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German Pages 412 [431] Year 2010
Ludger Jansen, Christoph Jedan (Hrsg.) Philosophische Anthropologie in der Antike
TOPICS IN ANCIENT PHILOSOPHY Themen der antiken Philosophie
Herausgegeben von / Edited by Ludger Jansen • Christoph Jedan • Christof Rapp Band 5 / Volume 5
Ludger Jansen, Christoph Jedan (Hrsg.)
Philosophische Anthropologie in der Antike
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort Philosophische Anthropologie in der Antike. Zur Einleitung Ludger Jansen/Christoph Jedan
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Die Entdeckung des Menschen e Rise of the Unitary Soul and Its Opposition to the Body. From Homer to Socrates Jan N. Bremmer
Sterbliche Unsterbliche. Über die Lage des Menschen in der vorsokratischen Philosophie omas Buchheim
Die Sophisten. Der Mensch als Maß aller Dinge Zbigniew Nerczuk
Die klassische Zeit Der Mensch der griechischen Tragödie im Angesicht von Tod und Götterwelt Ursula Bittrich
Erkenne dich selbst. Der Mensch bei Platon Yves Bossart/Hartmut Westermann
Vernünftiger Rede fähig. Das Menschenbild des Aristoteles Ludger Jansen
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Die hellenistische Philosophie Die Dummen und der Weise. Zur dichotomischen Anthropologie der Stoiker Christoph Jedan
Partikel und Erinnerungsspuren. Der Mensch Epikurs Jula Wildberger
Philosophen auf der Couch. Das Menschenbild der Skeptiker Niko Strobach
Die Spätantike und das frühe Christentum e Two Types of Man in Philo of Alexandria and Paul of Tarsus. e Anthropological Trichotomy of Spirit, Soul and Body George H. van Kooten
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen Christoph Jedan
Der Kosmos im Menschen. Plotins Antwort auf die Frage »Was ist der Mensch?« nach den Enneaden I und VI Matthias Perkams
Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa Joachim Söder
Augustins Anthropologie. Zwischen Dualismus und Hylemorphismus Christoph Horn
Über die Autoren
Siglenverzeichnis
v
Personenverzeichnis
Schlagwortverzeichnis
Vorwort Das Interesse, das in der universitären Ausbildung dem Menschenbild der Antike entgegengebracht wird, ist groß. Daher verwundert es, dass es keine aktuelle Gesamtdarstellung der antiken Anthropologie gibt. Der hier vorgelegte Band soll diese Lücke schließen. Die in ihm vereinigten Beiträge stellen das Denken der großen antiken Philosophen, von den Vorsokratikern bis Augustinus, zum ema Mensch dar. Damit aber nicht genug: Wir kennen »die Philosophie« heute als eine von anderen »Disziplinen« deutlich unterschiedene Wissenschaft. Doch in der Antike bestand eine so eindeutige Trennung nicht. Auch solche Autoren, die wir heute eher im Rahmen einer Geschichte der schöngeistigen Literatur, des eaters oder der Mythologie, der eologie oder gar der Medizin behandeln, haben ihren Stempel auf die antike Diskussion über den Menschen gedrückt. Und es sind oft dieselben Denker, die sich mit Gegenständen beschäftigen, die wir heute voneinander getrennt in zwei so unterschiedlichen Disziplinen wie Philosophie und Medizin behandeln. Deshalb schaut dieser Band bewusst über die Grenzen dessen, was wir heute »Philosophie« nennen würden, hinaus und wendet sich auch einigen der für die Philosophie interessanten Denkern aus den Gebieten der antiken Literatur, eologie und Medizin zu. Wir hoffen, dass dieser Band damit sehr unterschiedliche Kreise von Lesern ansprechen kann: Philosophen und Altphilologen ebenso wie Historiker und eologen. Die Beiträge sind so konzipiert, dass sie auch für Studierende dieser Fächer verständlich sind. Wo nötig, wird der philosophische Kontext erläutert, damit die im engeren Sinne anthropologischen esen verständlich werden. Die Beiträge identifizieren die wichtigsten Werke der jeweiligen Autoren zum ema und verweisen auf die wichtigsten und nützlichsten Ausgaben. Am Ende der Beiträge folgen Hinweise für die weitere Lektüre. Die wichtigsten Werkabkürzungen werden dort aufgeführt, ein vollständiges Siglenverzeichnis findet sich am Ende des Bandes. Um einem breiten Leserkreis den Zugang zu den Beiträgen zu ermöglichen, werden die antiken Texte durchgängig übersetzt. Wo griechische Ausdrücke nötig sind, um das terminologische Gefüge der Texte offenzulegen, werden sie transkribiert. Damit ist die antike griechische Terminologie auch für Leser ohne Griechischkenntnisse
viii
Vorwort
nachvollziehbar. Um die langen Vokale Eta (η) und Omega (ω) von den kurzen Vokalen Epsilon (ε) und Omikron (ο) zu unterscheiden, verwenden wir den Zirkumflex (ˆ) als Längenangabe und transkribieren Eta als »ê« und Omega als »ô«. Mit dieser Erläuterung düren die transkribierten griechischen Wörter ohne weiteres lesbar sein; es gibt lediglich eine Besonderheit, auf die wir Leser ohne Griechischkenntnisse aufmerksam machen müssen: In griechischen Wörtern kommt gelegentlich ein sogenanntes Jota subscriptum vor. Ein solches Jota ist kein selbständiger Buchstabe, sondern steht in den modernen Textausgaben unterhalb mancher Vokale, und zwar stets unter einem langgesprochenen Vokal. Dieser ist meist einer der beiden langen Vokale Eta (η) und Omega (ω), sehr selten ein langgesprochenes Alpha (α). Das Jota subscriptum wird zwar nicht ausgesprochen, ist aber manchmal bedeutungsrelevant. Es ist deshalb international üblich, auch das stumme Jota subscriptum zu transkribieren. Wenn also in der Transkription eines Wortes ein »i« auf einen Vokal mit Zirkumflex folgt, wird das »i« nicht mitgesprochen: zôion, das griechische Wort r »Lebewesen«, wird also so ausgesprochen, als ob auf ein langes »o« (wie in »Zoo«) noch ein kurzes »o« folgen würde: »zoo-on«. In einem einzigen Fall kommt in diesem Band nach einem »ê« ein »i« vor, das kein Jota subscriptum ist und deshalb mitgesprochen werden muss. Um das zu kennzeichnen haben wir ein Trema (Doppelpunkt) »ï« verwendet (gêïnos, gesprochen: »gee-inos«). Dieses Buch wäre in der vorliegenden Form nicht möglich gewesen ohne die großzügige Mitarbeit der Autoren. Bei ihnen möchten wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bedanken. Ein Wort des Dankes gilt auch Niels Grewe, der das Buch nicht nur mit dem XƎLTEX-System gesetzt hat, sondern uns auch bei der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge mit vielen guten Fragen und Hinweisen geholfen hat. Juliane Jüngling danken wir r die tatkräige Unterstützung bei der Erstellung des Index. Schließlich gilt unser Dank noch dem Ontos-Verlag r die Möglichkeit, diesen Band in der Reihe »Themen der antiken Philosophie/Topics in Ancient Philosophy« zu veröffentlichen. Rostock/Groningen im Oktober Christoph Jedan und Ludger Jansen
Ludger Jansen/Christoph Jedan
Philosophische Anthropologie in der Antike. Zur Einleitung »Man has been an anthropologist ever since he learnt to talk; for most of his talk has always been about himself. To turn such talk into science, however, has proved another matter altogether.«¹
Die Sache der Anthropologie Es mag merkwürdig erscheinen, aber das Thema dieses Buches verlangt zunächst den Nachweis, dass oder in welchem Sinne es seinen Gegenstandsbereich, eine philosophische Anthropologie in der Antike, überhaupt gegeben hat. Denn einer bestimmten Tradition zufolge gibt es eine Disziplin »philosophische Anthropologie« erst seit den er Jahren des letzten Jahrhunderts, als sie gemeinsam mit und untrennbar von dem Theorieprogramm einer »Philosophischen Anthropologie« entstand, mit Protagonisten wie Helmuth Plessner, Max Scheler und Arnold Gehlen. Diese These vertritt beispielsweise Joachim Fischer, einer der wichtigsten Historiker dieses Theorieprogramms,² der schon die Unterscheidung von Disziplin und Programm r schwierig hält, »weil beide – die Disziplin und das Theorieprogramm –, wenn es sie denn beide gibt, zeitgleich unter diesem Titel entstehen«. Die Datierung jedenfalls ist klar: »Die philosophische Anthropologie als eine Disziplin unter diesem Titel ist Ende der er Jahre prominent geworden, weil damals aus verschiedenen Denkrichtungen und Motiven die Frage nach dem Menschen in die Mitte der philosophischen Problematik rückte.« Alles Frühere, »von Aristoteles bis Feuerbach«, gerät dann zur »Vorgeschichte«.³ ¹ Marett , . ² Davon zeugt besonders die umfangreiche Darstellung in Fischer ; vgl. auch Fischer . ³ Alle Zitate bei Fischer , . Einen Überblick zum anthropologischen Denken vor dem . Jahrhundert bieten Landmann u. a. ; zur (griechischen) Antike vgl. dort –.
Ludger Jansen/Christoph Jedan (). »Philosophische Anthropologie in der Antike. Zur Einleitung«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
Philosophische Anthropologie in der Antike. Zur Einleitung
Schon das Wort »Anthropologie« als Bezeichnung r das systematische, philosophische Fragen nach dem Wesen des Menschen, als Benennung einer philosophischen Disziplin, ist relativ späten Ursprungs. Zwar spricht schon Aristoteles in der Nikomachischen Ethik vom anthrôpologos als der Rede (also dem logos) über den Menschen (über den anthrôpos). Gemeint ist damit allerdings nicht die wissenschaliche Beschäigung mit dem Menschen als solchem, sondern der Austausch von Klatsch über Einzelne, das Berichten der Taten des Sprechers selbst oder anderer zum Zwecke des Lobens oder Tadelns.⁴ In der Spätantike bedeutet anthrôpologein soviel wie »menschlich reden«, und gemeint ist dabei, in der Rede über Gott diesem menschliche Attribute beizulegen.⁵ Diese Bedeutung wird das Wort dann bis in die ühe Neuzeit behalten.⁶ Als r diese Weise, über Gott zu sprechen, das Wort »Anthropomorphismus« üblicher wird, wird das Wort »Anthropologie«, wie es Odo Marquard so schön formuliert, »aus seiner alten theologischen Bedeutung herausgedrängt und – arbeitslos geworden – r eine neue Bedeutung ei«; es wird nun zunehmend verwendet r die Beschäigung mit der menschlichen Seele und allgemein mit der Natur des Menschen.⁷ Diese neue Bedeutung des Wortes »Anthropologie« – und damit die Umrisse einer speziellen Disziplin – entwickelt sich in der deutschen Schulphilosophie: Vom . Jahrhundert an erscheinen Werke wie das Anthropologicum de hominis dignitate, natura et proprietatibus von Magnus Hundt (), die Psychologia anthropologica sive animae humanae doctrina von Otto Cassmann (/) und die Anthropologia seu synopsis considerationis hominis quoad corpus et animam von Buthelius und Rhete ().⁸ »Anthropologie« bezeichnet von nun an die Lehre von der Seele speziell des Menschen, während die psychologia im Allgemeinen in der Tradition des Aristoteles auch die Seelen der Tiere und Pflanzen behandelte.⁹ Die Anthropologie wird also zur Lehre von der Natur des Menschen: »Anthropologia est doctrina humanae naturae«
⁴ Vgl. NE IV , a –. ⁵ Vgl. die Belege bei Marquard , . ⁶ So redet z.B. Leibniz, Discours davon, dass sich Gott im moralischen Bereich »vermenschliche« und dort gerne »Anthropologien« erleide: »C’est en cela qu’il s’humanise, qu’il veut bien souffrir des anthropologies […].« (ed. Herring, ). ⁷ Marquard , . ⁸ Vgl. Marquard , –. Für die Namen finden sich unterschiedliche Schreibweisen. Neben »Cassmann« z.B. finden sich auch die Varianten »Casman«, »Casmann« und »Casmannus«, neben »Otto« auch »Otho« und »Ottho«. ⁹ Vgl. dazu den Beitrag von Ludger Jansen zu Aristoteles in diesem Band.
Ludger Jansen/Christoph Jedan
(»Anthropologie ist die Lehre von der menschlichen Natur«), definiert Cassmann die neue Disziplinbezeichnung folgerichtig in seiner Psychologia anthropologica.¹⁰ Aus diesen kurzen Bemerkungen wird bereits deutlich, dass unser Verständnis der philosophischen Anthropologie als einer abgegrenzten (Sub-) Disziplin das Ergebnis einer langen, komplexen Entwicklung ist, die eine erhebliche Verschiebung des Bedeutungsgehaltes des Wortes »Anthropologie« aufweist. Wenn wir uns der antiken Literatur zuwenden, so kommt dort ein Buchtitel Über die Natur des Menschen beinahe nicht vor. Die einzigen heute bekannten Vorkommnisse sind die Schri über die Natur des Menschen im Corpus Hippocraticum (die später von Galen kommentiert wird und deshalb im Titel seines Kommentars wieder vorkommt) und die Schri des Nemesios von Emesa sein.¹¹ Interessanterweise stammen diese Schrien aber von Autoren, die heutzutage nicht ohne weiteres im Rahmen der im deutschsprachigen Raum geübten Philosophiegeschichte behandelt werden: Hippokrates und Galen würden vor allem in der Medizingeschichte Beachtung finden, Nemesios eher in der Theologie. Zudem steht hinter der Formulierung des Titels Über die Natur des Menschen nicht der Anspruch der genannten Autoren, eine »philosophische Anthropologie« im heutigen Sinn dieses Begriffes zu konzipieren. Der Titel dieses Buches, Philosophische Anthropologie in der Antike, will daher nicht der Präexistenz einer bestimmten, wohlabgegrenzten philosophischen Disziplin das Wort reden. Vielmehr sollen anthropologische Fragen und die dazugehörigen Menschenbilder im Kontext und Umfeld der antiken Philosophie dargestellt werden. Denn das Nichtvorhandensein einer abgegrenzten philosophischen Disziplin »Anthropologie« bedeutet keineswegs, dass die antiken Autoren nichts r die heutige anthropologische Reflexion Interessantes und Wichtiges hinterlassen hätten – im Gegenteil. Unsere Quellen zeugen von einem intensiven Nachdenken über den Menschen; wir finden reiche und kontroverse Formulierungen von Menschbildern.
Zwischen Distanz und Kontinuität Warum sind diese Menschenbilder r uns heute noch interessant, warum laden sie uns ein, über sie nachzudenken? Die Antwort kann nicht darin liegen, dass die anti¹⁰ Zitiert nach Marquard , . ¹¹ Die Schrift des Hippokrates mit diesem Titel (und Galens Kommentar dazu) werden in Christoph Jedans Beitrag zur antiken Medizin diskutiert, die Schrift des Nemesios im Beitrag von Joachim Söder.
Philosophische Anthropologie in der Antike. Zur Einleitung
ken Autoren genau dieselben Fragen über den Menschen mit genau denselben Vorerwartungen bezüglich einer Antwort stellen, die wir heute vor uns sehen. Vielmehr sind ihre wie unsere Fragen und die Erwartungen, die mit ihnen verknüp sind, zeitund kulturgebunden. Dies wird etwa dann deutlich, wenn wir uns den im Zusammenhang der Anthropologie im deutschen Sprachgebiet häufig zitierten Kant vergegenwärtigen. Kant trug in seinen Logikvorlesungen vor, dass in der Frage »Was ist der Mensch?« drei andere philosophische Fragen zusammengefasst werden, nämlich: ». Was kann ich wissen? . Was soll ich tun? . Was darf ich hoffen?«¹² Es wäre viel zu einfach, diese Fragen als »ewige« Fragen über den Menschen anzusehen. Denn selbst dann, wenn die Fragen in dieser oder einer anderen sprachlichen Form in verschiedenen historischen Epochen immer wieder gestellt werden, ändern sich doch die Erwartungen an Form und Art der Antworten. Kant selbst versteht diese Fragen vor dem Hintergrund seiner eigenen, erkenntniskritischen Philosophie; und deshalb sind auch die Antworten, die er selbst auf diese Fragen erwartet, sehr »kantianisch«. Kant schreibt: Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte [Was ist der Mensch?] die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen. Der Philosoph muß also bestimmen können ) die Quellen des menschlichen Wissens, ) den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens, und endlich ) Die Grenzen der Vernunft.¹³
Wir sehen hier, wie sich scheinbar ewige Fragen und Antworterwartungen bei näherem Hinsehen in zeit- und kulturgebundene und zum Teil sogar von der individuellen philosophischen Position abhängige Fragen und Antworterwartungen auflösen. Diese Fragen und Antworterwartungen sind also keineswegs ein »ewiger« Bestandteil der Frage nach dem Menschen, sondern zeit- und kulturgebunden. Dennoch sind Kants Fragen r uns keineswegs uninteressant und seine Antworten keineswegs wertlos. Erstens sehen wir bei Kant, auch wenn seine Fragen und Antworterwartungen vermutlich anders situiert sind, als wir das erwarten, auch Kontaktstellen mit den Fragen und Antworterwartungen, die wir selber haben. Diese ¹² Vgl. Kant, Logik A . ¹³ Kant, Logik A
Ludger Jansen/Christoph Jedan
Kontaktstellen sind in der Regel keineswegs zufällig, sondern speisen sich aus zwei Quellen. Erstens gibt es im Leben und in der Selbstwahrnehmung der Menschen gewisse Konstanten, die r jedes menschliche Denken unhintergehbar sind, die zwar kulturell gedeutet, aber nicht kulturell bedingt sind. Zu allen Zeiten sind Menschen wahrnehmende und reflektierende Wesen, die geboren werden und sterben müssen und in der Zeit dazwischen ganz bestimmte Bedürfnisse haben. Zweitens gibt es zwischen dem Denken Kants und dem von uns Heutigen historische Zusammenhänge: Unser Denken hat sich aus dem Denken der Aufklärung entwickelt und ist deshalb geschichtlich von Kants Ideen geprägt worden. Auch deshalb gibt es Kontaktstellen zwischen Kants Fragen und unseren eigenen. Beide genannten Quellen r Kontaktstellen gelten selbstverständlich auch r die Texte und Theorien der antiken Autoren. Sie sind nicht nur Vorläufer, aus denen sich unsere heutigen Vorstellungen irgendwann entwickelt haben. Sie sind bis heute auch Vorbilder r das Fragen und Antworten. Ihre Theorien wurden von späteren Denkern immer wieder studiert, kommentiert und modifiziert, so dass die antiken Theorien auch das Denken späterer Generationen informierten. Die Frage nach der Kontinuität bzw. Diskontinuität des Nachdenkens über den Menschen, die wir anhand des Beispiels Kant diskutiert haben, muss also nuanciert beantwortet werden: Einerseits wäre es grundverkehrt zu unterstellen, dass historisch entfernte Denker einfach dieselben Fragen stellen und eine ähnliche Art von Antwort auf diese Fragen erwarten würden, wie wir das tun würden. Andererseits zerfällt die Geistesgeschichte auch nicht in eine zusammenhanglose, zufällige Folge von gänzlich zeitgebundenen Positionsbestimmungen. Beide Faktoren, Kontinuität wie Diskontinuität mit unseren heutigen Fragestellungen – oder, anders gesagt, Vertrautheit und Fremdheit – sind gleichermaßen wichtige Aspekte, die wir beim Studium alter Texte im Auge behalten müssen. Damit nicht genug. Wir lernen von Kant auch, dass die Anthropologie keine neuen Fragen erfinden muss, sondern dass anthropologische Fragen auch in den anderen philosophischen Disziplinen gestellt werden. Wir müssen, wenn wir die philosophische Anthropologie der Antike suchen, es also nicht bei der Suche nach einer philosophischen Disziplin belassen, sondern können uns auf die Suche nach anthropologischen Fragen und den Antworten darauf begeben. Die anthropologischen Fragen der antiken Autoren werden aber nicht unbedingt dieselben sein wie unsere, und die antiken Autoren werden andere Antworten auf ihre Fragen geben, als wir es tun würden. Nichtsdestoweniger – und vielleicht sogar gerade darum – können wir viel von ihnen
Philosophische Anthropologie in der Antike. Zur Einleitung
lernen. Für das Denken vieler vorchristlicher Autoren ist beispielsweise der Hintergrund des antiken Polytheismus ganz entscheidend. Wie kann man die Sphäre des Menschen von der Sphäre der polytheistischen Gottheiten abgrenzen? In welcher Weise gibt es ein Miteinander von Göttern und Menschen im Kosmos? Bestimmt ein göttliches Schicksal das, was den Menschen widerfährt und was sie tun? Ein wichtiger roter Faden im antiken Denken über den Menschen ist auch das Formulieren von Konzeptionen der menschlichen Seele. Ist die Seele körperlich? Wie verhält sie sich zum (Rest des) Körper⒮? Kann sie etwa unabhängig vom Körper bestehen? Woraus besteht überhaupt der menschliche Körper? Was ist Gesundheit, was ist Krankheit? Sind schlechte Charaktereigenschaen so etwas wie Krankheiten der Seele und sind wir r sie verantwortlich? Es sind Fragen wie diese, die die antiken Autoren diskutieren, wenn sie ihr Bild vom Menschen zeichnen. Obwohl diese Fragen nicht identisch sind mit den Fragen, die wir heute stellen würden, erkennen wir Berührungspunkte mit unseren Fragen und Anliegen. Damals wie heute agen wir beispielsweise nach der Autonomie des Menschen gegenüber der Natur. Doch wenn wir uns vor Augen hren, dass die Natur in der Antike o als die Wirkungsstätte handlungsmächtiger Gottheiten verstanden wurde, wird wieder deutlich, wie anders sich der Horizont dieser Frage in der Antike darbot. Aber auch wenn wir heute meist ein anderes Bild von der Natur und von natürlichen Prozessen haben, ist eine Positionsbestimmung des Menschen gegenüber der Natur ein bleibendes Anliegen. Wir können also bei der Rekonstruktion der antiken Positionsbestimmungen entweder die Kontinuität, das r uns Vertraute an den antiken Fragen betonen (»Es geht schließlich um die Natur!«) oder die Diskontinuität, das r uns Fremde (»Aber wie verschieden wird damals und heute ‚Natur’ aufgefasst!«) stärker betonen. Aber es ist deutlich, dass beide Aspekte eine wichtige Rolle beim Verstehen der alten Autoren und Texte spielen.
Die Subjekte der Anthropologie Wir haben bisher den Ausdruck »antike Autoren« verwendet und nicht – wie viele unserer Leser wohl erwartet hätten – von »antiken Philosophen« gesprochen. Und in der Tat versammelt unser Band auch Beiträge zu Autoren, die üblicherweise nicht als Philosophen angesehen werden, sondern als Dichter, Ärzte oder Theologen. Vom modernen Standpunkt aus könnten wir dies mit dem von Odo Marquard diagnostizierte »Symbiosenappetit« der philosophischen Anthropologie »in Bezug auf Einzelwissen-
Ludger Jansen/Christoph Jedan
schaen«¹⁴ erklären. Denn die moderne philosophische Anthropologie verarbeitet, wie es Jürgen Habermas treffend beschreibt, »Resultate aller Wissenschaen, die wie Psychologie, Soziologie, Archäologie, Sprachwissenscha etc. irgend mit Mensch und Menschenwerk zu tun haben«, während sie selbst »Teil der Philosophie« ist. Doch eine solche Erklärung wäre in einer wichtigen Hinsicht ein Anachronismus: Die disziplinäre Trennung der Wissenschaen in die Philosophie auf der einen Seite und die vielen Einzelwissenschaen auf der anderen Seite, die sowohl die Marquardsche Diagnose als auch die Habermassche Charakterisierung voraussetzen, ist in der Antike noch gar nicht gegeben. Das wird durch einen Blick auf die in diesem Band behandelten Autoren deutlich. Empedokles steht, was viele Motive seines Denkens betri, näher bei Homer und Hesiod als bei Aristoteles. Doch wird Empedokles üblicherweise mit Aristoteles zum Kanon der antiken Philosophen gezählt, nicht aber Homer und Hesiod. Das heißt aber nicht, dass Homer und Hesiod r die Geschichte der antiken Philosophie nicht wichtig wären. Nicht zuletzt gehören sie zu den Autoritäten, mit denen sich die Vorsokratiker und Sophisten, aber auch Platon und Aristoteles auseinandersetzen. Ähnliches gilt r die antiken Tragiker. Beim Corpus Hippocraticum und bei Galen sieht die Sache noch etwas anders aus, denn dort haben wir es – jedenfalls zum Teil – mit »philosophisch« argumentierenden Texten zu tun. Die Abgrenzung zur Philosophie müsste sich nun eines anderen Kriteriums bedienen, etwa das Hingeordnetsein auf die medizinische Praxis. Nicht einmal dieses Kriterium würde bei Philon von Alexandrien, Paulus und Nemesios von Emesa greifen. Nicht die Gesundheit oder das Wohl des Körpers ist das Ziel dieser Autoren, sondern das Seelenheil – das Wohl der Seele zu rdern ist aber ein Ziel, das von vielen antiken Philosophen angestrebt wird, besonders prägnant in der hellenistischen Philosophie. Was Philon, Paulus und Nemesios von den zuvor genannten Autoren unterscheidet, ist, dass ihr Denken göttliche Offenbarungen einbezieht, die sie in den Schrien des Alten Testaments (Philon) und zusätzlich im Christusereignis (Paulus) oder den Schrien des Neuen Testaments (Nemesios) sehen. Aber dasselbe gilt von Augustinus, der wiederum zum üblichen Kanon der zu lesenden Philosophen gezählt wird. Der Versuch einer Abgrenzung zwischen der Philosophie und den anderen Disziplinen ist r die Antike aber nicht nur wegen des Fehlens geeigneter Abgrenzungskriterien problematisch, er würde auch die tatsächlichen Wechselbeziehungen verdecken, die es in der Antike zwischen den »Disziplinen« (aus heutiger Perspektive gesehen) gab, Disziplinen, die in Wirklichkeit erst später geschieden wurden: O sind es die¹⁴ Marquard , .
Philosophische Anthropologie in der Antike. Zur Einleitung
selben Denker, die sowohl philosophieren als auch als Ärzte ihren Lebensunterhalt verdienen.¹⁵Und auch, wenn dies nicht der Fall ist, kennen Philosophen wie Platon oder Aristoteles die medizinischen Theorien und Praktiken ihrer Zeit und setzen sich mit ihnen auseinander.¹⁶ Der Arzt Galen wiederum sieht es nicht nur als hileich, sondern sogar als notwendig an, dass angehende Ärzte sich mit philosophischen Autoren und Theorien befassen und beispielsweise Logik studieren, und er sieht seine medizinischen Forschungen als Antwort auf bestimmte philosophische Probleme.¹⁷ Die Dichter von Tragödien und Komödien schließlich setzen sich mit den zeitgenössischen Philosophien und Philosophen auseinander und diese wiederum mit den ihnen überlieferten Dichtungen. Der vorliegende Band soll der Tatsache gerecht werden, dass wir es in der Antike eben noch nicht mit fest umrissenen Disziplingrenzen zu tun haben. Er ist deshalb breiter konzipiert als man das im deutschsprachigen Raum gewöhnt sein düre. Neben den bekannten »Philosophen« – von den Vorsokratikern über Platon, Aristoteles und die hellenistischen Philosophen bis hin zu Augustinus – haben wir Beiträge aufgenommen, die diese gleichermaßen wichtigen »außerphilosophischen« Werke und Autoren darstellen. Aus diesem Grund findet sich in diesem Band ein Beitrag zur Herausbildung des antiken Diskurses über die Seele, in dem vor allem der religionsgeschichtliche Hintergrund betont wird. Es finden sich Beiträge zur antiken Tragödie und zur Medizin, die wichtige Perspektiven auf das antike Denken über den Menschen ergänzen. Zwei weitere Beiträge thematisieren mit Philon und Paulus bzw. Nemesios von Emesa jüdische und ühchristliche Perspektiven auf den Menschen. Die Reihenfolge der Beiträge folgt dabei, soweit möglich, der chronologischen Reihenfolge ihrer Gegenstände. Dieses chronologische Ordnungsprinzip wird nur durch zwei Beiträge durchbrochen, in denen in einer thematischen Perspektive Denker aus verschiedenen Epochen behandelt werden.¹⁸
¹⁵ Vgl. die Ausführungen zum medizinischen Interesse der Sophisten im Beitrag von Zbigniew Nerczuk. ¹⁶ Vgl. den Abschnitt auf Seite über Platon in Christoph Jedans Beitrag zur antiken Medizin. ¹⁷ Vgl. den Abschnitt auf Seite zu Galen in Christoph Jedans Beitrag zur antiken Medizin. ¹⁸ Vgl. den Beitrag von Jan N. Bremmer, der von Homer ausgehend den Bogen über Pythagoras bis zu Sokrates schlägt, und den Beitrag über die antike Medizin von Christoph Jedan, der Platon, Hippokrates und Galen gegenüberstellt.
Ludger Jansen/Christoph Jedan
Literatur Quellen Aristoteles. Ethica Nicomachea. Hrsg. von Ingram Bywater. Oxford . (Zitiert als NE). Kant, Immanuel (). »Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen«. In: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. . Darmstadt , S. –. (Zitiert als Logik). Leibniz, Gottfried Wilhelm. Discours de Métaphysique. Metaphysische Abhandlung. Hrsg. und übers. von Herbert Herring. Hamburg . (Zitiert als Discours).
Hinweise zur weiteren Lektüre Habermas, Jürgen (). Art. »Anthropologie«. In: Philosophie. Hrsg. von Alwin Diemer und Ivo Frenzel. Frankfurt a. M. (= Fischer Lexikon ). Landmann, Michael u. a. (). De Homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens. Freiburg i. Br. und München (= Orbis Academicus I/). Marquard, Odo (). Art. »Anthropologie«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Bd. . Hamburg, Sp. –.
Weitere zitierte Literatur Fischer, Joachim (). »Der Identitätskern der Philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner, Gehlen)«. In: Philosophische Anthropologie im . Jahrhundert. Hrsg. von Hans-Peter Krüger und Gesa Lindemann. Berlin, S. –. —— (). Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des . Jahrhunderts. Freiburg i. Br. und München. —— (). »Philosophische Anthropologie«. In: Handbuch Soziologische eorien. Hrsg. von Georg Kneer und Markus Schroer. Wiesbaden, –. Marett, Robert Ranulph (). Tylor. London (= Modern Sociologists ).
