass durch den Rekurs auf ein vermeintlich überlegenes Wissen für die im Totemismus lebenden Völker eine Primitivität im Sinne einer besonderen Nähe zu den Naturkräften geltend gemacht werden kann.33 Bei Lévi-Strauss heißt es dazu: »Der Totemismus ist zunächst das Hinauswerfen von Geisteshaltungen aus unserer Welt, gleichsam eine Hexenaustreibung von Geisteshaltungen, die unvereinbar sind mit der Forderung einer Diskontinuität zwischen Mensch und Natur […].«34 Die strukturale Anthropologie zeichnet sich im Gegensatz zur idealistischen der philosophischen Tradition durch die Wiederholung einer Kontinuität aus, die dem metaphysischen Primat des Geistes oder dem Postulat transzendenter Instanzen skeptisch entgegensteht. Von daher erklärt sich die Frontstellung, die immer wieder zwischen der Geschichts 29 Vgl. ebd., S. 64. 30 Vgl. ebd., S. 75ff. Siehe auch James G. Frazer, Totemism and Exogamy, 4 Bde., London 1910; Émile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris 1912: Félix Alcan. In der Absicht, den Totemismus zu seinem Ende zu führen, kann sich Lévi-Strauss an die amerikanische Anthropologie und an die in ihr zu beobachtende Erosion des Begriffs – in der Schule von Franz Boas, bei Robert Lowie (und zuletzt auch bei dem Briten Radcliffe-Brown) – anlehnen. 31 Vgl. Lévi-Strauss, Ende des Totemismus, a. a. O., S. 25ff. 32 Vgl. ebd., S. 106. Mir kommt es hier darauf an, mit Viveiros de Castro »eine substantialistische Auffassung der Kategorien Natur und Kultur« – und in diesem Sinne auch einseitige Konzepte des Totemismus und Animismus – zurückzuweisen. Vgl. Eduardo Viveiros de Castro, Die Unbeständigkeit der wilden Seele [2002, 2011], übers. v. O. Precht, Wien 2016, S. 280. 33 »Diese ›Naturzugehörigkeit‹ wurde zu einem Probierstein, mit dessen Hilfe es gelang, sogar innerhalb der Kulturen den Wilden von dem Zivilisierten zu isolieren.« Lévi-Strauss, Ende des Totemismus, a. a. O., S. 9. Es ist durchaus möglich, diese Linie der Kritik bis zu Malinowskis »utilitaristischen Vorurteilen« bzw. bis zu der von ihm getroffenen Unterscheidung von Intelligenz und Instinkt zu verlängern. Vgl. ebd., S. 84. 34 Ebd., S. 9 [Herv. MR].
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philosophie und ihrer Inanspruchnahme humanistischer Normativität und dem wissenschaftlichen bzw. philosophischen Projekt des Strukturalismus behauptet wurde.35 In keinem anderen Kontext steht die bekannte These von Lévi-Strauss, »daß das letzte Ziel der Wissenschaften vom Menschen nicht das ist, den Menschen zu konstituieren, sondern das, ihn aufzulösen.«36 Das wissenschaftliche Pathos des sich selbst als nachmetaphysisch begreifenden strukturalen Denkens bleibt allerdings wie dasjenige Malinowskis, wenn auch aus anderen Gründen, ambivalent. Mit dem Begriff des ›Konkreten‹ verbindet sich nicht nur ein strukturaler Ansatz, der in die Lage versetzt, sinnlich-affektive Verhaltensweisen und rationale Operationen prinzipiell zu verbinden – und »die falsche Antinomie zwischen logischer […] und prälogischer Mentalität zu überwinden«.37 Zugleich wird immer wieder auf einer Art ›teleologischer Korrespondenz‹ insistiert, die zwischen dem wissenschaftlichen Vorgehen des Ethnologen und der ›sinnlichen Rationalität‹ des wilden Denkens bestehen soll. Als ob das eine auf das andere unmittelbar bezogen wäre, so dass sie bruchlos ineinander aufgehen würden.38 Selbst wenn es richtig ist, dass Lévi-Strauss den Niedergang der ›schriftlosen‹ oder »sogenannten primitiven« Kulturen aus ihrer Begegnung mit der europäischen Zivilisation mitsamt ihres Fortschrittsoptimismus und ihres kolonialen Imperialismus ableitet, so gehört doch aus seiner Sicht eine wirklich unvoreingenommene Wissenschaft nicht in ihr Machtgebiet.39 Strenge Objektivität ist nicht kulturspezifisch relativierbar – und sie resultiert idealiter aus einer Forschung, die sich mit der unverfälschten Fülle kultureller Phänomene konfrontieren kann. »Man denke nur an das Privileg, zu Populationen Zugang zu haben, die noch von keiner ernsthaften Forschung berührt und noch recht gut erhalten 35 Vgl. Vincent Descombes, Le Même et l’Autre. Quarante-cinq ans de philosophie française (1933–1978), Paris 1979: Éditions de Minuit. 36 Vgl. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a. a. O., S. 284. In dem Schlusskapitel dieses Buches bringt Lévi-Strauss seine Position in einen strikten Gegensatz zu der Sartres. Vgl. ebd., S. 282–310. Bereits Nietzsche hat in Also sprach Zarathustra die Überwindung des Menschen mit der Auflösung der traditionell asymmetrischen Relation von Geist und Körper verbunden. 37 Vgl. ebd., S. 308 und auch Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen [1955], übers. v. E. Moldenhauer, Frankfurt a. M. 1978, S. 48. 38 »Heute frage ich mich manchmal, ob nicht die Ethnographie, ohne daß ich es merkte, mich gerufen hat, weil zwischen den Kulturen, die sie untersucht, und meinem eigenen Denken eine strukturelle Affinität besteht.« Ebd., S. 46. Siehe auch die Angleichung des wilden Denkens an dasjenige der kybernetischen Informationstheorie in: Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a. a. O., S. 307ff. 39 Vgl. ebd., S. 308.
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[sic!] waren, da man erst vor kurzem begonnen hatte, sie zu zerstören.«40 In diesem Sinne erinnert Lévi-Strauss an eine vergangene historische Situation, die »die Synthese zwischen einer streng wissenschaftlichen Methode und dem unvergleichlichen Experimentierfeld der Neuen Welt« ermöglichte.41 Mit dem Objektivitätsideal, das selbstbewusst die Vorurteile einer hybriden europäischen Subjektivität zurückweist, wird ein methodischer Standort gewählt, der die teilnehmende Beobachtung weit zu überfliegen erlaubt. Der Ethnograf versucht »den Menschen von einem Standpunkt aus zu erkennen und zu beurteilen, der erhaben und entfernt genug ist, um von den besonderen Zufällen einer Gesellschaft oder Kultur zu abstrahieren.«42 Wie Lévi-Strauss sagt, befindet er sich permanent in der Fremde, in einer »chronischen Heimatlosigkeit«, die einen Ausweg darstellt, sich nirgends zuständig fühlen zu müssen – um den Preis einer vielleicht sonderbar anmutenden Selbstinszenierung.43 Und dennoch ist auch die strukturale Methode auf die ethnografischen Forschungen im Feld ganz klar bezogen. Sie definieren nicht nur eine Errungenschaft, auf die wie selbstverständlich Bezug genommen wird. Sie sind vielmehr unerlässlich, wenn es darum geht, die strukturellen Entitäten und ihre Beziehungsmodi konkret und genau zu bestimmen. An diesem Punkt zitiert Lévi-Strauss eine aus seiner Sicht entscheidende ›totemismuskritische‹ Bemerkung Radcliffe-Browns: »[A]nstatt uns zu fragen: warum all diese Vögel? Können wir uns nun fragen: warum speziell der Falke und die Krähe […]?«44 Die Kriterien einer Klassifizierung lassen sich niemals a priori sondern stets nur a posteriori, d. h. durch empirische Forschung, festlegen. Und das hat zur Folge, dass die strukturellen Beziehungen als Assoziationen gelten müssen, die nicht aus ein für alle Mal vorgegebenen Prinzipien einer menschlichen Natur resultieren.45 Hieran knüpft sich wiederum
40 Lévi-Strauss, Traurige Tropen, a. a. O., S. 53 [Herv. MR]. 41 Vgl. ebd. 42 Ebd., S. 48. 43 Vgl. ebd. S. 48, 51. 44 Lévi-Strauss, Ende des Totemismus, a. a. O., S. 112. 45 Vgl. ebd., S. 117–118 und Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a. a. O., S. 74. Gegen Kritiker des binären Denkens von Lévi-Strauss unterstreicht Viveiros de Castro, dass »die Dualität nichts [ist] als eine minimale Vielfalt« oder »die Reduktion eines asymmetrischen ternären Modells.« Eduardo Viveiros de Castro, Radikaler Dualismus. Eine Meta-Fantasie über die Quadratwurzel dualer Organisationen oder Eine wilde Hommage an Lévi-Strauss, Ostfildern 2012, S. 30.
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die an Malinowskis Vorgehen geübte Kritik, etwa »alle magischen Praktiken […] auf ein Mittel [der Angstbewältigung zu] reduzieren«.46 Wenngleich also gesagt werden kann, dass die strukturale Anthropologie im Gebrauch ihrer wissenschaftlichen Methode einerseits dahin tendiert, eine allgemeine Logik des wilden Denkens zu entwickeln, so stützt sie sich doch andererseits auf ein sehr konkretes Studium der Phänomene. Ebenso gilt, dass den Informanten zwar »Vertrauen geschenkt« werden muss (quasi als Korrektiv kulturell geprägter Sichtweisen), aber zugleich zu vermeiden ist, die Berichte der »Eingeborenen« in der Theoriebildung selbst für bare Münze zu nehmen.47 So wird Marcel Mauss vorgeworfen, eine »neuseeländische Theorie« zur Erläuterung des Gabentauschs herangezogen zu haben.48 Eine wohlgesonnene Lesart, die in einigen Aspekten den entstehenden philosophischen Strukturalismus inspirierte, wurde Ende der 1950er Jahre von Merleau-Ponty vorgelegt. Sie zielt darauf ab, die relevanten Strukturen als symbolische, bewegliche, fragmentierte und implizite Bedingungen konkreter empirischer Sachverhalte aufzufassen. Sie sind nicht das Korrelat eines absoluten Bewusstseins, das in sicherer Entfernung die Dinge überblickt. Vielmehr muss es ein »gelebtes Äquivalent« der formalen Strukturen geben, die im Feld zu erforschen sind.49 Bei ihnen handelt es sich um ein »laterales Universales«, durch das sich die »ethnologische Erfahrung« auszeichnet.50 Merleau-Ponty schreibt dazu: »Die Ethnologie ist keine Spezialität, die durch einen Sondergegenstand definiert wäre: die ›primitiven‹ Gesellschaften; sie ist eine Denkweise, die sich aufdrängt, wenn der Gegenstand ein ›anderer‹ ist und uns eine Wandlung unserer selbst abverlangt. Auch werden wir zu Ethnologen der eigenen Gesellschaft, wenn wir ihr gegenüber auf Distanz gehen. […] Eine einzigartige Methode: Es geht darum zu lernen, wie man das, was unser ist, als fremd, und das, was uns fremd war, als unsriges betrachtet.«51 46 Vgl. Lévi-Strauss, Ende des Totemismus, a. a. O., S. 88. 47 Vgl. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a. a. O., S. 59. 48 Vgl. Claude Lévi-Strauss, »Einleitung in das Werk von Marcel Mauss«, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie Bd. 1, Berlin 1984, S. 7–41, hier S. 31. »Nachdem man die Auffassung der Eingeborenen freigelegt hat, müßte man sie durch eine objektive Kritik reduzieren, die die zugrunde liegende Realität zu erreichen erlaubt. […] Das hau ist ein Produkt der Reflexion der Eingeborenen; die Realität jedoch liegt viel offener zutage in bestimmten linguistischen Zügen […].« Ebd., S. 31–32. 49 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, »Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss« [1959], in: ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 225–241, hier S. 232. 50 Vgl. ebd., S. 232–233. 51 Ebd., S. 233f.
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So vielversprechend diese Sätze auch sind, die nach Merleau-Ponty die ethnografische Epistemologie (der Feldforschung) gerade durch eine ›Reflexion des Anderen‹ auszeichnen, so gehört zu ihr gleichzeitig auch eine anthropologische Reflexion, die auf eine »wilde Region« des Menschlichen verweist, die nicht in einer Kultur eingeschlossen ist und die allein zwischen den Kulturen ein vermittelndes Band knüpft.52 Vielleicht ist das die Kehrseite einer Position, die noch allzu sehr von fixen kulturellen Einheiten ausgeht, auch wenn sie im Fremden das Wilde einer letztlich erweiterten Vernunft aufspürt, die nicht mehr in der Abgrenzung einer eigenen Kultur ihren Geltungsbereich definiert. Die globalen Prozesse des Kolonialismus und der kapitalistischen Ökonomien machen es gerade unmöglich, die Kulturen im Sinne monolithischer Blöcke strikt voneinander zu trennen. Vielmehr erfolgt die kulturelle Identitätsbildung vor dem Hintergrund einer Begegnung oder eines Kontakts, der schon stattgefunden hat. Es kann nicht gelingen, den primären kulturellen Austausch zu ignorieren oder ihm durch Berufung auf den Kosmopolitismus der Wissenschaften zu entkommen. Merleau-Ponty spricht davon, »sich auf einem Terrain einzurichten«, das für die Auseinandersetzung, die Begegnung oder den Konflikt einen Raum schafft.53 Ihn zu verflüchtigen hingegen bedeutet, von abgeschlossenen Kulturkreisen oder auch von einer universalen Weltgeschichte der Modernisierung zu sprechen. Und vielleicht schärft sich an dieser Stelle erneut die Frage, was die anderen zu anderen macht, wie sie sich aufeinander beziehen; und ob es so etwas geben kann wie eine Struktur des Perspektivismus, die die ethnografische Methode in ihrem radikal pluralistischen Ansatz bestätigen und die Gefahren der formalistischen Schematisierung des Strukturellen im Zaum halten kann.
2.3 Idee der Anderen Mit diesen Bemerkungen komme ich zur erwähnten ›Reflexion des Anderen‹ zurück, die Merleau-Ponty in Bezug auf die Ethnologie in die Fragestellung bringt: »Wie den Andern verstehen, ohne ihn unserer Logik zu opfern oder diese ihm?«54 Es mag sein, dass sich das Andere verbirgt, weil nur das 52 Vgl. ebd., S. 234. 53 Vgl. ebd., S. 237. 54 Ebd., S. 226.
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Eigene gesehen wird – oder auch, dass sich das Andere irgendwie zeigt, weil sich das Eigene auf das Andere hin öffnet.55 An diesem Punkt ist es ratsam die Gedankenfolge anzuhalten – oder zu verlangsamen. An zweierlei ist zu erinnern; erstens an einen Ausspruch Edmund Husserls: »Daß die Anderen sich in mir als Andere konstituieren, ist die einzig denkbare Weise, wie sie als seiende und soseiende für mich Sinn und Geltung haben können.«56 Und zweitens an Simone de Beauvoir, die in ihrem Buch Das andere Geschlecht festhält: »Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist nur das Andere«, le deuxième sexe.57 Die beiden zitierten Sätze befinden sich in einer Spannung, die wichtig ist. Sie artikulieren ein vermintes Feld, das die Philosophie von der Kritik (in einer ganzen Reihe feministischer ebenso wie postkolonialer Diskussionen) trennt. Ein Weg hindurch ist nicht einfach zu finden. Philosophisch betrachtet exemplifiziert Husserls Diktum eine allgemeine Position transzendentaler Subjektivität, die das Andere aus sich selbst hervorgehen lässt. Sie garantiert ein Kontinuum, das im Primat des Ich jede historische oder geistige Entwicklung begründet und kulminieren lässt. Was anders ist, sich der Entwicklung sperrt, kann nicht Ich werden, autonomes Subjekt. Und hier entstehen zwei mögliche Denkweisen. Entweder ist die These verkehrt, die besagt, dass es Anderes gibt, das nicht selbst bestimmend sein kann. Dann geht es darum, die Position des Subjekts für sich (bzw. für welches andere auch immer) zu reklamieren. Oder aber es ist verfehlt, das Andere überhaupt subjektlogisch oder dialektisch auf ein prinzipiell vorausgesetztes Ich zu beziehen. Schließlich wäre es so stets nur das Andere eines Ich, das sich von ihm Vorstellungen macht. In diesem Fall geht es dann darum, eine Idee des Anderen stark zu machen, die das Ich dezentriert oder auf Voraussetzungen bezieht, die es nicht beherrschen kann. Im postphänomenologischen Strukturalismus entstehen Philosophien – bei Levinas, Derrida, Lyotard –, deren Pathos des Anderen in einem starken Gegensatz steht zur kritischen Problematik des Anderen im Sinne des Othering. Auf einen Punkt gebracht: steckt in der viel beschworenen Rede einer ›Begegnung mit dem Anderen‹ ein An 55 »Wahrheit und Irrtum wohnen beieinander an den Schnittpunkten zweier Kulturen, sei es, daß unsere Bildung uns verbirgt, was es zu erkennen gilt, sei es umgekehrt, daß sie – im Verlaufe eines Lebens sur le terrain – zu einem Mittel wird, die Differenzen des Anderen zu gewahren.« Ebd., S. 234. 56 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen [1931, 1950], Hamburg 1987, S. 132. 57 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht [1949], übers. v. U. Aumüller u. G. Osterwald, Hamburg 2000, S. 12.
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derswerden, eine Verwandlung, die Konfrontation mit etwas grundlegend anderem – oder doch nur das auf ein für sich stabiles Ich relatives Nicht-Ich, eine romantische Projektion, eine Ermächtigung, Exotismus und Phantas magorie eines wilden Begehrens? Edward Saids ›Orientalismus‹ wäre ein Beispiel für die Rekonstruktion eines im europäischen Diskurs hervorgebrachten Anderen, die in erster Linie darauf abzielt, im Bild dieses Anderen das Machwerk einer Selbstbestätigung zu erkennen, d. h. die machtvollen Abgrenzungsstrategien europäischer Identitätskonstruktionen.58 Übertragen auf die ethnografische Problematik könnte man vielleicht sagen, dass die kolonial gebundene Anthropologie eine gewesen ist, die in Analogie zur orientalistischen Thematik, in ihrer Darstellung der ›einfachen Naturvölker‹, stets nur sich selbst reproduziert, neu erfunden und sich in Abweichungen von sich konturiert hat. Dies könnte zugleich bedeuten, dass die mit der Einführung der ethnografischen Feldforschung verbundene ethnologische Selbstkritik die strikt asymmetrische Relation von Orient und Okzident, aber auch ihre privilegierte und kompakte Stellung zueinander (und sei es nur zum Teil) korrigiert hat. Wenn ihr dies aber gelungen sein sollte, welches sind dann die Kriterien ihres Gelingens? Sind sie philosophischen Typs – oder können sie in eine Beziehung zu philosophischen Überlegungen gestellt werden? Malinowski brachte es wohl fertig, einige der kolonialen Deutungsmuster fremder Kulturen abzulegen, sofern er es als eine wissenschaftliche Notwendigkeit ansah, sich in eine fremde Kultur einzuleben, um die in ihr stattfindenden Sozialisierungsprozesse nachzuvollziehen. Die fremden Kulturen besitzen aus seiner Sicht alles Mögliche – aber es fehlt ihnen die wissenschaftliche Expertise, die allgemeine anthropologische Deutung der von bloßen ›Informanten‹ gelieferten Daten.59 Das notwendige (sich selbst) Fremdwerden (oder die ihm zugehörige Attitüde) entspricht einer wissenschaftlichen Distanz, die letztlich nicht aufgegeben wird. Die ethnografische Praxis der teilnehmenden Beobachtung setzt dabei ein bestimmtes Verständnis für eine radikale kulturelle Andersheit voraus, das aber wissenschaftlich sublimiert und im Rekurs auf allgemeine kulturtheoretische Annahmen modelliert wird. 58 Vgl. Edward Said, Orientalism, New York 1978: Pantheon. Zur Logik der »Autofiktion« vgl. Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, a. a. O., S. 12. 59 Zur Kritik der quasi instrumentalisierten Figur des ›Informanten‹ vgl. die an Harold Garfinkel geschulte ethno-methodologische Position von Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie [2005], übers. v. G. Roßler, Frankfurt a. M. 2010, S. 15.
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Eine ähnlich gelagerte Ambivalenz findet sich im Werk von Lévi-Strauss. Auf der einen Seite entwickelt er mit der strukturalen Analyse einen Forschungsansatz, der sich in die konkreten Verhältnisse des ›wilden Denkens‹ hinein bewegt und die wissenschaftlichen Abstraktionen eines im Begriff des Menschen begründeten supra-kulturellen Wissens (z. B. im Sinne einer sich realisierenden moralischen Natur) zurückweist. An diese Punkte schließen sowohl Foucault als auch Derrida in den 1960er Jahren an.60 Auf der anderen Seite entfernt sich Lévi-Strauss aus den Forschungskontexten, indem er wiederum eine distanzierte Position einnimmt, die methodisch nur darum möglich ist, weil eine Identitäts-Unterstellung vorgenommen wird: das ›wilde Denken‹ ist aus seiner Sicht eine konkrete Wissenschaft, die sich im strukturalen Modus ethnologisch reflektiert – und zwar im Prinzip: voll und ganz. Die ursprünglichen ›tropischen‹ Verhältnisse sind vergangen, zerstört von einer kolonialen Zivilisation; aber ihre Vergangenheit findet in der Zukunft strukturaler Erneuerung des konkreten Wissens ein unmittelbares Echo. Eine Verbindung der postkolonialen und der ethnologischen Reflexion liegt dort vor, wo mit dem methodischen Ideal der teilnehmenden Beobachtung nicht nur das wissenschaftliche Selbstverständnis nicht-situierten Wissens (das Gewinnen und objektive Auswerten empirischen Datenmaterials) in Frage gestellt, sondern zugleich ein (sagen wir vorläufig: ›kulturell‹) Anderes postuliert wird, das nicht relativ auf Maßstäbe einer privilegierten weißen oder europäischen Subjektivität im Rahmen kolonialer (bzw. quasi-kolonialer) Diskursstrategien bestimmt werden kann. Beides kommt zusammen: eine mit der Feldforschung verbundene Kritik wissenschaftlicher Objektivität und das Konzept eines Anderen, das die koloniale Relativität unterbricht. Hier ist der Ort eines »epistemischen Umsturzes«, den Walter Mignolo im Anschluss an Frantz Fanon, Aníbal Quijano und Ngugi wa Thiong’o als Dekolonisierung des Wissens und der Macht bezeichnet hat.61 Zur Ablösung von eurozentristischen Maßstäben in der Geschichtsschreibung schlägt Dipesh Chakrabarty vor, Europa zu provinzialisieren – und Achille Mbembe spricht mit Aimé Césaire von der radikalen Differenz des »Negers« (oder der Négritude) als afrikanische Figur der Zukunft.62
60 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 450–458 und Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz [1967], übers. v. R. Gasché, Frankfurt a. M. 1994, S. 435–441. 61 Vgl. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, a. a. O., S. 57. Vgl. ebd., S. 46–47, 56. 62 Vgl. Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, a. a. O., S. 292. Vgl. Aimé Césaire, Françoise Vergès, Nègre je suis, nègre je resterai, Paris 2005: Albin Michel.
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In all diesen Fällen einer gegenwärtig breit rezipierten kolonialismuskritischen Literatur spielt die Ablehnung einer am Maßstab kolonialer Subjektivität gemessenen und damit vergleichsweise minderwertigen Andersheit eine zentrale Rolle. Mit dieser Ablehnung im Sinne der Dekolonisierung von Machtbeziehungen verbinden sich zugleich neue »Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung« bzw. Formen der Subjektivierung, die nicht länger extern vorgeschriebene Identitäten übernehmen.63 Sie sind anders – und nicht auf andere oder ›veranderte‹ (im Sinne des Othering) zurückzuführen. Und aus meiner Sicht ist es nur folgerichtig, wenn die Subjektposition nicht irgendwie vorab, sondern aus der Art dieses Andersseins (jeweils aus sich selbst heraus) bestimmt wird. Die Frage lautet also: ›Wie anders‹? Die abschließenden Überlegungen beschränken sich darauf, die sowohl mit der ethnografischen Praxis als auch mit der kritischen Perspektive der Dekolonisierung verbundene Auszeichnung eines auf nichts anderes reduziblen anderen im Kontext der philosophischen Epistemologie zu wiederholen. Das heißt zunächst, dass es philosophisch zu vermeiden ist, eine erkenntnistheoretisch privilegierte Perspektive zu etablieren, die sich alternative Sichtweisen einfach – im Rekurs auf ihre eigenen Wahrheitsbedingungen – unterordnet. Philosophiegeschichtlich einschlägig sind hier radikal pluralistische Theoriebildungen bei Nietzsche oder im amerikanischen Pragmatismus. Dabei genügt es keineswegs, bei einer Kritik an der metaphysiklastigen »Zuschauertheorie des Erkennens« stehenzubleiben.64 Hinzu kommt ein dezidiert positiver Entwurf, der bei Nietzsche als ›Perspektivismus‹, bei James als ›Pluralismus‹ und bei Dewey als Logik situierter Forschung begriffen wird. Ihre Ausarbeitung wird im Schlusskapitel wieder aufgegriffen. Hier geht es darum, die in die ethnografische Praxis einfließende und im Ansatz der Dekolonisierung wirksame ›Verhandlung des Anderen‹ radikal pluralistisch zu interpretieren. Die Frage könnte etwa so gestellt werden: Wie lässt sich ein anderes denken, das nicht aus einer Ich-Perspektive, die sich anderes nur vorstellt, indem es in den eigenen Kategorien untergebracht wird, in seinem Anderssein auf den Begriff gebracht werden kann? Offenbar muss hier eine Idee ins Spiel kommen, die Bedingungen für eine Vielzahl von unterschiedlichen Perspektiven definiert, die so beschaffen sind, dass sie füreinander weder vollkom 63 Vgl. Dipesh Chakrabarty, Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung [2000], übers. v. R. Cackett, Frankfurt a. M., New York 2010. 64 Vgl. John Dewey, Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln [1929], übers. v. M. Suhr, Frankfurt a. M. 2001, S. 27.
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men transparent noch gänzlich opak sind. Eine Perspektive, die aus ihrem Blickwinkel heraus die Gesamtheit alles perspektivisch Sichtbaren darstellen könnte, wäre gerade keine Perspektive. Sie kann in der Idee perspektivischer Mannigfaltigkeit keinen Platz finden. Mit ihr verschwindet ein objektiver Maßstab, der imstande wäre, die perspektivischen Erkenntnisgewinne anhand einer außerperspektivisch zugänglichen Realität auf einer Skala des Mehr oder Weniger anzuordnen. Das bedeutet natürlich nicht, dass diese Idee des Pluralismus keine Selbstreferenz zulässt. Ganz im Gegenteil wird sie sogar dahin tendieren, die selbstreferentielle Seite verschiedener Perspektiven – wenn auch ›nur‹ an sich selbst – zu messen. Mit der Idee von Perspektiven, die sich nicht gegenseitig (als jeweils andere) erschließen, kann das Problem des Anderen verbunden werden. Fraglich ist, wie Perspektiven eingenommen werden – oder auch wem eine Perspektive zukommt. Gibt es eine Entität des Anderen, die den Perspektiven zugrunde liegt? Auch hier muss gelten, dass es keine Entitäten geben kann, die außerperspektivisch bestimmbar sind. Die Formel ›weder vollkommen transparent noch gänzlich opak‹ impliziert bereits, dass es sich um eine Art Kollektive handeln muss, denen Perspektiven zugesprochen werden. Es muss Übergänge von hier nach da geben können, wenn die Einzelperspektiven nicht radikal isoliert voneinander sein sollen – was ihre monistische Singularität bedeuten würde, weil sie keine anderen Perspektiven als andere wahrnehmen könnten. Eine kollektive Perspektive, die sich von anderen unterscheidet, setzt sich etwa als ein Dispositiv – oder besser: Mikro-Dispositiv – zusammen. Mit diesem Begriff können die Dispositionen artikuliert werden, die inmitten einer wandelbaren Praxis stets fragmentierte, endliche Perspektiven zusammensetzen. Damit sind sie auf Kollektive bezogen, die sich in konkreten praktischen Zusammenhängen miteinander vernetzen. Das schließt nicht aus, dass auch globale Bezüge oder besondere geografische Lokalitäten eine Rolle spielen.65 Kulturelle Praktiken sind nicht auf vorab definierte Kulturkreise zu beschränken. Diese Überlegung hat weitreichende Konsequenzen, die unter anderem die diskursive Stabilität religionsgeschichtlicher Einteilungen innerhalb der Kulturtheorie betreffen. Wie kann sinnvoll von einem bestimmten ethnologischen Kulturtyp gesprochen werden, wenn diese historische Ableitung, eben nicht zu den großen Weltreligionen zu gehören, an Relevanz verliert? 65 Vgl. zum Begriff der Glokalisierung Roland Robertson, »Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit«, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 192–220.
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Vielleicht erscheint es nicht zuletzt aus diesem Grund unbefriedigend, die Rede von ›primitiven Kulturen‹ durch die von ›sogenannten primitiven Kulturen‹ (nach dem Vorbild von Lévi-Strauss) zu ersetzen. Wie kann es gelingen, eine derartige Verlegenheit zu umgehen? Aus meiner Sicht könnte die Antwort lauten: indem angenommen wird, dass mit anderen Perspektiven stets verbunden ist, dass sie sich selbst artikulieren. Die von Gayatri Spivak geäußerte Kritik an einer Philosophie, die das geschichtsphilosophische Erbe der intellektuellen Repräsentation der Arbeiterschaft oder anderer prinzipiell ausschlägt, und stattdessen dafür plädiert, dass die, wie sie sagt, ›Subalternen‹ selber sprechen, greift an diesem Punkt zu kurz.66 Oder vorsichtiger gesagt: Selbst wenn es richtig ist, dass Foucault und Deleuze – auf diese beiden bezieht sich ihre Kritik ganz explizit – primär europäische Verhältnisse bearbeiten (und damit weniger auf postkoloniale Themen gerade auch im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre eingehen), so bedeutet das nicht, dass ihre Kritik an der traditionellen Rolle der Intellektuellen nicht stichhaltig wäre.67 Den repräsentativen Identitäten liegt etwas zugrunde, das ihr Zustandekommen, ihre in Machtbezügen verstrickten Konstruktionen erst erklärt. An diesem Punkt können die Bedingungen des Sagbaren (oder auch des Sichtbaren) thematisiert werden. Allerdings genügt das insofern nicht, als es gerade auch darum geht, nicht nur die strukturellen Hintergründe vorhandener Gegebenheiten zu klären. Wäre dies der Fall, so wäre mit Spivak eine reale Situation der Unterwerfung durch eine stets nur wohlfeile Deklaration, die anderen sollten doch für sich selbst sprechen, unhintergehbar. Wenn es aber stimmt, dass kulturelle oder gesellschaftliche Identitäten stets hervorgebracht werden, dann gibt es auch eine Praxis, die diesem Sachverhalt entspricht. Sie kann dann gerade nicht im Rekurs auf stabil definierte Einheiten, sondern nur im Ausgreifen auf komplexe, wandelbare und in differentiellen Milieus gebildete Verhältnisse, die selbst empirische Spuren hinterlassen, genauer gefasst werden: eine Mikrosoziologie, wie Deleuze und Guattari im Anschluss an Gabriel Tarde sagen. Sie erlaubt es, den Differenzen mikrologischer Verhältnisse vor den repräsentativen Identitäten den Primat einzuräumen. Sie erläutert den kostspieligen Aufwand, der betrieben werden muss, wenn bestehende Strukturen sich reproduzieren. Und sie deutet auf den Zu 66 Vgl. Gayatri Spivak, Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation [1988], übers. v. A. Joskowicz u. S. Nowotny, Wien 2008, S. 42ff. 67 Vgl. Michel Foucault, Gilles Deleuze, »Die Intellektuellen und die Macht. Gespräch zwischen Foucault und Deleuze«, in: Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a. M. 1978, S. 128–140.
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sammenhang hin, der zwischen einem philosophischen Ansatz, immanent zu denken, und der von Ethnolog*innen besprochenen Zersplitterung des Feldes in eine Mannigfaltigkeit kleiner anderer Felder besteht. Immer wieder ergibt sich so dasselbe Resultat. Wenn anderes nicht auf anderes reduzibel ist, dann muss es in der Lage sein, sich selbst als anderes zu formieren – sonst wäre es nicht.68 Fremdheit entsteht dort oder ist dort akut, wo von einem Feld in ein anderes übergegangen oder hinübergesprungen wird. Sie ist selbst nicht stabil, weil sie erfahren wird und dann zugleich in einem Werdensprozess steht. Es macht daher keinen Sinn, wie Lévi-Strauss, einem vergangenen Ideal nachzutrauern oder der Illusion anzuhängen, eine Kultur in dem, was sie ausmacht, auszugraben. Eine wissenschaftliche Illusion – zweifellos. Stattdessen möchte ich an Artaud erinnern, an die Texte, die sich mit seiner Reise nach Mexiko ins Land der Tarahumaras beschäftigen. Ihm geht es gar nicht darum, Erkenntnisse zu gewinnen oder Wissen anzuhäufen. Aber es geschieht etwas, mit ihm und mit den Leuten, die er trifft; es geschieht etwas zwischen ihnen. Sie verwandeln sich durcheinander, weil sie es miteinander zu tun bekommen. Und im Grunde geschieht dies immer, wenn die Felder überlappen – nur will man es nicht wahrhaben und weiß nichts damit anzufangen. Artaud schrieb: »Das sind des Indianerhäuptlings eigene Worte, ich gebe sie nur wieder, und zwar nicht so, wie er sie mir gesagt hat, sondern so, wie ich sie in den phantastischen Erleuchtungen des Ciguri rekonstruiert habe.«69 Wird der Informant von einem bloßen Daten-Lieferant zu einem Akteur eigenen Rechts – oder doch wieder nur missbraucht für ein weiteres europäisches Abenteuer? Vielleicht kann man sagen, dass Artaud den Tarahumaras etwas zurück gibt (weil er selbst etwas hinzudichtet, auf eigene Verantwortung) – die Zeugnisse eines lebhaften Austauschs, und eine ge 68 Bevor europäische Kolonisierende, Reisende, Missionare und dann auch Ethnolog*innen ferne Landstriche bevölkerten oder besuchten, hatten die Leute dort schon miteinander gesprochen. Mit der Gegenwart der Europäer*innen haben sich die Lebensverhältnisse bereits deutlich verändert. Die Frage ist hier, wie sie sich verändert haben – und wie mit diesen Veränderungen umgegangen wurde. Forschende, die nur eine ursprüngliche Kultur erforschen wollen, zielten deshalb schon im Ansatz an der Problemstellung vorbei. – Spivak ist zuzugeben, dass die Geschichte der Sieger die Besiegten zum Verstummen bringt. Aber wie ist die Siegerpose zu verhindern, wenn damit begonnen wird, für andere zu sprechen –, wenn diese nicht wenigstens bereits angefangen haben sich selbst zu artikulieren? Das Leben der infamen Menschen kann im Archiv aufgestöbert werden. 69 Antonin Artaud, Mexiko. Die Tarahumaras [1947, 1964], übers. v. B. Weidmann, München 1992, S. 12. Vgl. ebd. S. 16, 52.
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gen-koloniale Reflexion im Theater der Grausamkeit, eine teilnehmende Beobachtung postdramatischen Typs, in europäischer Form und adressiert an die französische Bevölkerung – und doch im Auftrag einer Dekolonisierung von fest gefügten Denkweisen, die sich durch die Produktion und stetige Reproduktion einer minderen oder als minderwertig erachteten Existenzweise auszeichnen.
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3. Religion und Aufklärung: Nietzsches Kritik der Säkularisierungsthese1
Nietzsches Satz »Gott ist todt!« scheint sich leicht in die simpelsten Bahnen einer in der Tradition der europäischen Aufklärung betriebenen Religionskritik einzufügen. Und doch klingt er anmaßend und schrill, fast skurril – ein bloß historisches Dokument mit entsprechend anachronistischem Pathos? Oder liegt in seiner sperrigen Art etwas Unzeitgemäßes, das auf die Gegenwart Bezug nimmt, weil er sie auf Abstand hält? Der Satz steht nicht allein, sondern gehört in eine Reihe: »Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!« Sie befindet sich im dritten Buch der Fröhlichen Wissenschaft – in einem Abschnitt, auf den in der Regel verwiesen wird, wenn der Satz »Gott ist tot« zitiert wird.2 In ihrer Zusammenstellung wird deutlicher, was im ersten Satz, isoliert für sich genommen, nur merkwürdig schien: dass die Zuschreibung des Totseins allein dann sinnvoll ist, wenn ein jetzt totes Wesen zuvor gelebt hat. Und zwar muss es gelebt haben als ein Wesen, das getötet werden kann –; das also sterblich oder endlich ist. Auch wenn es keines natürlichen Todes gestorben ist. Dieser Gott scheint daher nicht der christliche Gott sein zu können. Eher könnte man an sterbliche Götter denken, an den ägyptischen Osiris vielleicht, oder auch an die Dämonen der griechischen Mythologie, wie sie prominent in Plutarchs Text über das Verschwinden der Orakel auftreten. In diesem Text ist auch vom Tod des großen Pan die Rede – von einem Tod, der nicht als eine Tatsache gilt, sondern als Gerücht und Glaubenssache.3
1 Eine frühere Version dieses Textes erschien unter dem Titel »Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!« in: Dominik Becher (Hg.), Brisantes Denken – Friedrich Nietzsche in Philosophie und Popkultur, Leipzig 2019. 2 Vgl. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft [1882, 21887], in: Kritische Studienausgabe [KSA], hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 3, München u. a. 1988, S. 343– 651, hier S. 480–482. 3 Vgl. Plutarch, Vom Verfall der Orakel (de defectu oraculorum), in: ders., Moralia, Bd. 1, hg. v. C. Weise, übers. v. C.N. v. Osiander, G. Schwab, Wiesbaden 2012, S. 706–747.
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Darin steckt mehr als ein Hinweis. Zunächst einmal wird die Originalität von Nietzsches Satz relativiert. Das ist nicht erstaunlich – und auch keine neue Erkenntnis. Das Thema vom Tod Gottes ist um 1800 und noch lange danach durchaus präsent. Karl Löwiths inzwischen kanonische Geschichte der Philosophie von Hegel zu Nietzsche kreist nicht zuletzt um dieses (religionskritisch verstandene) Thema.4 Zweitens kommt durch die Aufmerksamkeit auf die Subjektposition der Äußerung in den Blick, dass es nicht einfach Nietzsche ist, der hier spricht, sondern der »tolle Mensch«. Der Satz steht in kontextuellen Beziehungen des bereits genannten Paragraphen der Fröhlichen Wissenschaft. Für sein Verständnis ist es notwendig, ihn in einem spezifisch von Nietzsche erarbeiteten Zusammenhang zu platzieren und die Abweichungen von älteren Auffassungen dieses Todes zu berücksichtigen. Gott ist nicht einfach nur tot, sondern »Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!« Das jedenfalls sagt der tolle Mensch. Und dabei geht es – wie auch bereits bei Hegel oder bei Heine – um den christlichen Gott. Das ist völlig eindeutig und wirft die besagten Schwierigkeiten auf. Im Folgenden wird von einer Problematik ausgegangen, die gegenwärtig einige Aktualität für sich beanspruchen kann. Es geht um die Frage, inwiefern die Religion durch Aufklärung und Modernisierung in Misskredit gebracht wurde und ob in diesem Prozess möglicherweise etwas schiefgelaufen ist. Es sind vielfältige Stimmen, die sich in letzter Zeit mit dieser Frage beschäftigt haben. Und es ist Nietzsche, der mit seinen Überlegungen zum Tod Gottes eine bemerkenswerte Alternative zu den landläufigen Auffassungen moderner Geschichts- und Säkularisierungstheorien entwickelt hat. Die Beschäftigung mit Nietzsches Satz steht damit in einem Zusammenhang, der durch die seit einiger Zeit zu beobachtende Intensivierung der Auseinandersetzung mit Fragen der Religion auch in philosophischen Kreisen bestimmt ist. Dabei gehe ich davon aus, dass die neuerdings vermehrt diskutierten Fragen nach dem Gewicht der Religion mit der Problematik der postkolonialen Reflexion auf die Diskurse über andere Religionen und Kulturen eng verbunden sind. Die Aufklärung erschöpft sich gewiss nicht im Kolonialismus. Dennoch hat es sich als zunehmend unabweisbar herausgestellt, dass wenigstens ihre Schattenseiten mit einer hybriden Selbsteinschätzung des aufgeklärten Europäers – in vergleichender Differenz zur Bevölkerung der von ihm kolonisierten Länder außerhalb Europas – zu tun haben. Die in den letzten Jahren und 4 Vgl. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neuzehnten Jahrhunderts [1941], Hamburg 1986, insbesondere S. 350–415.
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Jahrzehnten geführten Debatten um Fetischismus und Animismus, die rasch anwachsende Anzahl postkolonialer Studien und Arbeitsfelder unterhalten in der Sache mit der säkularisierungstheoretisch ausgerichteten Geschichte der ›Entzauberung der Welt‹ direkte kritische Beziehungen.5 In Frage steht das durch die europäische Philosophie der Aufklärung etablierte »Verdrängungsmodell« der Säkularisierung.6 Den Ausdruck verwendet Jürgen Habermas in seiner Dankesrede, die er zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Jahr 2001 gehalten hat. Oder, mit Bruno Latour gesprochen, handelt es sich um eine ungerechtfertigte Annahme, davon auszugehen, dass die spezifischen Gehalte religiöser Überzeugungen restlos in den wissenschaftlichen Diskurs überführt werden können.7 Trotz vieler Unterschiede stimmen also Habermas und Latour, zwei der weithin vernommenen Stimmen in den gegenwärtig geführten Debatten zu diesem Thema, darin miteinander überein, dass sie die klassisch moderne Fassung des Verhältnisses von Wissen und Glauben erneut problematisieren.8 Beide verwenden den Begriff der Übersetzung, um das Unabgegoltene dieses Verhältnisses in den geläufigen religionskritischen Denkweisen herauszuheben. »Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung«, so Habermas.9 Und auch Latour situiert die Aktualisierungsmöglichkeit der religiösen Rede in einem Übersetzungsvorgang.10 Die Dinge des (religiösen) Glaubens sind nicht in Diskursen des Wissens aufzuheben – und zwar die christlichen ebenso wenig wie die von europäischen Anthropologen, Soziologen und Historikern11 lange Zeit diffamierten Formen des religiösen ›Aberglaubens‹ – sei es so genannter ›primitiver‹ Völker oder auch asiatischer (bzw. ›orientalischer‹) oder überhaupt auch ›populärer‹ Kulturen. Aus der Sicht Nietzsches markiert die Banalisierung von Gottes Tod eine weitreichende Fehleinschätzung der mit diesem »ungeheuren Ereignis« ver 5 Vgl. Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2006 und Irene Albers, Anselm Franke (Hg.), Animismus – Revisionen der Moderne, Zürich 2015. 6 Vgl. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, in: https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/sixcms/media.php/1290/2001_habermas.pdf, S. 1–16, hier S. 10. 7 Vgl. Bruno Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede [2002], übers. v. Achim Russer, Berlin 2016. Diesem misslingenden ›Überführen‹ entspricht Habermas’ Rede vom Verdrängen. 8 Vgl. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Berlin 2019. 9 Habermas, Glauben und Wissen, a. a. O., S. 15. 10 Latour, Jubilieren, a. a. O., S. 25–30. 11 Ich vernachlässige hier und in ähnlichen Fällen eine gegenderte Schreibweise, weil es sich bei besagten Wissenschaftlern ausnahmslos um Männer handelt.
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bundenen modernen Lage.12 Während der tolle Mensch am hellen Vormittag mit einer Laterne auf dem Markt herumgeht und lauthals die Ermordung Gottes verkündet – lachen ihn die Umstehenden nur aus. Aus ihrer Sicht verbindet sich nichts damit – nur der Irrsinn eines Verirrten, der etwas sucht, verkündet oder betrauert, was keine wirkliche Bedeutung besitzt. Als ob die Säkularisierung, die Transformation der Glaubensinhalte in solche des Wissens reibungslos geglückt sei. Das ist für Nietzsche alles andere als plausibel. Und hier verbinden sich erneut einige Stränge aktueller Diskussionen. Nietzsche beschreibt eine Krise seiner Zeit, indem er sie mit dem Konzept des Nihilismus beantwortet. Dieses Konzept steht in einem Spannungsverhältnis zu demjenigen der Säkularisierung. Gegenwärtig mehren sich die Stimmen, die angesichts einer beschleunigten, radikal entwurzelnden Modernisierung, Globalisierung und Digitalisierung nicht nur den Verlust traditioneller Lebensformen (oder Werte) problematisieren, sondern auch ein neues Verständnis für die Religionen einfordern. Das kann sehr verschiedenes heißen: Sinnstiftung in allen möglichen Formen – z. B. im Sinne kultureller Fundamente aber auch demokratischer Qualitäten, die in den normativ geregelten lebensweltlichen Anerkennungsverhältnissen gründen: Habermas spricht davon, dass sich die vernunftrechtliche Legitimation von Recht und Politik aus »längst profanisierten Quellen der religiösen Überlieferung« speist.13 Zu denken wäre aber auch an die Grenzen der Vernunft oder daran, dass die Religion nicht in Gedanken aufzuheben ist, weshalb eine Lücke entsteht, die es auf die eine oder andere Weise aufzufüllen gilt; oder auch an die postkoloniale Aufklärungskritik, die insbesondere die geschichtsphilosophischen und anthropologischen Vorurteile einer eurozentristischen Wissenschaftskultur zurückweist. Das Kapitel gliedert sich in drei Teile. Zunächst wird die Rede vom Tod Gottes erläutert, wie sie bei Hegel in kritischer Bezugnahme auf die Philosophie der Aufklärung und bei Heine in kritischer Fortsetzung Hegels auftaucht. Auf diese Weise werden die Bezugsfelder sichtbar, auf die Nietzsche mit seinen Überlegungen reagiert. Im mittleren Teil kommt Nietzsche zu Wort. In den Fokus geraten hier nicht nur die religionskritischen, sondern die mit ihnen verbundenen modernetheoretischen, im Begriff des Nihilismus gebündelten Ideen. Abschließend werden einige Schlussfolgerungen aus dem Gesagten gezogen und mit den aktuellen Diskussionen konfrontiert. 12 Vgl. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, a. a. O., S. 481. 13 Vgl. Habermas, Glauben und Wissen, a. a. O., S. 12.
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3.1 Geist des Absoluten In einer frühen, kurz nach der Jahrhundertwende erscheinenden Schrift über Glauben und Wissen (1802) entwickelt Hegel einen für seine Philosophie charakteristischen Umgang mit dem ›reflexionsphilosophischen Gegensatz‹ seiner Zeit. Die Reflexion ist danach an eine menschliche Subjektivität gebunden, die ihre Wissensfelder empirischer Erkenntnisse durch Verstandestätigkeit absteckt – und darüber hinaus auf ein Absolutes bezogen bleibt, das sich aber dem Begriff entzieht. Dem Positivismus des Wissens entspricht ein Positivismus des Glaubens. Dieser Gegensatz sabotiert die Relevanz einer Vernunft, die sich selbst im Medium des Absoluten weiß. Er schreibt: »Da der feste Standpunkt, den die allmächtige Zeit und ihre Kultur für die Philosophie fixiert haben, eine mit Sinnlichkeit affizierte Vernunft ist, so ist das, worauf solche Philosophie ausgehen kann, nicht, Gott zu erkennen, sondern, was man heißt, den Menschen. Dieser Mensch und die Menschheit sind ihr absoluter Standpunkt, nämlich als eine fixe, unüberwindliche Endlichkeit der Vernunft, nicht als Abglanz der ewigen Schönheit, als geistiger Fokus des Universums, sondern als eine absolute Sinnlichkeit, welche aber das Vermögen des Glaubens hat, sich noch mit einem ihr fremden Übersinnlichen an einer und anderer Stelle anzutünchen.«14
Der menschlichen Endlichkeit der Vernunft steht ein ihr fremdes Übersinnliches entgegen, das nicht in den Bereich des Wissens fällt, sondern zum Glauben zählt. Die Philosophie, die diese abstrakte Trennung vornimmt, trägt, wie Hegel drastisch sagt, »den Pfahl des absoluten Gegensatzes unbeweglich in sich eingeschlagen.«15 Der Standpunkt der Endlichkeit macht es unmöglich, »Gott zu erkennen« bzw. das Göttliche als substanzielle Identität der philosophischen Idee des Absoluten zu begreifen. Aus diesem Grund muss die Religions- und Metaphysikkritik der Aufklärung scheitern.16 Sie vermag es nicht, das Endliche, Sinnliche, Menschliche zu 14 Georg W. F. Hegel, »Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie«, in: ders., Jenaer Schriften 1801–1807, Werke Bd. 2, Frankfurt a. M. 1990, S. 287–433, hier S. 299. 15 Hegel, Glauben und Wissen, a. a. O., S. 299. 16 »Der glorreiche Sieg, welchen die aufklärende Vernunft über das, was sie nach dem geringen Maße ihres religiösen Begreifens als Glauben sich entgegengesetzt betrachtete, davongetragen hat, ist beim Lichte besehen kein anderer, als daß weder das Positive, mit dem sie sich zu kämpfen machte, Religion, noch daß sie, die gesiegt hat, Vernunft blieb und die Geburt, welche auf diesen Leichnamen triumphierend als das gemeinschaftli-
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überschreiten – und damit auch dem Göttlichen näher zu kommen. Vielmehr stößt sie es von sich als ein Anderes, das sich nicht wirklich (in Kunst, Religion oder Philosophie) manifestieren kann. Selbst noch bei Kant wird die Philosophie zur »Magd eines Glaubens« degradiert, und zwar eines Glaubens, der im »Sehnen und Ahnen« kulminiert.17 Wo aber das Übersinnliche fassbar erscheint, dort wird es notwendig verdinglicht und zur unmittelbaren Gegebenheit erklärt. »Die Religion baut im Herzen des Individuums ihre Tempel und Altäre, und Seufzer und Gebete suchen den Gott, dessen Anschauung es sich versagt, weil die Gefahr des Verstandes vorhanden ist, welcher das Angeschaute als Ding, den Hain als Hölzer erkennen würde.«18 Die intellektualisierte, entzauberte Welt wäre von hier aus betrachtet zunächst einmal diejenige des Verstandes und der Verstandeswissenschaften. Mit Kant gesprochen, handelt es sich bei diesen um die auf mathematischen Grundlagen aufbauenden exakten Naturwissenschaften. Sie gewährleisten die prinzipielle Berechenbarkeit der Welt – und zugleich die Preisgabe unberechenbarer Mächte. Während im sogenannten Aberglauben die Prinzipien der Erfahrung durcheinander geraten beharrt die Philosophie der Aufklärung auf den methodisch gesicherten Erkenntnisgrenzen und auf dem mit ihnen zugleich eingeräumten Platz eines nicht widerlegbaren Glaubens. Diesem einfachen Verdrängungsmodell der Säkularisierung widerspricht Hegel. Aus seiner Sicht korrespondiert es mit einem Gefühl, auf dem – einem berühmten Zitat zufolge – die ›Religion der neuen Zeit‹ gründet. Dieses Gefühl nun drückt sich aus in dem Satz ›Gott ist tot‹. Damit ist gesagt, dass dieser Tod – wie z. B. Schillers Diagnose von der ›entgötterten Natur‹ – die dem populären Zeitgeist geschuldete Banalisierung der Religion (und mit ihr: des Absoluten) artikuliert. Für Hegel allerdings, und dies im Unterschied zu Nietzsche, ist dieser Tod nur ein Gefühl: ein Gefühl der Abwesenheit Gottes, das einerseits die notwendige Vernichtung des Endlichen, die Vergänglichkeit benennt und andererseits ein verwandeltes Hervorkommen aus dem zugrunde Gegangenen: das Unvergängliche. Daher bezeichnet Hegel die gefühlte Gottlosigkeit lediglich als ›Moment der höchsten Idee‹, ein Moment in ihrer Bestimmung als Totalität aufzuerstehen.
che, beide vereinigende Kind des Friedens schwebt, ebensowenig von Vernunft als echtem Glauben an sich hat.« Hegel, Glauben und Wissen, a. a. O., S. 288. 17 Vgl. ebd., S. 288, 289. 18 Ebd., S. 289–290.
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»Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur […] als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot […] –, rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein […] die höchste Totalität […] aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß.«19
Der spekulative Karfreitag ist die sublimierte Fassung des historischen Geschehens, dass Gott seinen Sohn opferte, das Sterben zu durchleiden, den Kelch bis zur bitteren Neige zu leeren – um doch zuletzt in den Himmel aufzufahren. In der Verneinung des Endlichen liegt die Auferstehung, in der Negativität das Wesen, in der unendlichen Vermittlung die begriffliche Struktur der höchsten Idee. Christus verkörpert nach Hegels Ausführungen zu den Anfängen der scholastischen Philosophie das »Los aller Menschen«, dem Natürlichen zu entsagen und im Schmerz des Todes wieder geboren zu werden – im Sinne einer Auferstehung im heiligen Geist.20 Der Satz ›Gott ist tot‹ bezeichnet damit einen Übergang, der unvermeidlich ist, so dass das wahrhaft Göttliche aus dem bitteren Ernst seiner Abwesenheit (im Endlichen) hervorgeht. Auch kunsthistorisch lässt sich dieser Übergang nach Hegel in der Entstehung der nachklassischen, romantisch-christlichen Kunstform verorten. Mit ihr verschwindet der Geist aus seiner bruchlosen sinnlichen Manifestation, die sich im griechischen Ideal – in einer Vergangenheit der Kunst – verkörperte. Hegels Rede vom gefühlten Tod und seine Überlegungen zum Momenthaften erklären sich aus einer grundlegenden Ambivalenz. Auf der einen 19 Ebd., S. 432–433. 20 Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Werke Bd. 19, Frankfurt a. M. 1986, S. 526: »Christus ist ein vollkommener Mensch gewesen, hat das Los aller Menschen, den Tod, ausgestanden; der Mensch hat gelitten, sich geopfert, sein Natürliches negiert und sich dadurch erhoben. In ihm wird dieser Prozeß, diese Konversion seines Andersseins zum Geiste, selber angeschaut, und die Notwendigkeit des Schmerzes in der Entsagung gegen die Natürlichkeit; aber dieser Schmerz, daß Gott selbst tot ist, ist die Geburtsstätte der Heiligung und des Erhebens zu Gott. So wird also, was im Subjekte vorgehen muß, so wird dieser Prozeß, diese Konversion des Endlichen als an sich vollbracht in Christo gewußt.« (Herv. MR)
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Seite liegt in der Aufhebung des tödlichen Moments eine Übersetzung der Vorstellungen von Gott in den philosophischen Geist. Auf der anderen Seite verschwinden diese Vorstellungen als religiöse Vorstellungen. Aufheben meint Bewahren und Vernichten zugleich. Es handelt sich um eine Transformation, die zweideutig bleibt und in zwei widerstreitenden Deutungslinien (von rechts und links) in der Hegelschule rezipiert wurde. Anders gesagt: Gott ist nicht wirklich tot, es war nur ein Gefühl, denn er überlebt und bewahrt sein substanzielles Wesen. Die Säkularisierungstheorie der Aufklärung bringt für diesen transformativen Prozess kein Verständnis auf. – Oder in dem Gefühl steckt noch etwas anderes: ein quasi spekulativ-idealistischer Säkularisierungsmechanismus einer Aufhebung zweiter Stufe, wenn von der Religion in der Auseinandersetzung mit der Philosophie, von ihren Anschauungen und Glaubensvorstellungen im Konflikt mit der Vernunft nichts, aber auch wirklich nichts übrigbleibt. Es ist bekannt, wie Feuerbach oder Marx mit dieser Ambivalenz umgehen. Aus ihrer Sicht verlängert sich das theologische Moment in die Idee des Absoluten. Die Religionskritik muss daher forciert werden und betrifft auch Grundlagen der von Hegel beschriebenen Transformationen. Ohne diese Aspekte im Einzelnen weiter vertiefen zu wollen, wird hier nur kurz Heinrich Heine zu Wort kommen, der in Anlehnung an die Philosophie der Aufklärung und des sogenannten Deutschen Idealismus den Gedanken vom Tod Gottes – nicht als Moment, sondern eher als Ausgang dieser Geschichte verstanden – weiter zuspitzt: »Unsere Brust ist voll von entsetzlichem Mitleid – es ist der alte Jehova selber, der sich zum Tode bereitet. Wir haben ihn so gut gekannt, von seiner Wiege an, in Ägypten, als er unter göttlichen Kälbern, Krokodilen, heiligen Zwiebeln, Ibissen und Katzen erzogen wurde – Wir haben ihn gesehen, wie er diesen Gespielen seiner Kindheit und den Obelisken und Sphinxen seines heimatlichen Niltals Ade sagte und in Palästina, bei einem armen Hirtenvölkchen, ein kleiner Gott-König wurde, und in einem eigenen Tempelpalast wohnte – Wir sahen ihn späterhin, wie er mit der assyrisch-babylonischen Zivilisation in Berührung kam, und seine allzumenschlichen Leidenschaften ablegte, nicht mehr lauter Zorn und Rache spie, wenigstens nicht mehr wegen jeder Lumperei gleich donnerte – Wir sahen ihn auswandern nach Rom, der Hauptstadt, wo er aller Nationalvorurteile entsagte, und die himmlische Gleichheit aller Völker proklamierte, und mit solchen schönen Phrasen gegen den alten Jupiter Opposition bildete, und so lange intrigierte bis er zur Herrschaft gelangte und vom Kapitole herab die Stadt und die Welt, urbem et orbem, regierte – Wir sahen, wie er sich noch mehr vergeistigte, wie er sanftselig wimmerte, wie er ein liebevoller Vater wurde, ein allgemeiner Menschenfreund, ein Weltbeglücker, ein Philanthrop – es
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konnte ihm alles nichts helfen – Hört Ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder – Man bringt die Sakramente einem sterbenden Gotte.«21
Die geistige Sublimierung, die moralischen Konsequenzen formaler Abstraktion bringen den Gott in eine äußerst missliche Lage. Seine Abmagerungskur endet tödlich. Sein Tod wird durch eine Revolution besiegelt, die den Deismus stürzt, die natürliche Religion der Aufklärung, den »Schlußstein des geistigen alten Regimes.«22 Es handelt sich um eine Revolution, die sich in der deutschen Philosophie ereignet – und die die Französische Revolution komplettiert. Mit ihr [der deutschen Philosophie] verbindet Heine in letzter Instanz eine Sozialphilosophie, die nicht nur das absolute Wissen, sondern mit ihr auch noch die Hegelschen Momente der Geschichtsphilosophie verabschiedet. Eine Philosophie des Sozialen, die die philosophische Übertragung des religiösen Erbes in einen dialektisch strukturierten Diskurs problematisieren muss. Die Hypothese der substanziellen Identität von Religion und Philosophie erscheint von hier aus allzu voraussetzungsvoll. Und das von der Aufklärung verfochtene Verdrängungsmodell der Säkularisierung vermag ebenso wenig zu überzeugen, weil es – mit Hegel gesagt – an dem reflexionslogischen Gegensatz oder auch an einer Vernunftreligion festhalten muss. Heine wendet sich hier zu Spinoza zurück – und sucht nach fragmentarischen Vermittlungen von Körper und Geist im Milieu des Sozialen.23 Wohl unternimmt auch Heine eine Übersetzung, wenn er für die »Gottesrechte des Menschen« eintritt, aber es ist keine im Sinne von Hegel, die imstande wäre, die Verzweiflung zu beschwichtigen, die mit dem Tod Gottes, nicht als Moment, sondern als Ende der Geschichte, verbunden wäre. In den Vorlesungen über die Philosophie der Religion beschreibt Hegel einmal, was Tod und Verzweiflung bedeuten könnten: »Gott ist gestor 21 Heinrich Heine, »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland« [1834], in: ders., Schriften über Deutschland, Werke Bd. 4, Frankfurt a. M. 1968, S. 44–165, hier S. 120. 22 Vgl. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie, a. a. O., S. 119. 23 »Wir befördern das Wohlsein der Materie, das materielle Glück der Völker, nicht weil wir […] den Geist mißachten, sondern weil wir wissen, daß die Göttlichkeit des Menschen sich auch in seiner leiblichen Erscheinung kund gibt, und das Elend den Leib, das Bild Gottes zerstört […] und der Geist dadurch ebenfalls zu Grunde geht. […] Wir kämpfen nicht für die Menschenrechte des Volks, sondern für die Gottesrechte des Menschen.« Ebd., S. 101. Die Überlegungen Heines sind nicht auf diejenigen Feuerbachs oder Marx’ zu reduzieren. Bei ihm ist der Mensch weder als weiterhin idealisiertes Gattungswesen noch als revolutionäres Geschichtssubjekt begriffen. Seine fragmentierte Sozialität zerbricht auch das historische Kontinuum.