Jan N. Bremmer
e Rise of the Unitary Soul and Its Opposition to the Body. From Homer to Socrates When discussing the beginnings of philosophical anthropology one cannot escape the problem of the soul and its relation to the body.¹ There can be little doubt that this is a problem that has long fascinated thinkers, even though modern philosophers and psychologists mention the soul less and less. The beginning of this fatal development for the soul, which lies in the Enlightenment and the rise of materialism, is gradually becoming clearer,² but the origins of the idea of the immortal soul have not yet been fully illuminated. It is the aim of this contribution to further the solution of this problem. Naturally, the subject could easily fill a book, and I shall therefore limit myself to the formative period of the development, the era om Homer to Socrates. It may seem strange to us, but in our oldest Greek literature, Homer’s Iliad and Odyssey, the word psychê has no connection with the psychological side of a person, which is represented by a multitude of terms. In other words, the Greeks may have given us the basis for our terminology, but initially they did not have the concept of a unitary soul that is the main seat of consciousness and emotions but also represents man aer death. They were not the only ones without such a concept. The Old Testament does not present us with an idea of the soul that even comes close to resembling that of modern times. In other words, both Greece and Israel, the two civilisations at the basis of Christianity, lacked a concept of the soul as the object of salvation. These observations raise the question as to when and why the unitary (modern) concept of the soul originated. I will therefore first look at the pre-unitary concept of the soul in Homer (§ ), as well as to post-Homeric developments until the fourth century, which see an increasing opposition of the soul and the body in certain quar¹ In this contribution I make generous use of my earlier studies of the soul: Bremmer , where I also give the previous bibliography; Bremmer , , , a, , b. Yet I have consistently tried to take into account the most recent views and findings. ² See now omson . Jan N. Bremmer (). »e Rise of the Unitary Soul and Its Opposition to the Body. From Homer to Socrates«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
e Rise of the Unitary Soul and Its Opposition to the Body
ters of Greek society (§ ). We then will turn to reincarnation, which reflects and reinforces the post-Homeric development (§ ) and, finally, we will look at the explanations for the rise of the unitary soul and its opposition to the body (§ ).
e soul of the living Observers of the usage of the word psychê in Homer will be immediately struck by the fact that it is mentioned only as part of the living person at times of crisis, but never when its owner functions normally.³ This aspect of psychê is well illustrated by Achilles’ complaint, when the embassy of the Greek army beseeches him to suppress his anger and resume fighting, that he has been continually »staking« (paraballomenos) his psychê (IX.).⁴ The metaphor derives om gambling and implies that Achilles is putting a valued possession at risk. Apparently, Homer represented the psychê as an entity that was worth fighting about. That is why Achilles and Hector can run a race in which Hector’s psychê is the main prize,⁵ and that is why Agenor can observe that Achilles »is vulnerable to sharp bronze, and only has one psychê in him, for they say that he is mortal« (XXI.–, tr. Cairns).⁶ The same usage can be found in Hesiod (Erga ) where he notices that men take risks because they equate money with the psychê.⁷ In other words, psychê is the basis for life and without it life is no longer possible, an aspect sometimes stressed by the combination of psychê with aiôn, the source of vitality in man.⁸ And because it is the basis, man considers it to be a most valuable possession. Psychê is also the basis for consciousness. This becomes clear om Homer’s description of swoons, which are all described in a more or less similar manner.⁹ For example, when a spear was pulled om the thigh of Sarpedon, one of the allies of ³ For close analyses of the Homeric material see more recently Sullivan ; Sullivan , –; Padel ; Chadwick , –; Clarke , to be read with the review article Cairns . ⁴ e books of the Iliad will be referred to with Roman numerals, those of the Odyssey with Arabic ones. Note also Tyrtaeus . and . for risking one’s psychê in battle, and Pisander, fr. .. West/Bernabé for lying and risking one’s psychê. ⁵ Similarly, Il. V., IX.–, XI., XVI., XX.–; Od. .; note also the connection between psychê and race in Hesiod, fr. . M/W, cf. Cairns , . ⁶ As is stressed by Cairns , –. ⁷ Note also Solon, fr. . West² for risking the psychê in the context of making money. ⁸ Il. XVI.; Od. .–, cf. Bremmer , –; Cairns , , note . ⁹ Nehring ; Schnaufer , –.
Jan N. Bremmer
the Trojans, »his psychê le him and a mist came upon his eyes« (V.). The leaving of the psychê clearly coincides with the loss of consciousness. Once the latter has been recovered, psychê is no longer mentioned. That is probably the reason that people speculated about its precise place in the body, since it is described as flying away through the mouth (IX.), the chest (XVI.), a wound in the flank (XIV.–) or om the limbs (rhetea:¹⁰ XVI., XXII.). In no Homeric passage does psychê have any psychological connection. We can only say that when it has le the body forever, its owner dies. If psychê did not have any connection with the psychological side of the person, what, then, constituted the psychological make-up of the early Greeks? Reading Homer, one will find that there is not one seat of the psychological attributes of man, but an enormously varied vocabulary.¹¹ The most important word for the seat of emotions such as iendship, anger, joy and grief, but also denoting emotion itself, is thymos,¹² a word still used today to denote a kind of gland. But there are other words as well, such as one for fury (menos), one for the act of the mind (noos),¹³ and the words for kidney, heart,¹⁴ lungs,¹⁵ liver, and gallbladder (cholos)¹⁶ – all of which are being used to indicate the seat of emotions or the emotions themselves; moreover, these terms are oen used in a semantically indistinguishable and redundant way. It thus seems that there is in Homer not one centre of consciousness, not a firm idea of an »I« that decides what we are doing. Whereas we have one word, »soul«, to denote the dimension of human life that is distinguishable om the body and that to a large extent determines the nature of the human being, the early Greeks had a variety of words to denote this dimension. How can we explain this situation? First, of course, we can look for parallels. It is the great merit of Scandinavian anthropologists in particular to have collected large amounts of data to show that according to most »primitive« peoples man has two kinds of souls. On the one hand, there is what these scholars call the free soul, a soul ¹⁰ For the debated meaning of this term see Cairns , , note . ¹¹ For a thorough survey of the various discussions of this phenomenon in the course of the nineteenth and twentieth centuries see Jahn , –; note also Gelzer and Anderson ; Sullivan a ¹² See most recently Caswell ; Koziak ; Sullivan , . ¹³ Sullivan . ¹⁴ Biraud ; Cheyns ; Sullivan b. ¹⁵ Balles . ¹⁶ Cairns , –.
e Rise of the Unitary Soul and Its Opposition to the Body
that represents the individual personality. This soul is inactive when the body is active; it only manifests itself during swoons, dreams or at death (the experiences of the »I« during the swoons or dreams are ascribed to this soul), but it has no clear connections with the physical or psychological aspects of the body. On the other hand, there are a number of body-souls, which endow the body with life and consciousness, but of which none stands for that part of a person that survives aer death.¹⁷ The Homeric concept of the soul of the living is clearly closely related to these ideas. Here too we find on the one hand the psychê, a kind of ee-soul, and on the other the body-souls, the thymos and all that. The ee soul was oen associated with the breath, and this seems to have happened in Greece as well, given psychê’s etymological connection with psychein (»to blow, to breathe«); indeed, in many Indo-European cultures the term for »soul« is connected with the breath.¹⁸ The connection also seems clear om the fact that the psychê leaves the body at the beginning of a swoon, as in Andromache’s swoon where she »breathed forth« (ekapusse) her psychê, a verb most likely connected with Greek kapnos, »smoke« (XXII.). In Greece, the connection between psychê and breathing or blowing was already made by Anaximenes (ca. – BC), who seems to have stated that the psychê held our body together and controlled it just as the wind controls the earth (B DK); in fact a number of philosophers, such as Anaximander, Anaxagoras and Archelaos, connected the psychê with aêr.¹⁹ A similar connection can still be seen among the Orphics, who also connected the soul with the winds (OF F Bernabé), and the connection with the breath occurs as a figura etymologica in an Orphic Gold Leaf found in : »〈the Underworld〉, where the psychai of the dead psychontai, ›breathe‹.«²⁰ The comparison with the Scandinavian approach has recently been questioned by Walter Burkert. In a wide-ranging critique of Bruno Snell’s classic Die Entdeckung des Geistes (), he has argued that such a classiing approach insufficiently takes into account that »native speakers sich nicht ganz sicher zurechtfinden« in the »Bereich schwankender Erfahrungen und unklarer Verbalisierungen«.²¹ It seems to me that we have to be careful here. First, we do not know what native speakers said in daily life, as we only have highly stylised poems. Second, although it is true that the Greek ¹⁷ ¹⁸ ¹⁹ ²⁰
For a review of the Scandinavian approach see Bremmer , –; Wernhart , –. Greece: Jouanna . Indo-European: Adams ; Eichner . Aëtius IV... Barnes , –; Euripides, Or. ; Plato, Crat. d–e. e quotation is from Gold Leaf no. in the standard edition Graf and Johnston , –. ²¹ Burkert , .
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psychological vocabulary is oen used in a semantically indistinguishable and redundant way, this should not be overstated.²² Third, even if we would concede the latter point, it still remains true that psychê is clearly different om the other terms, as it is used only in a very particular way and, last but not least, the »family resemblance« of the Greek soul belief with other »soul systems« remains valid and has not yet been refuted.
Post-Homeric developments In post-Homeric times the psychê no longer leaves the body of a living person, but otherwise its meaning gradually expands in the course of the Archaic Age.²³ Sappho (. . Voigt) now addresses somebody as »beloved psychê«. Hipponax says: »I will give my much-enduring psychê to evils«,²⁴ a passage where psychê comes very close to our meaning »self«, just as in Theognis. Somewhat differently, in a famous poem, the more or less contemporaneous Anacreon says of a »boy with virgin glance« that he is »the charioteer of my psychê« (. PMG), where the psychê presumably is the seat of his emotional feelings. Among pre-Socratic philosophers, psychê seems to have been especially important for Anaximenes and Heraclitus. Unfortunately, as Burkert points out,²⁵ the latter’s agments are very hard to interpret, and the text ascribed to the former cannot be said to be his with absolute certainty. Yet it is clear that the psychê was a source of interest already early on, since the sixth-century Pherecydes of Skyros,²⁶ supposedly, was the first to consider the soul immortal.²⁷ Other philosophers speculated about the nature or substance of the psychê, which some connected to air, others to fire or blood.²⁸ These so-called corporealists, amongst whom we may count the already mentioned Anaximenes, but also Heraclitus and Empedocles, eventually lost out to the incorporealists Pythagoras, Plato and Aristotle.²⁹ Here it ²² ²³ ²⁴ ²⁵ ²⁶ ²⁷ ²⁸
As is shown by van der Mije in his review of Jahn . Clarke ; Sullivan . Hipponax fr. West² = Degani². Burkert , . On Pherecydes see most recently Fowler ; Pàmias . Cicero, Tusc. .. (= F Schibli ); Tatian, Orestes (= F a,b Schibli ). For psychê in the pre-Socratic philosophers see Gladigow ; Ingenkamp ; Kalogerakos . ²⁹ For this debate see the very learned analysis of Mansfeld , –.
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is sufficient to note that psychê, apparently, took on an increasingly significant role in psychology and the macrocosm.³⁰ Pindar continued these developments. On the one hand, he made the soul even more important by calling it now »om the gods« (. b Maehler) and, on the other, he brought psychê in a sense close to »character«, when he describes men »as having psychai superior to possessions« (Nem. .).³¹ In the later tragedians, the psychê has become the seat of all kinds of emotions and seems to have completely incorporated the thymos; it can even become »tied to bed« (Euripides, Hipp. ) or »joined to a cultic group (thiasos)« (Euripides, Bacch. –).³² This development of psychê as the centre of man’s inner life culminates in Socrates’ view that man’s most important task was »to care for his psychê«. Until now we have concentrated on the soul but le out the body. Yet in certain quarters the two were gradually conceived of as being in opposition to one another, and we must therefore also take a closer look at the body. It is rather remarkable that in Homer sôma, »body«, is used only for dead bodies of people and animals.³³ This was already noted by Aristarchus, and Bruno Snell concluded therefore that the early Greeks did not yet see the physical body as a unit but as an aggregate.³⁴ Yet the »Cologne Epode« of Archilochus (. a. West²), which was discovered only in , showed that the early Greeks could use sôma very well as a term for the body of a living person, as the »I« of the poem says: »and caressing all of her beautiful sôma, I let go my (white?) force (probably semen), touching her blond hair«. Theognis (–), too, can say: »Ah wretched Poverty, why do you lie upon my shoulders and disfigure my sôma and noos«. However, in these cases, we do not yet have the contrast of body and soul. Pindar comes closest to the opposition when in his already mentioned agment he says: the sôma of all submits to the exceedingly strong death, and yet there still will linger behind an aiônos eidôlon, »a living image of life«, for this alone has come from the gods. It sleeps while the members are active; but to those who sleep it reveals in many dreams the fateful approach of adversities and delights. (fr. b Maehler) ³⁰ ³¹ ³² ³³
As also observed by Clarke , . Sullivan . Solmsen . Il. III., VII., XXII., XI., XII., XVIII., XXIII., XXIV., cf. Clarke , –, –, –. ³⁴ Aristarchus apud Apollonius Sophistes(wrongly called Apollodorus by Clarke , , note ), Lex. Hom., .; Erbse on Schol. Il. III.–; Snell , –.
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The opposition becomes really manifest in our sources in BC, when on an official war monument the psychai of fallen Athenians are said to have been received by the aithêr, »the upper air«, but their sômata by the earth (IG, I³ .–). This idea of heaven as the destination for the psychê proved to be inspirational for Euripides, who seems to have applied it first to deified mortals (Erechtheus, . .– TrGF, Vol V.) but later allowed the aithêr also to ordinary mortals, aer which, in various variations, the idea occurs on private gravestones well into later antiquity.³⁵ Yet Euripides never uses the word psychê in this connection but prefers pneuma for reasons that are not clear to me.³⁶ We find our next example perhaps one to two decades later in one of the defence speeches of the orator Antiphon. Having stressed his innocence, a speaker continues: »even when the sôma gives up, it can be rescued by a psychê that has a clean conscience and will endure anything.«³⁷ About BC the opposition of soul/body occurs much more concisely on one of a small group of bone-tablets om Olbia: »Dio〈nysos〉: 〈⁇⁇〉 – truth: body – soul.«³⁸ Here we are clearly in the company of Orphic/Bacchic³⁹ speculation, although the precise context of these tablets still remains unknown. Around this time the opposition must have become pretty standard and in the fourth century we find it used in different ways by all the main Attic orators, om Lysias until Demosthenes.⁴⁰ If in these examples the opposition is not necessarily very negative, this is very different among the later Pythagoreans and Orphics. The Pythagorean philosopher Philolaos (B DK) was credited by Clement of Alexandria, possibly wrongly,⁴¹ with being the first to have stated that the body (sôma) was the »tomb« (sêma) of the soul, an even more pessimistic view of the body than that of the Orphics, who saw the
³⁵ Euripides, Suppl. – and –, Hel. –; Or. –, frr. .–, b, TrGF, Vol. V, cf. Pucci ; CEG, no. , , , ; Robert , –; I. Erythrae ; SEG ., .; .; .; .. ³⁶ Burkert , , connects the pneuma with Diogenes of Apollonia, who (T Laks) rather uses aêr, »air«, as his cosmic principle and does not seem to use pneuma. ³⁷ Antiphon ., tr. M. Gagarin. ³⁸ Graf and Johnston , . ³⁹ Initiatory groups attempting modernising but speculative philosophical reinterpretations of traditional religion, in the century BC. ⁴⁰ Lysias ., .; Aeschines .; Demosthenes ., ., .. ⁴¹ Clem. Al. Strom. ., Huffman , –.
e Rise of the Unitary Soul and Its Opposition to the Body
body only as the prison of the soul,⁴² a view adopted by Plato in his later work,⁴³ and which experienced a long popularity well into the Middle Ages, among Cathars and others.⁴⁴ Apparently, the revaluation of the soul in theories of reincarnation also led to a devaluation of the body.
e rise of reincarnation⁴⁵ It seems to me that this development towards a unitary, immortal soul cannot be separated om the rise of reincarnation. According to Porphyry (Vita Plotini ), who quotes Dicaearchus (. Wehrli²), a pupil of Aristotle, it was Pythagoras who first introduced reincarnation into Greece, and it is not before the Byzantine Suda that Pherecydes is claimed to be the first to teach reincarnation.⁴⁶ In fact, the earliest mention of Pherecydes in connection with the aerlife of the soul explicitly refers to Pythagoras, not Pherecydes, as an authority. This appears om the following poem by the fih-century Ion of Chios on Pherecydes: »Thus adorned with manly pride and reverence, he (Pherecydes) has a pleasant life for his psychê even though he be dead, if indeed Pythagoras was truly wise, who beyond all knew and searched out the thoughts of men« (. West², tr. Schibli). Pythagoras’ contemporary Xenophanes confirms his concern with reincarnation, as he tells the following uncomplimentary anecdote: and once, they say, when he (Pythagoras) passed by a dog which was being maltreated, he pitied the animal and said these words: »Stay! Don’t beat him! For he is the psychê of a friend whom I recognised straight away when I heard his voice« (B DK).⁴⁷
In his book On the Soul (b), Aristotle is equally explicit: »They try to say what kind of thing the psychê is, but do not go on to speci about the body which is to receive the psychê, as though it were possible, as in the tales of the Pythagoreans, for just any psychê to clothe itself in just any body.« And so is a first-century Eph⁴² Courcelle , – who overlooked the later epigraphical evidence, cf. Pikhaus , –; Violante . ⁴³ Pl. Crat. c, Grg. e–a, Phaedo, e–e, Phaedr. cd; Courcelle , –; Mansfeld , , repr. in Mansfeld , Ch. VII. ⁴⁴ Cathars: van den Broek . Others: Courcelle , –; Tolomio . ⁴⁵ is paragraph has been mainly adapted, if updated, from Bremmer a, –, –. ⁴⁶ Suda, s.v. Pherekydes = A DK = F Schibli , contra Schibli , –. ⁴⁷ For Xenophanes’ views of Pythagoras see Schäfer , –.
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esian epigram which states »if according to Pythagoras the psychê passes to somebody else…«⁴⁸ Unfortunately, the details of Pythagoras’ teachings are only clear in outlines. Although we cannot be fully certain, it is not very likely that he had le writings.⁴⁹ Yet the anecdote about this iend shows that he taught the continuity of the psychê after death, in which it keeps certain individual characteristics: if not, the iend could not have been recognised. And indeed, in later doxography Pythagoras is counted among those who think the soul to be immortal.⁵⁰ Moreover, the soul can migrate into animals; it is only later that we also hear of the possibility of a migration into plants;⁵¹ in fact, in the Phaedrus (b) Plato still mentions only animals. Much remains obscure, though. Did the soul immediately incarnate aer death? What caused it to incarnate in humans, plants or animals? Was the difference in destination caused by the behaviour during one’s lifetime? When did the psychê finally arrive in Hades, where there was a »pleasant life« according to Ion (see above)? The latter question may be the easiest to solve, since both Pindar (. Maehler) and Plato (Phaedr. a) speak of three cycles, the first of which has been occasioned by a mistake in the underworld, in what looks like a Pythagorean context.⁵² But om where did Pythagoras derive his ideas about reincarnation and why did they become so popular? For a long time, influence om shamanism was the answer – if the wrong one, as I hope to have demonstrated in my book on the soul.⁵³ Other scholars have suggested that Pythagoras eventually derived his views om ancient India,⁵⁴ but various reasons make this unlikely. First, although contacts between Indians and Greeks may have been possible in Susa, where Greeks and Indians came to bring their taxes,⁵⁵ it will be hard to prove that contacts between India and Greece actually existed around BC, although a century later they are already demon-
⁴⁸ I. Ephesos = SEG . = Merkelbach and Stauber (= // Ephesos); IG, II² . ⁴⁹ For a different opinion see Riedweg , –. ⁵⁰ For Pythagoras’ view of the soul see most recently Zhmud , –. ⁵¹ For plants see Heraclides Ponticus, fr. Wehrli²; Alexander Polyhistor FGrHist F , ; Schol. Homer, Il. .a; Riedweg , – (Pythagoras on beans). ⁵² Graf , –. ⁵³ Bremmer , –. ⁵⁴ Burkert , ; Lloyd-Jones , ; Schibli , ; Burkert , . ⁵⁵ Boardman , who passim shows that especially Samos, Pythagoras’ homeland, was influential in Persia; Giovinazzo –.
e Rise of the Unitary Soul and Its Opposition to the Body
strable.⁵⁶ Secondly, the doctrine of transmigration is still relatively undeveloped in the early Upanishads and becomes universally accepted only in Buddhism and Jainism. Unfortunately, though, the date of the Buddha, the only fixed point of early Indian chronology, has recently become the focus of intense discussion. It used to be the accepted orthodoxy that the Buddha died within a few years of BC, but recently many scholars have come out in favour of the »short chronology«, which puts him about a century later. If this redating proves to be correct, influence on Greece becomes even less likely. Thirdly, Indian reincarnation is closely connected with sacrifice. Thus, even if the Greeks had borrowed ideas of the Indians, they had certainly changed them completely.⁵⁷ If, then, the likelihood of influence om outside Greece is receding,⁵⁸ can we perhaps identi internal developments that may have played a role? I am fully aware that we have no explicit indications in this respect, and my proposals are therefore no more than speculations, if perhaps reasoned ones. Let us now return to Pythagoras. In our tradition his political activities are consistently connected with Croton, where he lived like a king and had a huge following of youths.⁵⁹ It seems therefore more likely to think of his views about reincarnation as having been developed or publicised aer his expulsion om Croton and during his exile in Metapontum, where he reportedly died ca. BC.⁶⁰ This conclusion gains in probability if we consider the possible function of reincarnation in Greece at the turn of the Archaic period. Traditionally, the ancient Greeks were much less concerned with personal survival than with social survival in the group. It is only when the individual’s own fate becomes important that it gets less attractive to be a member of the crowd of souls. That does not mean that the early Greeks were not interested in their own survival, but the survival for which the upper-class cared was the kleos aphthiton: »eternal fame« on earth within its social group, not in the hereaer.⁶¹ In the course of the Archaic ⁵⁶ Halbfass ; Karttunen ; S. West , notes the almost complete absence of any reference to India in Pindar, tragedy, and Aristophanes. ⁵⁷ Buddha: Embree , –; Bechert –; Cousins , : »possible connections with the Greek world must be rethought«. Sacrifice: Bodewitz –. ⁵⁸ For the intriguing problem of the relation between Greece and Celtic ideas of reincarnation see Birkhan , . ⁵⁹ Iustinus ..; Iamblichus, Life of Pythagoras, . ⁶⁰ Aristoxenos, fr. Wehrli²; Dicaearchus, fr. Wehrli², cf. Rosenthal , (=Rosenthal , ), whose source is the eleventh-century Arab historian Mubashshir, who draws chiefly on Porphyry, but does have additional details. ⁶¹ Goldhill , –; Segal , –; Bakker .
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Age this attitude started to change and interest rose in personal survival, even though the kleos aphthiton remained an ideal in rhetorical treatises until well into Late Antiquity.⁶² Literature and art also testi to a growing anxiety about memory survival as well as both death and dying. The Archaic Greeks devised various ways of meeting these new attitudes, such as developing new eschatological ideas like the Elysion, and building grave monuments whose inscriptions reminded passers-by of its dead owners. In a way, reincarnation can be seen as a more radical answer to this general development.⁶³ There is a second aspect to reincarnation as well: those who are reincarnated are singled out om those who are not. Pythagoras’ loss of political power may well have been an extra stimulus for developing the doctrine of reincarnation, since it would guarantee a »survival« beyond all previous possibilities. This possibility must have been attractive to his followers but also to the aristocracy in general, since its power and influence was in the process of losing ground in the late Archaic period. On the one hand, aristocrats started to lose their political power through developments, such as the Persian conquests, as will have been the case in Ephesus, or the rise of tyrannies, as happened in Athens. On the other hand, the value system of Greece had also been shiing for some time, and aristocratic ideals had gradually come under fire, as is illustrated, for example, by the poetry of Theognis.⁶⁴ Such a loss of role and position cannot but have had a destabilising influence on some of the aristocrats, who must have been looking for new activities, new roles and a new legitimation. Pythagoreanism, the aristocratic nature of which we have seen, could well be considered as a response to what was, in effect, the beginning of a process of aristocratic marginalisation. Its extreme number of rules must have been attractive to people who felt uncertain about their place in the world, as we know om modern researches into religious sects. Moreover, the fulfilment of these rules may well have given the pupils of Pythagoras a new standing within the community. Thirdly, the promise of reincarnation must have given the Pythagoreans a sense of importance, which could restore in a way, even if only in the area of religion, their special place in society. We may perhaps be reminded here of the thesis of Max Weber
⁶² Setaioli . ⁶³ Sourvinou-Inwood , –; Casadio , –. ⁶⁴ Stein-Hölkeskamp , –.
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that the rise of religions of salvation, such as Christianity, was the consequence of a depolitisation of the Bildungsschichten.⁶⁵ Fourthly and finally, even if Pythagoras’ views cannot be separated om the religious and political developments of the late Archaic period, he would hardly have conceived of the reincarnation of the psychê, if this organ had not already become important – instead of the other way round.
e rise of the unitary soul But why did psychê become so important and develop into a unitary soul? And why and when was the soul put in opposition to the body? It is to these problems that we now turn our attention. The reasons for the development of psychê into a unitary soul are not yet clearly understood, and explanations are still very tentative. Recently, both the French philosopher André Laks and the German/Swiss historian of religion Walter Burkert have offered explanations that deserve further scrutiny. Laks sees the development as the result of the interplay of three main fields: lyric poetry, philosophy and Orphic/Pythagorean currents, whereas Burkert sees the teachings of, especially, Socrates as an important factor.⁶⁶ Laks’ first two aspects seem to me persuasive. As we have already seen (§ ), in lyric poetry attention was directed to the organs of emotion and vitality, and, however difficult for us to reconstruct in detail, many pre-Socratic philosophers were greatly interested in the psychê. However, the religious movements Laks mentions are later than the lyricists and, at the earliest, contemporaneous with Heraclitus. In fact, the Orphic view of the body as the prison of the soul, which evidently fits the revaluation of the soul, is not attested before the later Plato (§ ). Consequently, the Orphics used the development, but probably did not stand at its cradle. Seeing where the development occurs is not an explanation, however. In fact, when we look at the anthropological studies of the soul, we will search in vain for any suggestions as to why »primitive« peoples had a dualistic concept of the soul; studies of soul-belief never even seem to ask this question. I have no full answer myself, but some factors may perhaps be suggested. Rather strikingly, the dualistic concept of the soul changes when small »primitive« peoples become incorporated into larger states ⁶⁵ Weber , –, cf. Kippenberg . ⁶⁶ Laks , –; Burkert , –.
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or when their culture becomes more differentiated. At this stage, the ee-soul starts to incorporate the other souls.⁶⁷ Similarly, as we have seen, aer Homer the psychê gradually acquires the qualities of the thymos and becomes the centre of consciousness. This becomes especially clear in Athenian tragedy, where dramatic situations now present persons, especially women, whose psychê sighs or melts in despair, suffers pangs, or is »bitten« by misfortune – emotions never associated with the psychê in Homer.⁶⁸ This development evidently reflects the growth of the private sphere in Athenian society, which promoted a more delicate sensibility and a greater capacity for tender feelings. In other words, the more »primitive« concept of the soul seems to belong to a less regulated, less differentiated, more public way of life, in which people do not have to make that many choices and in which they need to contain their emotions to a lesser extent than in more centralised societies.⁶⁹ Apparently, the members of these societies do not need a centre of consciousness, as life is lived according to steady rules that do not tolerate exceptions, and less of their emotions needs to be continuously suppressed. Needless to say, these earlier societies are usually less individualistic. Their members are primarily members of a group, as they are still in Homer, and only in later times do they become more like separate individuals. In other words, the rise of the unitary soul cannot be separated om the rise of the polis and the more regulated life that this rise entailed. But what caused the soul to be put into opposition to the body? We have seen that this theme does not really occur before the later fih century. Now Burkert has connected the idea that the soul goes to the aithêr with both the apotheosis of Heracles, which is already attested in the seventh century, and the representation on the sixth-century throne of Amyclae of Hyacinthus and Polyboea »driving to heaven«.⁷⁰ The chronological distance between these two myths and our fih-century evidence is too big, however, to be of real influence. The comparison that Burkert makes with Iranian material looks much more promising, as the Zoroastrian soul »will reach the stars, then the moon, then the sun, and finally the ›lights without beginning,‹ where ⁶⁷ For examples see Bremmer , –. ⁶⁸ Cf. Solmsen . ⁶⁹ I obviously refer here to the insights of the German sociologist Norbert Elias on the relation between the levels of civilisation and political control. For a good introduction see Schwerhoff . ⁷⁰ Burkert , –.
e Rise of the Unitary Soul and Its Opposition to the Body
Ahura Mazda dwells.«⁷¹ In the last decades of the fih century we see indeed an increasing mention of the magi in Athens,⁷² and, as Burkert has shown, an influence of Iranian material, however difficult to analyse, is no longer to be denied.⁷³ Directly or indirectly, Iranian magi may therefore have contributed to some extent to the birth of the opposition between the psychê and the body. Finally, the last decades of the fih century were also the main era of the sophists. It is thus not impossible that they too contributed to the opposition, as Burkert suggests. Yet there is very little material that supports this suggestion. All we really have is the report of his pupils that in Socrates’ view man’s most important task was »to care for his psychê.«⁷⁴ In the end, the birth of the opposition of the soul to the body, however influential the opposition was in later times, still poses many questions.
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Jan N. Bremmer
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omas Buchheim
Sterbliche Unsterbliche. Über die Lage des Menschen in der vorsokratischen Philosophie Von einer ›Anthropologie‹ kann im Rahmen des vorsokratischen Denkens wohl nicht die Rede sein; nicht einmal von einem ›Menschenbild‹, weil der Mensch vielmehr so sehr damit beschäigt ist, sich die verschiedensten Bilder von dem All der Dinge zu machen, dass r ein spezifisches, irgendwie einheitliches Bild seiner selbst noch keine Gelegenheit ist. Doch kann man ein Problem benennen, das die Vorsokratiker bezüglich des Menschen entdecken und das sie durch ihre Weltentwürfe auf unterschiedlichste Weise zu bewältigen versuchen. Es ist das Problem, dass der Mensch geboren wird und stirbt in einer Welt, die, wie Thales sagt, bereits »voll von Göttern ist«,¹ und dies (geboren zu werden und zu sterben), obwohl er einer göttlichen Natur zumindest nahezukommen scheint. Pindar, der – wie auch andere Dichter der vorsokratischen Epoche – reflektiert, was die Gedanken der Zeit in Atem hält, schreibt in diesem Sinn am Anfang der . Nemeischen Ode: Einer der Menschen, einer der Götter Stamm; aus einer Mutter aber atmen wir beide; doch trennt das völlig geschiedene Vermögen, weil das eine in nichts, beim andern aber als ehern sicherer Sitz ewig der Himmel bestehen bleibt. Doch reichen wir dennoch heran, sei es in großem Denken oder physischer Gewachsenheit,² an die Unsterblichen, obwohl wir am Tage nicht wissen und auch nicht bei Nacht, ¹ DK A . Dass dieser Spruch von ales stammt, wird von guten Quellen berichtet (Aristoteles, De anima I , a ; Platon, Nomoi b vgl. Epinomis d), bleibt aber dennoch ungewiß. ² »Gewachsenheit« ist die schwer zu übertreffende Wiedergabe des Wortes physis, die Schadewaldt , – dafür vorgeschlagen hat. Der Terminus physis, der hier sehr pointiert verwendet wird, bedeutet keineswegs ›äußeres Aussehen‹, ›schöner Wuchs‹ oder dergleichen. Vielmehr ist im Unterschied zum übergreifenden Gedanken (wie ihn zum Beispiel ein Dichter zu denken vermag) die kraftvolle Konstitution eines Menschen gemeint, der alles besiegt und überwindet, was sich ihm in den Weg stellt; eine Kraft, die, wie die folgenden Verse omas Buchheim (). »Sterbliche Unsterbliche. Über die Lage des Menschen in der vorsokratischen Philosophie«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
Sterbliche Unsterbliche was uns das Geschick als ein Ziel zu erlaufen vorschrieb.
Pindars Text lässt es – wie es scheint mit Bedacht – offen,³ ob Götter und Menschen wirklich vom selben Stamme sind oder nicht.⁴ Fast zu krass ist der Gegensatz zwischen dem »Nichts« auf der einen Seite, das übrigbleibt vom Menschen und ihm vorausgeht, und dem »ewigen Sitz«, auf den sich die immerwährende Macht des Göttlichen gründet. Dass beide »aus einer Mutter atmen«,⁵ reicht bekanntlich nicht aus, um durch und durch vom selben Holze geschnitzt zu sein. Es handelt sich bei dem Verhältnis zwischen Göttern und Menschen nicht nur, was ihre Abstammung, sondern auch, was die ganze Art und mögliche Qualität der Existenz anbelangt, von jeher – aber besonders r Pindar – um ein höchst delikates Thema,⁶ das in einer wesentlichen seiner Facetten (nämlich der ethischen) von Beginn der griechischen Literatur an durch die mythische Figur des Tantalos versinnbildlicht und präsent gehalten wird.⁷ Denn ein vom Glück verwöhnter Mensch ist wie ein Gott in der Qualität von Dasein und Selbstgenuss. Aber wehe er vergisst aus Hybris und Verblendung, dass er von ihm Überlegenen verwöhnt wurde und sich den Genuss nicht durch sich selbst hat schaffen können.⁸ Dann fällt er der übelsten Qual und Bestrafung anheim.⁹ Bei aller bisweilen vergleichbaren Höhe des Daseins birgt sie r
³ ⁴
⁵ ⁶ ⁷ ⁸ ⁹
klarmachen, aus einer unsichtbaren Sammlung über Generationen hinweg stammt, und also auch in diesem Sinne physis ist. Es geht in dem Preislied um einen jungen Sieger im Ringkampf, nicht um einen Schönheitswettbewerb. Vgl. zu dieser Offenheit eunissen , –; eunissen neigt indessen einer ›monistischen‹ Interpretation zu. Auch ein späterer Einfügung verdächtiger Hesiodvers (Erga ) scheint dies auszusagen, obwohl gleich darauf die Menschen als von den Göttern »gemacht« beschrieben werden. In der eogonie wird von einer Herkunft der Menschen bezeichnenderweise nichts berichtet, nur einmal heißt es, dass »einst Götter und Menschen geschieden wurden« (). Es wäre nicht erstaunlich, wenn Pindar einen solchen fragwürdigen Befund bei einem klassischen Dichter aufgegriffen haben würde. Gemeint ist ›Mutter Erde‹; denn sie ist nach Hesiod sowohl die Urmutter der Götter als auch der Menschen, die »bodenentstammt« oder »Erdgeborene« heißen (vgl. g. ). Vgl. exemplarisch Pindar, Ol. , –. Für uns greifbar zuerst in der Odyssee XI, –. Siehe Pindar, Ol. , –: »Wenn die Hüter des Olymp je irgendeinem sterblichen Menschen Ehren verliehen, dann Tantalos; doch das große Glück zu verdauen, vermochte er nicht, durch Sattheit griff er nach überwältigender Verblendung«. In der Situation der Qual und Bestrafung: eine zum Greifen nahe Lust niemals zu erreichen, sondern immer im Zustand brennenden Bedürfnisses verharren zu müssen, schildert ihn die Odyssee an schon damals klassischer Stelle (Od. XI, –).
omas Buchheim
den Menschen immer das Risiko eines umso tieferen Sturzes. Dennoch zögert Pindar in den zitierten Zeilen wie auch an vielen anderen Stellen nicht herauszustreichen, dass Leben und Leistungen des Menschen auf eine eigenartige Weise göttliches Niveau erreichen können. Denn Denken (nous) und Gewachsenheit (physis) sind die beiden grundlegenden Methoden, durch die der Mensch in die Nähe des Göttlichen reicht und mit ihm eng verflochten ist. So haben es eigentlich sämtliche vorsokratischen Entwürfe auch gesehen. Dass der Mensch – obwohl aus einem Nichts-von-ihm entstanden und in ein Nichts-von-ihm vergehend – dennoch an das Göttliche und Allbeherrschende heranreicht und ihm verbunden ist, kann als das anthropologische Grundproblem der vorsokratischen Philosophie bezeichnet werden.
Das Zeug ringsum bei Baum und bei Stein Das Problem, wie Menschen und Götter zugleich in derselben Welt existieren, und wie gleich oder ungleich sie in der Beschaffenheit ihres Daseins sind, war keineswegs immer virulent im griechischen Denken. Vielmehr dominiert, vom eher ethisch bedeutsamen Mythos des Tantalos einmal abgesehen, ein klarer und scheinbar selbstverständlicher Unterschied zwischen unsterblichen Göttern und den todverfallenen Menschen, dessen Wurzeln völlig im Dunkeln bleiben. Menschen gibt es einfach (obwohl sie, als sterbliche Wesen, doch eigentlich irgendwo herkommen müssten) und sie existieren in einer deutlich abgesetzten Weise des Daseins, wenn auch immer in Kontakt und sogar in Austausch mit den Göttern. Nach Hesiod wurden die Menschen irgendwann ›geschieden‹ von den Göttern – was Genaues weiß man aber nicht.¹⁰ Sie sind zum Götter-Ehren, -Fürchten und -Bewundern gemacht.¹¹ Prometheus hat ein Herz r sie und versuchte daher, weil die Götter den Menschen ausreichende Lebensmöglichkeit vorenthielten,¹² Zeus zu ¹⁰ g. . ¹¹ Laut der eogonie (–) besingen die Musen auch das Geschlecht der Menschen, um Zeus zu ergötzen. Nach den Erga (–) »brachten« die Götter die verschiedenen Geschlechter der Menschen insbesondere dafür »hervor«, um an ihnen Subjekte ihrer eigenen Verehrung zu haben (–). Gleichwohl ist es das natürlichste Geschick aller Sterblichen, eben immer wieder »von der Erde verhüllt« zu werden und so insgesamt zugrunde zu gehen. Kein Menschengeschlecht ist für die Ewigkeit gemacht. Ebenfalls nach den Erga ist die wichtigste Bedingung einer mit einigem Glück gesegneten Existenz für die Menschen die Einhaltung des gottgeschenkten Rechts (Erga –). ¹² Vgl. Erga .
Sterbliche Unsterbliche
betrügen – mit umso schlimmeren Folgen r die Menschen.¹³ Und auch Hekate will den Menschen, besonders allen Wettkämpfenden, wohl.¹⁴ Die Titanen scheinen überhaupt den Menschen am meisten gewogen zu sein, doch sind sie nach den Schilderungen der Theogonie ihrerseits der Herrscha der Olympier hoffnungslos unterlegen. Immer gibt es eine Art lauernder Konkurrenz zwischen Sterblichen und ihren Anwälten einerseits und den unsterblichen Olympiern andererseits,¹⁵ die jedoch durch Zeus – wenn auch nicht ohne ungerechte Unterdrückungsmaßnahmen¹⁶ – eindeutig zu Ungunsten von ersteren entschieden wurde. Manchmal mussten Sterbliche zwar auch mit Göttern schlafen, damit so die Heroen,¹⁷ immerhin wenigstens auch der menscheneundliche Gott Dionysos, erzeugt werden konnten.¹⁸ Im Übrigen aber sind sie vor allem die Empfänger all des Unheils und Leids, das ihnen die Ausgeburten und Ungeheuer der Nacht und des Meeres zumuten,¹⁹ natürlich auch des wenigen, aber immerhin möglichen Guten.²⁰ In der Tat lässt sich, so hat es den Anschein, bei Hesiod und im alten Epos eine gewisse Ratlosigkeit darüber feststellen, woher und wozu es eigentlich Menschen gibt. Sie sind irgendwie da und haben ihre eigene, deutlich abgesetzte und geringere Existenzform als die immer seienden Götter. Aber weswegen und von wannen es sie gibt, ist – abgesehen von den oben genannten Vorwänden – einigermaßen undurchsichtig. Nach althergebrachter Auffassung wurden die Menschen als »Eschen« bezeichnet²¹ und wuchsen, wie es aussieht, auf Bäumen heran oder wie Bäume aus der Erde hervor. Ähnliches war wohl auch die verschwiegene Auskun, mit der Ammen und Mütter die Frage der Kinder beschieden, woher denn die Menschen kämen. Zudem gab es die Sage von Deukalion und Pyrrha, die Steine hinter sich warfen, um nach einer Sintflut wieder Menschen entstehen zu lassen. Doch ist dies kein Ursprungsmythos r das Menschengeschlecht, weil seine Erzählung nicht das erste, sondern ein späteres der Geschlechter betraf, dessen Vorläufer Zeus zur Strafe vertilgt hatte. Niemand wusste also einen deutlichen Bescheid zu geben auf die immerhin r uns nicht wenig aus¹³ ¹⁴ ¹⁵ ¹⁶ ¹⁷ ¹⁸ ¹⁹ ²⁰ ²¹
g. –; Erga –. g. –. Vgl. g. –; – und Frg. (West). So schildert es in vielerlei Hinsicht die Tragödie Prometheus desmotês, die dem Aischylos zugeschrieben wird. g. –; vgl. zudem die Fragmente der Ehoien. g. –. g. –. Erga . So greifbar auch bei Hesiod: g. ; Erga .
omas Buchheim
richtende Frage, warum und woher es uns gibt. Ein liebevolles ›Lasst uns Menschen machen, die uns ähnlich sind‹ war nicht bekannt.²² Es ist daher ein gar nicht so verirrt und rätselha wirkender als vielmehr Menschliches und Göttliches in naheliegenden Kontrast rückender Vers, den Hesiod am Anfang der Theogonie ziemlich abrupt ausspricht, nachdem er von den Musen selbst Auftrag und Stimme zu seinem Gesang erhalten hat. Nämlich den Auftrag, »das zu rühmen, was sein wird und was vordem war: zu singen vom Geschlecht der Seligen und ewig Seienden«, d.h. der Götter. – »Was demgegenüber soll ich mit dem Zeug ringsum bei Baum und bei Stein?«²³ Denn diese Formel steht (neben manch anderer Bedeutung)²⁴ sprichwörtlich r die alte, aber ungeklärte Sage von der Herkun des Menschen. Hesiod will, jedenfalls in der Theogonie, nur von dem reden, »was immer ist« und deswegen die Mühe des Dichtens am meisten lohnt. Das sind die Götter, die unsterblich und glückselig sind. Der elende Mensch dagegen ist »das Zeug ringsum bei Baum und bei Stein«, dessen Herkun niemand kennt, dessen Existenzweise aber auch keinen allzu sehr interessieren düre, weil man weiß, wie das Leben der Menschen aussieht.²⁵ Das Sprichwort der ungeklärten Abstammung ›ringsum bei Baum und bei Stein‹ kehrt in ähnlichen Wendungen häufig wieder.²⁶ Selbst Hesiod spielt womöglich bereits auf eine bestimmte Passage aus der Odyssee an, wo erzählt wird, wie Odysseus nach seiner endlichen Heimkehr inkognito mit seiner Frau Penelope spricht, um nach so vielen Jahren ihre Treue auf die Probe zu stellen. Penelope will natürlich unbedingt gleich wissen, woher er kommt und welches sein »Geschlecht« ist. Er aber verrät es nicht, sondern tischt seiner eigenen Frau Hinhaltungen und Lügengeschichten auf. Da entfährt es Penelope etwas ungeduldig: »denn du wirst ja nicht – nach der alten Sage – von Baum und von Stein sein!«²⁷ Schon hier also ist es eine ›alte Mär‹ (palaiphatos), die auf eine klare Frage nur eine höchst unklare Antwort zu geben weiß. Doch diese Sachen oder »dieses Zeug« interessieren Hesiod nicht. Ganz anders nun die vor²² Genesis , . ²³ g. –. ²⁴ Siehe die reichhaltige, aber die Bedeutung des Verses letztlich offenlassende Kommentierung bei West ed. , –. ²⁵ Noch bei Demokrit bekommen wir die freilich inzwischen völlig desillusionierte Auskunft: »Der Mensch ist, was wir alle kennen« (DK B ). ²⁶ Zwei Stellen bei Platon sind Apologie b und Politeia d; bezeichnend in etwas verwandeltem Sinn ist aber auch Phaidros b. ²⁷ Od. , .
Sterbliche Unsterbliche
sokratischen Philosophen, deren Wirken und Schreiben erst etwa hundert Jahre nach Hesiod einsetzt.
Wohin mit den Sterblichen – wenn die Prinzipien unsterblich sind Wieder ist es ein Dichter, dessen Verse wir als Spiegel und Ausdruck einer beherrschenden Frage in der Blütezeit vorsokratischen Denkens nehmen können. Zwei wahrscheinlich originale Zitate von Epicharm, der in vieler Hinsicht die philosophischen Bemühungen seiner Zeitgenossen komödiantisch reflektiert hat, zeigen das allgemein beschäigende Problem auf. Das eine Fragment handelt vom Göttlichen, das andere vom Menschen als Paradigma veränderlichen und vergänglichen Daseins. Beides wird in einer Gegenüberstellung überliefert von Diogenes Laërtius (III –), der dadurch belegen wollte, dass Epicharm viele Konzeptionen Platons bereits vorweggenommen habe. In diesem Fall die Konzeption, dass man ontologisch trennen müsse zwischen dem ›denkbaren‹ und ewigen Sein einerseits und andererseits dem ›wahrnehmbaren‹ Etwas, das in ständigem Fluss und fortgehendem Werden begriffen ist. Diese platonische Lösung des Problems ist wohl nicht der Vorschlag Epicharms gewesen. Allein die Kontrastierung solcher zwei unverträglicher oder wenigstens schwer vereinbaren Auffassungen von Wirklichkeit düre in der Absicht Epicharms – als Spiegel eines philosophischen Problems mit dem Unsterblichen und dem Sterblichen – gelegen haben. Beide Fragmente reflektieren das Phänomen des Hinzukommens zu einem bereits vorhandenen Bestand von Sein. Bei dem einen – Göttlichen – gibt es dergleichen überhaupt nicht; bei dem andern – zum Beispiel dem Menschen – gehen wir davon aus, dass es ständig passiert. Wie aber kann es dazu kommen, wenn wir mit dem Göttlichen oder unsterblichen Prinzipien jederzeit den Anfang machen müssen? Götter waren immer da und hörten niemals auf, das ist so immer gleich und durch dasselbe stets. Doch wird gesagt, dass ›Chaos‹ zuerst von den Göttern entstand!²⁸ Wie aber das? Es hat doch nichts, wovon es her, und nichts wohin ›zuerst‹ es gehen könnte. Also kam nichts zuerst? Nein, und auch nicht, bei Zeus, als zweites – von denen wenigstens, wovon wir jetzt auf diese Weise reden, sondern immer waren sie.²⁹ ²⁸ Es handelt sich um ein Hesiodzitat (g. ), das offenbar in der Diskussion war. ²⁹ Epicharm DK B .
omas Buchheim
Nicht nur die eine Aussage ist hervorzuheben, dass Götter oder immer seiende Prinzipien nicht zuerst einmal entstehen können; sondern darüber hinaus auch die Schwierigkeit, dass von ihnen aus auch nichts weiteres an zweiter Stelle entstehen kann. Denn sie verhalten sich immer gleich und llen alles nur durch sich selbst aus. Dies zweite Problem ist es, das die Angelegenheit r den geborenen und sterblichen Menschen so unangenehm macht. Er hat sozusagen gar keinen Platz mehr übrig, wenn die Götter oder unsterblichen Prinzipien existieren. Existieren sie aber nicht, dann kann auch wiederum nichts ›erst einmal‹ entstehen wie das Chaos nach Hesiod. So mutet die Existenz des Menschen in beiden Fällen wie ein utopischer Zufall an. Und doch ist das ›Hinzukommen‹ und ›Wegnehmen‹ von etwas der gängigste und normalste Sachverhalt der Welt, wie sie uns bekannt ist, und bei allem, was wir uns denken können, sogar bei Zahlen; aber erst recht, so sagt Epicharm, bei den Menschen und ihren Generationen: Wenn man zu einer Zahl, egal ob gerade oder ungerade, hinzusetzt einen Zählstein oder von den vorhandenen einen nimmt, hältst du dafür, dass sie noch dieselbe sei? – Ich keineswegs! Und auch nicht, wenn man zum Maß einer Elle hinzutut noch eine weitere Länge oder sie von der vorher vorhandenen abschneidet, dass weiter jenes Maß besteht? – Nein nein! – So sieh nun auch die Menschen an: Der eine wächst, der andre aber schwindet, in einem Wandel sind sie alle begriffen alle Zeit. Was aber sich verwandelt in seiner Natur und niemals in demselben bleibt, das wäre doch bereits ein anderes gegenüber dem damaligen, und du und ich sind gestern als andere und heute als andere entstanden, und sind als wiederum andere niemals dieselben nach dem Argument.³⁰
Das vorgebrachte Argument möchte sichtlich in einem Moment komprimieren und so auf die Spitze treiben, was sonst nur über Jahrzehnte und Generationen hinweg zu beobachten war: Bereits mit jeder Veränderung, jedem Zu- und Abnehmen von etwas, wird die Sache ›eine andere‹, die als nächstes kommt, statt der bisherigen, die offenbar fortgefallen ist. Wie ist dieses überall auffindbare Phänomen zu erklären, wenn die Grundlagen und Ausgangspunkte von allem ewige und sich immer gleich verhaltende Götter oder Prinzipien sind? Wie können immer andere Menschen sein, wenn die ihnen vorausgehenden Götter stets gleich und dieselben sind? ³⁰ Epicharm DK B .
Sterbliche Unsterbliche
Wie also lässt sich, wenn das All voll von unsterblichen und unvergänglichen Göttern und Prinzipien ist, ein Ursprung angeben r den wesentlich sterblichen Menschen? Drei im Prinzip mögliche Antworten entwickelten die Vorsokratiker auf diese intrikate Frage: . Der sterbliche Mensch ist ein partieller Tod (Heraklit) oder die zeitweilige Suspendierung (Alkmaion) des Unsterblichen. . Der sterbliche Mensch existiert als sterblicher gar nicht wirklich (z.B. Parmenides). . Der sterbliche Mensch ist eine bloß vorübergehende Konstellation unsterblicher Götter oder göttlicher Prinzipien (Empedokles). Es scheint so, als hätten die Vorsokratiker fast sämtliche Möglichkeiten ausprobiert, um das geschilderte Problem zu lösen. Und man könnte darüber hinaus zeigen, dass sie nicht die letzten waren, die es zu lösen versuchten, sondern dass auch spätere Vorsokratiker oder die klassischen Philosophen, Platon und Aristoteles, an ihm entlang ihre metaphysischen Auffassungen entwickelt haben.³¹ Für die Vorsokratiker gilt, dass es sowohl Beispiele gibt, die davon ausgehen, dass das Sterbliche, als auch solche, dass das Unsterbliche nicht ist,³² wie auch Beispiele, nach denen sich das Göttliche im Sterblichen paart und wieder trennt; und schließlich welche, wo das Unsterbliche unterbrochen wird oder sich zurücknimmt, um Sterblichem Raum zu geben. Einige dieser Beispiele sollen nun etwas näher in Augenschein genommen werden.
Zwischenfälle im Kreislauf der ewigen Dinge (Alkmaion) Keiner der vorsokratischen Physiologen und Denker wurde so wenig beachtet wie Alkmaion von Kroton. Dabei besitzen wir von ihm vergleichsweise viele Zitate und ³¹ Vgl. für Platon bes. den Timaios und Aristoteles die Metaphysik und De generatione et corruptione. Zwar muß das Vergängliche unvergängliche Prinzipien haben (die ›immer werdende‹ chôra bei Platon; die ekliptisch kreisenden Gestirne und den Tauschwandel der Elemente bei Aristoteles), aber jedenfalls nicht einfach dieselben wie die unsterblichen und unvergänglichen Dinge. ³² Als Beispiel für Letzteres käme Demokrit infrage, der, in für uns allerdings nicht mehr ganz durchsichtiger Weise, die unsterblichen Götter zu ›Idolen‹ erklärt hat (vgl. DK B ; B ; A –).
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Nachrichten. Außerdem scheint er ein sehr guter Kopf mit weitreichenden, wissenschasbildenden Ideen gewesen zu sein,³³ der noch in der Spätzeit des Pythagoras und damit etwa gleichzeitig oder gar üher als Parmenides geschrieben haben düre.³⁴ Alkmaion war Arzt von Beruf, und am berühmtesten sind seine Entdeckungen über den Menschen, die er als Arzt und durch anatomische Sektionen gewonnen zu haben scheint. Theophrast zitiert ihn mit dem Satz: »Der Mensch unterscheidet sich [von den übrigen Lebewesen], weil er allein versteht (xyniêsi), während die anderen zwar wahrnehmen, aber nicht verständig sind« (DK B a).³⁵ Die Konstitution des Menschen³⁶ und insbesondere die Zustände der Gesundheit und Krankheit hrt Alkmaion auf die Paarung gewisser Gegensätze in seinem Körper zurück, deren »Isonomie« oder Ausgeglichenheit r Gesundheit, deren »Monarchie« oder Dominanz eines von ihnen hingegen r Krankheit verantwortlich sei. Mit solchen Erkenntnissen über die Natur des Menschen hat Alkmaion bei den Ärzten und in den medizinischen Schrien r eine lange Zeit Schule gemacht. Doch nicht dies, sondern das spezifische Verhältnis des sterblichen Menschen zu unsterblichen Göttern oder Prinzipien des Alls interessiert uns hier. Alkmaion hat dazu ebenfalls hochinteressante Überlegungen beigesteuert. Zum einen besitzen wir ein Fragment (den Anfang seiner Schri: DK B ), in dem Alkmaion einen prinzipiellen Vergleich der menschlichen im Unterschied zu den nur Göttern vorbehaltenen Erkenntnismöglichkeiten anstellt. Danach »besitzen zwar die Götter über das Unsichtbare und über die sterblichen Dinge eine deutliche Erkenntnis (saphêneia), während den Menschen nur Vermuten aus Indizien (tekmairesthai)« möglich ist. Nicht der wissenschaliche Methode und ein entsprechendes Ethos verratende Begriff der ³³ Vgl. neuerdings die gute Arbeit von Horn , –; ferner Mansfeld ; Schubert , . ³⁴ Zwar ist die in Aristoteles’ Metaphysik I , a – überlieferte Nachricht, er sei jüngeren Alters gewesen, als Pythagoras alt war (bis ca. ), späterer Hinzufügung verdächtig. Doch muß sie deswegen nicht falsch sein. Sie wird unterstützt durch die sicherlich von Aristoteles ebendort geäußerten Zweifel, ob die Gegensatzlehre der Pythagoreer nicht eine Erfindung von Alkmaion gewesen sei, der nicht selbst Mitglied des Bundes gewesen ist; ferner dadurch, dass Alkmaion seine Schrift direkt an eine Gruppe von Pythagoreern der ersten Stunde gerichtet hat (vgl. DK B ). Er dürfte nach diesen Informationen etwas älter als Parmenides gewesen sein (der wiederum wahrscheinlich kurz nach geboren ist). ³⁵ In diesem Zusammenhang ist auf Berichte zu verweisen, nach denen Alkmaion die zentrale Funktion des Gehirns erkannte und den Sehnerv oder ›Wege‹ der Augen zum Gehirn entdeckt hat (DK A ; ; ; vgl. .) ³⁶ Vgl. Aristoteles, Metaphysik I , a – (= DK A )
Sterbliche Unsterbliche
Indizienauswertung als solcher ist r uns jetzt von Interesse, sondern der damit verbundene Unterschied, nach welchem der Mensch offenbar nur Stücke der Wirklichkeit auffasst, die er zu prinzipiell unsicheren Vermutungen über das Ganze zusammensetzen und folgerichtig ergänzen muss, während die Götter auf Anhieb die Sachen selbst zur Gänze überblicken und daher unerschütterliche Klarheit der Erkenntnis besitzen. Der Mensch ist nach Alkmaion eingeflochten und festgeheet an einen bestimmten und begrenzten Ort des ganzen Weltzusammenhangs, während die Götter denselben insgesamt übergreifen. So scheint es sich nach Alkmaions Auffassung auch in Bezug auf das gesamte Dasein des einzelnen Menschen im Vergleich zu dem die Zeit überdauernden Göttlichen und zur Seele als Prinzip des Lebens überhaupt zu verhalten. Aristoteles berichtet in seiner Schri ›Über die Seele‹ zu diesem Verhältnis folgendes: Ähnliche Auffassungen scheint auch Alkmaion über die Seele zu hegen; denn er sagt, dass sie unsterblich sei, weil sie den Unsterblichen gleiche; dies aber komme ihr zu als einer immer bewegten. Denn auch alles Göttliche sei stets kontinuierlich bewegt: Mond, Sonne, die Sterne und der ganze Himmel.³⁷
Unter »Seele« ist im Kontext der aristotelischen Überlegung hier nicht die Individualseele eines einzelnen Menschen zu verstehen, sondern vielmehr das »Prinzip« der beweglichen und wahrnehmenden Wesen im All. Dieses ist als Prinzip so ewigwährend wie die Götter und Gestirne unsterblich sind, während der einzelne – wenn auch beseelte – Mensch gerade der Endlichkeit und Zerstörung anheim gegeben ist. Diese Auffassung Alkmaions über den Unterschied zwischen Göttern und Menschen gewinnt r uns noch klarere Konturen durch eine zweite, das Argument aushrlicher darstellende Schilderung (von der ein gewisser Teil sogar unter die Fragmente gezählt wird: DK B ) über das unvermeidliche Sterben des Menschen und seinen Grund, sowie noch fernere Nachrichten, Alkmaion habe göttliche Ewigkeit in der ewigen Selbstbewegung des Lebens im All (der Seele) und im Kreislauf der Gestirne erkannt.³⁸ Das besagte Fragment wird überliefert in den peripatetischen Problemata, die unter dem Namen des Aristoteles laufen, und findet sich dort in einem Zusammenhang, der beide zuletzt beschriebenen Gedanken zu verbinden scheint: Wie muss man das Frühere und Spätere begreifen? Auf die Weise, dass früher als wir die bei Troia und früher als jene die vor ihnen waren, d.h. die ›nach oben‹ stets früher sind? Oder aber – wenn doch irgendein Anfang, ein Mittleres und ein Ziel ³⁷ Aristoteles, De anima I , a –b . ³⁸ Siehe DK A und und vgl. hierzu Horn .
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von allem gegeben ist, und einer beim Altwerden zur Grenze käme und wieder zum Anfang sich umwendete, jedoch das dem Anfang Näherstehende früher ist – was hindert dann, dass wir in dem Bereich liegen, der eher zum Anfang gehört? Wenn aber dies, dann wären wir früher. Wie beim Himmel und jedem der Gestirne ein gewisser Kreislauf in der Fortbewegung gegeben ist – was sollte hindern, dass auch das Entstehen und Zugrundegehen der vergänglichen Dinge so beschaffen sei, dass diese Dinge wieder entstehen und vergehen? Wie man ja auch sagt: Ein Kreislauf sind die menschlichen Angelegenheiten. Indessen dafürzuhalten, dass es numerisch dieselben [Menschen] seien, die stets werden, ist einfältig; vielmehr, dass sie es der Art nach sind, möchte man eher annehmen. Also auch dann, wenn wir diese früheren sein wollten, und man eine derartige Anordnung der Reihe ansetzte, dass man sie wieder zum Anfang zurückkehren lässt und kontinuierlich macht und sich immer auf die gleiche Weise verhalten lässt, [wäre das einfältig]. Denn die Menschen, sagt Alkmaion, gehen deswegen zugrunde, weil sie nicht vermögen, den Anfang an das Ende zu knüpfen – wenn man, was er auf glänzende Weise formuliert hat, gleichsam im Umriss annehmen und das Gesagte nicht genau durchgehen möchte. Wenn es also auch ein Kreislauf ist, vom Kreis aber weder ein Anfang noch ein Ende gegeben ist, würde es doch keine Früheren geben, die dem Anfang näher sind: weder wir gegenüber jenen noch jene gegenüber uns.³⁹
Alkmaion hat offenbar ein Argument formuliert, um zu erklären, wie inmitten ewiger und göttlicher Kreisläufe dennoch ein sterbliches Wesen wie der Mensch vorkommen kann: Er verliert in seinem Dasein sozusagen den Faden des Anfangs und kommt deswegen nicht da heraus, wo er begonnen hat, wie es nur die Götter und das Göttliche vermögen. Die Idee, das Ewige und Immerseiende als selbstbewegten Kreislauf zu denken und dadurch zugleich einen Weg zu erkennen, wie ihm das Sterbliche eingegliedert werden kann, ohne ihm gleich zu sein, scheint eine großartige Entdeckung Alkmaions gewesen zu sein. Ich halte es nicht r ausgeschlossen, dass Alkmaion das geschilderte Argument gegen die Hauptlehre der Anhänger des Pythagoras vorgebracht hat, an die er sich mit seiner Schri ausdrücklich wendete. Denn deren Lehre war eben die der Wiedereinkörperung derselben Seele nach einem Umlauf des Lebens. Xenophanes verspottet in einem wörtlichen Fragment aus einem seiner Gedichte Pythagoras und die Pythagoreer r diese These und lässt keinen Zweifel daran, dass die numerische Identität der wieder verkörperten Seele gemeint war: Und wie er einst vorbeiging, als ein kleiner Hund misshandelt wurde, sagt man, habe er sich erbarmt und diesen Spruch getan: ³⁹ Pseudo-Aristoteles, Problemata , , a –.
Sterbliche Unsterbliche »hör auf mit der Quälerei, da es die Seele eines befreundeten Mannes ist, die ich erkannt habe an dem Laut ihrer Stimme«.⁴⁰
Der Mensch also ist nach Alkmaion dem von göttlichem Leben regierten Weltgeschehen so eingegliedert, dass er die ihn konstituierenden Gegensätze dank seiner sich selbst bewegenden Seele r eine gewisse Zeit in der Balance hält, aber auf die Dauer nicht die Kra aufbringt, sein dadurch mögliches Leben so zu hren, dass es immer da mündet, wo es auch beginnt. Dies vermögen nur die Götter, die deshalb ewig sind, während die Menschen zugrunde gehen.
Kleine Tode ewigbrennender Lebendigkeit (Heraklit) Noch raffinierter und tiefsinniger sind eilich die Lösungen, die Heraklit r das oben geschilderten Problem mit dem sterblichen Menschen inmitten unsterblicher und göttlicher Zusammenhänge des Kosmos anzubieten hat. Sie sind allerdings auch seit Heraklits Zeiten in ihrer genauen Bedeutung rätselha und umstritten,⁴¹ so dass man viel Interpretation aufwenden muss, um einen vernünigen Sinn aus den Fragmenten zu gewinnen, und doch niemals sicher sein kann, ihn richtig zu verstehen.⁴² Die Ausgangslage r das Problem, dass nach Heraklits Ansicht eine unsterbliche, ewig lebendige und insofern göttliche Ordnung des Kosmos existiert, wird uns indessen durch ein ziemlich aushrliches und recht gut verständliches Fragment deutlich vor Augen gehrt: Diesen Kosmos, der derselbe ist für alle Dinge, erzeugte weder irgendeiner der Götter noch der Menschen, sondern er war immer und ist und wird sein: ewiglebendiges Feuer (pyr aeizôon), entzündet in Maßen und gelöscht in Maßen. [...] Wenden, bewirkt von Feuer: am Beginn Meer, vom Meer aber die eine Hälfte Erde, die andere Hälfte entzündlicher Hauch. [... Umgekehrt] wird Meer ausgegossen und bemessen zum selben Verhältnis, wie es war, bevor Erde entstand.⁴³ ⁴⁰ Xenophanes DK B . ⁴¹ Schon Sokrates soll gemeint haben, es bedürfe eines Delischen Tauchers, um die ›Perlen‹ Heraklitischer Gedanken aus der Tiefe zu bergen (vgl. DK A ,; vgl. A , Text des Diogenes). ⁴² Zur prinzipiellen Struktur der Heraklitischen Kosmologie vgl. Buchheim ; an die dort erklärte Grundbestimmung alles Seelischen als eine aus Verbrennungsvorgängen aufsteigende ›anathymiasis‹ (vgl. Aristoteles, De anima I , a –) halte ich mich auch im Folgenden, ohne dies hier noch einmal im Einzelnen darlegen und begründen zu können. ⁴³ DK B – unter Weglassung der Zwischenerklärungen, die der überliefernde Autor (Clemens) zu den Zitaten gibt.