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ben, Gott ist tot – dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden.«24
3.2 Nihilismus und Religionskritik Die Gottlosigkeit, die in Rettungslosigkeit umschlägt: das ist das Thema, das Nietzsche mit seiner Figur des tollen Menschen anschlägt. Was für Hegel nur eine Vision des Schreckens ist, das wird für Nietzsche blanke Wirklichkeit – eine Wirklichkeit, die auszusprechen Tollheit bedeutet; und die anzuhören befremdliches Schweigen evoziert. Es ist keineswegs so, dass der Tod Gottes, wie scheinbar die Frage nach seiner Existenz oder Inexistenz, das restliche Leben unberührt lässt, so dass es einfach bleiben kann, was es zuvor war. Der tolle Mensch spricht zu aufgeklärten Leuten, »welche nicht an Gott glaubten« – und die ihn auslachen, weil sie nicht verstehen können, weshalb von Gottes Tod die Rede ist, was dieser Tod sie überhaupt angehen könnte.25 »Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ›Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? […] Ist es nicht kälter geworden? […] Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet […]!‹«26
24 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 2, Werke Bd. 17, Frankfurt a. M. 1986, S. 291. 25 Vgl. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, a. a. O., S. 480. 26 Ebd., S. 480–481.
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Der tolle Mensch verkündet eine Wahrheit, die für seine Zeitgenossen unzeitgemäß bleibt. Er ereifert sich nicht wegen ihres Unglaubens. Aber er spricht von einem »ungeheuren Ereigniss«, dessen Tragweite den in ihren Gewissheiten verstrickten Selbstsicheren nicht auffällig wird. »Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.«27 Was hat es mit ihm für eine Bewandtnis? Nietzsche macht deutlich, dass der Tod Gottes einen grundlegenden Orientierungsverlust bedeutet. Mit dem Zusammenbruch des ›Heiligsten und Mächtigsten‹ implodiert eine Ordnung des Denkens, implizite Relationen moralischen und metaphysischen Typs. »Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?«28 An diesem Punkt kommt die Diagnose des modernen Nihilismus ins Spiel. Als Nihilismus bezeichnet Nietzsche den Vorgang einer ›Entwertung der obersten Werte‹. Im Vergleich mit den Säkularisierungsgedanken der Aufklärung oder auch des ›Deutschen Idealismus‹ wie bei Hegel ist die Übersetzung der religiösen Glaubensinhalte in solche des (wissenschaftlichen oder philosophischen) Wissens im Sinne der von Nietzsche geübten Nihilismusanalyse grundsätzlich problematisch. Die Analyse markiert eine Bruchstelle oder einen Riss, der sich auf den beiden Seiten des Glaubens und des Wissens bemerkbar macht. In einem nachgelassenen Manuskript aus dem Jahr 1885 erläutert Nietzsche: »Die größten Ereignisse gelangen am schwersten den Menschen zum Gefühl: z. B. die Thatsache, daß der christliche Gott ›todt ist‹, daß in unseren Erlebnissen nicht mehr eine himmlische Güte und Erziehung, nicht mehr eine göttliche Gerechtigkeit, nicht überhaupt eine immanente Moral, sich ausdrückt. Das ist eine furchtbare Neuigkeit, welche noch ein paar Jahrhunderte bedarf, um den Europäern zum Gefühl zu kommen: und dann wird es eine Zeit lang scheinen, als ob alles Schwergewicht aus den Dingen weg sei. –«29 Die zweimalige Kursivsetzung des Wörtchens ›nicht‹ verdeutlicht die nihilistische Erfahrung der Leere oder des Wert- und Sinnverlusts, die sich mit dem Tod Gottes verbinden lässt. Dass dies nicht Nietzsches letztes Wort ist, wird in der Formulierung »dann wird es eine Zeit lang scheinen« angedeutet. Mit dem Gott, der getötet wurde, verbindet sich hier zunächst das Problem der Moral.
27 Ebd., S. 481. 28 Vgl. ebd. 29 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, in: ders., Kritische Studienausgabe [KSA] Bd. 11, Berlin 1988, S. 424–425.
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Es gibt zahlreiche Textstellen, in denen Nietzsche zwischen christlicher Religion und Moral enge Verbindungen herstellt. In der Genealogie der Moral gibt er auf die Frage »[w]as […] hat eigentlich über den christlichen Gott gesiegt?« die Antwort: »die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen […].«30 Im Nachlass aus dem Sommer 1882 bringt er diesen Punkt auf die kurze Formel »Gott hat Gott getödtet. […] Die Moral starb an der Moralität.«31 Oder nochmals ausführlicher: »Dergestalt gieng das Christenthum als Dogma zu Grunde, an seiner eignen Moral; dergestalt muss nun auch das Christenthum als Moral noch zu Grunde gehen – wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses.«32 Die Selbstaufhebung der Moral vollzieht ihre entscheidende Wendung, wenn der Wille zur Wahrheit selbst zum Problem gemacht wird. Dieser Wille ist nicht nur ein »Rest« des alten Ideals absoluter Sinngebung, sondern er ist »jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulirung«, »somit nicht sowohl sein Rest, als sein Kern.«33 Diese Überlegung ist für die Nihilismusanalyse zentral. Das wird deutlicher, wenn die Gedankenfolge nachvollzogen wird, die sich prägnant im sogenannten Lenzer-Heide-Fragment ausdrückt. Ich beschränke mich auf vier entscheidende Punkte: Erstens haben Moral, Religion und Metaphysik »dem Menschen einen absoluten Werth [verliehen], im Gegensatz zu seiner Kleinheit und Zufälligkeit im Strom des Werdens und Vergehens.«34 Zweitens liegt die Ursache des modernen europäischen Nihilismus in der »Enttäuschung über einen angeblichen Zweck des Werdens«.35 Der Mensch hat den Glauben an seinen Wert oder an den Sinn seines Lebens verloren. Drittens wird der Glaube an die Kategorien Zweck, Einheit und Wahrheit aufgekündigt. Hier geht es nicht nur darum, eine Verlusterfahrung zu machen. Vor allem geht es darum, Wert und Sinn dieser metaphysischen Kate 30 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: KSA Bd. 5, S. 409. 31 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, in: KSA Bd. 10, S. 30. 32 Nietzsche, Genealogie der Moral, a. a. O., S. 410. 33 Vgl. ebd., S. 409. 34 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA Bd. 12, 5 [71]. 35 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA Bd. 13, 11 [99]. »Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen Sinn im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei.« Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 5 [71].
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gorien selbst infrage zu stellen. Und zuletzt: »Haben wir diese Kategorien entwerthet, so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All zu entwerthen. Resultat: der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, – wir haben den Werth der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingirte Welt beziehen.«36 Diese kritischen Überlegungen Nietzsches, die einen nihilistischen Zug in allen asketischen Idealen nachweisen, die diese Welt im Ausgriff auf transzendente Bestimmungen überschreiten, zielen gleichermaßen auf religiöse, moralische und metaphysische Annahmen. Der Transzendenzbezug artikuliert sich im Willen zur Wahrheit. Nietzsche begreift die Wahrheit hier als eine, die sich aus ihren Entstehungsgründen hinaus und heraus spekuliert; die als absoluter Wert gilt, deren Verlust die Welt wertlos aussehen lässt – und die zuletzt selbst nihilistischen Typs ist, weil sie auf geistige Realitäten abzielt, die in der wirklichen Welt keinen Platz haben. Eine Wahrheit also, die im Grunde die sinnlichen, veränderlichen, endlichen, prekären Wirklichkeiten als unwahr und wertlos herabsetzt – und damit auf einem Glauben basiert, der »eine andere Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte [bejaht]; und insofern er diese ›andre Welt‹ bejaht, wie? Muss er nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt – verneinen?«37 Im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft verbindet Nietzsche im Begriff dieses Wahrheitswillens die Wissenschaft mit der Metaphysik – und die Metaphysik mit der Moral. Selbst die Wissenschaft beruht auf einem Glauben, weil sie stillschweigend voraussetzt, dass »nichts mehr noth [thut] als Wahrheit«.38 Und der metaphysische Gebrauch eines unbedingten Wahrheitswillens verbindet ihn mit einer moralischen Orientierung: »Folglich bedeutet ›Wille zur Wahrheit‹ nicht ›ich will mich nicht täuschen lassen‹, sondern – es bleibt keine Wahl – ›ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht‹: – und hiermit sind wir auf dem Boden der Moral.«39 Die Frage nach der Wissenschaft führt zurück zur Frage nach der Moral und zu dem alten platonischen wie christlichen Glauben, »dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist… Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, […] wenn Gott selbst sich als unsere längste Lüge erweist? –«40 36 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 11 [99]. 37 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, a. a. O., S. 577. 38 Ebd., S. 575. 39 Ebd., S. 576. 40 Vgl. ebd., S. 577.
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Auch im Zarathustra spielt Nietzsche diese Überlegungen ein weiteres Mal durch. Einschlägig sind die Episoden des letzten Papstes und des hässlichsten Menschen. Es ist zunächst der Papst, der Zarathustra mit der Geschichte konfrontiert, von der alle Welt weiß: »›Was weiss heute alle Welt? fragte Zarathustra. Etwa diess, dass der alte Gott nicht mehr lebt, an den alle Welt einst geglaubt hat?‹ ›Du sagst es, antwortete der alte Mann betrübt. Und ich diente diesem alten Gotte bis zu seiner letzten Stunde. […]‹«41 Und nachdem er den letzten frommen Menschen im Wald nicht mehr finden konnte, begann er nach dem »Frömmsten all Derer« zu suchen, »die nicht an Gott glauben.«42 Zarathustra aber ist dieser Frömmste, weil er den Willen zur Wahrheit konsequent gegen sich selbst kehrt. »Irgend ein Gott in dir bekehrte dich zu deiner Gottlosigkeit. Ist es nicht deine Frömmigkeit selber, die dich nicht mehr an einen Gott glauben lässt? Und deine übergrosse Redlichkeit wird dich auch noch jenseits von Gut und Böse wegführen!«43 Zarathustra trauert nicht um diesen Gott. Mehrmals betont er, dass er seinen Augen und Ohren »wider den Geschmack« ging; z. B. war er »undeutlich. Was hat er uns darob gezürnt, dieser Zornschnauber, dass wir ihn schlecht verstünden! Aber warum sprach er nicht reinlicher?« Und überhaupt: »Zu vieles missrieth ihm, diesem Töpfer, der nicht ausgelernt hatte!«44 Stets sind es nihilistische, welt- und lebensverneinende Affekte, gegen die sich Zara thustra zu behaupten, die er zu verwandeln hat. Nicht im Elend versinken, in Trübsal und schlechten Gedanken: »›Fort mit einem solchen Gotte! Lieber keinen Gott, lieber auf eigne Faust Schicksal machen, lieber Narr sein, lieber selber Gott sein!‹«45 Den hässlichsten Menschen findet Zarathustra in einem abgestorbenen Tal, »Etwas, das am Wege sass, gestaltet wie ein Mensch und kaum wie ein Mensch […].«46 Dieser gibt Zarathustra ein Rätsel zu raten, ein Rätsel, das 41 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA Bd. 4, S. 322. Die Art seines Sterbens erklärt der letzte Papst so: »Als er jung war, dieser Gott aus dem Morgenlande, da war er hart und rachsüchtig und erbaute sich eine Hölle zum Ergötzen seiner Lieblinge. Endlich aber wurde er alt und weich und mürbe und mitleidig, einem Grossvater ähnlicher als einem Vater, am ähnlichsten aber einer wackeligen alten Grossmutter. Da sass er, welk, in seinem Ofenwinkel, härmte sich ob seiner schwachen Beine, weltmüde, willensmüde, und erstickte eines Tags an seinem allzugrossen Mitleiden.« Ebd., S. 324. 42 Vgl. ebd, S. 322. 43 Ebd., S. 325. 44 Vgl. ebd., S. 324. 45 Ebd., S. 325. 46 Ebd., S. 328.
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eine Auflösung verlangt, die sich auf den Tod Gottes und seine eigene Hässlichkeit bezieht. Zarathustra wird nur kurz vom Mitleiden gepackt, dann antwortet er: »›Ich erkenne dich wohl, […] du bist der Mörder Gottes! […] Du ertrugst Den nicht, der dich sah – der dich immer und durch und durch sah, du hässlichster Mensch! Du nahmst Rache an diesem Zeugen!‹«47 Der Mord wurde verübt von dem, der es nicht ertragen konnte, dass alle Tiefen und Abgründe, die ganze Schmach eines Menschendaseins von Gott gesehen, durchmessen, bezeugt, beurteilt werden und werden müssen. Das brachte ihn zu Fall, dass er den Menschen »mit Augen [sah], welche Alles sahn.«48 Das stürzte ihn in eine Verzweiflung, die ihn ans Kreuz nagelte. Im Unterschied zu Zarathustras Wohnstätte einer labyrinthischen Höhlenlandschaft, die unzählige Verstecke bietet, stehen Himmel und Erde für seinen Blick in alle Richtungen offen, und kein Hindernis hält ihn zurück. Auch das ist wieder eine Wahrheit, die unbedingt und unendlich ist, göttlich und nicht im Endlichen situiert, die den Menschen degradiert und ihn so zum Menschen macht. Als »Missrathene« können die höheren Menschen weder lachen noch tanzen.49 Daher spricht Zarathustra zu ihnen: »Ihr leidet mir noch nicht genug! Denn ihr leidet an euch, ihr littet noch nicht am Menschen.«50 »Gott starb: nun wollen wir – dass der Übermensch lebe.«51
3.3 Verfall der Ideale und Pluralismus der Sprachspiele Diese Formel ist kurios. Und es bringt nichts, an ihr vorüberzueilen. Mit dem Sterben Gottes erläutert Nietzsche einen Prozess, der als ›nihilistisch‹ bezeichnet werden kann, sofern in ihm die Glaubwürdigkeit der Transzendenz-Ideale hinfällig wird. Die wahrheitsorientierte moralische Selbstbefragung bringt zuletzt sich selbst – als nihilistische Unternehmung – zu Fall, weil sie die absoluten Voraussetzungen in Religion, Philosophie, Wissenschaft und Kunst nicht länger akzeptieren kann oder problematisieren muss. Sicher sind die Figuren des letzten Papstes, des hässlichsten und des tollen Menschen nihilistische Figuren, weil sie noch keinen Ausweg aus der Dia 47 Ebd., S. 328. 48 Ebd., S. 331. 49 Vgl. ebd., S. 364, 367. 50 Ebd., S. 359. 51 Ebd., S. 357.
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gnose der Wertlosigkeit einer (scheinbar) heillosen Welt erkennen können. Und der ›Übermensch‹ ist wohl kaum ein sympathischer Aspirant einer solchen Möglichkeit.52 Welche Konsequenzen verbinden sich aber mit der kritischen Analyse des Nihilismus im Vergleich mit den Säkularisierungsmodellen und ihrer gegenwärtigen Diskussion? Erst wenn dies ermittelt ist, werden ihre Plausibilität und Reichweite im Streit der religiösen und religionskritischen Positionen einzuschätzen sein. Im Grunde haben wir es bereits erkannt: der in den Säkularisierungsprozess eingeschriebene Transfer religiös-theologischer Inhalte in weltliche Verhältnisse politischen, juridischen, moralischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Typs muss entweder eine sich im Transfer erhaltende Substanz (rationaler Souveränität) oder einen letztlich strikten Gegensatz zwischen Glauben und Wissen, Gott und Welt voraussetzen. In den klassischen Modellen ist damit für den von Nietzsche analysierten Vorgang, dass Gott verstarb – und mit ihm die Haltbarkeit unvergänglicher, reinen unverfälschten Sinn verbürgender Wahrheiten – kein Platz. Die als Säkularisierung bezeichnete Rationalisierungsbewegung vermag entweder den impliziten Sinn der Religion ihrem Selbstverständnis nach zu bewahren oder sie konturiert zunehmend scharf die Grenzen des menschlichen Erkennens und damit die Bruchstelle, die auf ein anderes, den verborgenen Gott (z. B. eines reinen Formalismus), verweisen kann.53 Wie sieht Nietzsches Alternative aus? Mit der Nihilismusanalyse verbindet sich eine Kritik an den Instanzen, die für die Entwertung der Lebens 52 Die Geschichte der Rezeption des Übermenschen Nietzsches macht deutlich, dass aus der Moralkritik Konsequenzen gezogen wurden, die mit der Ablehnung humanistischer Ideale zugleich eine Entwicklungsethik im sozialdarwinistischen Sinne verbinden. Diese Lesart, die aus meiner Sicht Nietzsche nicht gerecht wird – und ihn vor allem auch nicht produktiv machen kann –, kann sich dennoch auf Textpassagen in seinen Werken stützen (das muss gesagt werden!), die das Herrentum (auch in medizinischer, pathologischer Terminologie), d. h. die Menschen, »die am Menschen als Künstler gestalten dürfen«, dem »Heerdenthier«, der »Erhaltung alles Kranken und Leidenden«, »der Verschlechterung der europäischen Rasse« entgegen stellen. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA Bd. 5, S. 82–83. Vgl. auch ebd., S. 126–128, wo die Problematik von »Entartung« und »Züchtung« noch mit der Ablehnung der »demokratischen Bewegung« in einen Zusammenhang gestellt wird. Zum größeren historischen Kontext dieser hier nur angedeuteten Problemlage vgl. meine Kritik der anthropologischen Vernunft, a. a. O., S. 401–455. 53 »Musste man nicht Gott selber opfern und, aus Grausamkeit gegen sich, […] das Nichts anbeten?« Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, a. a. O., S. 74. Vgl. zu den zwei Seiten einer Medaille die Erläuterungen zum Begriffsstatus der Säkularisierung in: Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt a. M. 1974, S. 9–18.
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verhältnisse – oder genauer: der Willen-zur-Macht-Prozesse, ihrer perspektivischen Situierung, ihrer affektiven oder körperlichen Qualitäten, ihrer temporalen, vergänglichen, keinesfalls idealisierten Existenzweisen nicht des Seins, sondern des Werdens – verantwortlich sind. Die nihilistischen In stanzen sind die Ideale des reinen Geistes, der absoluten Vernunft, der ewigen Wahrheit usw. selbst. Ihr Verlust hingegen resultiert aus ihrer kritischen Selbstbefragung. Und das Resultat dieses Prozesses wiederum ist (mindestens) die Einsicht in die Wertlosigkeit ihrer nihilistischen Funktion. Wie Nietzsche sagt: mit der wahren haben wir auch die scheinbare Welt abgeschafft. Es gibt nur noch eine nachmetaphysische Welt-Mannigfaltigkeit, die aus dem Verschwinden totalisierender, quasi-göttlicher Beobachtungsposten hervorgeht.54 An diesem Punkt scheiden sich die Geister. Hier stellt sich die Frage, wie mit dieser immanent pluralistischen Situation und Gegenwartsbeschreibung umgegangen werden soll? Handelt es sich um ein Krisenphänomen, um den »Zerfall traditionaler Lebensformen«, der nicht im Rahmen einer beschleunigten Moderne aufzuhalten oder zu kompensieren wäre – wie etwa Jürgen Habermas meint?55 Muss also der Säkularisierung und dem Wertverlust entgegen getreten werden, um nicht nur das religiöse Erbe, sondern mit ihm zugleich das humanitäre Fundament der westlichen Zivilisation bzw. die normativen Grundlagen der modernen Gesellschaft zu retten? Oder ist mit Nietzsche darauf zu insistieren, dass die Säkularisierungskritik noch einen Schritt weiter zu treiben ist, indem ihre Übertragungsfiguren aufgegeben werden, wenn sie an der nihilistischen Verurteilung der weltlichen Dimensionen und ihrer Vielfalt beteiligt sind? Anders gefragt: Gilt es, den zeitgenössischen Pluralismus grundsätzlich anzuerkennen und zu bejahen – oder doch 54 »Wer, gleich mir, mit irgend einer räthselhaften Begierde sich lange darum bemüht hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken und aus der halb christlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, mit der er sich diesem Jahrhundert zuletzt dargestellt hat […], der hat vielleicht ebendamit, ohne dass er es eigentlich wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht: für das Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es war und ist, wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu Dem, der gerade dies Schauspiel nöthig hat – und nöthig macht: weil er immer wieder sich nöthig hat – und nöthig macht – – Wie? Und dies wäre nicht – circulus vitiosus deus?« Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, a. a. O., S. 74–75. 55 Vgl. Habermas, Glauben und Wissen, a. a. O., S. 9.
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besser nur unter dem Vorbehalt einer transzendentalen Referenz auf eine im Diskurs gepflegte juridische Normativität? Aus meiner Sicht verschränken sich die Sichtweisen ohne der ausschließenden Disjunktion entgehen zu können. Zum einen ist Gott wohl definitiv tot, jedenfalls sofern er nicht existiert, wie andere Dinge existieren. Und er scheint gestorben zu sein als Garant eines wissenden Überblicks oder einer integralen Weltsynthese. In diesem Sinne haben wir ihn in Kultur, Wissenschaft oder Politik getötet. Zum anderen aber eröffnet das pluralistische Spektrum fragiler Existenzformen eine Vielzahl prinzipiell nicht auf dominierende Diskurse reduzibler Ausdrucksweisen; und unter ihnen befindet sich die religiöse Rede. Im Unterschied zur demokratiefeindlichen Haltung Nietzsches macht Habermas zurecht auf den demokratisch aufgeklärten Plural einer »vielstimmigen Öffentlichkeit« aufmerksam, in welcher nicht zuletzt »auch die säkulare Seite einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahr[en]« sollte.56 Wenngleich er hinzufügt, dass sie sich sonst von den »Ressourcen der Sinnstiftung« abschneiden würde, die im Kern in der philosophischen Übertragung nach Kantischem Modell im Sinne einer »kritischen Anverwandlung des religiöses Gehalts« eingeholt sind.57 Und damit ist gesagt, dass der durch Bindungslosigkeit ausgezeichnete moderne Pluralismus, der sich aus der fortschreitenden Säkularisierung ergeben habe, mit einer Revitalisierung des religiösen Erbes insofern konfrontiert werden müsse, als in ihm die Grundlagen des sozialen Bandes normativ geregelter Interaktionen sprach- und handlungsfähiger Subjekte historisch gelegt sind.58 Abweichend von Habermas schlage ich vor, das voll-pluralistische Konzept der Demokratie mit Nietzsches Kritik nihilistischer Ideale im Sinne außerdemokratischer Hypostasierungen zusammenzudenken. Es geht nicht darum, wie Habermas polemisch schreibt, dass eine Vernunft, die sich selbst dementiert, einen Halt in einem Gott sucht.59 Vielmehr geht es darum, dass sich eine Vernunft, die sich als situierte begreift, einzig und allein in demokratischen Selbstbestimmungsprozessen im Plural wiederfinden kann. Mit den Transzendenz-Idealen verschwindet nicht nur die Stelle des einen 56 Ebd., S. 13. Er spricht auch vom demokratischen Prozess als einer »dritten Partei« zwischen Wissenschaft und Religion. Vgl. ebd., S. 10. 57 Vgl. ebd., S. 13. 58 Vgl. zur »göttlichen Bindung« die Säkularisierungsdefinition in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, Tübingen 31960, S. 1280. 59 Vgl. Habermas, Glauben und Wissen, a. a. O., S. 14–15.
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Gottes, sondern auch die des einen Menschen. Nur deshalb kann auch vom ›Über-Menschen‹ sinnvoll die Rede sein – gerade nicht in der Weise, dass der Mensch die vakant gewordene Stelle Gottes einnimmt. Bei Latour heißt es dazu: »Glaubt ihr alle wirklich, daß die Geschichte sich auf eine Spielplatzschaukel reduzieren lassen muß, wo ›Gott‹ nur in dem Maße steigt, wie der Mensch sinkt; wo der Mensch nur triumphiert, wenn ›Gott‹ stirbt? Die Zeiten ändern sich.«60 Sie ändern sich, sofern die Säkularisierungstheorien, die auf dem Prinzip der Aufklärung menschlicher Projektionsleistungen, der Fetischisierung oder des Bildersturms beruhen, keineswegs mehr überzeugen können. An diesem Punkt behauptet sich die postkoloniale Qualität pluralistischer Konzepte, die eben nicht auf bestimmte Traditionen, Religionen, Kulturen – wie bei Habermas die bemühte ›Achsenzeit‹ – zu beschränken sind. Im Blick auf die historischen europäischen Avantgarden konnte man sagen, dass die Welt weniger von Gott entleert sei als vielmehr von seiner Inexistenz erfüllt. Von Latour stammt folgender verblüffender Satz: »Die Existenz G.s hängt nunmehr von uns ab.«61 Sollten wir etwa darüber abstimmen? Das vielleicht nicht. Aber es geht nicht länger um eine von uns unabhängige Existenz. Zumindest nicht für diejenigen, die sich – im Rahmen des mit Nietzsche gedachten toten Gottes – einer religiösen Praxis widmen oder widmen wollen. Vielleicht ist das ein überraschendes Ergebnis: Die Kritik am Verdrängungsmodell der Säkularisierung stimmt mit der im Zuge der postkolonialen Revision der Religionskritik der Aufklärung geübten zusammen – und zwar gerade auch in Bezug auf die mit ihr verbundene Abwertung nicht-europäischer Kulturen. Ein guter Prüfstein, – schließlich geht es bei der Problematik der Religionen nicht einerseits um die jüdisch-christliche oder auch islamische Tradition und andererseits noch um angeblich primitive, natürliche, archaische, indigene, schamanistische etc. Riten oder Kulthandlungen. Die moderne Ethnografie, die sich selbstkritisch von ihrer kolonialen Geschichte und Epistemologie löst, basiert ihrerseits auf einem methodischen Pluralismus, der eben auch für die Nicht-Übertragbar 60 Latour, Jubilieren, a. a. O., S. 203–204. 61 Ebd., S. 198. Mit der Kurzschrift »G.« bezeichnet Latour einen nach allem doch möglichen ›Gott‹. Seine Überlegungen beruhen in mancher Hinsicht auf seinen Ausführungen zu einer Sprache der Liebe. Inwiefern hinter oder im Inneren der Liebe noch ein Göttliches (gar der christlichen Tradition) steht, bleibt offen. Aus meiner Sicht kommt es hier lediglich darauf an, mit dem Begriff des demokratischen Pluralismus auch die irreduzible Möglichkeit eines religiösen Sprachspiels einzuräumen.
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keit der eigenlogischen Strukturen religiöser Redeweisen oder Sprachspiele einsteht. Damit verbindet sich keineswegs – wie dies aktuell im Kontext des sogenannten spekulativen, neuen oder objektorientierten Realismus behauptet wird – eine grundsätzliche postmoderne Verwirrung, die in einem allgemeinen Relativismus und Fideismus das wissenschaftliche Tatsachenwissen verspielt. Vielmehr sind die epistemischen Regelungen in der wissenschaftlichen Forschung wie auch die Diskursregeln andersartiger Sprachspiele quasi-demokratisch verbindlich: im Sinne des Fallibilismus der experimentellen Methode einerseits und im Sinne einer gemeinsamen Aushandlung der Aktualisierungsbedingungen nicht-wissenschaftlicher Redeweisen andererseits. Pluralisierung als Zerstreuung atomisierter individueller Diskursfelder ist dabei keine Lösung. Es kommt stattdessen darauf an, dass sich die unterschiedlichen Sprachspiele in Beziehung zueinander setzen (können) und sich auf diese Weise wechselseitig transformieren. Ich verändere mich durch Dich – Du veränderst Dich durch mich. Auf der Grundlage derartiger reziproker Synthesen könnte es gelingen, einen differentiellen Begriff der Übertragung zu entwerfen. Der tolle Mensch hatte also gute Gründe, die scheinbare Banalität seiner Botschaft zurückzuweisen. Mit dem Dogmatismus verschwindet eine Ordnung des Denkens, die keine Orientierung mehr bieten kann. Es ist nicht banal, könnte ich sagen, dass in Liebesbeziehungen keine Informationen ausgetauscht, keine Erkenntnisse produziert werden. Ebenso wenig dürfte in religiösen Ausdrucksweisen der Glaube an eine andere Welt, ein anderes Leben – im Sinne einer faktischen oder imaginären Referenz – relevant sein. In ihnen geht es vermutlich nicht um wissenschaftsfähige Aussagen, die über reale oder vorhandene Gegenstände informieren. Den tollen Menschen haben die um ihn Herumstehenden auf dem Marktplatz nicht verstanden. Vielleicht war das Ereignis, von dem er berichtet, zu »ungeheuer«, die Größe der Tat (der Ermordung Gottes) »zu gross für uns«.62 Es könnte also darum gehen, seiner tollen Rede ein oder zwei Ohren zu schenken – oder sogar darum, seinen Bericht weiterzugeben, über ihn nachzudenken und mit anderen auszuhandeln, wie mit ihm umzugehen wäre. Und dies, auch wenn der Text eines Tages vielleicht (als nur historisch) beiseitegelegt werden mag.
62 Vgl. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, a. a. O., S. 481.
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4. Anthropologische Implikationen der Massenpsychologie1
In den gegenwärtig geführten Diskussionen über neu erstarkte rechtsextreme Strömungen in Europa dominiert eine Populismus-Kritik, die sich Demokratie, Menschenrechte, Pluralismus, Liberalität, Multilateralismus und andere Errungenschaften der modernen westlichen Zivilisation auf die Fahnen geschrieben hat. Rechtspopulisten gelten als antipluralistische Traditionalisten, die sich an kulturellen und nationalen Identitäten festhalten – und damit gleichsam rechtmäßig ein Monopol auf Identitätskonflikte beanspruchen. Dies scheint ganz einfach und nahezu selbstverständlich zu sein. Die Folge dieser Sichtweise ist eine fortschreitende Polarisierung der europäischen Gesellschaften. Unversöhnlich stehen sich die Lager der Modernen, die eine ›progressive‹ Globalisierung vertreten, und die Traditionsbewussten eines eher ›regressiv‹ beschriebenen Kulturverständnisses gegenüber.2 Nicht zuletzt dividieren sich die dogmatisch verhärteten Weltanschauungen anhand der Themen Klima und Migration auseinander. In dieser Situation eines selbstbewussten Kosmopolitismus und seiner Gegner macht es schon aus strategischen Gründen Sinn, Voraussetzungen zu berücksichtigen, die von beiden Seiten geteilt werden. Diese sind vielfältig und unterschiedlich gelagert. Besonders auffällig sind bestehende Missverhältnisse zwischen ökonomischen Interessen und politischer Repräsentation. Etwas böse gesagt, zielen die einen rhetorisch darauf ab, den Wohlstand 1 Auf dem 42. Internationalen Wittgenstein Symposium in Kirchberg a.W. im August 2019 hatte ich erstmals Gelegenheit, meine Überlegungen zur Massenpsychologie vorzutragen. Sie stehen in engem Bezug zu mehreren Arbeiten und Seminaren, die Phänomene der Popularität in Philosophie und Politik adressierten. Andreas Oberprantacher, Anna Schober und den Mitorganisator*innen eines Symposiums an der HGB Leipzig zum Thema »Populär Sein« im November 2018 gebührt mein Dank. 2 In etwas zugespitzter Form könnten als Repräsentanten dieses antagonistisch begriffenen Zeitgeistes Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992 und Samuel Huntington, The Clash of Civilisations and the Remaking of the World Order, New York 1996 gelten.
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für eine homogene, national und kulturell (und implizit auch rassistisch) ausgezeichnete Volksgruppe zu sichern, während die anderen stärker Gesellschaftsgruppen adressieren, die um ihre Einbindung in globale Märkte wissen. In diesem Fall treten traditionelle Strukturen eher in den Hintergrund. In beiden Fällen werden bestehende ökonomische Ungleichheiten und damit auch entsprechende Machtstrukturen reproduziert. Und während die einen vom Volk reden, auch wenn sie nur einen Teil von diesem meinen, sprechen die anderen von demokratischen Verhältnissen, meinen aber faktisch stets eine privilegierte Bevölkerungsschicht. Die Gemengelage ist insofern neuartig, als Rassismus bekanntlich die längste Zeit aus einem kolonialen Diskurs resultierte, der mit imperialen Machtansprüchen verbunden war. Die globalen Eliten der Gegenwart weisen rassistische Positionen weit von sich, während sie dort wieder hoffähig gemacht und artikulierbar werden, wo wenigstens ›rhetorisch‹ die internationalen Wirtschaftsbeziehungen als problematisch gelten. Rassismus bedeutet im Kontext der aktuellen rechtsradikalen bis rechtsextremen Positionen keine offensive Ausbeutungs-, sondern eher eine defensive Abgrenzungsstrategie. Zumindest liegt darauf der Akzent. Mit Laclau kann Populismus als ein Prozess beschrieben werden, der gegen vorherrschende Machtverhältnisse gerichtet eine neue Hegemonie performativ konstruiert, indem mittels leerer Signifikanten und Äquivalenzketten ein einigermaßen stabiles Bedeutungssystem kollektiver Identität hergestellt wird.3 Die fungierende Identität ist ein Volk – seine Konstruktion bedient sich in den neuen rechten Parteien (bzw. ›Bewegungen‹) Vorstellungen von einer nationalen, kulturellen und ›ethnischen‹ Homogenität. Zu bemerken ist nun hier allerdings, dass gleichsam übergeordnete Identitäten auch dort eine wichtige Rolle spielen, wo es im Selbstverständnis eines liberalen Pluralismus um die demokratische Teilhabe autonom agierender Individuen geht. Es handelt sich bei ihnen um Identitäten einer Mehrheitskultur, die ebenfalls mit Popularität aufgeladen sind: z. B. um Vorstellungen eines kreativen, offenen, toleranten, aufgeklärten Individuums, das sich im Wettbewerb der Interessen durchzusetzen versteht. Kritisch wird diese Situation oft als eine ›neoliberaler‹ oder normalistischer Verhältnisse beschrieben. Damit ist zugleich gesagt, dass vielerorts demokratische Ideale relativ auf den neuen Geist des Kapitalismus limitiert sind. Die Ignoranz gegenüber sozialen Ungleichheiten verhindert ein radikaleres Verständnis von Pluralismus, Öffentlichkeit und Demokratie. Po 3 Vgl. Ernesto Laclau, On Populist Reason, London, New York 2005, S. 74.
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pularität zu dekolonisieren bedeutet daher Identitäten zu problematisieren, die in den gegenwärtigen Prozessen der Ökonomisierung der Existenzweisen genauso ihr Unwesen treiben wie in den vermeintlich auf stabile nationale Traditionen zurückverweisenden reaktionären Tendenzen. Der implizite Rassismus der Massenpsychologie wirft genealogische und aktuelle politische Fragen auf. In einem späteren Kapitel werden die Beziehungen der Felder ›race‹ und ›class‹ im Rekurs auf bell hooks’ Arbeiten zur US-amerikanischen Geschichte des Feminismus thematisiert. Tatsächlich existieren strukturelle Parallelen in ihrer Art der intersektionalen Problematisierung. Für sie ist entscheidend, diese Geschichte unter Berücksichtigung der ökonomischen und rassistischen Kontexte zu schreiben. Die berühmte Frage von Sojourner Truth ›Ain’t I a woman?‹, die bell hooks zum Titel ihres Buches gewählt hat, macht deutlich, dass eine schwarze Frau um 1850 darum ringen musste, als Frau anerkannt zu werden.4 Der weiße Feminismus, der für Frauenrechte im Allgemeinen eintrat, erweist sich dabei als eine Bewegung, die etablierte Privilegien weißer Männer für sich zu erlangen suchte. In ihr begegnen sich rassistische Abgrenzungs- und klassenspezifische Besserstellungsstrategien, die sich den geltenden Regeln des Zusammenlebens in der amerikanischen Gesellschaft ziemlich bruchlos fügten. Im Folgenden wird die demokratische Popularität unter dem Gesichtspunkt der Massentheorie genauer betrachtet. Meine These besagt, dass das Konzept der Masse nicht nur mit dem Entstehen einer homogen organisierten Arbeiterschaft – und damit verbunden: mit ihrem neu gewonnenen Selbstbewusstsein, wie Ortega y Gasset sagen würde – in der Mitte des 19. Jahrhunderts auftaucht. Vielmehr ist ›Masse‹ ein Konzept, das es ermöglicht, den gegen andere gerichteten und kolonial bestimmten Inferioritätsdiskurs (im anthropologischen, psychiatrischen, politisch-ökonomischen Zusammenhang) innerhalb der ›eigenen Kultur‹ auf einen bestimmten Teil der Bevölkerung zu beziehen. Die Masse von Eliten zu dirigieren, so der Tenor der frühen massenpsychologischen Literatur, entspricht wahren demokratischen Forderungen – während ein Verlust dieser Kontrolle zum Chaos einer »Hyperdemokratie«5 oder zum Untergang des Abendlandes (Barbarei) führen müsste. Im Kontext von Mas 4 Vgl. bell hooks, Ain’t I a woman. Black women and feminism, London 1982. Siehe Kap. 10. 5 Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen [1930], in: ders., Signale unserer Zeit. Essays, Stuttgart, Salzburg o. J., S. 151–304, hier S. 159. Selbst für Marx muss Masse organisiert und entsprechend politisch ausgerichtet sein, wenn sie als wahrhaft revolutionäre Größe angesehen werden soll.
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sentheorien führt das Anliegen, die Anthropologie zu dekolonisieren, zu einer Auseinandersetzung mit einer strukturell angelegten Geringschätzung der Demokratie – und dies inmitten der europäischen Gegenwart.
4.1 Massenpsychologie und Propaganda Gustave Le Bon publiziert im Jahr 1895 seine Psychologie der Massen im Anschluss an eigene ältere kulturanthropologisch-orientalistische Arbeiten, die bereits mit völker- und rassenpsychologischen Überlegungen durchsetzt waren.6 Masse folgt auf Rasse, denn auch sie ist wie diese eine Kollektivseele, in der das individuelle Bewusstsein des Einzelnen »schwindet«.7 Im Unterschied zur Rasse handelt es sich bei ihr um ein sozialgeschichtliches Phänomen, das mit dem »Eintritt der Volksklassen in das politische Leben«, dem »Umsturz« eines »primitiven Kommunismus« zusammenhängt.8 Das »Zeitalter der Massen«, das Le Bon heraufziehen sieht, bedroht die Grundlagen der europäischen Kultur.9 Von »Mikroben« ist die Rede oder auch von »blinden Massen«, die den Zusammenbruch des »Gebäudes« der Kultur herbeiführen.10 Wie aus der anthropologischen Literatur des 19. Jahrhunderts bekannt, korrespondiert mit der menschlichen Natur ein ungeformtes, von (sinnlichen) Neigungen und (vererblichen) Dispositionen beherrschtes Seelenleben, das vernünftig entwickelt werden muss. Charakteristisch gilt, dass Frauen oder ›Wilde‹ nur ein begrenztes Entwicklungspotenzial der allgemein menschlichen Anlagen besitzen. Le Bon überträgt diesen Aspekt von der Rassen- und Völkerpsychologie auf die Massenpsychologie, indem er das in der Vermassung aufkommende »Machtgefühl«, Teil eines Ganzen zu sein, auf 6 Vgl. Gustave Le Bon, Les lois psychologiques de l’évolution des peuples, Paris 1894: Félix Alcan. 7 »Die bewusste Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele […], [eine] psychologische Masse.« Gustave Le Bon, Psychologie der Massen [1895], übers. v. R. Eisler, Hamburg 2009, S. 29. Vgl. ebd., S. 32. 8 Vgl. ebd., S. 23. Bereits in den Marxschen Schriften der 1840er Jahre wird eine massenförmige Qualität der neu entstehenden Arbeiterklasse des Proletariats behauptet, wenngleich diese von einem quasi tierhaften Herdenbewusstsein zu unterscheiden ist. 9 Vgl. ebd., S. 22. 10 Vgl. ebd., S. 25. »Bisher wurden die Kulturen von einer kleinen, intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet, niemals von den Massen.« Ebd.
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eine »Triebhaftigkeit« bezieht, die jeden bewussten Skrupel ausschaltet, jedes Gefühl der Verantwortung eliminiert.11 Damit stellt er zwischen den unbewussten Trieben, die die Massenseele organisieren, den »vererblichen« Aspekten ihres Charakters und den von ihrer Sinnlichkeit dominierten »Frauen und Kindern« oder »Primitiven« einen direkten Zusammenhang her.12 »Verschiedene besondere Eigenschaften der Massen, wie Triebhaftigkeit, Reizbarkeit, Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Überschwang der Gefühle und noch andere sind bei Wesen einer niedrigeren Entwicklungsstufe, wie beim Wilden und beim Kinde, ebenfalls zu beobachten.«13
Die Masse ist aufgrund ihrer psychologischen Struktur leicht zu lenken, zu verführen oder zu manipulieren. Sie denkt lediglich assoziativ oder »in Bildern«, weshalb sie beliebigen Einflüssen ausgesetzt werden kann, die sich in ihr auf unkontrollierten Übertragungswegen ausbreiten.14 Auch von Ansteckung [contagion] ist die Rede.15 Neben epidemiologischen (und proto-medialen) Metaphern bedient sich Le Bon des psychiatrischen Begriffs der Hypnose. Der Geist der Masse befindet sich gleichsam in einem hypnotisierten oder verzauberten Zustand.16 Moralische und kulturelle Regeln, selbst der Wille, sich selbst zu erhalten, sind dabei vorübergehend außer Kraft gesetzt. Massen sind unfähig, »Meinungen zu haben außer jenen, die ihnen eingeflößt wurden.«17 Genau in ihrer Beeinflussbarkeit oder Verführbarkeit liegt das (scheinbar massenpsychologisch aufgeklärte) Mittel, dessen sich die Politik zu bedienen hat, wenn sie nicht zur Marionette der Macht der Massen verkommen will. »Die Kunst, die Einbildungskraft der Massen zu erregen, ist die Kunst, sie zu regieren.«18 11 Vgl. ebd., S. 35. 12 Vgl. ebd., S. 50, 40. »Unsere bewussten Handlungen entspringen einer unbewussten Grundlage, die namentlich durch Vererbungseinflüsse geschaffen wird. Diese Grundlage enthält die zahllosen Ahnenspuren, aus denen sich die Rassenseele aufbaut.« Ebd., S. 34. 13 Ebd., S. 40. 14 Vgl. ebd., S. 45. 15 Vgl. ebd., S. 36. 16 »Da das Verstandesleben des Hypnotisierten lahm gelegt ist, wird er der Sklave seiner unbewussten Kräfte, die der Hypnotiseur nach seinem Belieben lenkt. […] Ungefähr in diesem Zustand befindet sich der einzelne als Glied einer Masse.« Ebd., S. 37. 17 Ebd., S. 27. 18 Ebd., S. 72. Wie Le Bon meint, zeichnet sich ein »großer Führer« durch die besondere Fähigkeit aus, »Glauben zu erwecken«. Vgl. ebd., S. 113. In der Gegenwart allerdings, z. B. aufgrund der Bedeutung der Presse, gelingt es den Regierungen immer weniger, »die öffentliche Meinung zu lenken«. Vgl. ebd., S. 139.
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Mit diesen Überlegungen zur Psychologie der Massen verbinden sich diagnostische Motive, Erklärungsansätze, kritischer Zynismus und nicht zuletzt Handlungsanweisungen. Auch wenn Gabriel Tarde eine deutlich ausgefeiltere Theorie vorlegte, indem er – bereits vor Le Bon – eine Soziologie der Nachahmung entwickelte und (etwas später) in einem Aufsatz Masse und Publikum unterschied – Le Bon wird dort wegen seines unwissenschaftlichen Vorgehens streng getadelt – so steht dennoch die breite Rezeption der Massentheorie in der Folgezeit ganz unter dem Eindruck Le Bons.19 Ob Freud, Lippmann oder Ortega: sie alle orientieren sich an ihm. Eine Konsequenz dieser enormen Wirksamkeit liegt in der Entstehung der Konzepte von Massenkultur und Massengesellschaft, eine andere im Verständnis von öffentlicher Meinung und überhaupt Öffentlichkeit. In der Propaganda-Schrift (1928) von Edward Bernays werden diese Aspekte zusammengeführt. Bernays begreift die Propaganda als eine Kunst der Public Relations, die auf massenpsychologischen Grundlagen operiert.20 Sie ist eingebunden in eine demokratische Struktur, die nach dem »Modell« des »freien Wettbewerb[s]« organisiert ist.21 Aus seiner Sicht schließen sich Propaganda und Demokratie keineswegs aus; vielmehr stehen sie in reziproken Beziehungen zueinander. »Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind die eigentlichen Regierungen in unserem Land. […] [D]ieser Zustand ist nur eine logische Folge der Struktur unserer Demokratie.«22 Es handelt sich um eine »logische Folge«, weil die moderne Gesellschaft »Steuerungsprozesse dieser Art unumgänglich« macht.23 Bernays zeigt nicht nur auf, wie Propaganda funktioniert, sondern auch, warum sie notwendig ist. Er kritisiert sie nicht grundsätzlich, sondern plädiert für eine ethisch legitimierte und zugleich für eine neue Propaganda. »Dieses Buch erläutert die Strukturen und Mechanismen, mit denen das öffentliche Bewusstsein gesteuert wird.«24 Nicht die ältere Kriegspropaganda 19 Vgl. Gabriel Tarde, Masse und Meinung [1901], übers. v. H. Brühmann, Konstanz 2015, S. 17. 20 Vgl. Edward Bernays, Propaganda. Die Kunst der Public Relations [1928], übers. v. P. Schnur, Berlin 2014, S. 49. 21 Vgl. ebd., S. 21. 22 Ebd., S. 19. 23 Vgl. ebd. 24 Ebd., S. 26.
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und die ihr zugeordnete mechanistische Reaktionspsychologie steht im Vordergrund, sondern eine komplexe, ausdifferenzierte Gesellschaft, die durch Massenproduktion und Massenmedien gekennzeichnet ist.25 In einer solchen Situation liberaler, ökonomischer Konkurrenzverhältnisse muss eine erfolgreiche Unternehmensstrategie der Produktvermarktung darauf setzen, die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen.26 Die Gegenwart zeichnet sich nicht einfach durch eine Herrschaft der Volksmassen aus. »Mittlerweile hat […] eine Gegenreaktion eingesetzt. Die herrschende Minderheit hat ein mächtiges Instrument entdeckt, mit dem sie die Mehrheit beeinflussen kann. Die Meinung der Massen ist offensichtlich formbar, sodass ihre neu gewonnene Kraft in die gewünschte Richtung gelenkt werden kann.«27 Massen gibt es also nicht ohne Eliten, die sie steuern. Sie tun dies, indem sie »bestimmte Assoziationen und Bilder in den Köpfen der Massen erzeugen«.28 Hier greift Bernays auf massenpsychologische Einsichten zurück. »Anstelle von Gedanken stehen bei der Gruppe Impulse, Gewohnheiten und Gefühle. Um zu einer Entscheidung zu gelangen, neigt sie gewöhnlich als Erstes dazu, dem Vorbild eines Führers zu folgen, dem sie vertraut.«29 Den Thesen Le Bons oder auch Freuds werden die von Lippmann über die Bedeutung von Stereotypen zur Seite gestellt: »Steht kein Vorbild eines Führers zur Verfügung, muss die Herde für sich selbst denken. Dabei greift sie zurück auf Klischees, Schlagworte oder Bilder, die für ein ganzes Bündel von Ideen und Erfahrungen stehen.«30 Massen sind nicht nur manipulierbar, weil sie seelisch – und d. h. nach Le Bon: assoziativ, emotional, imaginativ – einheitlich organisiert sind. Sie unterliegen unbewussten Kräften, die libidinös bestimmt (Freud) oder durch Wiederholungsmuster (Lippmann) geprägt sind.31 Sie kennen die wahren Beweggründe ihres Handelns (z. B. ihrer Kaufentscheidungen) zu 25 Vgl. ebd., S. 33. 26 Bernays gibt folgende Definition: »Moderne Propaganda ist das stetige, konsequente Bemühen, Ereignisse zu formen oder zu schaffen mit dem Zweck, die Haltung der Öffentlichkeit zu einem Unternehmen, einer Idee oder einer Gruppe zu beeinflussen.« Ebd., S. 31. 27 Ebd., S. 27. 28 Vgl. ebd., S. 31. 29 Ebd., S. 51. 30 Ebd. 31 Vgl. Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921], in: ders., Studienausgabe Bd. 9, Frankfurt a. M. 1989, S. 61–134, hier S. 83–119; Walter Lippmann, Public Opinion [1922], Hawthorne 2008, S. 73–83.
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meist nicht, weshalb ein psychologisches Wissen an diesem Punkt, durch die Fachleute der Propaganda oder Öffentlichkeitsarbeit, eine elitäre Funktion besitzt. »Die Maschine Gesellschaft hat als Motor die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen. Nur wenn der Propagandist sie kennt und begreift, kann er den riesigen, lose verbundenen Apparat namens moderne Gesellschaft steuern.«32 Die Eliten lenken die Massen, indem sie auf die öffentliche Meinung dauerhaft und systematisch mittels Propaganda einwirken. Sie sind die Aktivitätszentren der US-amerikanischen Demokratie; sie fördern ihre Entwicklung oder ermöglichen ihren Fortschritt, da ihr »Eigeninteresse mit dem öffentlichen Interesse zusammenfällt.«33 An anderer Stelle unterstreicht Bernays: »Die Lücke zwischen den Intellektuellen und der Masse wird in der komplexen modernen Gesellschaft mithilfe von Propaganda überbrückt.«34 Wie aber lässt sich die moderne Gesellschaft als ein Massenphänomen beschreiben? Die Gesellschaft zerfällt in eine Vielzahl unterschiedlich ster Gruppierungen. Anhand endloser Listen von Vereinen und Verbänden, Zeitschriften oder Tagungen macht Bernays deutlich, wie komplex dies »unsichtbare Geflecht aus Gruppierungen und Verbindungen« eigentlich ist.35 Es wäre daher auch verfehlt, ihm ein kompaktes, homogenes, von kulturellen, nationalen oder ethnischen Identitäten geprägtes Massenverständnis zu unterstellen. Tatsächlich spricht er von einer »gigantische[n], heterogene[n] Masse«, die erst durch die Bearbeitung der öffentlichen Meinung – im Rahmen ökonomischer, dann aber auch politischer Verhältnisse – homogenisiert wird.36 Ausdrücklich wehrt er den quasi vormodernen Massenbegriff ab, der »körperliche Nähe zur Voraussetzung« hat.37 Mit Tarde könnte hier von einer Masse in »zweiter Potenz« gesprochen werden, sofern sie aus der medial vermittelten »Suggestibilität allein durch Ideen, […] Ansteckung ohne Berührung« als ebenso abstrakte wie reale Gruppenbildung entsteht.38 Mit der Idee der zweiten Potenz verbindet sich nicht nur eine besondere Akzentuierung der Medialität – und die spezifische Bedeutung des Journalismus und 32 Bernays, Propaganda, a. a. O., S. 53. 33 Vgl. ebd., S. 35. Diese Überlegung gibt der älteren der Nationalökonomie Adam Smiths, die im konsequenten Verfolgen des privaten Interesses ein allgemeines zu erkennen meint, eine interessante Wendung. Wo bei Smith noch die unsichtbare Hand regierte, ist es bei Bernays die Propaganda. 34 Ebd., S. 98. 35 Vgl. ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 22–25. 36 Vgl. ebd., S. 99 [Herv. MR]. 37 Vgl. Tarde, Masse und Meinung, a. a. O., S. 10. Vgl. Bernays, Propaganda, a. a. O., S. 22. 38 Tarde, Masse und Meinung, a. a. O., S. 13.
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überhaupt der Publizität –, vielmehr unterliegt die Gesellschaft einer »Segmentierung […] in Publika«.39 Bernays Propaganda-Buch ist aus zweierlei Gründen eine lehrreiche Lektüre. Verdeutlicht wird erstens die gegenseitige Abhängigkeit von Massen und Eliten. Die einen gibt es nicht ohne die anderen. Es sind in erster Linie ökonomische und mediale Bedingungen, die es nicht nur möglich, sondern geradezu notwendig machen, die Massen zu ›informieren‹ oder öffentliche Meinung hervorzubringen. Dabei werden nicht nur bestimmte Meinungen generiert, die mit Dynamiken interagieren, die als Moden oder Trends bezeichnet werden können. Zugleich macht Bernays auch Propaganda für Propaganda, indem er ihren generellen ökonomischen und politischen Wert herausarbeitet. Masse wie auch Eliten werden damit immer auch im Diskurs konstruiert. In jedem Fall handelt es sich bei ihnen nicht um reine Positivitäten. Masse wird im Bezugsfeld von Märkten ins Spiel gebracht – und d. h. im Kontext der massenpsychologischen These, dass sie von Eliten geführt wird und werden kann, weil sie so leicht zu beeinflussen ist. Zweitens reflektiert sich in Bernays’ Buch eine moderne Gesellschaft, die den älteren Begriff der Masse – vielleicht mehr implizit – auch problematisiert. Masse ist bei ihm ein heterogenes Phänomen, und sie wird pluralisiert. Zwar unterliegt sie recht fügsam einer klugen Strategie, die sie bei ihren sogenannten unbewussten Begierden packt. Aber dieser Vorgang wird genauer bestimmt als eine identitätsstiftende Maßnahme, die nicht auf die basalen Eigenschaften einer naturalisierten Psyche reduziert werden kann. Moderne Massenphänomene entstehen aus einer Vielzahl neuer Medien und den mit ihnen koexistierenden Publika. Es stellt sich hier die weiterführende Frage, inwiefern populäre Kulturen und Massenkulturen unterschiedlich konzipiert werden können. Stehen diese immer mit ›antiliberalen‹ Führungseliten in Kontakt, so liegt in jenen eine Aufwertung des Populären, die nicht länger die Masse als fasziniertes Tier oder getaktete Maschine begreift, die aufgrund ihrer widerstandslosen Beherrschbarkeit, durch Ideologien oder Werbekampagnen, ihr nicht-demokratiefähiges Wesen zum Ausdruck bringt.40 Es ist bekannt und kaum ein Zufall, dass die Aufwertung des Populären und die Zurückweisung ihres allzu voraussetzungsvollen Massendaseins in der amerikanischen Soziologie und Literaturwissenschaft in den 1950er Jahren den Begriff des ›Postmodernen‹ hervorbrachte. 39 Vgl. ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 55. 40 Vgl. Stuart Hall, Ideologie, Kultur, Rassismus. Ausgewählte Schriften Bd. 1, übers. v. W. Efferding, Hamburg 2018, S. 92–125.
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4.2 Von der Masse zur Menge In Bernays’ Buch mischen sich enthüllende und propagandistische Aspekte. Es macht deutlich, wie die öffentliche Meinung bearbeitet wird und werden soll – und es reflektiert diesen Vorgang. Es nimmt die komplexe Ausgangssituation der modernen Gesellschaft wahr – und reproduziert zugleich den einfachen Dualismus von Elite und Masse. Es greift zu kurz, die privatwirtschaftlich interessierte Steuerung des Massenkonsums kritisch zu thematisieren, weil die Massenlenkung selbst ein problematisches Konstrukt ist, das mit einer ökonomischen wie auch politischen Funktion ausgestattet ist.41 Wenn Habermas von einer »Refeudalisierung der Öffentlichkeit« spricht, die sich aus »ihrer Gestaltung durch public relations« ergibt, so bleibt er im Bann der instrumentellen Vernunft der massenmedialen »Meinungspflege«.42 Er zitiert Bernays mit dem Buchtitel »Engineering of consent«, d. i. ein Konsens, der zwar aus rationalen kommunikativen Prozessen zu resultieren scheint, eigentlich aber nur »privilegierte Privatinteressen« für sich »adoptiert«.43 Die entlarvende Kritik bleibt damit zu eng auf ihren Gegenstand (und seine Selbstbeschreibungen) bezogen. Und sie vermeidet es, den Strukturwandel als einen der Rationalität selbst zu begreifen. Wenn Medien, wie McLuhan sagen würde, eine hypnotisierende Wirkung haben, weil sie sich strukturell hinter dem verbergen, was sie inhaltlich mitteilen, dann muss keine Massenseele für diese nicht zuletzt technisch bedingte Suggestibilität 41 Von Massen zu reden ist verknüpft mit der aufkommenden Sozialstatistik, die aufgrund ihrer Methoden sogleich einen Durchschnittsmenschen hervorbringt. Quetelets Essay über soziale Physik (1835) und seine Anthropométrie (1870) sind hierfür nur die bekanntesten Beispiele. Kurz: ›Masse‹ ist wie ›Rasse‹ gemacht, sie gibt es nicht (unverändert) immanent betrachtet. Ihr Diskurs verlangt Kritik. Es genügt nicht, auf den Verfall der Öffentlichkeit zu setzen. Mit Marx gesprochen: »[D]ie Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft [ist] in der politischen Ökonomie zu suchen.« Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie [1859], MEW Bd. 13, Berlin 1961, S. 8. Dass diese einfach als ›wahre‹ Wissenschaft angesehen wird, führt dabei allerdings wieder zur Nicht-Beachtung einiger Aspekte der diskursiv und statistisch geleiteten Massen-Konstruktion. 42 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1962], Neuwied, Berlin 1971, S. 233. 43 Vgl. ebd., S. 231–232. »Der hergestellte Konsens hat natürlich mit öffentlicher Meinung, mit der endlichen Einstimmigkeit eines langwierigen Prozesses wechselseitiger Aufklärung im Ernst nicht viel gemeinsam […]. Dem im Zeichen eines fingierten public interest durch raffinierte opinion-molding services erzeugten Konsensus fehlen Kriterien des Räsonablen überhaupt. […] Publizität hieß einst die Entblößung politischer Herrschaft vor dem öffentlichen Räsonnement; publicity summiert die Reaktionen eines unverbindlichen Wohlwollens.« Ebd., S. 232–233.
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herhalten. Und die medientheoretische Reflexion muss mit einem blinden Fleck (den unbewussten Wünschen der Gesellschaftsmaschine) umgehen –, sie kann diesen nicht durch elitäre Einsichten auffüllen. Foucault hat in seinen Vorlesungen der ersten Monate des Jahres 1979 am Collège de France, die unter dem Titel »Naissance de la biopolitique« veröffentlicht wurden, eine weitreichende Skepsis an der Massentheorie sowohl ihrer Vertreter als auch ihrer Kritikerinnen (»von Sombart bis Marcuse«) geäußert.44 Mit ihr schließt sich der Kreis. Masse firmiert bei ihm als ein dem Liberalismus entgegengesetztes Konstrukt, das schon gar nicht in die Lage versetzt, die spezifisch neoliberalen Verhältnisse der Gegenwart kritisch aufzuschlüsseln. »Die Kritiker irren sich einfach, wenn sie eine ›Sombartsche‹ Gesellschaft in Anführungsstrichen anprangern, ich meine, eine vereinheitlichende Massen-, Konsum-, Unterhaltungsgesellschaft usw., sie irren sich, wenn sie glauben, daß sie das kritisieren, was das gegenwärtige Ziel der Regierungspolitik ist. Sie kritisieren etwas anderes […], etwas, das zweifellos […] im […] Horizont der Regierungskunst der Jahre zwischen 1920 und 1960 lag. Über dieses Stadium sind wir jedoch hinaus. Wir befinden uns nicht mehr dort. Die um die 1930er Jahre von den Ordoliberalen programmatisch entworfene Regierungskunst, die jetzt für die meisten Regierungen kapitalistischer Länder zum Programm geworden ist, nun, dieser programmatische Entwurf strebt keineswegs nach der Errichtung jener Art von Gesellschaft. Es geht im Gegenteil darum, zu einer Gesellschaft zu gelangen, die sich nicht an der Ware und an der Gleichförmigkeit der Ware ausrichtet, sondern an der Vielzahl und der Differenzierung der Unternehmen.«45
Den Ordoliberalen geht es nach Foucault darum, die Informationsgewalt der Marktwirtschaft zur Organisation der Gesellschaft produktiv zu machen – und daher den Wettbewerb als formalen Mechanismus der Regelung des Marktes (als regulatives Prinzip der Gesellschaft) zu analysieren. Nicht die ›Handels‹- oder die Massengesellschaft (und damit die Warenform und der Tauschwert) sind das Ziel ihrer Regierungskunst, sondern eine Gesellschaft, »die der Dynamik des Wettbewerbs untersteht«.46 Mit ihr verbinden sich eine Reihe von Dingen, die den neuen Geist einer nicht länger an der Massengesellschaft ausgerichteten kapitalistischen Wirtschaftsordnung ausmachen: die Vervielfachung der Unternehmensform, die im Gegensatz zur 44 Vgl. Foucault, Geburt der Biopolitik, a. a. O., S. 169. Vgl. Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, Leipzig 1902 und ders., Das Proletariat, Frankfurt a. M. 1906. 45 Vgl. Foucault, Geburt der Biopolitik, a. a. O., S. 211. 46 Vgl. ebd., S. 208.