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Der Kosmos hat nach Heraklit eine ewig gleiche Struktur, die niemals entstanden ist und von niemandem hervorgebracht wurde. Diese Struktur besteht in kosmischen Verbrennungsvorgängen, die das Meer in mineralische Schlacke und aufsteigende Dünste zerlegen, die wiederum durch atmosphärische Verbrennungsvorgänge, welche den leuchtenden Brand der Gestirne einschließen, in Niederschlag verwandelt werden, der als Wasser und Regen zur Erde zurückkehrt und das Meer wiederaufllt. Dieser gigantische Brand hat »Maße« im Einzelnen wie im Ganzen. Sie bemessen, wie viel von etwas Bestimmtem verbraucht wird r das daraus aufbrennende Zehren eines anderen aus ihm. Heraklit meint, dass die Scheidung sowohl des Kosmos als auch von allem in ihm durch Feuer geschehe, was er folgendermaßen ausdrückt: »Alles aber steuert der Blitzschlag«, d.h. richtet es aus, wobei er mit »Blitzschlag« das ewige Feuer meint. Auch meint er weiterhin, dass das Feuer mit Verstand ausgestattet und die Ursache der Ausformung von Gesamtheiten sei: er nennt das »Entbehrung« und »Erfüllung«; Entbehrung ist nach ihm die Ausformung, die Verfeuerung dagegen Erfüllung. Denn »alles« – so sagt er – »wird das Feuer, herangekommen, scheiden und einnehmen«.⁴⁴ Die Sonne kann ja ihre Maße nicht überschreiten; sonst würden die Erinyen (Rachegottheiten) als Helfer des Rechts sie finden!⁴⁵
So entbrennen die Elemente voneinander und verursachen auf diese Weise jeweils durch ihr ›Aufleben‹ den Tod des verbrannten anderen Elements: Feuer lebt der Erde Tod und Luft lebt des Feuers Tod, Wasser lebt der Luft Tod, Erde den des Wassers.⁴⁶
Und auch das Leben – die Seele – eines einzelnen Menschen oder sonstigen Lebewesens zehrt von dem Brand der (verflüssigten) Nahrung, die es zu sich nimmt: Für Seelen Tod ist es, Wasser zu werden, für Wasser Tod, Erde zu werden; aus Erde aber entsteht Wasser, aus Wasser Seele.⁴⁷ Alle Seelen flögen über dem Flüssigen hin, um Kontakt zur Entstehung zu halten. Weswegen auch Heraklit sage, dass es für Seelen Labung statt Tod brächte, feucht zu werden, Labung aber sei für sie die Hinabbeugung zur Entstehung.⁴⁸ ⁴⁴ DK B – (nach Hippolytos). ⁴⁵ DK B . ⁴⁶ DK B (nach Maximus von Tyros;); das Zitat wird meist nicht für wörtlich, sondern für eine sinngemäße Wiedergabe gehalten. ⁴⁷ DK B . ⁴⁸ DK B (bei Porphyrios erhaltener Bericht des Numenios über typische Auffassungen der Alten von der Seele).
Sterbliche Unsterbliche
Unter den innerhalb der kosmischen Gesamtordnung nach bestimmten Maßen auseinander entbrennenden Dingen und Beschaffenheiten gibt es nun sowohl sterbliche Wesen wie unsterbliche . Die einen verlöschen einst zur Gänze, die anderen brennen immerfort aus neuem Nachschub und werden höchstens zeitweise und regional begrenzt von anderem Leben eingenommen. Dies Tauschgeschehen,⁴⁹ in dem sich das eine als göttlich behauptet, das andere aber als sterblich nur kurz auflebt, um wieder r anderes verzehrt zu werden, schildert Heraklit als einen ewigen Streit oder »Krieg« in einem mehr als berühmten Fragment: Krieg ist einerseits der Vater aller Dinge, andererseits König von allen; und die einen erwies er als Götter, die anderen als Menschen, die einen machte er zu Sklaven, die anderen zu Freien.⁵⁰
Ob einem das gefällt oder nicht: Die gegenseitige Zehrung der Dinge voneinander und ihr Angriff aufeinander ist nach Heraklit eine endlose kriegerische Auseinandersetzung, durch die Niederlagen und Siege höchst ungleich verteilt werden. In ihrem Verlauf hat sich herausgestellt (und wird sich auch weiterhin zeigen), was ein Gott oder göttlich und was ein Mensch oder sterblich ist; ebenso wer ein eies Leben genießen kann und wer seines in Knechtscha verbringt. Wenn wir nun, so orientiert über die grundlegenden kosmischen Zusammenhänge nach Heraklit, agen, wie die Natur des sterblichen Menschen sich zu der der Unsterblichen und der Götter verhalten mag, so gibt Heraklit eine unerhörte Antwort, die an Kühnheit kaum überboten werden kann. Denn er scheint zu behaupten, dass das Sterbliche dem Unsterblichen ein zeitweiliges Leben gleichsam abtrotzt, indem es im Verlauf jener Auseinandersetzung von ihm, dem Göttlichen, in Gestalt von dessen partiellem Tod sein kleines Leben zehren lässt – allerdings nicht r lang oder gar r immer. Zum Beleg dieser Aussage besitzen wir ein sehr gut und mehrfach bezeugtes Zitat des Heraklit, das folgendermaßen lautet: Unsterbliche sind Sterbliche, Sterbliche Unsterbliche – als welche, die den Tod jener leben, aber das Leben jener gestorben sind.⁵¹ ⁴⁹ Vgl. DK B : »Eintausch für Feuer sind alle Dinge und Feuer für alle, so wie für Gold Waren und für Waren Gold.« ⁵⁰ DK B . Vgl. auch B : »Man muß wissen, dass der Krieg ein allgemein seiender ist, und der Streit ein Recht, und dass gemäß dem Streit alles entsteht und gebraucht wird.« ⁵¹ DK B ; vgl. den Schluss von B . Die Bedeutung des Fragments ist freilich umstritten; zum Verständnis vgl. z.B. Nussbaum , –: Sie betont mit Recht, dass »jener«
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Die Sterblichen kommen danach zu einem eigenen Leben, indem sie die Zehrung, d.h. das Leben der Unsterblichen stellenweise suspendieren und r sich selbst zu nutzen oder umzufunktionieren vermögen. Als Entstandene wollen sie leben und Todesschicksal haben, d.h. vielmehr: innehalten (mallon de anapauesthai), und Kinder hinterlassen sie, dass Todesschicksale werden.⁵²
Alle als lebendig entstandenen Wesen – gemeint sind aber vor allem die sterblichen Menschen – wollen demnach so existieren, dass sie zugleich dem Tod unterliegen; denn in dieser Situation setzen sie das Immer-Leben der kosmischen Götter aus oder halten es inne um den Preis der eigenen Sterblichkeit. So sind sie zugleich ausgeschieden und getrennt aus der ewigen Existenz der Unsterblichen (d.h. »sind das Leben jener gestorben«) und haben stattdessen r sich eingetauscht ein zeitlich begrenztes Dasein als Menschen (»leben den Tod jener«). Deshalb wäre es, wie Heraklit an einer (ekeinôn) beide Male auf dasselbe Bezugswort zu beziehen ist; fragt sich nur, auf welches – Sterbliche oder Unsterbliche? Sie skizziert ein Verständnis des Satzes, nach dem beide Möglichkeiten auf dasselbe hinauslaufen: Sterbliche und Unsterbliche hätten »separate types of immortality« (), die durch den Satz einander gegenübergestellt würden. Nämlich die Götter eine »static«, die Menschen eine »kinetic« immortality. Mit letzterer sei der unsterbliche, aber immer im Wandel begriffene Nachruhm eines Menschen gemeint (kleos – Nussbaum vergleicht auf sehr ansprechende Weise DK B ). Doch krankt eine solche – vergleichende – Auffassung des Fragments immer daran, dass sie die direkten Objekte (»Leben« und »Tod«) nur als tertia comparationis aufzufassen vermag (»living with respect to the death« etc.) Die sehr hilfreiche Diskussion bei Kahn , – basiert auf der Übersetzung »living the others’ dead, dead in the others’ life«; hier wird m.E. nicht klar genug, dass die Sterblichen zugleich damit, dass sie den Tod der Unsterblichen leben, deren Leben gestorben sind, d.h. einen hohen Preis zu zahlen haben; durch den Einschub des Wörtchens »in« sagen beide Teile zweimal dasselbe aus: dass die Unsterblichen tot sind im Leben der Sterblichen (so auch die Paraphrase von Kahn , : »Mortals live the death of immortals. Immortals are dead in the life of mortals«), aber der Satz sagt so nicht mehr, dass die Sterblich-Lebenden zugleich auch Tote sind durch diesen ihren Raub (vgl. dazu im Übrigen DK B ). ⁵² DK B . Hussey , – mit Anm. in seiner Interpretation des Fragments hält die Worte mallon de anapauesthai für »possibly not authentic«; doch verweist er auch auf die gegenteilige Möglichkeit mit DK B a. Kahn , Anm. behauptet dagegen mit Entschlossenheit, wenn auch ohne Begründung: »e words [...] must belong to Clement, not to Heraclitus«. Wenn indessen die Sterblichen gestorbene Unsterbliche sind, dann würde ›Ausruhen‹ oder ›Innehalten‹ durchaus einen Sinn ergeben: eine Weile lang nicht unsterblich sein.
Sterbliche Unsterbliche
anderen Stelle sagt, »r die Menschen nicht besser, wenn ihnen alles würde, was immer sie wollen«⁵³ – denn das brächte sie wiederum zur Selbstauflösung. Das sterbliche Leben ist deswegen nur von begrenzter Dauer, weil nach Heraklit alles Sterbliche und vor allem der Mensch immer nur an dem einen der Gegensätze hängt, seine ihm eigene Natur und Konstitution aber an den ihm emden und äußerlich zustoßenden Gegenteilen zerbricht oder zugrundegeht. Während alles Göttliche prinzipiell so gebaut ist, dass es beide Gegensätze zu ein und demselben Leben verbindet, das deswegen grundsätzlich über dem Leben alles Sterblichen und sich in Gegensätze Verstrickenden steht. Das Sterbliche nimmt in Kauf, als einzelnes unter der Macht übergeordneter Gegensätze zu stehen, während die Existenz des Unsterblichen das einzelne in ein sie übergreifendes Leben auflöst: Gott ist Tag Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Sattheit Hunger; er verwandelt sich aber, so wie 〈Feuer〉, wenn man Duftstoffe beimischt, genannt wird nach dem Geruch eines jeden.⁵⁴
Die uns aueibenden und unser Leben regierenden Gewalten sind dieselbe göttliche Realität, die uns nur jeweils ein anderes Gesicht zukehrt. Als Sterbliche müssen wir unter dem leiden, was Unsterbliche aus ihrer Lage zu übergreifen vermögen.⁵⁵ Heraklit kann gar nicht genug betonen, dass der Preis r das eigene Leben oder Brennen des Menschen das Absterben in Bezug auf das übergreifende Leben und die allgemeine Sicht des kosmischen Zusammenhangs der Gegensätze bedeutet. Er vergleicht das Einzelleben des Menschen mit der Entzündung eines nur r ihn selbst leuchtenden Lichts in der Nacht, wenn die allgemeine Sichtbarkeit der Dinge erloschen ist: Ein Mensch in der Nacht entzündet für sich selbst ein Licht – gestorben, nachdem die Blicke erloschen sind; lebend aber entzündet er sich vom Toten – schlafend, nachdem die Blicke erloschen sind; als erwachter entzündet er sich vom Schlafenden.⁵⁶
Auf jeder Stufe wird aus der vorangehenden ein eigenes, aber kleineres ›Licht‹ oder ›Brennen‹ entfacht, das dem Menschen leuchtet, während das vorher damit verbundene Sehen erloschen ist. Beginnt man am Ende des Satzes, so ist der wache Zustand ⁵³ DK B . ⁵⁴ DK B . ⁵⁵ Daher die häufigen Beteuerungen Heraklits, dass dem Göttlichen alles eins oder gut und gerecht sei: vgl. z.B. DK B ; B ; B ; B ; B ; vgl. auch hierzu Nussbaum , –. ⁵⁶ DK B .
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eines jeden Tages entfacht aus dem Schlafenden und seinen Träumen – was man noch leicht begreifen kann. Aber auch schon das Lebendigsein des einzelnen wird von einem »Gestorbenen« in ihm während des Schlafens entfacht.⁵⁷ Und schließlich ist er als Mensch zuerst einem wiederum weiterreichenden Licht oder Brennen gestorben, das eben – folgt man dem Fingerzeig der bisher angehrten Zitate – das unsterbliche, d.h. göttliche Leben ist. Ein Fragment des Euripides, das Platon mit vielsagender Zustimmung im Gorgias zitiert,⁵⁸ scheint einen ähnlichen Gedanken wie den Heraklits auszudrücken. Damit finden wir wiederum ein (nun allerdings deutlich späteres) Echo vorsokratischen Nachdenkens über den Menschen bei einem großen Dichter: Ich würde mich nicht wundern, wenn Euripides die Wahrheit sagte mit seinem Ausspruch: »Wer aber weiß, ob nicht das Leben doch ein Sterben ist, das Sterben aber Leben?«⁵⁹ Jawohl – vielleicht sind wir in der Tat Gestorbene!
Das Bisherige zusammenfassend können wir sagen, dass nach Heraklit der einzelne Mensch lebt, indem er ein vorübergehend abgestorbenes Göttliches in sich birgt und festhält, das er eine Zeit lang umzuwandeln vermag in sein eigenes Leben und Denken.⁶⁰ Dieses aber düre – im Falle des Todes des Menschen – wieder zurückkehren und erneut dem göttlichen Allleben anheimfallen und eingegliedert werden. Das könnte der Grund dar sein, dass die Seele des Menschen laut Heraklit zwar im Prinzip alles berührt und erkennt, obwohl sie wie durch eine Schallmauer, die selten von einem Menschen durchbrochen wird, getrennt ist von dieser ihrer göttlichen Einsichtsmöglichkeit. Sie ist gleichsam kindisch lallend und vergessen um den getöteten Gott in ihr: Der Erwachsene heißt kindisch lallend im Vergleich mit Gott (daimôn) wie das Kind im Vergleich mit dem erwachsenen Mann.⁶¹ ⁵⁷ Vgl. ähnlich DK B : »Dasselbe ist darinnen Lebendes und Totes und das Wachende und Schlafende und Junges und Altes; denn diese sind in der Umwandlung jene und jene in der Umwandlung diese.« ⁵⁸ Platon, Gorg. e. ⁵⁹ Euripides, Polyidos Frg. (Nauck). Es handelte sich um ein so bekanntes Diktum, dass Aristophanes es in den Fröschen (Vers ) einer ziemlich höhnischen Parodie für wert befand. ⁶⁰ In etwa so beschreibt Sextus in einem ausführlichen Testimonium die heraklitische Lehre vom Weltlogos (DK A ), wobei er aus offenbar sehr guter Quelle einige der besten Fragmente Heraklits zitiert. ⁶¹ DK B . Vgl. B : »Die menschlichen Auffassungen hielt Heraklit für das ›Spielzeug von Kindern‹.«
Sterbliche Unsterbliche Obwohl sie ständig in Kontakt sind mit dem logos, der alles durchwaltet, sind sie geschieden von ihm, und die Dinge, die ihnen am Tage begegnen, erscheinen ihnen als fremd.⁶² [...] Den anderen Menschen ist verborgen, was sie im Wachen tun, wie sie, was im Schlafe, vergessen haben.⁶³
Demgegenüber gehört Heraklit seinem Selbstverständnis nach zu den wenigen, die diese innere Schallmauer ihrer Seele durchbrochen haben und daher den logos aussprechen können, nach dem »alles nur Eines« ist, das alles in allem steuert und lenkt (vgl. Frg. ; ; u.a.) Wenn man sie nämlich durchstößt und den Toten in einem gleichsam wieder erweckt, gibt es keine Grenzen der im Menschen selbst zu entdeckenden Erkenntnis des Alls mehr. Die Grenzen der Seele könntest du wandernd nicht finden, auch wenn du jeden Weg abschreiten wolltest: so tiefen logos besitzt sie.⁶⁴ Nachgegraben habe ich [nur] mir selbst.⁶⁵
Erkenne durch richtiges Denken, dass du Ewiges bist (Parmenides) Was ist der Mensch nach Parmenides? Nach den beschwörend und streng wirkenden Darlegungen seines Lehrgedichts kommt es darauf an, ob er ein »wissender« Mensch ist oder nicht.⁶⁶ Denn allein »den Wissenden tragen«, wie Parmenides im Proömium seines Lehrgedichts schreibt, nachdem er einmal auf den Weg der Wissenscha gelangt ist, wie von selbst und ohne weiteres Zögern »Pferde und Wagen« zur Wahrheit, »soweit sein Eifer reicht«. Alles hängt r ihn lediglich von der »Entscheidung« ab,⁶⁷ ob er im Denken dem Weg des Seins (»dass ist und dass Nichtsein unmöglich ist«)⁶⁸ alleine folgt, oder mit »wankelmütigem Geist« bald den Weg des Seins und bald wieder den des Nichtseins (»dass nicht ist und Nichtsein unerlässlich ist«)⁶⁹ einschlägt, wie ⁶² ⁶³ ⁶⁴ ⁶⁵ ⁶⁶ ⁶⁷ ⁶⁸ ⁶⁹
DK B ; vgl. B . Schluss von DK B . Vgl. ferner B ; und . DK B . DK B . Vgl. DK B , und B ,. DK B ,–; vgl. , und per contrarium B ,. DK B ,. DK B , .
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es der »unentschiedene Haufe der Sterblichen« tut, die eben r gewöhnlich »nichts wissende« sind.⁷⁰ Das Denken und die Denktätigkeit (nous, noein) des Menschen sind laut Parmenides göttliche Lotsen und Leitlichter – »Sonnenmädchen« – in uns, die, wenn wir ihnen die unangefochtene Lenkung überlassen, einen jeden unfehlbar zur Erkenntnis der unsterblichen Natur des Seienden insgesamt hren, dem er auch selbst angehört. Das verlangt allerdings ein hohes Maß an Disziplin und Konzentration auf den allein richtigen Weg des Denkens. Es ist nach Parmenides keineswegs so, dass man nur mit einer gleichsam höheren Fähigkeit – der des Denkens – Umschau halten müsste, um wissenschalich zu denken. Vielmehr muss man sich streng an den allein richtigen Weg, »dass ist und dass Nichtsein ausgeschlossen ist«, halten. Die Zurückweisung aller gegenteiligen Anfechtungen ist darum so schwer, weil die anderen Wahrnehmungsweisen und Erkenntnismittel – wie nach Parmenides die Sinne und die Sprache – uns ständig dazu verhren, die trügerische Welt des Anscheins r das Wahre zu halten, und uns so in der sterblichen, einer zufälligen Örtlichkeit unserer Glieder ausgelieferten Existenz festhalten. Sie ersticken gleichsam den Zug zum Göttlichen in uns, der durch die Sonnenmädchen ermöglicht wird. Am Ende des Proömiums, wo Parmenides dank der Führung dieser Mädchen zur Göttin des Alls gelangt ist, erklärt ihm diese: Junger Mann, in Gemeinschaft mit unsterblichen Zügelhalterinnen und den Stuten, die dich bringen, gekommen an unser Haus, sei mir gegrüßt, da dich keineswegs ein übles Los vorschickte, diesen Weg zu beschreiten – der nämlich weit ab vom Pfad der Menschen verläuft – sondern Ordnung und Recht. So aber gebührt dir, alles zu erfahren, sowohl der in sich gerundeten Wahrheit unerschütterliches Herz als auch die Ansichten der Sterblichen, denen keine wahre Glaubwürdigkeit innewohnt.
Dies also, ob der Mensch einer ist, der durch Denken auf die Bahn des Wissens gesetzt wurde oder nicht, macht den größten Unterschied r sein Dasein. Denn in dem einen Fall ist der Mensch nicht mehr ein sterblicher, sondern in die Wahrheit aufgenommen und eins mit dem notwendig Unsterblichen und Göttlichen. Wie auch ein später Platoniker, Ammonios, uns berichtet,⁷¹ habe Parmenides in dieser Hinsicht ⁷⁰ Siehe DK B ,–. ⁷¹ Vgl. DK A .
Sterbliche Unsterbliche
Platons Lehren und auch die ›Theologie‹ des Aristoteles vorweggenommen, indem er radikal und mit unerbittlicher Konsequenz »in eigenen Worten behauptet, dass nichts neben den Göttern existiere, weder Vergangenes noch Küniges«. Das eben Gesagte ist nach Parmenides die ungeheure Wahrheit, auf die wir gestoßen werden, wenn wir uns einzig und allein an das strenge Denken halten, während wir durch die Sinne und gewohntes Sprechen uns in anderen, aber falschen Auffassungen über das Wirkliche festhalten lassen. Der Wissende auf dem einzig richtigen Weg des Denkens erkennt, inwiefern »Entstehung ausgelöscht ist und Verderben unbekannt«, dass sie nämlich beide abseits vom Denkbaren »in die weiteste Ferne verschlagen sind«.⁷² Der berühmte Philologe und Übersetzer des parmenideischen Gedichts ins Deutsche,⁷³ Uvo Hölscher, hat in einem vielzitierten Aufsatz gleichen Titels diese durch Anstrengung von Wissenscha und Erkennen errungene Gewissheit des Parmenides eines der zentralen »existenzialen Motive der ühgriechischen Philosophie« genannt.⁷⁴ Dass der Mensch den nous hat – das von keiner Wahrnehmung mehr irritierte und nur seiner eigenen inneren Konsequenz folgende Denken – macht ihn, wie auch Pindar im Anfangszitat sagte, dem ewigen Göttlichen gleich. Bemerkenswert ist, wie die Göttin sich in Parmenides’ Gedicht immer wieder mit Imperativen und ermutigenden Apostrophen an den Menschen wendet, der den Weg zum Göttlichen, d.h. den Weg des »Denkenden« und »Wissenscha Treibenden« eingeschlagen hat. So als sei der Mensch, bleibt er sich selbst überlassen, konstitutionell zu schwach, um allein r sich und ohne aktive Unterstützung Gottes seiner eigenen Denkfähigkeit treu zu sein und nicht wieder in die Welt der unwissenschalichen Sinneswahrnehmung rückfällig zu werden: Erblicke mit dem Denken, wie Abwesendes gleichermaßen sicher anwesend ist: denn es wird nicht das Seiende abschneiden vom Festhalten am Seienden, weder wenn es überall hin gänzlich zerstreut ist über den Kosmos, noch wenn es versammelt ist.⁷⁵
An diesem Fragment ist zu erkennen, dass der entscheidende Einstiegspunkt r die göttliche Einsicht nicht nur der ist, dass man das Seiende denkt, sondern auch, dass man sein Denken entgegen den Anschein ganz der inneren Logik des Seins überlässt, d.h. sich auf dem allein richtigen Weg des Denkens hält. Denn der gewohnte ⁷² ⁷³ ⁷⁴ ⁷⁵
DK B , und ,. Hölschers Übersetzung ist im Suhrkamp-Verlag erschienen. Hölscher , bes. . DK B .
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Anschein ist vielmehr der, dass das Seiende sich über den ganzen Kosmos einerseits zerstreut und andererseits wieder zusammenballt. Hat man dagegen einmal den wissenschalichen Weg des Denkens r gangbar befunden, dann wird das Seiende wie von selbst kra seiner inneren Konsistenz immer und überall am Seienden festhalten und niemals einem Nichtseienden ein Dazwischenkommen gestatten. Ein ähnlicher Imperativ ist dieser: Nie nämlich kann dies bewältigt werden: dass Nichtseiendes sei. Vielmehr halte du den Gedanken fern von diesem Weg der Untersuchung, damit dich nicht eine vielbefahrene Gewohnheit auf diesen Weg zwinge, zur Regel zu brauchen das blicklose Auge und dröhnendes Hören und Zungenschlag, sondern entscheide durch logos den streitbaren Beweis, der von mir vorgetragen wurde.⁷⁶
Es ist typisch r die Denkweise des Parmenides, dass unser Denken einmal auf eine Spur gesetzt wie von selbst ihrem Geleis folgt. Dies aber im Richtigen genauso wie auch im Falschen. Deshalb kommt so viel darauf an, sich niemals mehr, hat man einmal die Unmöglichkeit des Seins von Nichtseiendem erkannt, der emden Schwerkra unserer sinnlichen Wahrnehmung und davon angeleiteten Sprechweise (»Zunge«) auszuliefern, sondern sich nur noch an den von der Göttin mitgeteilten logos zu halten. Denn die Gefahr ist zu groß, dass man erneut in eine falsche, aber scheinbar zwingende Bahn des Denkens gerät, auf der die Sterblichen normalerweise einher schliddern. Deshalb lässt es sich die Göttin nicht nehmen, erstens die Markierungen des richtigen Denkwegs hervorzukehren, an denen man sich stets neu vergewissern kann, noch in der richtigen Spur zu denken; zweitens auch – und nur vordergründig betrachtet überflüssig – die verhrende Kra und scheinbare Plausibilität des sinnlich erfahrbaren Weltgeges und der damit einhergehenden Rede- und Denkweise darzulegen. Denn derjenige, der die Gründe des Falschen erkannt hat, kann durch ihre scheinbaren Plausibilitäten nicht mehr so leicht »übertrump« werden.⁷⁷ Die Anziehungskra des falschen Weges ist r die Menschen darum so groß, weil das Denken, das sie zustande bringen, wie Parmenides sagt, immer aus einer Mischung all seiner »schwankungsreichen« Glieder und Teile datiert, aus denen ein Mensch sich zusammensetzt. Der innere Zusammenhalt des Seienden, der durch das Denken allein auf dem einzig richtigen Weg der Untersuchung erkannt werden kann, schließt es ja – wie wir bereits nach Auskun von Fragment erfahren – keineswegs aus, dass das ⁷⁶ DK B . ⁷⁷ DK B , : parelassêi.
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Seiende überallhin zerstreut oder irgendwo zusammengeballt ist. So ist der Mensch nach Parmenides eine nur sehr wenig vom Ganzen umgreifende, örtlich begrenzte Ballung von Gliedern – gewissermaßen ein winziges Einsprengsel im All des Seienden – von wo ausgehend und die Dinge betrachtend sein Denken ebenfalls allzu leicht ortsgebunden und ausgeliefert an die Mischung und Verteilung seiner wahrnehmenden Glieder bleibt. Erst die wissenschalich strenge Erkenntnis, die sich allein auf dem einen, dem richtigen Weg des Denkens hält, kann sich aus dieser kleingeistigen, örtlichen Angebundenheit des Denkens beeien und durch strenge Konsequenz zum göttlichen Ganzen sozusagen emporarbeiten, wie Parmenides es r sich im Proömium seines Gedichts beschrieben hat. Eine solche klein-örtliche Ausgangslage des Menschen schildert Parmenides ebenfalls in einem Fragment, das vermutlich aus dem Doxateil seines Gedichts stammt. Dieses Fragment, das Aristoteles in der Metaphysik im Zusammenhang einer Diskussion der Phänomenabhängigkeit der menschlichen Erkenntnis zitiert, enthält zugleich das meiste, was wir an direkter Aussage über die anthropologische Grundverfassung des Menschen in der Sicht des Parmenides zur Vergung haben: Wie er jeweils die Mischung von schwankungsreichen Gliedern besitzt, so ein Denken stellt sich bei den Menschen ein; denn dasselbe, was sie auch sinnt, ist die Gewachsenheit (physis) der Glieder für die Menschen, für alle und jeden: denn das, was vorherrscht, ist der Gedanke.⁷⁸
Ich verstehe das viel diskutierte Fragment so, dass das Denken des Menschen zunächst ganz und gar schwankend, unrein und trügend, ein irgendwo auftauchender Inbegriff der zufälligen Mischung von Gliedern ist, die sein Dasein irgendwo und irgendwann konstituieren. Ein jeder ist geworfen und überantwortet einer solch zufälligen und kleinräumigen Eingestreutheit in das Ganze des Seienden. Mit den Schwankungen seiner Glieder und Teile wechseln auch die Wahrnehmungen, die ihn auf den einen oder den anderen Weg des Denkens setzen. Doch ist der Mensch prinzipiell in der Lage, mithilfe jener Sonnenmädchen nur der Konsequenz des Denkens auf dem richtigen Weg Folge zu leisten. Dann gelangt er zu einer göttlichen Einsicht in den wahren Charakter des Seienden. Er schüttelt die örtliche Bindung und Beliebigkeit seines Ausgangspunktes sozusagen ab und erhält schließlich, nachfolgend allein der Leitung der Sonnenmädchen, eine göttliche und allen anders denkenden Menschen überlegene Unterstützung durch die Göttin des Alls selbst, die ihm die Wahrheit ⁷⁸ DK B .
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so übersichtlich und begreifbar macht, dass er rderhin keiner der Anfechtungen durch die Sinne und Sprache mehr erlegen ist. Das verlangt allerdings eine Kra und Konzentration auf den richtigen Weg des Denkens – der fernab des Pfades der gewöhnlichen Sterblichen verläu – die fast kein Mensch aufbringen kann und die zum ersten Mal Parmenides selbst hat leisten und darstellen können.
Lernen, eines zu sein mit göttlichem Leben (Empedokles) In den meisten bisher angehrten Beispielen ›anthropologischer‹ Selbstdeutung bei vorsokratischen Denkern haben wir eine jeweils unterschiedlich ausgeprägte und verschiedene Wege oder Methoden einschlagende Tendenz entdeckt, durch die der dem Göttlichen einerseits so nahestehende, andererseits so entschieden von ihm ausgeschlossene Mensch sich aus der Sterblichkeit und Verschlagenheit in zeitliche und örtliche Zufälligkeit gleichsam emporzuarbeiten versucht, um möglichst viel Anteil zu gewinnen an dem Unsterblichen. Was bei Alkmaion noch prinzipiell zum Scheitern verurteilt zu sein scheint und nur bestaunt wird beispielsweise am Gang der ewigen Gestirne, das gelingt dem Menschen bei Heraklit in gewissem Maß durch eine Erkundung seiner eigenen und wahren physis; und das kann auch nach Parmenides, wenngleich selten, gelingen durch allerstrengstes wissenschaliches Denken. Empedokles gibt sich nun vollends beherrscht von dem Problem und Gedanken, auf welche Weise wohl und durch welche Art des Denkens und Handelns der Mensch seiner endlichen Ohnmacht und zersprengten Lokalisierung in die zufällige »Mischung« seiner Glieder zu entrinnen vermag. Auf den ersten Blick eilich scheinen einige der überlieferten Fragmente aus dem Lehrgedicht Über die Natur im Gegenteil nur zu besagen, dass der Mensch wie alles sterbliche Leben und Wesen gar nichts sei gegenüber den bekannten ewigen »Wurzeln« und Prinzipien des Universums, d.h. den vier Elementen (Feuer, Wasser, Erde und Lu) plus Liebe und Streit, durch die jene sich zu immer neuen Mischungen und Konstellationen zusammenfinden und wieder zertrennen: Etwas anderes will ich dir sagen: Natur (physis) gibt es für keines von allen sterblichen Wesen, und auch kein Ende im unheilvollen Tod, sondern allein Mischung und Austausch der Gemischten gibt es, Natur heißt es bei ihnen nur dem Namen nach für die Menschen.
»Natur« – das meint in diesem Kontext die Geburt oder Hervorbringung eines zuvor nicht Gewesenen, also eines neuen und insofern selbständigen Dinges. Aristoteles
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erklärt die Bedeutung des von Empedokles verwendeten Begriffs (physis) mit Blick auf diese Stelle ausdrücklich als »Substanz« (ousia) im Sinne des eigenständigen Wesens oder wahren Seins von physisch entstandenen Dingen.⁷⁹ Empedokles möchte demnach sagen, dass alles durch Mischung und Entmischung der Elemente Zustandekommende keine eigenartige Substanz besitzt und nichts wirklich Neues über die Gemischten und deren Verkehr und Austausch miteinander hinaus ist. Ich denke, dass Aristoteles mit seiner Interpretation in der Hauptsache völlig das Richtige getroffen hat: Nichts substantiell Neues, keine eigenständige »Natur« über die der Wurzeln hinaus kommt nach Empedokles all dem zu, was immer aus ihrer Vermischung und Wiederzertrennung auch hervorgehen mag. Plutarch indessen, der dasselbe Zitat des Empedokles ebenfalls anhrt, wendet sich gegen die noch weiter gehende (von einem Epikuräer namens Kolotes vertretene) Ansicht, damit werde das Leben der Menschen sozusagen theoretisch ausradiert und annulliert und alles, was im All außer dem Sein der vier Elemente sonst noch passiert, r ein bedeutungsloses Garnichts erklärt. Vielmehr könne man – so meint Plutarch – die Sache auch genau anders herum verstehen, nämlich so, dass der Mensch nicht nur während der Phase seines individuellen Daseins als dieses oder jenes einmalige Gemisch von Elementen existiere, sondern auch vorher und nachher ein ihre kurzlebige Konstellation übergreifendes Sein und Erleben besitze.⁸⁰ Zum Beleg r diese umgekehrte Auffassung des Sachverhalts hrt Plutarch das folgende Fragment des Empedokles an: Kein weiser Mann würde sich solches in Gedanken weismachen, dass sie, solange sie leben, was man eine Frist des Lebens nennt, solange also existieren, und ihnen Elend und Schönes begegnet, während sie, bevor zu Sterblichen geronnen und nachdem aufgelöst, überhaupt nicht sind.⁸¹
»Das klingt nicht nach jemandem«, so meint Plutarch, »der leugnet, dass die Gewordenen und Lebendigen nicht sind, sondern vielmehr nach jemandem, der glaubt, dass auch die noch nicht Gewordenen und schon Gestorbenen existieren!«⁸² Dieser von Plutarch gewiesenen Spur, Empedokles zu verstehen, möchte ich nun etwas genauer folgen. ⁷⁹ ⁸⁰ ⁸¹ ⁸²
Metaphysik V , b –a ; vgl. De generatione et corruptione II , b –. Siehe Plutarch, adv. Col., Moralia F – E. Empedokles DK B . Plutarch, adv. Col., Moralia D.
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Beim Lesen der beiden Lehrgedichte (›Über die Natur‹ und ›Reinigungen‹) wird man von Beginn an den Eindruck nicht los, dass es Empedokles’ wahre Absicht gewesen sei, dem Menschen (ähnlich wie Parmenides) durch Wissen und Einsicht über die Beschränkung seines Daseins auf die einmalige und zufällige zeit-örtliche Gebundenheit seiner Mischung hinauszuhelfen, ihn von der Verhaung in die eng beschränkte und kurzlebige Zerstreuung zu beeien. Schon das Proömium scheint von diesem Pathos einer letzten Endes doch überwindbaren Endlichkeit getragen: Engen Horizont haben die Sinnesorgane, mit denen die Glieder versehen sind, und viel Elend dringt darauf ein, was die Gedanken blind macht. Kaum haben sie in ihren Leben einen winzigen Teil des Lebensganges gesehen, fliegen sie kurzen Geschicks wie Rauch hochsteigend davon, von dem allein überzeugt, dem jeder begegnet ist, wohin immer sie zerstreut wurden – doch im Glauben, das Ganze gefunden zu haben. So wenig sind diese wahrzunehmen für die Menschen noch vom Hören bekannt noch innerhalb der Fassungskraft ihres Denkens. Du aber, da du dich so weit abgesetzt hast, sollst erfahren – nicht mehr als sterbliche Einsicht verkraftet.⁸³
Bereits hier – ganz am Anfang des Naturgedichts – wird deutlich, dass jemand, der das Ganze überblickt, zu jemandem spricht, der wie die übrigen Menschen wenig vom Ganzen gesehen hat und dennoch denkt, dies, was er kennt, sei alles. In der dritten Zeile werden die kurzen »Leben« (zôai) der einzelnen und gewöhnlichen Menschen dem »Gang des Lebens« überhaupt (bios) gegenüber gestellt,⁸⁴ von dem jeder nur einen winzigen Teil erhascht, während er in dieser Mischung und solcher Konstellation seiner Glieder lebendig ist. Zôê bedeutet das Lebendigsein des einzelnen Organismus; bios dagegen die Geschichte und den Gang des Lebens – von dem jedoch paradoxerweise behauptet wird, jeder bekomme nur einen kleinen Teil davon mit während seines gesamten, bis zum Ende in der Auflösung zugebrachten Lebens. Die Träger dieses Lebens im Ganzen sind folglich nicht die einzelnen Lebewesen (die jeweils nur einen kleinen Teil davon erhaschen), sondern andere Wesen, die in der siebten Zeile nur mit dem Demonstrativpronomen »diese« (tade) eingehrt werden und von denen behauptet wird, sie seien den gewöhnlichen Menschen auf alle Weise unbekannt, aber würden nun dem herausgehobenen, besonderen Adepten und Hörer des Gedichts eröffnet, soweit er Einsichtsvermögen und Fassungskra dar besitze. ⁸³ Empedokles DK B . ⁸⁴ Zu dieser Unterscheidung vgl. die Beobachtungen von Kingsley , –.
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An einer späteren Stelle wird dieser erstaunliche Gegensatz zwischen dem Sprecher und Hörer des Gedichts noch weiter enthüllt als Unterschied zwischen einem Gotte und einem gewöhnlichen Sterblichen: [Wie Maler aus Farben] allem gleiche Gestalten hervorbringen, indem sie Bäume erzeugen und Männer und Frauen und Tiere und Vögel und wasserbewohnende Fische und sogar Götter, langlebige, an Würden die reichsten, so soll dir keine Täuschung den Sinn übertölpeln, dass woanders her der sterblichen Wesen Quelle sei, so unsagbar viele manifest geworden sind, sondern diese halte fest im Wissen, da du die Kunde von einem Gotte hörtest.⁸⁵
Die Beteuerung, der Hörer des Gedichts beziehe die dargelegte Kunde (mythos) von einem Gott, wird o auf entschärfende Weise so verstanden, dass damit die »Muse« des Empedokles gemeint sei, die er zu Anfang des Gedichts angerufen hatte.⁸⁶ Ich denke jedoch, dass dies, auch angesichts anderer verwandter Äußerungen des Empedokles,⁸⁷ eine allzu verharmlosende Deutung der bewusst Anstoß erregenden Worte des Empedokles ist. So sehr es also heutige Leser schockieren mag: Empedokles, der Sprecher des Gedichts und selbst ein Gott,⁸⁸ lehrt sein Gegenüber, der jedenfalls ein Mensch ist, ein unerhörtes Wissen über die Bildung des Alls und aller Wesen aus immer denselben »diesen«, die durch Vielfalt und Wandel ihrer Verbindungen mal zu Göttern, mal zu Menschen, mal zu Tieren und mal zu Bäumen werden.⁸⁹ Und er bezeichnet sich auch offen als Gott, obwohl er einem Hörer gegenübertritt, dem er von gleicher Art erscheinen muss, wie dieser selbst ist. Ein Gott jedoch ist nach Empe⁸⁵ Empedokles DK B ,–. ⁸⁶ Siehe DK B ,; ,; vgl. ferner B . ⁸⁷ Im Gedicht ›Über die Natur‹ verspricht Empedokles seinem Adepten eindeutig göttliche Fähigkeiten, wenn er der empfangenen Lehre treu bleibt: DK B ; in den ›Katharmen‹ wird er noch deutlicher: »ich komme zu euch als ambrosischer Gott, nicht mehr ein Sterblicher« (DK B ,–) und bezeichnet sich als einen von göttlichen Kreisen herkommenden Daimon, der in sterbliche Gestalten nur verbannt wurde (vgl. bes. DK B –); zu Text und Deutung des Anfangs der ›Katharmen‹ vgl. Rashed . ⁸⁸ So urteilt auch Brad Inwood in der Einleitung zu seiner Ausgabe der Fragmente: »I see no particular reason to doubt the literalness of his apparent claim to be a god, given the outrageous promises he makes in / and the suggestion that the author of the poem is divine in /..« (Inwood , Anm. ). ⁸⁹ So auch B ,–, wobei Empedokles hinzufügt: »durch so vieles hindurch wechselt die Mischung«.
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dokles in Wirklichkeit »langlebig«⁹⁰ und besitzt »die höchsten Würden«⁹¹, während ein Mensch gering ist und »kurzlebig«.⁹² Und ein Gott vermag große Taten zu tun, wie z.B.: Stillen die Kraft der unermüdlichen Winde, die auf der Erde sich regen und mit ihrem Blasen die Äcker verderben; und, falls gewünscht, wiederum Winde herbeiführen; aus finsterem Regen rechtzeitig Trockenheit erzeugen für die Menschen, aus sommerlicher Trockenheit Flüsse hervorrufen, die baumerquickend dem Äther entströmen, und aus dem Hades herausführen die Kraft des verblichenen Mannes.⁹³
Dies alles einstmals selbst zu vermögen stellt Empedokles auch seinem Adepten Pausanias in Aussicht, d.h. er verheißt ihm ein Dasein als Gott, wenn er die zentrale Lehre des Empedokles recht auffasst und behält. Denn wenn du sie in dein dichthaltendes Inneres einfügst [...] so werden diese dir sämtlich durch den Äon hindurch anwesend bleiben, und anderes in Menge wirst du von ihnen aus erwerben. Denn selber bringen sie diese zur Mehrung, jedes in seiner Art und so, wie die Natur für jedes ist.⁹⁴
Die Wurzelkräe des Alls,⁹⁵ die Empedokles lehrt, verhalten sich so, dass sie sich durch sich selber ausdehnen (auxei: ›über sich hinauswachsen‹), immer mehr vom Ganzen erreichen und dem Einfluss dessen unterstellen, der sich ihrer recht zu bedienen weiß. Es scheint demnach insgesamt so, als könne man durch das vom Sprecher vermittelte Wissen und Tätigsein, d.h. dadurch, dass man ein »Weiser« wird,⁹⁶ die zeit-örtliche Beschränkung des eigenen Daseins durchbrechen und sich über das jetzige Leben hinaus – sowohl zurück wie nach vorne – gleichsam ausdehnen zum langlebigen und viele Ehren verdienenden Gott,⁹⁷ der mehr umfasst vom Lebensgang (bios) »dieser« und so nicht nur sein diesmaliges eng beschränktes Leben lebt (zôê), bis er wieder zerfliegt. ⁹⁰ ⁹¹ ⁹² ⁹³ ⁹⁴ ⁹⁵
Vgl. z.B. B , Vgl. z.B. B ,–. S.o. B ,. B ,–; vgl. auch B mit weiteren göttlichen Taten. Siehe B , –. Bekanntlich bezeichnete Empedokles die ›vier Elemente‹, aus deren Mischung und Trennung sich alle Dinge zusammensetzen als »Wurzelkräfte«: vgl. B . ⁹⁶ B ; (Vorspann des Clemens). ⁹⁷ Vgl. auch Empedokles DK B .
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Durch ein Wissen, d.h. speziell die hier vorgetragene Lehre, göttlich zu werden ⁹⁸ – das verheißt die Botscha des Empedokles. Indessen bedeutet dies nach Empedokles’ Meinung wohl wiederum nicht, dass man in persona und als dieses verkörperte Individuum ein Gott ist. Vielmehr betont Empedokles o genug, dass die Individualität durch alle Mischungen und Konfigurationen der Elemente sich wandelt und eine andere wird. Ein »Busch« kann nicht dieselbe Individualität besitzen wie ein »Fisch« oder »Vogel«, ein »Mädchen« oder ein »Junge« – alles Konstellationen von diesen (d.h. der vier Wurzeln oder Elemente), die Empedokles nach eigenem Bekunden schon gewesen ist.⁹⁹ Vielmehr bedeutet es, wenn ich Empedokles recht verstehe, den immer stattfindenden Verkehr »dieser« zu durchschauen, verschiedene Phasen davon im richtigen Denken zu überbrücken und sich seiner in höherem Maße ›bedienen‹ zu können als gewöhnliche Sterbliche, etwa so wie es die oben zitierten Fragmente und in Aussicht stellen. Von einer die Person wahrenden ›Seele‹, die als dieselbe durch verschiedene Einkörperungen wandert, ist jedenfalls in den überlieferten Fragmenten nirgends die Rede.¹⁰⁰ Vielmehr handelt es sich um einen »Daimon«,¹⁰¹ d.h. einen langlebigen ›Agenten‹ oder ›Lenker‹ und ›Mentor‹, der allem Anschein nach vollends immer etwas anderes wird, indem er in immer neuen Verhältnissen oder Mischungen lebt und denkt. Schon Erwin Rohde, in seinem Buch Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, arbeitete die augenscheinliche Widersprüchlichkeit des Empedokles heraus,¹⁰² dass alle Belebung und seelischen Funktionen einerseits aus den Konstellationen der Elemente erklärt werden – und damit bei deren Trennung wieder aufgehoben müssten – andererseits aber der »Daimon« Empedokles von sich ⁹⁸ Vgl. etwa B ; ; aus den ›Reinigungen‹, aber auch B ; in ›Über die Natur‹. ⁹⁹ Empedokles DK B ; vgl. , womöglich auch B . Man kann – spätestens seit der Auswertung des Straßburger Empedoklespapyrus durch Alain Martin und Oliver Primavesi – nicht mehr davon ausgehen, dass solche Auffassungen des Empedokles (von der Wanderung eines Daimon durch verschiedene Mischungen und Konstellationen der Lebendigkeit) nur Bestandteil der ›Reinigungen‹, nicht aber der Lehren ›Über die Natur‹ gewesen seien; vgl. dazu Martin und Primavesi , bes. – und –, ferner Primavesi , –; vgl. auch schon früher die guten Beschreibungen zu Empedokles’ Dämonologie bei Seligman , –. ¹⁰⁰ Das Wort psychê in B dürfte einfach das ›Leben‹ meinen, das einem Wesen ›genommen‹ wird mit der Waffe oder dem Messer aus Erz. ¹⁰¹ Für das Wort bei Empedokles vgl. B , und B . In B sind die Daimonen offenbar mit den Elementen zu identifizieren, insofern sie sich in immer innigerer »Vermischung« miteinander verbinden; vgl. dazu Primavesi , –. ¹⁰² Siehe Rohde , –.
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selbst behauptet,¹⁰³ durch verschiedene gemischte Gestalten hindurchgegangen zu sein. Ein Daimon aber ist etwas wesentlich anderes als eine Seele. Während nämlich Seele (psychê) einen Sachverhalt bezeichnet, der immer das einzelne Wesen in seiner Individualität betri (den ›Seelenhauch‹, das ›am-Leben-Sein‹ oder die ›primäre Substanz‹, wie Aristoteles später sagen wird), drückt der Begriff Daimon häufig etwas aus, das man am ehesten mit ›Agent‹, ›Vertreter einer gewissen Denkungsart‹ oder auch ›Genius‹ wiedergeben könnte. Von einem Genius verlangen wir aber nicht, dass er überall, wo er auftritt, individuell re-identifizierbar sei. In solcher Bedeutung finden wir das Wort daimôn z.B. bei Heraklit: »des Menschen Ethos ist sein daimôn«.¹⁰⁴ In Betracht kommen aber auch die bekannten Passagen bei Hesiod (Erga –. vgl. –.), wonach die Gestorbenen des untergegangenen, goldenen Geschlechts zu edlen »Daimonen, Wehrern und Wächtern« der späteren Sterblichen werden; man könnte sie demnach als ›Mächte, die uns leiten‹ ansehen. Für wahrscheinlich halte ich also, dass Empedokles nicht eine individuelle Seele, sondern eine Art sich fortpflanzenden und vererbenden, daher insgesamt tradierbaren ›Genius‹ oder eine ›Macht, die uns leitet‹ im Sinn hat, deren sich durchhaltende Tendenz und Lenkung er als daimôn bezeichnet. Für ein solches Verständnis könnte auch auf Fragment B verwiesen werden, demzufolge edle Menschen »unter den Tieren Löwen werden, und Lorbeer im Kreis der belaubten Bäume«. Denn hier gleichen sich, wenn man so will, Ethos und Denkungsart in je anderen Kategorien gemischter Gebilde. Entsprechend scheint es einem daimôn möglich zu sein, gewisse Erfahrungen und Einsichten in andere sterbliche Gestalten mitzunehmen und gleichsam weiter zu tradieren,¹⁰⁵ um sie gewinnbringend in einer neuerlichen Mischung von Gliedern einsetzen zu können.¹⁰⁶ Die Prinzipien aller Mischung und Wiederzertrennung – im Kontrast zu allen Gebilden aus ihnen, einschließlich der Götter, den »an Würden erhabensten« – sind, wie Empedokles häufig erklärt, ursprünglich göttlich,¹⁰⁷ ewig die gleichen¹⁰⁸ und unsterb¹⁰³ Siehe Empedokles DK B ; B ; vgl. B . ¹⁰⁴ Heraklit DK B ; vgl. außerdem B und s.o. auf Seite . ¹⁰⁵ So ist in der Tat nicht alles, was zum erinnerten Bestand unserer persönlichen Identität gehört, von uns jemals wirklich erlebt worden. Z.B. David Hume in seiner skeptischen Kritik des Konzepts der personalen Identität weist auf dieses seltsame Phänomen hin (vgl. Treatise, Book I, sect. , bes. –) ¹⁰⁶ Der Gewinn besteht darin, wie Fragment B erklärt, dass man immer höhere Ehrungen empfängt und am Ende sogar als ein Gott wieder hervorgebracht werden kann. ¹⁰⁷ Dass sie ursprünglich göttlich sind, spricht Empedokles aus z.B. in Frg. , wo er die vier Wurzeln einzelnen Gottheiten zuordnet; vgl. auch B ,; B u.a. ¹⁰⁸ B ; B , und , ; B ,–.
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lich.¹⁰⁹ Obwohl sie immerfort in neue Gestalten eingehen, sind sie, wie er gleichfalls nicht selten beteuert, »immer seiende«,¹¹⁰ allausllend¹¹¹ und »wandellos im Kreislauf dieselben«.¹¹² Weil Empedokles so explizit hervorhebt, dass vom Standpunkt der ursprünglich göttlichen Prinzipien aus betrachtet ewig dasselbe besteht und eigentlich niemals eine Änderung der Gegebenheiten eintritt, stellt sich nunmehr verschär die Frage: Was geschieht eigentlich über das bloße sich-Zusammenfinden und wieder Trennen hinaus, indem die Ewigen miteinander verkehren und in Mischungen eingehen und wieder dem Austausch anheimfallen, was noch nicht in den ursprünglich göttlichen Prinzipien als unvermischten ebenfalls gegeben ist? Diese Frage hatte sich aus Perspektive der Sterblichen bereits am Anfang im Blick auf Fragment und der darin enthaltenen Verneinung einer »Natur« r alle gemischten Gebilde gestellt. Was also bringen die offensichtliche Anstrengung und gleichsam permanent tantalischen Qualen des Sterblichseins bis zur mehrere sterbliche Gestalten übergreifenden Vereinigung vieler Leben im Wirken eines Weisen oder göttlichen Dämons eigentlich ein r das All der Dinge? Zunächst ist noch einmal der überraschende Befund zu bekräigen, der aber durch die Häufigkeit der Belege kaum bezweifelt werden kann, dass jedenfalls die Götter im gewohnten Sinne des Worts nicht ewig existieren.¹¹³ Diejenigen Götter, die all das tun, was Götter nach althergebrachter und gemeingriechischer Überzeugung nun einmal tun: nämlich denken, wahrnehmen, sich des Daseins euen, glückselig sein, göttliche Werke vollbringen und dar Verehrung und Würden einstreichen, diese Gottheiten kommen nach Empedokles in jeder Version – ob als sphairos oder theos oder daimôn – nur vorübergehend im Zyklus des Alls zustande und sind daher zwar gewiss als ¹⁰⁹ B ,. Freilich gießt schon Aristoteles (De generatione et corruptione I , a –) auch den göttlichen ›Elementen‹ des Empedokles einen Wermutstropfen ein, indem er darauf hinweist, dass anscheinend auch sie in dem »Einen« (d.h. dem »Sphairos« der Liebe) irgendwann nicht gewesen seien und einstmals wieder untergehen werden (vgl. in diesem Sinne etwa B ,). Ob Aristoteles damit der Intention des Empedokles gerecht wird, ist allerdings unklar; denn es könnte sein, dass Empedokles nur meinte, die »Wurzelkräfte« oder Elemente würden im Sphairos zwar von Einheit überdeckt und »ununterscheidbar«, ohne aber deshalb ihrer pluralen Seinsweise völlig beraubt zu werden (vgl. B ,–). ¹¹⁰ B ; B ,. ¹¹¹ B ,–. ¹¹² B ,; B ,. ¹¹³ Vgl. hierzu sehr richtig Rohde , ; Rohde verweist zudem auf Plutarch, »De defectu oraculorum«, Moralia E, wo es von den »Dämonen« heißt, »dass ihnen den Worten des Empedokles zufolge Verfehlungen, Verblendungen und Irrwege zukommen und sie in Toden enden wie die Menschen«.
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»langlebig«¹¹⁴ zu bezeichnen, aber doch nicht als ewig, weil sie vielmehr irgendwann wieder einer Destabilisierung¹¹⁵ und Umbildung anheimfallen.¹¹⁶ Was sich jedoch unterdessen in all den Mischungen ereignet und was die ewigen Prinzipien (die vier Elemente sowie Liebe und Streit) anscheinend nicht von sich aus tun können, das ist nun offenbar: nämlich Denken und Lernen,¹¹⁷ Erfahrungen machen, das Fühlen, Wahrnehmen und Handeln, die nach Empedokles nur die im Prinzip sterblichen, d.h. die gemischten Wesen vollbringen, und die durch sie je nach dem auf eine mehr oder weniger weise Art vollzogen und weitergegeben werden können. Damit lassen sich nun auch leichter Bedeutung und Rolle desjenigen charakterisieren, der hier eigentlich thematisch ist, nämlich des Menschen als des denk- und erkenntnisfähigen Sterblichen par excellence. Wie wir gesehen haben, ist r Empedokles die prinzipielle Scheidewand zwischen den Menschen und Göttern durchlässig, allerdings auf Kosten der schlechthin ewigen und unaufhebbaren Unsterblichkeit,¹¹⁸ wenn auch eine viele Leben übergreifende und ihr Potential in sich verbindende Langlebigkeit r denkende Wesen wie den Menschen erreichbar ist.¹¹⁹ Der Weg, der nach ¹¹⁴ B ,; B ,; B ,; ¹¹⁵ Vgl. z.B. B : »Nacheinander wurden alle Glieder des Gottes erschüttert«; und Simplikios kommentiert, dass damit die Bewegung in den Sphairos Einzug hielt. ¹¹⁶ Der Mangel an Ewigkeit erhellt u.a. aus folgenden Fragmenten: B ,; B ,; B – B ; B – B; B . Denkbar wäre womöglich auch, dass die Dämonen mehrere Zyklen des Universums überdauern und immer erneut den Sphairos als ihre maximal harmonische Gemeinschaft ausbilden und wieder – gemäß dem Eid durch Aufkommen von Streit (B ) – einbüßen. Doch scheint mir die dem widersprechende Aussage des Empedokles eindeutig zu sein, nach der »die langlebigen Götter, an Ehren reichste« den Scharen gemischter Gebilde zugeordnet werden (B ,; B ,). ¹¹⁷ Empedokles formuliert dies so, dass die Elemente und Prinzipien »lernen, eines zu sein aus mehreren« (B ,); im Laufe der durch mehrere Stadien hindurchgehenden Zoogonie werden die Elemente sozusagen immer versierter darin, haltbare Einheiten hervorzubringen; das Hinzulernen (mathê B ,) und Ähnliches scheint überhaupt der Clou der ganzen zyklischen Entwicklungen über die ewige Gegebenheit der Prinzipien hinaus zu sein. ¹¹⁸ Auch wenn Empedokles von sich sagt, er sei »nicht mehr sterblich, sondern ambrosischer Gott« (B ,) und wer sich aus dem Leiden als Sterblicher befreit habe, sei »Herd- und Tischgenosse mit den übrigen Unsterblichen« (B ); es ist hiermit, solange auch »die Götter als an Ehren reichste« ein Produkt der Mischung von diesen sind (wie auch die Menschen), nicht eine absolute, sondern nur relative Unsterblichkeit gemeint – im Vergleich mit denen, die sozusagen festkleben an ihrer einmaligen Individualität. Vgl. hierzu Inwood, bes. das Kapitel »Immortality and Reincarnation« (–) in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Empedokles. ¹¹⁹ Vgl. insbes. B ,; B ; B und B ; B . Deswegen ist es nach Empedokles ethisch unvertretbar, Leben zu rauben: B ; B
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Empedokles dahin – zur Verknüpfung möglichst vielen Lebens im eigenen – hrt, ist der Weg eines maximal reinen, das Wirken der Wurzeln und Prinzipien erkennenden und anwendenden Denkens, durch welches anderes Leben geschont und so die »Werke der Liebe«¹²⁰ gemehrt werden. Durch diese Werke wie durch jenes Denken und Erkennen lässt sich der Fokus der Erfahrung des Lebens (bios – s.o. B ,) über den Gesichtskreis der einzelnen Mischung hinaus ausdehnen, der r jeden Denkenden zunächst durch seine Versetztheit in diese oder jene einmalige Konstellation von Gliedern gezogen ist. Der Adept Pausanias soll, wie Empedokles zu Anfang des Naturgedichts sagt, »mit jeglichem Sinnesorgan betrachten, wodurch ein jedes Ding deutlich wird […] und keines verschmähen, durch das ein Weg zum Denken gebahnt ist« (B , –). Das Denken hat nicht noch einmal ein eignes Organ, sondern setzt vielmehr zueinander ins Verhältnis, was die Sinnesorgane liefern, und erkennt so insbesondere das Gege, die Situation und Atmosphäre, die zwischen den Dingen bzw. ihren Konstituentien herrschen. Physiologisch verantwortlich r das Denken ist nach Empedokles’ Auffassung – damit völlig in Einklang – das Blut im Herzen,¹²¹ das durch die ausgewogenste Vereinigung aller vier Elemente gebildet wird.¹²² Die Schwankungen und Veränderungen in den Verhältnissen und der Situation außer mir werden verspürt durch Schwankungen und Veränderungen im Gege der Elemente in mir: Aus diesen haben alle Dinge Bestand gewonnen als gefügte Und durch sie denken sie und haben Lust oder Leid.¹²³ Soviel sie in Veränderung anders erwachsen, so sehr stellt sich ihnen immer auch das Denken anders geworden ein.¹²⁴ Im Verhältnis zum Anwesenden wächst den Menschen Verstehen.¹²⁵
Aus diesem Grunde ist das Denken nach Empedokles diejenige Form von Erkenntnis, durch die wir insbesondere die Liebe, das Prinzip aller Vereinigung, sowohl in uns hegen wie auch entdecken können, wo immer sie am Werk ist. Die Entdeckung der ¹²⁰ Siehe z.B. B , ; vgl. B , u.a. ¹²¹ Siehe B . ¹²² Siehe B . ¹²³ B . ¹²⁴ B . ¹²⁵ B ; Aristoteles, der das Fragment überliefert, lässt keinen Zweifel daran, dass hier das Denken so wie Wahrnehmung als ein in-Beziehung-Treten mit anderem Seienden zu verstehen ist (vgl. De anima III , a –).
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Liebe durch Denken – und nur durch Denken – mahnt Empedokles in den folgenden berühmt-berüchtigten Worten an: bald nämlich ward eines gemehrt, um einzig zu sein aus mehreren, dann wieder flog es auseinander, um mehrere aus einem zu sein, Feuer und Wasser und Erde und der Luft unauslotbare Höhe, und verderblicher Streit, entzweit von ihnen, gleichverteilt überall, und die Liebe in ihnen, gleichgroß an Weite und Breite; sie erblicke durch Denken. Und sitze nicht da mit erstaunten Augen! Sie ist es, die auch als eingepflanzt den sterblichen Gliedern bekannt ist, durch die sie sowohl auf Liebes sinnen als auch harmonische Werke vollbringen, ›Wonne‹ genannt mit Namen und auch ›Aphrodite‹. Sie hat noch kein sterblicher Mann inmitten von diesen wirbeln gewusst; du aber höre der Rede untrüglichen Fortgang.¹²⁶
Die beschriebene Entdeckung rechnet Empedokles offensichtlich in besonderem Maße sich selbst zu und legt den größten Nachdruck auf sie: dass die Liebe, die uns in unseren eigenen Gliedern bekannt ist, zugleich ein kosmosbildendes Prinzip in den universalen Wurzeln des Alls ist; und dass wir weiterhin allein durch Denken jenes, was wir auch in uns besitzen und kennen, als ein im Ganzen wohltuendes Prinzip wiedererkennen und auch zu verwirklichen lernen können. Jedes Gespür und jede Wahrnehmung – als ein Verhältnis zwischen Mehreren¹²⁷ – ist, wie üher gesehen, schon eine rudimentäre Form des Denkens,¹²⁸ wodurch dann, bei fortschreitender Erkenntnis, das Prinzip der Verbindung in Liebe und ihr Gegenteil, der Streit, als kosmische und allgemein geltende Prinzipien herausgestellt werden. Doch nehmen wir nach Empedokles alles nur insofern wahr, als wir Gleiches auch in uns haben. Das gilt r die Elemente genauso wie r Liebe und Streit: ¹²⁶ B , –. ¹²⁷ Wahrnehmung und Erkennen erfolgen nach Empedokles zwar gemäß dem Prinzip ›Gleiches durch Gleiches‹ (vgl. B s.u.), aber doch nicht in einer Situation, in der einfach ein mit sich Einiges und Gleiches gegeben wäre, sondern vielmehr in solchen Situationen, wo etwas auf etwas anderes stößt und damit erst Verbindung gewinnt, um sich auf diese Weise in seiner wahrgenommenen Gleichheit herauszustellen; vgl. dazu im Allgemeinen: Buchheim , –, –; vgl. insbes. B und, wenn auch nur möglicherweise in dieser Bedeutung, B (Schirren , ); aufschlussreich im erklärten Sinn ist auch B , – : »mit der Zeit werden sie dir entfleuchen, indem sie nach sich selbst verlangen, um zum eigenen Stamm zu gelangen; denn alles [...] hat ein Gespür und Teil am Gedanken«; Schirrens darauf bezogene Feststellung: »offenbar denken sich die ›Elemente‹ doch auch selbst« (), bedarf aufgrund des Erklärten m.E. der Einschränkung, dass sie dies nur tun, indem sie aus einer Situation der Trennung zur Wiederverbindung mit Ihresgleichen zurückstreben. ¹²⁸ B ,–; B ,; vgl. auch B und B .