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Planwirtschaft entwickelte spieltheoretische Rahmenanalyse (nach Hayek)47 und die Konzepte der Vitalpolitik48 oder auch des Humankapitals, indem Arbeit quasi vom Standpunkt des Arbeiters aus als ökonomisches Verhalten bestimmt wird.49 Damit ist er als eine »Kompetenz/Maschine« begriffen, die in sich selbst als eine Art von Unternehmen Kapital investiert.50 Der Arbeiter wird nicht länger einem inhumanen Apparat eingegliedert und damit der Entfremdung ausgesetzt (als Objekt oder Rädchen im Getriebe), sondern als ein ›aktives Wirtschaftssubjekt‹ begriffen. Dass dies so ist, macht es allerdings auch nicht besser, nur deutlich anders. Die aktuellen kapitalistischen Machtverhältnisse beziehen sich mehr auf Strategien, sich selbst als zukunfts trächtiges Wesen effizient zu steuern und zu vermarkten, und weniger darauf, Individuen gleichmäßig zu unterwerfen, zu disziplinieren oder zu vorgegebenen kollektiven Einheiten zusammenzusetzen. Foucaults machtanalytische Perspektive kann verdeutlichen, inwiefern das Schema einer von Eliten gesteuerten Masse sowohl mit einem geläufigen Begriff der Demokratie als auch mit einer grundsätzlichen Ablehnung des Populären in einen Zusammenhang gestellt werden kann. Masse ist nichts anderes als eine Menschenmenge, die – im Hinblick auf ihren psychologischen Charakter – als minderwertig und riskant (verblendet, fehlgeleitet, triebgesteuert) angesehen wird. Ihre Popularität überträgt sich auf die Unterhaltungs- oder Kulturindustrie, die sie als ihren Begehrenswert produziert. Masse ist damit kein eigentlich demokratisches Konzept, weil es die Menge der Leute nicht nur einheitlich repräsentiert, sondern zur Unmündigkeit verurteilt. Mit einer Aufwertung der populären Kulturen (und womöglich selbst bestimmter ›Volkskulturen‹?) ändert sich das Bild. Es ist nicht länger die aufgeklärte bürgerliche Öffentlichkeit, die der Massengesellschaft ihren Maßstab entgegenhält.51 Vielmehr sind es umgekehrt nicht selten po 47 Vgl. ebd., S. 241–245. 48 Vgl. Alexander Rüstow, »Vitalpolitik gegen Vermassung«, in: Albert Hunold (Hg.), Masse und Demokratie. Volkswirtschaftliche Studien für das Schweizer Institut für Auslandsforschung, Erlenbach, Zürich 1957, S. 215–238. 49 Vgl. Foucault, Geburt der Biopolitik, a. a. O., S. 311–324. 50 Vgl. ebd., S. 315. 51 Im Unterschied zu Habermas und bestimmten Denklinien auch der älteren Kritischen Theorie, den Verfall der bürgerlichen Öffentlichkeit in Massenmedien und Kulturindustrie zu beklagen, verfolgt Foucault eine gegenläufige Strategie: in der bürgerlichen Gesellschaft (und ihrer Beschreibung bei Adam Ferguson) will er die Vorgeschichte der neoliberalen »Mechanik der Interessen« erkennen. Ebd., S. 412. Auf diese Weise aktualisiert er eine im Kern durchaus marxistische Intuition.
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puläre Kulturen, die die älteren anthropologischen Idealvorstellungen problematisieren. Wenn die ökonomischen Verhältnisse der Gegenwart nicht in Begriffen der Massenmanipulation wirkungsvoll kritisiert werden können, dann fordert die Kritik der veränderten ›neoliberalen‹ Verhältnisse einen anderen Ansatz. Machtstrukturen einer durchgreifenden Ökonomisierung der Gesellschaft, wie sie von Foucault anhand der Verallgemeinerung der Unternehmensform herausgearbeitet worden sind, können nur vor dem Hintergrund einer nicht vorschnell als Masse repräsentierten Menge (in ihrer radikal pluralistischen Auflösung) rekonstruiert werden.52 Das Massenthema verschiebt den Fokus von anthropologischen Fragen des Rassismus direkter auf die mit ihnen zusammenhängenden kapitalismustheoretischen. Massentheorie bringt Massen stets gleichzeitig mit einem Selbstverständnis von Eliten hervor, das die demokratische Kultur in dem hier vertretenen radikaleren Sinne ruiniert. Mit der Theorie der Masse und ihrem Konzept von Volk oder Popularität gelingt es nicht, die Schwierigkeiten der aktuellen Machtverhältnisse adäquat zu thematisieren, weil es sich beim Begriff der Masse – und dem als homogene Einheit präsentierten Kollektiv – selbst um eine revisionsbedürftige Kategorie handelt. Ihre Eliten begreifen sich als politische, ökonomische oder auch intellektuelle Führung – und ihre privilegierte Stellung überfliegt die Niederungen der anderen, die nur als angeführte Masse in den Blick gerät. Ein kritischer Blick auf diese demokratischen Defizite kann daher erst gelingen, wenn hinter dem Phantasma der Masse die Multiplizität der Menge zum Vorschein kommt. Erst mit ihr wird es möglich, die neoliberalen Verhältnisse in ihren konkreten Veranstaltungen nachzuvollziehen – und die mit ihnen produzierten sozialen Ungleichheiten aufzudecken. Deshalb ist das auf die Menge bezogene Minoritär-Werden der Bevölkerung stets und in sich selbst immer bereits ein Demokratisch-Werden, das über die Grenzen der real existierenden liberalen Demokratien hinausweist. Während die quasi koloniale Fassung der Massenseele nach Le Bon in den zeitgenössischen rechtspopulistischen Strömungen im Sinne einer kulturell 52 Vgl. Tony Sampson, Virality. Contagion Theory in the Age of Networks, Minnesota University Press 2012. Sampson entwickelt den Begriff der Menge nach Spinoza weiter, indem er sie mit Tardes Nachahmungstheorie rekonstruiert. Sozialität resultiert aus stets partialen und nicht vorhersehbaren Ansteckungsprozessen und steckt immanent bereits in diesen selbst – weshalb ihre Diskursivierung problematisch erscheinen muss, solange Kontrolle als ursprüngliche (z. B. immunologische) Ordnung und nicht als Machteffekt gilt.
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homogenen Volksseele wiederkehrt, die ihr Massendasein in einer scheinbar unvermittelten politischen Führung artikuliert, steht das deutlich heterogenere Massenkonzept der Propaganda nach Bernays in einem Bezug zu den liberalen Strukturen einer marktorientierten Wettbewerbsgesellschaft. In beiden Fällen wird ein demokratisches Verständnis der Öffentlichkeit durch die privilegierte Stellung von Eliten untergraben. Eine Kritik dieser Zusammenhänge kann sich nicht damit begnügen, die Beschreibungen manipulierter Massen eins zu eins zu übernehmen. Auf diese Weise verkennt sie den kolonialen Aspekt ihrer Diskursivierung und verspielt die radikaldemokratischen Möglichkeiten. Die mehr oder weniger massenförmig angelegten Propa gandastrategien sowie die neoliberale Aufsplitterung der Massengesellschaft in eine Vielzahl von Unternehmen kommen erst in den Blick, wenn von unten, d. h. von der Menge (multitudo) ausgehend ihre Formierungsprozesse beschrieben werden.
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5. Völkische Anthropologie im Nationalsozialismus1
Von einer einheitlichen und klar identifizierbaren ›nationalsozialistischen Philosophie‹ kann nicht die Rede sein. Zwar hat es (angefangen mit Hitler) maßgebliche Ideologen gegeben – und auch einen weitreichenden bekenntnishaften Konformismus, aber keine homogene Theoriebildung, die sich auf feste Grundlagen und allgemein akzeptierte Definitionen zentraler Begrifflichkeiten stützen konnte. In vielen unterschiedlichen Arbeitsfeldern wie auch in fundamentalen Fragen der philosophischen Orientierung herrschten Uneinigkeit und Konkurrenz. So konnte Heidegger wohl eine Zeit lang glauben, eine führende Stimme der neuen ›nationalen Bewegung‹ werden zu können – und doch kam es anders. Ob Kant, Fichte, Hegel oder Nietzsche, sie alle wurden (mit mehr oder auch weniger Aufwand) als Vertreter einer deutschen Tradition beansprucht. Dem entspricht in der Umkehrung, dass alle späteren kritischen Studien scheiterten, die den Grund des Übels in einer bestimmten Philosophie ausfindig zu machen suchten. Im Kontrast ihrer gegensätzlichen Positionen machen sie das nur allzu deutlich. Zwischen einer stilisierten Konzeption des ›Willens zur Macht‹ und strikten moralphilosophischen Auffassungen der ›Pflicht‹ bestehen keine Gemeinsamkeiten. Diese Einsicht lässt sich auf die derzeit wohl geläufigsten Varianten philosophischer Erklärungsmodelle der historischen Möglichkeit des NS übertragen: weder die Erzählung von der Verabschiedung einer humanistischen Moral noch diejenige vom Dominantwerden einer ›instrumentellen Vernunft‹ vermögen wirklich zu überzeugen. Bedeutet ein solcher Befund, dass sich zwischen Philosophie und Politik ein Graben auftut, der es unmöglich macht, von der einen Seite zur anderen zu gelangen? Sind es nur die einzelnen Menschen, die ganz unabhängig von 1 Die studentische Initiative am philosophischen Institut der Universität Leipzig veranstaltete im Wintersemester 2019–20 eine Vorlesungsreihe zum Thema »Philosophie im NS«. Mein Vortrag über die völkische Anthropologie liegt den Überlegungen in diesem Kapitel zugrunde.
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ihren professionellen Überzeugungen (als Philosoph*innen) eine politische Gesinnung hatten, die sich in der Art und Weise ihrer Mitwirkung an der faschistisch motivierten Umbildung der Gesellschaft zum Ausdruck brachte? Verhielte es sich so, dann wäre weder eine Philosophie diskreditiert, weil ihre Verfechter*innen faschistischer Ideologie anhängen, noch wäre es überhaupt sinnvoll, nach ihren theorieimmanenten Beziehungen zu praxisrelevanten Aspekten eben der Ideologie zu fragen. Und spätestens an diesem Punkt wird verlangt werden dürfen, noch einmal neu anzusetzen. Selbst wenn es nicht gelingen kann, einen philosophischen ›Ursprung des Bösen‹ zu identifizieren, so lässt sich doch einkreisen, welche Theoriebestandteile in eine idealtypisch konstruierte ›nationalsozialistische Weltanschauung‹ notwendig eingehen und wie sie auf philosophiegeschichtliche Zusammenhänge bezogen sind. Diese Bestandteile sind vielfältig und werfen viele Fragen auf. Ich werde mich in den folgenden Ausführungen auf eine Fallstudie beschränken, indem ich eine philosophische Repräsentantin der NS-Anthropologie, nämlich die von Ernst Krieck 1936–38 in drei Bänden publizierte Völkisch-politische Anthropologie, auf ihre philosophisch ableitbaren Kernaussagen hin analysiere. »Dieses Buch erhebt den Anspruch, die neue, durch die nationalsozialistische Weltanschauung gegebene Wesensmitte für sämtliche Wissenschaften und für alle Hochschulen und Fakultäten zu umreißen.«2 Es besteht kein Zweifel an Kriecks politischen Überzeugungen. Sie spiegeln sich auch in seinem akademischen Werdegang. Wenige Monate nach der sogenannten Machtergreifung (30. Januar 1933) wird Krieck zum Professor an die Universität Frankfurt a. M. berufen (1. Mai 1933) und (ab Juli) als Rektor bestellt. 1934 wechselt er nach Heidelberg auf die renommierte Professur für Philosophie und Pädagogik (in der Nachfolge von Heinrich Rickert). Auch dort fungiert er seit dem 1. April 1937 (bis 1. Oktober 2 Ernst Krieck, Völkisch-politische Anthropologie, Bd. 1, Die Wirklichkeit [1936], Leipzig 1938, S. VI. Ihr Rezensent der pädagogischen Zeitschrift »Die deutsche Schule« Karl Friedrich Sturm, seit 1933 Oberregierungsrat im sächsischen Volksbildungsministerium, schreibt: »Kriecks Anthropologie ist im Ganzen ohne Vorläufer, das Werk eines wahrhaft schöpferischen Mannes.« Dies erklärt sich, denn es ist »aus wesenhaft nationalsozialistischem Schauen und Denken, Werten und Wollen geboren […].« Karl Friedrich Sturm, »Ernst Kriecks Anthropologie«, in: Die deutsche Schule 1936, Bd. 40, Heft 12, S. 554–562, hier S. 562, 560–561; http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=978958829_0040|LOG_0100&physid=PHYS_0561#navi (zuletzt geöffnet am 15.01.2020). Rosenberg hingegen hat Kriecks Selbstermächtigung streng getadelt, wie aus einem Brief hervorgeht. Vgl. Benjamin Ortmeyer, Rassismus und Judenfeindschaft in der Zeitschrift ›Volk im Werden‹ 1933–1944 (Ernst Krieck), Frankfurt a. M. 2016.
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1938) als Rektor der Universität – bis er sich aus gesundheitlichen Gründen von diesem Amt beurlauben lässt.3 In dem Text von Krieck muss keineswegs eine implizite NS-Ideologie entziffert werden. Sie ist in aller Ausdrücklichkeit sichtbar. Vielmehr stellt sich die Frage, ob es möglich ist, philosophische Bezugspunkte seines anthropologischen Ansatzes herauszuschälen. Sie könnten aussagekräftig sein, nicht weil sie eine klare historische Verortung zulassen, sondern weil sie ein theorieinternes Bezugssystem darstellen, das eine eigentümliche Kohärenz aufweist. In ihr manifestiert sich eine anthropologische Rationalität, die mit bestimmten Merkmalen ausgestattet ist.4 Es geht nicht darum, einen Authentizitäts- oder Echtheitsgrad nazistischer Überzeugungen zu ermitteln, sondern darum, ein Problem zu lokalisieren.
5.1 Rekonstruktion der Anthropologie von Ernst Krieck Der erste Band der Krieckschen Anthropologie beschäftigt sich zunächst mit »universaler Biologie« und anschließend mit dem »völkisch-politischen Bild des Menschen«. Diese Struktur folgt dem Schema der nachkantischen An 3 Vgl. einen Brief Kriecks an den Führer des Reichsdozentenbunds »Pg. Schultze« vom 03.09.1938. Die Niederlegung des Rektorats scheint nicht Streitigkeiten mit dem Rassenpolitischen Amt geschuldet zu sein. Dieser Eindruck entstand womöglich aufgrund eines öffentlich ausgetragenen Konflikts zwischen Krieck und Wilhelm Hartnacke, von 1933–35 sächsischer Minister für Volksbildung, der in der Zeitschrift Volk und Rasse 1937 einen Verriss des ersten Bands der Völkisch-politischen Anthropologie publizierte. Das Rassenpolitische Amt untersagte die öffentliche Auseinandersetzung. Vgl. Neue Deutsche Biographie, hg. v. der historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 13, Berlin 1982, S. 36–38 und George Leaman, Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS-Engagement der Universitätsphilosophen, übers. v. R. Alisch u. Th. Laugstien, Hamburg 1993, S. 56. 4 Abstrakt formuliert handelt es sich um folgende, je spezifisch aufeinander bezogene Merkmale: ein normatives Ideal bzw. Wesen des Menschseins (1.), eine empirisch differenzierte menschliche Natur nach Charakteren (2.), ein Entwicklungs- oder Bildungskonzept und entsprechende Vorstellungen von Verfall, Entzweiung, Entartung (3.), ein ganzheitliches Prinzip des Lebens (4.), das sich im Menschen als körperlich-geistige Einheit (5.) wiederholt. Vgl. dazu Rölli, Kritik der anthropologischen Vernunft, a. a. O., S. 43. Die biopolitische Bedeutung bestimmter anthropologischer Theoreme und Konzepte kann mittels Analyse der je konkreten Fassung der genannten (und im anthropologischen Diskurs im langen 19. Jahrhundert allgemein verbreiteten) Merkmale präzisiert werden.
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thropologien, den ›ganzen Menschen‹ als leiblich-seelische Totalität eines bestimmten Charakters vor dem Hintergrund naturphilosophischer Überlegungen (nach Erde, Pflanze und Tier) zu thematisieren. Geschlecht, Rasse und Volk definieren in der anthropologischen Literatur seit Kant Unterschiede des »Charakters«; hinzu kommen pathogene Anlagen des besonderen und allgemeinen Menschen. Sie sind nicht einseitig natürlich oder kulturell determiniert, vielmehr durchdringen sich in ihrer Auffassung physiologische und psychologische Aspekte. (Eine Konsequenz dieser epistemischen Form liegt in der Ableitbarkeit eines psychischen Mangels aus einem physischen, d. h. aus der Natur des Menschen oder seines Charakters. Auch das umgekehrte Verfahren – der Schluss auf ein physisches Defizit aus der Beobachtung eines seelischen – bürgert sich in der anthropologischen Literatur im Laufe des 19. Jahrhunderts ein.) Den traditionell cartesianischen Dualismus unterläuft die (für die Konsolidierung der Anthropologie im philosophischen Kontext maßgebliche) idealistische Naturphilosophie im Ansatz – und ihr Begriff des Lebens bleibt relevant, wenn der Mensch auf höherer Stufe, abgesetzt von den anderen Lebewesen, diskutiert wird. Zwischen einer stärker biologistischen Rassen- und einer mehr kulturell oder geschichtlich orientierten Völkerkunde existieren fließende Übergänge. Es wäre falsch, an diesem Punkt einen künstlichen Gegensatz zu postulieren. Kriecks völkisches Denken ist durchaus auch rassistisch.5 5 Volk und Rasse firmieren beide als anthropologischer Charakter – und weisen damit gemeinsame Bestimmungen auf. Sie unterscheiden sich v. a. durch eine quasi kulturgeschichtlich bedingte Differenziertheit auf der Seite der europäischen Völker. In diesem Sinne ist die Völkerpsychologie ein Kapitel der Rassenlehre – und behandelt ausschließlich Völker der ›weißen‹ oder ›kaukasischen Rasse‹. Dennoch ist es richtig, dass im Rassebegriff die physiologische bzw. biologische Bestimmung größeres Gewicht besitzt. Tatsächlich hat Wilhelm Hartnacke in einer Rezension Krieck vorgeworfen, die biologisch-rassenkundliche Seite der Anthropologie (in der Ausrichtung aufs Völkisch-Politische) nicht gebührend berücksichtigt zu haben. Hartnacke bezieht sich dabei auf die Arbeiten von Hans F.K. Günther, einen der führenden Rassentheoretiker des NS (seit 1935 mit einer Professur in Berlin), und fordert im Gebiet der positiven wie negativen Eugenik von einer Anthropologie genauere Aufschlüsse. »Eine Anthropologie, eine Naturlehre vom Menschen, kann als Naturlehre nicht völkisch-politisch sein.« Wilhelm Hartnacke, »Bemerkungen zu Ernst Krieck’s ›Völkisch-politischer Anthropologie‹«, in: Volk und Rasse 1937:10, S. 391–394, hier S. 392. In der Folge der Auseinandersetzung macht Krieck deutlich, dass er die Tradition philosophischer (und nicht nur biologischer) Anthropologie fortführt und erwähnt in diesem Zusammenhang die Namen Kant, W. v. Humboldt, Dilthey und den »Nicht-Arier« Scheler, dessen Entwürfen er eine »arische« Anthropologie entgegensetzen wolle. Ähnlich äußert sich auch Karl Friedrich Sturm, vgl. https://www.digizeitschriften.de/de/dms/img/?PID=978958829_0040%7C
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Zunächst einige Bemerkungen zur biologischen Grundlage der Anthropologie. Krieck formuliert einen »fundamentalwissenschaftlichen« Anspruch, indem er das Leben als einen »neuen, umfassenden, universalen [und] ganzheitlichen« Begriff einführt.6 Aus seiner Sicht wurde der »Raum der Biologie« bislang »doppelt eingeengt«.7 Einerseits stand der organischen Natur eine anorganische gegenüber, in der sich mechanistische Prinzipien geltend machten. Andererseits definierte selbst dort, wo die Natur als lebendige aufgefasst wurde, der metaphysische Dualismus ihre teleologische Struktur.8 In beiden Fällen wird die fundamentale Bedeutung des Lebens »fachwissenschaftlich« eingeschränkt: ihm steht als ein anderes die ganze Natur des physikalischen Weltbilds entgegen – und auch das Seelische und Geistige bleibt ihm (als eigengesetzliche Zone) »entzogen«.9 Allerdings liegt im aristotelischen Entelechiedenken – vermittelt über Leibniz – ein wesentlicher Schlüssel zur historisch möglichen »Selbstbehauptung« des fundamentalbiologischen Prinzips »autonomen Lebens«; es sind die bildenden Kräfte (der teleologisch organisierten Materie nach Kant), die den bloß bewegenden an die Seite gestellt oder (mit Schelling) zugrunde gelegt werden.10 »Als durch Herder, Blumenbach, Goethe und die romantische Naturphilosophie der aus andern Sphären stammende Begriff ›Bildung‹, der seit Winckelmann aus dem Kunstraum in den Bereich einzelmenschlichen und menschheitlichen Werdens eingedrungen war, in der Biologie heimisch gemacht wurde, da schien die Brücke geschlagen, um die vorgefundenen Gegensätze in einer universalen ›Lebens‹-Einheit zusammenzufassen.«11
LOG_0100 (zuletzt geöffnet am 15.01.2020) und das studentische Kampfblatt des nationalsozialistischen deutschen Studentenbunds Der Heidelberger Student, 1937/38: 1, S. 1–3. Ich bedanke mich bei George Leaman für seine Recherche der o. a. Literatur am Philosophy Documentation Center in Charlottesville, Virginia. 6 Vgl. Krieck, Anthropologie, a. a. O., S. 2. 7 Vgl. ebd., S. 5. 8 Dieser Einwand bezieht sich auf den deutschen Idealismus und seine naturphilosophische Spekulation. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass in den Augen von Krieck Schellings Identitätsthese (von Natur und Geist nach dem Vorbild der dritten Kritik) die entscheidende Richtung einer ›höheren‹ Biologie schon vorgibt. 9 Vgl. ebd., S. 2, 3. 10 Vgl. ebd., S. 3. 11 Ebd., S. 6. Eine für die Herausbildung der Rassenanthropologie einschlägige Bezugnahme auf Winckelmanns antikes Kunstideal der Menschenbildung findet sich in Peter Camper, Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters [etc.], übers. v. S. Soemmerring, Berlin 1792, S. 1–37.
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Diese Referenz ist aus anthropologiegeschichtlicher Sicht durchaus einschlägig. Krieck versäumt auch nicht, auf die »neovitalistischen« Entwicklungen (durch Hans Driesch) hinzuweisen, die zum »mechanistischen Darwinismus« auf Distanz gehen.12 Zwar gehen sie ihm nicht weit genug; dies liegt aber nur daran, dass das (menschliche) Leben nicht wirklich ganzheitlich betrachtet wird, nämlich als »organische Zusammengehörigkeit von Leib, Seele und Geist«.13 Es gibt ein biologisches Fundament des Lebens; sobald aber der Mensch anthropologisch verhandelt wird, spielt nicht nur die antimechanistische, sondern zugleich die antidualistische Sichtweise eine entscheidende Rolle. Beides gehört nach Krieck eigentlich zusammen. Anders gesagt, exemplifiziert die vitalistisch erweiterte Biologie, die die Natur im Ganzen als lebendige ansieht, noch eine disziplinäre Begrenzung, die erst mit dem menschlichen Leben, mit seiner Natur und Geist vermittelnden Konkretion aufgehoben wird. »Die biologische Weltanschauung […] strebt zum universalen, ganzheitlichen und totalen Begriff ›Leben‹, und die darauf gegründete Wissenschaft, die im Entstehen begriffene rassisch-völkisch-politische Anthropologie insbesondere, erfüllt erst den Anspruch der Totalität. Diese Anthropologie tritt an die Stelle der inzwischen verstorbenen ›Philosophie‹, keineswegs als Fach unter Fächern, sondern als übergeordneter Ausdruck einer alle Wissenschaften zu neuer Sinneinheit zusammenfassender Totalität, an der sämtliche Fachwissenschaften gebend und empfangend Anteil haben, durch die sie untereinander in eine belebende Wechselwirkung, in eine befruchtende Sinnganzheit eintreten.«14
Die Philosophie findet zu sich selbst in der Anthropologie.15 Dieser Vorgang spiegelt sich in ihrer fundamentalen und integrativen Bedeutung für die grundlegende Organisation des Wissens wider.16 Mit diesem Anspruch 12 Vgl. Krieck, Anthropologie, Bd. 1, a. a. O., S. 2. Plessner und Scheler agieren in den Texten der 1920er Jahre mit Blick auf Darwin und Driesch oder auch Jakob v. Uexküll genauso. 13 Vgl. ebd., S. 7. Festzuhalten ist, dass trotz der darwinkritischen Haltung die Anthropologie des ganzen Menschen gerade nicht per se nicht-biologistisch aufgestellt ist. Auch im Kontext des sog. Sozialdarwinismus ist Biologismus kein einfaches oder einfach zu handhabendes Kriterium. 14 Ebd., S. 7. 15 Vgl. ebd., S. 43. 16 Vgl. zu diesem Selbstverständnis das mehrbändige Projekt von Gadamer, Vogler, Neue Anthropologie a. a. O., das sich auf den anthropologischen Wissenschaftsbegriff der naturphilosophischen Tradition nach Schelling und Fries stützen kann. Noch heute behauptet sich im Anthropologiebegriff gerne eine besondere Zuständigkeit für die ›Konvergenz‹ lebenswissenschaftlicher und moraltheoretischer Expertise.
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steht Krieck in einer naturphilosophischen Tradition des 19. Jahrhunderts, die bereits die Anthropologie zur ›ersten Philosophie‹ erklärt hat – und dies in unterschiedlichen Ausprägungen bei Jakob F. Fries (und damit einer Richtung der Wissenschaftstheorie sowie der Psychologie und Pädagogik), in der Schelling-Schule der romantischen Anthropologie und bei Ludwig Feuerbach.17 Seit der Mitte des Jahrhunderts setzen zudem Entwicklungen ein, die weniger die Philosophie in der Anthropologie kulminieren als vielmehr dieselbe in ihr untergehen sehen. Anthropologie ist dann der Name für eine Fundamentalwissenschaft, die die verwaisten Plätze der aus ihrer Sicht antiquierten Theologie und Metaphysik einnimmt. Dies geschieht zunächst im Namen der naturwissenschaftlichen Weltanschauung bzw. etwas später des Darwinismus.18 Allein muss das nicht heißen, dass die Biologie das Feld dominiert. So dokumentiert etwa die interdisziplinäre Zusammensetzung der 1869 maßgeblich von Rudolf Virchow und Adolf Bastian gegründeten Berliner Anthropologischen Gesellschaft, dass schon im Gründungsjahr neben der Medizin, Botanik oder Geologie auch die Fächer Ethnologie, Geografie und Geschichte vertreten waren.19 Virchow und Bastian, der Mediziner und der Ethnologe, hatten in den Jahren 1869 bis 1883 abwechselnd den Vorsitz inne. Beide standen Darwin kritisch gegenüber. Das Leben steht einerseits als spezieller biologischer Begriff neben den kultur- oder geisteswissenschaftlichen Fächern. Andererseits bezeichnet es als universaler Begriff den Grund der nur traditionell-dualistisch getrennten Bereiche. In der Anthropologie finden sie zueinander. Dieser Aspekt ›mensch 17 Während die Kantische Anthropologie kein Teil einer systematischen Philosophie zu sein beansprucht, ändern sich die Dinge mit der zunehmenden Prominenz des von Schelling entwickelten naturphilosophischen Ansatzes. Ihm liegt ein identitätsphilosophisch modifizierter Organismusbegriff zugrunde, der aus der Kritik der Urteilskraft entnommen – und gegen Kants explizite Einteilungen für die Anthropologie nutzbar gemacht wird. 18 Vgl. Ludwig Büchner, Kraft und Stoff [1855], Neudruck der ersten Auflage, Leipzig o. J. und Ernst Haeckel, »Über die Entwicklungstheorie Darwins« [1863], in: ders., Gemeinverständliche Werke, Bd. 5, Leipzig, Berlin 1924, S. 3–32. 19 Vgl. die Homepage der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, http://www.bgaeu.de/ (zuletzt geöffnet am 05.11.2019). Bastian zieht mit Blick auf die methodische Relevanz des induktiven Verfahrens der Psychologie für die Ausbildung der Ethnologie eine historische Linie von Fries zu Wundt. Vgl. Adolf Bastian, Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen, Berlin 1881, S. 4–5. Historisch betrachtet vermittelt zwischen Volksgeist und Völkerpsychologie eine Anthropologie des Volkscharakters, der wiederum naturphilosophische Voraussetzungen (eines ›Lebensganzen‹) geltend macht.
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lichen Lebens‹ kann auch im wissenschaftlichen Methodenstreit der Zeit verdeutlicht werden. Die im Neukantianismus von Wilhelm Windelband getroffene (und von Heinrich Rickert weiter differenzierte) Unterscheidung zwischen nomothetischen und idiographischen (generalisierenden und individualisierenden) Verfahren wird von Krieck auf ein grundsätzlicheres Erleben zurückgeführt. Das »Er-Leben« entspricht einer »ganzheitlichen Anschauung« (mit expliziter Referenz auf Goethe) – oder einem »Verstehen«, das nicht im »Erklären« aufgeht.20 »Wenn ich als ganzer Mensch […] ein Lebewesen in seiner Ganzheit anschauend erfasse und umfasse, so habe ich in der einmaligen Sondergestalt zugleich die Urphänomenalität, […] das Gesamtlebensprinzip.«21 Aufgerufen werden damit Begriffe (erleben, verstehen, anschauen), die in der zeitgenössischen Diskussion – von Dilthey bis Heidegger – eine zentrale Bedeutung besitzen. Auch in den als Geburtsurkunden geltenden Texten der (›neueren‹) philosophischen Anthropologie von Max Scheler und Helmuth Plessner aus dem Jahr 1928 spielen sie eine wesentliche Rolle, indem sie den methodischen Zugang zu den entscheidenden »Kategorien des Lebens« eröffnen.22 Im Unterschied zu den elaborierten hermeneutischen und phänomenologischen Methoden bleibt das Konzept der »ganzheitlichen Erkenntnis« bei Krieck ein eher Plausibilität suggerierendes Konstrukt. Die Suggestion operiert auf den Ebenen historischer Anknüpfung und gesamtpolitischer Stringenz. Bezugspunkte der im Leben verwurzelten Anschauung sind physiognomische Überlegungen, das innere Wesen (eines Charakters) aus der äußeren Erscheinung abzulesen, oder auch der »Mythos natürlicher Art«, der gleichsam das Bild einer unverdorbenen menschlichen Natur, einer ursprünglichen Primitivität verkörpert.23 In bei 20 Vgl. Krieck, Anthropologie, Bd. 1, a. a. O., S. 26, 28. Die Psychologie ist z. B. ein »Zweig der Anthropologie«, weil auch die Seele nicht in einem vom Körper abgetrennten Spezialgebiet abzuhandeln ist, sondern ausgehend von einer lebendigen Vermittlung aller Momente des ganzen Menschen. Vgl. ebd., S. 50. 21 Ebd., S. 28. 22 Vgl. ebd., S. 20. Arnold Gehlens Arbeiten widmen sich ebenfalls in erster Linie der Erfassung dieser Grundkategorien des menschlichen Lebens. In diesem Vorgehen spiegelt sich eine ›Wesens-Orientierung‹, die mit der idealtypischen Auszeichnung menschlicher Ursprünglichkeit zusammenstimmt. Vgl. Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen [1956], Frankfurt a. M., Bonn 1964, S. 7, 91, 155. 23 Vgl. Krieck, Anthropologie, Bd. 1, a. a. O., S. 27. »In der Anschauung erfasse ich zwar Form und Erscheinung, aber nirgends anders offenbart sich die Wesenheit, das Innen: Denn was drinnen ist, ist draußen. […] Anschauung überwindet jenen abstrakten Gegensatz des Innen und Außen.« Ebd., S. 28. Rousseaus Mythos des menschlichen Naturzustands lebt in der anthropologischen Tradition nicht nur im survival of the fittest
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den Fällen steht die anthropologische Tradition Pate, die das Leben vor seiner mechanistischen Zergliederung auszeichnet – sei es als ganzheitliches Menschenwesen, das als reiner Charakter im empirischen erscheint, sei es als ein im Naturzustand begründeter Mythos lebendiger Verbundenheit. Den Übergang vom nicht-menschlichen Leben zum menschlichen vollzieht Krieck mithilfe einer Erörterung des Bewusstseins. Dieses ist insofern spezifisch menschlich, als es ein Individuationsprinzip darstellt, das ein »Ich aus dem kontinuierlichen Strom [des] ganzheitlichen Lebenszusammenhang[s]« herauslöst und mit einer prekären, exzentrischen Weltoffenheit (Geworfenheit/Entwurf ) konfrontiert.24 Mit dieser anthropologischen Unterscheidung verbindet sich das Problem der »absoluten Vereinzelung und Verselbständigung«, die Verfall, Auflösung und Anarchie nach sich ziehen.25 Mit Fichte spricht Krieck von der »vollendeten Sündhaftigkeit« des individualistischen Zeitalters.26 Ihr wird die geschichtliche Aufgabe entgegengesetzt, den Sinn der »höheren Lebensganzheit« zu erfüllen.27 »Ichheit wird zum Sündenfall, wenn sie zum ›Egoismus‹, das heißt zur Autonomieerklärung des Ich, zu seiner Lösung und Überordnung gegenüber der ›Gemeinschaft‹, dem ganzheitlichen Lebenszusammenhang führt.«28 (bei gleichzeitiger Ablehnung der ›kontraselektorischen‹ Einrichtungen des humanistisch zivilisierten Lebens) weiter, sondern auch in der Unterscheidung einer primären (ursprünglichen) von einer sekundären (gegenwärtigen, degenerierten, traurigen oder kolonial entstellten) Primitivität, die in ihrem wechselseitigen Bezug Exotisierung und Rassismus miteinander verbindet. Zum Beispiel bezeichnet Gehlen in diesem Sinne die »Magie als den degenerierten Ritus«. Vgl. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 240. Auch der ›Primitivismus‹ in den künstlerischen Bewegungen nach 1900 bedient sich idealisierender Strategien, wenn das ›Wilde‹ in unreflektierter Form die radikale Moderne vorwegzunehmen scheint. Vgl. Erhard Schüttpelz, Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie 1870–1960, München 2005. 24 Vgl. Krieck, Anthropologie, Bd. 1, a. a. O., S. 30. »Es ist dem Menschen als Menschen notwendig, aus der Unmittelbarkeit des Lebenszusammenhangs herauszutreten […].« Ebd., S. 31. 25 Vgl. ebd., S. 31. 26 Vgl. ebd., S. 31 und Johann G. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters [1804–05], Hamburg 1978. Krieck legt außerdem nahe, dass mit der »totalen Revolution« der »Machtübernahme« ein geschichtliches Stadium beginnt, das – gemäß Fichtes geschichtsphilosophischem Ablaufschema – die Zeit der individuellen Vereinzelung privater Interessen hinter sich lässt und auf diese Weise die ursprüngliche Verbindung mit der Natur auf höherer Ebene (Volk) wiedergewinnt. Vgl. Krieck, Anthropologie, Bd. 1, a. a. O., S. 85. 27 Vgl. ebd., S. 36. 28 Ebd., S. 30.
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Menschsein bedeutet, die animalische Umwelt und Instinktsicherheit verloren zu haben und doch den Verlust in der Sinnsphäre des Lebens, in der völkisch-politischen Konkretion seiner »Erscheinungsweisen und Ausdrucksformen« ausgleichen zu können.29 Der einzelne Mensch kann im Ganzen einer politischen Lebenseinheit aufgehen – nach »Maßgabe« seiner Leistungen in »organischer Gliedschaft«.30 Ebenso ist auch jede Erkenntnis an ihre speziellen Lebensbedingungen gebunden; und jede »ganzheitliche Erkenntnis« bestimmt sich aus dem »Lebensgrund« ihrer »völkische[n], rassische[n], geschichtliche[n] Struktur.«31 Hiermit umgreift sie Theorie und Praxis, sofern sie »dem Leben […] dient« und ihren Sinn aus der vom »Schicksal« gestellten Aufgabe bezieht, die »aus den Lebensuntergründen aufbricht«.32 Krieck nimmt hier vorweg, dass aus seiner Sicht die Substanz menschlichen Lebens eine geschichtliche Kontur besitzt, die nach politischer Führung eines nationalen Kollektivs verlangt. Das Volk ist gleichsam eine anthropologische ›Vitalkategorie‹, deren substanzielle (biologische wie kulturell-geschichtliche) Einheit aus ganzheitlicher Erkenntnis resultiert.33 An diesem Punkt und durch diese Prämissen macht sich die Kriecksche Anthropologie unangreifbar: ihre Einsichten sind einem ›führenden‹ Denken vorbehalten, das sich aus dem Leben heraus auf seine geschichtliche Sendung berufen kann. Eine andere Meinung diffamiert sich damit selbst. An diesem Punkt wird die politikpraktische Relevanz der Anthropologie von Krieck klargestellt. Sie terminiert im »Prinzip der inneren Menschenformung« im Sinne eines nationalpädagogischen Auftrags, »das lebendige Werden […] ins Bewußtsein« zu heben.34 Einem subjektivistisch verzerrten Bild des ›Pragmatischen‹ wird die Anthropologie entgegengesetzt, die ihre Gründe in einer substantiellen Lebenseinheit findet.35 Diese liegen im »Volk 29 Vgl. ebd., S. 17. Vgl. zur Unterscheidung von Mensch und Tier ebd., S. 49, 78. »In der ›Vernunft‹, der Fähigkeit sich zu lösen, zu erheben und zu verselbständigen, nach eigenen Zwecken zu denken und zu handeln, liegt die Möglichkeit der eigenartigen geschichtlichen Größe wie auch der […] Schuldhaftigkeit des Menschen.« Ebd., S. 79. 30 Vgl. ebd., S. 31. 31 Vgl. ebd., S. 33. 32 Vgl. ebd., S. 34, 37. »Tun und Erkennen sind maßgeblich und gemeinsam unterworfen dem Sinn des Lebens, und in der Sinnerfüllung des Lebens hat das Tun den Primat […].« Ebd., S. 35. 33 Vgl. ebd., S. 44–47. 34 Vgl. ebd., S. 35. 35 Vgl. ebd. Die ablehnende Haltung dem Pragmatismus gegenüber geht in der Sache zurück auf Max Scheler, »Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Erkenntnis der Welt« [1926], in: ders., Gesammelte Werke
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als Ganzheit überpersönlichen Lebens« und also im »völkischen Menschen«, »eingespannt zwischen Rasse und Geschichte, zwischen seiner Naturgegebenheit und der auferlegten geschichtsbildenden Aufgabe […].«36 Hiermit gibt es eine Spannung zwischen dem, was das Volk als vitale Gegebenheit ist und dem, was aus ihm werden kann oder worin seine Bestimmung liegt. »Nach den eindeutigen Worten des Führers liegt die letzte Entscheidung der nationalsozialistischen Revolution in der Formung eines neuen deutschen Menschentums aus den gesund gebliebenen Naturgrundlagen.«37 Die biopolitische Ausrichtung der Anthropologie korrespondiert mit der privilegierten Stellung des Volkes, das als vitale Totalität einerseits in einem dauernden Prozess der Veränderung steht und andererseits eine ebenso biologische wie auch geschichtliche Identität für sich geltend machen kann. Krieck spricht von der »Stetigkeit des Charakters« hinsichtlich einzelner Personen wie auch eines ganzen Volks.38 Begründet wird sie in beiden Fällen »durch das gemeinsame Rasseprinzip«.39 ›Rasse‹ fungiert wie schon der personale und völkische Charakter als ein ganzheitliches, identitäres und quasi-dynamisches Konzept. Es operiert in einem Entwicklungsschema, das Aufstieg und Verfall in sozialdarwinistischer Terminologie unterscheidet. Von ›Zucht‹ ist häufig die Rede – ›Selbstzucht‹, ›Charakterzucht‹, ›Rassezucht‹ –, die nach Maßgabe rassenhygienischer Grundsätze die Aufwärtsentwicklung der Lebenssubstanz des Volkes befördert und damit die Gefahren der Degeneration und Entartung abwehrt.40 ›Rasse‹ ist zwar selbst nicht steigerbar – sie drückt sich etwa in der Bd. 8, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bern 1960, S. 191–382. Ein Vorrang der Praxis wird dagegen von Krieck anerkannt, während er einer Zurückweisung der Praxis als ›subjektivistisch‹ irregeleitet durchaus skeptisch begegnet. Dies hängt nicht zuletzt mit seiner Kritik an Heideggers Ontologie zusammen (ohne Heideggers Namen auch nur zu erwähnen), die nach seiner Auffassung allzu »artifiziell« (philosophisch-technisch) geraten ist und in einem verrätselten Seinsgeschick die Ursprünge vermutet statt sie in der geschichtlich-biologischen Konkretion des Lebens zu verorten. Vgl. Krieck, Anthropologie, Bd. 1, a. a. O., S. 37–38. 36 Vgl. ebd., S. 44, 43. 37 Ebd., S. 43. 38 Vgl. ebd., S. 73. 39 Vgl. ebd., S. 74. 40 »Wie dem Einzelleben wohnt den Lebensganzheiten (z. B. den Völkern) der Sinn und das Streben ein zu ihrem möglichen Höchstmaß, zum Optimum und Maximum der Reife, der Gestalt, der Leistungsfähigkeit zu kommen. Weg zu diesem Ziel ist Schöpfung […] und Erziehung. Natürliche Vorbedingung, Grundlage für beides aber ist Rasse und Rassezucht. […] Erneuerung des deutschen Menschentums aus Blut und Boden ist die zentrale Aufgabe, bestimmend für das führende Menschenbild.« Ebd., S. 75–76. Vgl. ebd., S. 105.
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wertvollen Erbsubstanz einer Ahnenreihe aus –; »[a]ber es können in der völkischen Gemeinschaft die edlen Rassenzüge ausgelesen, quantitativ gestärkt, von Hemmungen und Schädlingen befreit, entmischt und zur Herrschaft gebracht werden.«41 An mehreren Stellen des Buches kommt Krieck auf »Midgard« zu sprechen – bereits 1904 hatte Willibald Hentschel seine Vorstellungen zur ›germanischen Rassenzüchtung‹ unter diesem Namen publiziert.42 Im Leben eines Volkes verbinden sich die naturhafte Seite der biologisch grundierten Entwicklung einerseits und seine historische Gestaltung im politischen Handeln andererseits.43 Das Volk ist aus Gründen seiner vitalen Identität eine Gemeinschaft, deren Schicksal sich in geschichtlicher Zeit zu erfüllen hat. An diesem Punkt scheitert nach Krieck die liberale Demokratie (der Weimarer Republik), die im Individualismus der Aufklärungsphilosophie vergeblich auf rationale Einsicht pochte. In der Substanz des Lebens aber liegt die Bestimmung eines Volkes, eine »gemeinsame Ergriffenheit« in der »deutschen Volkwerdung als ›Bewegung‹«, die den einzelnen Menschen nach Blut und ›Rasse‹ aus der Totalität seiner völkischen Zugehörigkeit heraus begreift.44 »So ist Gefolgschaft als politische Form der Bluts- und Schicksalsgemeinschaft im geschichtlichen Aufbruch Ausdruck der wurzelhaften Lebenseinheit.«45 In der »Naturphilosophie der Romantik […] – nach dem Vorgang Herders – [wurde] die Einheit der völkischen Gebilde und ihr Wachsen aus dem naturhaften Lebensgrund« schon gelehrt.46 Aber ihr fehlte mit dem Konzept der ›Rasse‹ noch ein Verständnis für die vitale Einheit von Natur und Geist, die idealistisch auseinander fiel. Aus diesem Grund wurde die politische Gestaltung nicht als Teil der Lebensentwicklung erkannt, ›Volksgeist‹ und Kultur nicht dem »Primat der Politik« unterstellt, die die »Schicksalslinie der Völker« bestimmt.47 Erst »der Führer ist Vollstrecker des Schicksals und der naturhaft-rassischen Bestimmung […] auf einmal.«48 41 Ebd., S. 76. 42 Vgl. ebd., S. 55, 68. Vgl. Willibald Hentschel, Mittgart. Ein Weg zur Erneuerung der germanischen Rasse, Leipzig 1904. Siehe auch die Darstellung ›eugenischer Utopien‹ in Hedwig Conrad-Martius, Utopien der Menschenzüchtung. Der Sozialdarwinismus und seine Folgen, München 1955. 43 Vgl. Krieck, Anthropologie, Bd. 1, a. a. O., S. 93. 44 Vgl. ebd., S. 93, 86. 45 Ebd., S. 90–91. 46 Vgl. ebd., S. 93. 47 Vgl. ebd., S. 87. 48 Ebd., S. 94. Als »Persönlichkeit« oder »schöpferischer Mensch« besitzt der »Führer«, so Krieck, politische Gestaltungskraft nach Maßgabe seiner überragenden vitalen Verfassung. Vgl. ebd., S. 37.
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Staat und Volk gehören danach zusammen wie Führer und Gefolg schaft.49 Das revolutionäre Moment der ›Machtergreifung‹ ist eine »geschichtliche Schöpfung« des politischen ›Gründens‹ und kein bloß natürlicher oder technischer Vorgang. Von Hermann, dem Cheruskerfürst, über die Karolinger bis zu Bismarck wird eine Linie im Geist der nationalistischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts gezogen. An sie schließt die NS-Bewegung an, die ein neues Band zwischen Volk und Staat zu knüpfen beabsichtigt: »die Partei hat dafür aus dem Volk durch ihre Organe einen neuen und maßgeblichen Menschentyp ausgeformt und herangezüchtet: den politischen Soldaten.«50 Sie verkörpern den revolutionären Geist der Bewegung und tragen die »Verantwortung der deutschen Zukunft« – eine »Schicksalsfrage«, wie Krieck sagt, und damit zugleich eine Frage der biopolitischen Selbsterneuerung, »aus den gesunden Naturgrundlagen […] eine stetige Linie und Zucht zu schaffen, aus der ein Volk und Menschentum zu einheitlich gerichteter politischer Haltung heraufgeführt wird, zur Umbildung seines […] verbogenen und verderbten Charakters, damit Volk und Menschentum jenen rassisch vorbestimmten Charakter in sich verwirkliche, der es zur Erfüllung seiner Mission in der Geschichte fähig macht.«51 Der gesunden Vitalität ist das Gute zugeordnet, nämlich die egoistischen Ziele zugunsten der gemeinschaftlichen aufzugeben und den Auflösungstendenzen der völkischen Einheit – sei es auf biologisch-rassischer, moralisch-religiöser oder auch auf politischer Ebene – entgegenzuwirken. »Wo ein Fremdes die Fälschung und Schwächung des Charakters bewirken kann, da liegt schon eine Einbruchstelle im Artcharakter, eine Schwäche des Blutes vor. Dagegen hilft nur die auf den guten und starken Seiten des Artcharakters aufgebaute Zucht. Menschenformung und Charakterzucht, die am tiefsten eindringende und am weitesten ausgreifende Aufgabe der nationalsozialistischen Revolution
49 »Die nationalsozialistische Bewegung ist Trägerin der geschichtsbildenden Bewegung: ihre Aufgabe ist neues Volk und neuer Staat […] als Einheit beider […], die eine revolutionäre Umbildung des gesamten Staatensystems und der Geschichte der abendländischen Völker bewirkt.« Ebd., S. 99. Die Staatlichkeit definiert eine geschichtliche Bildungsstufe der »Herrenvölker«: »staatslose Völker [sind] notwendig geschichtslose Völker […] Indianer und Neger […], Inder.« Vgl. ebd., S. 98. 50 Vgl. ebd., S. 101. Den »führenden Typus« des politischen Soldaten verkörpern »SA und SS, Arbeitsdienst und HJ«. Zwischen den traditionellen Ordnungen wie Familie, Schule, Verbände und den Parteiorganen »an der Spitze« der gesellschaftlichen Pyramide vermittelt »das Heer«. Vgl. ebd., S. 106. 51 Vgl. ebd., S. 101, 100.
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[…]. Diesmal erfolgt eine letzte Entscheidung zwischen dem untergründigen Eigenen und dem überlagernden Fremden.«52
Die Menschenformung ist die wesentliche Aufgabe des »völkisch-politischen Arztes«, indem er für die Volksgesundheit die Verantwortung trägt.53 In diesem Sinne ist die Heilkunde ein »Zweig der […] Anthropologie« und behandelt den »ganzen Menschen«.54 Die Krankheit ist insofern stets eine des Charakters und des Lebens – und der erkrankte Einzelne ein »für die völkische Zukunft mitverantwortlicher Volksgenosse«.55 Am Beispiel der Zuckerkrankheit verdeutlicht Krieck, dass der neue am Wohl des Volkes orientierte Arzt nicht lediglich auf lebensverlängernde Maßnahmen setzt, sondern vor allem eine Verantwortung gegenüber der Zukunft der Volksgemeinschaft wahrzunehmen hat. »Die Drüsenerkrankung ist erblich, und der Fall stellt den Arzt sofort vor die Frage erbkranken Nachwuchses.«56 Bei »schweren Fällen jugendlicher Zuckerkranker« stellt sich somit die Frage der Sterilisation – und es ist diese Logik der Auslese, die sich in den Sterilisationsund Euthanasieprogrammen und letztlich auch in der Ermordung des als ›lebensunwert‹ begriffenen Lebens manifestiert. In seinen Äußerungen bleibt Krieck dennoch eher moderat. Er spricht vom Sinn des einzelnen Lebens, das »in Einklang zu bringen [ist] mit Sinn und Richtung des höheren Ganzen«; was einigermaßen harmlos klingt – und es ja doch keineswegs ist.57 Schließlich kommen Krankheit, Entartung und überhaupt das Böse genau dort ins Spiel, wo »Eigengesetz und Gesetz des Ganzen auseinander[klaffen]« – und ein sinnerfülltes Leben spiegelt sich in einem »sinnerfüllenden Tod« der »heldischen Rassen«, während die »bürgerlichen Menschen und die Sklaven […] den Tod [fliehen].«58 Kriecks Anthropologie macht damit klar, 52 Ebd., S. 105. 53 Vgl. ebd., S. 109. Der völkisch-politische Arzt entspricht der Umwandlung des völkisch-anthropologischen Menschenbilds; nicht länger begreift sich dieser Arzt als »universaler Techniker und Mechaniker« – wie auch die zugehörige Pharmazeutik nicht als profitorientiertes Unternehmen. Vgl. ebd., S. 114. »Der völkisch-politische Arzt samt der ihm nötigen Anthropologie […] erwächst vorwiegend an den neuen Gesetzen zur Volksgesundheit, Volkspflege, Bevölkerungspolitik – und also an einem Kernstück nationalsozialistischer Weltanschauung und geschichtsbildender Aufgabe.« Ebd., S. 115. 54 Vgl. ebd., S. 108, 107. 55 Ebd., S. 112. 56 Ebd., S. 116. Bereits am 14. Juli 1933 wird das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« verabschiedet; am 18. Oktober 1935 folgt das »Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes«. 57 Vgl. ebd., S. 117. 58 Vgl. ebd., S. 118, 119.
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dass der Einzelne im Volk die Substanz seines Lebens und in der Politik des Führers die Sinnorientierung in der Kampfbereitschaft zu einem ›höheren Leben‹ findet. Und dies am Vorabend des zweiten Weltkriegs.
5.2 Kritik der anthropologischen Biopolitik Die Rekonstruktion der Völkisch-politischen Anthropologie Kriecks wurde möglich durch die gewählte Perspektive auf ihre anthropologiegeschicht lichen Hintergründe, die im philosophischen Diskurs seit Kant zu berücksichtigen sind. Dass ihre historisch informierte Kritik selten artikuliert wird hat verschiedene Gründe. Ein Grund dürfte in der Tabuisierung der biologisch-politisch ausgeprägten Anthropologie nach dem 2. Weltkrieg liegen, die mit einer prinzipiellen Ablehnung ihrer NS-ideologischen Komponenten, insbesondere des Rassismus und der Eugenik, zusammenhängt. (Nicht die Ablehnung ist hier das Problem, das versteht sich (fast) von selbst, sondern die Ignoranz und Gleichgültigkeit, die sich mit ihr verbindet – und die selbst kein Erbe ausschlagen.) Ein weiterer Grund hat mit dem Selbstverständnis einer Neugründung der dezidiert philosophischen Anthropologie zu tun (und ihrem Nimbus seit den 1950er Jahren), die Max Scheler und Helmuth Plessner für sich beanspruchen – wodurch rhetorisch die Kontinuität der älteren philosophischen Tradition unterbrochen scheint, ohne dies überhaupt ausdrücklich zu machen. Weitere Gründe finden sich in der Rigorosität, mit der der Gegensatz moralischer und instrumenteller Vernunft modelliert wird, oder auch in der zunehmend strikten wissenschaftlichen Methodologie, die den ideologischen Missbrauch eines im Prinzip wertfreien Wissens anprangert und zugleich die Umwandlung von biologischer Anthropologie in Humangenetik viel zu geräuschlos toleriert. Welche Aspekte der anthropologischen Rationalität der philosophischen Tradition finden sich in Kriecks Ausführungen – und an welchen Stellen ist sie variabel genug, um derartig radikale Zuspitzungen zuzulassen (ohne selbst zu brechen)? Aus meiner Sicht kommen hier vor allem drei Dinge ins Spiel: erstens eine Idee des Menschen (von seiner idealistischen Vernunftmoral über seine Normalität bis zu seiner utopisch-zukünftigen Gestalt); zweitens die Konstruktion eines Entwicklungs- oder Veränderungsprozesses, der Aufstieg oder Verfall (u. a. Zucht und Entartung) bedeuten kann; und drittens die Charakteristik, d. h. die Möglichkeit, empirisch Typenunterschiede der
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menschlichen Natur festzustellen und geltend zu machen: nach Geschlecht, Volk und ›Rasse‹ – oder auch hinsichtlich Alter, Krankheit, Mentalität. Eine weitere (und weniger variable) Voraussetzung liegt im Konzept des ganzheitlichen Lebens, das sich im ganzen Menschen – verstanden als eine biologisch-kulturelle Einheit – auf besonderer Stufe bemerkbar macht. Die genannten Aspekte finden sich bei Krieck in besonderen Relationen: Seine Anthropologie ist vitalistisch aufgebaut, sofern sie im Volk eine Lebenswirklichkeit ausfindig macht, die sich gleichsam selbst politisch regiert, indem sie (durch ihre Führungseliten) regulierend auf ihre biologischen Ressourcen einwirkt. Es handelt sich dabei um Vorgänge der Menschenformung, die die Zucht in pädagogischer oder militärischer Hinsicht mit rassenhygienischen, v. a. eugenischen Vorstellungen verbindet. Die Eugenik wendet sich gegen das degenerierte, erblich belastete Leben und verfolgt die Idee einer Höherzüchtung, die an einem gesunden und leistungsstarken (und wie immer auch fiktiven ›nordischen‹) Rassetypus festgemacht wird. Im Volk als vitale Identität findet sich nach Krieck sowohl ein ursprünglicher gesunder Kern, den es politisch zu entwickeln gilt, als auch diverse fremdartige, gleichsam infektiöse Krankheitserreger, die zu erkennen und zu beseitigen sind. Sie gehören nicht wirklich dazu und sind daher nicht innerhalb der homogenen Totalität repräsentiert, sondern als ›andere‹: es kann sich dabei genauso um politische Gegner*innen wie auch um Menschen handeln, die den Vorstellungen von einem gesunden deutschen Mann bzw. einer gesunden deutschen Frau nicht entsprechen oder nicht entsprechen sollen. In Frage kommen regelmäßig (im Sinne der Nazis): Juden und die bolschewistischen Aufrührer, die sogenannten Zigeuner oder die seelisch bzw. körperlich Verkrüppelten und Anomalen. Eine genaue Lektüre der Anthropologie Kriecks kann zwei besonders relevante Aspekte ihrer biopolitisch informierten Kritik herausstellen: die Konstruktion eines minderwertigen Lebens einerseits in Abhängigkeit von der Vorstellung einer homogenen Gruppenidentität (bei Krieck: eines Volkes) andererseits. Hier sind die Bezüge zu den gegenwärtig aktiven sogenannten Identitären Bewegungen offensichtlich.59 Eine identitär gefasste ›Ethno-Kultur‹ suggeriert eine kulturell und wohl auch ›rassisch‹ homogene Einheit, die durch Fremdeinflüsse einer substantiellen Gefährdung ausgesetzt ist: die in rechtsnationalen Kreisen viel beschworene ›Islamisierung 59 Vgl. Johannes Steizinger, Die identitäre Ideologie. Wiederkehr des völkischen Denkens, in: Perspektiven DS 35 (2), 2018; https://philarchive.org/rec/STEDII-4 (zuletzt geöffnet am 22.05.2020).
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Europas‹. Die völkische Betrachtung eines Volkes steht zweifellos in einer philosophischen Tradition, die wesensmäßig geschlossene Kulturkreise als Kollektivseelen begreift, die in ihrer Besonderheit auf einen Weltgeist oder eine allgemein-menschliche Vernunft bezogen sind. Auf diese Weise manifestiert sich in einzelnen Völkern der bestimmte Vorgang eines welthistorisch verstandenen Entwicklungsprozesses, dessen implizite Kolonialität mit dem veranschlagten Universalismus geschichtlicher Rationalität unsichtbar gemacht wird.60 Anders gesagt, kann die Geschichte des Kolonialismus im Namen eines menschheitlichen Fortschritts als eine (eurozentristisch gefasste) Erfolgsgeschichte gedeutet werden. Aber auch dort, wo Humanität als Idee verabschiedet wird, kann – wie bei Krieck – die geschichtliche Aufgabe eines Volkes im Sinne des Erringens einer hegemonialen Stellung in der Welt im Mittelpunkt stehen. Gerade die Situierung der völkischen Anthropologie in einer länger währenden europäischen Anthropologie- und Philosophietradition verdeutlicht, dass sich die notwendige Kritik nicht auf einen extremen Fall oder auch auf einzelne Stränge einer Wiederbelebung völkischen Denkens beschränken kann. Mit dem Konzept der Biopolitik existiert ein kritischer Ansatz, der sowohl auf totalitäre Politikformen als auch auf historisch weiter ausgreifende (kapitalistische) Machtverhältnisse beziehbar ist. Damit liefert er möglicherweise einen guten kritischen Umgang mit dem weit verzweigten anthropologischen Erbe. Anthropologiekritische Überlegungen finden sich darüber hinaus in der postkolonialen Literatur, wenn sie die noch gegenwärtige Relevanz einer ›Logik der Kolonialität‹ herausstellt.61 Ihre epistemische Struktur ist an den Begriff der ›Rasse‹ oder an das »Modell der Bestialisierung als minderwertig angesehener Gruppen« gebunden.62 Es ist eine offene, wenig bearbeitete und aktuell drängende Frage, inwiefern die Analysen der Biopolitik und des Kolonialismus – gerade auch in der Verschränkung von Kapitalismus- und Rassismuskritik – miteinander verträglich sind, sich gegenseitig bedingen oder aber in einer näher zu klärenden problematischen Form aufeinander bezogen sind. In der Anthropologie Kriecks inkludiert das menschliche Leben eine politische Dimension, sofern es als ein Ganzes, eine völkische Totalität, aufgefasst wird, die sich in einem politisch steuerbaren Entwicklungsprozess befindet. Ihre politische Gestaltung bezieht sich immer auch auf die vererb 60 Vgl. die Hegelkritik in Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, a. a. O., S. 130–133. 61 Vgl. ebd., S. 97–162, v. a. der Abschnitt zur »Exteriorität«, S. 117–127. 62 Vgl. Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, a. a. O., S. 48.
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lichen Lebensgrundlagen und damit auf die biomedizinischen Aspekte der Volksgesundheit. Giorgio Agamben hat die »Verwandlung der natürlichen Vererbung […] in Politik« bzw. ihre »dynamische Identität« als das zentrale (und fundamental totalitäre) Moment der NS-Biopolitik bezeichnet.63 Das ruft Foucaults Überlegungen (zu Biomacht und Biopolitik) auf den Plan und wirft zugleich eine Frage auf.64 In Frage steht die Aktualität einer Kritik, die sich auf die biopolitischen Aspekte der NS-Vergangenheit konzen triert. Wurde die seinerzeit ›autoritäre Biopolitik‹ nicht nach Kriegsende von einer mehr ›liberalen‹ abgelöst? Oder anders gefasst, markiert eine historisch genau bestimmbare Biopolitik womöglich den Punkt, wo anthropologische Vernunft eine derart spezifische Form annimmt, dass sie von einigen Grundmerkmalen der NS-Weltanschauung ununterscheidbar wird. Nach Foucault ist die Lebenspolitik, wie sie sich auch bei Krieck ausspricht, in ein komplexes modernes Machtphänomen eingebunden. Im Willen zum Wissen spricht er vom ›Dispositiv der Sexualität‹ als machtförmigem Hintergrund des Biopolitischen. Nicht nur die Sexualität entsteht danach im Zuge ihrer humanwissenschaftlichen Ausdifferenzierung in den biologischen, medizinischen, pädagogischen, psychologischen und politisch-ökonomischen Diskursen im 19. Jahrhundert. Sie entsteht gleichzeitig mit ihrer Rationalisierung auf allen möglichen Ebenen – und mit ihr die Eugenik, die Degenerationstheorie, die Psychiatrie der Perversionen und womöglich die Idee eines »lebensunwerten Lebens«.65 Allerdings handelt es sich bei diesem Begriff von Karl Binding und Alfred Hoche, einem Strafrechtler und einem Mediziner, die sich mit dem Problem der Zulässigkeit der Euthanasie beschäftigten, um einen Grenzbegriff, der im Foucaultschen Dispositiv kaum mehr Platz hat. Das zeigt sich in einer Vorlesung (aus dem Zyklus Zur Verteidigung der Gesellschaft) vom 17. März 1976, wenn Foucault die Tötung des Lebens auf eine souveräne Macht bezieht, die sich von der modernen produktiven Macht einer Verbesserung des Lebens (im Sinne einer ›normalen‹
63 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben [1995], übers. v. H. Thüring, Frankfurt a. M. 2002, S. 157. Agamben bezieht sich hier auf einen Text Otmar von Verschuers, einem der profiliertesten Rassenhygieniker der NS-Zeit (und nach dem Krieg von 1951–65 Professor für Humangenetik an der Universität in Münster), erschienen in Karl Epting (Hg.), Etat et Santé. Cahiers de l’Institut allemand, vol. 4, Paris: Sorlot 1942. 64 Vgl. Foucault, Wille zum Wissen, a. a. O., S. 170–171. 65 Vgl. Karl Binding, Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920.