Sterbliche Unsterbliche Durch Erde sehen wir Erde, durch Wasser das Wasser, durch die Luft aber hehre Luft, doch durch Feuer verzehrendes Feuer, Liebe durch Liebe, Streit aber durch elenden Streit.¹²⁹
Nur also, wer durch sein Denken Liebe in sich birgt, ist in der Lage, sie auch außer sich zu entdecken und zu verbreiten. Wer hingegen umgekehrt Streit sieht, der muss ihn auch in sich hlen. So verfällt er ihm Stück r Stück selbst. Beide – Liebe und Streit – verbreiten ihre Wirkung über die Wahrnehmung oder Begegnung der sterblichen Wesen. Denn nichts kann r sich alleine und nichts ohne eine Zusammenhrung von zuvor Unabhängigen Liebe oder Streit produzieren,¹³⁰ sondern nur solches, was sich begegnet und in Beziehung zueinander tritt. Dem, was wir verbreiten, sind wir also auch unterworfen. Da wir selbst notwendigerweise Gege sind, ist das Wie dieses Gegtseins nicht nur ein Spiegel der äußeren Verhältnisse, sondern auch ihre Nachahmung in uns selbst. Infolgedessen kritisiert Empedokles – besonders in den Katharmen – dass das Geschlecht der Sterblichen sich immer wieder von neuem anfechten und ›gebären‹ lässt aus Hader und Streit: O weh, o elendes Geschlecht der Sterblichen, o du unseliges Aus solcherlei Zwisten und Seufzern bist du geboren!¹³¹ Hört ihr nicht auf mit dem himmelschreienden Morden? Seht ihr nicht, wie ihr einander zerfleischt durch Fahrlässigkeiten des Denkens?¹³²
Wir sollten und könnten uns aber vielmehr andere Vorbilder der Nachahmung nehmen, die geeignet wären, das Wirken der Liebe zu berdern. Auch dies beschreibt Empedokles in aller Aushrlichkeit nicht nur in den ›Reinigungen‹.¹³³ Von daher gilt: Je zusammenhaltender und inniger unser Denken ist, umso rdernder wird das Verhältnis der Prinzipien in uns sich auswirken auf unsere Umgebung; und je streitbehaeter und damit lockerer das Gege eines Denkens ist, umso eher verfällt der Zerrüttung, was ihm ursprünglich Bestand verlieh: ¹²⁹ B . ¹³⁰ Empedokles sagt zwar, dass jegliches Element und überhaupt alles ein Gespür und eine Wahrnehmung besitze, d.h. »Anteil am Gedanken« habe (vgl. B ; B , –), doch bezieht sich dies immer auf die Situation, in der etwas aus einer Trennung wieder zur Vereinigung mit seinesgleichen zurückkehrt; deshalb impliziert dies ebenfalls die vorangehende Spannung eines Gegenüber von Verschiedenem. ¹³¹ B ; vgl. . ¹³² B . ¹³³ Vgl. bes. B ; ; .
omas Buchheim
Denn wenn du sie in dein dichthaltendes Inneres einfügst und sie durch reine Absichten wohlwollend beachtest, so werden diese dir sämtlich durch den Äon hindurch anwesend bleiben, und anderes in Menge wirst du von ihnen aus erwerben. Denn selber bringen sie diese zur Mehrung, jedes in seiner Art und so, wie die Natur für jedes ist. Wenn du aber auch nur nach anderem strebst, was bei den Männern tausendfach an Schandtaten vorkommt und die Gedanken blind macht, dann werden sie dir abhanden kommen im Wechsel der Zeit, indem sie nach sich selbst verlangen, um zum lieben Stamm zu gelangen; denn alles – wisse es wohl – hat ein Gespür und Teil am Gedanken.¹³⁴
Das vollendete und vor allem das rundum (praktisch wie theoretisch) richtige Denken¹³⁵ vermögen also nur Menschen und Götter. Denken findet – auch bei einem Gott – immer nur da als ein richtiges und Harmonie wirkendes statt, wo diese, d.h. die vier Wurzeln und ihre gegensätzlichen Modi des Verhaltens zueinander, im Modus der Liebe besonders innig und ausbalanciert zusammengegt sind.¹³⁶ Auch ein Gott düre somit nur dadurch besonders glückselige und wonnevolle Gedanken hegen, dass er die vier Wurzeln in ausgeglichenster und innigster Weise in sich vereinigt¹³⁷ und zugleich allen Streit von sich ausschließt.¹³⁸ So gewinnt allmählich eine höchst bemerkenswerte These des Empedokles Kontur: Es sind gerade Wahrnehmen, Fühlen und Denken, die im Universum dadurch über die Existenz der ewigen Prinzipien hinaus dazukommen, dass diese in einen niemals aufhörenden Verkehr von Mischung und Austausch der Gemischten gezogen sind. Es sind nicht die »Naturen« der Gemischten, die neu hinzukommen; denn alle Natur, alles Wachstum und Wesen ist das der ewigen Wurzeln im All. Vielmehr ist es das Sich-Begegnen und Wahrnehmen, Denken und Lieben im Unterschied zu Hassen. Denn das können sie nicht von allein, die Prinzipien, sondern sie können es nur als solche, die miteinander verkehren, sich in Mischungen verbinden und wieder trennen. Und je stabiler, inniger und wohlproportionierter die Mischungen sind, umso weiter und den Gang des Lebens insgesamt erkennender und rdernder ist das Denken, das die gemischten Wesen vollbringen. Der Mensch ist nach Empedokles’ These, wenn nicht selbst ein ewiges und unsterbliches Wesen, so doch ein Fühler und Denker des Ewigen und Unsterblichen – und ¹³⁴ B . ¹³⁵ Es gibt auch falsches Denken nach Empedokles: s.o. Frg. . ¹³⁶ Siehe B ; B wie oben zitiert. ¹³⁷ Siehe B ; B – B . ¹³⁸ Vgl. B ; und etwa B .
Sterbliche Unsterbliche
kommt so, der Figur des Tantalos gleich, den Unsterblich-Göttlichen am nächsten; was zum Schluss vielleicht am besten mit Hölderlins Versen gesagt ist: Es haben aber an eigner Unsterblichkeit die Götter genug, und bedürfen Die Himmlischen eines Dings, So sind’s Heroen und Menschen Und Sterbliche sonst. Denn weil Die Seligsten nichts fühlen von selbst, Muss wohl, wenn solches zu sagen Erlaubt ist, in der Götter Namen Teilnehmend fühlen ein Andrer Den brauchen sie.¹³⁹
Literatur Quellen Diels, Hermann und Walther Kranz, Hrsg. Die Fragmente der Vorsokratiker. . Aufl. Bde. Dublin und Zürich . (Zitiert als DK). Empedokles. e Poem of Empedocles. Hrsg., aus dem Griechischen übers., komm. und mit einer Einl. vers. von Brad Inwood. Überarb. Ausg. Toronto . Heraklit. e art and thought of Heraclitus. Hrsg., aus dem Griechischen übers. und komm. von Charles Kahn. Cambridge . Hesiod. eogonia, Opera et dies, Scutum. Hrsg. von Friedrich Solmsen. . Aufl. Oxford . —— eogonie. Hrsg., komm. und mit einem Vorw. vers. von Martin Litchfield West. Oxford . (Zitiert als g.). Martin, Alain und Oliver Primavesi, Hrsg. L’Empédocle de Strasbourg. Introduction, édition et commentaire. Berlin und New York . Parmenides. Vom Wesen des Seienden. Die Fragmente. Hrsg. von Uvo Hölscher. Frankfurt a. M. .
Hinweise zur weiteren Lektüre Buchheim, omas (). Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens. Hamburg. Dihle, Albrecht (). Die Griechen und die Fremden. München. Fränkel, Hermann (). »ΕΦΗΜΕΡΟΣ als Kennwort für die menschliche Natur«. In: Hermann Fränkel. Wege und Formen frühgriechischen Denkens. Hrsg. von Franz Tietze. München, S. –. ¹³⁹ Hölderlin, ›Der Rhein‹ . Strophe, Vers –.
omas Buchheim
Gadamer, Hans-Georg, Hrsg. (). Um die Begriffswelt der Vorsokratiker. Bd. . Darmstadt (Wege der Forschung). (Zuerst ). Hölscher, Uvo (). Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie. Göttingen. Jaeger, Werner (). Die eologie der frühen griechischen Denker. Stuttgart. Kirk, Geoffrey S., John E. Raven und Malcolm Schofield (). Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare. Aus dem Englischen übers. von Karlheinz Hülser. Stuttgart und Weimar. Reinhardt, Karl (). Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie. Frankfurt a. M. (Zuerst ). Riedweg, Christoph (). Pythagoras. Leben, Lehre, Nachwirkung. Eine Einführung. München. Schirnding, Albert von (). Am Anfang war das Staunen. Über den Ursprung der Philosophie bei den Griechen. Ebenhausen. Vernant, Jean-Pierre (). Die Entstehung des griechischen Denkens. Aus dem Französischen übers. von Edmund Jacoby. Frankfurt a. M. (Französisch zuerst ).
Weitere zitierte Literatur Buchheim, omas (). Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt. München. —— (). »Feuer und Flüsse: Überlegungen zum Prinzip des Lebens nach Heraklit«. In: Frühgriechisches Denken. Hrsg. von Georg Rechenauer. Göttingen, S. –. Hölscher, Uvo (). »Das existenziale Motiv der frühgriechischen Philosophie«. In: Das nächste Fremde. Von Texten der griechischen Frühzeit und ihrem Reflex in der Moderne. Hrsg. von Joachim Latacz und Manfred Kraus. München, S. –. Horn, Christoph (). »Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion und Platon«. In: Frühgriechisches Denken. Hrsg. von Georg Rechenauer. Göttingen, S. –. Hussey, Edward (). »Heraclitus on Living and Dying«. In: Monist , S. –. Kahn, Charles (). e art and thought of Heraclitus [Kommentar, Übersetzung]. Übers. und komm. von Charles Kahn. Cambridge. Kingsley, Peter (). »Empedocles for the New Millenium«. In: Ancient Philosophy , S. –. Mansfeld, Jaap (). »Alcmaeon: ›physikos‹ or physician? With some Remarks on Calcidius etc.« In: Kephalaion. Stud. in Greek Philos. to C.J. de Vogel. Hrsg. von Jaap Mansfeld und Lambert M. de Rijk. Assen, S. –. Nussbaum, Martha (). »ΨΥΧΗ in Heraclitus I/II«. In: Phronesis , S. –, –. Primavesi, Oliver (). Empedokles Physica I. Eine Rekonstruktion des zentralen Gedankengangs. Berlin und New York. —— (). »La daimonologia della fisica empedoclea«. In: Aevum Antiquum. N. F. , S. –. Rashed, Marwan (). »Le proème des Catharmes d’Empédocle. Reconstitution et commentaire«. In: Elenchos ., S. –. Rohde, Erwin (). Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. . Aufl. Bd. . Tübingen und Leipzig.
Sterbliche Unsterbliche
Schadewaldt, Wolfgang (). Tübinger Vorlesungen. Bd. : Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Hrsg. von Maria Schadewaldt und Ingeborg Schudoma. Frankfurt a. M. Schirren, omas (). Aisthesis vor Platon. Eine semantisch-systematische Untersuchung zum Problem der Wahrnehmung. Stuttgart und Leipzig. Schubert, Charlotte (). »Medizin und Symmetrie«. In: Sudhoffs Archiv , S. –. —— (). »Menschenbild und Normwandel in klassischer Zeit«. In: Entretiens sur l’Antiquité Classique. Bd. : Médicine et Morale dans l’Antiquité. Hrsg. von Hellmut Flashar und Jacques Jouanna. Foundation Hardt. Vandoeuvres-Genève, S. –. Seligman, Paul (). »Soul and Cosmos in Presocratic Philosophy«. In: Dionysos , S. –. eunissen, Michael (). Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit. München.
Zbigniew Nerczuk
Die Sophisten. Der Mensch als Maß aller Dinge Einleitung Es waren die sogenannten Sophisten, die im . Jh. v. Chr. gemeinsam mit Sokrates die »humanistische« Wende in der Philosophie in Gang gebracht haben. Ihre philosophischen Interessen gingen weit über den Diskussionshorizont ihrer vorsokratischen Vorgänger hinaus. Ihr Denken hatte einen großen Einfluss, nicht zuletzt auf Platon, in dessen Werk die Sophistik einen permanenten Bezugspunkt bildet. Bis heute haben ihre Fragen ihre Aktualität nicht verloren. Dennoch ist die Sophistik lange missachtet und vergessen, aus dem exklusiven Königreich der Philosophie vertrieben und als bloße gegenstandslose Rhetorik abgewertet worden. Heute jedoch sind viele der Themen und Thesen der Sophisten – von der Frage nach dem Kriterium der Wahrheit hin zu den Problemen der Relativität und Subjektivität – wieder Gegenstand einer lebendigen philosophischen Debatte.¹ Die Beurteilung der Sophistik nahm bereits bei ihren Zeitgenossen extreme Formen an: Sie reichte von großer Begeisterung, die die Sophisten bei den Polis-Bürgern und den intellektuellen Eliten erweckten², über Verspottung (zum Beispiel in der Komödie Die Wolken des konservativen Aristophanes), bis zu ihrer Radikalkritik in Platons Dialogen.³ Aus historischer Perspektive ist festzustellen, dass die Beurteilung der Sophistik das Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen einer neuen und einer alten Erziehungstradition war⁴ und gleichzeitig auch eine Konsequenz des im ¹ Zur Forschungsgeschichte vgl. Classen a. ² Als Beispiel könnte man die Beschreibung der Begeisterung erwähnen, in die die Athener von Gorgias während seines Aufenthalts versetzt wurden (DK A ), oder des in Protagoras von Plato (b–e) dargestellten Enthusiasmus des jungen Hippokrates über die Anwesenheit des Protagoras in Athen. ³ Die wichtigsten den Sophisten gewidmeten Dialoge sind Hippias I, Hippias II, Protagoras, Gorgias, Euthydemos, Staat (Buch I), eätet, Sophistes. Die Sophisten und ihre Meinungen sind aber (oft ohne Namensnennung) in den meisten platonischen Dialogen präsent. ⁴ Vgl. Marrou , Kap. und Jaeger , Bd. I, –.
Zbigniew Nerczuk (). »Die Sophisten. Der Mensch als Maß aller Dinge«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
Die Sophisten. Der Mensch als Maß aller Dinge
. und . Jh. v. Chr. ausgefochtenen Streits um das Selbstverständnis der Philosophie darstellte.⁵ In der westlichen Kulturgeschichte wurde später angenommen, dass Sokrates, Platon und Aristoteles die Philosophen par excellence seien, während die Sophisten vor allem als professionelle Rhetoriklehrer und Bildungsspezialisten angesehen wurden. Die immense Hochachtung vor Platon und Aristoteles hrte zu der Überzeugung, dass die Sophistik eine gefährliche pseudo-philosophische Bewegung war, da sie auf Rhetorik und Eristik (einer rechthaberischen »Streitkunst«) basiere und auf das Streben nach Wahrheit verzichte. Die Rehabilitierung der Sophisten begann im . Jahrhundert mit einer Neubeurteilung ihrer Thesen, wodurch den Sophisten im gewissen Maße ihr ursprünglicher Stellenwert zurückgegeben wurde und ihre Bedeutung r die Bildung in der Antike und die ganze griechische Kultur wiederentdeckt wurde.⁶ Ursprünglich bezeichnet das Wort »Sophist« (sophistês) einen Weisen (sophos), also jemanden, der ein außerordentliches praktisches oder theoretisches Wissen besitzt; als solche werden etwa Prometheus, Solon, Pythagoras oder auch Naturphilosophen angesehen.⁷ Im . Jh. v. Chr. wurde das Wort unter dem Einfluss der sophistischen Bewegung auch r berufliche Weisheitslehrer verwendet. Zur Entstehung der Sophistik haben mehrere Traditionen: Philosophie, Epik, Poesie, Rhetorik und Medizin beigetragen. Einen Anstoß zur Entwicklung der Sophistik gaben die sozialen und politischen Veränderungen, die in Griechenland im . Jh. v. Chr. vor allem in Athen, wodurch eine Bildungsform nötig wurde, die ehrgeizigen Menschen einen Erfolg im politischen Leben versprach.⁸ Die Gruppe, die sich beruflich mit einem solchen Typ der Schulung befasste, wurden »Sophisten« genannt. Heutige Studien über die antike Sophistik stoßen auf drei methodische Probleme. Erstens sind nur wenige Quellentexte und doxographische Überlieferungen⁹ erhalten, weil unter dem Einfluss von Platon und Aristoteles die Sophisten wenig geachtet und marginalisiert wurden.¹⁰ ⁵ Vgl. Halliwell . ⁶ Eine Darstellung der ›Rehabilitierung‹ der Sophisten und die wichtigsten Arbeiten zu diesem ema findet man z.B. bei Classen a, –; Kerferd a, –; Guthrie , –; Kerferd b, –. ⁷ Vgl. Kerferd . ⁸ Zur Genese der Sophistik vgl. Untersteiner , –; Kerferd a, –. ⁹ Die maßgeblichen wissenschaftlichen Ausgaben sind im Literaturverzeichnis aufgeführt. ¹⁰ Kerferd a, : »eir general omission from the doxographic tradition, coupled with the Platonist and Aristotelian view that their thought and teaching was bogus, meant that they
Zbigniew Nerczuk
Das zweite Problem ist, dass die meisten Ausküne über Sophistik aus Quellen stammen, die die sophistische Lehre als negativ darstellen. Dieses negative Bild der Sophistik enthält eine ganze Reihe von mehr oder weniger begründeten Anklagen. Den Sophisten wird vor allem die Destruktion der traditionellen, sozialen oder sittlichen Normen vorgeworfen, aber auch Eigennützigkeit, Größenwahn und Anmaßung von Allwissenheit. Darüber hinaus gab es auch die philosophischen Vorwürfe des Subjektivismus, Relativismus, Agnostizismus, Atheismus, Immoralismus, Hedonismus etc. Das dritte Problem, das mit der Rekonstruktion der sophistischen Gedanken verbunden ist, liegt in der Schwierigkeit der exakten Abgrenzung der Sophisten. Jene Gruppe, die r gewöhnlich als »Sophisten« bezeichnet wird, war in keiner definierten Institution verankert, bildete keine einheitliche philosophische Schule, hatte keine gemeinsamen Lehrer und bildete auch keine einheitliche intellektuelle Front. Ganz im Gegenteil: Die Sophisten rivalisierten deutlich miteinander. Diese Vielfältigkeit ist ein Grund dar, dass moderne Forscher manchmal die Bezeichnung »sophistische Bewegung« (»the sophistic movement«) bevorzugen.¹¹ Aufgrund dieser Vielfalt kann auch kein einheitliches sophistisches »System« rekonstruiert werden, sondern nur auf gemeinsame Interessensgebiete und die teils parallelen, teils aber konträre Elemente ihrer Anschauungen aufmerksam gemacht werden. Dieses Problem stellt sich auch bei der Rekonstruktion der Anthropologie der Sophisten. Wir können heute sicher sein, dass die Frage nach dem Menschen das Zentrum der sophistischen Überlegungen war, wie es etwa aus dem Verzeichnis der Werke des Protagoras hervorgeht, die bei Diogenes Laërtius überliefert ist, das Schrien wie Vom Ehrgeiz, Von den Tugenden, Vom Urzustande, Von den verfehlten Handlungen der Menschen und Vorschriften aufhrt.¹² Auch wenn von ihm nur wenige Fragmente erhalten sind, lässt sich deswegen sagen, dass er über ein ausgebautes Konzept des Menschen und seiner Welt gehabt haben muss.
were indeed virtually ignored by Hellenistic scholarship, and even such of their works as did survive were not read.« ¹¹ Vgl. z.B. den Titel von Kerferd a. ¹² DK A .
Die Sophisten. Der Mensch als Maß aller Dinge
Die Erforschung der Natur Den Sophisten wird zwar mit Recht der Durchbruch zur humanistischen Perspektive zugeschrieben.¹³ Entgegen der klassischen These, die Sophisten hätten die alte Naturphilosophie durch die Rhetorik ersetzt,¹⁴ muss man aber darauf hinweisen, dass die Sophisten nicht völlig auf Forschungen im Rahmen der Naturphilosophie verzichtetet haben und dass es sich bei der »humanistischen Wende« eher um eine Akzentverschiebung als um eine Ablösung handelt. Die Kritik an der vorsokratischen Naturphilosophie spielt r die Entwicklung der Sophistik eine wichtige Rolle. In den Augen der Sophisten waren die Untersuchungen der üheren Naturphilosophen inhaltslos und widersprüchlich.¹⁵ Die Sophisten waren auch sich darüber im Klaren, dass die Konzentration auf Naturagen einen breiten Bereich des politischen und sozialen Lebens vernachlässigte. Doch viele Quellen bestätigen uns, dass der Ausgangspunkt der sophistischen, humanistischen Weltanschauung eigene Forschungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaen waren.¹⁶ Im Bereich der Ontologie richteten sich die Sophisten gegen die eleatische Idee des unveränderlichen und ewigen Seins, wie insbesondere Gorgias’ Abhandlung Über das Nichtseiende zeigt.¹⁷ Doch die Kritik an den abstrakten und dem gesundem Menschenverstand widersprechenden Ansichten der Eleaten hrte, ebenso wie die Kritik an den unuchtbaren Überlegungen der Naturphilosophen, nicht bloß zur Destruktion dieser Anschauungen, sondern sie bildete einen Ausgangspunkt r eine eigene ¹³ Vgl. etwa Nestle , : Der Gegenstand philosophischen Nachdenkens »war bei den Ioniern, wenigstens vorwiegend, die außermenschliche Natur, der Kosmos, der Mensch nur, insofern er einen Teil der Gesamtnatur bildet. In der Sophistik kehrt sich das Verhältnis um: der Kosmos tritt zurück, und der Mensch als Individuum und als gesellschaftliches Wesen mitsamt seiner Schöpfung, der Kultur, rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung. So hebt sich die Sophistik als Kulturphilosophie von der Naturphilosophie der Ionier ab.« ¹⁴ Diels , : »und doch scheinen mir die Etappen, welche er [Gorgias] während seines über hundertjährigen Lebens in seiner Entwicklung zurückgelegt hat, typisch zu sein für den ganzen Verlauf der geistigen Revolution, als deren Stimmführer die Sophisten erscheinen.« Drei aufeinanderfolgende Phasen (Physik, Eristik und Rhetorik) in Gorgias’ Tätigkeit unterscheidet auch Nestle , . ¹⁵ Vgl. Guthrie , : Protagoras »was in the vanguard of the humanistic reaction against the natural philosophers, whose contradictory speculations were bringing them into disrepute among practical men – each one, as Gorgias said, claiming to possess the secret of the universe, but in fact only pitting one opinion against another, each more incredible than the last«. ¹⁶ Vgl. die Belege bei Kerferd a, und Segal , Anm. . ¹⁷ Vgl. DK B und B .
Zbigniew Nerczuk
Darstellung der Realität. Die Umrisse einer solchen Darstellung sind in Platons Dialog Theätet zu erkennen: Für Protagoras spielt die Bewegung die Rolle eines Prinzips (archê), das Ursache des Werdens der Dinge (chrêmata) ist, während ihr Gegensatz Ruhe ihr Vergehen verursacht: Ein Zeugnis der »schöpferischen« Kra der Bewegung ist, dass sie die Körper wachsen und stärken und die Seelen sich durch Lernen und Üben veredeln lassen. Die Bewegung des Windes ermöglicht die Seeschifffahrt und die Sonnenbewegung ist das Fundament r Dauer und Beständigkeit der Götter- und der Menschenwelt.¹⁸ Die Welt besteht aus Dingen, die sich in ständiger Bewegung befinden. Veränderung ist die Quelle dessen, was man fälschlich als »Sein« bezeichnet, denn im Grunde genommen »niemals ist etwas, sondern wird immer«.¹⁹ Wegen der Veränderlichkeit der chrêmata kann über nichts gesagt werden, dass es »an und r sich eines« (hen), »etwas« (ti) oder »ein irgendwie Beschaffenes« (hopoionoun ti) ist und jeder Sache können widersprüchliche Prädikate zugeschrieben werden.²⁰ Der ständige Fluss (rhoê) der Dinge²¹ macht nicht nur die eindeutige Beschreibung ihrer Eigenschaen unmöglich, sondern schließt auch ihr Dauern als selbständige und mit sich identische Seiende (onta) aus. Deswegen ist der Mensch in seinem individuellen Dauern nicht »ein und derselbe Mensch«, sondern eine aufeinanderfolgende, unendliche Folge »der Menschen«, die einer permanenten Veränderlichkeit unterliegen.²²
Sophistik und Medizin Der Mensch ist r die Sophisten ein biologisches Wesen, ein Teil der Naturwelt, und soll als solcher auch naturwissenschalich erforscht werden.²³ Dieses biologische Menschenbild der Sophisten entsteht in Auseinandersetzung mit der sich in dieser Zeit entwickelnden Medizin.²⁴ ¹⁸ t. b–d. ¹⁹ t. d (Übers. Apelt, ). ²⁰ t. d: »nichts ist an und für sich eines, und für nichts sind die Bezeichnungen ›etwas‹ oder ›ein irgendwie Beschaffenes‹ statthaft, sondern wenn du es groß nennst, wird es auch klein erscheinen, und wenn schwer, auch leicht und so weiter durchgängig, indem nichts weder etwas noch irgendwie beschaffen ist« (Übers. Apelt, ). ²¹ Vgl. t. e und d. ²² t. b. ²³ Vgl. Nestle , . ²⁴ Vgl. Jaeger , Bd. II, : »Sowohl die Sophisten wie ukydides sind in diesem Punkte wie auch sonst vielfach von der zeitgenössischen Medizin bestimmt, die den Begriff der Natur des Menschen geschaffen hat und beständig zugrunde legt.«
Die Sophisten. Der Mensch als Maß aller Dinge
Zum einen beschäigen sich einige Sophisten selbst mit medizinischen Fragen. Prodikos behandelt beispielsweise in seinem Werk Über die Natur des Menschen die Anatomie und Physiologie des Menschen sowie die Zweckmäßigkeit des menschlichen Körperbaus.²⁵ Kritias, der behauptet, die Seele befinde sich im Blut, leitet dies aus den medizinischen Erfahrungen des Empedokles ab.²⁶ Zum anderen kommt eine Verbindung zwischen der Sophistik und der Medizin dadurch zum Ausdruck, dass sich die Sophisten in Analogie zum Arzt beschrieben: Wie der Arzt sich um die Körper sorgt, leistet der Sophist dieselbe Arbeit bezüglich der Seelen.²⁷ Aus der Medizin übernahm die Sophistik den Begriff der »menschlichen Natur«. Diese Behauptung wird von der Aussage von W. Jaeger unterstützt: »Der Mensch unterliegt gewissen Regeln, die seine Natur ihm vorschreibt und von deren Erkenntnis seine Lebensweise im gesunden wie im kranken Zustande ausgehen muss, wenn sie das Richtige treffen soll.«²⁸ Menschen sind also Wesen, die aus einer Seele und einem Körper bestehen. Beide, Körper wie Seele, gehören zur Naturwelt. Wie ihre Teile gehören die Menschen als zum Bereich der Natur, werden durch deren Gesetze determiniert und haben dadurch vorgegebene natürliche Bedürfnisse, die es zu beiedigen gilt.²⁹ In sophistischen Fragmenten finden wir Beobachtungen darüber, was die menschliche Natur ist und welchen Gesetzen sie unterliegt. Geburt und Tod bestimmen die natürlichen Grenzen des menschlichen Lebens.³⁰ Die Menschen, so wie alle anderen Lebewesen auch, werden durch das natürliche Bedürfnis getrieben zu überleben und die eigene Gattung zu erhalten.³¹ Um zu leben und um sich zu ernähren, muss der Mensch, so wie jedes Tier auch, seine persönlichen biologischen Bedürfnisse decken, ²⁵ DK B . ²⁶ DK A . Nach Diels , Anm. wird dieselbe Meinung in den pseudohippokratischen Schriften De natura hominis und De flatibus vertreten. ²⁷ Vgl. Protagoras bei Platon, t. b. Vgl. auch DK B (). ²⁸ Jaeger , Bd. I, . ²⁹ Vgl. z.B. die Besprechung Antiphons Ansichten in Kerferd a, . ³⁰ Z.B. Gorgias, Verteidigung des Palamedes (DK B a ): »Die Anklage und die Verteidigung führen nicht zu einer Entscheidung über den Tod; den Tod nämlich beschied die Natur in offener Abstimmung für alle Sterblichen am Tag ihrer Entstehung« (Übers. Buchheim, BCH, ). Vgl. auch Antiphon (DK B ): »Dagegen das Leben untersteht der Natur und auch das Sterben…« (Übers. Diels, ). ³¹ Vgl. Platon, Protagoras b. Dort lässt Platon den Sophisten behaupten, dass die starken Lebewesen im Vergleich zu den schwachen Lebewesen weniger Nachwuchs haben. Vgl. auch die ese des Kritias (DK B ), der sein eigenes Projekt der Eugenik präsentiert, wenn er sagt, dass eine bestimmte Diät und ein geregeltes Leben zu gutem Nachwuchs führt.
Zbigniew Nerczuk
wie zum Beispiel das Atmen oder die Essensaufnahme.³² Um diese notwendigen Bedürfnisse erllen zu können, kommt es zwischen den Menschen zu Konflikten. Um eine richtige körperliche und geistige Entwicklung des Menschen zu gewährleisten, bedarf es nicht nur der Beiedigung von Bedürfnissen, sondern auch der Übung (meletê, askêsis).³³ Die Sophisten gehen davon aus, dass Körper und Seele voneinander abhängig sind und dass beide das menschliche Verhalten bestimmen. Ähnlich wie in der Medizin wird auch in der Sophistik eindeutig auf die Abhängigkeit des menschlichen Verhaltens von psychischen und physischen Anreizen hingewiesen. Als Konsequenz des großen Interesses der Sophisten an geistigen Zuständen der Menschen wird der Begriff pathos (Zustand, Empfindung) schwerpunktmäßig in ihrer Arbeit behandelt. Die Eigentümlichkeit der menschlichen Zustände, sowie eine Korrelation zwischen psychischen und physischen Erlebnissen bildeten einen weiteren Mittelpunkt in ihren Forschungsprojekten. Protagoras knüp an die Affekte (pathê) an, die mit dem Zustand des Träumens, des Wachens, des Wahnsinns und der Krankheit verbunden sind,³⁴ und Gorgias beschäigt sich mit den physiologischen Symptomen der Gehle, wenn er über die Motive der Treulosigkeit der Helena spekuliert.³⁵ Vielen Sophisten und medizinischen Autoren ist zudem das Interesse r die individuellen und subjektorientierten Bedingtheiten des Menschen gemeinsam. Viele medizinische Texte enthalten zahlreiche Beschreibungen des menschlichen Verhaltens und der mit ihnen verbundenen psychischen und physiologischen Reaktionen.³⁶ Die Sophisten verfeinern die Beschreibung der menschlichen Reaktionen auf äußere Reize; sie betonen die »Privatheit« geistiger Zustände und weisen auf die idiosynkratischen Bedingtheiten hin, denen einzelne Menschen unterliegen. Solche Beobachtungen tauchen in sophistischen Texten in Form von Beschreibungen auf, die einen Einfluss der menschlichen Verfassung oder der individuellen psychischen Zustände auf den Wahrnehmungsvorgang und die Gestaltung von Ansichten nehmen. Zum Beispiel betrachtete Protagoras den Unterschied in der Wahrnehmung je nach den ³² ³³ ³⁴ ³⁵
Vgl. z.B. Antiphon, DK B frg. B col. . Für Protagoras vgl. DK B und t. b–c. t. e–e. DK B , . Vgl. Flashar . Wie wichtig die psychologische Seite des Menschen für die Sophisten war, ist z.B. im Werk von des von den Sophisten stark beeinflussten Euripides sichtbar, des »Philosophen der Bühne«, dessen Tragödien voll von exakten Studien der menschlichen Psyche sind. ³⁶ Vgl. z.B. De prisca medicina, De diaeta, Aphorismi, Prognosticon etc.