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Steigerung seiner Effizienz) grundsätzlich unterscheidet.66 Dies wäre ein Indiz für die Inaktualität und Vergangenheit des biopolitischen Paradigmas im NS und seiner Exklusionsstrategien (der Auslöschung von Anomalität). Agamben bringt an dieser Stelle einen anderen Vorschlag ins Spiel. Aus seiner Sicht ist die Biopolitik stets auch eine Thanato- oder Todespolitik – und ihre Eigentümlichkeit besteht im Bezug einer souveränen Macht auf ein bloßes oder nacktes Leben (homo sacer).67 Weder die politische Disqualifizierung von Menschen noch ihre gezielte Tötung markieren aus seiner Sicht spezifisch vergangene und totalitäre Politikformen. Wie vielleicht zuletzt aktuelle Krisen von Flucht und Migration gezeigt haben, exemplifiziert das Lager weiterhin die biopolitische Machtstruktur der Gegenwart.68 In jedem Fall markiert nach Agamben die Politik als »›Politisierung‹ des nackten Lebens« oder als Biopolitik die »fundamentale Struktur der abendländischen Metaphysik«.69 Hier liegen auch die Gründe für seine »These von einer innersten Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus«, die mit der gesellschaftskritischen Diagnose von »postdemokratischen Spektakel-Gesellschaften« zusammenstimmt.70 Aus meiner Sicht ermöglicht es die anthropologiegeschichtlich informierte Kritik, den Begriff der Biopolitik so anzulegen, dass die soeben skizzierte Alternative zwischen einer zeitlosen metaphysischen Struktur einerseits und einer machtförmigen Regression andererseits, die einer Vergangenheit totalitärer Souveränität zugehört, aufgegeben werden kann. Wie bereits Foucault in den Analysen zum Dispositiv der Sexualität herausgearbeitet hat, ist die biopolitische Entwicklung im frühen 20. Jahrhundert auf eine spezifisch moderne Struktur bezogen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entsteht. In seinen Untersuchungen humanwissenschaftlicher Diskurse behan 66 Vgl. Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975–76 [1996], übers. v. M. Ott, Frankfurt a. M. 1999, S. 294–305. Das Leben zu differenzieren (in lebenswert und nicht lebenswert) und letztlich auch zu töten: dies ermöglicht einer souveränen Staatsmacht in einer Normalisierungsgesellschaft der Rassismus. Im NS wird dieser Zusammenhang auf die Spitze getrieben: »Es gab bei den Nazis die Koinzidenz zwischen einer verallgemeinerten Bio-Macht und einer absoluten Diktatur […].« Ebd., S. 301. 67 Vgl. Agamben, Homo sacer, a. a. O., S. 130. 68 Vgl. ebd., S. 175–189, S. 140f. 69 Vgl. ebd., S. 18. »Die ›Politisierung‹ des nackten Lebens ist die Aufgabe schlechthin der Metaphysik, in der über die Menschheit und den lebenden Menschen entschieden wird.« Ebd. 70 Vgl. ebd., S. 20. Im Spektakel der Massengesellschaft und seiner »vollkommenen Sinnlosigkeit« lebt der Totalitarismus weiter. Vgl. ebd., S. 21, 20.
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delt Foucault nicht nur Metaphysiken des Lebens, die eine anthropologische Form des Wissens voraussetzen, sondern auch Modi der Individualisierung, die an konstruierte minoritäre Identitäten gebunden sind. Die im Willen zum Wissen rekonstruierten Pathologien, Pädagogiken oder Perversionen stehen im Diskurs der anthropologischen Charakteristik und damit in Machtverhältnissen der sogenannten Biomacht, die enge Beziehungen mit der Verwissenschaftlichung des Wissens (z. B. der »Sexualität«) unterhält. Sowohl die Eugenik und die politische Ökonomie der Bevölkerung als auch der Rassismus und die in ihm angelegte koloniale Differenzierung des Menschen gehören damit in eine Logik der Moderne – und dies ungeachtet ihrer enormen Bedeutung für das Selbstverständnis und die Tötungsmaschinerie im NS. An diesem Punkt angelangt wäre es naheliegend, zwei weitere Überlegungen anzustellen. Erstens könnte mit Foucault, und zwar dieses Mal auf der Basis seiner kapitalismustheoretischen Ausführungen in den Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität, im Übergang zu dezidiert ›neoliberalen‹ ökonomischen Verhältnissen eine schärfere Zäsur zwischen disziplinären und postdisziplinären Machtformen beobachtet werden. Die »Vitalpolitik« des Ordoliberalen Alexander Rüstow kann so in die Nähe der Theorie des Humankapitals und einer weniger autoritären als vielmehr liberalen Eugenik gestellt werden, die Risikofaktoren in pathologischen Erbanlagen kalkuliert.71 Damit wäre gesagt, dass sich die biopolitische Ausrichtung gleichzeitig mit veränderten Normalisierungsstrategien (eines gleichsam ›neuen‹ kapitalistischen Geistes) transformiert.72 Und diese Überlegung führt zu einem zweiten Gedanken. Nicht nur die diskursive Verfertigung degenerierter Existenzen, die als lebensunwertes Leben der Vernichtung preisgegeben werden, sondern bereits die koloniale Ma 71 Vgl. zur Vitalpolitik von Alexander Rüstow: Foucault, Geburt der Biopolitik, a. a. O., S. 223–224 (Fußnote 62). Die moderne Genetik wird in eine direkte Beziehung zur Theorie des Humankapitals gestellt. Vgl. ebd., S. 316–318. Nach Foucault liegt ihre aktuelle Bedeutung weniger »in traditionellen Begriffen des Rassismus« und eher dort, wo es um die »Verbesserung des Humankapitals« geht, z. B. in der »Anwendung der Genetik auf die menschliche Bevölkerung«, um »die Personen erkennen zu können, die [in ihrer genetischen Ausstattung] ein Risiko tragen«. Vgl. ebd., S. 317, 318. Insofern der Rassismus bereits – auch im Sinne einer kolonialen Matrix – aus der anthropologischen Menschen-Differenzierung resultiert, ist seine strikte Zuordnung zu totalitärer Todespolitik (mit und gegen Foucault) nicht zwingend. 72 »Der gegenwärtige Aufstieg des Sicherheitsstaats ist begleitet von einer Umgestaltung der Welt durch Technologien und einer Verstärkung der Formen rassischer Zuschreibung.« Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, a. a. O., S. 52.
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trix der Hervorbringung eines minderen, primitiven oder unzivilisierten Lebens folgt dem Schema anthropologischer Charakteristik. Vereinfacht gesagt, stellt sich in verschiedenen Zeiten doch dieselbe machtanalytische Frage danach, welche Strukturen welche Minoritäten produzieren. Stets durchdringen sich Biopolitiken, anthropologische Unterschiede (krank-gesund, weiblich-männlich, schwarz-weiß) und kapitalistische Verhältnisse (arm-reich). Minderwertiges Leben hat (per definitionem) minderen Wert; d. h. es ist ineffektiv oder schädlich von Natur aus – oder seine Natur bestimmt sich daraus, dass es nichts einbringt und geltenden Idealen widerspricht. Es kann ausgebeutet werden, weil es auf einer unteren Entwicklungsskala rangiert –; und weil es bekehrt und geführt werden muss, ist es auf Passivität und Gehorsam gepolt. Damit will ich sagen, dass die Vermessung des Menschen bzw. der charakteristischen Qualitäten von Populationen immer schon in einem Verhältnis zu ihrer ökonomischen Bewertung standen. Die Anthropometrie ist ein Teil der Bevölkerungswissenschaften und ihrer Massenstatistik. So gesehen ist es wenig verwunderlich, dass mit der »Geburt der Biopolitik« die Genealogie des Kapitalismus erzählt werden kann – und sich darüber hinaus in diese Genealogie eine Logik der Kolonialität eingeschrieben hat.73 Wie Anibal Quijano sagt, ist ›Rasse‹ ein Begriff, der die elementare Erfahrung kolonialer Macht zum Ausdruck bringt, nämlich soziale Hierarchien, die die Arbeitsteilung in den weltweit entstehenden kapitalistischen Verhältnissen kontrollierbar macht und die Minderwertigkeit der wenig oder gar nicht entlohnten Arbeiter*innen naturalisiert und damit legitimiert.74 In einer globalisierten Welt verdichten sich die Geldflüsse überall dort, wo besondere Knotenpunkte entstehen, weil Märkte und Dienstleistungsindustrien, Bildung und Produktion, Kulturen und Kommerz sich treffen. Die Unterscheidungen nach Geschlecht und Rasse haben ihre Bedeutung sicher nicht verloren – und bestimmen noch immer hierarchische Verhältnisse sozialer Ungleichheiten. Und doch sind die charakteristischen Totalitäten der anthropologischen Tradition (Rassen, Völker und Kulturen) vor dem Hintergrund der global vernetzten Ökonomien stärker durchlöchert. 73 Allerdings gilt es einmal mehr festzuhalten, dass die von Foucault analysierten Phänomene des spezifisch neoliberalen homo oeconomicus, der als Unternehmer seiner selbst fungiert, nicht auf der Grundlage der älteren Massen- und Konsumgesellschaft adäquat thematisiert werden können. Womöglich wären die traditionellen Logiken von Klasse, Rasse und Masse auf dem veränderten Niveau unterschiedlicher Möglichkeiten der Investition in die eigene Zukunft (im Sinne von Entwicklungschancen) kritisch zu reformulieren. 74 Vgl. Quijano, Kolonialität der Macht, a. a. O., S. 23–33.
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Die Verdammten von heute zerstreuen sich über den ganzen Erdball, auch wenn die Produktion von Minoritäten mitsamt ihrer prekären Lebensbedingungen weiterhin vom kolonialen Schema abhängt.75 Sie gilt es in den Blick zu nehmen – und jederzeit damit zu rechnen und darauf hinzuwirken, dass sich sowohl ihre diskursive Hervorbringung wie auch die auf sie gerichtete Praxis ändern. Halten wir fest: Die völkische Anthropologie und die in ihr artikulierte Biopolitik sind in eine anthropologische Tradition älteren philosophischen Typs eingebunden. In der Biopolitik bringt sich eine spezifische Konstellation der anthropologischen Theoriebildung zum Ausdruck, die in der bevölkerungspolitischen Praxis (in negativer wie auch positiver Eugenik) umgesetzt wird. Im Hinblick auf den NS kann von einer totalitären Biopolitik gesprochen werden, die zugleich in einem Machtdispositiv situiert ist, das sie in historischer Betrachtung überragt. Gerade die Menschendifferenzierung der anthropologischen Charakteristik ist in einem philosophisch grundierten humanwissenschaftlichen Diskurs und in der Geschichte der Hervorbringung und Einpflanzung minoritärer Identitäten (im psychiatrischen und sexualwissenschaftlichen Kontext ebenso wie im Rassismus) verwurzelt. Ein Moment souveräner Macht kommt womöglich immer dann zum Vorschein, wenn eine als minoritär behauptete Existenz wirksam exkludiert werden soll. Mit dem Begriff der ›Vitalpolitik‹ könnte dagegen eine neoliberale Variante des Biopolitischen bezeichnet werden, die sich mehr auf die individualisierten Strategien bezieht, das Humankapital zu kalkulieren. Die Figur des Unternehmers seiner selbst fragmentiert das ältere Konzept einer massenförmigen Spektakelgesellschaft. Die anthropologische Definition des andersartigen, degenerierten und lebensunwerten Lebens transformiert sich im neuen Geist der kapitalistischen Globalisierung, wenngleich sich in ihm das koloniale Schema einer ausgewählten Minderwertigkeit weitertradiert.
75 Mignolo begreift die »Verdammten« nach Fanon mit den »Minoritäten«, die »das Potenzial der Dekolonialität mit[bringen].« Dieses minoritäre Potenzial kann als eine Anspielung auf das ›Minoritär-Werden‹ nach Deleuze und Guattari gelesen werden. Vgl. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, a. a. O., S. 77, 78.
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6. Tier-Werden? Zwischen Menschen, Tieren und ihren Umwelten1 »Ein Wilder – und der Mensch ist ein Wilder, nachdem er aufgehört hat, Affe zu sein – der ein Tier mit einem Stein erlegt, der Früchte sammelt etc. […].«2
Der Zoologe Adolf Portmann schreibt in seinem Vorwort zu Jakob von Uexkülls Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen: »Uexkülls Lehre von der besonderen Umwelt jeder Tierart ist ein Hauptstück der modernen Biologie geworden. Aber seine Ausweitung dieser Lehre auf den Menschen ist von Anfang an und mit Recht bekämpft worden.«3 Portmann macht hier geltend, was im Rahmen der neueren philosophischen Anthropologie seit den Arbeiten von Scheler und Plessner allgemein angenommen wird: dass der Mensch im Unterschied zum Tier und seinem umweltgebundenen Verhalten ›weltoffen‹ agiert. Die Welt ist ebenso wenig eine Umwelt – oder auch ein Sammelsurium vieler Umwelten – wie der Mensch darauf reduziert werden kann, ein Tier zu sein. Im anthropologischen Diskurs wird der Mensch nach Pflanze und Tier verhandelt – und die Bedeutung der Lebensplanforschung von Uexkülls beschränkt sich in ihrem Rahmen darauf, den Boden für das Auftreten des Menschen zu bereiten. Ganz anders ist der Bezug auf die Biologie der Umwelten in der Philosophie von Gilles Deleuze. Bei ihm geht es darum, von Uexküll ähn 1 Den Anstoß zu den hier formulierten Überlegungen zum Tier-Werden verdanke ich den Organisator*innen der Veranstaltung »Ethology. Claims and Limits of a Lost Discipline« am Internationalen Kolleg Morphomata: Genese, Dynamik und Medialität kultureller Figurationen der Universität zu Köln, die im Sommersemester 2020 als Podcast Series durchgeführt wurde: Andrea Allerkamp, Martin Roussel und Adrian Robanus. 2 Karl Marx, »Kritik des Gothaer Programms« [1875, 1890–91], in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, Berlin 1962, S. 13–32, hier S. 16. 3 Vgl. Adolf Portmann, »Vorwort«, in: Jakob von Uexküll, Georg Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten [1934], Hamburg 1956, S. 7–17, hier S. 10.
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lich wie Fechner in einem von Leibniz bereiteten Kontext zu platzieren, in welchem auf die für einzelne Tiere körperlich spezifischen Wahrnehmungsbedingungen reflektiert wird. Die Zecke und ihre drei Singularitäten (Geruch, Taktilität, Wärme) exemplifizieren einen sensiblen Mechanismus des Herausfilterns bestimmter Reizqualitäten aus einer ungeheuren Natur »dunkler und nicht integrierter kleiner Perzeptionen.«4 Die Umwelten korrespondieren mit Perspektiven von Monaden, die aus der Welt, die sie implizieren, lediglich bestimmte Aspekte auswählen, die sie klar wahrzunehmen vermögen. An diesem Punkt ist zwischen Menschen und Tieren wenigstens kein wesentlicher Unterschied auszumachen. So betrachtet ist es auch konsequent, wenn Deleuze und Guattari das ethologische Konzept der Umwelten in Tausend Plateaus in ihren Ausführungen zum Tier-Werden wieder aufgreifen.5 Wenn sich der Mensch dadurch vor den Tieren auszeichnet, eine Welt zu haben, so ist ihr Verschwinden womöglich gleichbedeutend mit dem Hervortreten einer Umweltlichkeit, die quasi als animalisch anzusehen wäre. Da es die Welt als anthropologisches Konstrukt nur im Singular gibt, könnte hier auch einfacher von einem Pluralismus der Welten gesprochen werden. Mit dem Tier-Werden verbindet sich zugleich eine Problematisierung traditioneller Mensch-Tier-Verhältnisse. Wenn es zutrifft, dass die Auszeichnung des Menschen im Singular regelmäßig einherging mit der Abwertung bestimmter Menschen im Plural, so findet sich diese (koloniale, patriarchale, pathologische etc.) Abwertung stets artikuliert durch die Zuschreibung animalischer Prädikate besonderer Naturnähe, instinktiven oder durch Neigung bzw. Triebe gesteuerten Verhaltens. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass das altgriechische oikos im Unterschied zu den öffentlichen Angelegenheiten des den männlichen Bürgern vorbehaltenen politischen Weltbezugs in der ökologischen Terminologie des Umweltbezugs der Lebewesen wiederkehrt. Die Idee einer allgemeinen Ökologie kann dagegen so verstanden werden, dass sie die Priorisierung der Welt, die sich noch in den kosmopolitischen Auffassungen der Globalisierung niederschlägt, zunichtemacht.6 Darin korreliert sie mit feministischer Kritik, wenn sie sich 4 Vgl. Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock [1988], übers. v. U.J. Schneider, Frankfurt a. M. 2000, S. 150. An anderen Stellen wird von Uexkülls Ethologie auch herangezogen, um die von Spinoza her gedachte Affektfähigkeit zu konkretisieren. 5 Vgl. Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., S. 350. 6 Anklänge an die allgemeine Ökonomie nach Georges Bataille sind intendiert, sofern im Konzept des von Marcel Mauss beschriebenen Gabentauschs, auf das sich Bataille
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nicht die Inbesitznahme der männlich dominierten Welt zum Ziel setzt, sondern – ganz im Gegenteil – ihre radikaler angelegte Außerkraftsetzung als einzig legitimiertes Telos der Befreiung. Ebenso kann die in der postkolonialen Literatur gängige Universalismuskritik auf den Primat der einen (oder ersten) Welt bezogen werden, insofern mit ihrer Vorrangstellung eine hierarchische Aufteilung einsetzt, die nicht nur die mit der Universalität (der Menschenrechte etc.) verbundenen Ansprüche torpediert, sondern zugleich den strikter pluralistisch gefassten Ansätzen der Sozialphilosophie im Wege steht. Im Folgenden wird die Umweltlehre von Uexkülls in einigen wichtigen Aspekten rekonstruiert. Ihre Rekonstruktion soll gewährleisten, dass ihre unterschiedliche Rezeption klare Konturen gewinnt. Während Plessner eine vitalistische Grundlegung der philosophischen Anthropologie anvisiert, stellt Deleuze auf ein in Immanenzverhältnisse ausdifferenziertes Multiversum ab, das die epistemische Stabilität der anthropologischen Menschenform erschüttert. Eine Struktur der Andersheit, die keine ursprüngliche Identität zurückbehält, die ihr Anderes nur aus sich hervorgehen ließe – zum Zwecke der Selbstbestimmung durch Abgrenzung. Mit der Gegenüberstellung von Plessner und Deleuze wird insbesondere die leicht missverständliche Gleichsetzung von Immanenz und Leben korrigiert.
6.1 Jakob von Uexkülls Umweltforschung In den Streifzügen erläutert von Uexküll, wie es bereits im Titel seines Buches heißt, »Umwelten von Tieren und Menschen«. Ihm kommt es darauf an, ihre jeweils ganz besondere und zudem erstaunliche, weil unsichtbare Existenz herauszuarbeiten. Die Umwelt eines Tieres ist zunächst einmal völlig anders beschaffen, als gewöhnlich angenommen wird. Und diese Einsicht der biologischen Forschung lässt sich dann auch auf menschliche Angelegenheiten übertragen. Das Beispiel der Zecke ist zu Recht berühmt. Es macht auf einen Schlag deutlich, worum es von Uexküll geht. stützt, ein Modell ethnografischer Kommunikation (zwischen den Welten) entziffern lässt, das dekolonisierende ökonomietheoretische (und kapitalismuskritische) Potenziale besitzt. Vgl. dazu Dirk Quadflieg, Vom Geist der Sache. Zur Kritik der Verdinglichung, Frankfurt a. M. 2019, S. 197–290.
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»Die Zecke hängt regungslos an der Spitze eines Astes in einer Waldlichtung. Ihr ist durch ihre Lage die Möglichkeit geboten, auf ein vorbeilaufendes Säugetier zu fallen. Von der ganzen Umgebung dringt kein Reiz auf sie ein. Da nähert sich ein Säugetier, dessen Blut sie für die Erzeugung ihrer Nachkommen bedarf. Und nun geschieht etwas höchst Wunderbares: von allen Wirkungen, die vom Säugetierkörper ausgehen, werden nur drei, und diese in bestimmter Reihenfolge zu Reizen. Aus der übergroßen Welt, die die Zecke umgibt, leuchten drei Reize wie Lichtsignale aus dem Dunkel hervor […].«7
Bei diesen Reizen handelt es sich um ein Geruchsmerkmal, das in den Hautdrüsen des Beutetiers ihren Träger findet; um ein Tastmerkmal, das auf seine Behaarung verweist; und zuletzt um ein Temperaturmerkmal seiner Haut. Diese Merkmale wiederum bilden mit den von ihnen ausgelösten Reaktionen eine geschlossene Einheit: der olfaktorische Reiz bewirkt ein Herabfallen, der taktile Reiz ein Umherlaufen und der thermische Reiz das Einbohren und Blutsaugen.8 Die planmäßige Abstimmung dieser Merk- und Wirkwelten bezeichnet von Uexküll als ›Umwelt‹.9 Sie ist als eine Ordnungstotalität bestimmt, die durch das Schema des Funktionskreises erläutert werden kann, der zwischen dem lebenden Subjekt, seiner Innenwelt oder seiner (Sinnes- und Bewegungs-)Organe, und den außerhalb seines Körpers liegenden Objekten (als Trägern der Eigenschaften des Merkens und Wirkens) vermitteln.10 An zwei Stellen seiner Streifzüge veranschaulicht von Uexküll die Umwelten mithilfe der metaphorischen Rede von Seifenblasen.11 Diese sind rund und abgeschlossen, auf leicht verschwommene Art lichtdurchlässig und sie koexistieren miteinander, auch wenn sie aus Seifenblasenperspektiven nur schwer füreinander erkennbar sind. In erster Linie soll mit ihnen das Blasenhafte verdeutlicht werden, das aus jeder Umwelt einen nur subjektiv zugäng 7 Vgl. Uexküll, Streifzüge, a. a. O., S. 28. 8 Vgl. ebd., S. 68. 9 Vgl. ebd., S. 22. 10 Vgl. ebd., S. 27. 11 »Wir beginnen einen solchen Spaziergang [durch die Umwelten von Tieren] am besten an einem sonnigen Tage vor einer blumenreichen Wiese, die von Käfern durchsummt und von Schmetterlingen durchflattert ist, und bauen nun um jedes der Tiere, die die Wiese bevölkern, eine Seifenblase, die ihre Umwelt darstellt und die erfüllt ist von allen jenen Merkmalen, die dem Subjekt zugänglich sind. Sobald wir selbst in eine solche Seifenblase eintreten, gestaltet sich die bisher um das Subjekt ausgebreitete Umgebung völlig um. Viele Eigenschaften der bunten Wiese verschwinden völlig, andere verlieren ihre Zusammengehörigkeit, neue Bindungen werden geschaffen. Eine neue Welt entsteht in jeder Seifenblase.« Ebd., S. 22.
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lichen Weltbezirk macht, in dem viele Dinge gar nicht erst vorkommen. Es ist dabei unmöglich, dass die Tiere aus ihrer Blase heraustreten, in ihr ist »alles für das Subjekt Sichtbare beschlossen«.12 Für die Menschen gilt im Prinzip dasselbe, wenngleich es möglich ist, auf diesen Umstand zu reflektieren. Ein geübtes Auge ist in der Lage, so von Uexküll, »alle unsere Mitmenschen von Seifenblasen umgeben zu sehen, die sich reibungslos durchschneiden, weil sie aus subjektiven Merkmalen aufgebaut sind.«13 Eine unabhängig von ihnen gegebene Welt gibt es dagegen eigentlich nicht. Die terminologische Differenz zwischen Umwelt und Umgebung expliziert diesen Sachverhalt.14 Wie die Seifenblasen über die Wiese schweben, liegt die Umgebung den subjektiven Besonderheiten der Umwelten zugrunde. Allerdings ist sie selbst die Abstraktion einer Fremdbeobachterin, weil sie nicht die umweltgebundenen Beschränkungen aufweist. An dieser Stelle entsteht eine methodische Ambivalenz. Nach von Uexküll verschmilzt die Umgebung zumeist mit dem Bild der menschlichen Umwelt, wenngleich streng genommen der »Glaube an die Existenz einer einzigen Welt« unbegründet ist.15 »Seine eigene Umgebung kennt kein Mensch, denn diese ist immer in der fremden Umwelt eines anderen Subjektes gelegen.«16 Die einzige Welt wäre daher nicht mit der menschlichen in eins zu setzen. Und doch zeichnet es den experimentellen Biologen vor allen anderen aus, dass er nach von Uexküll imstande ist, die ökologische Variabilität zu durchdringen und (mindestens auch) auf einige wesentliche subjektive Bedingungen zurückzuführen. An diesem Punkt kommt die Philosophie ins Spiel. Bereits in einem frühen Zeitschriftenartikel erläutert von Uexküll sein Verständnis der transzendentalen Ästhetik Kants, indem er die Bedeutung von Raum und Zeit als Formen der Anschauung für den ›Gestaltungsprozess‹ der Umwelten bzw. das Studium des ›Milieus‹ hervorhebt.17 Aus seiner Sicht hat Kant gezeigt, 12 Vgl. ebd., S. 46. 13 Ebd. 14 Zu von Uexkülls Begriff der Umgebung als zweite ›Umwelt‹ (der Fremdbeobachterin eines Systems und seiner (ersten) Umwelt) vgl. Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, hg. v. D. Baecker, Heidelberg 2002, S. 80. 15 Vgl. von Uexküll, Streifzüge, a. a. O., S. 31. 16 Jakob von Uexküll, »Der Organismus und die Umwelt« [1931], in: ders., Kompositionslehre der Natur, hg. v. Th. v. Uexküll, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980, S. 305–343, hier S. 306. 17 Jakob von Uexküll, »Psychologie und Biologie in ihrer Stellung zur Tierseele« [1902], in: ders., Kompositionslehre der Natur, a. a. O., S. 100–122, hier S. 103ff.
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dass es »ohne ein lebendes Subjekt […] weder Raum noch Zeit geben« kann.18 Der merkwürdige Ausdruck »lebendes Subjekt« indiziert eine sinnesphysiologisch determinierte Lesart, die auf den Organismus als Wahrnehmungsbedingungen definierendes Subjekt reflektiert. Diese Verschiebung in der Kant-Rezeption wird zumeist mit dem Namen Johannes Müller verbunden – aber auch andere sinnesphysiologische Arbeiten von Helmholtz, Hering oder von Baer werden auf dieser Linie gelesen.19 Es geht von Uexküll darum, angelehnt an Müllers Theorie der spezifischen Sinnesenergie, zwischen der körperlichen Verfassung der Sinnesorgane und den qualitativen Vorgängen des Merkens einen planmäßigen Zusammenhang herzustellen.20 Farben und Töne sind nichts anderes als spezifische Energien von Hirnzellen, die unter dem Einfluss von Auge bzw. Ohr stehen.21 Diese Überlegungen ermöglichen dann regelmäßig den Übergang zu dem Thema der tierischen Umwelten. Dieser Gedankengang findet sich in von Uexkülls frühen Schriften, wenn er die Biologie im Sinne der Umweltforschung von den zeitgenössischen akademischen Ausprägungen der (neueren »herrschenden«) Physiologie wie auch der Psychologie der Tiere abhebt.22 Die entscheidende Frage nach dem Verhältnis von Gehirn und Empfindung lässt sich weder mechanistisch im Sinne kausaler physikalischer oder chemischer Prozesse noch mittels spekulativer Anthropomorphismen über angebliche Tierseelen beantworten.23 Sie verhalten sich zueinander »inkommensurabel«, weshalb es nicht angezeigt ist, sei es »fremden Menschen«, sei es überhaupt den Tieren bestimmte seelische Qualitäten zuzuschreiben.24 »Nur unter der Voraussetzung, daß ein dem meinen gleichgebautes Gehirn eine gleiche Seele habe wie die meinige, kann ich schließen, daß bei gleichartiger Erregung des Gehirnes auch gleichartige Empfindungen entstehen.«25 Es ist unmöglich in eine fremde 18 Vgl. von Uexküll, Streifzüge, a. a. O., S. 30. 19 Es sei nochmals hervorgehoben, dass das Konzept des Organismus, das Kant in der Kritik der Urteilskraft entwickelte, in der Naturphilosophie Schellings (im Anschluss an Kielmeyer) eine grundlegende Aufwertung – als spekulative (physio-psychologische) Einheit – erfährt. Zur Situierung Müllers in der naturphilosophischen Tradition vgl. Michael Hagner, Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.), Johannes Müller und die Philosophie, Berlin 1992. 20 Vgl. von Uexküll, Organismus und Umwelt, a. a. O., S. 324–327. 21 Vgl. Jakob von Uexküll, Bedeutungslehre, in: ders., Streifzüge, a. a. O., S. 125. 22 Vgl. von Uexküll, Psychologie und Biologie, a. a. O., S. 117. 23 Vgl. ebd., S. 101. 24 Vgl. ebd., S. 116, 115. 25 Ebd., S. 115.
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Seele zu blicken, stets werde ich ihr nur Empfindungen zuschreiben können, die keine anderen sind »als die meinen […], denn ich bin völlig außerstande, mir unbekannte Empfindungen auszumalen.«26 So entsteht das Problem der perspektivischen Umwelten erneut – und zugleich dasjenige ihrer möglichen Übersetzung. Und in der Auffassung der charakteristischen Gleichartigkeit gleichartig organisierten Lebewesen liegt zugleich seine spezifisch biologische Auflösung. Im Merken und Wirken nämlich liegt ihre »wesentliche Tätigkeit« als Subjekte und nicht als Objekte – und »jede lebende Zelle [ist] ein Maschinist« und nicht nur eine Komplexion von Maschinenteilen.27 Kausalität und Bewegung erklären gerade nicht, wie Empfindungen entstehen, sondern die im Reflexbogen stets mitgegebene Reizübertragung. »Ein Reiz aber muß von einem Subjekt gemerkt werden und kommt bei Objekten überhaupt nicht vor.«28 Im Lebensplan und seinem »Formbildungsbefehl« finden sich die zwei Seiten der senso-motorischen Beschaffenheit und der die Umwelten strukturierenden Merk- und Wirkzeichen koordiniert.29 Auf diesem Weg ersetzt die Umweltlehre die ältere Erforschung der Tierseelen, indem sie mit empirischen Mitteln ihre konkreten Lebensräume erkundet. Die Umwelten unterscheiden sich zunächst durch ihre je spezifischen Raum-Zeit-Verhältnisse. Als Umwelträume behandelt von Uexküll die Räume des Wirkens, Tastens und Sehens.30 Während sich der Wirkraum nach Richtungszeichen aufgliedert, bestimmt sich der Tastraum mit den Lokalzeichen und der Sehraum durch die Anzahl der möglichen Sehelemente. In allen Fällen gibt das »Ortemosaik« besonderer Umwelten genau die differenzierten Merkzeichen wieder, die z. B. »bei den Augen der verschiedenen Tiere außerordentlich wechseln«.31 Bei den augenlosen Tieren können die Lichtund Tastreize zusammenfallen. Ebenso gilt für den normalerweise dreidi 26 Ebd. 27 Vgl. von Uexküll, Streifzüge, a. a. O., S. 22, 25. 28 Ebd., S. 25. 29 Vgl. von Uexküll, Bedeutungslehre, a. a. O., S. 115. In Anlehnung an Hans Driesch und seine Philosophie des Organischen richtet sich dieser »Formbildungsbefehl […] nach den Direktiven eines Grundrisses, der bereits im Gastrulastadium [der Keimzellen] erkennbar ist.« Ebd., S. 116. Es könnte hier daran erinnert werden, dass bereits Kant in der Teleologie der Organisation sog. Keime eine Grundlage seiner Rassenlehre legte. In diesem Sinne untermauert er seine »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace« [1785] im Text »Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie« [1788]. Vgl. Kant, Akademie-Ausgabe Bd. 8, Berlin, Leipzig 1923, S. 89–106, S. 157–184. 30 Vgl. von Uexküll, Streifzüge, a. a. O., S. 30–42. 31 Vgl. ebd., S. 39.
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mensionalen Bewegungsraum, dass er entsprechende Sinnesorgane – die sogenannten Bogengänge – physiologisch voraussetzt. Wie auch immer dieses Mosaik beschaffen sein mag, es ist in jedem Fall »ein Geschenk des Subjekts an seine Umweltdinge, das in der Umgebung gar nicht vorhanden ist.«32 Nun könnte man meinen, dass von Uexküll nur daran interessiert ist, die versteckten Umwelten, ja ihre völlig nicht-menschliche oder nicht-anthropomorphe und überraschend eintönige, bizarre oder exotische Eigenart zu präsentieren. Aber dies ist nur die eine Seite; – es gibt noch eine andere. Sie liegt in einer übergreifenden Ordnung, die sich in der Planmäßigkeit des Lebens artikuliert. Umwelträume könnten sich im Gewirr der Lokalzeichen verlieren, wenn es kein »festes Gerüst« in ihnen geben würde, das »jeder normale Mensch« als Koordinatensystem der Richtungsebenen mit sich herumträgt.33 Das Gerüst schafft nicht nur für den Menschen eine Orientierung, sondern auch für viele Tiere und vor allem für die vergleichende Ethologie selbst. Anhand der Fotografie einer Dorfstraße und durch den Gebrauch eines Gitters, das mehr und mehr gesehene Details verdeckt, suggeriert von Uexküll die räumliche Anschauung verschiedener Tieraugen.34 Wie selbstverständlich definiert die Fotografie das Maß der Dinge, während die Umwelten der Tiere durch ein komplexitätsreduzierendes Verfahren definiert werden: durch die bloße Subtraktion von Bildelementen. Die genannte methodische Ambivalenz, die Vielheit der Umwelten und zugleich eine sie übergreifende Ordnung darzulegen, kommt in sämtlichen Beschreibungen der verschiedenen relevanten Umweltfaktoren zum Vorschein. Sie definieren »subjektive Wirklichkeiten«, die in der Umgebung nicht im Sinne objektiver Realitäten vorkommen.35 Bekannte Wege, die Unterscheidung von Heimat und Fremde, Beutefeld und Schongebiet, die Verschränkung von Merk-, Such- und Wirkbildern oder überhaupt die Bedeutungen, die alle lebenswichtigen Dinge besitzen, weil sie zur Ernährung und zur Fortpflanzung dienen, schälen die Besonderheiten der verschiedenen Umwelten heraus. Zugleich werden stets höhere von niederen Tieren und reichere von ärmeren (oder einfachen und sicheren) Umwelten unterschieden.36 Dies geschieht vor dem Hintergrund eines Lebensplans, der quasi mo 32 Ebd., S. 37. 33 Vgl. ebd., S. 32. 34 Vgl. ebd., S. 40–41. Vgl. auch ebd., S. 96–97. 35 Vgl. ebd., S. 93. 36 Vgl. ebd., S. 51–52. »Wir werden sagen dürfen, so viele Leistungen ein Tier ausführen kann, so viele Gegenstände vermag es in seiner Umwelt zu unterscheiden. Besitzt
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nadologisch in einer Transzendenz der Natur verankert ist. Seine vitalistische teleologische Ordnung wird gegen das erkenntnislogische Schema der Kausalität wie auch gegen das einzelne Interessen verfolgende Handeln ausgespielt, indem ein bestimmtes Verhalten von Tieren (z. B. der Flugrouten der Wandervögel) auf »angeborene« bzw. »magische« Anlagen zurückgeführt wird.37 Ihre hierarchische Struktur findet sich auch in der Beschreibung menschlicher Umwelten. Immer wieder kommt von Uexküll auf »Primitive«, oder auch auf »Neger« oder »Kinder« zu sprechen, deren Umwelten in charakteristischer Weise von denen der erwachsenen »hochkultivierten Europäer« abweicht.38 Die scheinbar reine Pluralität der Umwelten zeigt gerade in ihrem biologischen Aufbau eine spezifische Begrenzung und Anordnung. Egal ob es sich um die Umwelt der Wespen handelt, die überall nur »Wespendinge« wahrnehmen, oder um fremde Kulturen, die in der Ethnologie erforscht werden, stets geht es um »abgeschlossene Weltbilder«, die planmäßig abgeschlossen sind, weil sie »konstitutionelle Unterschiede« ihrer Sinnes-Organisation voraussetzen.39 Zugleich stehen die vielen inkommensurablen Umwelten in einem natürlichen Zusammenhang, der verhindert, dass sie miteinander ein pures Chaos ergeben.40 In genau diesem auf natürliche Ordnung bedachten Sinne spricht von Uexküll mit Leibniz von »prästabilierter Harmonie«.41 Sie basiert auf einem Prinzip (der von Gott oder Natur abgesicherten Kompossibilität), das sich selbst nicht immanent in den einzelnen Umwelten adäquat zum Ausdruck bringen kann.42 es bei wenigen Leistungen wenig Wirkbilder, so besteht auch seine Umwelt aus wenigen Gegenständen. Sie ist hierdurch zwar ärmer, aber um so sicherer geworden.« Ebd., S. 68–69. 37 Die »magischen Erlebnisse« werden einerseits einer geregelten kausalen Verknüpfung entgegengesetzt, andererseits aber dem Lebensplan unterstellt, dessen Kenntnis wiederum wissenschaftliche Forschung sowie ein Denken teleologischer Ordnungszusammenhänge voraussetzt. Vgl. ebd., S. 88–89. Dem entspricht der bereits von dem französischen Entomologen Jean-Henri Fabre dargelegte »angeborene Weg« der Erbsenkäferlarve aus der Erbse heraus. Vgl. ebd., S. 89–90. 38 Vgl. ebd., S. 42–43, 67, 82, 88, 94–95. Die menschliche Primitivität entspricht damit quasi dem magischen Verhalten der Tiere, das nicht von ihnen selbst begrifflich aufgelöst oder verstanden werden kann. 39 Vgl. Jakob von Uexküll, »Wie sehen wir die Natur und wie sieht sie sich selber?« [1922], in: ders., Kompositionslehre, a. a. O., S. 179–213, hier S. 184, 182, 181. 40 Vgl. Uexküll, Streifzüge, a. a. O., S. 101. 41 Vgl. Uexküll, Organismus und Umwelt, a. a. O., S. 337. 42 Vgl. Uexküll, Streifzüge, a. a. O., S. 66.
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Ein kaum beliebiges Beispiel dieser gesunden (und ländlichen) Ordnung liefert die Eiche. Sie gehört zu den Umwelten des Försters und des Mädchens, aber auch ganz verschiedener Tiere, wie Fuchs oder Eule, Eichhörnchen oder Specht, Ameise oder Borkenkäfer. »Jede Umwelt schneidet aus der Eiche einen bestimmten Teil heraus, dessen Eigenschaften geeignet sind, sowohl die Merkmalträger als auch die Wirkmalträger ihrer Funktionskreise zu bilden. […] Wollte man all die widersprechenden Eigenschaften, die die Eiche als Objekt aufweist, zusammenfassen, es würde nur ein Chaos daraus entstehen. Und doch sind sie alle nur Teile eines in sich festgefügten Subjektes, das alle Umwelten trägt und hegt – von allen Subjekten dieser Umwelten nicht erkannt und ihnen nie erkennbar.«43
Die Eiche, der militärisch codierte Wappenbaum, das Sinnbild des Deutschtums, das sich auf seine historischen Wurzeln und seine gesunde Abstammung besinnt – diese Eiche vereinigt all das auf sich, was ihr entspringt. Sie gehört in ein Bild der Natur, das das moderne Leben in den Großstädten, die Entwicklungen von Technik, Presse und Industrie, die aus der sozialen Frage neu hervorgegangenen Parteien etc. nicht tangiert. Schärfer formuliert: alle zeitgenössischen Vorgänge, die nicht streng an die »Lebensgesetze« – und mit ihnen: an den Menschen als Ursprungsinstanz jeder technischen Entwicklung – gebunden sind, stehen in der Gefahr, einer (degenerativen) Verfallstendenz zuzuarbeiten.44 In diesen Kontext gehört nicht nur von Uexkülls Ablehnung der modernen Kunst und ihrer »verderblichen Folgen«, die explizit auf Max Liebermann bezogen ist (wohl im Sinne einer jüdischen Herkunft der abstrakten Malerei).45 Auch seine Staatsbiologie (1920), die in der 43 Ebd., S. 99. Vgl. ebd., S. 94–99. 44 Vgl. Uexküll, Organismus und Umwelt, a. a. O., S. 343. Es gleicht einem Bezug auf Ernst Kapps Anthropologie der Technik, wenn von Uexküll unterstreicht, dass alle Technik (des Wirkens oder Merkens) »Hilfsmittel« des Menschen sind – wie etwa die Sinneswerkzeuge bei Tieren –, weshalb eine »Maschinentheorie der Lebewesen« zu kurz greift, da sie diese voraussetzt. Vgl. Uexküll, Streifzüge, a. a. O., S. 21. Nichtsdestotrotz macht er zugleich von Technik einen anderen Gebrauch, wenn er die Momentzeichen der variablen Umweltzeiten (nach Karl Ernst von Baer) mit Hilfe des Films, der Zeitlupe und des Zeitraffers, genauer bestimmt. Vgl. ebd., S. 46–48. Vgl. Katja Kynast, »Kinematografie als Medium der Umweltforschung Jakob von Uexkülls«, in: kunst texte.de 4/2010, abrufbar unter: https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/7581/kynast. pdf (zuletzt geöffnet am 01.04.2020). 45 Vgl. Jakob von Uexküll, »Tierwelt oder Tierseele« [1913], in: ders., Kompositionslehre, a. a. O., S. 249–264, hier S. 260. »Mit drei Merkmalen auszukommen, gilt heute als höchste Kunst – das können die Seeigel auch.« Ebd. Mit seiner Wortwahl erinnert von Uexküll an die Ablehnung der »entarteten Kunst« bei Max Nordau, die in ihrer Zuspit-
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zweiten Auflage (1933) um ein Kapitel über das Parasitäre erweitert wird, verknüpft die biologisch gegründete kulturelle Eigenheit von Volk und ›Rasse‹ mit biopolitischen Vorstellungen von einer staatlichen Organisation.46 Es ist kein Ausrutscher, wenn er 1931 zu Beginn und am Ende einer Studie über Organismus und Umwelt von einer »biologischen Weltanschauungswelle« spricht, die »endgültig zum Siege gelangt«, sofern »wir selbst mit unserer Person mit in die große Partitur [des Lebens] verwoben sind und versuchen müssen, uns mit ihr in Einklang zu setzen.«47 Nachträglich wäre noch zu erwähnen, dass Jakob von Uexküll eine Arbeit seines »verehrten Freundes« Houston S. Chamberlain mit dem Titel Natur und Leben aus dem Nachlass herausgegeben und in mehreren Einleitungen kommentiert hat.48 Im Vorwort resümiert er mit voller Zustimmung und dem Gestus der Bewunderung die vier »Grundpfeiler« von dessen »Biologie« und ihrer Leitmaxime: »Das Leben ist Gestalt.«49 Sie verdeutlichen einmal mehr, wie die im Begriff des Lebens zusammengebundenen Seiten der physischen Konstitution eines Lebewesens und seiner Wahrnehmungsund Handlungsfähigkeiten im Sinne der von Chamberlain so wirkungsvoll propagierten ›Rassenseele‹ verstanden werden können. Die ersten beiden Hauptsätze erläutern die vitalistische Grundlage und planmäßige Verbundenheit der Lebensgestalten.50 »Den dritten Pfeiler bildete die Erkenntnis, daß ›die Zahl der typischen Gestalten nur eine beschränkte ist‹. Und schließlich wurde der Grundsatz der ›Unwandelbarkeit der Gestalten‹ zum vierten Pfeiler des Baues […].«51 Im ›unwandelbaren Typus der Gestalt‹ aber lauert schon das rassistische Vorurteil.
zung im Rahmen der NS-Kulturpolitik – vermittelt über Wolfgang Willrichs Säuberung des Kunsttempels – zu der berühmt-berüchtigten ›Schandausstellung‹ führte (zuerst eröffnet am 19. Juli 1937 in München). 46 Vgl. Benno Müller-Hill, Die Philosophen und das Lebendige, Frankfurt a. M., New York 1981, S. 199–200. 47 Vgl. Uexküll, Organismus und Umwelt, a. a. O., S. 343, 305. 48 Vgl. Houston S. Chamberlain, Natur und Leben, hg. v. J.v. Uexküll, München 1928. Chamberlains Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899) gelten als Wegbereiter der im NS vertretenen und antisemitisch ausgerichteten Rassenideologie. 49 Vgl. Jakob von Uexküll, »Vorwort«, in: Chamberlain, Natur und Leben, a. a. O., S. 7–11, hier S. 9. 50 Der erste besagt: »›In allen Lebensgestalten stehen die Teile unter sich in Korrelation‹.« Im zweiten wird die »›Interdependenz der Lebensgestalten‹« behauptet. Vgl. ebd., S. 10. 51 Ebd., S. 10.
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6.2 Das Tier in der Anthropologie Helmuth Plessners Dem weit verbreiteten humanistischen Denken gemäß wäre zu meinen, dass die Setzung des Menschen und des Menschlichen dem in kulturelle Um welten verspannten Leben, das sich mit einer festgefügten Typologie der Rassenseelen verschränken kann, ein wirkungsvolles Korrektiv entgegenhält. Dem Kulturalismus geschlossener Kulturkreise opponiert ein universalistisches Konzept von Menschenwürde und Menschenrechten. Und doch ist es nicht so einfach, wie man gerne glauben möchte. Im anthropologischen Diskurs seit Kant verbindet sich mit der Humanität, die dem Menschen von Rechts wegen zukommt, stets eine Empirie, die bestimmten Menschen vorenthält, was sie eigentlich doch besitzen. Ihre Natur ist eben – faktisch, wie es heißt – so beschaffen, dass sie die Ausbildung des ›wahren‹ Menschen, die Entwicklung seines (moralischen) Wesens, unmöglich macht. Sie stecken fest auf einer niedrigen Stufe des zivilisatorischen Fortschritts. Oder sie befinden sich in einer lebensweltlichen Blase, die sie nicht verlassen können – und dies, weil sie gemessen an einem (wie immer partikularen) Bildungsideal von Freiheit und Vernunft als defizitär erscheinen. Mit diesem Problem kann sehr unterschiedlich umgegangen werden. Einerseits liegt es nahe, den empirischen Befund anzuzweifeln, der etwa besagt, dass Frauen im Unterschied zu Männern von ihren Gefühlen beherrscht werden (kleinere Gehirne haben etc.). Andererseits liegt es ebenso nahe, die einseitige Priorisierung rationaler Vorgänge infrage zu stellen. Beides zusammen wiederum motiviert dazu, eine bestimmte Weise Gefühle (oder Gehirne oder auch die Vernunft selbst) zu rationalisieren, genauer in den Blick zu nehmen. Vielleicht ist es einfach so, dass das Denken des Humanen und dasjenige des abgewerteten ›Menschen‹ strukturell korrelieren? Benötigt der Mensch ein anderes (z. B. vorgeburtliches, vorgeschichtliches, verwerfliches) Leben, von dem er sich abheben kann? Und weshalb? »Die Festlegung der Grenze zwischen Humanem und Animalischem scheint […] eine grundlegende metaphysisch-politische Operation [zu sein], durch die allein so etwas wie ein ›Mensch‹ bestimmt und hergestellt werden kann. Wenn animalisches und humanes Leben vollständig zur Deckung kämen, wären weder der Mensch noch das Tier […] denkbar.«52 Diese Überlegung von Giorgio Agamben zielt darauf ab, im Vorgang der Trennung (des 52 Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier [2002], übers. v. D. Giuriato, Frankfurt a. M. 2003, S. 31.
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Menschen vom Tier) eine Voraussetzung der menschlichen Identität kenntlich zu machen. Sie gründet in etwas, das ihr vorausliegt. Damit ist allerdings nicht viel gesagt. Variieren wir die Überlegung mit Kant und stellen uns vor, dass der Mensch mit seiner Bestimmung zusammenfiele – das wäre gleichbedeutend mit seinem Verschwinden. Er wäre sich nicht länger aufgegeben, keine Unterscheidung zwischen (empirischer) Realität und (transzendentalem) Begriff wäre möglich. Die menschliche Natur stimmt aber nach Kant gerade nicht a priori mit den kritischen Forderungen der Vernunft überein. Außer dem reinen Charakter muss es einen empirischen geben. Sonst erübrigten sich nicht nur die Pädagogik, sondern auch die Geschichte, die Moral und die wissenschaftliche Aufklärung. In gewisser Weise erklärt sich auf diesem Weg also die Bedeutung, die sich mit dem Begriff des Menschen oder mit seinem inneren Zwiespalt verbindet. Der ›Mensch‹ garantiert die epistemische Geltung einer diskursiven Produktion, indem er die Grundlagen seiner eigenen Bearbeitung bereitstellt. Nach Foucault ist dies zumindest für die modernen Humanwissenschaften und ihre anthropologische Auffassung des Menschen plausibel.53 In ihr gibt es aus seiner Sicht stets eine Empirie, die gleichsam gezwungen ist, in sich selbst ihren Grund zu finden: sei es in transzendentalen (oder auch existenzialen) Strukturen, den Gesetzen historischer Entwicklung oder in einer spekulativen Natur, die sich von allem, was ihr eigentlich fremd ist – von dem Vergänglichen, Krankhaften, Maschinenhaften – gereinigt und geläutert hat.54 Ihre Abgründe dagegen – und d. h. die Unmöglichkeit sich zu begründen; im Leben, in der Arbeit oder in der Sprache eine ursprüngliche Wahrheit wiederzufinden – verwandeln ihr Bild in eine komplexe und veränderliche Mannigfaltigkeit, die nicht im Ausgreifen auf abstrakte Formen (im Sinne einer auf bloße Allgemeinheiten abzielenden Verdopplung des Empirischen) stabilisiert werden kann. An diesem Punkt zerbricht nach Foucault die anthropologische Ordnung – und mit ihr die ordnende Funktion der normativen Humanität im Feld der empirischen Menschenwissenschaften. Im Strukturalismus schien eine ›posthumanistische‹ Alternative gefunden, um die Spannung zwischen dem Menschen, wie er zu sein hat – und wie er wirklich ist, zu lösen: eine prekäre und gefährdete Existenz, in nicht enden wollenden Wiederholungen, die in sich kreisen oder taumeln, weil sich mit ihnen Zentrum und Gleichgewicht verlieren. 53 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O. 54 Vgl. Rölli, Kritik der anthropologischen Vernunft, a. a. O., S. 499–509.
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Die experimentelle Biologie nach dem Verständnis von Uexkülls scheint im ersten Moment ohne einen Menschen, der sich grundlegend von den Tieren unterscheidet, auszukommen. Aber sein Begriff des Lebens ist auf einen umfassenden Plan der Natur bezogen und die Vielfalt seiner Umwelten ist biologisch so koordiniert, dass ihre jeweils geschlossenen Sphären aus Gründen einer dem menschlichen Forscher vorbehaltenen Einsicht miteinander harmonieren. Im Vorwort zur zweiten Auflage (1964) seiner Stufen bezeichnet es Plessner als »Verdienst Uexkülls«, das Bild des »tierischen Verhaltens« freigelegt zu haben; ein Bild, das als »Voraussetzung für das Verständnis menschlichen Verhaltens« angenommen wird.55 Anders gesagt, liefert von Uexkülls Umweltlehre – und zwar im Hinblick auf die geschlossene Organisationsform des Tiers – die biologische Grundlage für die Entwicklung des neuen anthropologischen Begriffs vom Menschen.56 Das bedeutet nicht, dass eins zu eins die animalische Umweltstruktur in die der menschlichen Kulturwelten und ihrer ›Lebensstile‹ übertragen wird.57 Ebenso wenig wird mit dem Menschen ein außerhalb des Lebens angesiedeltes geistiges Wesen in Stellung gebracht, das nach Scheler allein »umweltfrei« und »weltoffen« wäre.58 Vielmehr begreift Plessner den Menschen als ein Tier, das in gleicher Weise wie dieses organisiert ist, auch wenn es sich von ihm dadurch unterscheidet, dass es sich dieser Selbstgegebenheit noch einmal bewusst wird. Sein unterscheidendes Merkmal ist damit ein reflexives Ich, das sich nirgends festmachen lässt und immer eine Distanz zu sich, zu seiner Verkörperung, wahrt oder wahren muss.59 Plessners Anthropologie fußt auf einer Philosophie des Lebens, die sich in von Uexkülls biologischer Tierbetrachtung vorgeformt findet. Dies zeigt sich im Begriff des Lebensplans, der zwischen einem körperlichen Orga 55 Vgl. Plessner, Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. XIV. 56 Vgl. ebd., S. 76. 57 Vgl. dazu Erich Rothacker, »Probleme der Kulturanthropologie«, in: Nicolai Hartmann (Hg.), Systematische Philosophie, Stuttgart 1942, S. 59–119, hier S. 80–82. 58 Vgl. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos [1928], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 32. 59 Vgl. Plessner, Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 291. »Die volle Reflexivität ist dem lebendigen Körper auf der tierischen Stufe verwehrt. […] Die These lautet dahin, daß sie dem Menschen vorbehalten bleibt.« Ebd., 288–289. Eine Alternative zu Rothacker und zu Plessner hat bereits Gabriel Tarde – in Bezug auf Alfred Espinas und seine Arbeit Des Sociétés animales (1878) – formuliert, indem er das Nachahmungsverhalten als ein allgemeines soziologisches Verhalten herausgearbeitet hat, das sich auch bei Tieren findet. Vgl. Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung [1890], übers. v. J. Wolf, Frankfurt a. M. 2009, S. 27–28.
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nisationstyp und der ihm zugehörigen Umwelt einheitlich vermittelt. ›Leben‹ kann weder in einem mechanischen Verhältnis physiologischer Prozesse noch psychologisch in einer Tierseele verortet werden, sondern nur auf einer Ebene des Merkens und Wirkens – und d. h. auf einer Ebene qualitativer Phänomene des »Erlebens«, die dem »Gestaltcharakter des Verhaltens« entsprechen.60 Plessner korrigiert hier von Uexkülls strengen Kantbezug, indem er die Koordination von Organismen und Umwelten im ›Leben‹ auf »ontologische Schemata […] apriorischer Gesetze« zurückführt.61 Nach Kant ist der Schematismus auf die Erscheinungswelt limitiert. Nicht so bei Plessner. Aus seiner Sicht ist die empirisch arbeitende Umwelt- oder auch Verhaltensforschung durch eine philosophische Analyse der »Vitalkategorien« zu begründen, die nichts weniger als die »Wesensstruktur des Lebens« artikulieren.62 Mit dieser methodischen Erweiterung des Subjektbegriffs aus seinen Lebensgrundlagen unternimmt Plessner eine anthropologische Explikation der nicht zuletzt hierarchisch angelegten natürlichen Ordnung von Uexkülls. Das Tier nimmt eine mittlere Stellung auf der ›Formstufenleiter‹ ein: nach der Pflanze und bevor der Mensch erscheint. Seine (an die Beschreibungen Drieschs und von Uexkülls angelehnte) Organisationsform exemplifiziert den Begriff der Positionalität, der als grundlegende Kategorie des Lebens fungiert.63 Das Tier ist im Modus des nicht bloß dinglich vorhandenen ›Gesetztseins‹: Es verhält sich mittels seines Körpers zu seiner Umwelt, indem es »nur auf dem Wege über das Zentrum« gereizt sein und reagieren kann.64 »Der Körper merkt das Sein und wirkt auf das Sein. Über eine Kluft hinweg steht er mit dem Anderen in sensorischer und motorischer Verbindung.«65 Hier verknüpfen sich mehrere Reflexionsstränge auf nicht ganz einfach auflösbare Weise: dialektische Denkfiguren und solche hermeneutischer, phänomenologischer und vitalistischer Provenienz. Halten wir fest: das Tier markiert eine Stufe des Organischen, die durch zentrische Positionalität bestimmt ist; es steht in einem lebendigen Verhältnis zu sich, das einerseits physiologisch und anderseits durch ein qualitatives Erleben subjektiv-ganzheitlich, durch eine »Autonomie der Formbildung«, charak-
60 Vgl. Plessner, Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 63–69, hier S. 69. 61 Vgl. ebd., S. 65, 66 [Herv. MR]. 62 Vgl. ebd. 63 Vgl. ebd., S. 230–232. 64 Vgl. ebd., S. 230. Vgl. auch ebd., S. 127–132. 65 Ebd., S. 232.
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terisiert ist.66 Das im Stufenprinzip liegende hierarchische Moment findet sich im Übergang von der offenen zur geschlossenen Form, d. h. bei Plessner: im Übergang zur zentralisierten Organisation; dann aber auch in der Reflexivität, die sich im spezifisch menschlichen Objektbezug und Selbstbewusstsein zum Ausdruck bringt.67 Beides zusammen findet sich in dem älteren naturphilosophischen Prinzip wieder, das einen Primat der Sensibilität in der physiologischen Organisation mit dem Freiheitsgrad einer riskanten Daseinsweise verbindet.68 Im Begriff der Entwicklung führt Plessner diese Überlegungen zusammen. In ihm verbinden sich Prozesse des Werdens mit der beharrlichen Identität eines Typus oder einer »Gestaltidee«.69 Zum lebendigen Dasein gehört ein ständiges Werden im Sinne der Realisierung eines sich durchhaltenden oder mit sich identischen Etwas: also bleibt »das anders werdende Ding dasselbe.«70 Reines Werden, das die Grenzen der »Formidee« ruinierte, wäre Veränderung ohne Maß und Ziel – und daher jedenfalls keine Entwicklung. »So versteht man die inneren Gründe, aus welchen sich die ganze organische Natur von dem Gesetz des Typus beherrscht zeigt.«71 Im Typus oder in den Gestaltideen haben die Tiere einen unverrückbar fest stehenden Rahmen für ihre Lebensprozesse, »in dem das Anderswerden sich zu halten hat.«72 Differenzierung wird dabei auch im evolutionären Sinne als eine Entwicklung zu einem »höheren Mannigfaltigkeitsgrad« bzw. einer »Zunahme an Struktur« begriffen.73 66 Vgl. ebd., S. 105. Die philosophische Biologie unterläuft laut Plessner den cartesianischen Substanzendualismus, indem sie zugleich anhand des auf eine »Grenze« im Sinne der »Aspektdivergenz« bezogenen Tiers die Zweiheit aus der (eigentlich fundamentalen) Einheit des Lebens hervorgehen lässt. Vgl. ebd., S. 99–105. 67 »Wenn es dem außenstehenden Beobachter auffällt, daß die Umwelt eines Tieres nur von ›Dingen‹ erfüllt ist, die diesem speziellen Tier allein angehören, der Regenwurm nur von Regenwurmdingen, die Libelle nur von Libellendingen umgeben ist, so wird diese Tatsache verständlich aus dem Mangel echter Dinglichkeit. Sie entbehren eben der Objektivität […].« Ebd., S. 247. An diesem Punkt ist Plessner (wie z. B. auch Husserl) Kantianer. 68 Vgl. ebd., S. 247–250. 69 Vgl. ebd., S. 136. 70 Vgl. ebd., S. 135, 140–141. 71 Ebd., S. 137. »Nirgends tritt ein lebendiger Körper sozusagen als absolute Einmaligkeit auf. Er ist stets ein […] Fall eines Typus und untersteht einer Stufenfolge solcher typischer Einheiten, die nach Graden der Verwandtschaft zu ordnen sind.« Ebd. 72 Vgl. ebd., S. 137. 73 Vgl. ebd., S. 146.
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Übertragen auf die »Sphäre« des Menschen und seinen »Personcharakter« könnte von einer »vitalen Basis« gesprochen werden, die weiterhin typische »ethnobiologische« Unterscheidungen in sich trägt.74 Sie entsprechen dem animalischen Umweltcharakter, der ein integrales Moment in dem exzentrischen Weltverhältnis des Menschen bleibt: »auch seine Welt ist notwendig getragen von Umweltcharakteren, wie in der Organisation seiner eigenen Existenz das Höhere und spezifisch Menschliche vom Tierischen getragen wird. Auch sie zeigt sich notgedrungen […] als Milieu, […] als Fülle der Umstände.«75 Allerdings ist die »vitale Basis« einer tiefen Verbundenheit mit dem Lebendigen keine letzte Bestimmung des Menschen. Diese liegt vielmehr in der Humanität selbst, in der singulären Person des »Einen Menschen«, »in der alles, was Menschenantlitz trägt, ursprünglich verknüpft bleibt«.76 Und genau an diesem Punkt macht sich auch bei Plessner eine merkwürdige – und epistemisch koloniale – Vorrangstellung der westlichen Kultur geltend, weil diese als einzige die Humanität als weltanschaulich neutrale Idee versteht.77 Kulturen, die nicht menschheitsbezogen denken, befinden sich dagegen in einem wenig differenzierten Entwicklungszustand: sie verabsolutieren ihr partikulares Dasein gedankenlos. Ihnen fehlt die anthropologische Aufklärung über die besonders geartete menschliche Positionalität bzw. die unergründliche Macht des existentialen Verstehens als kreativer Lebensgrund aller Sinnstiftung.78
6.3 Tier-Werden in Tausend Plateaus Wenn Deleuze und Guattari in einem langen Kapitel in Tausend Plateaus vom »Tier-Werden« sprechen, so geht es ihnen nicht zuletzt um eine Neuausrichtung des tradierten Mensch-Tier-Verhältnisses.79 Ihnen kommt es darauf an, im Menschen das Tier freizusetzen – nicht aber darauf, im Tier den 74 Vgl. ebd., S. 304. Das »Faktum der ethnobiologischen Erfahrung« verweist auf eine ›bluthafte‹, rassenspezifische und traditionale Eigentümlichkeit eines Volkstums oder ›völkischen Charakters‹. Vgl. dazu Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 191–193, 230–233, 171. 75 Plessner, Stufen des Organischen, a. a. O., S. 308. 76 Vgl. ebd., S. 304. 77 Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 221. 78 Ebd., S. 186. 79 Vgl. Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., S. 317–422.
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Menschen wiederzufinden. Michel Serres hat diesen Punkt treffend formuliert, wenn er in seinem Parasiten vorschlägt, »man möge den [z. B. in La Fontaines Fabeln angelegten] Anthropomorphismus zurückwenden.«80 Es handelt sich bei dem Tier-Werden um ein Anders-Werden des Menschen, das weder die gebräuchlichen Vorstellungen vom Tier noch die gebräuchlichen Vorstellungen vom Menschen unangetastet lässt. Das zeigt sich schon darin, dass das Tier-Werden mit anderen Formen des Werdens unmittelbar zusammenhängt: mit solchen des Kind-Werdens, Frau-Werdens, Molekular-Werdens – aber auch des Schwarz-Werdens, Jude-Werdens oder Minoritär-Werdens. Kinder, Frauen, Minderheiten, Andersheiten: stets lebt im Begriff des Menschen eine majoritäre Norm, die nicht in der ›Immanenz des Werdens‹ zu situieren ist.81 Und dies bedeutet zugleich, dass patriarchale Strukturen ebenso wie koloniale oder antisemitische in Veränderungsprozesse hineingezogen werden. Im Tier-Werden bilden Mensch und Tier ein Gefüge. Der Mensch wird Tier und damit unmenschlich – und zugleich wird das Tier zu etwas anderem. Im Werden individuiert sich z. B. ein Tier-Mensch, der weder Mensch ist noch Tier. Vielleicht ein Schamane oder eine »Tricksterin«, aber das erklärt nicht viel.82 Das Werden spielt sich auf einer Ebene ab, die weder den Menschen und seine vorzüglichen Eigenschaften noch das Tier und seine primitive Natur fortbestehen lassen. Nicht einmal als Projektionsfläche für ein Anderssein. Dieses Geschehen zwischen ihnen wird daher auf eine Weise beschrieben oder konstruiert, die sich gegen bestimmte Üblichkeiten – gerade auch im anthropologischen Diskurs des Lebens im Allgemeinen und des Tiers im Besonderen – konturiert. Tier-Werden meint keinesfalls, dass Menschen einfach zu Tieren werden. »Das Werden kann und muß als ein Tier-Werden bestimmt werden, 80 Vgl. Michel Serres, Der Parasit [1980], übers. v. M. Bischoff, Frankfurt a. M. 1987, S. 18. Der einzig sinnvolle Umgang mit dem Parasitismus wäre denn auch, nach Serres, ihn radikal zu verallgemeinern. 81 Wenn der »Standard-Mann« eine privilegierte, majoritäre Instanz repräsentiert, so sind »in diesem Sinne […] Frauen, Kinder und auch Tiere, Pflanzen, Moleküle minoritär.« Zwischen einem minoritären »Status« und einem minoritären »Werden« wäre zu unterscheiden: »Man reterritorialisiert sich in einer Minorität […]; aber man deterritorialisiert sich in einem Werden.« Vgl. Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., S. 396. Allerdings liegt im Minoritären – aufgrund seiner Abweichung vom repräsentativen und kolonialen Standard – immer in besonderer Weise ein Verwandlungspotenzial. Vgl. ebd., S. 398–399. 82 Vgl. Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, übers. v. D. Fink et al., Frankfurt a. M., New York 1995, S. 171.
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ohne einen Endzustand zu haben, der das gewordene Tier wäre.«83 Aber das »Tier-Werden des Menschlichen« ist doch zugleich ein Unmenschlich-Werden, das sich in einer Zone abspielt, die keine klare Grenze mehr zwischen Mensch und Tier zu ziehen erlaubt.84 Werden ist nicht als Entwicklung zu denken, die ein Subjekt voraussetzen würde, das sich entwickelt – auch nicht zu etwas anderem, das bereits als anderes klar bestimmt wäre. Von der Naturgeschichte über die Biologie und Evolutionsbiologie bis zum (klassischen) Strukturalismus werden Tierbegriffe diskutiert, die nicht nur an einer irreduziblen »menschlichen Ordnung« festhalten, sondern zugleich auf wirkliche Tiere abzielen, die sich gemäß den entsprechenden diskursiven Regelungen identifizieren lassen.85 Anhand zahlreicher Beispiele aus der Literatur – von Kleist, Melville und Kafka stammen die bekanntesten – und anderen Quellen (wie Psychoanalyse und Ethnologie, Musik und Film) wird in Tausend Plateaus verdeutlicht, dass Tier-Werden nur sehr wenig mit Ähnlichkeiten, Analogien, Imitationen oder Fiktionen zu tun hat. Das ›Tierische‹ dieses Werdens lässt sich daher nur schwer mit der Hilfe tradierter zoologischer Annäherungen beschreiben. Es gelingt nicht, ihm auf die Spur zu kommen, indem Eigenschaften bemerkt werden, anhand derer Tiere nach Art und Gattung zu klassifizieren sind. Ebenso wenig hilft es, ihre organischen Funktionen zu erkennen oder ihre hereditären Abstammungslinien. Das Werden ist weder Evolution noch Vererbung.86 Selbst die Interpretationen von Lévi-Strauss scheitern. Seine Schriften zum Totemismus sind lediglich auf äquivalente Beziehungen, symbolische Strukturen oder »Analogien der Proportionalität« ausgerichtet. In den späteren Mythenforschungen stößt er zwar »immer wieder auf jene spontanen Handlungen […], durch die der Mensch zum Tier wird […]«, aber auch hier führt ihre Auffassung im Rahmen des Mythos »zu einer Verarmung des beobachteten Phänomens.«87 Es bleibt nicht bei der Ablehnung eines unpassenden oder ungeeigneten Denkens. Deleuze und Guattari haben ein sozusagen ›dichtes Phänomen‹ im Blick, das greifbarer wird, wenn sie von einem »unmenschlichen Einverständnis mit dem Tier« sprechen oder davon, mit ihm »einen Körper 83 Und weiter schreiben Deleuze und Guattari: »Das Tier-Werden des Menschen ist real, ohne daß das Tier, zu dem er wird, real ist.« Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., S. 325. Die Rede ist hier auch vom Dämonischen oder von Anomalien. 84 Vgl. ebd., S. 379–380, S. 372, 411. 85 Vgl. ebd., S. 372. 86 Vgl. ebd., S. 325, 329. 87 Vgl. ebd., S. 323–324.
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zu bilden«.88 Etwas oder besser eine Menge geschieht zwischen ihnen. Ein Thema spielt dabei eine besondere Rolle: die Individuation, verstanden als ein Prozess, der sich in einer strukturellen Mannigfaltigkeit abspielt. In Differenz und Wiederholung wurde das Thema von Deleuze bereits ausführlich behandelt.89 In Tausend Plateaus taucht es in den ›spinozistischen Erinnerungen‹ wieder auf.90 Sie nehmen ihren Ausgang von den Überlegungen zu den »Körpern«, die Spinoza im zweiten Buch seiner Ethik anstellt.91 Je nach den Bewegungsverhältnissen, in denen sie sich befinden, setzen diese Körper Individuen zusammen, die selbst wiederum Teile anderer (und komplexerer) Individuen sein können. Sie sind auf einer Ebene angesiedelt, »die sowohl für das Unbelebte wie das Belebte gilt, sowohl für künstliche wie für natürliche Dinge«; – eine »Verteilungsfläche«, die nichts mit Formen und Funktionen, aber auch nichts mit Gründen und Zwecken zu tun hat.92 Vor diesem Hintergrund wird zunächst die philosophische Zoologie von Geoffroy St.-Hilaire platziert, anschließend die Ethologie – mit einer Bezugnahme auf von Uexküll. Geoffroy St.-Hilaire wird als Gegenspieler von Cuvier eingeführt, dem es nicht länger darum geht, »Beziehungen von Organen zueinander und von Organen zu Funktionen« zu definieren. Vielmehr bezieht er sich auf ab strakte Körperteile, »die sich nur durch ihre Geschwindigkeit unterscheiden« und auf diese Weise verschieden kombinieren und in »dieses oder jenes individuierte Gefüge eingehen.«93 Die Vorgänge der Individuation sind auf einer Immanenzebene lokalisiert; informelle und funktionslose, verschwindend kleine Teilchen, die sich zu größeren Einheiten zusammensetzen, wenn sie Organe oder Funktionen ausbilden. »Ein einziges abstraktes Tier für alle Gefüge, in denen es realisiert wird.«94 Dagegen die Position von Cuvier, die an einem transzendenten oder verborgenen Organisationsplan festhält, der sich wegen seiner rationalen Teleologie in der Ordnung der Lebewesen erst manifestiert. Den Prinzipien der Organisation oder Entwicklung setzen De 88 Vgl. ebd., S. 373. 89 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung [1968], übers. v. J. Vogl, München 1991, S. 308–328. 90 Vgl. Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., S. 346–354. 91 »Die Körper unterscheiden sich voneinander hinsichtlich der Bewegung und der Ruhe, der Schnelligkeit und Langsamkeit, nicht aber hinsichtlich der Substanz.« Spinoza, Ethik, übers. v. J. Stern, Stuttgart 1977, S. 145 (2. Buch, Lehrsatz 13, Hilfssatz 1). 92 Vgl. Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., S. 346. 93 Vgl. ebd., S. 347. Vgl. bereits Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 236–237. 94 Vgl. Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., S. 348.
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leuze und Guattari mit Geoffroy St.-Hilaire die Faltung entgegen – Faltung und nicht: Charakter, Typus oder Gestalt. »Und wenn es tatsächlich Sprünge oder Brüche zwischen Gefügen gibt, dann nicht aufgrund ihrer natürlichen Irreduzibilität, sondern weil es immer Elemente gibt, die nicht rechtzeitig ankommen oder erst dann, wenn alles vorbei ist, so daß man durch Nebelschwaden oder Leerzonen, Fortschritte und Verzögerungen hindurch muß, die selber Bestandteile der Immanenzebene sind.«95
Von »natürlich irreduziblen« Wesenheiten kann nicht die Rede sein, wenn das Individuelle aus einer immanenten Individuation heraus entsteht, d. h. aus Verhältnissen unterschiedlich schnell bewegter formloser Partikel. Eine Maschine und kein Mechanismus, ein organloser Körper und keine Organisation.96 Dieser Sichtweise wird eine weitere hinzugefügt, indem mit Spinoza den quasi physikalischen Beziehungen affektive an die Seite gestellt werden.97 Die einen sind nicht ohne die anderen. Eine Untersuchung der Affekte eines Körpers bezeichnen Deleuze und Guattari als »Ethologie«: »Wenn von Uexküll die Tierwelten definiert, so sucht er nach den aktiven und passiven Affekten, zu denen das Tier fähig ist, und zwar in einem individuierten Gefüge, dessen Teil es ist.«98 Damit ist klar, was von Uexküll für die hier verfolgte Interpretation des Tiers positiv bedeutet: eine Ansammlung von Tierwelten, die sich aus den immanenten Verhältnissen der individuierten Gefüge, d. h. der affektiven Bezüge des Körpers und ihrer Umwelten, ergeben. Weder festgeformte Gestalten und eindeutige Charaktere noch eine rein natürliche Ordnung, die die Umwelten aufeinander abstimmt und das Privileg der wissenschaftlichen Forschung garantiert, sind hier relevant. Die ethologische Sichtweise unterminiert die physiologische, indem sie auf die Affekte abstellt, die beispielsweise auch das Verhalten von Tieren in urbanen Räumen verändern. Allgemeiner gesagt: »Zwischen einem Rennpferd 95 Ebd. 96 Zum Begriff der Maschine vgl. Henning Schmidgen, Das Unbewußte der Maschinen. Konzeptionen des Psychischen bei Guattari, Deleuze und Lacan, München 1997. 97 »Den Beziehungen, die ein Individuum zusammensetzen, es auflösen oder modifizieren, entsprechen Intensitäten, die es affizieren, die sein Handlungsvermögen steigern oder verringern und die von äußeren Teilen oder seinen eigenen Teilen stammen.« Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., S. 349. Vgl. Spinoza, Ethik, a. a. O., S. 149, 159–161 (2. Buch, Lehrsatz 13, Hilfssatz 3, Axiom 1 und 2. Buch, Lehrsatz 16). 98 Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., S. 350. Auch hier wird der enge Bezug zwischen der Ethik Spinozas und einem bestimmten Begriff der Ethologie herausgestellt. Vgl. bereits Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie [1981], übers. v. H. Linden, Berlin 1988, S. 39.
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und einem Arbeitspferd gibt es mehr Unterschiede als zwischen einem Arbeitspferd und einem Ochsen.«99 Es kommt nicht auf die artspezifischen organischen Funktionen an, sondern auf die Affekte eines Körpers und »wie sie sich mit anderen Affekten, den Affekten eines anderen Körpers, verbinden können oder nicht, um ihn entweder zu zerstören oder von ihm zerstört zu werden, um entweder zu handeln oder zu leiden, oder um mit ihm einen Körper zu bilden, der noch mehr vermag […].«100 Immer wieder geht es Deleuze und Guattari um Symbiosen oder ›widernatürliche Anteilnahmen‹, die zwischen verschiedenen Tieren, zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen stattfinden – nicht im Sinne einer prästabilierten Harmonie, die den Umwelten in der einen Natur ihren festgefügten Ort zuweisen würde, sondern im Sinne heterogener Kollektive, der Verkettung divergenter Reihen, die einen Block des Werdens miteinander bilden. Ahab und der Wal, aber auch die Wespe und die Orchidee – oder mit von Uexküll gesagt: Hummel und Löwenmaul.101 Und selbst wenn es von Uexküll hin und wieder gelingt, die internen und nicht-totalisierbaren Beziehungen der (eigentlich nicht wie Puzzleteile zusammenpassenden) Umwelten aufzuzeigen, so hat er doch stets seine auf Ordnung bedachten Hintergedanken. Es verdient deshalb festgehalten zu werden, dass Deleuze und Guattari ausdrücklich und an mehreren Stellen des Textes jeden transzendenten »Plan« – oder mit deutlicher Anspielung auf von Uexküll: »Lebensplan« – zurückweisen, der das Werden aus den Augen verlieren muss, wenn er es bereits im Voraus reglementiert.102 Die affektiven Relationen zwischen Körpern, die sie miteinander Bündnisse eingehen lassen, sind nicht auf bestimmte Arten oder Gattungen von Lebewesen beschränkt. Es handelt sich (mit einem Ausdruck von Duns Scotus) um ›Diesheiten‹ (haecceitates), die zugleich maschinelle Gefüge oder he 99 Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., S. 350. 1 00 Ebd. 101 Vgl. Uexküll, Organismus und Umwelt, a. a. O., S. 338. Allerdings sind diese symbiotischen Verhältnisse nach von Uexküll stets auf »übersubjektive Gesetze« einer »zwischen den Lebewesen überall zutage tretenden Planmäßigkeit« bezogen, die eine grundlegende Übereinstimmung der Umwelten regeln. Vgl. ebd., S. 337–340. Dasselbe gilt explizit auch für Plessner, der an den Lebensplan anschließt: vgl. Plessner, Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 64. 102 »Lebensplan […]: ein Plan, der als solcher nicht gegeben sein kann, der nur abhängig von Formen, die er entwickelt, und von Subjekten, die er formt, erschlossen werden kann, da er für diese Formen und Subjekte da ist.« Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., 362. Alternativ sprechen sie auch von transzendenten Bildungs-, Organisationsund Entwicklungsplänen, die in Immanenzpläne, Diagramme oder Maschinen-Fragen zu transformieren sind. Vgl. ebd., S. 351, 361–368.
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terogene Kollektive genannt werden können. Kein Individuum, sondern »ein Ensemble von Schnelligkeiten und Langsamkeiten […], von nicht-subjektivierten Affekten.«103 Das Tier, das beim Tier-Werden auftaucht, ist eine Meute oder ein Rudel, und seine Affekte sind präindividuell, »eine Auswirkung der Kraft der Meute«, keine qualifizierenden Eigenschaften.104 »Wir können nicht Tier werden, ohne von der Meute, der Mannigfaltigkeit fasziniert zu sein.«105 Eine Wagenladung von Affen bei Virginia Woolf oder ein Haufen Ratten bei Hugo von Hofmannsthal. Kein Massenphänomen, in dem sich der Einzelne verliert und untergeht, sondern eine Meute, in der nach Canetti jedes einzelne Wesen mit den anderen zusammen ist und doch auch alleine bleibt und stets eine Randposition einnimmt.106 Mit dem Tier-Werden verändern sich die Mensch-Tier-Verhältnisse, weil es keine in einer wesentlichen Bestimmung festliegende Grenzziehung anthropologischen Typs erlaubt. Im Menschen als eine als Spezies definierte Entität liegt ein Werden, das nicht an die diskursiv konsolidierten Ordnungen gebunden ist – und genau darin macht sich seine eigene Animalität bemerkbar. Sie lenkt den Blick auf Individuationsprozesse, die wiederum nicht auf einen zoologischen Bereich beschränkt sind. Reiterstiefel mögen kleinen Kindern dabei helfen, zum Pferd zu werden. Hitchcocks Vögel werden von vibrierenden elektronischen Geräuschen begleitet. Deleuze und Guattari finden zahllose Beispiele für die heterogenen Verkettungen, die, wie sie sagen, »aus der Welt ein Werden machen«.107 Jede Welt ist ein konkretes Gefüge oder eine »Diesheit, die durch Transparenz in andere Diesheiten hinein gleitet.«108 Mit Dewey könnte hier von ›empirischen Qualitäten‹ gesprochen werden, die sich nicht auf ein Individuum begrenzen lassen, weil sie in die Situationen eingebunden sind, aus denen die Diesheiten hervorgehen. Die »Transparenz« bezeichnet ein Milieu, das nicht auf einen Funktionskreis zu limitieren ist, weil es auf subliminale Intensitäten bezogen ist, die in einer 103 Vgl. ebd., S. 357. 104 Vgl. ebd., S. 328. 105 Ebd., S. 327. »Der Wolf ist das Rudel […], Wolf-Werden, Unmenschlich-Werden der deterritorialisierten Intensitäten – das ist Mannigfaltigkeit.« Ebd., S. 50, 51. Und in Anlehnung an Artaud: »Der organlose Körper ist […] ein lebendiger Körper, der umso lebendiger ist und von Leben wimmelt, als er den Organismus und seine Organisation auffliegen läßt. […] Der organlose volle Körper ist ein Körper, der von Mannigfaltigkeiten bevölkert ist.« Ebd., S. 48. 106 Vgl. Elias Canetti, Masse und Macht [1960], Frankfurt a. M. 1990, S. 101–106. 107 Vgl. Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., S. 381. 108 Vgl. ebd.
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beliebigen Nachbarschaftszone zwischen Individuen (wie Tier und Mensch) vermitteln oder sie in ein Werden hineinziehen. »Wir müssten die Schwelle der Photographie oder des Films erreichen«, d. h. eine Langsamkeit oder Schnelligkeit, die nicht innerhalb einer fest definierten Umwelt vorkommen kann.109 Dann handelte es sich nicht um eine relative, auf eine Tierumwelt bezogene, sondern um die absolute Schwelle eines Unwahrnehmbar-Werdens, d. i. die unendliche Bewegung einer kontinuierlichen Variation virtueller Mannigfaltigkeit. Eine Vielzahl von Perspektiven, die an die vielen möglichen Welten gebunden sind – und sich doch beständig durchdringen und verwandeln. Die »Fluchtlinien als Perspektivlinien« sind nicht dazu da, die »Tiefe« darzustellen, die sich mit der Zentralperspektive historisch konsolidiert.110 Keineswegs sind diese Welten unveränderliche Umwelten, die einen größeren Plan voraussetzten, den es zu verstehen gelten würde.111 Vielmehr wird jede Wahrnehmung mit ihrer eigenen Grenze konfrontiert, weshalb nicht das Unbewusste spekulativ zu idealisieren oder anders wiederzufinden – sondern zu konstruieren ist: »das Experimentieren ersetzt das Interpretieren.«112 Das Tier-Werden ist ein Experiment – und zwar immer auch als eine Praxis des Minoritär-Werdens.113 Die Festlegung einer Minderheit hat immer damit zu tun, dass das nicht zugelassene Werden, das durch die permanente 1 09 Vgl. ebd., S. 382. 110 Deleuze und Guattari bezeichnen die Tiefe als das »größte Scheinproblem« der Malerei. »[D]ie sogenannte Zentralperspektive stürzt die Mannigfaltigkeit von Fluchten und die Dynamik von Linien in ein punkthaftes schwarzes Loch. Es ist richtig, daß umgekehrt die Probleme der Perspektive viele kreative Linien entfesselt haben, daß sie ganze visuelle Blöcke freigesetzt haben, obwohl sie den Anspruch hatten, sie zu meistern.« Ebd., S. 407. 111 »Es ist der Organisations- und Entwicklungsplan, der Transzendenzplan, der etwas Wahrzunehmendes darstellt, ohne selbst wahrgenommen zu werden, ohne wahrgenommen werden zu können. Aber auf der anderen Ebene, der Immanenz- und Konsistenz ebene, ist es das Kompositionsprinzip selber, das wahrgenommen werden muß, das nicht umhin kann, wahrgenommen zu werden, und zwar gleichzeitig mit dem, was es kombiniert oder ergibt […], denn das Unwahrnehmbare ist auch das percipiendum.« Ebd., S. 383. Analoge Bemerkungen zur psychoanalytischen Hermeneutik finden sich ebd., S. 386. 112 Vgl. ebd., S. 387. Nicht zuletzt besetzt das Begehren gerade die Mikroperzeptionen, d. h. das genetische Unbewusste der Wahrnehmung, indem die Sexualität im »Frau-Werden« ihren Mehrheitsdiskurs – z. B. das Macht-Dispositiv der Sexualität nach Foucault – verlässt. An dieser Stelle ist auch die »Pharmako-Analyse« angesiedelt und das große Themenfeld von Drogen, Sucht und Pharmapornografie. Vgl. ebd., S. 386, S. 375–378. 113 Vgl. ebd., S. 396.
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Reproduktion bestehender Strukturen kontrolliert wird, als eine bloße Vorstufe der Entwicklung oder eine unwesentliche Seite der menschlichen Existenz bzw. ein armseliger Charakter angesehen wird. Das Vergängliche und nicht das Ewige, Passivität statt Aktivität, Instinkt und Automatismus gegen Intelligenz und Freiheit, das Unbewusste als das Noch-nicht-Bewusste. All dies kann in den Behälter der minderen Existenz geschüttet werden. Deshalb lebt im Wilden das Wilde, das exotische Tier oder die Exotisierung des Anderen. In diesen Fällen wird ein weiteres Mal das Werden verhindert, weil es auf den Anderen als Anderen gleichsam projiziert und in ihm isoliert und eingeschlossen wird. Der US-amerikanische Alptraum – die Versklavung der Schwarzen und der Genozid an den indigenen Völkern – manifestiert sich einerseits im »psychisch verdrängten Bild der Triebkraft« und andererseits im »unterdrückten Bild einer Wahrnehmung […], die zunehmend verschärft und verfeinert, die unendlich verlangsamt oder beschleunigt wurde.«114 Vielleicht erklärt sich daraus, »dass nur eine Minorität dem Werden als aktives Medium dienen kann«, wenn ein Körper mit einem anderen in ein Verhältnis der Ununterscheidbarkeit tritt und einen durch Intensitätsverhältnisse bestimmten organlosen Körper konstruiert.115
114 Vgl. ebd., S. 385. Deleuze und Guattari beziehen sich auf Leslie Fiedler, Die Rückkehr des verschwundenen Amerikaners [1968], übers. v. W. Ignée u. M. Stone, Frankfurt a. M. 1970. 115 Vgl. Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., S. 397. »Tier werden kann man nur, wenn man, durch welche Mittel und Elemente auch immer, Korpuskeln aussendet, die in ein Verhältnis von Bewegung und Ruhe der Tierpartikel eingehen […].« Ebd., S. 374.
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7. Der Mensch im Anthropozän1
Im Begriff des ›Anthropozän‹ wird dem Menschen (als anthropos) nach erdgeschichtlichen Maßstäben eine neuartige Sonderstellung in der Natur zugesprochen. Angesichts des (bevorstehenden) Klimawandels erscheint die menschliche Handlungsmacht erstmals als ein geologisch relevanter Faktor.2 Wie klimatologische Forschungen zeigen, machen die rapide zunehmenden Emissionen von Treibhausgasen durch den von Menschen herbeigeführten Verbrauch fossiler Brennstoffe die Prognosen der nächsten Eiszeiten zunichte.3 Der Mensch kehrt zurück in einem Diskurs, der sich durch eine extreme Form der Modernekritik auszeichnet. Schließlich stellt er sich zugleich in Frage: nicht als anthropologische Figur, die sich selbst denkt, aber dafür als reales Lebewesen, das sein eigenes Überleben als Gattung gefährdet, weil es eine globale Krise verursacht, die seine Existenzbedingungen vernichten könnte. Die Bezugnahme auf den anthropos erinnert dabei zugleich an eine Rückbesinnung auf die Anfänge, an Dinge, die in der modernen Geschichte der Entzauberung der Welt verloren gingen – vielleicht an den griechischen Mythos der Gaia. Als Göttin Erde und als Muttergöttin stellt sie ein gleichsam lebendiges Naturwesen dar, das mit den modernen Formen der Rationalität, und das heißt auch: im Rahmen einer patriarchalischen Ordnung, weder verstanden und erkannt noch wirklich beherrscht werden könnte. Von der Matriarchatsforschung (nach Bachofens Mutterrecht) bis zur Ökologiebewegung – z. B. in der New Age-Rezeption von Margulis und Lovelock – 1 Dieser Text basiert auf dem Manuskript eines Vortrags, der auf Einladung von Hannes Bajohr im Januar 2019 am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung der Humboldt-Universität Berlin gehalten wurde. Eine frühere, anders ausgerichtete Fassung wurde publiziert als »Anthropologie im Anthropozän?« in: Hannes Bajohr (Hg.), »Der Anthropos im Anthropozän. Die Wiederkehr des Menschen im Moment seiner vermeintlich endgültigen Verabschiedung«, Berlin 2020, S. 41–54. 2 Vgl. Will Steffen, Jacques Grinevald, Paul Crutzen, and John McNeil, The Anthropocene: Conceptual and Historical Perspectives, in: Philosophical Transactions of the Royal Society A 369 (2011), S. 842–67, hier S. 843. 3 Vgl. Clive Hamilton, Defiant Earth. The Fate of Humans in the Anthropocene, Cambridge UK, Malden 2017: Polity Press, S. IX.
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zieht sich ein Band, das in kultur- oder technologiekritischer Sicht die Folgen der instrumentellen Naturbeherrschung zum Problem erklärt.4 Dabei ist die mit dem Anthropozän aufgeworfene anthropologische Frage, wie dies etwa Latour in seinem terrestrischen Manifest erläutert, keine eindeutige.5 Eindeutigkeit gibt es nur insofern, als in allen Fällen der Klimawandel mit einer kurzsichtigen modernen Praxis in Verbindung gebracht wird, die es zu überwinden oder aufzugeben gelte. Inwiefern aber der Mensch als Adressat dieser Kritik bzw. seine Transformation als Bedingung ihres Gelingens aufgefasst wird – darüber besteht Uneinigkeit. Im Grunde, so scheint es mir, geht es um eine alte Frage. »Walle walle / manche Strecke, / Daß, zum Zwecke, / Wasser fließe […].«6 Ist es der Zauberlehrling im Übermut, der das Chaos verursacht – und der alte Meister bringt es wieder in Ordnung? Oder ist irren menschlich – und kein Meister sollte darüber hinwegtäuschen können? Inwiefern beherrscht der Mensch sein Handeln – und bestimmt sich selbst aus dieser Beherrschung? Findet die Technik in ihm ihren Grund – oder verschieben sich mit ihr die epistemischen Koordinaten seines anthropologischen Selbstverständnisses? Die Illusionen der Machbarkeit, die sich hier und dort mit dem Anthropozändiskurs verbinden, sind ebenso Teil des Problems menschlicher Herrschaftsphantasien, wie die Illusionen der Ohnmacht, der Ignoranz oder des Unbeteiligtseins, die den Leugner*innen der klimatischen Veränderungen völlig zurecht vorgeworfen werden. Im Folgenden werden drei Dinge zum Thema gemacht: erstens wird ein Blick auf Gustav Theodor Fechners Zend-Avesta geworfen, der bereits in diesem seinem Buch von 1851 die These der Erdseele vertreten hat. Fechner ist zwar kein ganz unbekannter – doch sind seine Arbeiten selten gelesen. Es gibt Ausnahmen – William James widmet ihm eine ganze Vorlesung seiner Hibbert Lectures (1909)7; und es ließe sich darüber streiten, ob ihm nicht Nietzsche mit seinem Zarathustra ein Denkmal setzte – aber im Großen und Ganzen gilt er eher als ein Wegbereiter mit skurrilen Neigungen (I). Zweitens wird eine zentrale Frage der Technik-Anthropologie aufgeworfen, die 4 Vgl. Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Stuttgart 1861. 5 Vgl. Bruno Latour, Das terrestrische Manifest [2017], übers. v. B. Schwibs, Berlin 2018, S. 54–55, 128–129 (FN 36). 6 Vgl. Johann W. Goethe, Der Zauberlehrling, in: https://www.textlog.de/18471.html (zuletzt geöffnet am 12.05.2020). 7 Vgl. James, Das pluralistische Universum, a. a. O., S. 83–112.
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eben darin besteht, wie genau das Verhältnis von Mensch und Technik – und dies insbesondere im Hinblick auf die Beherrschbarkeit der technischen Aktivität – aufzufassen ist (II). Und drittens werde ich skizzieren, wie die anthropologische Frage von derjenigen nach dem Menschen als Gattungswesen abweicht. Im Rekurs auf einige Überlegungen des französischen Paläoanthropologen André Leroi-Gourhan wird auf die mit dem homo sapiens entstehende Technizität eingegangen, die in ihren extremen Ausprägungen – und damit auch im Kontext der aktuellen Krisenszenarios – mit seiner althergebrachten körperlichen Konstitution in einen Widerstreit gerät (III).
7.1 Fechner und die Erde Fechners theoretische Position eines »nichtreduktiven Materialismus« zeichnet sich durch das Konzept einer Naturbetrachtung aus, das den zu seiner Zeit üblichen Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie zurückweist.8 Bezogen auf die Erde heißt das erstens, dass die ausschließlich naturwissenschaftliche Sichtweise problematisch ist, sofern sie unfähig ist, die in ihr selbst liegenden Reduktionismen zu erkennen. Und es bedeutet zweitens, dass die naturphilosophischen Positionen aufgrund der in ihnen liegenden idealistischen Spekulationen die ungeheuerliche Singularität der Erde verkennen. Zugespitzt formuliert: Fechner richtet seine ›Geo-Philosophie‹ an der Idee eines quasi ökologischen Systems aus, das weder im Rahmen der seinerzeit gebräuchlichen naturwissenschaftlichen Methoden noch in einer am Primat des Geistes festhaltenden Naturphilosophie einen Platz finden konnte. »[Unsere] gewöhnliche Vorstellung von der Erde ist nur eine Vergrößerung derjenigen, die wir teils aus dem Anblicke des sie abbildenden Globus, teils der Betrachtung einzelner Stücke ihrer Oberfläche schöpfen […].«9 Die Scholle und der Globus: das sind aus seiner Sicht die zwei Dinge, mit deren Hilfe das gewöhnliche Bild der Erde hergestellt wird. »Was uns hiebei irre führt, ist eine Verwechslung der Erde in weiterm Sinne mit der in engerm 8 Vgl. zu diesem Begriff Michael Heidelberger, Die innere Seite der Natur. Gustav Theodor Fechners wissenschaftlich-philosophische Weltauffassung, Frankfurt a. M. 1993, S. 99ff. 9 Gustav Theodor Fechner, Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits. Vom Standpunkt der Naturbetrachtung [1851], Hamburg, Leipzig 1906, S. 8.
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Sinne; der Name hilft uns die Sache verwirren.«10 In beiden Fällen wird von einem Teil aufs Ganze geschlossen – in dem einen vorab das Organische vom Anorganischen getrennt, während im anderen sich »nur noch unsre eigne Kunst und Wissenschaft« verehrt, die sich in Globus und Karten manifestiert.11 Dagegen wird mit dem Ausdruck ›Erde‹ im weiteren Sinne nach Fechner »die Gesamtheit, das System alles dessen [verstanden], was durch die Schwere um den Erdmittelpunkt zusammengehalten wird, also nicht bloß alles Feste, sondern auch alles Wasser und alle Luft und alles was in der Erde und in Wasser und Luft lebt und webt, und fleucht und kreucht, und außer der Gesamtheit alles Schweren noch alles Unwägbare, was in das System des Schweren eingeht.«12 Ebenso wenig gelingt es der idealistischen Naturphilosophie, die Erde – oder eben: die Vielfalt der aufeinander bezogenen irdischen Systeme – zu denken. Fechner wendet sich gegen den in ihr liegenden Anthropozentrismus, sofern im Menschen die Vermittlung von Natur und Geist bzw. die in der Natur ablaufenden Entwicklungsprozesse kulminieren. In einer Textpassage weist er den philosophischen Grundsatz der Allgemeinen Naturgeschichte für alle Stände (1833–41) Lorenz Okens zurück, den er mit den Worten beschreibt: »Das Tierreich ist sozusagen nur das zerstückelte höchste Tier: Mensch; indem der Mensch alles, was auseinandergelegt in den einzelnen Tieren vorkommt, in sich verschmolzen und geeinigt enthält.«13 Dieser anthropozentrische Grundsatz dient bei Oken zur Einteilung aller Lebewesen – und Fechner kann in ihm eine exemplarische Form der naturphilosophischen Sublimierung überhaupt erkennen. Und dies völlig zu recht, wenn man an Schellings Begriff des allgemeinen Organismus und an das anthropologische Konzept denkt, seine ›Weltseele‹ in der an das menschliche Urbild angelehnten Organisation der Sinne aufgehen zu lassen: »die Welt steht dem Menschen nicht gegenüber, sie ist nur sein Leib.«14 Stets geht es in der romantischen Naturphilosophie darum, in die Physiologie ein rationales Prinzip einzuführen, das die Ausbildung des Lebens in seiner menschlichen Gestalt zur Vollendung bringt. 10 Fechner, Zend-Avesta, a. a. O., S. 9. 11 Vgl. ebd., S. 10. 12 Ebd., S. 10. 13 Ebd., S. 40. Dieser Grundsatz Okens findet sich bereits in seinen frühesten Arbeiten, angelehnt an die Naturphilosophie des jungen Schelling. 14 Lorenz Oken, Über das Universum als Fortsetzung des Sinnensystems: ein pythagoräisches Fragment, Jena 1808, S. 45.
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Im Unterschied dazu spricht Fechner ganz dezidiert von der Erde als von einem »übermenschlichen Gebiet«.15 Mit ihr verbindet sich ein revolutionärer Gestus, der zugleich bescheiden bleibt: »Wir werden hierbei nichts sagen, als was jeder weiß und zugibt; wir werden es bloß etwas anders sagen, als es jeder zuzugeben gewohnt ist. Nun sehe man zu, ob man Herr oder Sklave der Gewöhnung ist […].«16 Die Erde sprengt den anthropologischen Rahmen der Naturphilosophie. Sie ist weder ein Untier im planetarischen Maßstab, noch findet sich der allgemeine Organismus im Menschen als Mikrokosmos wieder, wie dies in Anlehnung an die ›ägyptische Lehre‹ des Corpus Hermeticum immer wieder gerne behauptet wurde.17 Eher könnte man schon an Solaris denken, an den von Stanislaw Lem beschriebenen fernen Planeten, der mit einer ihm sehr eigenen Lebendigkeit ausgestattet zu sein schien. Ein fremdes unbegreifliches Wesen, das mit einigen Forschungsreisenden Kontakt aufnimmt, indem es sich in einen menschlichen Resonanzkörper verwandelt.18 Nach Fechner ist der Mensch ebenso wie Steine, Pflanzen, Tiere nichts anderes als ein Teil der Erde. Die von ihm vertretene quasi-ökologische Idee macht es unmöglich, dass der Mensch der Erde fremd gegenüber steht: »jede Gewalt, die er äußerlich auf sie zu üben glaubt, ist nicht minder ihre eigne Gewalt.«19 Anders gesagt, nimmt Fechner nicht den anthropologischen Sinn der Umwelt vorweg, in deren Mitte der Mensch als handelnde Kraft wirksam wird. Vielmehr begreift er Welt und Umwelt aus ihrer primär irdischen Relation – und das eben heißt, dass auch der handlungstheoretisch folgenreiche Gegensatz zwischen einem in Umwelten verspannten tierischen 15 Vgl. Fechner, Zend-Avesta, a. a. O., S. 55. Damit verbindet sich zugleich die Ablehnung der sich anthropozentrisch verstehenden romantischen Ästhetik, denn »für ein höheres Wesen, als der Mensch ist, [kann] die menschliche Gestalt gar nicht als die schönste erscheinen […].« Umgekehrt wird die Landschaft als »Gesicht der Erde« bezeichnet – und die irdischen »Wolkenschleier« vollziehen einen kontinuierlich freien Faltenwurf, der nichts mit den griechischen Gewändern gemein hat. Vgl. ebd., S. 56, 57, 59. 16 Ebd., S. 42. Fechner spricht von »Versuchen«, die jeder Revolution vorausgehen und sie vorbereiten. »Wie könnte ich mir auch einbilden […], eine Revolution durchsetzen zu können, die weit über die Wissenschaft hinausgreifen müßte, eine verjährte, mit allem unsern Leben und Denken verwebte Betrachtungsweise von Natur und Geist entwurzeln zu können, in der wir alle erzogen und groß geworden sind.« Ebd., S. 6f.. 17 Vgl. Robert Fludds Metaphysik von Makro- und Mikrokosmos (in ders., Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris Metaphysica, physica atque technica Historia, 2 Bde., Oppenheim, Frankfurt 1617) und ihre Kritik in Johannes Keplers Harmonices Mundi libri V [1619], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 6, München 1940. 18 Vgl. Stanislaw Lem, Solaris [1961], übers. v. I. Zimmermann-Göllheim, München 2002. 19 Fechner, Zend-Avesta, a. a. O., S. 33.
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Instinktverhalten und der ›existentiellen Erfahrung‹, sich die Welt zu eigen zu machen, aufgegeben werden muss.20 Die Erde selbst ist es, die handelt. Aber sie tut dies in einer Ansammlung quasi-ökologischer Systeme – nicht global im Sinne menschlicher Weltaneignung, und auch nicht lokal in der Beschränkung auf ein bestimmtes kulturelles Terrain. Sie ist aktiv, sofern sie »nicht nur alle Verwicklungen der Menschen-, Tier- und Pflanzenleiber und ihrer Prozesse einschließt, sondern auch eine Verwicklung aller dieser Verwicklungen unter sich und mit dem unorganischen Reiche enthält, die sich in den gegenseitigen stofflichen Zweck- und Wirkungsbeziehungen der organischen Wesen teils unter sich, teils mit der übrigen irdischen Welt kund gibt.«21 Nun kann der Mensch nicht für oder wie die Erde denken, wenn sie tatsächlich ein übermenschliches Wesen ist. Er ist nicht einfach ein planetarischer Gedanke, wie noch Oken meinte.22 Fechner macht deutlich, dass die sich innerhalb irdischer Prozesse vollziehende Individualisierung egal welchen Typs einen notwendigen Bezug auf die Erde insgesamt aufrechterhält. Sie ist vollkommen real, gerade weil sie die Erde impliziert, wenn sie diese in ihrem perspektivischen Ausschnitt zum Ausdruck bringt. Methodisch gilt dabei ein Satz, den Fechner regelmäßig wiederholt. Wenn sich Individuen auch unterscheiden, so sind ihre Unterschiede voneinander doch nicht so zu verstehen, dass sie sich in ontologischer Hinsicht in radikal getrennten Bereichen aufhielten.23 Ihre Realität bleibt stets eine irdische, auch wenn sich die 20 Die Welt-Umwelt-Unterscheidung der philosophischen Anthropologie, die den Menschen aus dem Instinktverhalten der Tiere heraushebt, bleibt an die feministisch mehr als fragwürdige aristotelische Relation polis-oikos gebunden. Vgl. u. a. Helmuth Plessner, »Die Frage nach der Conditio humana« [1961], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M. 2003, S. 136–217, hier S. 180–189; und Michael Landmann, Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdarstellung in Geschichte und Gegenwart [1955], Berlin u. a. 1982, S. 161ff. 21 Ebd., S. 34–35. 22 »Bildet euch nicht ein, etwas aus euch allein sprechen zu können, die ihr nur die an der Wand vorüberziehenden Schattenbilder des Planeten seid.« Oken, Über das Universum, a. a. O., S. 37. Vgl. ebd., S. 36. 23 »Nur gar zu leicht verwechseln wir, wie im Leiblich-Organischen, so im Geistigen, die Unterscheidung mit einer Scheidung. Aber daß wir uns geistig voneinander unterscheiden können, bringt noch nicht mit sich, daß wir auch geistig voneinander geschieden sind, da vielmehr derselbe höhere Geist, der uns in sich unterscheidet, und in dem wir uns demgemäß unterscheiden, unsre Verknüpfung zugleich so gut vermittelt, wie mein Geist das zugleich verknüpft, was er in sich unterscheidet, und was sich demgemäß in ihm unterscheidet.« Fechner, Zend-Avesta, a. a. O., S. 23–24. Mit Spinoza ließe sich der Satz terminologisch abkürzen: modale Unterschiede sind nicht substanziell.
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se in unüberschaubarer Mannigfaltigkeit differenziert. Fechner bedient sich dabei Metaphern aus dem Feld der Textilien. Die Rede ist von »Knoten«, die je nach dem Grad ihrer Individualisierung eine Menge »Fäden« ineinander ziehen und auf diese Weise Teil eines vielfach verknüpften »Gewebes« sind.24 Verknüpfung ist hier der leitende Gedanke, sofern die einzelnen Knoten weder selbständig abtrennbar sind noch durch ein höheres Einheitsprinzip aufgelöst oder abstrakt platziert werden.25 Fechner ist bekannt für seine (in der Psychophysik ausgearbeiteten) Identitätsthese des Seelischen und des Materiellen, die insofern eine ontologische ist, als sie keine essentielle Trennung des Unterschiedenen – und vor allem auch keine hierarchischen Relationen zwischen Körper und Geist, Leib und Seele erlaubt.26 Das spiegelt sich in seiner Philosophiekritik wider, die sich gegen die Ursprungserzählung der Begriffe aus einer metaphysischen Quelle reiner Vernunft wendet. »Nicht mit der heutigen Philosophie, sondern nur mit denen, welche sie nicht befriedigt, kann ich hoffen, mich zu verständigen. Ich halte es, offen gesagt, für einen Grundfehler der neueren, ja der meisten Philosophie überhaupt, aus dem Begriffe mehr oder andres Sachliches ableiten zu wollen, als er nach seiner tatsächlichen Entstehungsweise von unten begreifen und wieder hergeben kann. Meine eignen Ansprüche an die Philosophie sind, ich gestehe es, beschränkter, sofern man sie aber zu beschränkt findet, verzichte ich auch gern auf den Titel eines Philosophen.«27
Die Kritik der ›heutigen Philosophie‹ macht sich geltend in seiner Rede von der »inneren unsichtbaren Seite der Natur«, die auf empirische Qualitäten abzielt, die quasi in einer seelischen Selbstwahrnehmung begründet sind und aus methodischen Überlegungen nicht in einem Konkurrenzverhältnis zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten stehen.28 Und zuletzt 24 Vgl. ebd., S. 15. 25 Vgl. ebd., S. 13. 26 Vgl. ebd., S. X–XI, wo Fechner seine Position als eine spezifisch »pantheistische« vorstellt, die sich von der Suche nach absoluter Gewissheit lossagt. Vgl. auch Gustav Theodor Fechner, Elemente der Psychophysik, 2 Bde., Leipzig 1860, hier Bd. 1, S. 1–12. Aus meiner Sicht ist entscheidend, dass Fechner die ältere Identitätslehre Schellings von ihrer auf einen metaphysischen Grund spekulierenden Ausrichtung befreit und damit zugleich in eine empiristische Form übersetzt. In seiner Ablehnung eines Absoluten steckt nicht zuletzt auch eine spinozistische Skepsis gegenüber einem wie immer verstandenen Primat des Geistigen über das Materielle. 27 Fechner, Zend-Avesta, a. a. O., S. XII. 28 Vgl. ebd., S. XIV. Zu Fechners Unterscheidung psychischer und physischer Erscheinungen siehe auch Heidelberger, Die innere Seite der Natur, a. a. O., S. 101–108. Mit der identitätstheoretisch angelegten Unterscheidung des Seelischen und Körperlichen verbindet sich ein Naturdenken, das den in der Zeit des sog. Materialismusstreits vieldisku-
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im Aufgreifen eines (aus der Naturrechtstradition stammenden) Naturinstinkts, mit dem die Entwicklungshypothesen einer Menschheit, die sich aus ihren rohen Anfängen herausarbeitet, zurückgewiesen werden können.29 »Freilich sieht die Welt, die sich jetzt die gebildete nennt, mit tiefer Verachtung herab auf jenen Kinderglauben der Menschheit, der überall Seele in der Natur fand, wie wir es wieder tun, und in Sonne, Mond und Sternen individuelle göttlich beseelte Wesen sah, wie wir es auch wieder tun. Daß wir es tun, wird uns selbst werfen lassen unter die Narren und Kinder. Doch ist in den Narren und Kindern manchmal mehr Wahrheit als in den Weisen und Greisen.«30
7.2 Anthropologie der Technik Fechners Verständnis der Erde (mitsamt ihrer Seele) mag auf den ersten Blick zwar liebenswürdig verrückt, aber im Kern doch recht abwegig erscheinen. Es ist allzu üblich, wir kennen das auch aus der Tradition der Naturphilosophie, die geologische Sphäre von der organischen abzutrennen, und diese wiederum in die Bereiche der Botanik, der Zoologie und des Menschen aufzuteilen. In Bezug auf das Anthropozän und auf die mit ihm verhandelten anthropologischen Fragen erscheint die mythisch wirkende Erzählung von der Erde angesichts der stets erneut beschriebenen Entzauberung von Natur und Welt immer schon zu spät zu kommen. Und doch gibt es auch tierten Gegensatz von Naturwissenschaft und Naturphilosophie hinter sich lässt, sofern das Seelische nichts ist, was die Kausalitätsforderungen der physikalischen Methode limitierte. »Es wird aber der, wer dieser Schrift einige Aufmerksamkeit schenken will, finden, daß die höhere Lebendigkeit, welche der Natur darin zugesprochen wird, doch dem exakten Naturforscher seine Rechte daran nicht im mindesten verkümmert, nicht in ähnlicher Weise verkümmert, wie es durch die naturphilosophischen Betrachtungsweisen, die von Schelling und Hegel ausgegangen, allerdings mehr oder weniger geschieht.« Fechner, Zend-Avesta, a. a. O., S. XIV. 29 Vgl. ebd., S. XI. Fechner kommt in diesem Zusammenhang auch auf die »Naturansicht der Völker« zu sprechen, deren »ursprünglicher Naturinstinkt« der »weltverödenden Ansicht […] unserer Verständigkeit« widerspreche. Hiermit antizipiert er gewissermaßen eine Idee von Primitivität, die den geläufigen Evolutions- und Geschichtsmodellen seiner Zeit entgegensteht – und die in ihrem latenten Rousseauismus nichtsdestotrotz eine Verklärung des Naturzustands vornimmt. 30 Ebd., S. 3. Vgl. die neueren Diskussionen um den Animismus, z. B. Isabelle Stengers, »Den Animismus zurückgewinnen«, übers. v. R. Voullié, in: Irene Albers, Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich 2015, S. 111–123.
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in den geläufigen Vorstellungen der Umweltethik ein breit diskutiertes Problem, das eine strikte Trennung des Menschengemachten und des natürlich Vorgefundenen oder auch der Umwelt im Sinne der nicht-menschlichen Natur aufwirft. Schließlich wird einerseits das Ökosystem als ein »dynamischer Komplex von Gemeinschaften aus Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen sowie deren nicht lebender Umwelt« aufgefasst und andererseits die menschliche Aktivität als in diesen Komplex in gefährdender – oder eben auch: in schützender – Weise eingreifend verstanden.31 Und damit schließt sich der Kreis (noch bevor im Einzelnen die faktischen Interferenzen zwischen den begrifflich getrennten Bereichen zum Thema gemacht worden sind – und auch das wäre möglich). In umweltethischen Fragen ist letzten Endes die Isolierung von Mensch und Natur nicht praktikabel. Das hat nicht zuletzt dahin geführt, dass Gregory Bateson zwei Ökologien im Sinne von Gesellschaftstypen unterschieden hat: die »schismogenic« und die »steady-state societies«, die abendländisch-westliche und die »totemistische«, die im Unterschied zu der erstgenannten aus seiner Sicht ein nachhaltiges natürliches Gleichgewicht aufrechterhalten konnte.32 Oder wie es daran anknüpfend, aber doch auch anders, Félix Guattari formulierte: »Die Umwelt-Ökologie […] hat meines Erachtens die verallgemeinerte Ökologie […] erst angebahnt.«33 Und damit finden sich auch Mensch und Technik innerhalb der ökologischen Problemstellung wieder. Die eingangs aufgeworfene Frage nach der genaueren Bestimmung menschlicher Handlungsmacht bleibt bis hierher unbeantwortet. In welchem Sinne ist der Mensch der Urheber einer erdgeschichtlich relevanten Veränderung der klimatischen Verhältnisse und mit diesen funktionell interagierenden Ökosystemen? Oder anders gefragt: Wie ist die technische Aktivität zu verstehen, die mit derart weit reichenden Folgen verbunden ist? Ungeachtet der Tatsache, dass die menschliche Aktivität in grundsätzliche Prozesse des »Erdsystems« eingebettet ist, spricht sich Clive Hamilton dafür aus, dass die Menschen im Sinne der Menschheit für das, was sie tun, und insbesondere für die von ihnen in Gang gesetzte Technikentwicklung verantwortlich zu machen sind. »It is this amplified responsibility for the Earth 31 Übereinkommen über die biologische Vielfalt, abgeschlossen in Rio de Janeiro am 05.06.1992, Artikel 2, Schweizerische Ratifikationsurkunde, in: https://www.admin.ch/ opc/de/classified-compilation/19920136/index.html#fn1 (zuletzt geöffnet am 20.05.2020). 32 Vgl. Gregory Bateson, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven [1972], Frankfurt a. M. 1981, S. 104. 33 Félix Guattari, Die drei Ökologien [1989], übers. v. A. Schaerer, Wien 1994, S. 50.
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that is at the heart of the new anthropocentrism.«34 Unklar bleibt dabei, wie mit dem Paradox der Handlungsmacht umgegangen werden soll, dass einerseits identifizierbare verantwortliche Handlungsträger und andererseits unkontrollierte systemische Prozesse ins Spiel gebracht werden. Im Unterschied dazu hatte etwa Bruno Latour gefordert, das Handeln aufzuheben bzw. Kollektive quasi als Agenturen zu begreifen. Das Problem der menschlich oder nicht-menschlich qualifizierten Handlungsmacht findet sich in der Technik-Anthropologie vorgezeichnet. Ernst Kapp erklärt in seiner an die idealistische Naturphilosophie anschließenden Philosophie der Technik von 1877 den Menschen zum »anthropologischen Maassstab« aller technischen Dinge.35 Und dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen werden technische Artefakte, Werkzeug oder Maschinen, als »Organprojektionen« aufgefasst und erklärt. In diesem Sinne fungiert der menschliche Körper als ein natürliches Werkzeug, das durch technische Instrumente verlängert oder verstärkt wird.36 Die Säge und die Zahnreihe, die Hand oder Faust und der Hammer, der Zeigefinger und der Bohrer. Als Vorbild der Technik dient der menschliche Organismus, der sich in der Maschine entäußert oder gegenständlich wird. An diesem Punkt wird zweitens verständlich, inwiefern der anthropologische Maßstab normative Qualitäten besitzt. Schließlich kommt es darauf an, dass sich der Mensch in der Technik selbst erkennt; gelingt ihm dies nicht, so macht sie sich selbständig, verliert ihre anthropologische Form (einer am Urbild des Menschen orientierten künstlichen Extension) und bringt Unheil. Ihre im Krisendiskurs der Jahrhundertwende immer wieder beschworene Entfesselung markiert die Überschreitung eines anthropologisch oder anders definierten Seinstypus ›eigentlicher Existenz‹. Der idealistisch imprägnierten Anthropologie widerspricht ein Technikdenken, das menschliche Akteure nur zu einem Vermittlungsmoment, nicht aber zum Ursprünglichen technisch-kultureller Verhältnisse erklärt. Zumindest gilt dies nach Simondon, wenn in der Geschichte der Technik selbstregulierte Maschinen auf den Plan treten. Gelingt es aber, die mit ihnen 34 Hamilton, Defiant Earth, a. a. O., S. 53. 35 Vgl. Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877, S. 3, 8. 36 Vgl. Kapp, Philosophie der Technik, a. a. O., S. 41–42. Die Bedeutung der Kappschen Anthropologie in Bezug auf Techniken und Medien, auch im Rekurs auf seine bereits 1845 erscheinende philosophische Erdkunde, wird aktuell diskutiert in: Harun Maye, Leander Scholz (Hg.), Ernst Kapp und die Anthropologie der Medien, Berlin 2019.
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verbundene neue Vermittlung im »assoziierten Milieu« von Mensch-Maschine-Verhältnissen zu denken, dann kann es auch gelingen, der Technik im Kulturellen entgegen den pessimistischen Zeitdiagnosen einen Platz einzuräumen.37 Die Technizität der technischen Aktivität lässt die gängigen Vorstellungen zweckrationalen Handelns hinter sich. Ihre Operationsketten begründen eine »transindividuelle Relation«, mit der sich ein Netz aus singulären Punkten knüpft, »über die die Austauschprozesse zwischen dem Lebendigen und seinem Milieu verlaufen«.38 Das Netz der Schlüsselpunkte strukturiert die sozialen Wirklichkeiten und »[k]eine Anthropologie, die vom Menschen als individuellem Wesen ausginge, kann der transindividuellen technischen Relation Rechnung tragen.«39
7.3 Bruchlinien der Anthropogenese Anthropologiekritik nach Foucault bedeutet: eine epistemische Struktur aufgrund ihrer merkwürdigen Ambivalenz zu problematisieren. Sie bedeutet sicher nicht: den Menschen in dem Sinne zu leugnen oder auch nur zu ignorieren, dass in ihm ein Lebewesen identifiziert werden kann, das sich nicht nur deutlich von Hund oder Katze, Fisch, Vogel oder Affe unterscheidet, sondern außerdem durch eine sehr auffällige Lebensweise auszeichnet. Tatsächlich aber wurde in der Geschichte des Denkens immer wieder zwischen einer epistemischen Struktur und einem spezifischen Sondermerkmal des Menschen (im Unterschied zu den Tieren) eine substantielle Verbindung behauptet. Ein Problem ist der Mensch dann, wenn mit ihm eine Denkweise verschmilzt, die eine grundlegende Asymmetrie metaphysischen Typs in die Repräsentation des empirischen Wissens einführt: Foucaults berühmte empirisch-transzendentale Dublette.40 Etwas andere Probleme stellen sich aber, wenn der Mensch in einem recht allgemeinen Sinne als homo sapiens aufgefasst und von anderen Lebewesen unterschieden wird. Tatsächlich kann innerhalb der evolutionären Anthropologie zwischen traditionell anthropologischen Ansätzen mitsamt ihren philosophisch-kolonialen Voraussetzungen 37 Vgl. Gilbert Simondon, Die Existenzweise technischer Objekte [1958], übers. v. M. Cuntz, Berlin, Zürich 2012, S. 135ff. 38 Vgl. Simondon, Existenzweise technischer Objekte, a. a. O., S. 156, 228–229. 39 Ebd., S. 229. 40 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 367ff., v. a. S. 384–389.
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und solchen unterschieden werden, die den Menschen in einer sozial wie technisch verallgemeinerten Ökologie situieren.41 Im Weiteren wird ein Vorschlag untersucht, wie sich die Technizität mit der Naturgeschichte des Menschen verknüpfen lässt. Leroi-Gourhan beschreibt das typisch Menschliche der Gattung homo durch folgende Merkmale: »Aufrechter Gang, kurzes Gesicht, Hände, die bei der Fortbewegung frei bleiben, und der Besitz beweglicher Werkzeuge […].«42 In der Einleitung zum ersten Band von Le geste et la parole: Technique et langage (1964) wendet er sich ausführlich von einem älteren und antiquierten anthropologischen Bild des Menschen ab, das durch eine bestimmte Denkweise charakterisiert werden kann.43 Ihm geht es darum, die paläontologische Illusion deutlich zu machen, nämlich die gleichsam automatische Verortung der menschlichen Vorgeschichte in einem zwischen den Affen und den Menschen angesiedelten Übergangsgebiet. Verstrickt in diese Illusion gelingt es den Naturforschern lange Zeit nicht, die fossilen Funde genau auszuwerten, die zwischen dem aufrechten Gang, einem nicht besonders entwickelten Gehirn und dem Werkzeuggebrauch einen Zusammenhang erkennen lassen. Vielmehr ordnen sie die Knochenfunde stets der leitenden Idee eines »Affenmenschen« unter, der zwischen den Anthropoiden und dem Menschen verortet wird.44 Sie sind für sie erst einmal nicht »lesbar«.45 »Es ist ganz überdeutlich, daß die Paläontologie des Menschen, die im 18. Jahrhundert von der unangreifbaren Vorstellung einer Verwandtschaft zwischen dem Menschen und den großen Primaten ihren Ausgang genommen hatte, außerstande war, sich etwas anderes vorzustellen, als den Mittelwert zwischen 41 Diese Überlegung kann auch auf Darwins Arbeiten angewendet werden. Bekanntlich hat Darwin den Menschen in seiner Entstehung der Arten (1859) nicht thematisiert, weshalb sich bereits hier die Frage aufwirft, inwiefern eine rein biologische Sicht des Menschen seiner kulturellen, politischen oder ökonomischen Existenz adäquat ist. Der in den 1860er Jahren schnell entstehende und populäre Darwinismus und Sozialdarwinismus ging über diese Frage mit erstaunlicher Naivität hinweg. 42 André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst [1964–65], übers. v. M. Bischoff, Frankfurt a. M. 1984, S. 36. 43 Vgl. Leroi-Gourhan, Hand und Wort, a. a. O., S. 124, 138, 152, 156. 44 Ebd., S. 25. Lehrreich ist hier das von Leroi-Gourhan angeführte Beispiel des Menschen von Piltdown, einer wissenschaftlichen Fälschung eines Exemplars des homo präsapiens: »Bekanntlich förderte im Jahre 1909 ein englischer Fälscher die Bruchstücke der Hirnschale eines rezenten Menschen und den Unterkiefer eines kaum älteren Schimpansen zusammen mit einigen Faustkeilen aus dem Acheuléen zu Tage und verschaffte ihnen in der wissenschaftlichen Welt Anerkennung.« Ebd., S. 32. 45 Vgl. ebd., S. 23.