Die Sophisten. Der Mensch als Maß aller Dinge
Zuständen derselben Person (Gesundheit/Krankheit, Wachzustand/Schlafzustand)³⁷ und Gorgias wies auf Wahrnehmungsunterschiede, die von Gelegenheiten abhängig sind, hin.³⁸
Erkenntnis Die Überzeugung von der Relevanz individueller Bedingtheiten und psychischer Affekte r das menschliche Verhalten ist eine Quelle r die ebenfalls von Sophisten und Medizin geteilten Ansicht, dass sich jede Erkenntnis auf Empirie stützen muss und dass die Wahrnehmung (aisthêsis) das entscheidende Kriterium der individuellen Therapiewahl (im Fall der Medizin) oder der Erkenntnis (im Fall der Sophistik) ist. In der Erkenntnistheorie stehen die Sophisten in klarer Opposition insbesondere zu den Eleaten wie Parmenides. Diese Polemik und die Vorliebe der Sophisten r das Paradoxe spiegeln sich in den überaus erstaunlichen und kompromisslosen Thesen der Sophisten wider. Ein gutes Beispiel dar sind die drei Thesen des Gorgias in Über das Nichtseiende, wo Gorgias »behauptet, dass gar nichts sei; wenn doch etwas ist, sei es unerkennbar; wenn aber doch etwas sowohl ist als auch erkennbar ist, sei es jedoch anderen nicht zu verdeutlichen.«³⁹ In ihrer Radikalität einmalig sind aber auch die Behauptung des Xeniades, alle Thesen seien falsch,⁴⁰ und der Homo-mensura-Satz des Protagoras, demzufolge alle aisthêseis wahr sind, denn: »Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, dass (wie) sie sind, der nicht seienden, dass (wie) sie nicht sind.«⁴¹ Die Erkenntnistheorie der Sophisten stützt sich auf eine Reihe von Überzeugungen aus ganz verschiedenen philosophischen Quellen. Von Parmenides und seinen Nachfolgern übernehmen die Sophisten das Axiom eines notwendigen Zusammenhangs zwischen dem Wissen und dem Seienden. Aus der Medizin schöpe die Sophistik die Überzeugung, dass eine Erkenntnis sowohl von dem Zustand der erkennenden Person abhängig sei, als auch von den Umständen, unter denen die Erkenntnis zustande komme. Einen erheblichen Einfluss hatten auch ühe skeptische Thesen, etwa des Xenophanes, der auf die Grenzen der menschlichen Erkenntnis und auf das Fehlen ³⁷ ³⁸ ³⁹ ⁴⁰ ⁴¹
t. e–e. MXG – = BCH, –. DK B (Übers. Buchheim, BCH, ). DK A . DK B (Übers. Diels, )
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eines Kriteriums der Wahrheit hinweist.⁴² Diese Mischung vieler Traditionen hrte zu einer völlig neuen Konzeption des Wissens, deren Haupteigenscha ein Verzicht auf die Erkenntnisobjektivität war. Die eleatische Tradition kompromittierte den Sophisten zufolge die Methode der deduktiven Wirklichkeitsbeurteilung, die zu Parmenides’ Konzeption des unveränderlichen Seins (to on) hrte, das durch die Vernun (logos) erfasst wird. Die sophistische Kritik an der eleatischen Konzeption kommt prägnant in den beiden ersten Thesen aus der Schri Über das Nichtseiende des Gorgias zum Ausdruck: Im ersten Teil dieses Werkes zeigt Gorgias, dass man mit Hilfe der eleatischen Methode und der eleatischen Voraussetzungen die These »Nichts ist« beweisen kann, die dem Parmenideischen »Das Seiende ist« entgegengesetzt ist. Im zweiten Teil der Abhandlung, der die These »Wenn es Seiendes gäbe, könnte man es nicht erkennen« etablieren soll, kritisiert Gorgias die von Parmenides verbreitete Identität des Denkens und des Seins, indem er nachweist, dass diese zu Konsequenzen hrt, die mit dem gesunden Menschenverstand nicht viel gemeinsam haben.⁴³ Ein anderes Beispiel r Abneigung gegen jede Form der Apriorität ist eine Kritik, die Protagoras gegen das mathematische Theorem anhrt, der Kreis berühre sich mit einer tangentialen Geraden nur in einem einzigen Punkt.⁴⁴ Nach Protagoras bedient sich Geometrie einzig und allein einer gedanklichen Konstruktion, die aber mit der realen Welt nichts zu tun habe. Zusammen mit der Ablehnung der eleatischen Seinskonzeption scheitert auch der Anspruch auf objektive Wirklichkeitserkenntnis. Der Logos wird durch die Sophisten durch die Wahrnehmung (aisthêsis) und Erfahrung (empeiria) ersetzt.⁴⁵ Dem Zeugnis von Platons Theätet zufolge definiert Protagoras das Wissen (epistêmê) als eine äußere oder auch innere Wahrnehmung, in die eine ganze Reihe der sinnlichen und psychi-
⁴² DK B : »Und das Genaue freilich erblickte kein Mensch und es wird auch nie jemand sein, der es weiß (erblickt hat) in bezug auf die Götter und alle Dinge, die ich nur immer erwähne; denn selbst wenn es einem im höchsten Masse gelänge, ein Vollendetes auszusprechen, so hat er selbst trotzdem kein Wissen davon; Schein(meinen) haftet an allem«. (Übers. Diels, ) ⁴³ DK B . Zum ema der Abhandlung von Gorgias vgl. z.B. Calogero ; Cassin ; Gigon ; Newiger . ⁴⁴ DK B . ⁴⁵ Vgl. Platon, Gorg. c und Aristoteles, Met. a für die empiristischen esen des GorgiasSchülers Polos.
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schen Erlebnissen (pathê) einbezogen wurde, wie Lust, Schmerz, Begierde, Furcht etc.⁴⁶ Von der Anerkennung der Empirie als Wissensquelle war es nur ein kleiner Schritt zu der Überzeugung vom partiellen Charakter und von der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis. Gorgias zeigt in seiner Verteidigung des Palamedes, wie eng der Raum der direkten und der sicheren Erkenntnis ist; er weist auch auf eine essentielle Rolle des Überzeugens (peithô) hin, das diejenigen Meinungen (doxai) der Menschen determiniert, die nicht direkt von der Wahrnehmung bestimmt werden. Ganz entsprechend geht Protagoras vor, wenn er sich eines Urteils über die Götter enthält, weil sie seiner Meinung nach unsichtbar sind und das menschliche Leben zu kurz sei, um diese tatsächlich zu erkennen.⁴⁷ Im Anschluss an Empedokles hrten sowohl Gorgias als auch Protagoras die Analyse des Wahrnehmungsprozesses fort. In Platons Menon erwähnt Sokrates im Gespräch mit dem Gorgias-Schüler Menon, dass Gorgias den Mechanismus der Farbentstehung als Ergebnis des Wahrnehmungsvorgangs behandelte.⁴⁸ Im Dialog Theätet taucht Protagoras’ berühmter Homo mensura-Satz im Zusammenhang mit der Vorstellung des veränderlichen Seins und einer Beschreibung des Wahrnehmungsvorgangs auf.⁴⁹ Die dort dem Protagoras zugeschriebene metaxy-Konzeption der Wahrnehmung erhält ihren Namen dadurch, dass die wahrgenommene Farbe sich weder im Subjekt noch im Objekt befindet, sondern es entsteht irgendwie »zwischen« (metaxy) dem Erkennenden und dem Erkannten.⁵⁰ Das Ding (chrêma) ist dadurch immer ein Ergebnis der Interaktion, die zwischen dem Sinnesorgan und dem, was vom Gegenstand herkommt, entsteht. Das schließt die Eindeutigkeit und Objektivität der Realität aus, die laut Protagoras aus chrêmata besteht, die sich erst im Wahrnehmungsvorgang selbst konstituieren. Diese Sachen werden als »Phänomene« (phainomena) verstanden. Sie haben kein selbstständiges, vom erkennenden Subjekt unabhängiges Sein, sie sind immer einmalig, flüchtig und »privat«. ⁴⁶ t. b. Vgl. z.B. Cornford , ; Dupréel , . ⁴⁷ Vgl. DK B : »Über die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen (festzustellen?) weder dass sie sind, noch dass sie nicht sind, noch, wie sie etwa an Gestalt sind; denn vieles gibt es, was das Wissen (Feststellen?) hindert: die Nichtwahrnehmbarkeit und dass das Leben des Menschen kurz ist«. (Übers. Diels, ). ⁴⁸ DK B ; vgl. auch B . Für die Beziehungen zwischen Empedokles und Gorgias vgl. schon Diels . Vgl. auch Nestle , ; Buchheim . ⁴⁹ DK B . Zum Homo-mensura-Satz vgl. Kerferd a, –; und Vlastos . ⁵⁰ t. a.
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Die Konsequenz des Homo-mensura-Satzes ist also eine Perspektivenvielfalt bei der Wirklichkeitsbeschreibung. Im Theätet bedient sich Sokrates des Beispiels des Windes, um Protagoras’ These zu erklären: Dem einem Menschen scheint der Wind beispielsweise warm zu sein, dem anderen aber kalt. Trotz des Widerspruches zwischen den zwei Ansichten sind beide Bemerkungen durchaus richtig. Protagoras scheut sogar vor der Annahme nicht zurück, dass menschliche Wahrnehmungen während des Träumens und im Wachzustand, die Empfindungen eines Kranken, eines Gesunden, eines Wahnsinnigen und eines psychisch gesunden Menschen gleich real sind, denn wir vergen über kein von Wahrnehmung unabhängiges Kriterium r die »wahre« Welt.⁵¹ Für Protagoras gibt es daher mindestens so viele »Wahrheiten« wie es Menschen gibt.
Der Mensch als Kulturwesen Die Ontologie und die Erkenntnistheorie der Sophisten spiegeln sich in ihren Aussagen über die Kultur wider. Zwar sind die Sophisten nicht die ersten, die die fundamentale Bedeutung der Kultur bemerkt haben, doch bei den Sophisten wird sie ein Hauptgegenstand des Nachdenkens.⁵² Der Auslöser dar war der soziale Wandel, der in Athen im . Jh. v. Chr. stattfand. Die Funktionsweise der Demokratie zerstreute die alten Vorstellungen vom göttlichen oder überzeitlichen Charakter der Gesetze, die sich auf die Autorität von großen Gesetzgebern stützte. Es wurde offensichtlich, dass durch Konvention entstehende Gesetze das Resultat von Parteiinteressen, politischer Macht und den Präferenzen und Vorurteilen der Bürger sind. Einen großen Einfluss übte auch eine Erweiterung des geographischen Horizontes durch die Arbeiten der ühen Historiker und Kulturschristeller aus, der sogenannten Logographen, die ferne Länder und Kulturen beschrieben, deren abweichende Gesetze und Werte ⁵¹ t. b–e. ⁵² Nestle , : »aber das Verhältnis der kosmischen und der anthropologischen Probleme ist in der Philosophie und in der Sophistik ein verschiedenes, sie vertauschen ihre Stellung: stand in der ionischen Philosophie der Kosmos im Mittelpunkt, der Mensch an der Peripherie des Denkens, so rückt in der Sophistik der Mensch und seine Kultur (nomoi) in den Mittelpunkt der Betrachtung und die Natur als solche an die Peripherie, während allerdings das Verhältnis von Natur und Kultur (physis und nomos, physis und paideia) das Nachdenken der Sophisten aufs angelegentlichste beschäftigt.«
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r Griechen auffallend sein mussten.⁵³ Diese allgemeinen Veränderungen stellten die Gültigkeit der konventionellen Gesetze in Frage und hrten zur Suche nach einer alternativen Quelle r allgemeingültige Normen. Ihr Interesse an kulturellen Phänomenen brachte die Sophisten dazu, auch über das Problem des Zivilisationsfortschritts und der mit ihm verbundenen kulturellen Veränderungen nachzudenken. Ein sehr gutes Beispiel dar ist die Analyse der Kulturentwicklung, die Platon den Sophisten Protagoras in Gestalt eines Mythos erzählen lässt.⁵⁴ Im Gegensatz zum traditionellen, bei Hesiod zu findenden Mythos von den nf Weltzeitaltern, der eine pessimistische Vision der ständigen, vom Goldenen bis zum Eisernen Zeitalter verlaufenden Verfallsprozess darstellt,⁵⁵ ist der ProtagorasMythos ein Lob auf die Entwicklung und den Fortschritt, eine stolze Darstellung des Weges, den die Menschen vom Naturzustand bis zur Geburt der Zivilisation gegangen sind.⁵⁶ Nach Protagoras wurde die physische Schwäche der Menschen, die von Epimetheus bei der Verteilung der Kräe (dynameis) übergangen wurden und dadurch schlechter als die Tiere an das Leben angepasst waren, kompensiert durch die Gabe der »kunstreichen Weisheit mit dem Feuer« (tên entechnon sophian syn pyri) und anderen Fähigkeiten (technai), die von Prometheus dem Hephaistos und der Athene gestohlen wurden. Dank der auf diese Weise erreichten Verwandtscha mit Gott vergen die Menschen über Religion, sie haben sprechen gelernt, Häuser gebaut und Felder bestellt. Aber erst durch die Gabe der Scham (aidôs) und der Gerechtigkeit (dikê), die »die politische Weisheit« (politikê sophia) bildeten und auf Zeus’ Befehl gerecht unter allen Bürgern verteilt wurden, ist die Möglichkeit des gemeinschalichen Zusammenle⁵³ Vgl. besonders die Berichte der ionischen Logographen (z.B. Hekataios von Milet), der Historiker (z.B. Herodot) und die Zusammenstellung im zweiten Kapitel der Dissoi logoi (DK ). Vgl. dazu auch Kerferd a, . ⁵⁴ Vgl. Prot. c–d. Kerferd a, nimmt an, dass der Inhalt des Mythos sich auf die Konzeption von Protagoras stützt, die wahrscheinlich im Werk Vom Urzustande dargestellt wurde. ⁵⁵ Vgl. Hesiod, Erga –. ⁵⁶ Kerferd a, beschreibt die Konzeption von Protagoras mit dem Begriff »eory of Progress« im Gegensatz zu der pessimistischen Konzeption von Hesiod (»eory of Decline«). Der Zustand der Urwildheit ist so sehr erbarmungswürdig, dass, wie Protagoras bei Platon behauptet, sogar die schlechtesten Athener besser als die Wilden sind, die vom Dichter Pherekrates in seiner Komödie Die Wilden dargestellt wurden (Prot. d). Dupréel , Anm. behauptet sogar, dass Pherekrates’ Komödie auf der Grundlage von Protagoras’ Texten geschrieben werden konnte. Zum ema des Fortschritts vgl. Dodds und Sihvola .
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bens geschaffen worden, die eine gegenseitige Ungerechtigkeit verhinderte und einen gemeinsamen Schutz gegen Feinde bewirkte. Nach Protagoras ist die Quelle dieses Entwicklungsprozesses das Streben nach Beiedigung aller Bedürfnisse und das Bewusstsein des Vorteils des gemeinschalichen Zusammenlebens. Die in Protagoras’ Parabel gebündelt aufscheinenden Probleme werden in den Texten anderer Vertreter der Sophistik vertie.⁵⁷ Obwohl Protagoras sich der Form des Mythos bedient, vertritt er im Grunde eine naturalistische Erklärung des Übergangs der Menschen vom Naturzustand zur Zivilisation. Denn der überlieferte Anfang seiner Schri Über die Götter bezeugt,⁵⁸ dass Protagoras einen Agnostizismus vertrat. Das macht jede Vorstellung eines göttlichen Planes oder eines Eingreifens der Götter in das Leben der Menschen unmöglich, wie sie sowohl bei Homer und Hesiod, als auch in der ganzen archaischen Kultur Griechenlands zu finden ist. Protagoras’ mythische Erzählung vom Eingreifen der Götter ist nur eine Allegorie, die den kulturellen Fortschritt versinnbildlichen soll, durch den der Mensch sich über die Natur erhebt. Die Erzählung des Protagoras zeigt aber auch, dass ein zivilisierter Mensch ein Teil der Natur bleibt, weil er in Rahmen des gesellschalichen Lebens, das »ein unerlässliches Element der menschlichen Existenz«⁵⁹ ist, immer noch den Gesetzen der Natur unterliegt. Das Zustandekommen einer Gesellscha ist einerseits durch ein natürliches Bedürfnis bedingt, andererseits stellt sie die größte Leistung des Menschen dar, die sogar die Erfindung der technischen Fähigkeiten (technai) übersteigt. Aber das Bewusstsein, dass der Gesellschasvertrag (nomos) die Quelle der Kultur ist, durch den die mit einer bestimmten Kultur verbundenen Werte eine relative Geltung besitzen, hrt zu einer Gegenüberstellung von nomos (Gesetz, Vertrag, Konvention) und physis (Natur). Unter dem Einfluss der sophistischen Denkweise wurde diese schon üher bekannte Antithese⁶⁰ in der zweiten Häle des . Jh. v. Chr. zu einem Leitbegriff der Epoche.⁶¹ In dieser Antithese wurden zwei Begriffe gegenüber gestellt, die schon ⁵⁷ Um den Fortschritt geht es auch in Antiphons Über den Gemeinsinn (DK B a–; nach Aly , der protagoreischen Konzeption sehr ähnlich), in Prodikos’ Werk Die Horen (vgl. Nestle , –) und bei Kritias (DK B –). ⁵⁸ DK B . ⁵⁹ Farrar , : »he formulated an account of the human species which entailed […] that civil society is a necessary feature of human existence.« ⁶⁰ Kerferd a, –. ⁶¹ Windelband , : »Der Gegensatz von Natur und Satzung ist die am meisten charakteristische Begriffsbildung der griechischen Aufklärung; er beherrscht ihre ganze Philosophie…« Vgl. Heinimann ; Guthrie , –; Kerferd a, –.
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eine lange Tradition vorweisen konnten. Das Wort physis (Natur) war in seiner ersten Bedeutung mit den Untersuchungen von ionischen Naturphilosophen verbunden und bedeutete entweder die ganze Naturwirklichkeit oder ihren fundamentalen ursprünglichen Bestandteil. Ihm wurde auch eine zweite Bedeutung zugemessen, um eine innere, unveränderliche Eigenscha der Dinge bestimmen zu können, »das ewig gleiche, alle Veränderungen überdauernde Wesen der Dinge«.⁶² Auch das Wort nomos hat ein breites Bedeutungsspektrum, das das angenommene Gesetz, den herrschenden Brauch oder das formal beschlossene Recht umfasst. In jeder dieser Bedeutungen ist ein Hauch von Normativität enthalten. Somit lag es nahe, das Wort r jedwede juristische oder sittliche Norm zu verwenden.⁶³ In Analogie zu den Überlegungen der ersten ionischen Philosophen, die nach der physis als etwas Konstantem in der Welt voller Veränderungen gesucht haben, agen die Sophisten nach dem konstanten Element in Bezug auf Gesetze und Werte. In Folge dieser Assoziationen wurde der Terminus physis mit einem Element von Objektivität, Konstanz und allgemeiner Gültigkeit verbunden, während nomos durch den Zusammenhang mit solchen Begriffen wie »Satzung« oder »Konvention« als sein Gegenstück angesehen wurde. Dieses Verständnis der beiden Termini hrte zur Entstehung von festen Wendungen wie nomôi oder thesei (»laut Satzung«) und physei (»der Natur gemäß«). Die Antithese von nomos und physis wurde auf verschiedene Themenbereiche bezogen: zunächst und vor allem auf den Bereich der Werte und Normen, also auf Ethik und Politik, aber auch auf den Bereich der Sprache und auf die Religion.⁶⁴ Man kann mit einigem Recht sagen, dass die durch den Gegensatz von Natur und Konvention aufgeworfenen Fragen r die Sophisten zentral waren, aber sie vertraten hinsichtlich dieser Fragen ganz unterschiedliche Positionen. Zu den Anhängern des nomos kann man diejenigen zählen, die behaupten, dass die einzig hinreichende Begründung r die Geltung von Werten und Gesetzen sein kann, dass diese Werte und Gesetze durch menschliche Übereinkun im Laufe des Prozesses der Kulturentwicklung angenommen wurden. Zu den Anhängern der physis gehören hingegen jene, r die das Kriterium der Geltung von Werten und Gesetzen nicht eine gesellschaliche Übereinkun ist, sondern die Natur, die das unveränderliche, überzeitliche Funda⁶² Windelband , . ⁶³ Kerferd a, . ⁶⁴ Vgl. z.B. die Frage, ob die Götter von Natur existieren oder ein Produkt menschlicher Satzung sind. Vgl. z.B. die funktionalen eorien der Religionsgenese von Prodikos (DK B ) und Kritias (DK B ). Vgl. Guthrie , .
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ment ihrer Gültigkeit darstellt. Zu den Anhängern des nomos gehören Protagoras, Gorgias, Prodikos und ein im Protreptikos des Iamblich zitierter anonymer Autor, während Hippias, Kallikles, Thrasymachos, Antiphon, Alkidamas und Lykophron die physis bevorzugen. Diese theoretischen Vorlieben der Sophisten unterlagen einer geschichtlichen Entwicklung. Während bei den ühen Sophisten das Verhältnis von Kultur und Natur noch sehr vielfältig bestimmt wurde und sich nicht nur auf Akzeptierung oder Ablehnung eines der beiden Elemente beschränkte, kam es bei den jüngeren Sophisten zu einer radikalen Entgegensetzung der beiden Begriffe, wobei der physis nun eindeutig der Vorzug gegeben wird. Zu den Physis-Anhängern gehörte die Mehrheit der Sophisten der »jüngeren« Generation, unter anderem Antiphon, Alkidamas, Lykophron, Thrasymachos, Kritias und, wenn er überhaupt eine historische Person war, Kallikles.⁶⁵
Nomos und physis im Bereich der Politik und der Moral Eine der wichtigsten Anwendungsgebiete der Antithese von nomos und physis ist die Sphäre des Politischen: die Entstehung von Staaten und die Genese des Rechts, die Geltungsgrundlagen von Gesetzen, die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit und, als ein Unterproblem davon, die Frage nach der natürlichen Gleichheit (oder Ungleichheit) der Menschen. Staats- und Rechtsgenese werden schon im ProtagorasMythos thematisiert. Dort entsteht die Gesellscha erst, als der Mensch seine Urwildheit überwunden hatte und sowohl versuchte, die Verpflichtungen zu erllen, die aus dem Leben in der Gesellscha folgen, als auch seine Neigung zum Unrecht zu unterdrücken, indem er Strafen r Verbrechen einhrte. Nach Protagoras sind aber Gesetze und Werte, die in der Gesellscha herrschen, nur konventionell – sie behalten ihre Gültigkeit nur, solange sie in einem Staat akzeptiert sind.⁶⁶ Das einzige Geltungskriterium ist nämlich die gesellschaliche Konvention. Auf diese Weise spiegelt sich Protagoras’ Homo-mensura-These auf gesellschalicher Ebene wider: Es ⁶⁵ Guthrie , – nimmt eine differenziertere Einteilung vor. Erstens unterscheidet er neben den Nomos-Anhängern und Physis-Anhängern noch eine separate Gruppe von »Realisten« (ukydides, rasymachos, Glaukon und Adeimantos). Zweitens unterteilt er die Physis-Anhänger noch in die Gruppe der »Egoisten« (»selfish«), zu denen er Kallikles und Antiphon zählt, und eine Gruppe von »Humanitariern« (»humanitarian«), darunter Hippias und die Anhänger der ungeschriebenen Gesetze. ⁶⁶ t. c.
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ist der Staat, der das Maß der Gesetze und Werte ist (civitas mensura), die durch dem Konsens der Staatsbürgern akzeptiert werden.⁶⁷ Der Protagoras-Mythos platziert den Menschen in eine Naturwelt, die alle Wesen zum Kampf um ihre Selbsterhaltung zwingt. Denn die Natur handelt nach dem Recht des Stärkeren. Nach Protagoras hätte ein schwacher Mensch keine Möglichkeit, in einer Konontation mit anderen, besser r den Überlebenskampf gerüsteten Lebewesen seine Bedürfnisse zu beiedigen. Der Mensch kann nur überleben aufgrund seiner technischen Fähigkeiten (technai), die ihm die Überlegenheit gegenüber den anderen Lebewesen sichern, und durch die Gesellschasbildung, durch die Gesetze etabliert werden, die den angeborenen Egoismus zügeln. Protagoras’ Diagnose ist also optimistisch: Die Kultur vervollkommnet die Natur, indem sie den Menschen den anderen Lebewesen überlegen sein lässt und das harmonische Zusammenleben der Menschen ermöglicht. Diese positive Bewertung wurde aber nicht von allen Sophisten geteilt. Viele wenden sich gegen das Fundament der Protagoreischen Konzeption, die Anerkennung der Satzung als Geltungsgrundlage von Gesetzen und Werten, und stellen Natur (physis) und Konvention (nomos) in einen scharfen Gegensatz zueinander. Die Physis-Anhänger zerfallen in zwei Gruppen: die Anhänger der natürlichen Gleichheit der Menschen und die Anhänger des Rechts des Stärkeren. Beide Gruppen sind sich einig hinsichtlich des Primats der Natur, des Bezugs auf die physis und im Widerstand gegen Satzung und Konvention, die die Basis des positiven Rechts sind. Die Berworter der natürlichen Gleichheit der Menschen behaupten, dass die sozialen Teilungen und Differenzen das Ergebnis von Gewalt sind, die das Gesetzgebungsverfahren und das von ihm hervorgebrachte positive Recht der Naturordnung antun, indem sie zwischen den von Natur aus gleichen Menschen Unterschiede etabliert. Die Berworter des Rechts des Stärkeren hingegen behaupten, dass die Gerechtigkeit des vom Menschen etablierten positiven Recht dem Hauptgesetz der Natur widerspricht, nämlich dem Recht auf Bedürfnisbeiedigung und Gewinnstreben widerspricht. Für beide Gruppen ist der Ausgangspunkt der Argumentation die Beobachtung der gesellschalichen Wirklichkeit und das Ergebnis die Kritik der diese gesellschaliche Wirklichkeit stabilisierenden Gesetze. Beide Gruppen verweisen auf Beispiele aus der Rechtssphäre, um auf die egoistischen Motive menschlicher Handlung aufmerksam zu machen, und auf die mit dem Funktionieren der demokratischen Gesellscha ver⁶⁷ Dupréel , .
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bundenen Entartungen und die begrenzte Gültigkeit und die Wirkungslosigkeit der veränderlichen Satzungen.⁶⁸ Hippias und Antiphon schließen von den Annahmen, dass der Mensch ein biologisches Wesen und die Kultur wandelbar und nebensächlich ist, auf die natürliche Gleichheit der Menschen, wobei sich die Unterschiede zwischen den Menschen aus einer ungerechten Satzung ergeben. Im platonischen Dialog Protagoras stellt Hippias fest: »Ihr Männer, die ihr hier beisammen seid, ich halte uns alle r verwandt und zueinander gehörig und r Mitbürger, und zwar von Natur (physei) und nicht durch Gesetz (nomôi); denn das Ähnliche ist mit dem Ähnlichen von Natur verwandt, das Gesetz dagegen, dieser Tyrann der Menschen, erzwingt vieles auch gegen die Natur.«⁶⁹ Hippias’ Kritik an der Konvention kommt auch in einem bei Xenophon überlieferten Dialog zwischen Sokrates und Hippias über die Gerechtigkeit zum Ausdruck. Hippias widerspricht dort Sokrates’ These, der Mensch sei nur gerecht, wenn er die Gesetze befolgt. Der Sophist kritisiert diese Einstellung und weist darauf hin, dass Gesetze o verändert werden, sobald die Gesetzgeber sich ihrer Fehlerhaigkeit bewusst sind. Nach Hippias stehen über den menschlichen Satzungen die ungeschriebenen Gesetze (agraphoi nomoi), die »überall dieselbe Gültigkeit haben«⁷⁰, und die nicht von Menschen sondern von Göttern gegeben wurden. Hippias’ Kritik an den konventionellen Gesetzen impliziert die natürliche Gleichheit von Freien und Sklaven.⁷¹ Das Motiv der natürlichen Gleichheit der Menschen ist auch in den erhaltenen Fragmenten von Antiphons Werk Über die Wahrheit zu finden. In dieser Abhandlung wendet sich der Sophist gegen ein Verständnis von Gerechtigkeit als einem staatlichen Verbot der Verletzung der konventionellen Gesetze und weist auf den Vorrang der höheren Gesetze hin, nämlich der Naturgesetze. Antiphon hrt eine Reihe von Argumenten an, die die Bedeutung der konventionellen Gesetze in Frage stellen: Entscheidend r die begrenzte Wichtigkeit der nomoi ist, dass sie ein Ergebnis von Konventionen sind. Während die Verletzung der allgemeingültigen und notwendigen Naturgesetze etwas absolut Schlechtes ist, ist die Überschreitung der Satzungen nur dann mit einer Bestrafung verbunden, wenn das Verbrechen ans Licht kommt. Über⁶⁸ Ein Anstoß zur Radikalisierung waren die tragischen Ereignisse des Peloponnesischen Krieges, in dessen Verlauf die Athener zahlreiche Beispiele von großmächtiger Rücksichtslosigkeit gegeben haben. Vgl. ukydides’ Darstellung der Mytilene-Debatte (uc. III –) oder des Untergangs von Melos (uc. V –). ⁶⁹ Prot. c–d = DK C (Übers. Apelt, ). ⁷⁰ Mem. IV , . ⁷¹ Aristoteles, Pol. I , b.
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dies widersprechen die Satzungen den Naturgesetzen. Sie schränken Menschen ein und stehen der Realisierung des Nutzens entgegen, der der durch die Natur bestimmte Hauptwert ist. Die Gesetze sind also, wie Antiphon schreibt, »Fesseln der Natur«,⁷² die die menschliche Freiheit eingrenzen. Das Befolgen des konventionellen Gesetzes ist auch schädlich, weil es Leid und Traurigkeit bereitet. Dagegen stimmt mit der Natur das überein, was Nutzen hervorbringt und den Menschen Freude bereitet. Die Gorgias-Schüler Alkidamas und Lykophron argumentierten ebenfalls r die Gleichheit der Menschen. »Gott hat alle Menschen eigelassen; die Natur hat niemand zum Sklaven gemacht«, lautet ein von Alkidamas überliefertes Fragment.⁷³ Und Lykophron polemisiert gegen den Vorrang der adligen Geburt: »Des Adels Glanz hingegen ist etwas gar nicht in Erscheinung Tretendes, auf dem bloßen Wort beruht seine Vornehmheit.«⁷⁴ Thrasymachos und Kallikles hingegen stellt Platon als Berworter des Rechts des Stärkeren dar. Sie teilen die Menschen in »Bessere« und »Schlechtere« ein, indem sie sich des Krakriteriums bedienen, das ihrer Meinung nach auch in der übrigen Natur ausschlaggebend ist. Ihre schon von Platon heig bekämpen Ansichten sind die Quelle eines großen Teils des Misskredits, in den die Sophistik als ganze später geraten ist. In der Darstellung der Meinungen des Kallikles (von dem wir nicht wissen, ob er eine historische Person war) und des historischen Thrasymachos müssen wir uns mangels anderer Quellen auf Platons polemische Dialoge stützen. Der uns ansonsten unbekannte Kallikles wird in Platons Dialog Gorgias als einer der ersten Vertreter des Rechts des Stärkeren vorgestellt. Kallikles’ Rede im Gorgias ist ein Manifest des Naturprimats und gleichzeitig auch ein Ausdruck der Geringschätzung der konventionellen Moral.⁷⁵ Kallikles wir Polos, dem vorherigen Gesprächspartner des Sokrates, vor, er habe sich unnötigerweise von der Scham leiten lassen, als er der These zugestimmt habe, dass es »hässlicher« sei, Unrecht zu tun als Unrecht zu erleiden. Für Kallikles ist ein misshandelter Mensch schwächer und damit »hässlicher« und »schlechter«, ganz wie ein Sklave, »r den es besser wäre tot zu sein als zu leben«.⁷⁶ Er erläutert weiter, dass die Ursache der falschen Überzeugung die von Menschen geschaffenen Gesetze sind. Diejenigen, die die Gesetze erlassen, lassen da⁷² ⁷³ ⁷⁴ ⁷⁵ ⁷⁶
DK B A col. . Scholion zu Aristoteles Rhetorik I , b (Übers. Nestle , ). DK (Übers. Diels, ). Gorg. c–d. Gorg. b. (Übers. Apelt, ).