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den ihr bekannten Affen und dem homo sapiens zu bilden.«46 Erst als Louis Leaky den »Zinjanthropus« (nach neuestem Stand: den homo habilis) ausfindig macht, wird es möglich, das tradierte paläontologische Bild des Menschen zu revidieren und damit zugleich eine »Denktradition [zu] zerschlagen«, die vom 18. bis ins 20. Jahrhundert hinein währte.47 An diesem Punkt könnte von einer anthropologischen Illusion gesprochen werden, die sich auch in der Naturgeschichte des Menschen auswirkt. Leroi-Gourhan spricht von der paläontologischen Illusion des Affenmenschen und von der in ihr wirksamen zerebralistischen Illusion, die in der zoologischen Illusion kulminiert.48 Damit ist gesagt, dass mit dem aufrechten Gang und den dadurch frei werdenden Händen eine technische Aktivität im Kontext sozialer und sprachlicher Dimensionen einsetzt, die fortan die Naturgeschichte des homo sapiens mit seiner Kulturgeschichte verschränkt.49 »Auf alles waren wir gefaßt, nur nicht darauf, daß unser Menschsein seinen Ausgang bei den Füßen genommen hat.«50 Die technische Evolution überflügelt nicht nur die zoologische; sie markiert einen radikalen Bruch mit der physischen Konstitution. »Die Technik ist beim homo sapiens nicht mehr an den Zellfortschritt gebunden, sie scheint sich vielmehr vollständig davon zu lösen und in gewisser Weise ihr eigenes Leben zu führen.«51 Die Bruchlinie verläuft dort, wo »eine noch von den biologischen Rhyth 46 Ebd., S. 29. 47 Vgl. ebd., S. 35, 119. 48 Zur zerebralistischen Illusion vgl. ebd., S. 36, 43, 107, 116. Und zur zoologischen ebd., S. 39–40, 152, 170. »Der homo sapiens ist die letzte bekannte Etappe in der Evolution der Hominiden und zugleich die erste, in der die Zwänge der zoologischen Evolution überwunden und weit zurückgelassen werden.« Ebd., S. 38. Es zeichnet die anthropologische Illusion aus, die technisch-kulturellen Aspekte menschlicher Lebenswelten nicht angemessen zu berücksichtigen und an Entwicklungskonzepten festzukleben, die immer auch einen einseitigen Bezug zwischen Biologie (Erbgut, Gehirn) und Intelligenz bzw. Zivilisationsstufe herstellen. Mit Blick auf die Phrenologie Galls (und Lombrosos) schreibt Leroi-Gourhan: »Das Geheimnis der fatalen Konditionierung der Genies, Kriminellen und Idioten kommt dem Problem des Affenvorfahren recht nahe, vor allem aber dem stets gegenwärtigen Problem der Bestimmung des Menschen.« Ebd., S. 116. 49 Eine Verbindung von »natural history and human history« fordert angesichts der aktuellen Verhältnisse des menschengemachten Klimawandels, die in den Begriff vom Anthropozän eingehen: Dipesh Chakrabarty, »The Climate of History: Four Theses«, in: Critical Inquiry 2009, 35:2, Chicago UP, S. 197–222. 50 Leroi-Gourhan, Hand und Wort, a. a. O., S. 89. Vgl. die Überlegungen von Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition [2002], Frankfurt a. M. 2006, S. 15ff. 51 Leroi-Gourhan, Hand und Wort, a. a. O., S. 179.
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men beherrschte kulturelle Evolution abgelöst wird von einer kulturellen Evolution, die von den sozialen Phänomenen beherrscht wird.«52 Wenn sich der Mensch nach der von Leroi-Gourhan entwickelten funktionellen Palä ontologie durch seinen Gang, seine Hände, sein Sprechen und damit auch durch eine sozialisierte Form der technischen Aktivität auszeichnet, so ist damit keine Anthropologie nach dem Muster von Kapp entworfen. Es findet zwar auch bei Leroi-Gourhan in der Technikentwicklung eine Auslagerung und Erweiterung menschlicher Fähigkeiten statt – aber diese sind nicht einfach organische Projektionen, und ebenso wenig sind sie an ihren normativ aufgeladenen Ursprungsort gebunden. Eben gerade nicht. Historisch betrachtet, bestimmen sich die technischen Aktivitäten aus ihren assoziierten Milieus sozialer Verhältnisse. Die ethnografisch angelegte Kulturbetrachtung der Technik soll dabei geläufige Einseitigkeiten in soziologischen oder anthropologischen Arbeiten vermeiden helfen.53 Zu diesen zählen koloniale Entwicklungsvorstellungen, wenngleich es stimmt, dass auch Leroi-Gourhan immer wieder Parallelen zieht zwischen der von ihm intendierten Kulturbetrachtung des Paläanthropus und Beschreibungen »primitiver«, d. h. aus seiner Sicht schriftloser Kulturen.54 Ob die soziale Integration der Technik im Sinne der Herstellung eines »Gleichgewichts« gelingt ist von historischen Kontexten abhängig und muss offen bleiben.55 Im Zuge der modernen Industrialisierung entsteht allerdings eine globale Situation, die nicht nur die technische Entwicklung auf eine neue Stufe hebt, sondern zugleich den Menschen grundsätzlich infrage stellt. Mit der Entfesselung der Kraft durch die Dampfmaschine, mit der elektronischen »Exteriorisierung« des Nervensystems und des Gedächtnisses, mit der Automatisierung sämtli 52 Ebd., S. 183. Vgl. ebd., S. 170. 53 Vgl. ebd., S. 171. Zur Ergänzung der soziologischen Perspektive in der Durkheim-Schule vgl. ebd., S. 191–192. 54 »Die […] technische Ausstattung der australischen Ureinwohner ist auf wenige Formen beschränkt. […] Was wir von den fossilen Menschen wissen, gehört bis einschließlich zu den Paläanthropinen der gleichen Ordnung an und deckt genau das Spektrum der Gebiß- und Handaktivitäten bei den Primaten ab.« Ebd. S. 305. Vgl. ebd., S. 99, 137–138, 155, 164, 172, 181. Es markiert ein anthropologisches Problem der Verklärung des Anderen, den Prozess der Zivilisation von einem quasi ›primitiven Gleichgewicht‹ abzuheben. 55 Vgl. ebd., S. 235–236, 274–275. Es stellt sich die Frage, ob mit Hilfe eines kollektiven Gedächtnisses die technische Evolution ausbalanciert werden kann – »oder ob es sich um den Bruch mit jenem Gleichgewicht handelt, dem die physische Konstitution des Menschen entspricht, einen Bruch, der von dem künstlichen Organismus getragen wird, zu dem sich die Zivilisationen entwickelt haben. Dann erhielte die gängige Formel vom Menschen, den seine Techniken überholen, wirklich Geltung.« Ebd., S. 235.
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cher Arbeitsprozesse verbindet sich eine »Dekulturation«, die einen globalen technischen Prozess, die Überschreitung aller ›ethnischen‹ Grenzen, aus sich hervorgehen lässt.56 Denn obwohl der Mensch primär als ein soziales und technisches Wesen aufgefasst wird, bedeutet die technische Evolution zugleich, dass sie über die biologische, die den Artbegriff des Menschen immer mitdefiniert, und eben womöglich auch über die kulturelle, die das Technische mit dem Menschlichen vermittelt, hinausweist.57 Auch in diesem Sinne wäre der Mensch ›nicht festgestellt‹. Erneut kommt hier die anthropologische Illusion ins Spiel, die Peter Camper dazu verleitete, zwischen den Primaten, den wenig entwickelten Menschenrassen, den weißen Europäern und zuletzt dem Ideal altgriechischer Skulpturen nach Winckelmann eine kontinuierliche, messbare Entwicklungslinie zu behaupten.58 In den Worten von Leroi-Gourhan: »Die beständige Suche nach stärkeren und präziseren Mitteln mußte notwendig zum biologischen Paradoxon des Roboters führen, der die menschliche Phantasie angesichts der Automaten schon seit Jahrhunderten beflügelt. Und in der Tat stellt sich dem Bild des Affenvorfahren […] das Bild […] des perfekt fabrizierten Menschen [entgegen], das mechanische Ebenbild des Anthropoiden.«59
Und wieder zeigt sich, dass der transhumanistische Traum ein im Kern anthropologisch verwirrter ist. Er verlässt die irdisch-kollektiv vernetzten Felder und imaginiert sich in eine Matrix, die an den Prozess einer »vertikalen Evolution« anschließt, der mit der Befreiung der Techniken vom Rhythmus der Biologie nur in Gang gesetzt wurde.60 Realistischer ist da schon, sich am Ende der Geschichte »[e]ine zahnlose Menschheit [vorzustellen], die in lie-
56 Vgl. ebd., S. 317. Siehe außerdem zu den erdumspannenden Vorgängen der Industrialisierung ebd., S. 309, 316, 319–320. 57 Vgl. ebd., S. 223. Es kann unterschieden werden zwischen einem anthropologischen Rahmen, der eine biologische und eine kulturelle Konkretion zugeschrieben erhält, und der sozio-technischen Auflösung dieses Rahmens. Die Auflösung selbst muss wiederum nicht negativ auf das Verlorene bezogen sein, vielmehr liegt in ihr womöglich eine neue positive – und präzisere – Konkretion. 58 Vgl. Camper, Über den natürlichen Unterschied, a. a. O. Campers ›Gesichtswinkel‹ ist das Paradebeispiel einer Kranio- und Anthropometrie, auf die sich die naturphilosophisch begründeten Entwicklungsvorstellungen der Anthropologie im 19. Jahrhundert (und noch später) beziehen. 59 Leroi-Gourhan, Hand und Wort, a. a. O., S. 310. 60 Vgl. ebd., S. 223.
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gender Stellung lebte, und das, was ihr vom vorderen Glied geblieben ist, dazu benützte, auf Knöpfe zu drücken […].«61 Diese Vorstellung ist realistischer, weil sie mit der Unmöglichkeit rechnet, die aus den technologischen Entwicklungen resultierenden Wirklichkeiten in einer anthropologischen Form zu repräsentieren. Sie projiziert weder Herrschaftsphantasien auf das Ende der Geschichte noch hält sie an antiquierten Idealen fest. Weder will sie über den Menschen hinaus – noch einfach bei ihm bleiben. Aber vielleicht verharrt sie allzu dystopisch in einem antagonistisch erstarrten Schema. Die Bruchlinien an der anthropologischen Form könnten bereits methodisch früher geltend gemacht werden, z. B. in Mensch-Maschine-Verhältnissen, die immer schon die intentionalen Kapazitäten einzelner Handelnder bzw. ihre Fähigkeiten einer übersichtlichen Kontrolle möglicher Handlungsfolgen übersteigen. Bei ihnen handelt es sich um fragmentierte dynamische Strukturen, die sich aus ihren heterogenen Zusammensetzungen heraus bestimmen. In diesem Sinne könnte ein ambitionierter Anthropozentrismus in der politischen Bekämpfung der Klima krise bzw. ihrer Ursachen sogar schädlich sein. Und dies, weil er sich zu leicht vorstellt, was zu tun wäre – und wie es gemacht werden könnte. Moralische Entrüstung ist allzu oft ohne Folgen. Illusionen an dieser Stelle aber schaden einer Politik, die an der wirksamen Ausweitung der Handlungsspielräume dank einer präzisen Einschätzung der vorhandenen Gegenkräfte arbeitet.
61 Vgl. ebd., S. 167, vgl. auch S. 311f.
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8. Anthropologie der Medien1
In zahlreichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Feldern wird der Begriff der Anthropologie häufig und lax verwendet. Dabei ist in aller Regel nicht leicht erkennbar, inwiefern sich philosophische Bezüge in diesem Gebrauch mitartikulieren. Spricht Bruno Latour von symmetrischer Anthropologie, kann dies im Sinne einer Akteur-Netzwerk-Soziologie aufgefasst werden.2 Paul Rabinow entwickelt eine Anthropologie nach Foucault und macht deutlich, dass er nicht an ältere philosophische Traditionen anzuknüpfen gedenkt.3 Es gibt kulturphilosophische und bildwissenschaftliche Ansätze, die sich als anthropologische bezeichnen, ohne doch scharfe Kritiken kolonialen Denkens zu meiden – oder auch den »Versuch einer allgemeinen Anthropologie« im Sinne einer empirischen Wissenschaft der impliziten Voraussetzungen ›menschlicher‹, d. h. psychischer, sozialer und kultureller Verhältnisse.4 Diese Beispiele sind einigermaßen willkürlich gewählt und sollen nur verdeutlichen, dass auch die Redeweise von einer Medien-Anthropologie zunächst einmal eine unverfängliche ist. Es ist keineswegs ausgemacht, dass in ihr ältere oder auch problematische Denkweisen weiterleben. Eine Anthropologie der Medien könnte frei sein von Annahmen ›des Menschen‹ und entsprechenden methodischen Leitlinien im Einklang mit zahlreichen Forschungsrichtungen im Feld der Kulturtheorie, der Technowissenschaft, der gender und postcolonial studies oder bestimmten Entwicklungen der Philosophiekritik. Und doch stellen sich auch hier Fragen 1 Die hier angestellten Überlegungen gehen zurück auf einen Vortrag, der im Mai 2019 im Kompetenzzentrum Medienanthropologie an der Bauhaus Universität Weimar präsentiert wurde. Mein Dank geht an Christiane Voss und an die versammelten Diskutant*innen. 2 Vgl. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie [1991], übers. v. G. Roßler, Berlin 1995. 3 Vgl. Paul Rabinow, Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung, übers. v. C. Caduff, T. Rees, Frankfurt a. M. 2004. 4 Vgl. Tzvetan Todorov, Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie [1995], übers. v. W. Kaiser, Frankfurt a. M. 1998.
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nach dem spezifisch Anthropologischen der medientheoretischen Herangehensweise. Wie bisher gesehen ist es keineswegs so, dass die philosophische Tradition im anthropologischen Denken des 19. Jahrhunderts und ihr koloniales Erbe in den neueren Ansätzen bei Plessner und Gehlen, in der Ethnologie bei Lévi-Strauss, in der philosophischen Hermeneutik und ›Lebensphilosophie‹ oder auch im Existenzdenken und in der Kritischen Theorie restlos aufgegeben worden wäre. Es gibt Restbestände dieser Tradition, die das Projekt, die Anthropologie zu dekolonisieren, aktuell halten. Nicht zuletzt in der kunsttheoretischen Diskussion um den Stellenwert des Primitivismus in den künstlerischen Avantgarden, in der Transformation der humanistischen Grundlagen, in Vorstellungen abgeschlossener Kulturen, im Verständnis der Massen oder auch in der utopischen Umdeutung metaphysischer Ursprünge – als Abgrund, Leben, Sein, Negativität – bzw. im Pathos eines neuen Materialismus oder Realismus finden sich wenn auch subtilere koloniale Rudimente, die nicht immer einfach herauszuarbeiten sind. Ausgehend von der Weimarer Medien-Anthropologie bieten sich zwei Themenkomplexe für eine genauere Analyse an. Wenn Christiane Voss und Lorenz Engell in ihren Filmanalysen von Tarantinos Django Unchained und Lars von Triers The Boss Of It All die intime Verflechtung des Medialen und Menschlichen herausarbeiten, so machen sie deutlich, dass ihre Ausgangspunkte nicht in den separierten Gegebenheiten von Mensch und Medium vor ihrer Verflechtung liegen.5 Nicht im Menschen wird das Mediale verankert – und nicht im Medialen findet der Mensch sich selbst. Stattdessen geht es darum, »die philosophische Leitfrage nach dem Menschen […] neu zu grundieren.«6 Eine »Wendung« soll vollzogen werden, indem »von der Frage, was der Mensch sei, […] auf Fragen nach dem Werden und Gemachtwerden des Menschen« umgestellt werde.7 Voss und Engell distanzieren sich ausdrücklich von »substanzialistischen und identitären Bestimmungen eines vermeintlich isolierbaren ›Humanen‹« der traditionellen Anthropolo-
5 Vgl. Christiane Voss, »Der dionysische Schalter. Zur generischen Anthropomedialität des Humors«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK), Schwerpunkt Medienanthropologie, Heft 1:2013, Hamburg 2013, S. 119–132, und im selben Heft Lorenz Engell, »The Boss of it all. Beobachtungen zur Anthropologie der Filmkomödie«, S. 101–117. 6 Vgl. Lorenz Engell, Bernhard Siegert, Editorial, in: ZMK 1:2013, S. 5. 7 Ebd.
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gie ebenso wie von einem »unreflektierten Anthropozentrismus«.8 Zugleich gibt es Referenzen auf eine Tradition, die bisher »nur ganz unzureichend diskutiert werden konnte« – gemeint sind anthropologische Phänomene einer bestimmten Vitalität, Affektivität oder Körperlichkeit: Liebe, Trauer, L achen, 9 Weinen, Sterben, Geboren werden. Es ist in der Tat naheliegend, die existentielle Bedeutung der genannten Phänomene mit der Anthropologie geschichte zu verknüpfen: vom ganzen Menschen der medizinischen Anthropologie über die romantische Natur und psychoanalytische Triebnatur bis zu den per se ›exzentrischen‹ Stimmungen des menschlichen Daseins.10 Alles Lebensphänomene, die sich einer einseitig verkürzten Rationalität entziehen – und doch im überlieferten Rahmen regelmäßig abgetrennt von Kultur und Technik, Politik und Ökonomie im Rekurs auf eine spekulative oder eigentliche Natur, Biologie, Vitalität, Leiblichkeit etc. zum Thema gemacht worden sind. In den folgenden Überlegungen wird zunächst eine vielleicht abwegig klingende und sehr grundsätzlich ansetzende Frage gestellt: Wurde im philosophischen Diskurs der Anthropologie zwischen der Frage nach dem Menschen und der Frage nach seiner Natur eine Verbindung hergestellt? Ist das Thema der ganzheitlichen Natur des Menschen, ihre physio-psychologische Beschaffenheit, auf dasjenige der Humanität systematisch bezogen? Wie verhält sich die Frage nach der menschlichen Natur im Sinne leiblich-seelischer Totalität zur Frage nach den oben genannten Affekten und vitalen (oder existenziellen) Bestimmungen? Und wäre es nicht möglich, dass der wieder vermehrt auftauchende Gebrauch des Anthropologiebegriffs aus einem Reimport nicht zuletzt in die philosophische Theorie resultiert, aus einem Reimport aus Feldern nicht-philosophischer Anthropologien, wie sie im Angelsächsischen gang und gäbe sind: ›anthropology‹ als sozial- oder kulturwissenschaftliche Disziplin?11 8 Vgl. Voss, Der dionysische Schalter, a. a. O., S. 119; Vgl. auch Christiane Voss, Lorenz Engell (Hg.), Mediale Anthropologie, Paderborn 2015, S. 9. An einer Stelle heißt es bei Engell, dass die »anthropologische Relevanz« [hier: des Komischen] mit der »Medienrelevanz« zusammenfalle. Vgl. Engell, The Boss of it all, a. a. O., S. 103. 9 Vgl. Engell, Siegert, Editorial, a. a. O., S. 8. Für die neuere philosophische Anthropologie mit starkem Plessnerbezug dokumentiert diese Zusammenhänge Hans-Peter Krüger, Zwischen Lachen und Weinen, Bd. 1, Das Spektrum menschlicher Phänomene, Berlin 1999. 10 Vgl. Marquard, Transzendentaler Idealismus, a. a. O. 11 Es mag sein, dass gerade auch im Kontext der zeitgenössischen Kultur- und Sozialanthropologie der Ruf nach einer philosophischen Grundlegung der Anthropologie lauter
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Im zweiten Teil werde ich etwas genauer auf einen bestimmten Typ von Medientheorie eingehen, und zwar auf diejenige McLuhans. Bei ihr könnte es naheliegend sein, von einer Medienanthropologie zu sprechen, da McLuhan bekanntlich Medien als Extensionen des Menschen bezeichnet hat. Er spricht zwar nicht selbst von ›Anthropologie‹, dafür aber Ernst Kapp, der die Organprojektionsthese prominent in die Philosophie der Technik eingeführt hat. Dass dieser Theorietyp für eine Medienanthropologie einen historisch einschlägigen Anknüpfungspunkt darstellt, dokumentiert auch die Ausgabe der ZMK in mehreren Beiträgen.12 Und dennoch scheint zugleich Skepsis angebracht, die nicht zuletzt Engell selbst artikuliert, indem er im Hinblick auf Edgar Morin und in vergleichender Differenz zu McLuhan die Auflösung »jede[r] Form von Priorisierung zwischen Mensch und Film zugunsten ihres Zusammenspiels« zu einem »zentrale[n] Punkt« erklärt.13 Worin die Schwierigkeiten der genannten Priorisierung bei McLuhan liegen, werden unter Verwendung seines 1964 erschienenen Buches Understanding Media herausgearbeitet.
8.1 Affekte und Leidenschaften Die Unterscheidung zwischen der Frage nach dem Menschen und der Anthropologie ist – wie im ersten Kapitel erläutert wurde – von besonderer Relevanz, weil sie sich in der logischen Architektur des mit und nach Kant sich etablierenden anthropologischen Wissens auswirkt. Mit der Frage der Bestimmung des Menschen bzw. des »Endzweck[s] der menschlichen Vernunft« beschäftigt sich die systematische und kritische Philosophie, aber nicht – und das ist entscheidend – die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die Kant als einzige ausgearbeitet hat und die in ihrer 1798 publiziergeworden ist. Das aber heißt noch lange nicht, dass die philosophischen Angebote hier vielversprechend wären. Zwar ist die Philosophie durchaus imstande, einen Beitrag zu leisten –, nur entspricht dieser zumeist nicht den an sie gerichteten Erwartungen. Gerade an ihre Anthropologietradition kann sie nicht umstandslos (und vielleicht besser gar nicht) anknüpfen. 12 Vgl. neben einem im Archiv abgedruckten Kapitel aus Kapps Grundlinien die Texte von Harun Maye, »Kommentar zu Kapitel XIII der Grundlinien einer Philosophie der Technik« und von Leander Scholz, »Der Weltgeist in Texas. Kultur und Technik bei Ernst Kapp«, beide in der ZMK 1:2013, S. 91–100 und S. 171–190. 13 Vgl. Engell, The Boss of it all, a. a. O., S. 111.
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ten Form aus seinen jahrelang gehaltenen Vorlesungen über Anthropologie hervorgeht.14 Nicht der Mensch schlechthin ist damit Gegenstand der Anthropologie, vielmehr nur etwas von ihm, zum einen seine pragmatisch betrachteten Vermögen und zum anderen sein Charakter. Entsprechend nennt Kant die beiden Teile seiner Anthropologie ›Didaktik‹ und ›Charakteristik‹.15 In beiden Fällen macht sich eine quasi essentialistische, nicht-anthropologische Voraussetzung geltend, die genau darin besteht, dass transzendentalphilosophische Annahmen nicht im Feld des empirischen Wissens abgehandelt werden können. Damit ist zugleich gesagt, dass sowohl die Vermögen der Erkenntnis, des Begehrens und des Gefühls der Lust und Unlust als auch der empirische Charakter auf eine prinzipielle Auseinandersetzung mit dem Erkennen, Wollen und der Urteilskraft bzw. auf einen reinen Charakter verwiesen oder intern bezogen sind. Die Anthropologie ist nach Kant durch ihre Beziehung auf das Empirische kein Teilbereich der systematischen Philosophie und setzt sie daher durchgängig voraus. Das hat Konsequenzen. Affekte und Leidenschaften, aber auch Verirrungen und Verstimmungen unterschiedlichsten Typs – die Anthropologie beerbt das Themenspektrum der älteren empirischen Psychologie – sind auf eine normativ ausgezeichnete, gesunde und rationale Form der Ausübung menschlicher Vermögen bezogen, deren Regeln a priori anderswo herausgearbeitet werden. Der Mensch als solcher wirkt sich in der Darstellung seiner empirischen und pragmatischen Realität aus, sofern es primär darum geht, die Abweichungen von der Norm als Abweichungen herauszuarbeiten. Sie kommen zustande, weil die menschliche Natur nicht grundsätzlich und immer schon mit dem Menschenwesen, der ›Humanität in uns‹, übereinstimmt.16 Sucht und Laster rekurrieren auf Wiederholungsmuster, die sich der vernünftig kontrollierten Beherrschung entziehen wie eine Natur, deren Entwicklungsmöglichkeiten – sei es pathologisch, sei es charakteristisch – begrenzt sind.17 Es sind die Kranken, aber auch die Kinder, der Pöbel und die (allzu leicht manipulierbaren) Lumpen, die Frauen und die nicht-euro-
14 Vgl. Kant, Logik, a. a. O., S. 24. 15 Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a. a. O., S. 125, 283. 16 Das »Passive in der Sinnlichkeit« ist für Kant die Ursache für die mit ihr verbundenen Übel, denn »die innere Vollkommenheit des Menschen besteht darin: daß er den Gebrauch aller seiner Vermögen in seiner Gewalt habe, um ihn seiner freien Willkür zu unterwerfen. Dazu aber wird erfordert, daß der Verstand herrsche […].« Ebd., S. 144. 17 Vgl. ebd., S. 149, 265–267.
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päischen ›Rassen‹, die nicht in der Lage sind (oder sich nicht in der Lage finden), am reinen Charakter zu partizipieren. Gilt es also, einen essentialistischen Zug (der Frage nach dem Menschen) im anthropologischen Diskurs körperlich-seelischer Phänomene sorgfältig wahrzunehmen, zu analysieren oder herauszufiltern? Liegt das Problem in asymmetrischen Verhältnissen zwischen Körper und Geist, wie Nietzsche geltend machte? Im transzendentalen Status des reinen Charakters, der nicht empirisch abgeleitet werden kann? Im empirischen Wissen selbst, das mit Vorurteilen behaftet ist? Aus anthropologiegeschichtlicher Sicht lassen sich einige Punkte aufhellen. Erstens wendet sich Kant mit seinem anthropologischen Ansatz gegen den zu seiner Zeit geläufigen physiologischen, der auf der Grundlage des cartesianischen Substanzendualismus und der res-composita-Lehre auf den ganzen Menschen, d. h. auf seine leiblich-seelische Totalität abzielte.18 Hier wäre an die medizinische Anthropologie der ›vernünftigen Ärzte‹ zu denken, die den ganzen Menschen in den Blick nehmen, nicht nur das Physische einerseits und das Psychische andererseits.19 Die epistemischen Koordinaten ihrer Theoriebildung liegen in der klassischen Metaphysik – und die von ihnen favorisierten psychosomatischen Zusammenhänge bleiben auf substanziell getrennte Entitäten bezogen. Ihre klassische Kritik von Spinozas Monismus bis zu Humes Skepsis begreift sich dagegen nicht anthropologisch, auch wenn für sie die Lehre von den Affekten zentrale Bedeutung erlangt.20 Zweitens wäre aus meiner Sicht zu berücksichtigen, dass sich der philosophische Diskurs der Anthropologie nach Kant verschiebt, sofern mit Schelling eine naturphilosophische Wende einsetzt. Sie sorgt dafür, dass die Anthropologie als peripherer Diskurs zunehmend in die philosophisch-systematische Mitte rückt. Auf allen anthropologischen Theorieebenen des 19. Jahrhunderts lässt sich beobachten, dass der von Kant in der Kritik der Urteilskraft systematisch als Naturzweck eingeführte Organismus, der wiederum in den empirischen Ausführungen zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht nur vorausgesetzt werden kann, als naturphilosophi-
18 Die exemplarische Zielscheibe der Kritik ist Platner, Anthropologie, a. a. O. 19 Vgl. Carsten Zelle (Hg.), ›Vernünftige Ärzte‹. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Berlin 2002. 20 Zu der in Spinozas Affekttheorie immanent geübten Kritik am cartesianischen Dualismus der Leidenschaften der Seele vgl. Marc Rölli, »Spinoza gegen Descartes. Oder warum man den Körper nicht ausblenden kann«, in: Krassimira Kruschkova et al. (Hg.), Wissen wir, was ein Körper vermag? Rhizomatische Körper in Religion, Kunst, Philosophie, Bielefeld 2014, S. 163–183.
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sches Grundprinzip der Anthropologie selbst begriffen wird.21 Auch das hat Konsequenzen. Auf drei von ihnen wird kurz eingegangen: zunächst auf die Isolierbarkeit. Es ist für den traditionell orientierten philosophischen Diskurs der Anthropologie bis heute Standard, dass sich die menschliche Natur aus ihrer besonderen Stellung in der allgemeinen Natur heraus bestimmen lässt. Durch ihre gleichsam exzentrische Eigenart scheint sie sich von der Tierwelt prinzipiell zu unterscheiden. Außerdem ist sie als lebendige vom Toten, vom reinen Mechanismus, klar getrennt. Die naturphilosophische Perspektive, die sich nicht zuletzt in einer biologischen verlängert, fokussiert auf eine körperliche Organisation, die methodisch in ihrem eigenen Gebiet separat zu erforschen ist. Die Lebenskräfte kommen hier ins Spiel, die tierische Elektrizität von Luigi Galvani oder die romantische Medizin der Erregbarkeit und Schellings Prinzip der Sensibilität. Und selbst wenn sich die Biologie erst in den 1830er Jahren mit der Zelltheorie konsolidiert, liegt doch in der Ausrichtung auf den Stellenwert des Nervensystems und insbesondere des Gehirns eine bio-philosophische Kontinuität in anthropologischen Fragen vor. Es geht nicht nur um eine Isolierung des Menschlichen (abgeschirmt von Tier und Maschine), sondern auch um eine Isolierung seiner Natur, die aus anderen möglichen (menschlichen oder anderen) Realitäten herausgelöst werden muss. Eine weitere Konsequenz zeigt sich in hierarchischen Verhältnissen. Die im Wesen des Menschen festgeschriebene Norm thront nicht länger als rationale Form fern über den Dingen. Sie manifestiert sich vielmehr stufenweise im Entwicklungsgang der Lebewesen. Die pathologischen und charakteristischen Erscheinungsweisen korrespondieren Entwicklungsstadien, die in bestimmten Fällen nicht überschritten werden können. Anders gesagt: der Rangfolge der Organisationsstufen ist eine Rangfolge in sich rationaler Affektivität zugeordnet. Die differenzierte Ausbildung der Sensibilität und damit der Intelligenz entspricht einer Entwicklungslogik, die zuletzt die impliziten Potenziale am Maßstab anthropologischer Selbsterkenntnis voll entfaltet. Schließlich wird die Vernunft als Strukturprinzip der Entwicklung vorausgesetzt und kann sich selbst nur im Entwicklungsprozess wiederfinden – mit fortschreitender Entwicklung in fortschreitender Manier. Hinzu kommt noch ein Drittes, mit Schelling gesagt: Identität. Bereits im Naturzweck nach Kant steckt eine teleologische Ordnung, die das Na 21 Vgl. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, a. a. O., S. 61–107.
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türliche organisiert, als ob es zweckmäßig wäre. Seine Begriffe der Vorsehung oder auch der Gunst der Natur spiegeln sich im Konzept der Anlagen und damit auch in der epigenetisch modellierten Auffassung der (rassenspezifischen) Keime.22 Mit Schelling wird aus dem regulativ begrenzten Gebrauch teleologischer Vernunft, d. h. aus der organische Totalität lediglich reflektierenden Betrachtung, ein konstitutiver Zusammenhang: Dialektik der Natur.23 Naturphilosophie zeichnet sich durch die Identität von Natur und Geist aus, eine Identität, die im Organismus allgemein, im Charakter spezifisch bestimmt ist – und die im Menschen zu sich selbst kommt. Die naturphilosophische Identität des Menschen ist primär eine vital organisierte, die aber bereits das innere Seelische, z. B. als Gestaltungsprinzip der Physiognomie, immer mitdenkt. Sie wird weiter konkretisiert, indem sie physio-psychologisch auf die Themenfelder der »inneren Empfindung« des Fühlens und Begehrens ausgeweitet wird.24 Die naturnahe, kaum vernunftkonforme Ausprägung des Seelenlebens findet sich mit einer wenig entwickelten körperlichen Konstitution zusammengedacht. Mit der Identität rückt das ganzheitliche Wesen des Menschen ins Blickfeld; selbst wenn es wenig entwickelt ist, korrespondiert das primitive Gehirn oder die affenähnliche Schädelbildung mancher ›Rassencharaktere‹ mit einer niederen Zivilisationsstufe, die auf ein seelisches Übergewicht der ›rohen‹ Sinnlichkeit, auf ein fehlendes moralisches Bewusstsein oder auch auf politische Verhältnisse brutaler Unterdrückung schließen lassen. Körper und Seele finden sich ungetrennt auf einer Entwicklungsstufe vereint. Im anthropologischen Diskurs des 19. Jahrhunderts wird der Mensch auf naturphilosophischen Grundlagen durchaus ›ganzheitlich‹ zum Thema; das heißt aber nicht, dass die mit dem Ideal der Humanität verknüpfte Entwicklungsnorm bedeutungslos geworden wäre. In manchen Spielarten wird die Identität des ganzen Menschen selbst als quasi reiner Charakter gedacht, weshalb ihre radikale Auflösung in bestimmter Hinsicht eine postanthropologische Qualität besitzt. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es wird nicht behauptet, dass jedes Konzept einer Physio-Psychologie anthropologischen Typs gewesen wäre. 22 Vgl. Kant, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien, a. a. O. 23 »Die Organisation aber ist nicht bloße Erscheinung, sondern selbst Objekt, und zwar ein durch sich selbst bestehendes, in sich selbst ganzes, untheilbares Objekt […]. [D]ie Zweckmäßigkeit der Naturprodukte [wohnt] in ihnen selbst, […] objektiv und real […].« Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, a. a. O., S. 95, 96. 24 Vgl. G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Dritter Teil, Werke Bd. 10, Frankfurt a. M. 1986, S. 43–198, hier S. 101.
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Weder Nietzsche noch Kierkegaard, auch nicht Fechner oder Mill folgen ihrem Schema. Und im 20. Jahrhundert verkomplizieren sich die Dinge weiter. Im Allgemeinen verschwindet die idealistische Vernunft – oder verwandelt sich in eine der endlichen Existenz zugängliche Rationalität. Und mit ihr verbinden sich existenziale Bestimmungen, die die ältere moralische Prüfung und Vergeistigung seelisch-körperlicher Phänomene zurückdrängt. Von Befindlichkeit und Stimmungen, Lachen und Weinen, Scham und Angst, Rausch und Idiosynkrasie ist die Rede – und zugleich zeichnet sich die europäische Existenz dadurch aus, in besonderer Weise auf das Universale bezogen zu sein, in der phänomenologischen Reflexion auf lebensweltlichen Boden oder metaphysische Bodenlosigkeit oder auch in der Reflexion auf das exzentrische Wesen des Menschen und damit auf die unumgänglich machtförmige Positionierung.25 Weder handelt es sich bei der sinnlich-affektiven Existenzweise um eine Domäne der anthropologischen Theorie – wenngleich sie gerade den naturphilosophischen Ansatz weitertradiert, den Menschen inmitten der Lebewesen wiederzufinden – noch ist ihre Präsentation auf ein ausgezeichnetes Menschsein irrelativ: und damit beginnen die Probleme aufs Neue. Selbst wenn es daher triftig sein mag, existenzielle Stimmungen und andere physio-psychologische Phänomene anthropologischen Typs auch in einer Medientheorie zum Thema zu machen, bleibt eine historisch aufgeklärte Sichtweise doch äußerst wichtig. Es ist nachvollziehbar, dass viele der direkt mit dem Körper verknüpften Affekte, Leidenschaften und ästhetischen Kräfte der am Verstand als Erkenntnisvermögen orientierten Denkweise entgehen. Aber ihre Behandlung ist in naturphilosophische Traditionslinien eingebunden, die dafür sorgen, dass sie einerseits auf elementare Vitalität und andererseits strikt auf den Menschen als Repräsentant einer moralischen Natur (mitsamt ihrer kolonialen Entwicklungsstufen immer auch ›ganzheit licher‹ Charaktere) bezogen werden. Wenn es gelingen soll, Mensch und Medien immanent zu verklammern, so kann die philosophische Anthropologie dabei nicht wirklich helfen. Vielmehr müssten die technischen und überhaupt die sozialen Implikationen als lediglich partiale Aspekte in den affektiven und oftmals dunklen Phänomenen eines fragmentierten Körperlich-Seelischen wahrgenommen werden.
25 Vgl. Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O. Vgl. die Beiträge zu Husserl und Heidegger in Heinrich Rombach (Hg.), Die Frage nach dem Menschen. Aufriss einer philosophischen Anthropologie, Freiburg, München 1966.
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8.2 Die anthropologische Extension – Marshall McLuhan Auf den ersten Blick erscheint es weit hergeholt, den medientheoretischen Ansatz von McLuhan auf die anthropologische Tradition zu beziehen. Und doch leben in ihm ältere Auffassungen fort, und zwar gerade auch dort, wo sie anscheinend komplett über Bord geworfen werden. Das könnte etwas mit einem blinden Fleck einer allzu selbstgewissen Vernunft zu tun haben, mit ihrer eingewurzelten Autorität und Fähigkeit, sich stets aufs Neue einen unbeirrten Glauben entgegenzubringen. Die Problemstellung kann mit einer Referenz auf die Technikanthropologie Ernst Kapps erläutert werden. Denn mit Kapp beginnt nicht nur eine philosophische Auseinandersetzung mit dem allzu lange vernachlässigten Phänomen der Technik. Zugleich macht sie von Voraussetzungen Gebrauch, die mit einer normativen Auszeichnung des Menschen verbunden sind. Das normative Element liegt dort, wo mit der Technik eine Entäußerung des schöpferischen Tuns greifbar wird, die sich nur handhaben und kontrollieren lässt, solange sie in eine anthropologische Form eingefügt werden kann. Mit der These, Technik als Verlängerung des menschlichen Körpers aufzufassen, soll sichergestellt werden, dass sie sich nicht aus dem abgesteckten Bezugsfeld ihres natürlichen Grundes entfernt, Organprojektion zu sein. Verließe sie diesen Rahmen, wäre es nicht länger möglich, sie »unter Aufsicht und Leitung des Menschen« zu stellen.26 Die Krisenerscheinungen einer entfesselten Technologie wären somit nicht innerhalb der dialektischen Konstruktion (von Mensch und Technik) aufgehoben und damit auch nicht mehr beherrschbar. Aber die Sorge ist unnötig: »Niemals […] ist bei irgend einer Maschine die Menschenhand völlig aus dem Spiele.«27 Bei McLuhan verschieben sich diese Koordinaten und zugleich bleibt eine, wenn auch stark modifizierte, anthropologische Relation erhalten. In bestimmter Analogie zu seinen französischen Zeitgenossen, dem Paläanthropologen André Leroi-Gourhan und dem Ethnologen Claude Lévi-Strauss, wird eine quasi-dialektische Figur konstruiert, die zwischen den sogenannten primitiven Stammeskulturen, der westlichen Zivilisation, die den ›alphabetischen Menschen‹ hervorbringt, und einer neu aufziehenden elektrifizierten Welt metatheoretische Verbindungen generiert. Sie manifestieren einen Deutungsrahmen für die oft historisch angelegten Einzelanalysen der verschie 26 Vgl. Kapp, Philosophie der Technik, a. a. O., S. 57. 27 Vgl. ebd.
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denen Medien. Immer wieder werden im vergleichenden Rückblick auf die oralen, schriftlosen Kulturen die Besonderheiten nicht nur der mechanischen Technik, die mit dem phonetischen Alphabet und schließlich mit der Entwicklung des modernen Buchdrucks Fahrt aufnimmt, sondern auch der ganz anders strukturierten kybernetischen Automation herausgearbeitet. »Spezialisierte Techniken zerstören die Stammesorganisation, die nichtspezialisierte Technik der Elektrizität stellt sie wieder her.«28 Mit Lewis Mumford, auf den sich McLuhan wiederholt bezieht, wird die alphabetische Kultur als eine Megamaschine beschrieben, die ihre Machtordnung mit den Mitteln einer starken Visualisierung, typographischer Wiederholbarkeit und strikt kategorialer Rationalität konsolidiert.29 Eine spezifische Komplexität der Problemstellung wird dort sichtbar, wo die als Ausweitungen des Menschen bezeichneten Techniken und Medien eine interne Differenzierung notwendig machen, nämlich die Unterscheidung zwischen der alphabetischen und der elektrischen Ära. Zentralisierung, Linearität, Spezialisierung und Objektivität, die den Menschen einer mechanischen Ordnung ausliefern und in entsprechenden Arbeitsverhältnissen partialisieren und vereinzeln, stehen neue Informationssysteme entgegen, die durch Dezentralisierung, Gleichzeitigkeit, umfassende Partizipation und Inklusion des ganzheitlichen Menschen bestimmt werden.30 McLuhan spricht öfters von der »tieferlebten Beteiligung der Gesamtperson an der Arbeit und der menschlichen Gemeinschaft, welche die mechanische Technik […] zerstört hatte.«31 Und an anderen Stellen wird die wiedergefundene Gesamtperson auf »primitive«, »rückständige« oder »nicht industrialisierte« Völker bezogen und der durch Individualismus gekennzeichneten modernen Gesellschaft entgegengesetzt.32 Die ›Primitivität‹ des elektrischen Verbunden-Seins ist nach McLuhan kein einfacher romantischer Anachronismus, erinnert aber an die ethnolo 28 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media [1964], übers. v. M. Amann, Düsseldorf u. a. 1992, S. 37. Vgl. auch ebd., S. 200–201, 330. Mit einer kleinen Abwandlung ließe sich das Zitat in die Überlegungen transformieren, die einen typischen Primitivismus der europäischen Avantgarden artikulieren, frei nach Carl Einstein: ›der Illusionismus der Zentralperspektive zerstört die Negerplastik, der Kubismus stellt sie wieder her‹. Vgl. zu diesem Themenkreis Susanne Leeb, Die Kunst der Anderen. ›Weltkunst‹ und die anthropologische Konfiguration der Moderne, Berlin 2016. 29 Vgl. Lewis Mumford, Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht [1967–70], Frankfurt a. M. 1986. 30 »Handeln […] ohne mitbeteiligt zu sein, das ist der besondere Vorteil des alphabetischen Menschen des Abendlandes.« McLuhan, Understanding Media, a. a. O., S. 105. 31 Ebd., S. 17. 32 Vgl. ebd., S. 40–41.
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gische Reflexion, die das wilde Denken als eine konkrete Wissenschaft versteht, die mit den neuen strukturalen Verfahren kybernetischen Typs erst wieder erfasst werden kann.33 Das globale Dorf ist zwar ein Dorf, aber auch global vernetzt. Auf verschiedenen Ebenen wird deutlich, dass den ›primitiven‹ Verhältnissen gegenüber ein moderner Abstand gewahrt werden muss, allerdings in einer spiralförmigen Bewegung, die im Durchgang durch die alphabetische Evolution den elektromagnetischen Feldern zustrebt.34 Die Gegenwart zeichnet sich nach McLuhan durch mythisches Leben und atomistisch zergliederndes Denken aus.35 Zu verändern wäre diese Situation, indem medientheoretische Erkenntnis entsteht und Verbreitung findet, die nicht auf die Inhalte, sondern auf die Form der Medien ausgerichtet ist. Das Medium ist die Botschaft. Jede Ausweitung des menschlichen Körpers oder der menschlichen Sinne bedeutet zugleich Amputation, Narkose und Wiederholungszwang – und die jedem Medium implizit hypnotisierende Kraft äußert sich genau in ihrer inhaltlichen Fixierung. Diese Fixierung lässt sich aber nur lösen, indem die kybernetische Technik der simultanen Erfassung – wie im künstlerischen Verfahren der Synästhesie – eine »Philosophie der Strukturen« oder, wie McLuhan auch sagt, »ganzheitliche Erkenntnis« informiert.36 Kubismus und Film machen klar, »daß im selben Augenblick, in dem das Aufeinanderfolgen der Gleichzeitigkeit weicht, wir uns in der Welt der Struktur und Gestalt befinden.«37 Die Formel »Philosophie der Strukturen« bleibt paradox und zweideutig. In etwas allgemeinerer Hinsicht wäre erstens zu sagen, dass McLuhan den Medienwandel, den er beschreibt, immer auch differenziert in den Blick nimmt. Das bedeutet im Kern, dass es niemals ein isoliertes Medium gibt, das nicht mit anderen Medien in reziproken Beziehungen steht. Der Inhalt eines Mediums ist bekanntlich immer ein anderes Medium. Auch heiße und kalte Medien stehen in komplexen Verhältnissen zueinander und bilden 33 Vgl. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a. a. O. 34 »Ein großer Teil der Arbeit der Gelehrten im vergangenen Jahrhundert galt auf vielen Gebieten einer exakten Rekonstruktion der Situation der primitiven Kunst und der Riten, denn man glaubte, auf diesem Wege den Schlüssel zum Verständnis der Seele des primitiven Menschen zu finden. Der Schlüssel dazu steckt jedoch in unserer neuen Technik der Elektrizität, die so rasch und tiefgreifend die Situation und Haltung des primitiven Stammesangehörigen in uns wieder entstehen läßt.« McLuhan, Understanding Media, a. a. O., S. 272–273. Vgl. ebd., S. 182–183, 190. 35 Vgl. ebd., S. 39. 36 Vgl. ebd., S. 20, 64. 37 Ebd., S. 23.
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nicht eins zu eins den Übergang in ein elektrisches oder digitales Zeitalter ab. Als Verlängerungen des Menschen bewirken neue Medien stets eine Neuaufteilung des Sinnlichen – und auch sie kann nicht aus den mit ihr zusammenhängenden Veränderungen im Sozialen abstrahiert werden. Zweitens impliziert der strukturelle Erkenntnistyp, der auf die mediale Form ausgerichtet ist, immer eine gleichsam rationale Entfremdung von den unmittelbar anästhetisierenden Gegebenheiten. Zum Beispiel verstand Alexis de Tocqueville »die Grammatik des Buchdrucks« nur deshalb, weil er sich von seinen »Werten und Postulaten […] distanzieren konnte. […] Denn jedes Medium hat die Macht, seine eigenen Postulate dem Ahnungslosen aufzuzwingen.«38 Die Grammatik eines Mediums zu entziffern ist daher auch in ihrer strukturellen Logik auf ein alphabetisches Residuum bezogen. Eine einfache Remythisierung kann es nicht geben, die historische Konstruktion ist spiralförmig reflexiv, ebenso progressiv wie regressiv: der zivilisierte Mensch betritt »den Kreis des primitiven Stammes« zwar von neuem, wenn er die mechanischen Mauern durchbricht und sich als Gesamtperson im kollektiven Miterleben wiederfindet, doch dieses Mal ist er »hellwach […], wenn er wieder in das primitive Dunkel des Stammes tritt.«39 Mit einer anderen Formulierung, die McLuhan gerne benutzt, könnte auch gesagt werden: der elektrisch illuminierte Mensch wird sich des Unbewussten bewusst. Naheliegend wäre es, da dann noch hinzuzufügen: – und der ›Primitive‹ nicht. Im Text von McLuhan liegt eine Spannung oder Mehrdeutigkeit genau an der Stelle, wo sich im Glanz des Lichts der Mensch als Gesamtperson in seiner Primitivität erneuert – oder aber in mosaikförmige Strukturen hineingleitet, die den alphabetischen Hochmut vergessen lassen – und mit ihm die kolonialen Exklusionsmechanismen.40 Anders gesagt, kann die Untersuchung der Felder und der Netze, die die Medien in ihren Beziehungen darstellen, von dem metatheoretischen Narrativ abgelöst werden, nach dem die avancierte Technologie die verlorene Humanität – das Bild einer grenzenlos vernetzten, kollektiv beteiligten Existenz – in sich wiederfindet. Tatsächlich fordert McLuhan eine ethnografische Praxis in der Medientheorie, weil sie ein Fremdwerden und Herauslösen aus dem »unterschwelligen narzißtischen Trancezustand« notwendig macht.41 Dieser xenologische Ansatz 38 Vgl. ebd., S. 26. 39 Vgl. ebd., S. 50. In diesem kritischen Kontext stehen auch McLuhans Äußerungen zu Spenglers Untergang des Abendlandes. Vgl. ebd., S. 132–133. 40 Vgl. zu den Themen der Exklusion und der Inklusion ebd., S. 28, 361–362. 41 Vgl. ebd., S. 26, und zur ethnografischen Praxis vgl. ebd., S. 31.
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kann von einem gewissen Planungsoptimismus durchaus getrennt werden, sofern weniger ein fester Standpunkt der Beobachtung bezogen wird und mehr der teilnehmenden, involvierten Betrachtung zugetraut wird. Durch die Vernetzung der Medien untereinander wird eine multiperspektivische Situation greifbar, die zugleich eine bestimmte, neuartig strukturierte Rationalität hervorbringt: »Der Bastard oder die Verbindung zweier Medien ist ein Moment der Wahrheit und Erkenntnis, aus dem neue Form entsteht.«42 Diese neue Form ist nicht notwendigerweise auf den kybernetischen Rationalismus reduzierbar, wie er sich in dem »Versprechen« ausspricht, durch ein besseres Medienverständnis »Voraussage und Steuerung« zu ermöglichen oder »Konflikte durch zunehmende Autonomie des Menschen zu verringern«.43 Vielleicht ist auch die Rede von der Ausweitung des Menschen bzw. von einer qualitativen Differenz zwischen einer noch organspezifischen und einer totalen Extension zu vermeiden, die umschlägt wenn sie implodiert.44 An nicht wenigen Stellen werden Medien einfacher definiert, indem ihnen die Fähigkeit zugeschrieben wird, Informationen zu speichern und zu beschleunigen.45 In vielen Fällen kommt es gerade auf die historische, sinnliche und soziale Konkretion an, die die große Erzählung vom radikalen Wandel unterbricht, und stattdessen Komplexität ins Spiel bringt. So spricht McLuhan vom »persönlichen Unterbewusstsein«, das »anstelle eines elektrisch gesteuerten Gemeinschaftsbewußtseins« die Gegenwart bestimmt – oder auch
42 Weiter heißt es da: »Denn die Parallele zwischen zwei Medien läßt uns an der Grenze zwischen Formen verweilen, die uns plötzlich aus der narzißtischen Narkose herausreißen. Der Augenblick der Verbindung von Medien ist ein Augenblick des Freiseins und der Erlösung vom üblichen Trancezustand und der Betäubung, die sie sonst unseren Sinnen aufzwingen.« Ebd., S. 73. 43 Vgl. ebd., S. 68, 26. Vgl. auch die Kontrollphantasien ebd., S. 42, und die Einleitung, S. 14. 44 »Indem wir unseren natürlichen Körper mittels elektrischer Medien in unser erweitertes Nervensystem hineinverlegen, stellen wir eine Dynamik her, mit der alle vorhergehenden Techniken, die ja bloße Ausweitungen der Hände und Füße, der Zähne und der Körperwärmeregelung darstellen – alle derartigen Ausweitungen […] –, in Informationssysteme übertragen werden.« Ebd., S. 75. Vielleicht wäre es möglich, die von Tarde (gegen Le Bon) eingeführte Unterscheidung zwischen Masse und Publikum auf dieser Folie zu lesen. Die Masse vermag sich nur »über einen geringen Radius auszudehnen: wenn ihre Anführer sie nicht mehr in manu haben, wenn sie die Stimme ihrer Anführer nicht mehr hört, zerfällt sie.« Tarde, Masse und Meinung, a. a. O., S. 17. Die sozialen Bindungen, die sich auf der Ebene der Publika herstellen, sind womöglich erst gar nicht organisch bzw. organprojiziert zu denken. 45 Vgl. McLuhan, Understanding Media, a. a. O., S. 185, 390, 399.
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von quasi völkerpsychologisch definierten Kulturen, die sich als feste Einheiten im Fluss der Medienentwicklung finden.46 Diese Ambivalenzen werden nicht zuletzt in der Figur des Nomaden greifbar. Als »Informationssammler« ist »der elektronische Mensch nicht weniger Nomade als seine steinzeitlichen Ahnen.«47 »Frei von hemmender Spezialisierung wie noch nie«, aber auch »in den ganzen Gesellschaftsprozeß einbezogen«48, markiert er eine Utopie primitivistischen oder exotisierenden Typs ebenso wie immanente Strukturen einer fragmentierten Mannigfaltigkeit, die mittels Netz- und Feldmetaphern beschrieben wird.49 Das Mosaik steht exemplarisch für eine kollektive Struktur, die aus unregelmäßigen Einzelteilen wie Kieselsteinen, Glasscherben, Kacheln zusammengesetzt ist. »Es ist unstetig, asymmetrisch und nicht-linear, wie das den Tastsinn ansprechende Fernsehbild.«50 Es ermöglicht ein Wechselspiel der Sinne, verlangt nach aktiver Beteiligung und verhindert eine maßgebliche Distanzierung. Wenn McLuhan über die Presse spricht, so betont er ihre formalen Merkmale, im Unterschied zum Buch nicht einen persönlichen Standpunkt zu vermitteln, sondern auf einem Blatt verschiedene Zeitungsmeldungen »mosaikartig« zusammenzustellen.51 Eben weil die Mosaikform Nachrichten sammelt und keinen distanzierten Standpunkt ausdrückt, sondern stets zum Mitmachen aufruft, deshalb »ist die Demokratisierung untrennbar mit der Presse verbunden«.52 An diesem Punkt wird greifbar, inwiefern McLuhan quasi als Ethnologe der amerikanischen Kultur operiert, indem er den spezifischen Eigensinn der Medien thematisiert und dabei zugleich auf den Stellenwert der populären Kulturen stößt, aber auch auf den der Künste überhaupt.53 Wenn der Begriff der Anthropologie hier Anwendung finden sollte, 46 Vgl. ebd., S. 130, 329. 47 Vgl. ebd., S. 325. Vgl. auch ebd., S. 390, 54. 48 Vgl. ebd., S. 406. 49 Vgl. ebd., S. 386, 395. 50 Ebd., S. 379. Die Strukturmerkmale des Mosaiks antizipieren glatte im Unterschied zu gekerbten Räumen. Die Nomaden bewegen sich nach Deleuze und Guattari auf glatten Oberflächen. Vgl. Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a. a. O., S. 682–693. 51 Vgl. McLuhan, Understanding Media, a. a. O., S. 237. Dieses Problem des persönlichen Ausdrucks könnte auf dasjenige der Autorschaft bezogen werden. Vgl. Roland Barthes, »Der Tod des Autors« [1968], in: ders., Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a. M. 2005, S. 57–63. 52 Vgl. McLuhan, Understanding Media, a. a. O., S. 244. 53 Vgl. ebd., S. 245. »Die Form der Presse – das heißt ihre strukturellen Merkmale – wurden ganz natürlich von den Dichtern nach Baudelaire übernommen […].« Ebd., S. 250. Nach McLuhan ist gerade die Kunst ein Sensorium für sich verändernde Medien- und
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dann nicht wegen seines heimlichen Bezugs auf einen wie immer gearteten Menschen im eigentlichen Sinne, sondern wegen der Bedeutung der ethnologischen Methoden für eine auf Medienkulturen reflektierende Forschungspraxis. Oder wie es Viveiros de Castro einmal formulierte, gegen den antiperspektivistischen Geist eines universal auftrumpfenden Naturalismus: »Die [minoritäre] Anthropologie ist die Theorie und Praxis der permanenten Dekolonisierung.«54
damit auch Sinnesverhältnisse. Sie bietet ein wirksames Antidot gegen die narkotischen Auswirkungen technischer Neuerungen – und damit Einsicht in deren psychische und soziale Folgen. Vgl. ebd., S. 83–84, 70, 202. Von hier aus gesehen wäre eine Mediengeschichte immer auch eine Geschichte der Aufteilungen des Sinnlichen. 54 Viveiros de Castro zitiert nach Bruno Latour, »Perspektivismus: ›Typus‹ oder ›Bombe‹?«, in: Irene Albers, Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich 2016, S. 67–70, hier S. 70.
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9. Sonnemanns negative Anthropologie1 »Wo der Mensch nicht ist, wo für Wahrheit und für seine Veredelung nichts geschiehet, da ist alle Erkenntniß seicht, todt, überflüssig und zweckwidrig; wo aber allein der Mensch ist, wo alles für Wahrheit und für seine Veredelung geschiehet, da ist die Erkenntniß gründlich, lebendig, unentbehrlich und zweckmäßig.«2
Eine negative Anthropologie scheint ein paradoxes Unterfangen zu sein. Die Bezeichnung signalisiert Ablehnung positiver Bestimmungen des Menschseins – und das könnte einschließen: positiver Anthropologie. Eine Ablehnung, die zugleich das Arbeitsgebiet und das methodische Vorgehen umreißt: zu verneinen, was behauptet, anthropologisches Wissen – oder allgemeiner: Wissen über den Menschen, sein Gegebensein – zu sein. Offen ist dabei auf beiden Seiten, wie genau die Wissensfelder und die sich auf sie beziehende Negativität beschaffen sind. Es mutet heutzutage beinahe kontraintuitiv an, dass ein Prozess der negativen Verarbeitung eines irgendwie problematischen Wissens nicht zwangsläufig dessen performative Reproduktion betreibt oder betreiben soll. Unter dem Titel ›negative Anthropologie‹ könnten unterschiedliche Spielarten dieses Projekts verstanden werden; wobei es wegen der Auszeichnung des Negativen naheliegend wenn auch nicht zwingend ist, in ihnen philosophische Unternehmungen zu vermuten. Ich beschränke mich hier auf die Negative Anthropologie, die von Ulrich Sonnemann vor 50 Jahren als eigenständiges Buch, mit dem Untertitel: »Vorstudien zur Sabotage des Schicksals«, publiziert worden ist.3 1 Im September 2019 fand am Philosophischen Institut der FU Berlin ein Workshop zur Negativen Anthropologie unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiten von Ulrich Sonnemann statt. Den Organisator*innen Tobias Heinze, Martin Mettin und Anne Eusterschulte verdanke ich die Gelegenheit einer vertieften Auseinandersetzung. 2 Karl Ludwig Pörschke, Anthropologische Abhandlungen, Königsberg 1801, S. IV. 3 Vgl. Ulrich Sonnemann, Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals [1969], Frankfurt a. M. 1981. Besonders naheliegend wäre es, Günther Anders’ An-
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Die aufgeworfenen Fragen nach der Bestimmtheit einer anthropologischen Positivität und ihrer Negation finden eine erste Antwort in einer von Sonnemann immer wieder verwendeten Formulierung. Im 1981 publizierten Nachwort zur zweiten Auflage wird sie als zentrales Arbeitsergebnis vorgestellt: »daß das Menschliche nur aus seiner Verleugnung und Abwesenheit sich theoretisch erschließe […].«4 Die Theorie wird als »Negation der Negation« kritisch gefasst, d. h. Negation einer realen Verneinung des Menschlichen, die »für die Menschen selber [eine] Position […] reserviert« und diesen ihren Platz in einer Praxis »freizuhalten, freizukämpfen« vermöchte.5 Wie ist das zu verstehen? Im Grunde einfach genug. Das ›wahrhaft Menschliche‹ wurde bislang verfehlt oder negiert – und dies zum einen in Theoriebildungen, die vorgeben zu wissen, was den Menschen zum Menschen macht, und zum anderen in einer historischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, die die Menschen in einer Weise degradiert, die mit den dominanten Ideologien anthropologischen Typs auf die eine oder andere Weise zusammenstimmt. Diese Auskunft verkompliziert sich aber, wenn genauer nach den Theorien und ihrer Kritik im Kontext einer den Menschen feststellenden und nicht freisetzenden empirischen Realität gefragt wird. Was genau macht das Feststellende und das Freisetzende aus? Wie bewegt sich die Kritik im Feld der Anthropologie? Wo liegen die Bezugspunkte, die zwischen Theorie, Empirie und Praxis vermitteln? Anthropologiegeschichtlich betrachtet fällt ins Auge, dass sich Sonnemann dem gängigen Schema der ›drei Stadien‹ anschließt: zwischen Kant und der Wiedergewinnung einer genuin philosophischen Anthropologie (mit Scheler etc.) liegt ein 19. Jahrhundert, in dem »die philosophischen Bezüge des Anthropologie-Begriffs« verfallen und sich der Terminus »in spezialistischem Sinne« wandelt; »er bezeichnet nun das Studium der Menschenrassen [und] ihrer (zumal frühen) Kulturen.«6 Ordnete sich im 18. Jahrhundert die Anthropologie dem wissenschaftlichen Optimismus der Aufklärungsphilosophie zu – und verlor sie anschließend im Strukturwandel der Verwissenschaftlichung ihre Verbindung zu philosophischen Fragestellungen, so tiquiertheit des Menschen als negative Anthropologie zu bezeichnen. Vgl. dazu Rüdiger Zill, »Vom Verschwinden des Menschen. Günther Anders’ negative Anthropologie«, in: Rölli, Fines Hominis?, a. a. O., S. 159–175. 4 Sonnemann, Negative Anthropologie, a. a. O., S. 363. 5 Vgl. ebd., S. 363–364. 6 Vgl. ebd., S. 23.
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zeichnet sich ihre Erneuerung im 20. Jahrhundert durch das Programm einer Synthese »sowohl einzelwissenschaftlicher Empirie als auch […] kritischer, also philosophierender Reflexion« und Theorie aus.7 Diese Synthese markiert ebenso eine Einsicht wie auch ein Problem, das bereits im Titel der Vorrede artikuliert wird, in der es um das »Verhältnis der anthropologischen und Sozialwissenschaften zur Philosophie« gehen soll.8 Aus kritischer Sicht macht es gerade der »manipulative« Gebrauch der Menschenwissenschaften (im Westen wie im Osten der 1950er und 60er Jahre) notwendig, die Perspektiven der empirischen Sozialforschung und der philosophischen Theoriebildung miteinander zu verschränken. Wenn es um den Menschen geht, kommen disziplinär gebundene Ansätze schnell an ihre Grenzen – oder »schmilzt im Themenbereich des Humanen die Grenze zwischen Philosophie und Wissenschaft selbst dahin: alle relevanten Erscheinungen […] überschreiten sie sorglos […].«9 Dieses begriffsgeschichtlich strikter gehaltene Anthropologieverständnis wird von Sonnemann zugleich in der Sache erweitert. Mit Kant oder auch der anthropologischen Rassen- und Völkerkunde (im 19. Jahrhundert) setzt er sich wenig auseinander, und auch Gehlen steht nicht im Mittelpunkt seiner Überlegungen. Von zentraler Bedeutung sind aus seiner Sicht vielmehr die »positiven Doktrinen« vom Menschen, die sich bei Marx und Freud finden lassen.10 Sie werden nicht pauschal kritisiert, sondern in ihrer Ambivalenz. Zudem beschäftigt er sich mit Binswangers phänomenologischer Anthropologie und Daseinsanalyse und mit der zeitgenössischen US-amerikanischen Psychologie, die Testverfahren zur Ermittlung des Intelligenzquotienten entwickelte.11 Diese werden in eine kurze Geschichte der Psychologie als Wissenschaft, vom psycho-physischen Parallelismus bis zur Psychometrie, eingebettet.12 Der kritische Ansatz seiner negativen Anthropologie umgreift mehrere Aspekte, die in den konkreten Auseinandersetzungen immer aufeinander be 7 Vgl. ebd. Diese Art der Geschichtsbetrachtung ist im anthropologischen Diskurs der deutschsprachigen Philosophie des 20. Jahrhunderts Standard. Immer handelt es sich um drei Stadien in einem dialektischen Bezugsfeld. Vgl. Arnold Gehlen, »Zur Geschichte der Anthropologie« [1961], in: ders., Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, Gesamtausgabe Bd. 4, Frankfurt a. M. 1983, S. 143–164. 8 Vgl. Sonnemann, Negative Anthropologie, a. a. O., S. 9. 9 Vgl. ebd., S. 23. 10 Vgl. ebd., S. 29–96, hier S. 29. 11 Vgl. ebd., S. 97–134 und S. 184–205. 12 Vgl. ebd., S. 205–225.
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zogen sind. Erstens geht es darum, die in den relevanten Theorien behauptete anthropologische Positivität herauszuarbeiten und in eine Relation zu den auch gesellschaftlich realen Feststellungen zu setzen. Hier spielen Begrifflichkeiten eine Rolle, die aus der kritischen Theorietradition, z. B. der Dialektik der Aufklärung, bekannt sind. Es ist vor allem die naturbeherrschende Rationalität, die bei Horkheimer instrumentelle Vernunft heißt, die aus dem Menschen ein handhabbares, funktionales, berechenbares Wesen macht. Mit ihr verbindet sich eine historistische, die aus dem Menschen auch gemäß einer Teleologie der Geschichte ein determiniertes Wesen macht, ein Schicksal, das es zu sabotieren gilt. Sonnemann spricht ebenso von idealistischen wie von positivistischen Modellen des Menschen und attestiert beiden eine mechanistische, verdinglichende oder reduktionistische Tendenz. Erst sie ermöglicht eine manipulative Praxis, die darauf abzielt, Menschen in Massen zu organisieren oder zu lenken. Zweitens liegt der Kritik stets die Idee des freien Menschen zugrunde. Die Rede ist von einer fundamentalen Offenheit und Unbestimmtheit, von utopischer Phantasie, von Spontaneität und Spiel, vom Menschen als Projekt, von situativer Orientierung und teilnehmender Perspektive in einer möglichen, die gegebenen Verhältnisse verändernden Praxis. Um zu verhindern, dass das freie oder nicht festgestellte Wesen allzu unmittelbar romantisch oder naturalistisch hypostasiert werden kann, hält Sonnemann drittens an einer kritischen Verbindung der problematischen Realitäten und utopischen Ideen fest. Diese bewähren sich im Aufschließen jener. Wenn auf unbeherrschte Natur Bezug genommen wird, so kann diese nicht außerhalb des Gesellschaftlichen situiert werden. Negative Anthropologie ist damit immer auch eine »Theorie des Engagements«, der es gelingt, die geschichtsphilosophische Bestimmung des Menschen oder seine programmierte Nichtbeteiligung (in einem durchgreifenden Prozess der echten Humanisierung) außer Kraft zu setzen.13 Positiv formuliert, wurzeln die unmenschlichen ökonomischen und kulturellen Verhältnisse nicht in sich selbst, »sondern in den Menschen, ruf[en] nach permanenter anthropo 13 »Insofern ist negative Anthropologie Theorie des Engagements: das keine ›Haltung‹ […], sondern […] wo es sich ereignet, es selbst ist, als Anspruch der Welt, der nur erfahren und erfüllt werden will.« Ebd., S. 24. Implizite Bezüge auf Benjamins geschichtsphilosophische Thesen sind unübersehbar, z. B. die in der 12. These geäußerte Kritik an der Sozialdemokratie, die »der Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen« zuspielt – im Rahmen eines allgemeinen und unaufhaltsamen Fortschritts –, wobei ihr »die Sehne der besten Kraft« durchtrennt wurde. Vgl. Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte« [1940], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I/2, Frankfurt a. M. 1980, S. 691–704, hier S. 700.
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logischer Revolution – Mobilisation des Bewußtseins, Umwälzung von Kopfgebräuchen, Verhaltensweisen, Änderung der Gesellschaft, Abbau des Staats, Abschaffung […] der Ausbeutung […].«14 Die weiteren Ausführungen gliedern sich in zwei Teile. Im ersten wird die Kritik rekonstruiert, die Sonnemann an den für ihn maßgeblichen anthropologischen Denkweisen übt. Im zweiten steht das Konzept der negativen Anthropologie selbst zur Diskussion. Fraglich ist, inwiefern es ihr gelingt, ihren Ansprüchen gerecht zu werden – und inwiefern die von ihr erhobenen Ansprüche als solche einleuchtend oder zur kritischen Orientierung hilfreich sind.
9.1 Marx und Freud An vielen Stellen seines Buches macht Sonnemann deutlich, dass in Marx und Freud ›emanzipatorische Potenziale‹ stecken, die in ihrer breiten Rezeption und Schulbildung wie auch in realen historischen Folgen für das menschliche Selbstverständnis in kapitalistischen wie sozialistischen Lebensverhältnissen im sogenannten Kalten Krieg beinahe gänzlich verschüttet worden sind. Wenn es zwar stimmt, dass in ihren Schriften diese Potenziale schlummern, so gelingt es ihnen doch jeweils nicht, sie wirkungsvoll zu entfalten. Damit ist gesagt, dass bestimmte Fehlentwicklungen, die sich auf die Autoritäten Marx und Freud berufen, in ihren Texten selbst tatsächlich angelegt sind. Sie können bereits in ihrer Theoriebildung identifiziert werden. Dasselbe gilt auch von den in ihnen liegenden Potenzialen, nur dass in diesem Fall von der Möglichkeit ihrer wechselseitigen Kritik Gebrauch zu machen wäre. Zusammen können sie mehr als einzeln: nicht im Sinne »bloßer Addition« weiterhin abstrakter Vorstellungen von Geschichte und Natur (oder Triebhaftigkeit), sondern als »gegenseitige Revision«, die entscheidende Punkte der »Konvergenz« erst freizulegen vermag.15 Wie gesagt, liegt in den Schriften von Marx und Freud selbst eine Ambivalenz. In den Worten Sonnemanns wendet sich Marx gegen den Idealismus Hegelscher Prägung – und setzt seine »Wahrheit« nichtsdestotrotz »axiomatisch voraus«.16 Auch an diesem Punkt sind anthropologiegeschichtliche 14 Vgl. Sonnemann, Negative Anthropologie, a. a. O., S. 14–15. 15 Vgl. ebd., S. 239. Vgl. auch ebd., S. 87. 16 Vgl. ebd., S. 32. An anderer Stelle heißt es, dass Marx’ Kritik an Hegel »bloß perspektivisch«, nicht »viel prinzipieller« angelegt ist. Vgl. ebd., S. 34.
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Kontexte relevant, wenngleich sie eher implizit bleiben. Feuerbach wird mit keinem Wort erwähnt, was erstaunlich ist.17 Vom »›wirklichen Menschen‹« habe »deutsche Philosophie« (gemeint ist die idealistische) abstrahiert; zu ihm will Marx zurück, »von ihm ausgehen«.18 Die Bezüge auf den jungen Marx, und damit auf Feuerbach, sind evident. In der Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schrieb Marx: »Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihre praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist […].«19
Feuerbachs anthropologische Aufhebung des Idealismus bleibt nun aber selbst eine abstrakte, sofern es ihr nicht gelingt, die Kritik als praktisch-revolutionäre zu begreifen. Erst sein gesellschaftliches Wesen macht den Menschen zu einem wirklichen.20 Und selbst wenn Sonnemann dies im Prinzip zugibt, so bleibt aus seiner Sicht die Marxsche Fassung dieses ›wirklichen Menschen‹ dennoch idealistisch verzerrt. Nicht nur ›vor‹, sondern auch ›hinter‹ Marx steht Hegel.21 Es geht nicht lediglich um eine (nur ›perspektivi 17 Eine Erklärung hierfür wäre, dass Sonnemann einerseits die Marxsche Kritik der Feuerbach-Thesen aufnimmt und andererseits die Neubewertung der naturwüchsigen Seite der Spontaneität über die phänomenologische Tradition rezipiert – und nicht über die Feuerbachrezeption. Gerade die Aufwertung des Weltbezugs, die er bei Heidegger und Sartre anerkennt, spricht dafür. 18 Vgl. ebd., S. 32. 19 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung [1844], MEW Bd. 1, S. 378–391, hier S. 385. 20 Marx rückt in seinen Arbeiten zur Deutschen Ideologie deutlicher von der allzu ›direkten‹ Anthropologie Feuerbachs ab, was bereits in seiner Relativierung des religionskritischen Standpunkts (auch in den Kritiken an Bruno Bauer) erkennbar ist. Die »wirklichen Voraussetzungen« der Philosophie sind die materiellen Verhältnisse der Produktion und nicht ein von ihnen abgehobenes Bild vom wirklichen Menschen. Vgl. Marx, Engels, Die deutsche Ideologie, a. a. O., S. 20. In den Feuerbach-Thesen wird diese Kritik bekanntermaßen pointiert formuliert. 21 »[D]aher setzt jedes Weiterdenken des Revolutionsgedankens über Marx hinaus eine gründlichere Emanzipierung dieses Gedankens von Hegel voraus, als sie Marx selbst gelang.« Sonnemann, Negative Anthropologie, a. a. O., S. 52.
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sche‹) Umkehrung »des Prioritätsverhältnisses zwischen Gesellschaftsprozeß und Idee«.22 Ihre spekulative Bestimmung ist selbst das Problem. Im Zentrum dieser Kritik steht Hegels Geschichtsphilosophie, die noch von Marx in wesentlichen Aspekten weitertradiert wird. »Retrospektivität« lautet Sonnemanns Formel für ein Denken der Geschichte, das vom Ende her ihren Lauf bestimmt – ohne doch an diesem Ende sich selbst gegenwärtig zu sein.23 Nicht nur die Zeit, auch die revolutionäre Praxis selbst wird so übersprungen, ihr »Spontanereignis« vereitelt.24 Damit aber wird der »›wirkliche Mensch‹ […] um seine Wirklichkeit schon gebracht«.25 Diese bestünde in der Herbeiführung einer Veränderung, nicht aber in der Erkenntnis einer empirischen Gegebenheit –, und auch nicht in einer imaginären Projektion des künftigen Menschen »als ein harmonischer Idylliker«.26 Nach Sonnemann spiegeln sich die bei Marx vorfindlichen »Setzungen des Idealismus« in einem anthropologischen »Grundmodell« wider, im »›Harmonie‹-Ideal« einer »bürgerlichen Vormärz-Imago«, die dem Menschen in der Theorie schon vorschreibt, wie er zu sein hat – und auf diesem Weg »einer Praxis leicht Vorwände liefert, die dann gängelnd von außen erzwingen will, was als Freiheit der Selbstverwirklichung das Gegenteil des Erzwingbaren ist.«27 Keine bestimmte Idee des freien Menschen liefert der kritischen Theorie einen Ansatzpunkt; vielmehr liegt er dort, wo reale Entfremdungserfahrungen den möglichen Prozess der Humanisierung blockieren. Es wäre ebenso verfehlt, die soziale Realität zu ignorieren, wie umgekehrt sie zu hypostasieren. Die »Präokkupation mit der ›sozialen‹ Erscheinung [ist] ein Denkfehler von großer Verbreitung durch die vielen Anthropologien, die seit der Zeit von Marx in den psychologischen und Sozialwissenschaften entstanden sind […].«28 Schließlich ist der wirkliche Mensch, verstanden als »Proletarier«, sich selbst entfremdet und damit unwirklich: erst indem er wirklich wird, macht er sich zum Menschen; weshalb auch die Praxis selbst nicht mit der Empirie sozialer Realitäten zu
22 Vgl. ebd., S. 34. 23 Vgl. ebd., S. 38, 39. 24 »[M]it der ganzen Paradoxie der Geschichtslogik […] vereitelte Marxens Praxis-Entwurf die geschichtliche Bewahrheitung seiner Prophetie; vereitelte der Entwurf, in dem er, prophetisch, die Negation der Negation projektierte, das Spontanereignis solcher Negation als Geschichte machende Tat.« Ebd., S. 36. 25 Vgl. ebd., S. 39. 26 Vgl. ebd., S. 44. 27 Vgl. ebd., S. 41, 46, 53, 47, 44. 28 Ebd., S. 45.
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verwechseln ist.29 Hier liegt der »Kern des Dilemmas der marxistischen Anthropologie«.30 Jedes »definitive, abstrakte, […] buchstäblich abziehbare Menschenbild« verkennt aufgrund seiner statischen, retrospektiven Beschaffenheit das von Marx aufgeworfene »anthropologische Problem«.31 Nun ist die Verneinung des Menschen keine absolute. In der These vom Vorrang der Praxis liegt ein utopisches Moment des Unkalkulierbaren, das das Werdende von der Faktizität unterscheidet – und den »Schwerpunkt des Menschlichen« im Prozess selbst verortet.32 Der historischen Teleologie widerspricht nicht nur die Kritik der Retrospektivität, mit ihr verbindet sich eine (phänomenologisch wie auch pragmatistisch inspirierte) Reflexion auf Zeitverhältnisse, die sich nicht idealistisch aufheben lassen. Im Prinzip ist damit jede Gegenwart zukunftsoffen, während ihre zukunftsgeschichtliche Planung kritisch zu dechiffrieren ist. Analog liegen die Dinge, wenn es um die Situierung des Handelns oder auch um die »Spontaneität« des Menschen geht, d. h. um seine ungeregelte, unvorhersehbare Natur.33 Ein »widerspruchsfreier Selbst-Begriff des Menschen [kann] nur sein Begreifen seiner selber als Denken sein, für welchen Begriff er eine Objektanschauung nicht braucht: was sie erübrigt, ist dessen immer erfahrene Unmittelbarkeit.«34 An dem Punkt einer »Wiederentdeckung von Naturhaftigkeit menschlicher Psyche« setzt nun die Auseinandersetzung mit Freud ein.35 Immer wieder streicht Sonnemann heraus, dass mit der Psychoanalyse »ein Verständnis der Mechanik in unseren menschlichen Verhältnissen« möglich geworden ist.36 Ihm kommt es darauf an, mit Freud auf eine innerpsychische Verdrängungsleistung der menschlichen Natur aufmerksam zu machen, die als Kritik der in Marx’ Texten analysierten ›historistisch‹ verfehlten Programmierung der menschlichen Entwicklung verstanden werden kann.37 Allerdings ist das von 29 Vgl. ebd., S. 53. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. ebd., S. 54. 32 Vgl. ebd., S. 262. 33 Vgl. ebd., S. 263, 58. 34 Ebd., S. 55. 35 Vgl. ebd., S. 95. Sonnemann führt sie auf einen »Wahrheitsdrang« Freuds zurück, der auf eine »Rehabilitierung menschlicher Naturwüchsigkeit bezogen ist.« Ebd., S. 94, 95. 36 Vgl. ebd., S. 63. 37 »[D]as Unfreie am historistischen Notwendigkeitsglauben der marxistischen Lehre, der das Menschliche manipulieren will, [unterliegt] der Mechanismuskritik Freuds […].« Ebd., S. 87. Marx begriff im Unterschied zu Freud nicht, »daß die Wurzeln der Ideologiebildung […] in einen zeitlosen […] Institutionstrieb des Menschen hinunterreichen.« Ebd.
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Freud in Anspruch genommene Realitätsprinzip, das die ›repressiven‹ gesellschaftlichen Strukturen zur Geltung bringt, selbst wiederum allzu statisch gedacht. Mit ihm wird zwar nachvollziehbar, wie es dem Bewusstsein gelingt, sich mit dem »ewig unsicheren Es« in kontrollierter Manier (bzw. in pathologischer Ausprägung) zu arrangieren.38 Zugleich aber vertraut Freud »zu blindlings« auf den Wirklichkeitscharakter dieser »Standard-Realität«: Er verkennt ihren »Status als Verinnerlichung sozialer Verhältnisse«.39 Ihre Veränderlichkeit ist damit zugunsten einer fixen anthropologischen Ordnung aufgegeben, Geschichte auf »objektive Triebkonstanten« reduziert, Herrschaft im ›ÜberIch‹ stabilisiert.40 Freud mag es gelingen, pathologische Realitätskonflikte zu durchschauen; aber solche Konflikte, die sich »aus dem Aufstand eines Wahrheitsmotivs« ergeben – nämlich gegen »die absolut herrschende Unwahrheit zweckrationaler Kontrolle« – bleiben ihm unzugänglich.41 Diese Problematik einer positiven anthropologischen Doktrin lässt sich auch von einer weiteren Seite angehen, nämlich der einer Verdinglichung von Psyche als Subjektivität. Das metapsychologische Ich-Modell zeichnet sich grundsätzlich dadurch aus, weltliche Erfahrungen abzuschneiden. Sonnemann spricht von »der Einschränkung der Reichweite des Bewußtseins aufs Ego«.42 Diese Einschränkung meint Limitierung – und in der Theorie Isolierung oder Weltlosigkeit. In Anlehnung an Husserl (und seinen Begriff der Intentionalität) hält er fest, »daß Bewußtsein, von Haus aus, […] immer von etwas ist, Gegenwärtigkeit von Welt, nicht vergegenständlichende Selbstreflexion auf der Jagd nach ihrem eigenen Ich-Schatten.«43 Verdoppelt wird der Weltverlust in der Konzeption des Unbewussten, die in der Betonung des freien Assoziierens lediglich einen romantischen »anti-intellektuellen Affekt« tradiert.44 Damit wird von Freud lediglich der Kontrollmecha 38 Vgl. ebd., S. 77. 39 Vgl. ebd., S. 77, 87–88. 40 Vgl. ebd., S. 79. 41 Vgl. ebd., S. 78. »Das ›Realitätsprinzip‹ verdeckte vieles, nichts aber ganz so entscheidend, menschlich verhängnisvoll, wie die Kritikbedürftigkeit, Veränderbarkeit jener realsten Realität: der Gesellschaft.« Ebd., S. 88. 42 Vgl. ebd., S. 84. 43 Vgl. ebd., S. 78. Wie sich v. a. in den Passagen über Binswanger zeigt, ist der von Sonnemann hier verwendete Weltbegriff stets über Heidegger (und dessen Kritik phänomenologischer Wesensschau – ›Guckkastenmetaphysik‹) vermittelt – und zielt zuletzt auf eine Welt der gesellschaftlichen Konkretion – bei Binswanger: ›koinonia‹. Vgl. ebd., S. 101, 112, 130–131. 44 Vgl. ebd., S. 81. In Freuds »vernunftlosen Es« erkennt Sonnemann Schopenhauers Metaphysik des Willens wieder, das mit Hilfe der introspektiven Methode als »unspontan,
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nismus des Ich durch eine Abstraktion der Zwanglosigkeit konterkariert. Es handelt sich bei ihr um eine Abstraktion, weil sie im Modus der Assoziation nicht imstande ist, einen Weltbezug herzustellen. Entsprechend wird der eigentliche Stellenwert der Spontaneität verkannt. »Vorbedingung glückender Existenz ist die Spontaneität voller Aufmerksamkeit für die Welt […].«45 In ihr lebt eine Ahnung freier, utopischer Rationalität eines Wachseins, nicht des Schlafens oder Träumens. Tatsächlich ist das »Libido-Objekt« des Menschen »immer ja, unter Menschen, ein Mensch«.46 Das Selbst, das nicht in seinen Weltbezügen, sondern nur in seiner Isolation erfasst wird, korrespondiert dagegen mit einem anthropologischen Modell – Sonnemann bezeichnet es öfters als eines der »Hysterie« –, das sich wie in einen »Zauberkreis« in sich abschließt, die gesellschaftlichen Zwangsmechanismen in ihre Strukturen übernimmt, die erforderlichen Anpassungsleistungen als Normalitäten verharmlost und das Potenzial verändernder Praxis marginalisiert.47 Liegt im marxistischen Geschichtsdenken eine »Kanalisierung der Zukunft«, so wird der Freud’schen Psychoanalyse attestiert, die »Vergangenheit zu entdämmen«.48 In beiden Fällen gelingt es aber nicht wirklich, den Weg ins Freie zu bahnen – wie es sich vielleicht in ihrem gemeinsamen Bild, in der Projektion ineinander, andeutet. Es gelingt nicht, denn der von Marx planierte Kanal ist allzu geradlinig geraten, während Freud selbst einen künstlichen Damm gegen die menschliche Spontaneität errichtet hat.49 Ihn gelingt es erst einzureißen, wenn eine »Vergegenwärtigung« der »in uns fortarbeitenden Vergangenheit«, ihrer Verfälschungen und Verdrängungen, erreicht wird.50 Anders gesagt, gilt es, die Vergangenheit ›durchzuarbeiten‹, damit die menschliche Natur als selbst schon gesellschaftliche gedacht werden kann, die der Zukunft nicht länger vorschreibt, wie sie zu sein hat.51 Erst dann kann sich eine Zukunft entwerfen – im Sinne einer Praxis, die ihr Utopisches bereits auf ihrem Weg weltlos« und doch »für die Wirklichkeit eines Unbewußten gehalten wird, […] als organisierte es sich auch unbeobachtet assoziativ, statt im Bewußtsein zum Denken. Daß dieses, Quintessenz schlechthin des Spontanen, gerade die hemmende Gegenmacht zu ihm sei, war ein Vorurteil […].« Vgl. ebd., S. 80, 81. 45 Ebd., S. 82. 46 Vgl. ebd., S. 91. 47 Vgl. ebd., S. 74–75, 82. In diesen Kontext gehören auch die Kritik des Freud’schen »Patriarchalismus« und ein gewisser Autoritarismus in der nicht fallibilistisch aufgestellten psychoanalytischen Deutungstheorie. Vgl. dazu ebd., S. 71. 48 Vgl. ebd., S. 91, 29. Vgl. auch ebd., S. 61. 49 Vgl. ebd., S. 93. 50 Vgl. ebd., S. 91. 51 Vgl. ebd., S. 93.
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umsetzt.52 Eine Formel dafür liegt in der »Spontaneität von Vernunft«, die zu ihrer geschichtskritischen Dimension eine klinische hinzufügt bzw. »das Phänomen von Neurose selbst schon als Politikum perzipiert«.53
9.2 Ideal und Verneinung Negative Anthropologie begreift sich nach Sonnemann »nicht bloß als Negativität theoretischer Bestimmungen, sondern als bestimmte Negation in erhoffter geschichtlicher Praxis.«54 Sie zerstört zugleich Ideologien und in der menschlichen Natur verfestigte Mechanismen, die »die Abwesenheit des Humanen« dokumentieren.55 Eben weil negative Anthropologie jedem fixierten Menschenbild ablehnend gegenüber steht, gelingt es ihr, die Humanität zu wahren. »Daher ist die Wahrheit negativer Anthropologie […] die ihres Werdens; es findet sich in der Geschichte für ihre Sache kein plausibles Modell.«56 Mit diesen wenigen Sätzen könnte der Eindruck entstehen, dass sich negative Anthropologie in wesentlichen Punkten von entscheidenden Anthropologietraditionen distanziert, weil sie sich konsequent kritisch dort platziert, wo mit Pathos und Emphase Aussagen über das Wesen des Menschen getroffen werden. Aus meiner Sicht gelingt ihr das nur zum Teil, und dies durchaus auch zu ihrem Nachteil. Hinzu kommt, dass die Rede vom Wesen des Menschen Fragen aufwirft, z. B. inwiefern es überhaupt als bestimmbar gedacht worden ist oder werden kann. Wenn vom Menschen als vernünftigem Tier gesprochen wird, so geht es zumeist darum, in der Vernunft ein Wesen auszumachen, das gerade nicht einfach ›festgestellt‹ werden kann. In gewissem Sinn ist sie immer schon »exzentrisch« – und auch als exzentrisches Wesen steht der Mensch be-
52 Vgl. zu den Minimalbedingungen eines positiven Entwurfs ebd., S. 235, 321. Selbst Marx’ »Ideenmotiv, die Zukunft zu kanalisieren« behält nach Sonnemann »über alle Defekte seiner Ausführung hinaus seine weiterwirkende Wahrheit«. Ebd., S. 91. 53 Vgl. ebd., S. 249, 319. Im Nachwort zur 2. Ausgabe kommt Sonnemann folgerichtig auf die »Irritationen« zu sprechen, die von Guattari und Deleuze und von ihrem gemeinsam geschriebenen Buch Anti-Ödipus (1972) ausgehen und die »zuletzt nur Gewinn haben«. Ebd., S. 370. 54 Vgl. ebd., S. 245. 55 Vgl. ebd., S. 258f. 56 Ebd., S. 322.
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kanntlich noch im Mittelpunkt einer philosophischen Anthropologie.57 Daher lässt sich die Kritik an der Einlösung des Anspruchs der negativen Anthropologie auch nicht klar von einer Kritik ihres Anspruchs selbst trennen. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen liegt darin, die fortbestehende anthropologische Tradition im Vorgehen Sonnemanns kenntlich zu machen. Wie schon der Titel zum Ausdruck bringt, bleibt auch negative Anthropologie auf Anthropologie fixiert. Damit verbindet sich die eher implizit bleibende These von ihrer Unersetzlichkeit, die mit der (und sei es: utopischen) Stellung des Humanen, seiner Abwesenheit und seines Wirklich-Werdens, zusammenfällt.58 Ebenso wird die kritische Position in der Negativität justiert, die sich nicht innerhalb der Geschichte, sondern lediglich an ihrem utopischen, nicht erreichten Ende radikal lokalisieren lässt. Der Intuition, dass sich der Mensch noch nie verwirklichen konnte, weil ihm Anthropologien im Wege standen, die ihn erniedrigten, knechteten, mit sich entzweiten, weshalb die primäre Ausrichtung auf den Menschen als Idee abzielen muss, steht eine andere entgegen, die seine Misere noch mit den Diskursen verbindet, die seine Befreiung im Sinn hatten und haben, nicht nur als positive Doktrinen vom Menschen, sondern auch in ihrer prinzipiellen Orientierung an der sogenannten Humanität. Damit ist nicht gesagt, dass Sonnemann kein kritisches Verhältnis zum Humanismus in seiner idealistischen Ausprägung unterhält. Seine Kritik an einem idealistischen Modell der Anthropologie ist zunächst einmal klar formuliert. Was sich dabei als halbherzig erweist, hängt mit seinem Verständnis der anthropologischen Wissensgeschichte zusammen. Aus meiner Sicht liegt eine wesentliche historische Erkenntnis gerade darin, zwischen den angeblich streng geschiedenen Anthropologie-Stadien (Vernunft – Entwicklung – Leben) Kontinuitäten wahrzunehmen.59 Erst eine Perspektive auf die sich innerhalb des historischen Kontinuums durchhaltende anthropologische 57 Vgl. Plessner, Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 288–293. Vgl. Helmuth Plessner, »Homo absconditus« [1969], in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt a. M. 2003, S. 353–366. Es geschieht regelmäßig im anthropologischen Diskurs, dass eine im Gebiet der menschlichen Natur abwesende Vernunft regiert, indem sie Hierarchien und Ordnungen etabliert, die nicht zuletzt im Namen kolonialer Strukturen kritisch zu adressieren sind. 58 Festgehalten wird, »daß das Unwahre am Idealismus nie eine humanistische Hochschätzung der kritischen Spontaneität von Bewußtsein war […].« Sonnemann, Negative Anthropologie, a. a. O., S. 263. Aus meiner Sicht könnte der Unersetzlichkeit der Anthropologie ihre Substituierbarkeit entgegengesetzt werden. 59 Vgl. Rölli, Kritik der anthropologischen Vernunft, a. a. O., S. 18–35.
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Vernunft macht eine Kritik möglich, die ihre Einbindung in die Themenkomplexe des Rassismus, der Gender-Problematik und der Geo- bzw. Biopolitik analysieren – und damit zugleich an die aktuellen Forschungszweige der postkolonialen Studien, des Feminismus und der Kritik neoliberaler Kapitalismen anschließen kann. Sonnemann registriert einzelne Aspekte, z. B. Zusammenhänge zwischen romantischen und lebensphilosophischen »Beschwörungen«, die er in der vitalistischen Grundierung der neueren philosophischen Anthropologien nach Driesch herausstreicht.60 Die Unterscheidung idealistischer und positivistischer Ansätze ist bei ihm aber nicht nur vordergründig stets wichtiger – und die naturphilosophischen Ausarbeitungen der Anthropologie gerade in den idealistisch bestimmten Philosophierichtungen (bei Schelling, Fries und Hegel und in den schulbildenden Auswirkungen, die sie hervorrufen) bleiben unbeachtet. Der abwesende Mensch steht nach Sonnemann für ein weiterhin idealistisches Konzept der Humanität, das in problematischer Art und Weise seine negative Anthropologie infiltriert. Problematisch sind die impliziten hierarchischen Verhältnisse, die mit ihm in anthropologische Themenfelder eingeführt werden, ohne dass dies überhaupt bemerkt werden würde. Eine Weiterführung der idealistischen Tradition lässt sich leicht dort erkennen, wo nach gängigen Mustern Mensch von Tier, Welt von Umwelt oder auch Wachen von Schlafen unterschieden wird.61 In all diesen Fällen wird eine Position von »Identität« registriert, die sich im Kontext des ›ganzen Menschen‹, seiner Einheit von Natur und Geist, selbst in den rassenanthropologisch eigentlich berüchtigten Feldern von Physiognomie und Charakter artikuliert.62 60 Sonnemann rekurriert auf kybernetische, informationstheoretisch konzipierte Organisationslogiken, die »der Driesch’schen Entelechie, aller lebensphilosophischer Mystifikation, die vom teleologischen Prinzip gerade als einem von Natur träumt, den Garaus« machen. Vgl. Sonnemann, Negative Anthropologie, a. a. O., S. 247. Vgl. ebd., S. 318, 212, 125. Mit Haraway könnten etwas vorsichtiger zwei radikal unterschiedene kybernetische Modelle auseinandergehalten werden. Vgl. Haraway, Neuerfindung der Natur, a. a. O., S. 176–186. 61 Vgl. Sonnemann, Negative Anthropologie, a. a. O., S. 106, 110, 131. Sonnemann spricht von einem anthropologisch Bestimmenden des Menschen (gemeint sind Sprache und Erkenntnis) im Unterschied zum Tier als »Gesetz [eines] Privilegiums«. Vgl. ebd., S. 259. 62 Vgl. ebd., S. 209. Es ist schon erstaunlich, wie unbedarft Sonnemann auf den anthropologisch immer wieder beanspruchten ›Charakter‹ zu sprechen kommt – in einer Wendung, die an Hegel erinnert und auf eine objektive Entwicklung (von Mensch, Kultur oder Zivilisation) spekuliert: »Es sind solche [objekthaften Bestimmungen menschlichen Wesens, die ein bestimmtes Potential von Freiheit repräsentieren] einerseits von Naturwüchsigkeit, anderseits der Geschichtsspur des Willens in seiner erinnernden
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Hier rächt sich die Ignoranz bezüglich der philosophischen Bestimmungen auch der Anthropologiegeschichte des 19. Jahrhunderts. Hier wie dort dominiert »der moralische Charakter« die Entwicklungslogik des ›natürlichen‹ Menschen.63 Es reicht nicht aus, im Rekurs auf Freud den »Pflichtkult« in den verfestigten Normen eines kulturell sedimentierten Über-Ichs gegen ein Gewissen zu stellen, das seinen naturwüchsig-spontanen Impulsen folgt.64 Tatsächlich spiegelt sich in der (traditionell belasteten) Verklammerung von Anthropologie und Ethik die privilegierte Auszeichnung einer Vermittlungsebene, auf der es möglich scheint, die spezialistisch auseinanderfallenden Bereiche des Menschenwissens integrativ zu vereinheitlichen.65 Dieser Anspruch verbindet sich mit dem utopischen, der es erlaubt – trotz aller an Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung geschulter Kritik der Retro spektivität – an einem Begriff der Geschichte kontrafaktisch festzuhalten.66 Die negative Idee, die sich der realen (und anthropologisch bestimmten) Verneinung des Menschen entgegensetzen lässt, ist selbst eine sublimierte anthropologische, die ihrer eigenen Geschichte nicht zu entkommen vermag. Dies ist auf ›mechanismuskritischer‹ Seite besonders auffällig, wo menschliche Natur als problematisch getrimmte zum Thema wird. Das Resultat des ›dehumanisierenden‹ anthropologischen Trainings ist nach Sonnemann ein Massenmensch, der immer gleichen Routinen unterliegt, Stereotypen, die sich (am Beispiel der US-amerikanischen Psychometrie) aus seiner Standardausmessung ergeben und durch stetige konformistische Anpassungsbemühungen bzw. »human engineering« eine allgemeine Mittelmäßigkeit reproduzieSelbstbegegnung, also der Objektivität des Charakters; beides ist dort, wo Autonomie von Vernunft biographisch schon weiter gediehen ist, ineinander verschlungen, nicht über- oder nebeneinander. Das gilt, wiewohl vermittelter, für Gruppen, Gesellschaften, wie für Individuen.« Ebd., 244 [Herv. MR]. Vgl. weiter ebd., S. 124, 215, 245, 259. 63 Vgl. ebd., S. 320. Es ist bezeichnend, dass die Nichtbeachtung der hierarchischen Implikationen in der philosophischen Anthropologie des 19. Jahrhunderts ihre beginnende kritische Revision innerhalb der spezifisch modernen Geschichte der Ethnologie seit Boas und Malinowski unberücksichtigt lässt. Der ganze Bereich der Völker-, Rassenund Kulturanthropologie bleibt für Sonnemann außer Sichtweite. 64 Vgl. ebd., S. 182. Tatsächlich wäre es umgekehrt viel interessanter, z. B. in Freuds Totem und Tabu die anthropologischen Denkweisen zu analysieren, die zwischen ›Primitiven‹, Kindern und Neurotiker*innen Entwicklungsparallelen behaupten. 65 Vgl. ebd., S. 203. 66 Sonnemann will auf eine Verbindung »zwischen der Negativität des Begriffs und der Realdialektik« nicht ganz verzichten, denn dies würde bedeuten, »auf Geschichte selber verzichten«. Vgl. ebd., S. 246. Zu Nietzsches Abhandlung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben siehe S. 255–259.
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ren.67 »Manipulismus« lautet die wahrscheinlich wichtigste Zielscheibe dieser Kritik.68 Die Vielen scheinen zu funktionieren wie Unterworfene, die sich den Vorgaben der herrschaftlichen Eliten ohnmächtig oder wie hypnotisiert beugen. An manchen Stellen greift Sonnemann Heideggers »Man« auf, auch wenn er der ›eigentlichen Existenz‹ polemisch gegenübersteht. Dennoch hält er an einem positiven Begriff des (kritisch-engagierten) »Einzelnen« fest, an der Idee einer nicht kompromittierten Elite, an der Diagnose vom Verfall der (bürgerlichen) Öffentlichkeit oder auch am Gedanken besonderer Begabung, die durch die Mechanismen der Standardisierung zugrunde gerichtet wird.69 »Etwa der Elitebegriff ist in einer Gesellschaft von elitärer Ideologie zu zerstören, der des Elitären in anti-elitärer [Ideologie = Mittelmäßigkeit; MR] […] genauso: durch die Kritik seiner Ideologisierung hindurch […] bewahrt der Elitebegriff sein relatives historiographisches Recht. Unbekümmert um die Dummheit von Tabuierungen […] heftet er sich an die Spuren von [unbestechlichen] Einzelnen […]. Da negative Anthropologie auf das Praktische hinauslaufen will, diese für perennisch geltenden Ausnahmen zur gesellschaftlichen Regel zu machen, darf sie auf deren Modelle aus anfangsgeschichtlicher Zeit nicht verzichten.«70
Die Ausnahmemenschen, unabhängige »einzelne Denker: […] Philosophen oder Guerilla-Krieger […]«, stehen den Massenmenschen gegenüber, sind spontane Wesen, die mit dem »Typus, der die inkarnierte Mechanik ist, kol 67 Vgl. ebd., S. 185. Zur Vermessung des Menschen bedient sich die Psychotechnik des Intelligenztests und damit eines statistischen Durchschnitts, der Mittelmäßigkeit produziert – und den Menschen nur »vermißt […] insoweit er keiner ist, denn er ist Mensch nur als Person, und diese entzieht sich der Messung. […] Die Mediokrisierung […], als Reduktion des Menschen auf eine Stelle und Funktion im Betrieb, ist eine Gestalt der Entmenschlichung.« Ebd., S. 191. Historisch betrachtet dürfte es schwer fallen, die Entstehung des ›Durchschnittsmenschen‹ (des homme moyen nach Quetelet) von dem Auftauchen der revolutionären wie auch verblendeten Masse (nach Marx u. a.) fernzuhalten. Eine andere Möglichkeit besteht darin, hinter der Masse und ihren einzelnen Führungsgestalten eine Menge von Assoziationen (assemblages) wahrzunehmen, die die in Diskursen stattfindende Formierung von Massen nachvollziehbar machen. 68 Vgl. ebd., S. 227. 69 Vgl. ebd., S. 285, 194–195, 321. Der Begabte ist für Sonnemann »ein Verstoßener«, da er »auf jeden Fall« durch den Test fällt, dessen Maßstab ja das Mittelmaß sein muss. Vgl. ebd., S. 200. In anthropologiegeschichtlicher Sicht könnte hier an Nietzsches Galton-Kritik erinnert werden. Nietzsche lehnt es ab, die Ausnahme (oder Ausnahmebegabung) zur Verbesserung eines Durchschnitts zu gebrauchen. Sie fällt durch das Raster und steht nicht an der Spitze der Entwicklung. Auf diese Weise widerspricht sie einer repräsentativen Norm – und könnte womöglich einen Prozess des Minoritär-Werdens (im Sinne einer allgemeinen Pathologie) anstoßen. 70 Ebd., S. 284–285.
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lidieren«.71 Die Herkunft der Massentheorie aus der als spezialistisch bezeichneten Anthropologie bleibt Sonnemann ebenso unklar wie die Weitertradierung idealistischer Muster im Begriff der Elite als Ausnahme. Dieser Punkt wird in der von Sonnemann geforderten Reform der Psychometrie auf die Spitze getrieben, die sich nicht länger an der negativen Auslese der »Unterbegabten« orientiert, sondern »den Fokus des Testens auf die Auslese der Höchst- statt Niedrigstbegabten lenkte.«72 Selbst wenn sich das Wesen der Intelligenz (Person, Spontaneität) nicht messen lässt, so können doch (qualitative, nicht statistische) »denkpsychologische« Kategorien (nach Max Wertheimer) in den Testverfahren sinnvoll zur Anwendung kommen.73 Wieder ist der Mensch Modell, der seine Freiheitspotenziale entfaltet und sein ganzheitlich vernünftiges Wesen, indem er dem Massendasein der Herde oder des Triebes entkommt und die bloß animalische Natur, seine unbewusste ideologische Lenkung hinter sich lässt. Dass es sich bei dem Bild der minderwertigen Masse – wie überhaupt in der Degradierung bestimmter menschlicher Charaktere als inferiore Existenzen: d. h. des anderen Geschlechts, der anderen ›Rassen‹, der anderen Anlagen und Dispositionen – um einen strategischen (und im Kern antidemokratischen) Kontrast zu dem konstruierten Idealmenschen handelt, der ohne ihn nicht denkmöglich wäre, das wird von Sonnemann nicht weiter hinterfragt. Dennoch gibt es Tendenzen, die dem Idealismus auch in seiner sublimierten Form bei Sonnemann entgegenstehen. Dies gilt bereits für die Vehemenz, mit der der Primat der Praxis – und damit verbunden: eine im Prinzip restlose Verschränkung gesellschaftlicher und seelischer Aspekte – verteidigt wird. Sie macht es zudem erforderlich, in gewissem Sinne über Marx und Freud hinauszugehen. Schließlich kommt es Sonnemann auf einen (revolutionsfreudigen) anthropologischen Minimalentwurf an, mit dem Zukunft im Sinne der »[m]enschenmöglichen« Freiheit (ohne positive Festlegungen) wirklich antizipiert werden kann.74 Der Begriff des Entwurfs verweist auf weitere philosophische Anleihen, von denen die Bezüge auf die Phänomenologie und 71 Vgl. ebd., S. 285. 72 Ebd., S. 201. 73 Vgl. ebd., S. 201–202. 74 Vgl. ebd., S. 322, 321. »Als Negation des Bestehenden ist die Praxis solchen Entwurfes Kritik […].« Ebd., S, 235. Der Begriff des »Menschenmöglichen« wird auf die Arbeiten Herbert Marcuses bezogen, die aus Sonnemanns Sicht für die 68er »politische Praxis […] in seiner studentischen Opposition« maßgeblich war. Vgl. ebd., S. 322. Noch das Motto der Negativen Anthropologie – »L’imagination au pouvoir!« – platziert das Buch im Vorfeld einer (weiterzuführenden) revolutionären Bewegung.
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auf den Pragmatismus besonders relevant sind. Während jene für einen stärkeren Weltbezug der Psychoanalyse herangezogen wird, steht dieser für einen geschichtsphilosophisch aufgeklärten Praxisbegriff.75 Und sie arbeiten auch insofern zusammen, als sie in Sonnemanns Gebrauch bestimmter für ihn zentraler Begriffe unverzichtbar hineinspielen: Situation, Orientierung, Zeitbezüge, Offenheit, Werden, Spontaneität, Phantasie. Gerade die pragmatistische Kritik »totaltheoretischer« Ansprüche, die vor dem Hintergrund eines situierten Denkens mitsamt seiner »zeit-perspektivischen Implikationen« erfolgt, bietet Sonnemann ein gesellschaftliches wie gesellschaftsveränderndes Praxisverständnis an, das selbst eine minimale Positivität (womöglich nicht-anthropologischen Typs) in Anschlag bringt.76 Es steht damit in einem Spannungsverhältnis zu einer rein negativistischen Orientierung. Der »Pragmatismus«, so Sonnemann, »nähert sich in seinen Denkern […] der Einheit von Theorie und Praxis revolutionärer […] als Marx.«77 »Weiterentwicklung der kritischen Theorie hängt daher vor allem jetzt davon ab, daß sie dem Pragmatismus sich beherzter, unter Integration seines Wahrheitsmoments, exponiert […].«78 Und dieses Lob des Pragmatismus steht unmittelbar neben der Ablehnung von »Deutungen der condition humaine, wie sie von Schelling bis
75 Die Phänomenologie kann »als philosophische Rektifikation […] der Psychoanalyse« dienen, wie Sonnemann an Binswangers Arbeiten nachweist. Vgl. ebd., S. 98. An der von Sonnemann geübten Kritik der Phänomenologie fällt auf, dass er ihre quasi strukturalistischen Transformationen kaum beachtet. Heideggers Lehre von der »Seinsvergessenheit« wird ein einfacher Praktikalismus entgegengestellt, der mit den Weltanalysen aus Sein und Zeit vereinbar scheint. Vgl. ebd., S. 102. Bei Merleau-Ponty wird ausgiebig das frühe Buch Humanismus und Terror (1947) besprochen, während die späteren Kritiken (und Selbstkritiken) z. B. der Hegel-Marxschen Geschichtsphilosophie oder auch Sartres in Die Abenteuer der Dialektik (1955) gänzlich unberücksichtigt bleiben. Vgl. ebd., S. 280–282. 76 Vgl. ebd., S. 232. Der gesamte Cusanus-Exkurs kann als eine praxistheoretisch motivierte Abkehr von totaltheoretischen, metaphysisch-dogmatischen Weisen zu philosophieren angesehen werden. Vgl. ebd., S. 141–163, besonders auch den James-Bezug auf S. 146. Im Kapitel über »kartesianische Erbschaft« steht ein pragmatistisch verändertes Konzept des Zweifelns im Mittelpunkt, das bereits bei Charles S. Peirce für die Ablehnung der metaphysisch-apriorischen Methode zentral war. Vgl. ebd., S. 164ff. 77 Vgl. ebd., S. 269. 78 Vgl. ebd., S. 252. Trotz dieser deutlichen Aussagen bleibt Sonnemann selbst noch halbherzig, sofern er James’ Pragmatismus zunächst einmal auf den cash value beschränkt (d. h. die Handlungskontexte von Bedeutungen in einem alltäglichen Rahmen und nicht in einem revolutionären lokalisiert), die Instrumentalismus-Kritik (Horkheimer vs. Dewey) aufrecht erhält und zuletzt noch die anthropologische Mensch-Tier-Differenz à la Gehlen (auch dies gegen den Pragmatismus) geltend macht. Vgl. ebd., S. 251–255.
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Scheler deutsches Denken hervorbrachte […].«79 An Scheler wird die »implizite Gleichsetzung« der biologisch-genetischen Anlage des Menschen und ihrer geschichtlichen »Selbstverwirklichung« kritisiert, an Gehlen sein »Regressionstraum« von »Institutionsherrschaft«, die von authentischem Handeln entlastet.80 »Sie ist die Spottgeburt aus dem Dreck der ersten Jahrhunderthälfte, der den Menschen, die sie entmenschte, immer noch so rundum am Gemüt haftet, daß es entschlossen ihn [sic!] für seinen Horizont hält« – und gänzlich unfähig ist, »sein eigenes Sediment« zu durchbrechen. Das pragmatistisch inspirierte situierte Denken der Praxis operiert mit einem Konzept der differentiellen Sozialität, das die »Hybris anthropologischer Modellsetzungen« in einer gesellschaftlichen Positivität verortet – »Abstraktionen aus […] der sedimentierten Kultur« –, die selbst aus einer »genetischen Innenstruktur« hervorgeht, die von ihr unablösbar ist.81 Die ›genetische Innenstruktur‹ bezeichnet einen gleichsam mikrosoziologischen Entstehungsprozess einer verkrusteten Gesellschaft, der selbst nicht nach den positiven Abstraktionen modelliert ist, weshalb er eine Gegeninstanz gegen diese (gegen den Historismus des 19. und gegen den Manipulismus des 20. Jahrhunderts) bezeichnet.82 An mehreren Stellen spricht Sonnemann dezidiert von »immanenter Kritik«, die einer genealogischen insofern näher rückt, als sie »das Kriterium von Erfahrungsprozessen« in ihrer »gesellschaftliche[n] Wahrheit« ausmacht – und damit innerhalb von »Geschichte«.83 Zweifellos aber ist seine (an Freud geübte) Kritik an der Assoziation an eine personal verankerte Rationalität gebunden, deren Idee sich allein in der wahren Humanität manifestieren kann – und die ihre Verhinderung in defizitären Verhältnissen (z. B. manipulierter Massen) wiederzuerkennen glaubt.84 Über seinen Schatten soll der Mensch springen, sich selbst überraschen – nämlich wohl darin, einmal nicht überrascht zu sein, sondern sich selbst gegenwärtig.85 79 Vgl. ebd. 80 Vgl. ebd., S. 248–249, 252, 183, 296–297. 81 Vgl. ebd., S. 295. 82 Vgl. ebd., S. 296. 83 Vgl. ebd., S. 298. 84 Vgl. ebd., S. 81. 85 Vgl. ebd., S. 254. »Vergegenwärtigung ist Spontaneität […].« Ebd., S. 307. Durchgängig votiert Sonnemann für eine Erinnerungsarbeit, die in Anlehnung an Hegel und Freud Bewusstseinsmängel zu korrigieren versteht, die etwa bei der Ausschaltung des Urteilsvermögens durch Propaganda oder Werbung vorliegen. »An solchen Fällen aus der politischen Wirklichkeit springt die Schlüsselstellung erinnernder Einbildungskraft für die Revolutionierung der Menschen ins Auge.« Ebd.
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Die Kontroverse um das Gemälde Open Casket von Dana Schutz, das 2017 auf der Whitney-Biennale in New York gezeigt wurde, wirft ein helles Licht auf zeitgenössische Problemfelder politischer Kunst. Es basiert auf einer Fotografie des Begräbnisses von Emmett Till, einem 14jährigen afroamerikanischen Jungen, der von Weißen im Jahr 1955 brutal ermordet und dann ein Symbol der schwarzen Bürgerrechtsbewegung wurde. Hannah Black schrieb den Kurator*innen in einem offenen Brief: »The painting should not be acceptable to anyone who cares or pretends to care about Black people because it is not acceptable for a white person to transmute Black suffering into profit and fun, though the practice has been normalized for a long time. Although Schutz’s intention may be to present white shame, this shame is not correctly represented as a painting of a dead Black boy by a white artist.«2
Diese Kritik, die die Kontroverse auslöste, bewegt sich inmitten der beschriebenen Problemfelder. Einerseits existieren soziale Ungleichheiten, die auf kolonialen wie auch patriarchalen Strukturen beruhen. Andererseits sind diese Ungleichheiten keine ewigen Wahrheiten: sie müssen zwar wahrgenommen, dürfen (und sollen) aber auch kritisiert werden. Politische Kunst mag diese kritische Funktion haben, wenngleich ihre Einbindung in wiederum ungleiche Verhältnisse des Kunstmarkts diese Funktion auch assimiliert.3 Weder müssen daher wohlmeinende Intentionen (einer soziale Verantwortung reklamierenden Kunst) überzeugen noch ist die soziale Differenzierung nach festen Gruppen- oder Charakteridentitäten einfach hinzunehmen. Eine situierte Perspektive ist nicht deshalb unhintergehbar, weil sie kulturell oder nach strikter Einteilung nach ›Ethnien‹ vererbt wird. Vielmehr durchschneidet sie 1 Dieses Kapitel fußt auf Überlegungen zu Carla Lonzi, die durch die von Ilse Lafer im Museion in Bozen 2019 kuratierte Ausstellung »Doing Deculturalization« angeregt wurden. Sie finden sich in anderer Form in: Ilse Lafer (Hg.), Deculturalize, Milano 2020. 2 Hannah Black, https://news.artnet.com/art-world/dana-schutz-painting-emmett-till- whitney-biennial-protest-897929 (zuletzt geöffnet am 04.06.2020). 3 Vgl. David Joselit, After Art, Princeton University Press 2013, S. 85–96.
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immer schon die wohl sortierten Bereiche und knüpft schräge und überraschende ›intersektionale‹ Verbindungen, wo Dinge in Bewegung geraten. Die Frage der Positionierung stellt sich im feministischen Denken ebenso wie im postkolonialen. Allerdings verweist die Differenz nicht auf einen ontologischen Unterschied der Geschlechter (bzw. der sogenannten Rassen), sondern auf eine historische Diskriminierung – oder anders gesagt: auf eine (nicht quantitativ aufzufassende) Minorität. Im Rekurs auf erstens Carla Lonzi und zweitens bell hooks wird die historische Diskriminierung der Frau auf den traditionellen Diskurs der Anthropologie bezogen und die postanthropologischen Qualitäten der von ihnen ins Feld geführten ›Befreiungsstrategien‹ herausgestellt. Eine Minorität entzieht sich ihrer historisch verfestigten Bestimmtheit, wenn sie die Position untergräbt, die ihr diese Bestimmtheit verliehen hat. Sie beginnt dann damit, auf unerwartete Weise zu existieren, nicht in den vorhersehbaren Bahnen einer patriarchalen Majorität und ihrer normativen Vorgaben. Dabei handelt es sich, mit anderen Worten, um Prozesse des Minoritär-Werdens.
10.1 Carla Lonzis nicht-anthropologische Unterscheidung von Frau und Mann Nach Carla Lonzi und ihrem ›differenzfeministischen‹ Theorieansatz ist »[d]er Unterschied zwischen Mann und Frau […] der grundlegende Unterschied innerhalb der Menschheit.«4 Bei ihm handelt es sich um »ein existentielles Prinzip«, das sich auf divergierende »Seinsweisen« oder Erfahrungen bezieht – und »die genuinste weibliche Erfahrung« deutet auf einen »umfassenden Entwertungsprozeß der männlichen Welt«.5 Erst das Insistieren auf der sexuellen Differenz entspricht ihrer Widerstandsforderung und damit ihrer Auffassung dieser »Krise«, keineswegs sich – und mit ihr die Frauen – in eine männlich dominierte Welt zu integrieren.6 Diese Welt zeichnet sich durch eine »patriarchalische Struktur« und damit zugleich durch eine spezi 4 Carla Lonzi, »Wir pfeifen auf Hegel« [1970, 1974], in: dies., Die Lust Frau zu sein, übers. v. Sigrid Vagt, Berlin 1975, S. 5–34, hier S. 6. Im italienischen Original lautet der Titel »Sputiamo su Hegel« und wird ins Englische mit »Spit on Hegel« übersetzt. 5 Vgl. ebd., S. 6, 5. 6 Vgl. ebd., S. 15.
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fische Einordnung ›der Frau‹ in diese Struktur aus.7 An diesem Punkt könnte auch für ›Männer‹ ein Motiv liegen, sich mit Lonzis Überlegungen auseinanderzusetzen. Sollte ihnen nicht die patriarchale Struktur Kopfzerbrechen bereiten?8 Und doch machen sie andere Erfahrungen mit kulturellen Standards – und vielleicht sogar, pointiert gesagt, mit Privilegien, die sie in autoritäre oder radikalegoistische Positionen von Karriere, Sucht und (Schein-) Dominanz zwingen (wollen)? Die hier eingenommene Perspektive einer Rekonstruktion der feministischen Perspektive von Carla Lonzi orientiert sich an ihren (impliziten) anthropologiegeschichtlichen Bezügen. Keine Wiederholung des Selben, die von Kritik entlasten könnte, sondern eine affirmative (und minimale) Verschiebung. Ob dies bereits ein Problem ist – die männliche Verwertung einer weiblichen Sicht? –, das müssen andere entscheiden. Es dürfte jedenfalls kaum sinnvoll sein, die Verschiebung zu leugnen und auf diese Weise die Differenzen in einer machtbewusste Strategie der Aneignung auf- oder untergehen zu lassen. Die radikale Geschlechterdifferenz artikuliert eine grundsätzliche Verweigerung, eine Art ›empowerment‹. Nach Lonzi gibt es ein anderes Geschlecht – und nicht nur (maskulin definierte) Ideen seiner Andersheit. Ihr geht es darum, für die Frau eine aktive Position zu reklamieren, die in der patriarchal strukturierten Kultur nicht vorgesehen ist. Aber ihre feministische Kritik geht noch einen entscheidenden Schritt weiter. Denn es ist nicht das traditionelle, am Mann orientierte Subjektivitätskonzept, das sie (auch) für die Frau geltend macht.9 Die geläufigen Emanzipations- und Gleichstellungsmodelle sind selbst ein Problem. In der durch Ablehnung charakterisierten Auseinandersetzung mit Hegel geht es um diesen Punkt – und damit um ein philosophisches Erbe im Aufklärungs- und Befreiungsdiskurs ihrer Gegenwart. In Hegels Text finden sich die aus feministischer Sicht unhaltbaren Festlegungen, die noch in der marxistisch interpretierten Frauenbewegung unreflektiert weitertradiert werden. Lonzi erläutert dies in aller Schärfe, wenn sie die Logik des dialektischen Verfahrens selbst zurückweist: »In einer Lebensweise, die nicht durch den patriarchalischen Charakter domi 7 Vgl. ebd., S. 6, 27. 8 Wie immer ›wir‹ uns zu dieser Frage ins Verhältnis setzen wollen: Carla Lonzi warnt »die männlichen Beobachter« davor, sich »einzumischen« und die feministische Bewegung »zu ihrem Studienobjekt zu machen«. Ebd., S. 30. 9 Hier radikalisiert sie die ›klassische‹ feministische Position von Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, a. a. O., S. 12–17, 25–26.
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niert wird, verliert die triadische Konstruktion ihre Stütze in der menschlichen Psyche.«10 Damit ist die Frage aufgeworfen, um die es im Folgenden gehen wird. Sie hat auch in Lonzis Überlegungen zentrale Bedeutung. Woran scheitert die marxistische Politik aus feministischer Sicht? Wie kommt es, dass noch Marx, Engels oder Lenin nicht imstande sind, die patriarchale Struktur aufzulösen? An welchen Punkten gilt es anzusetzen, um diese Ohnmacht zu durchbrechen bzw. die ›männliche Welt‹ zu »dekulturalisieren«?11 Diese Fragen sind in ihrem Kern eine einzige. Sie laufen darauf hinaus, die Unterscheidung von Frau und Mann zu verwenden, um die nur scheinbar geschlechtsneutrale, traditionell konstruierte Identität des menschlichen Subjekts auf unnachgiebige Weise als ein nicht nur theoriegeschichtliches Problem herauszustellen.12 Damit platziert sich die Frage im Kontext der ›Nach68er Jahre‹: im Bewusstsein der sexuellen Differenz die (neo)marxistischen Konzepte der Subjektivierung zu konterkarieren.13 Eine »Lücke im Marxismus« sieht Lonzi in der Unterordnung des Frauenproblems (und der Geschlechterdifferenz) unter das Klassenproblem, das nach dem Muster des dialektischen Verhältnisses von Herr und Knecht strukturiert ist.14 Sie ist nicht einfach dadurch zu füllen oder zu stopfen, dass auch Frauen in die Position des Knechts bzw. des Arbeiters einrücken. »Das Frauenproblem wieder in den Zusammenhang der Konzeption eines Kampfes zwischen Herr und Knecht, wie es die Konzeption des Klassenkampfes ist, 10 Vgl. Lonzi, Hegel, a. a. O., S. 11. Es ist eindeutig, dass die Redeweise von der ›triadischen Konstruktion‹ auf das philosophisch-dialektische Verhältnis der logischen Vermittlung (These, Antithese, Synthese) Bezug nimmt, das Hegel in eine gleichsam vollendete Form bringt. 11 Vgl. zum Begriff der »Dekulturalisierung« ebd., S. 25. 12 Lonzi spricht zu Beginn ihres Textes vom »Frauenproblem«: »Das Frauenproblem stellt alles in Frage, was der absolute Mann gemacht und gedacht hat […].« Ebd., S. 5. Vgl. auch ebd., S. 34. Das Frauenproblem ist nicht auf den Marxismus beschränkt. Lonzi spricht von »Gesellschaften des Privat- wie Staatskapitalismus«, die in beiden Fällen die Demokratie korrumpieren, weil sie das patriarchale Machtverhältnis am Leben erhalten. Vgl. ebd., S. 18, 30. Auch das Manifest von ›Rivolta Femminile‹ (1971) unterstreicht die primäre Bedeutung der sexuellen Differenz, in: Michaela Wunderle (Hg.), Politik der Subjektivität. Texte der italienischen Frauenbewegung, Frankfurt a. M. 1977, S. 65–69. 13 Vgl. Catrin Dingler, »Wir spucken auf die Genossen«, in: Meike S. Baader, Rita Casale (Hg.), Generationen- und Geschlechterverhältnisse in der Kritik: 1968 Revisited, Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 24, Bad Heilbrunn 2018, S. 94–119, hier S. 95. 14 Vgl. Lonzi, Hegel, a. a. O. S. 8.
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zu stellen, ist ein historischer Irrtum.«15 Das Frauenproblem ist grundlegender, weil es eine ganze Reihe impliziter Annahmen nicht nur der marxistischen Befreiungsideologie in Frage stellt. Zu diesen Annahmen zählen einseitig »homologisierte« Auffassungen von Eigentum, Macht, Anerkennung und Begehren ebenso wie Relationen zwischen Ökonomie und Kultur, die nach dem Modell von Basis und Überbau konzipiert sind.16 Lonzi geht auf Hegel zurück, um klar zu machen, dass die Differenz der Geschlechter »von der patriarchalischen Kultur nicht als menschliches Problem sondern als naturgegeben betrachtet wird.«17 Als natürliche Differenz entzieht sie sich quasi ›kategorial‹ einer möglichen historischen Aufhebung, die zugleich ›im Menschen‹ die subalterne Stellung der Frau korrigierte.18 Es wird daher entscheidend sein, ihre Naturalisierung zu rekonstruieren. In ihr liegt ein sozusagen kulturelles Moment, das den politischen Prozess blockiert. Auch die Anthropologie des »neuen Menschen« (nach Lenin) fußt auf einer im Grunde maskulin bestimmten conditio humana: der »Marxismus hat […] eine revolutionäre Theorie auf der Grundlage einer patriarchalischen Kultur entworfen.«19 Die Sonderstellung der Geschlechterdifferenz wird in der Philosophie Hegels durch die »Dialektik zwischen einem weiblichen göttlichen Prinzip und einem männlichen menschlichen Prinzip« definiert.20 In den Grundlinien der Philosophie des Rechts finden sich entsprechende Passagen im ersten Abschnitt der Ausführungen zur Sittlichkeit. In ihm wird die Familie behandelt – als die Gestalt des »natürlichen sittlichen Geistes«.21 Lonzi kommt es darauf an, Hegels Vorgehen nachzuvollziehen, der Frau in der Familie 15 Ebd. 16 Vgl. ebd., S. 28, 24. ›Dekulturalisierung‹ bezieht sich auf eine Kultur, die ausdrücklich nicht in den ökonomischen Verhältnissen ihren Grund findet. 17 Vgl. ebd., S. 8. 18 »Wenn Hegel den menschlichen Ursprung der Unterdrückung der Frau erkannt hätte, wie er den der Unterdrückung des Knechts erkannt hat, hätte er auch auf sie die Dialektik Herr/Knecht anwenden müssen. Und in diesem Fall wäre er auf ein ernstliches Hindernis gestoßen: […] im Verhältnis Frau – Mann gibt es keine Lösung, die den anderen eliminiert, also wird das Ziel der Machtübernahme hinfällig.« Ebd., S. 10–11. 19 Vgl. ebd., S. 17, 27, 9. »Keiner hat die Verirrungen der menschlichen Natur widerrufen«, nämlich die anthropologischen, die an einer ›Natur‹ die Unterschiede des empirischen Menschen (nach Geschlecht und Charakter, Pathologie und Erbgut etc.) festmacht. Vgl. ebd., S. 24, 34. 20 Vgl. ebd., S. 9. Vgl. dazu Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 328–342. 21 Vgl. Georg W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse [1820], Stuttgart 1970, S. 302–327 (§§ 158–181), hier S. 301.
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ihre Bestimmung zu geben. Zwei Aspekte sind dabei hervorzuheben: erstens ihre passive, sinnliche Natur und ihre Unfähigkeit, »die selbstbewußte Kraft der Allgemeinheit zu erlangen, durch die der Mann zum Staatsbürger wird«; zweitens ihre vollständige Einbindung in die Familienstruktur als substanzielle Grundlage jeder (über sie wesentlich hinausgehenden) historischen Entwicklung.22 An diese beiden Punkte knüpft Hegel eine Reihe weiterer, die sich auf die Ehe, das Eigentumsrecht und die Kindererziehung erstrecken. In allen Fällen regiert der Mann, indem er sich auf der Frau abstützt, die durch ihn »ihre Würde, Wert, Freude, Glück als Ehefrau erhalten soll«.23 Der »Archetyp des Eigentums« liegt nach Lonzi in diesem »emotionalen« Moment: »das Sexualobjekt [ist] das primäre vom Mann entworfene Objekt.«24 Ihre Antwort auf Hegel lautet konsequent: »Bruch mit dem patriarchalischen System auf dem Weg über die Auflösung der Institution der Familie durch die Frau.«25 Diese kritischen Überlegungen können in der Sache unmittelbar auf den anthropologischen Diskurs im philosophischen Idealismus bezogen werden. So behandelt Hegel das »Geschlechtsverhältnis« im anthropologischen Teil seiner Philosophie des subjektiven Geistes.26 Die Bemerkungen zur Frau bzw. ihrer besonderen Natur stehen damit in der von Kant eröffneten Tradition der anthropologischen Charakterlehre. Hegel begreift die Differenz zwischen Mann und Frau als einen »Naturunterschied« der Subjektivität, die zwar »mit sich einig [ist] in der Empfindung« oder im Gefühlsleben, die 22 Vgl. Lonzi, Hegel, a. a. O., S. 9. Hegel bestimmt den Unterschied der Geschlechter durch die (männliche) Aktivität und die (weibliche) Passivität. »Der Mann hat daher sein wirkliches substanzielles Leben im Staate, der Wissenschaft und dergleichen und sonst im Kampfe und der Arbeit mit der Außenwelt und mit sich selbst, so daß er nur aus seiner Entzweiung die selbständige Einigkeit mit sich erkämpft, deren ruhige Anschauung und die empfindende subjektive Sittlichkeit er in der Familie hat, in welcher die Frau ihre substantielle Bestimmung […] hat.« Hegel, Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 312 (§ 166). 23 Vgl. Hegel, Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 307 (§ 162). 24 Vgl. Lonzi, Hegel, a. a. O., S. 7. 25 Ebd., S. 27. Lonzi kann sich dabei auch auf einige frühe Texte von Marx berufen, wenn z. B. in der Deutschen Ideologie von der »Aufhebung der Familie« die Rede ist, weil sie eine erste Arbeitsteilung »im Geschlechtsakt« und eine erste Form des Eigentums bedeutet, sofern »in der Familie […] die Frau und die Kinder die Sklaven des Mannes sind.« Vgl. Marx, Engels, Deutsche Ideologie, a. a. O., S. 29, 31, 32. Allerdings bleibt diese Aufhebung eine an die Geschichtsphilosophie gebundene, weshalb sie uneinlösbar bleibt, sofern sich die Frau gerade nicht in den patriarchal bestimmten Befreiungsprozess integrieren lässt. 26 Vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 3, a. a. O., S. 86 (§ 397).
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aber nicht »zum Extreme des Allgemeinen in Zwecken, Staat, Wissenschaft, Kunst usf. fortgeht […].«27 Sie geht nicht bis zum Extrem des Allgemeinen fort, nicht weil sie – die Frau im Unterschied zum Mann – im Prinzip kein Mensch ist, sondern weil ihre Natur diese charakteristische Beschaffenheit (angeblich faktisch) aufweist. In dieser Konsequenz liegt es, dass das »Geschlechtsverhältnis […] in der Familie seine geistige und sittliche Bedeutung und Bestimmung [erlangt].«28 Auch in der stärker von Schelling inspirierten Anthropologie finden sich analoge Thesen, wenn z. B. Franz Gruithuisen in der Liebe des »Jünglings« eine »Vorübung zur Wissenschaft und Kunst« erblickt, während sich »die Jungfrau in der Kunst zu gefallen übt«, weshalb jener »höhere Erkenntniß« sucht, während diese »dem Guten und Bösen nur mittelst der Beurtheilung und Leitung des Mannes« begegnet.29 »Während der Mann das Wahre im Schönen und Guten zugleich sucht, findet das Weib nur das Wahre im Lieblichen; das Weib kümmert sich nicht um Wissenschaft, sondern lebt auch jetzt noch in Gefühlen. […] Das Weib sollte im Manne leben und fühlen« – und findet damit erneut ihre Bestimmung in der männlich dominierten Familie.30 Die von Lonzi geforderte Auflösung familiärer Strukturen hat anthropologiekritische Implikationen. Exemplarisch bei Hegel korrespondiert mit der Bestimmung zur Freiheit ein ›Naturunterschied der Subjektivität‹, der eine anthropologische Grundlage der Emanzipation ›des Menschen‹ definiert, ohne Frauen anders als eine Art Zubehör zu berücksichtigen. Mit feministischer Konsequenz wird insbesondere auch der Fortbestand der Familie und ihrer Machtstruktur im marxistisch-leninistischen Rahmen der »proletarischen Zivilehe mit Liebe« kritisch adressiert.31 In den »kommunistischen Ländern« wurden nach Lonzi sogar Prestige und Funktion »der Gestalt des Patriarchen gestärkt«.32 Lenins Repliken auf Clara Zetkin dokumentieren ein paternalistisches Gehabe, das die revolutionäre Spannung, die 27 Vgl. ebd., S. 86–87. Zur Anthropologie des Charakters bzw. seiner »natürlichen Grundlage« vgl. ebd., S. 74. 28 Ebd., S. 87. 29 Franz von Paula Gruithuisen, Anthropologie oder von der Natur des menschlichen Lebens und Denkens für angehende Philosophen und Ärzte, München 1810, S. XVII. 30 Vgl. ebd., S. XIX. 31 Vgl. Lonzi, Hegel, a. a. O., S. 17. Zwar schließen sich Marx und Engels an sozialutopische Vorstellungen von einer Aufhebung der (bürgerlichen) Familie an; aus der Sicht von Lonzi bleiben die im Marxismus weitergeführten Transformationen aber mehr als unzureichend. 32 Vgl. ebd., S. 14.
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in der »sexuellen Frage« bzw. der »freien Liebe« liegt, vollständig ruiniert.33 Mit Antonio Gramsci plädiert Lonzi für eine Allianz zwischen Frauen und jungen Männern, die in die Lage versetzen könnte, den Reproduktionsmechanismus der patriarchalen Kultur (z. B. in der Bedeutung des Krieges) zu unterbrechen.34 Damit wendet sie sich gegen Wertvorstellungen, die im erwachsenen oder »alten« Mann, in seiner »Transzendenz« konserviert werden.35 »Der Mann hat einen Sinn des Lebens jenseits des Lebens und gegen das Leben selbst gesucht.«36 Das Heldenepos der abenteuerlichen Wahrheitssuche. An diesem Punkt offenbart sich die lebensbedrohliche Krise der Gegenwart, die in einem Fortschrittsdenken gründet, das (wohl mit der atomaren Aufrüstung) »die Sicherheitsgrenze des Überlebens der Menschheit berührt hat«.37 Der Krise kann begegnet werden, indem die Frau ihre Differenz zur Geltung bringt – und auf diese Weise die »Mythen der Weiblichkeit« und die Kultur der männlichen Überlegenheit hinter sich lässt.38 Es geht um die Ablehnung des Mannes »in seiner absoluten Rolle«, eine Ablehnung, die nicht nur von Frauen, sondern auch von Männern geteilt werden kann.39 Der absolute Mann ist ein absolutes Subjekt – und als solches ein wenngleich geschichtsträchtiges so doch metaphysisch voraussetzungsvolles Konstrukt. Dabei ist die sexuelle Differenz selbst gerade keine natürliche oder ontologische, sondern eine historisch gewordene. Anthropologie »dekulturalisieren« 33 Vgl. ebd., S. 16f. 34 Vgl. ebd., S. 12f, 11, 20. Lonzi zitiert Lenin mit dem von ihr kursiv gesetzten Satz: »Mir Altem imponiert das nicht.« Ebd., S. 17. Ihm imponiert nicht das revolutionäre Selbstverständnis der Jugend- und Frauenbewegung, das mit der »Freiheit der Liebe« in Verbindung gebracht wird. Vgl. ebd. In diesen Kontext gehört auch Lonzis Parteinahme für die Hippies, die Kunst und die Phantasie gegen den Moralismus, die »engagierten Studenten«, das »sterile Modell« der »emanzipierten Frau« und auch gegen eine (weiterhin im dialektischen Geschichtsverständnis operierende) Kritik. Vgl. ebd., S. 22, 24, 33. In das Verhältnis alt-jung schiebt sich das Kriegsproblem, das im Schema der patriarchal bestimmten Individualisierung einen zentralen Reproduktionsmodus der bestehenden Machtverhältnisse darstellt. Zudem reproduziert es ironisch die politischen Zuordnungen (rechts-links) der Hegel-Schule. 35 Vgl. ebd., S. 33. 36 Ebd., S. 32f. 37 Vgl. ebd., S. 32. 38 Vgl. ebd., S. 24. Den Ebenenwechsel verdeutlichen Sätze wie: »Die Frauenbewegung ist nicht international, sondern planetarisch.« Ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 28, 32. Es geht hier um eine feministische Subjektivierung, die eine ›andere Kultur‹ des Begehrens, der Mutterschaft etc. hervorbringen würde. Lonzis berühmter Text über die klitorische Frau knüpft hier an. 39 Vgl. Manifest von ›Rivolta Femminile‹, a. a. O., S. 66.
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heißt nicht zuletzt, in der Geschichte »den Bezug zur Unterdrückung der Frau aufzuspüren« und ihre Verharmlosung aufzudecken – indem die Bewegung »auf-einer-anderen-Ebene«, nicht dialektisch lokalisiert wird.40 »Der Unterschied besteht in der jahrtausendelangen Abwesenheit der Frau in der Geschichte. Machen wir uns diesen Unterschied zunutze.«41
10.2 bell hooks und die ›intersektionale‹ Verkettung Der schwarze Feminismus markiert eine Randzone in der Literatur der postcolonial studies. In ihm verbindet sich das feministische Anliegen mit den postkolonialen Ansätzen, politisch-ökonomische und diskursive Machtverhältnisse, Kapitalismus und Rassismus in ihrer Verschränkung zu analysieren. Und zugleich verbirgt sich in ihm eine Praxis der Dekolonisierung, die mit den Bürgerrechtsbewegungen oder einer wiedererlangten nationalen Unabhängigkeit von den Kolonialmächten zu keinem Abschluss gekommen ist. In dieser vermittelnden Position steckt wiederum ein Potenzial demokratischer Popularität, das aktuell in der Formulierung »we should all be feminists« zum Ausdruck kommt.42 Es signalisiert eine radikaldemokratische Handlungsmacht, die in beiden Richtungen der Rassen- und der Klassenzugehörigkeit von ihren Möglichkeiten getrennt gehalten wird. Mit den Worten von bell hooks: »The 19th century women’s rights movement could have provided a forum for black women to address their grievances, but white female racism barred them from full participation in the movement.«43
Der weiße Feminismus erhielt den Mythos der gleichwertigen sozialen Stellung aller Frauen in der amerikanischen Gesellschaft am Leben. Und wenn in späteren Jahren, zwischen Mitte der 1920er und Mitte der 1960er Jahre, der Kampf für die Schwarze Befreiung in den Vordergrund rückte, so wur 40 Vgl. Lonzi, Hegel, a. a. O., S. 30, 26, 29. Zurecht weist Lonzi darauf hin, dass sie »in diesem Punkt [gemeint ist ihr Verständnis der Geschlechterdifferenz; MR] […] am meisten Schwierigkeiten hat, verstanden zu werden.« Ebd., S. 29. 41 Ebd., S. 6. 42 Vgl. Chimamanda Ngochi Adichie, We should all be feminists, London 2014. Die Referenz auf bell hooks, Feminism is for everybody, London 2000, ist evident. 43 bell hooks, Ain’t I a woman, a. a. O., S. 161. Der Ausdruck »barred« erinnert an »barrel«, an Öl und Geld.
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de diese Befreiung synonym »with gaining full participation in the existing patriarchal nation-state and their demands were for the elimination of racism, not capitalism or patriarchy.«44 Hier wie dort wird eine produktive Allianz (schwarzer Frauen und Männer bzw. schwarzer und weißer Frauen) unterbunden, aus gleichermaßen strategischen Erwägungen, die sich einmal rassistischer Vorurteile bedienen und die das andere Mal feministische Forderungen nach ›Gendergleichstellung‹ bzw. Überwindung der Zwänge des Sexismus marginalisieren. Die Überlegungen von bell hooks machen deutlich, dass sich die kolonialen Machtverhältnisse gerade in ihrer Ausprägung ökonomischer Unterschiede mit Diskursen verbinden, die eine machtlose, mindere Stellung bestimmter Menschengruppen behaupten. Gruppen, die von anderen Gruppen nach Geschlecht, ›Rasse‹ oder Eigentum und sozialem Status differieren – und die deshalb anders sind als die Gruppe, die für sich reklamiert, den Menschen im Allgemeinen (und damit auch die Humanität) zu repräsentieren. Wie insbesondere die historische Erfahrung des schwarzen Feminismus lehrt, kann das Freiheitsbegehren verschiedener unterdrückter Gruppen leicht gegeneinander ausgespielt werden. Wenn Freiheit bedeutet, frei zu sein wie diejenigen ›Herren‹, die es zu sein behaupten oder zu sein scheinen, weil sie an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie stehen, dann kann dies leicht zur Abwehr der nichtprivilegierten anderen (der Schwarzen, der Frauen …) führen. »Women’s liberationists, white and black, will always be at odds with one another as long as our idea of liberation is based on having the power white men have.«45 bell hooks legt großen Wert darauf, die ideologische Dimension dieser Macht von ihrer historischen Realität zu unterscheiden. Oder anders gesagt: zwischen der Macht des Diskurses und den politisch und institutionell sedimentierten Machtverhältnissen wäre zu unterscheiden, weil genau dies den Ort markiert, wo ein Hebel angesetzt werden kann, die im Diskurs angelegte performative Reproduzierbarkeit der Verhältnisse zu unterbrechen. »To perpetuate the notion that all men are creatures of privilege with access to a personal fulfillment and a personal liberation denied women, as feminists do, is to lend further credibility to the sexist mystique of male power that proclaims all that is male is inherently superior to that which is female. A feminism so rooted in envy, fear, and idealization of male power cannot expose the de-humanizing effect of sexism on men and women in American society.«46 44 Ebd., S. 176. 45 Ebd., S. 156. 46 Ebd., S. 192.
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Die mit dem anthropologischen und auch humanistischen Ideal verknüpfte Superiorität und die aus ihr folgende Dehumanisierung des anderen Geschlechts bzw. anderer ›Rassen‹ bezeichnet den strukturellen Moment der Herabsetzung, der aus einer gleichzeitig feministischen und postkolonialen Perspektive zum Problem gemacht werden muss. Seine fortdauernde Geltung – und Verquickung mit emanzipatorischen Zielen – ist eine dogmatische Festsetzung, die den feministischen Kampf nach bell hooks zur realhistorischen Wirkungslosigkeit verurteilt. An vielen Stellen ihres Buches wird die konkrete Bedeutung ›weißer Ideale‹ erläutert, die ein patriarchales Geschlechterverhältnis fortschreiben, indem sie das Frausein (etwa im Fernsehen der 1950er Jahre) auf eine ›passive‹ Rolle im gesellschaftlichen Leben und damit auf Aufgaben im Haushalt verpflichten, etwa auf Kindererziehung und Altenpflege. Der elitäre, liberale Gestus vieler weißer Feministinnen, die nicht in der Lage waren, die besondere Situation schwarzer Frauen zu verstehen oder anzuerkennen, führte zu schwierigen Konflikten.47 »Rather than black women attacking the white female attempt to present them as an Other, an unknown, unfathomable element, they acted as if they were an Other.«48 Damit aber akzeptierten sie die ihnen auferlegten kolonialen Strukturen. »Black and white women have for so long allowed their idea of liberation to be formed by the existing status quo that they have not yet devised a strategy by which we can come together. They have had only a slave’s idea of freedom. And to the slave, the master’s way of life represents the ideal free lifestyle.«49
Paradox formuliert: Das Ideal des freien Menschen ist nicht frei von bestimmten Bedingungen, an die die Freiheit gebunden bleibt. Was theoretisch eine Schwierigkeit bezeichnet, ist praktisch leicht nachvollziehbar. Nach Kant wäre der allgemeine Mensch vom besonderen weiter entfernt als jeder Stern am Himmel. Und doch liegen in ihm Bestimmungen einer moralischen Natur, die sich im Feld der Empirie wiederfinden lassen – oder zumindest leistet dies der als wissenschaftlich deklarierte und weithin akzep 47 »White women were assuming that all they had to do was express a desire for sisterhood, or a desire to have black women join their groups […]. They saw themselves as acting in a generous, open, non-racist manner and were shocked that black women responded to their overtures with anger and outrage. […] Their unwillingness to distinguish between various degrees of discrimination or oppression caused black women to see them as enemies.« Ebd., S. 144–145. 48 Ebd., S. 151. 49 Ebd., S. 156.
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tierte anthropologische Diskurs. Die Herabsetzung der nicht-europäischen ›Rassen‹ genauso wie der Frauen ergibt sich daraus: scheinbar wie von selbst. Und das ist das Problem. Mit bell hooks wäre zu sagen, dass nicht notwendig jede Idee der Freiheit eine ist, die sich aus dialektischen Beziehungen von Herren und Knechten ergibt. Aber historisch betrachtet ist nicht zu übersehen, dass die Idee sich erst in ihrer Bindung an ein geschichtliches Dasein konkretisiert. Das kann zweierlei heißen: Zum einen werden Idealbilder konstruiert, die den freien Menschen anschaulich machen, indem sie ihn auf welchem Weg auch immer mit bestimmten Vorstellungen von Freiheit ausstatten. Zum anderen werden empirische Voraussetzungen der vorgestellten Freiheit ignoriert oder unsichtbar gemacht. Gesund ist, wer gesund ist – oder es sich leisten kann.50 Der normative Aspekt des idealisierten Menschen verbindet sich historisch mit einer hierarchischen Position, die bei Abweichungen vom Idealzustand Defizite verzeichnet. Und wiederum ist dies ein Problem, sofern entweder mit festen ›Charakter‹-Identitäten (im Sinne des älteren anthropologischen Diskurses: weiß-schwarz, männlich-weiblich) hantiert wird oder aber die genauen Bedingungen der privilegierten Stellung mit Stillschweigen übergangen werden. Die Rekonstruktion der Geschichte des schwarzen Feminismus ermöglicht es bell hooks, die immanenten Beziehungen des Rassismus und des Kapitalismus aufzuzeigen, indem die Identitätspolitiken von weißen Frauen oder schwarzen Männern mit einer allgemeineren demokratischen Popularität konfrontiert werden, die exemplarisch von der schwarzen Frau und ihren sozialpolitischen Ansprüchen getragen war. Ihre Potenziale können dabei nur zur Entfaltung kommen, wenn das Ideal der Freiheit von seiner exklusiven (anthropologischen) Anbindung an ein patriarchales und koloniales Ideal losgekoppelt und damit dekolonisiert wird.
50 Hier könnte von den »Gefahren des biopolitischen Immunitätsmanagements« gesprochen werden. Vgl. Paul B. Preciado, Ein Apartement auf dem Uranus. Chroniken eines Übergangs, übers. v. S. Lorenzer, Berlin 2020, S. 353.
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11. Perspektivismus und minoritäre Anthropologie1 »Es gibt keine Möglichkeit, an allen Positionen zugleich oder zur Gänze an einer einzigen, privilegierten (unterdrückten) Position zu ›sein‹, die durch Gender, Rasse, Nation und Klasse strukturiert wird. Und dies ist nur eine kurze Aufzählung entscheidender Positionen. Die Suche nach einer solchen ›vollständigen‹ und absoluten Position ist die Suche nach dem fetischisierten, vollkommenen Subjekt einer oppositionellen Geschichte [...].«2
Mit dem Namen Nietzsche verbindet sich bis heute eine philosophische Provokation. Und sie besitzt unverminderte Aktualität, auch wenn es vielleicht nicht mehr möglich ist, sie ganz direkt in einem Pathos zu verorten: in Menschheitsfragen, der Zertrümmerung von Glaubensgewissheiten, der Radikalität der Selbstbefragung oder auch in künstlerischen Formen philosophischen Schreibens. Sie lässt sich aber herausarbeiten, insofern sie bereits wirksam ist. Eine Möglichkeit, dies zu tun, ist den Perspektivismus Nietzsches zum Thema zu machen. Mit diesem Begriff wird eine metaphysikkritische Wende bezeichnet, die sich in einer radikal veränderten Auffassung von Rationalität begründet. Das ist zwar ein alter Hut, könnte man sagen; aber dieser Hut hat es an sich, nicht so leicht auf Köpfe zu passen. Den Primat von Perspektiven zu behaupten könnte bedeuten, sich in Widersprüche zu verwickeln. Seit mehr als hundert Jahren und noch bis in die Gegenwart hinein wird in der Philosophie darüber gestritten, welche Radikalität dem Perspektivismus zuzuschreiben ist und bis zu welchem Punkt er getrieben werden kann, ohne seine kritische Plausibilität zu verspielen.3 Aber weniger 1 Im Juni 2019 konnte ich am Nietzsche-Kolloquium der TU Berlin auf Einladung von Rainer Adolphi meine Thesen zu Nietzsches Perspektivismus ausprobieren. Ich bedanke mich für die spannende Diskussion. 2 Donna Haraway, Neuerfindung der Natur, a. a. O., S. 86. 3 Vgl. zuletzt Hartmut von Sass (Hg.), Perspektivismus. Neue Beiträge aus der Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik, Hamburg 2019.
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in den grundsätzlich geführten Debatten um Relativismus, Universalismus, Kulturalismus liegt seine Aktualität, sondern eher dort, wo tatsächlich darum gerungen wird, die Implikationen zu entfalten, die sich aus seiner konsequenten Anwendung ergeben. Wenn alles eine Frage der Perspektiven ist, dann ist eben auch die Perspektive selbst eine Frage der Perspektiven. Wenn es daher keine quasi natürlichen (außer- oder überperspektivischen) Instanzen gibt, an die Perspektiven gebunden sind, entfallen zugleich die üblichen Kandidatinnen (Subjekte, Individuen, Kulturen etc.), die auf ihre besondere (nicht allgemeine und deshalb unzulängliche) Perspektive beschränkt werden. Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, als gäbe es hier zwingende Argumente. Sie sind, zumindest auf grundsätzlicher Ebene, ausgetauscht. Aber ich will sagen, dass die Provokation anhält, die sich mit dem Perspektivismus verbindet, gerade weil seine Ausarbeitung immer wieder neu erforderlich ist, mitsamt der komplexen Problemstellung, die sie aufwirft – und zwar je nach dem, womit man es ganz konkret zu tun bekommt. Dazu zwei Beispiele: zum einen die zeitgenössische Populismuskritik – und von hier aus ist der Weg zu den Themen Klimawandel und Anthropozän kein weiter –, zum anderen die Diskussion um den Stellenwert der postkolonialen Infragestellung westlich-abendländischer Priorität. Was das erste Beispiel angeht, so ist es naheliegend, die gängige Verurteilung des Populismus als ›antipluralistisch‹ kritisch zu thematisieren. Mit Nietzsche könnte gesagt werden, dass der Perspektivismus ein radikaler Pluralismus ist, der anders zu verstehen ist als gängige Varianten eines moderaten liberalen Pluralismus. Gerade das liberale Selbstverständnis schränkt die radikaler verstandene Pluralität dort ein, wo in den etablierten Demokratien Machtverhältnisse unsichtbar gemacht werden, sofern in ihnen soziale Ungleichheit genauso produziert wird wie undemokratische Eliten. Beides aber gilt es zu berücksichtigen, wenn autoritäre, traditionalistische und identitäre Formen der Herstellung von Popularität problematisiert werden wollen.4 Die moralische Polarisierung sei es entrüsteter oder eben besorgter Bürger*innen befördert lediglich die Aufspaltung der Gesellschaft und vermeidet es, dort Prozesse in Gang zu setzen, wo absurden kapitalistischen Dynamiken Paroli zu bieten wäre.5
4 Vgl. Jürgen Link, Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne: Krise, New Normal, Populismus, Göttingen 2018. 5 Vgl. Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, übers. v. I. Utz, S. Lorenzer, München 2018.
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Das andere Beispiel der postkolonialen Debatte drängt sich auf, sofern in ihr sowohl Tendenzen an starren kulturalistischen Blöcken festzuhalten als auch konsequent perspektivistische Ansätze ausgemacht werden können. Diese können gestärkt werden, indem im Ausgang von Nietzsche auf philosophische Theoriepotenziale zurückgegriffen wird. Wenn es richtig ist, dass Nietzsche die große Erzählung von der Fortschrittsgeschichte der Menschheit nicht zuletzt im Namen des Perspektivismus zurückweist, so ist ihre quasi-kulturelle Zersplitterung die Geburtsstunde einer neuen Ethnologie, die die älteren kolonialen Muster der Geschichtsschreibung – von der Primitivität zur Zivilisation – hinter sich lässt. Historisch betrachtet existieren relevante Verbindungen zwischen philosophischen und ethnologischen Strömungen, die pluralistisch angelegt sind: im amerikanischen Pragmatismus und im französischen Strukturalismus. Mit ihnen wird zugleich eine Nietzsche-Rezeption tradiert, die sich um den Perspektivismus verstanden als radikalen Pluralismus dreht. Das Weitere gliedert sich in drei Abschnitte. Zunächst wird auf die Perspektive selbst eingegangen, deren Begriff immer auch von dem besonderen Status lebt, einen kunsthistorischen Sachverhalt zu bezeichnen. Wenn die Perspektive aber geschichtlich einzuordnen ist, dann kann sie womöglich nicht als epistemologische Invariante ins Spiel gebracht werden. Zweitens werden einmal mehr die Kernaussagen Nietzsches rund um den Perspektivismus zusammengestellt. Hier geht es vor allem darum, seine philosophischen Implikationen zu rekonstruieren und die Radikalität des Gedankens festzuhalten. Zum Schluss werden einige Anwendungen diskutiert, die in letzter Zeit in der Diskussion um die Dekolonisierung des Wissens und insbesondere der Anthropologie Gewicht haben. Ich werde mich in erster Linie auf Eduardo Viveiros de Castro beziehen, der seinen poststrukturalen Ansatz – im Rekurs auf Nietzsche und Deleuze – dezidiert als einen perspektivistischen begreift.
11.1 Eine kunsthistorische Perspektive Wird die Perspektive in einen geschichtlichen Kontext gestellt, so lässt sich von der in der Renaissance stattfindenden Entwicklung der Zentralperspektive nicht absehen. In einem bekannten Text über die Perspektive als symbolische Form hat Erwin Panofsky diese Entwicklung detailliert nachgezeich-
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net.6 Hier kommt es lediglich auf einen Aspekt seiner Ausführungen an, der allerdings auch aus der Sicht Panofskys der alles entscheidende ist: auf ihre Charakterisierung als »zweischneidige Waffe«.7 Damit ist gesagt, dass die Herausbildung der Perspektive in der italienischen Malerei »ebensowohl als Befestigung und Systematisierung der Außenwelt, wie als Erweiterung der Ichsphäre« zu begreifen ist.8 Das klingt kompliziert, ist aber zunächst ganz einfach zu verstehen. Die perspektivische Raumanschauung etabliert gewissermaßen eine neue Ordnung der visuellen Erscheinung. Sie ist daher einerseits objektiv gedacht und andererseits subjektiv an ein Sehzentrum gebunden. Auf beiden Seiten findet eine Abstraktionsleistung statt. Der Struktur des mathematisierten Raumes entspricht ein singuläres, unbewegliches Auge – und beides zusammen definiert ein gleichsam exaktes Sehen, sofern die perspektivisch konstruierte Wiedergabe »als adäquate Wiedergabe unseres Sehbildes« zu gelten hat.9 Anders gesagt, verwandelt sich mit der Perspektive das Bild in ein »Fenster« (nach Leon B. Alberti), durch das hinaus in die Welt geschaut werden kann. Oder genauer: die materielle Fläche der Leinwand wird zugunsten der Erscheinung im Bild negiert. Etwas technischer wird das Bild als »planer Durchschnitt durch die Sehpyramide« aufgefasst, die entsteht, indem das Sehzentrum als Punkt mit weiteren Punkten auf der Malfläche verbunden wird. Aus den Lagebeziehungen dieser Linien lässt sich die scheinbare Lage der entsprechenden Punkte der bildlichen Erscheinung konstruieren.10 Auf diese Weise erklärt sich der wissenshistorische Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Zentralperspektive und der geometrischen Konzeption eines homogenen, isotropen und kontinuierlichen Raumes.11 Ausdrücklich wird von Panofsky festgehalten, dass die 6 Vgl. Erwin Panofsky, »Die Perspektive als ›symbolische Form‹« [1927], in: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1980, S. 99–130. 7 Vgl. Panofsky, Perspektive, a. a. O., S. 123. 8 Vgl. ebd. Hier könnte ein Bezug auf die ›kopernikanische Wende‹ hergestellt werden: Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1996 [1975], S. 99. 9 Vgl. Panofsky, Perspektive, a. a. O., S. 101. 10 Vgl. ebd., S. 99. 11 Der moderne »Systemraum« wurde nach Panofsky in der künstlerischen Praxis entwickelt, »noch ehe das abstrakt-mathematische Denken ihn postuliert hatte; und in der Tat sollte ja die projektive Geometrie des XVII. Jahrhunderts aus perspektivischen Bemühungen hervorgehen: auch sie […] ein Produkt der Künstlerateliers.« Ebd., S. 117. Deutlich macht Panofsky zudem, inwiefern sich das 8. Theorem Euklids der neuen Raumvorstellung sperrt: sie enthält das »Winkelaxiom« – die Sehgrößen bestimmen sich nicht »durch die Entfernung der Objekte vom Auge, sondern […] durch das Maß der
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ser abstrakte mathematische Raum keineswegs mit dem, wie er es nennt: »psychophysiologischen Raum« identisch ist.12 An diesem Punkt wird seine Bezugnahme auf Cassirers symbolische Formen verständlicher. Für ihn ist besonders hervorzuheben, dass »wir nicht mit einem fixierten, sondern mit zwei beständig bewegten Augen sehen«, weshalb das Gesichtsfeld eine »sphäroide Gestalt« aufweist, die aber durch die kulturelle Bedeutung der Perspektive zunehmend in den Hintergrund gedrängt wird.13 Dieser Punkt kann in verschiedene Diskurse übersetzt werden, sofern sowohl in der Phänomenologie Husserls als auch im amerikanischen Pragmatismus die mit der Mathematisierung des Naturerkennens verbundene Abstraktion sinnlicher Qualitäten der Wahrnehmung ein wesentliches Merkmal der immer noch metaphysisch belasteten naturwissenschaftlichen Weltanschauung ausmacht.14 Die Perspektive wird damit zum Symbol einer Wissenschaftskultur, die entweder lebensweltliche Erfahrungshorizonte überfliegt oder aber die spezifisch situierte Forschung, die sich mit einer Kritik der »Zuschauertheorie des Erkennens« von dogmatischen Vorannahmen zu befreien sucht.15 Mit Panofsky wäre zu sagen, dass es Perspektiven im Plural gibt. Zwar spricht er vom »Gegensatz zwischen ›planperspektivischer‹ und ›winkelperspektivischer‹ Auffassung« und begreift diese als eine natürliche Perspektive, die lediglich »die Gesetze des natürlichen Sehens mathematisch zu formulieren suchte«.16 Zugleich spricht er aber auch von der Perspektive als einem »Stilmoment« – »und es ist in diesem Sinne für die einzelnen Kunstepochen« reSehwinkel« – »bei dessen Anerkennung die Herstellung eines perspektivischen Bildes eine exakterweise überhaupt nicht lösbare Aufgabe dargestellt hätte, da eine Kugelfläche bekanntlich nicht auf eine Ebene abrollbar ist.« Ebd., S. 105. 12 Vgl. ebd., S. 101. 13 Vgl. ebd. 14 Allerdings ist an dieser Stelle auch Vorsicht geboten. Während Husserl in seiner Krisis-Schrift den cartesianischen Wissenschaftsbegriff verallgemeinert – und ihm die phänomenologische Wissenschaft der Lebenswelt zugrunde legt, unterscheidet Dewey viel deutlicher zwischen der Wissenschaftspraxis und der Wissenschaftstheorie, der es gerade nicht gelingt, die Praxis adäquat zu rekonstruieren. Das macht einen großen Unterschied im Umgang mit der Perspektive. Husserl scheint den perspektivischen Blick lediglich in einen der transzendentalen Subjektivität zu transformieren. Bei Dewey hingegen wird die kontemplative Beobachterposition vollständig aufgegeben und an ihre Stelle tritt ein pluralistischer Forschungsansatz, in stets veränderlichen, aber auch stets konkretisierbaren Relationen zu operieren. Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie [1954], Husserliana Bd. 6, Den Haag 1976 und Dewey, Suche nach Gewissheit, a. a. O. 15 Dewey, Suche nach Gewissheit, a. a. O., S. 27. 16 Vgl. Panofsky, Perspektive, a. a. O., S. 105.
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levant, »nicht nur ob sie Perspektive haben, sondern auch welche Perspektive sie haben.«17 Damit ist nicht nur klar, dass der mathematisch informierten Perspektivenkonstruktion eine andere, natürliche Perspektive entgegensteht, sondern ins Blickfeld rückt eine Vielzahl möglicher Perspektiven, die historisch oder kulturell differenzierbar erscheinen.18
11.2 Das Paradox des Perspektivismus Spricht Nietzsche von perspektivischem Sehen oder Erkennen, so wäre es ein Trugschluss zu glauben, dass er damit auf eine Perspektive rekurriert, die alle Perspektiven in gleicher Weise zu Perspektiven machen würde. An einer vielzitierten Stelle der Genealogie der Moral wird besonders hervorgehoben, was mit dem Perspektivismus unvereinbar sein soll: die »alte Begriffs-Fabelei, welche ein ›reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss‹ angesetzt hat […]. [H]üten wir uns vor den Fangarmen solcher contradiktorischen Begriffe wie ›reine Vernunft‹, ›absolute Geistigkeit‹, ›Erkentniss an sich‹: – hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das gar nicht gedacht werden kann […].«19 Es liegt auf der Hand, dass Nietzsche hier nur ein bestimmtes Moment der Perspektive unterstreicht, nämlich den Aspekt 17 Vgl. ebd., S. 108. Paul Feyerabend hat in Anlehnung an die Stilformen Riegls im Buch zur Spätrömischen Kunstindustrie (1901) einen radikalen Pluralismus entwickelt, der zugleich die kunstgeschichtliche Sonderstellung der Zentralperspektive relativiert. Wie er mit Bezug auf Nietzsches Kritik am Wahrheitsbegriff der philosophischen Tradition schreibt, ist es auch in wissenschaftlichen Kontexten »nicht möglich, die Rieglsche Auffassung durch ein Wirklichkeitskriterium zu ergänzen und damit zu beseitigen.« Paul Feyerabend, Wissenschaft als Kunst [1984], Frankfurt a. M. 2016, S. 44. Vgl. ebd., S. 51. Bereits Leonardo kritisierte die »Gleichsetzung von Sehraum und physikalisch-optischem Raum«: »Der Maler malt aber nicht für Einäugige mit unbeweglich festgeschraubten Kopf […].« Ebd., S. 23. Den historischen Zusammenhang zwischen Nietzsche und dem kunsthistorischen Stilpluralismus (Riegl, Wölfflin, Panofsky) erläutert auch Hans Ulrich Gumbrecht, »Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs«, in: ders., K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a. M. 1986, S. 726–788, hier S. 764, 771f. 18 In Abwandlung der Begrifflichkeit Panofskys könnte von den Unterschieden zwischen der Fluchtpunktperspektive und axonometrischen Perspektiven der darstellenden Geometrie gesprochen werden. Diese stellen Körper auf einer Ebene durch Parallelprojektion dar. 19 Nietzsche, Genealogie der Moral, a. a. O., S. 365.
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der räumlich variablen Lokalisierung des Sehzentrums. Diese Veränderlichkeit ist an einen Körper gebunden, der mit Augen ausgestattet ist. Und mit ihm verbinden sich Bedingungen des Sehens, die die Perspektivität der Perspektiven bestimmen. Diese ist nicht in einer reinen Subjektivität gleichbleibend zu definieren. Gerade die wissensgeschichtlichen Einsichten in die Bezugsfelder der Zentralperspektive, des mathematischen Raums und einem subjektlogischen Begriff des Erkennens nach Descartes oder Kant machen das nur zu deutlich. Wie ist aber dann Perspektivität zu denken? Sie müsste dafür sorgen, dass es »nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹ [giebt]; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser ›Begriff‹ dieser Sache, unsre ›Objektivität‹ sein.«20 Im Begriff der Perspektivität reflektiert sich eine Pluralität der Perspektiven. Sie muss vorausgesetzt sein, wenn der Gebrauch des Partikels »nur« – wie eben zitiert – auf eine qualitative Verminderung abzielt; sofern es andere Perspektiven geben muss, mit denen dieselbe Sache in einem anderen Licht oder von einer anderen Seite wahrgenommen werden kann. »Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben könnte […]. Aber ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ›unendlich‹ geworden.«21
Von ›Perspektive‹ zu sprechen bedeutet nach Nietzsche zunächst einmal, andere Perspektiven zuzulassen oder mitzubedenken. Aber wie ist das möglich, wenn ausgeschlossen ist, dass ich wenn nicht aus meiner Perspektive, so doch aus einer unablösbar perspektivischen Form heraustreten kann? Kann es eine selbstreferentielle Reflexion dieses paradoxen Sachverhalts geben? Und wie würde sie aussehen? Nietzsche macht deutlich, dass diese Reflexion gerade nicht dazu taugt, allgemeines (z. B. anthropologisches) Wissen über die Perspektivität, über Grenzen und Reichweite des »perspektivische[n] Charak 20 Nietzsche, Genealogie der Moral, a. a. O., S. 365. 21 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch [1887], in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 3, S. 343–651, hier S. 626–627. Diese Bemerkung Nietzsches lässt sich gut und kritisch auf von Uexküll zurückbeziehen: als eine pluralistische Konsequenz, die nicht in einer methodischen Priorisierung des wissenschaftlichen Sehens aufzuheben ist.
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ter[s] des Daseins« zu erlangen, »da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn.«22 Die Bedingungen der Perspektive sind selbst nur perspektivisch zu thematisieren. Das aber bedeutet zugleich, dass es unmöglich ist, die in der Perspektivität geltenden Bedingungen theoretischen oder praktischen Typs in einem Milieu, wie Nietzsche sagt, ›absoluter Geistigkeit‹ anzusiedeln. Diese Überlegung kann auf die Problematik der Wahrheit, aber auch auf die der Moral, der Religion, der Metaphysik angewendet werden. In einem Heft aus dem Nachlass Ende 1886 – Frühjahr 1887 heißt es dazu mit Blick auf das Subjekt: »›Es ist alles subjektiv‹ sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, das ›Subjekt‹ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. – Ist es zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese. Soweit überhaupt das Wort ›Erkenntniß‹ Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne ›Perspektivismus‹.«23
Wenn die Perspektive nicht an ein Subjekt gebunden ist, eben weil das Subjekt als ein Konstrukt firmiert, das allen Perspektiven gleichermaßen zugrunde gelegt werden müsste, woran ist sie dann gebunden – oder wie lässt sie sich positiv bestimmen? Die Antwort auf diese Frage ist ebenso naheliegend wie unbefriedigend. Perspektiven sind stets »Perspektiven der Macht«.24 Nietzsche formuliert sie im Rahmen einer Kritik der Weltanschauung »der Physiker«, die den metaphysischen Charakter ihrer Seinsauslegung verkennen: »das Atom, das sie ansetzen, ist erschlossen nach der Logik jenes Bewußtseins-Perspektivism«, d. h. »nicht wesensverschieden« von der anthropomorphen Weltsicht.25 Nicht die Kritik an der bloß scheinbaren wissenschaftlichen Objektivität steht im Vordergrund, sondern eine Transformation der gesamten Konstellation: »Und zuletzt haben sie [die Physiker; MR] in der Constellation etwas ausgelassen, ohne es zu wissen: eben den nothwendigen Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftcentrum – und nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze übrige Welt construirt d. h. an seiner Kraft
22 Vgl. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, a. a. O., S. 626. 23 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 12, S. 315 (7 [60]). 24 Vgl. Ralf Krause (Hg.), Nietzsche. Perspektiven der Macht, Berlin 2009. 25 Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, a. a. O., S. 373 (14 [186]).
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mißt, betastet, gestaltet… Sie haben vergessen, diese Perspektiven-setzende Kraft in das ›wahre Sein‹ einzurechnen […].«26 Ob nun von Kraft, Macht oder Willen-zur-Macht die Rede ist: in allen Fällen wird der als ›notwendig‹ definierte Perspektivismus ins Spiel gebracht, mit dem die auf ein Wesen spekulierenden Denkweisen der Philosophie ad absurdum geführt werden sollen. Als wahrscheinlich brauchbarste Methode dieser Art der Kritik empfiehlt sich die genealogische, die Nietzsche in seinen Nihilismusanalysen praktiziert – und die systematisch an das Konzept der Willen-zur-Macht gekoppelt ist. In diesem Sinn bestätigt sie den vorliegenden Deutungsvorschlag. Gleichermaßen reproduziert sich in ihr die paradoxe Logik der Perspektivität. Denn Theoreme, Diskurse oder Begriffe genealogisch zu interpretieren oder zu hinterfragen bedeutet, ihre Geltung an die Bedingungen ihrer Genese zu knüpfen. Und das eben heißt nach Nietzsche: Perspektivismus. Anders gesagt, sind die Entstehungsbedingungen aller möglichen Formen des Wissens stets an Perspektiven gebunden, weshalb ihre inadäquate Repräsentation die genealogische Kritik auf den Plan ruft. Diese Kritik kann gewissermaßen nur dort erfolgreich operieren, wo sich eine Instanz außerhalb der Perspektiven zu behaupten wähnt. Eine derart transzendent in sich abgeschlossene Position verliert ihren Status, wenn ihre Unvereinbarkeit mit ihrer Entstehungsgeschichte nachgewiesen werden kann. Paradox aufgestellt ist diese Kritik, weil sie stets die Bedingungen mitdenken muss, ohne sie begründen zu können. Zu ihr gehört eine Reflexion, die sich auf die Relativität ihrer Geltungsbedingungen beziehen kann. Diese Bestimmung der philosophischen Tätigkeit wirft zahlreiche Schwierigkeiten auf. Nicht die geringste liegt darin, Perspektiven im genealogischen Kontext konkretisieren zu müssen. Wie wäre die These genauer zu verstehen, dass sich Perspektiven in Machtkomplexen ausbilden – oder mit diesen koexistieren? Und wie wäre die Unbestimmtheit zu fassen, die mit der perspektivistischen Reflexion auf die Besonderheiten der eigenen Perspektive, die sich von anderen unterscheidet, einhergeht? Wenn das Forschen oder auch das Wissen stets nur ein situiertes ist – mit Dewey oder Haraway zu reden –, bestimmt sich dann die Situation allein aus sich selbst? Oder welcher Stellenwert gebührt der empirischen Gegebenheit einerseits und ihrer theoretisch angelegten Problematisierung andererseits? Vielleicht bündeln sich Perspektiven in Situationen – und doch sind Situationen wie Perspektiven von anderen unterschieden, gerade auch weil sie weit davon entfernt sind, 26 Vgl. ebd.
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diese Unterschiede mehr als ansatzweise zu überblicken. Gleichwohl sind Situationen real – und die Problemstellungen, die von ihnen aufgeworfen werden, alles andere als beliebig oder rein spekulativ.
11.3 Schamanisch-Werden Das philosophische Abstraktionsniveau ist an bestimmten Stellen immer eine Sackgasse. Möglichkeiten, mit dem Perspektivismus zu arbeiten, gibt es dagegen viele. Zum Schluss möchte ich zeigen, wie produktiv seine Auffassung in den Arbeiten des brasilianischen Ethnologen Viveiros de Castro ist. Auch bei ihm steht der Perspektivismus für eine bemerkenswerte Provokation, die in seinem Fall auf das Selbstverständnis seiner eigenen Disziplin, eben der Ethnologie, zielt. Sie ist nicht zuletzt gerade deshalb bemerkenswert, weil sie sich nicht damit begnügt, die gerne als kolonial bezeichneten eurozentrischen Einordnungen ›primitiver Kulturen‹ zurückzuweisen. Vielmehr zielt sie darüber hinaus auf bestimmte selbstkritische Strategien, die wiederum in narzisstischer Selbstbezogenheit verweilen. Das wird deutlicher, wenn Viveiros de Castro folgende Frage aufwirft: »Was ist die Anthropologie den Völkern, die sie erforscht, in begrifflicher Hinsicht schuldig?«27 Es ist nicht so, dass die ›Völker‹ ein in theoretischen Fragen lediglich passives Material darstellten, das in Feldforschungen angemessen zu beschreiben wäre. Aus diesem Grund führt es auch nicht entscheidend weiter, wenn in quasi ›postkolonialer‹ Reflexion die einseitig definierte Theorieaktivität westlicher Ethnolog*innen in kritischer Absicht zum Thema gemacht wird. Es mag zwar zutreffend sein, dass der ›Orient‹ ein Konstrukt der orientalistischen Wissensproduktion (europäischen und nordamerikanischen Typs) ist, aber er ist – in veränderter Gestalt – stets auch mehr als das. Denn wenn er nicht ›mehr‹ wäre, dann hätte die Kritik des ›Orientalismus‹ ausgedient – und der Orient wäre einfach nur er selbst. Oder vorsichtiger gesagt: Immer ist es möglich, dass zwischen kulturell Verschiedenen Prozesse stattfinden, die sie verändern – und zwar nicht ausschließlich zugunsten oder zum Nachteil einer Seite.
27 Eduardo Viveiros de Castro, Kannibalische Metaphysiken. Elemente einer post-strukturalen Anthropologie [2009], übers. v. Th. Mentrup, Leipzig 2019, S. 15.
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»Die Frage lautet dann: Lassen sich die Differenzen und die Veränderungen innerhalb der anthropologischen Theorie vor allem – und aus historisch-kritischer Sicht sogar ausschließlich – anhand der Strukturen und Konjunkturen der Machtgefüge, der ideologischen Debatten, der intellektuellen Felder und der akademischen Kontexte erklären, denen die Anthropologen entstammen? Sollte das etwa die einzige theoretisch relevante Hypothese sein? Oder könnten wir nicht vielmehr eine Umkehrung der Perspektive vornehmen, die zeigen würde, dass die interessantesten Begriffe, Probleme, Entitäten und Akteure, die von anthropologischen Theorien hervorgebracht werden, in der Vorstellungskraft gerade jener Gesellschaften selbst wurzeln, die durch sie erklärt werden sollen? Läge nicht gerade hier die Originalität der Anthropologie […]?«28
Mit diesem Perspektivenwechsel kann es gelingen, die Geschichte der Ethnologie und die mit den Namen Boas und Malinowski verbundene historische Zäsur in wenigstens einigen relevanten kolonialen Machtfragen neu zu erzählen. Hinzu kommt aber vor allem ein Transfergeschehen, das nur in den Blick gebracht werden kann, wenn zuvor eine nicht vertikal geordnete, sondern in horizontalen Nachbarschaftsverhältnissen situierte Vielzahl von Perspektiven eingeräumt wird. Damit sie miteinander in wechselseitige Austauschprozesse eintreten können, muss vorausgesetzt sein, dass sie sich weder gegenseitig reduzieren oder vereinnahmen können, noch strikt voneinander separiert sind. Wir haben es bei Nietzsche gesehen: Perspektiven setzen voraus, dass es andere Perspektiven gibt; und ihre philosophische Reflexion affirmiert genau diesen Sachverhalt. »Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? – nun, um so besser.«29 Es ist klar: würde er nicht affirmiert, so würde die Perspektive sich selbst transzendieren und damit die Anstrengung Nietzsches zunichtemachen, die traditionellen Geltungsansprüche umzuarbeiten, also weder einfach aufzugeben noch einfach beizubehalten. Mit anderen Worten: Konfrontiert sich das eine mit dem anderen, so wird es fast unvermeidlich in Frage gestellt; es sei denn, es bewegt sich in einem homogenen Medium, das es mit dem anderen teilt – oder das es eben felsenfest glaubt, mit dem anderen zu teilen. Gibt es nur einen Geist, so mögen die Unterschiede der einen und der anderen als Unterschiede in der Entwicklung desselben aufgefasst werden. Anders verhält es sich, wenn es eine primäre Differenz gibt, die die Perspektiven den Verschmelzungstendenzen zum Trotz auseinanderhält. An diesem Punkt beruft sich Viveiros de Cast 28 Ebd. 29 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, a. a. O., S. 37.
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ro nicht nur auf die philosophische Tradition von Leibniz über Nietzsche bis Deleuze.30 Sein Konzept eines poststrukturalen Perspektivismus lebt von dem, wie er es häufiger nennt, »amerindianischen Perspektivismus« und der »prädatorischen Differenz«.31 Somit ist es selbst ein Produkt der ›Begegnung‹ unterschiedlicher Welten. Wie sieht es genauer aus? Ich denke, es gibt verschiedene Ebenen. Auf den ersten Blick könnte von Perspektivismus die Rede sein, sofern dem ›Multikulturalismus‹ der ›Multinaturalismus‹ entgegengesetzt wird.32 Auf diese Weise werden zwei Sichtweisen unterschieden, eine indigene und eine abendländisch westliche. Während die Spanier unsicher waren, ob die ›Wilden‹ eine Seele besitzen, waren die »indias« von Puerto Rico (und Hispaniola) unsicher, ob die ›Weißen‹ einen Körper haben.33 Werden einmal die Natur als allgemein und die Kultur als besonders angesehen, drehen sich diese Verhältnisse im indigenen ›Multinaturalismus‹ um. Hier ist die Natur das besondernde Moment, während die Kultur eine ist und allen Lebewesen zukommt. »[D]ie Europäer zweifelten nie daran, dass die Índios einen Körper hätten (schließlich haben auch Tiere einen); und die Índios hatten keine Zweifel daran, dass die Europäer eine Seele hätten (schließlich haben auch Tiere und Geister eine). Der Ethnozentrismus der Europäer bestand also darin, zu bezweifeln, dass die Körper der anderen eine Seele enthielten, die formal denen entspräche, die in ihren eigenen Körpern wohnten; der amerindianische Ethnozentrismus hingegen bestand darin, zu bezweifeln, dass andere Seelen oder Geister mit einem Körper ausgestattet sein könnten, der wiederum materiell den indigenen Körpern entspräche.«34
Der Ethnozentrismus entspricht der jeweiligen Perspektive, entweder den Körper oder die Seele zum fraglosen Ausgangspunkt der Betrachtung zu machen. Die eine Praxis macht Seelen, die andere Körper. Bis hierher handelt es sich um zwei verschiedene Sichtweisen, die zwar die Monopolstellung auf beiden Seiten in Zweifel ziehen, aber noch keinen Einwand gegen eine star-
30 Vgl. Viveiros de Castro, Kannibalische Metaphysiken, a. a. O., S. 40. 31 Vgl. ebd., S. 20, 30, 47. Darauf bezogen sind zugleich seine ethnologischen Referenzen auf die Arbeiten von Roy Wagner, Marilyn Strathern und v. a. des späten Claude Lévi-Strauss, der »den Weg zu einer Anthropologie der Immanenz wies […].« Vgl. ebd., S. 25ff., S. 251ff., hier S. 27. 32 Vgl. ebd., S. 34. 33 Vgl. die Referenz auf die von Lévi-Strauss erzählte Parabel mitsamt Quellenangaben ebd., S. 32–34. 34 Ebd., S. 34–35.
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re Aufteilung der Perspektiven ins Feld führt.35 Nach Viveiros de Castro entwirft aber die indigene Auffassung »eine Gegenbeschreibung ihres eigenen, von der westlichen Anthropologie projizierten Bildes« – und konfrontiert uns auf diese Weise mit einem »Bild […] von uns selbst […], auf dem wir uns nicht erkennen.«36 Interpretationen evozieren nicht nur Gegeninterpretationen, vielmehr stellen sie sich gegenseitig infrage und dadurch setzen sie einen Verwandlungsprozess in Gang. Das Konzept des Perspektivismus verinnerlicht diesen Punkt. Die als Multinaturalismus bezeichnete indigene Perspektive ist – wie einige philosophische und auch ethnologische Spielarten – intern perspektivistisch (wenn auch selbst ethnozentrisch) verfasst. Sie geht von einer »Mannigfaltigkeit von Standpunkten« oder Gesichtspunkten aus, die von Menschen, Geistern oder Tieren, aber auch von Steinen, Artefakten oder Wetterphänomenen eingenommen werden.37 Sie sind alle mit »perzeptiven, appetitiven und kognitiven Dispositionen« ausgestattet.38 Die Seelen sind zwar gleichartig, aber das, was sie wahrnehmen, denken oder empfinden ist keineswegs dasselbe. »Die Weise, auf die Menschen Tiere, Geister und andere kosmische Personen sehen, ist von Grund auf anders als die Weise, auf die diese Wesen sie sehen und sich sehen.«39 Menschen sehen Menschen als Menschen und Tiere als Tiere, in der Regel. Und Geister sehen sie nicht. Raubtiere und Geister hingegen sehen den Menschen als ein Beutetier, die Beutetiere des Menschen sehen ihn als ein Raubtier. Der Jaguar sieht den Menschen als Tapir oder Pekari (Nabelschwein), also als seine Beute. Nehmen Tiere uns als Nicht-Menschen wahr, so sehen sie sich selbst als Menschen. Blut der Beute ist für einen Jaguar Maisbier, Würmer in verfaultem Fleisch sind für einen Geier gebratene Fische. Die perspektivischen Umkehrungen fußen im amazonischen Denken auf dem Unterschied zwischen Jäger und Beute: das »prädatorische Vermögen« bestimmt die relationale Stellung aller möglichen »Personen«, d. h. Wesen, die sich dadurch 35 Dient die Debatte zwischen Philippe Descola und Viveiros de Castro als Aufhänger, so könnte mit Latour gesagt werden, dass bis hierher ihre Gemeinsamkeiten reichen, nämlich die unbedingte Vorrangstellung des allgemeinen Naturalismus zurückzuweisen. Vgl. Bruno Latour, »Perspektivismus: ›Typus‹ oder ›Bombe‹«, in: Irene Albers, Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich 2016, S. 67ff., hier S. 70. 36 Vgl. Viveiros de Castro, Kannibalische Metaphysiken, a. a. O., S. 40. Er fügt noch hinzu, dass es »diese doppelte […] Torsion der herkömmlichen […] Repräsentation des ›Animismus‹ [war], die wir ›Perspektivismus‹ nannten […].« Vgl. ebd. 37 Vgl. ebd., S. 40. 38 Vgl. ebd., S. 42. 39 Vgl. ebd., S. 43.
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auszeichnen, dass ihnen die Fähigkeit zukommt, einen Gesichtspunkt einzunehmen.40 Der so gefasste Begriff der Person geht dem des Menschen also voraus.41 Schaman*innen sind in der Lage, andere Perspektiven einzunehmen, indem sie Nicht-Menschen so sehen, wie diese sich selbst sehen. »Die Begegnung oder der Austausch von Perspektiven ist ein gefährlicher Prozess und eine politische Kunst – eine Diplomatie.«42 Perspektiven tauschen oder andere Perspektiven einnehmen: das ist die schamanische Praxis, die Form des Anderen zur Geltung zu bringen. Sie begeben sich auf Reisen und sie sind in der Lage, von diesen Reisen zu erzählen. Ihr Wissen basiert auf der Einsicht in perspektivische Alterität – und seine praktischen Konsequenzen ergeben sich daraus, zu personifizieren, d. h. auf Aktivitätszentren ausgerichtet zu sein, Handlungsvermögen zu »abduzieren«, um ein Maximum von Handlungsmacht zu enthüllen.43 Es fällt gewissermaßen den Schaman*innen zu, den unvermeidlichen Ethnozentrismus in erträglichen Schranken zu halten, indem die strikte Isolierung festgefahrener Perspektiven in einer Kultur des Multinaturalismus vermieden wird. Damit liefert der amerindianische Perspektivismus ein ethnologisches Modell des radikalen Pluralismus, sofern er an einem »Wuchern der Mannigfaltigkeiten« und damit zugleich an einer »permanenten Dekolonisierung der Anthropologie« interessiert ist.44 Sie besteht darin, die hierarchische Ordnung von Perspektiven abzutragen, wo die eine mindere in die andere integriert und damit zugleich untergeordnet wird. Wenn es Personen und nicht Menschen sind, die Perspektiven definieren, dann sind Kulturen womöglich nur sekundäre Aspirant*innen auf Perspektiven. Viel eher könnte gesagt werden, dass sich Kulturen als mehr oder weniger stabile Einheiten herausbilden, wenn sie eine bestimmte Ansammlung von Perspektiven vereinheitlichen oder vielleicht ein Diagramm ihrer strukturellen Relationen zeichnen. Es geht wohl weniger darum, eine Vielzahl von Kulturen zu bestimmen, die sich durch ihren spezifischen Typ des 40 Vgl. ebd., S. 43f., hier S. 44, 45. 41 »Die Menschlichkeit […] wird im Verhältnis zu den primären Positionen des Jägers oder der Beute abgeleitet […].« Ebd., S. 46. 42 Ebd., S. 49. Mit dem Begriff der Diplomatie kann auch eine zeitgenössische Kunstproduktion umschrieben werden, die sich den gegenwärtigen Machtverhältnissen z. B. kapitalistischer Strukturen des Kunstmarkts entgegenstellt. »Art has a diplomatic portfolio«, vgl. Joselit, After Art, a. a. O., S. 5. 43 Vgl. Viveiros de Castro, Kannibalische Metaphysiken, a. a. O., S. 51. 44 »Die Anthropologie ist dazu bereit […]: Theorie-Praxis der permanenten Dekolonisierung des Denkens zu sein.« Ebd., S. 16; vgl. ebd., S. 24.
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Perspektivismus auszeichnen würden. Vielversprechender erscheint es, alle transkulturellen Prozesse, die beständig in die Reproduktionsbemühungen identitär gefasster Kulturen einfließen (und sie stören, verwandeln und fragmentieren), als schamanistisch zu bezeichnen. Sie sind überall und nirgends: nur dort, wo sie uns mit sich ziehen, verlieren wir die hierarchisch eingeübten, unverrückten Orientierungen aus den Augen.
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