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bei nur ihre eigenen Vorteile einfließen. Dadurch verteidigen sie sich gegen die, die stärker und besser als sie selbst sind. »Die Schwachen« festigen auf diese Weise die Idee der »Gleichheit«, aber damit treten sie gegen die Natur selbst auf. Faktisch beweist die Natur aber, dass es durchaus gerecht ist, dass der Stärkere mehr Macht und Besitz als der Schwächere hat⁷⁷ – auch im Tierreich oder in der Beziehung zwischen Staaten und Stämmen kann das Prinzip wiedergefunden werden. In jedem dieser Fälle herrscht der Stärkere über den Schwächeren und seine Überlegenheit basiert auf natürlicher Gerechtigkeit und nicht auf bloßer Konvention. Die Quelle der Ungerechtigkeit ist r Kallikles die Kultur, die sich der Natur widersetzt und mit Hilfe der Erziehung und konventioneller Gesetze versucht, die stärkeren Individuen zu unterdrücken. Von Kindheit an trimme man die Kinder und passe sie an ein durch die Mehrheit der Schwachen bestimmtes Muster an. Nach Kallikles gehört die Zukun demjenigen, der die Fesseln der »unnatürlichen Gesetze« losreißt. Nur in ihm, dem wirklich starken Menschen wird die Naturgerechtigkeit in Erllung gehen. Die Ansichten des zweiten Berworters des Rechts des Stärkeren, Thrasymachos von Chalkedon, stellt Platon im ersten Buch des Dialogs Der Staat dar.⁷⁸ Im Laufe der Diskussion, die der Gerechtigkeit gewidmet ist, präsentiert Thrasymachos seinen Standpunkt zu diesem Thema. Er definiert Gerechtigkeit als den Nutzen des Stärkeren, also dessen, der Macht hat. Nach Thrasymachos ist es naiv zu behaupten, dass die Herrscher das Wohl ihrer Untertanen erstreben. Vielmehr würden die von ihnen gegebenen Gesetze nur auf den Nutzen der Herrscher abzielen. In jeder möglichen Staatsverfassung – also unabhängig davon, ob es sich um eine Demokratie, Oligarchie oder Tyrannei handelt – besteht ein Interessenkonflikt zwischen den Regierenden und Regierten. Die Quelle dieses unvermeidlichen Konflikts ist das r den Menschen charakteristische Streben nach dem Nutzen. Wenn aber das, was r den einen nützlich ist, einen Verlust r einen anderen bedeutet, ist nach Thrasymachos das natürliche Streben danach, was eigenen Vorteilen entspricht, ohne Rücksicht auf Konsequenzen gerecht. Die gesellschaliche Wirklichkeit bestätige dies, da es offensichtlich den Ungerechten besser ergehe als den Gerechten. Denn auch wenn die bewiesene Ungerechtigkeit normalerweise bestra werde, bleibt der Tyrann doch ohne Strafe, der das konventionelle Recht doch vollständig und als Ganzes verwerfe. Durch das vollständige Sprengen der Fesseln des konventionellen Rechts (gewissermaßen durch das
⁷⁷ Gorg. d. ⁷⁸ Rep. a–c.
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›totale Verbrechen‹) schaffe der Tyrann die Gültigkeit der traditionellen Moral ab und verwirkliche damit die natürliche Gerechtigkeit des Nutzens des Stärkeren. Unabhängig davon, ob die einzelnen Sophisten der physis oder dem nomos den Vorrang einräumen, verbindet sie die r die Sophisten charakteristische Vorliebe r das Akzidentelle, Individuelle und Bedingte. Diese Vorliebe verliert sich auch bei jenen nicht, die annehmen, dass Gesetze und Werte durch die unveränderliche und allgemein geltende physis bestimmt sind. Wenn Kallikles oder Thrasymachos in Platons Staat über die Überlegenheit der »Natur« sprechen, verstehen sie diese aus der Perspektive des Individuums, das in der Erllung seiner Begierden keine Hemmungen hat. Die absolute Gültigkeit der Naturgesetze bedeutet in diesem Fall eine Rechtfertigung dessen, was unter konkreten Bedingungen von einem bestimmten Individuum erstrebt wird. In dieser Hinsicht sind die Sophisten konsequent: Ihr Weltbild, ihre Erkenntnistheorie und ihre Werttheorie hängen eng miteinander zusammen.⁷⁹ In der Welt, die sie beschreiben, sind nicht nur die Qualia (wie heiß und kalt, süß und sauer etc.) individuell, bedingt und konventionell, sondern auch Güte und Gerechtigkeit weisen diese Merkmale auf.⁸⁰
Die Macht des Logos Die Frage nach dem Status des Logos (logos) – je nach Kontext zu übersetzen mit »Wort«, »Aussage«, »Rede«, »Sprache« oder »Vernun«⁸¹ – und dem Verlauf des Kommunikationsprozesses zwischen Menschen spielt die Hauptrolle bei sophistischen Ideen. Darauf weist die Hochachtung hin, mit der Gorgias im Lobpreis der Helena über den logos als den »großen Bewirker« spricht (»mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper vollbringt sie [sc. die Rede] göttlichste Taten«),⁸² aber auch das Interesse der Sophisten r die Sprache überhaupt,⁸³ ihr Interesse an der Interpretation ⁷⁹ Vgl. Zeller , –: »Das letzte Ergebniss ist mithin hier das gleiche, wie in der theoretischen Weltbetrachtung, die unbeschränkte Subjektivität: in der sittlichen, wie in der natürlichen Welt, wird ein Werk des Menschen erkannt, der durch sein Vorstellen die Erscheinungen, durch seinen Willen die Sitten und Gesetze erzeugt, der aber weder hier noch dort durch die Natur und Nothwendigkeit der Sache gebunden ist«. ⁸⁰ Vgl. t. e–a. Vgl. Zeller , . ⁸¹ Zu den Bedeutungen von logos vgl. Kerferd a, . ⁸² DK B , (Übers. Buchheim, BCH, ). ⁸³ Vgl. Classen c; Pfeiffer ; Kerferd a, –.
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literarischer Texte⁸⁴ und die zentrale Rolle, die die Rhetorik r die Sophisten spielte. Für das Interesse am Wort ist nicht zuletzt die Demokratisierung des Lebens in Griechenland verantwortlich, die ein Bedürfnis nach Sprechfähigkeiten schae. Auch die Beschäigung der Sophisten mit der Kultur ist hier noch einmal zu nennen, denn im Protagoras-Mythos steht die Sprachentwicklung ganz am Anfang des Zivilisationsprozesses.⁸⁵ Eine der wichtigsten Fragen der Sophisten ist, wie sich das Wort zum Sein verhält. In ihrem polemischen Spiel mit den Eleaten übernehmen die Sophisten die Überzeugung, dass die Beziehung zwischen dem Wort und dem Sein eine Bedingung r Wahrheit von Aussagen ist, aber sie kamen zu einem radikal anderen Verständnis der Ausdrücke »Wissen« (epistêmê), »Wahrheit« (alêtheia), und »Sein« (to on). Nachklänge dieser r Sophisten wichtigen Auseinandersetzung sind in Gorgias’ Abhandlung Über das Nichtseiende, in den Reden Lobpreis der Helena und Verteidigung des Palamedes und in Platons Protagoras-Darstellung im Dialog Theätet zu finden. In der dritten These der Abhandlung Über das Nichtseiende negiert Gorgias die Möglichkeit, die Wahrheit über das Sein mittels der Worte zu übertragen: Falls wir etwas vom Sein erkennen können, könnten wir nicht darüber sprechen. Der Logos ist vom Sein zu unterscheiden, das von Gorgias als Objekt der sinnlichen Erkenntnis definiert wird. Er behält lediglich den Status eines Vermittlers dessen, was im sinnlichen Wahrnehmungsprozess erfasst wird. Der Logos ist nicht das Ding, von dem er informiert, denn Dinge werden direkt mit den Sinnen erfasst. Aus Gorgias’ dritter These ergibt sich also, wie G.B. Kerferd zusammenfasst, »eine Klu zwischen dem Wort und den Dingen, auf die sich das Wort bezieht«.⁸⁶ Das Wort ist also ein neutrales Instrument, das in sich keine Determinante enthält, die seine Wahrhaigkeit oder Falschheit impliziert. Im Lobpreis der Helena weist Gorgias darauf hin, dass auch falsche Rede durch ihre kunstgemäße Form überzeugen kann.⁸⁷ In der Verteidigungsrede für Palamedes stellt er einige Berchtungen des zu Unrecht wegen Verrats angeklagten Heros vor, der seine Unschuld mit Hilfe des Wortes beweisen muss: Die Richter, die kein direktes Wissen über das Ereignis hatten, konnten die Worte sowohl als wahr als auch als falsch aufnehmen. Wort und Sein sind nicht also mit notwendi⁸⁴ Vgl. z.B. die Interpretation des Gedichts von Simonides durch Protagoras bei Platon, Prot. e–d. ⁸⁵ Vgl. Prot. a. ⁸⁶ Kerferd a, : »gulf between logos and the things to which it refers«. ⁸⁷ DK B , . (Übers. Buchheim, BCH, ).
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gen Bindungen miteinander verbunden, die die Wahrheit des Redeinhaltes und den Kommunikationserfolg sichern würden.⁸⁸ Auch Protagoras kommt durch seine These von der sich ständig verändernden Wirklichkeit und seiner Identifizierung von Wahrnehmung und Wissen zu einer völlig neuen Betrachtungsweise des Logos. Die Logoi, die subjektive, widersprüchliche, »private« Wahrnehmungen ausdrücken, sind – wie die Erlebnisse, über die sie reden – widersprüchlich, gegensätzlich und veränderlich. Der Logos entspricht in dieser Hinsicht der Welt des Werdens, über die er redet und die sich durch den sprachlichen Ausdruck offenbart. Das Wort bringt demnach nur eine subjektive, variable und bedingte Realität zum Ausdruck.⁸⁹ Aus diesen sophistischen Ansätzen entsteht die Überzeugung von der zentralen und sogar schöpferischen Funktion, die das Wort in der menschlichen Welt hat. Gorgias zeigt die Kompliziertheit des Kommunikationsvorgangs, dessen Erfolg und Wirkung nicht nur von der Wahrheit oder der Falschheit der Mitteilung abhängen, sondern auch von der »Überzeugungskra« des Wortes abhängt.⁹⁰ Die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis wird durch ein großes Gebiet der »trügerischen und unsicheren Ansicht« (sphalera kai abebaios doxa) untermauert,⁹¹ das sich neben dem Feld der direkten, sinnlichen Erkenntnis erstreckt und Gorgias zu der These veranlasst, die menschliche Realität forme sich unter dem Einfluss von Kommunikationsprozessen und mit Hilfe der Worte ständig um. Ähnlich hrt Protagoras’ Konzeption zu einer Weltsicht, in der die Menschen sich durch widersprüchliche Worte in einem ständigen Kampf aneinander reiben. Die Worte gestalten die Realität in einem so großen Maßstab, dass ein Wort selbst im gewissen Sinne zum »Ding« wird.⁹²
⁸⁸ Diese Meinung präsentiert Verdenius , : »Opinion is communicated by words, or rather, what is communicated is nothing but words (B , ). us speech becomes autonomous: it cannot be a reflection of things, and this makes it its own master«. Im Bezug auf die Konsequenzen dieser Meinung vgl. Schmid und Stählin , : »Die Ausführungen darüber, daß ein etwa Existierendes und Erkennbares sprachlich nicht mitteilbar wäre, weil die logoi mit den pragmata nicht identisch sind, […] sind auch für Gorgias’ rhetorische eorie von grundlegender Bedeutung: wer über Verhältnis von Wort und Sache so denkt, für den ist das Reden wirklich ein Spiel, das nicht über objektives belehren, sondern nur durch das Ohr auf die Seele wirken und in dieser Entschlüsse auslösen kann und will«. ⁸⁹ Emsbach , –. ⁹⁰ DK B , . ⁹¹ DK B , = BCH, . ⁹² Vgl. Hoffmann , .
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Diese immense Bedeutung, die das Wort r die Realität hat, erklärt das Interesse der Sophisten an der Literatur. Texte schaffen die menschliche Welt mit, sie gestalten Urteile, Werte und Einstellungen in einem so großen Maß, dass es schwer ist festzustellen, ob überhaupt irgendeine Grenze zwischen der realen Welt und der Fiktion vorhanden ist. Ein Beispiel dar ist Gorgias’ Begriff der gerechten Täuschung (apatê).⁹³ Nach seiner berühmten Definition der Tragödie hängt ihre »Gerechtigkeit«, ihr »Wert«, von einer geschickten Täuschung ab, also von der Erzeugung einer solchen Illusion, die am treuesten den Eindruck der Realität machen würde.⁹⁴ Die Theorie der gerechten Täuschung behält ihre Gültigkeit auch in der Rhetorik, in der Gorgias absichtlich den Unterschied zwischen der Welt der Worte und der Realität verwischt, indem er Ernsthaigkeit und Witz zusammenbringt. Ein praktisches Beispiel r das Spiel der »beiden Welten« ist Gorgias’ Lobpreis der Helena, in dem Gorgias es mit großer Ernsthaigkeit unternimmt, die durch die Tradition verdammte Helena zu verteidigen, die Ehrlichkeit seiner apologetischen Absichten dabei deklarierend, am Ende der Rede allerdings mit der Behauptung, seine Rede sei nur ein »Spiel« (paignion) gewesen, die »gerechte« Illusion zunichte macht.⁹⁵ Da sich die Sophisten nur allzu bewusst sind, welche Rolle die »Kra des Wortes« (dynamis tou logou) als Überzeugungsmittel bei der Bildung des Wirklichkeitsbildes spielt, untersuchen sie sehr genau, wie sich menschliche Wirklichkeitsanschauungen bilden und welche Faktoren zu einem Erfolg bei der Überredung hren. Die Hochschätzung dieser »Kra des Wortes« kommt klar zum Ausdruck, wenn Protagoras die Aufgabe des Sophisten als »Wechsel der schwächeren Meinung gegen die stärkere« vorstellt⁹⁶ oder wenn Gorgias im Lobpreis der Helena den Logos als »den großen Bewirker« preist.⁹⁷ Die Überzeugungskra des Wortes ist nach Gorgias so überwäl-
⁹³ Zu apatê vgl. Pohlenz ; Verdenius ; Duncan , –; Rosenmayer . ⁹⁴ DK B : »Die Tragödie bewirkt durch die Darstellung der Sagenstoffe und der Leidenschaften eine Täuschung, bei der der Täuschende gerechter ist als der nicht Täuschende und der Getäuschte klüger als der nicht Getäuschte.« (Übers. Diels, ). ⁹⁵ DK B , : »Ich suchte das Unrecht der Beschimpfung und den Unverstand der Ansicht aufzulösen und wollte die Rede verfassen – zum Lobpreis der Helena, für mich dagegen zum Spiel.« (Übers. Buchheim, BCH, ) ⁹⁶ DK B a. ⁹⁷ DK B , .
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tigend, dass sie gleich der physischen Gewalt (bia) sei.⁹⁸ Die Sophisten verglichen die Rhetorik deshalb gerne mit der Kampfkunst.⁹⁹ Um den Einfluss des Wortes auf die Seele verstärken zu können,¹⁰⁰ richtet sich die Aufmerksamkeit der Sophisten nicht nur auf den Logos als Gegenstand sprachwissenschalicher, rhetorischer und literaturwissenschalicher Forschungen, die Mittel finden sollten, um das Wirken des Wortes zu intensivieren,¹⁰¹ sondern auch auf die menschliche Seele. Sie interessiert die Sophisten nicht in der religiösen und eschatologischen Perspektive wie im Fall der Seelenwanderungslehre der Pythagoreer oder des Empedokles (Metempsychose). Die Sophisten betrachten die Seele eher als einen Komplex aus erkennenden und emotionalen Elementen, der über Ansichten, Gehle und Einstellungen entscheidet. Ihr Interesse gilt den Zuständen und Empfindungen (pathê) der menschlichen Seele, zu denen sie sowohl Erkenntnis, Wahrnehmung (aisthêsis) und Meinung (doxa) zählen, als auch emotive Elemente wie Lust, Schmerz, Begierde oder Furcht.¹⁰² Das Wissen um die vielen Determinanten, denen der Mensch als sowohl vernünftiges als auch emotionales Wesen unterliegt, erlaubt den Sophisten die Entwicklung rhetorischer Techniken zur Erhöhung der Wirksamkeit der Überredungskra auf die rationale und auf die emotive Sphäre der Seele. Die schöne Helena dient dem Gorgias geradezu als Modellbeispiel zur Erörterung der emotionalen Handlungsmotive einer untreuen Gemahlin,¹⁰³ die aus Liebe oder aus Begeisterung r die Schönheit der Reden oder des Körpers ihres Liebhabers handelt. In der Verteidigung des Palamedes betont Gorgias hingegen das rationale Element und vermeidet bewusst den emotiven Aspekt.¹⁰⁴
⁹⁸ DK A . ⁹⁹ Z.B. Gorg. c–d; Euth. a (vgl. dort die Eristik-Spezialisten Euthydemos und Dionysodoros, die sowohl die Fechtkunst als auch den Kampf der Worte lehren). ¹⁰⁰ Natürlich waren die Sophisten nicht die ersten, die die Idee der Wirkung des Wortes auf die Seele untersuchten. Quellen für die von Sophisten entwickelten Konzeptionen sind in der Poesie und in der pythagoreischen eorie der »musischen Ethoslehre«, die im . Jh. v. Chr. durch den Pythagoreer Damon vertreten wurde, zu finden. ¹⁰¹ Segal . ¹⁰² t. b. ¹⁰³ Braun . ¹⁰⁴ Segal , : »If the Helen develops the emotional aspect of peitho, it is the Palamedes which emphasizes the purely rationalistic side of techne.«
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Zur Intensivierung des Einflusses auf die rationale Seite der menschlichen Seele entwickeln die Sophisten die Kunst der Rhetorik¹⁰⁵ und andere Argumentationstechniken¹⁰⁶ wie die Streitkunst (Eristik) und die Widerspruchskunst (technê antilogikê, das systematische Gegenüberstellen von Pro- und Contra-Argumenten),¹⁰⁷ die indirekten, apagogischen Beweise¹⁰⁸ und das Argumentieren mit dem Wahrscheinlichem (eikos).¹⁰⁹ Doch sind die Sophisten sich durchaus bewusst gewesen, dass die Wirkung auf die rationale Seite der Seele nur einseitig ist. Bei Platon berichtet Gorgias stolz, dass es ihm gelungen war, einen Kranken zu einem Eingriff zu überreden, bei dem zuvor alle dahingehenden Versuche des Arztes misslungen waren.¹¹⁰ Dieses Beispiel zeigt Gorgias’ Ansicht, dass Wissen und rationale Argumentation nicht immer den Erfolg im Prozess des Überzeugens sichern. Der Redner benötigt darüber hinaus noch regelrechte psychologische Fähigkeiten, die auf der Beobachtung und Kenntnis der menschlichen Seele und ihrer Ängste, Begehren etc. basieren.¹¹¹ Als Theodor Gomperz bemerkte, ein Sophist sei »halb Professor und halb Journalist«,¹¹² ließ er die psychologischen Interessen unbeachtet. Ein Sophist bzw. ein idealer Rhetor kann aus sophistischer Sicht mit gleichem Recht als eine Kombination aus einem Psychologen und einem Magier angesehen werden.¹¹³ Die Überredungsmittel der Rhetorik berücksichtigen neben der allgemeinen Natur des Menschen auch die individuellen Eigenschaen und Randbedingungen und wirken auf die Seele ganz wie ein vom Arzt verabreichtes Medikament (pharmakon) auf den Körper einwirkt. Deshalb kann Gorgias sagen, ein Sophist kümmere sich um die Seele wie ein Arzt um den Körper.¹¹⁴ Gorgias sagt im Lobpreis der Helena, dass das Wort u.a. vermag, »Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu mehren«.¹¹⁵ Mit dem Wort kann man also psychische Zustände beeinflussen, die dann auch körperliche ¹⁰⁵ Vgl. z.B. Kennedy , –. ¹⁰⁶ Vgl. Wieland . ¹⁰⁷ Vgl. Kerferd a, . ¹⁰⁸ Vgl. Schmid und Stählin , . ¹⁰⁹ Vgl. Gagarin . ¹¹⁰ Gorg. b. ¹¹¹ Antiphon soll sogar eine »Klinik« geleitet haben, in der er Personen, die an »Depression« litten, mit einer sprachbasierten »Kunst des Entfernens von Traurigkeit« (technê alupias) therapiert hat (DK A ). ¹¹² T. Gomperz , . ¹¹³ Zum ema der magischen Kraft des Wortes vgl. Romilly . ¹¹⁴ Beziehend auf Protagoras vgl. z.B. t. a. ¹¹⁵ DK B , (Übers. Buchheim, BCH, ).
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Reaktionen auslösen können, wie »schreckenerregenden Schauder und tränenreiche Rührung und wehmütiges Verlangen«.¹¹⁶ Das Wirken des Wortes auf die Seele kann r Gorgias somit auch körperliche Reaktionen hervorrufen, die das Wirken des Wortes auf die Seele begleiten, ganz analog zu Nebenwirkungen, die durch Medikamente verursacht werden. Ein enger Zusammenhang der psychischen und physischen Ebene wird auch im nächsten Teil des Lobpreises der Helena entwickelt. Wie Gorgias anmerkt, beziehen die Arznei und die Kra des Wortes ihr Wirken auf eine gewisse »Ordnung« (taxis) – die Medizin auf die des Körpers, das Wort auf die Ordnung der Seele. Wie auch Medikamente, die dem Körper Flüssigkeiten entziehen und sogar über Krankheit oder über das Überleben entscheiden können, so sind manche Worte ebenfalls in der Lage, tröstend, erschreckend, mutig machend, betrübend, aber auch »vergiend« und auf die Seele verzaubernd zu wirken.¹¹⁷ Eine der Konsequenzen der Wirkung des Logos auf die Seele ist die emotionale Reinigung der Seele, die durch einen Mitleid und Angst erweckenden Logos erlangt wird.¹¹⁸ Die große Bedeutung der Sophisten war, dass sie zusammen mit Sokrates eine neue Perspektive in die Philosophie einbrachten, deren Fokus der Mensch in seiner biologischen, gesellschalichen und politischen Existenz ist. Ihr Forschungsprogramm ist das, was Platons Sokrates im Theätet in der Frage zusammengefasst hat, was »das eigentliche Wesen des Menschen« ist »und was ihm demgemäß im Unterschied von den anderen zu tun oder zu leiden zukommt«.¹¹⁹ Die Antwort auf diese allgemeine Frage nach dem Wesen des Menschen suchen die Sophisten, indem sie sich mit den Empfindungen der menschlichen Seele beschäigen, die die Menschen charakterisieren und seine Handlungen beeinflussen. Aufgrund ihres biologischen Ausgangspunkts, der den Menschen in der Naturwelt verortet, ist der Ansatz der Sophisten kein Bruch mit der vorsokratischen Tradition. Bei aller Kritik hren sie viele Linien der Naturphilosophen weiter, wenn sie den Menschen und seine Welt als Element der Naturwirklichkeit beschreiben. Für sie ist die empirische, veränderliche Wirklichkeit und nicht das abstrakte Sein die natürliche Umgebung des Menschen, die er erkennen und durch die Entwicklung von Kultur auch beeinflussen und beherrschen kann. Voller Stolz auf die menschlichen Errungenschaen und voller Fortschrittsoptimis¹¹⁶ DK B , , (Übers. Buchheim, BCH, ). ¹¹⁷ DK B , ¹¹⁸ Vgl. Duncan . ¹¹⁹ t. b (Übers. Apelt, ).
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mus brechen manchen Sophisten sogar mit der traditionellen Überzeugung von der Allmacht der Götter. Der Mensch wird zum Schöpfer und Herrscher seines Seins – zum »Maß aller Dinge, der Seienden, dass sie sind, und der Nichtseienden, dass sie nicht sind«.¹²⁰
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Die Sophisten. Der Mensch als Maß aller Dinge
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Zbigniew Nerczuk
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Die Sophisten. Der Mensch als Maß aller Dinge
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Übersetzung: Antia Pacholik-Żuromska und Ludger Jansen
Ursula Bittrich
Der Mensch in der griechischen Tragödie im Angesicht von Tod und Götterwelt Die griechische Tragödie ist ein bleibendes Monument r den Menschen in seinen Möglichkeiten und Begrenztheiten, r sein Handeln und Leiden in Abhängigkeit und Auseinandersetzung mit dem Göttlichen. Um die enge Verflechtung von Menschlichem und Göttlichem und deren Einfluss auf Entwürfe und Wandlungen des Menschenbildes in der griechischen Tragödie angemessen verstehen zu können, ist es unerlässlich, ihre Verankerung im Kultischen mit zu berücksichtigen. In der Forschung herrscht inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, dass die Bezeichnung trag-ôidia auf den Gesang beim rituellen Bocksopfer zu Ehren des Dionysos als Keimzelle der Tragödie und ihrer unmittelbaren Vorform, dem Dithyrambos, weist.¹ Doch verdankt sie der rituellen Dionysos-Verehrung nicht nur ihren Ursprung, sondern ist mit ihr durch die Einbindung in die Festlichkeiten der großen Dionysien und die Gegenwart des Gottes während der Aufhrungen in Gestalt seiner Kult-Statue auch weiterhin eng verknüp geblieben.² Die seit den Pionierarbeiten der ›Cambridge Ritualists‹ erheblich gewachsene Aufmerksamkeit gegenüber der kultischen Dimension der Tragödie hat in der Forschung zu der These von ihrer unlöslichen Integration in den religiösen Diskurs der damaligen Athener Polis-Gesellscha gehrt.³ Diese religiös-soziologische Verortung der Tragödie hat insbesondere das traditionelle Euripides-Bild ins Wanken gebracht: Galt er noch in der Forschung zu Beginn des . Jahrhunderts o als ein Atheist und Nihilist, der die Tragödie als eine autonome Plattform r Religions- und Gesellschaskritik nutze, so ist r die Verfechter der religiösen Gebundenheit der Tragödie auch der Dichter des Zweifels ¹ Vgl. Burkert ; daran anknüpfend Sourvinou-Inwood , –. ² Zur feierlichen Einholung der Dionysos-Statue am Abend des . Tages des Monats Elaphebolion vor dem ersten großen Festtag der ›Städtischen Dionysien‹ vgl. Latacz , . ³ Der Versuch einer Rückführung von Formenelementen der griechischen Tragödie auf rituelle Handlungen, insbesondere des Sacer Ludus (Mysterienspiels) bei Murray . Zur ese von der Integration in die Athener Polis-Gesellschaft siehe Sourvinou-Inwood .
Ursula Bittrich (). »Der Mensch der griechischen Tragödie im Angesicht von Tod und Götterwelt«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
Der Mensch der griechischen Tragödie
und der Wahrheitssuche letztlich ein Verteidiger der Polis-Religion in den unsicheren Zeiten der aufkommenden Sophistik.⁴ Die Tendenz zu einer Betrachtung und Beagung der Tragödie in ihrem unmittelbaren raum-zeitlichen Umfeld hat auch soziologisch-politsche Fragestellungen in den Brennpunkt der Forschung rücken lassen. So hat man die tragende Rolle der aufgehrten Stücke r die Stiung von kollektiver Identität und sozialer Kohäsion aufgezeigt, indem man beispielsweise die Darstellung des Barbarischen und ihre Funktion einer deutlichen Konturierung der eigenen genuin griechischen Sitten und Gepflogenheiten untersuchte, aber auch der Betonung solcher Tugenden wie Gasteundscha und Milde gegenüber Schwächeren in den Athen-Entwürfen der Asyl-Dramen eine identitätsstiende Wirkung zuschrieb.⁵ Einzelne Beobachtungen wie die einer Stilisierung der Stadt Theben und ihres tyrannischen Herrschers Kreon zu einer Art Anti-Athen insbesondere in den Dramen des Sophokles und Euripides gehören dabei ebenso zu der eben skizzierten Forschungsrichtung wie die Behauptung, dass die in den Tragödien so häufige Inszenierung des Zusammenbruchs von Herrscherhäusern zur Stärkung der athenischen Demokratie unter Perikles beitragen sollte.⁶ In Forschungsarbeiten, die speziell der Frage nach einer möglichen Verbindung der Tragödie mit Heroen-Kulten gewidmet sind, greifen der soziologische und der ritualorientierte Ansatz ineinander.⁷ Die Ausdeutung insbesondere der Schlussszenen einiger einschlägiger Stücke im Sinne der Fundierung und Legitimierung von zeitgenössischen Heroen-Kulten birgt eilich die Gefahr einer sehr einseitigen Sichtweise mit sich, besonders in einem Fall wie dem des sophokleischen Aias, wo ein entsprechender Kult zwar nachgewiesen werden konnte, aber im Stück mit keinem Wort erwähnt wird. In dem Augenblick, wo Tragödie in den Dienst bestimmter kultischer Gegebenheiten gestellt erscheint, kann auch der Darstellung der auftretenden Personen nur noch ein sehr begrenzter Spielraum zugestanden werden. Der Einwand Charles Segals ist hier berechtigt: »But it is, aer all, the characters who produce the ⁴ Zu Euripides als Atheist und Nihilist siehe z.B. Reinhardt ; Zur Gegenposition (Euripides im Dienst der Polis-Religion) vgl. Sourvinou-Inwood , –, bes. . ⁵ Vgl. Hall ; zu der identitätsstiftenden Wirkung der Athen-Darstellungen in den Asyldramen zuletzt Grethlein . ⁶ Vgl. Zeitlin ; zum Motiv des Zusammenbruchs von Herrscherhäusern und seiner demokratiestärkenden Wirkung vgl. Seaford , , mit spezieller Bezugnahme auf das Ende des Herrschergeschlechts der Labdakiden, wie es im OT und in der Antigone des Sophokles dargestellt wird. ⁷ Siehe dazu bes. Seaford .
Ursula Bittrich
rituals, not the rituals that create the characters.«⁸ In diesem Sinne wollen wir im Folgenden zeigen, dass die Personendarstellung innerhalb der griechischen Tragödie zwar durch äußere Vorgaben, bestimmte Riten und Kultbräuche ebenso wie bekannte Gegebenheiten der zugrunde liegenden Mythen, bis zu einem gewissen Grade geprägt ist, aber innerhalb dieses Rahmens durchaus die Möglichkeit zu eier Entfaltung und Variation gegeben ist, von der insbesondere Euripides großzügig Gebrauch macht. Bei dem Versuch, das von den Tragikern entworfene Menschenbild zumindest annähernd zu beschreiben, werden drei Aspekte herausgegriffen, die den Menschen der griechischen Tragödie in besonderer Weise betreffen: () der Mensch im Angesicht des Todes, () der Mensch als der und Leidender und () der Mensch in seiner Beziehung zum Göttlichen und zu seinesgleichen.
Der Mensch im Angesicht des Todes Die ursprüngliche Verwurzelung der Tragödie in Ritus und Zeremoniell des Opferkultes in Verbindung mit Dionysos wurde eingangs schon erwähnt. Tatsächlich ist der Tod eine stets gegenwärtige Konstante, die Beschreibung von Verwandtenmord im Bilde oder auch im Kontext einer rituellen Opferung ein immer wiederkehrendes Grundmotiv der griechischen Tragödie. Das bekannte polla ta deina…, das erste Standlied der sophokleischen Antigone, preist in einer Art poetischen Kulturentstehungslehre die Errungenschaen des Menschen in den Bereichen der Seefahrt und Landwirtscha, seine Macht über die Tiere der Lu, des Wassers und der Erde auf den Gebieten der Jagd und Nutztierhaltung, um dann zu den intellektuellen Leistungen der Sprachentwicklung, der Verfeinerung des Denkens und der politischen Kunst sowie den Erfindungen zum Schutz gegen die Unbilden der Witterung überzugehen. Doch ist dem Menschen bei all seinen Fähigkeiten nach den Worten des Chors eine unüberwindliche Einschränkung auferlegt: Allbewandert (pantoporos), in nichts unbewandert schreitet er ins Künftige; vorm Tod allein wird er sich niemals Flucht verschaffen. (Sophokles, Antigone –)
Dass die Begrenztheit alles Menschlichen durch den Tod in der Tragödie ein stets gegenwärtiger Grundgedanke ist, möchte ich anhand von ausgewählten Szenen aus Sophokles’ Elektra und Euripides’ Bakchen demonstrieren. ⁸ Vgl. Segal , .
Der Mensch der griechischen Tragödie
. Lebend tot. Ein Paradoxon in Sophokles’ Elektra Die Dynamik der sophokleischen Elektra beruht zu einem nicht unwesentlichen Teil auf der Art und Weise, wie hier das Paradoxon des Totgeglaubten, aber doch Lebenden in der Gestalt des Orestes bis ins Letzte zugespitzt wird. Durch das Gespräch des Orestes mit seinem alten Erzieher im Prolog wird der Zuschauer schon zu Beginn des Dramas zum Mitwisser eines Komplotts: Orestes will durch den Erzieher seinen Tod bei einem Pferderennen melden lassen, um dann in aller Ruhe seinen Racheplan durchhren zu können. Hier findet sich die erste wirkungsvolle Formulierung des Paradoxes (/): »Denn was bekümmert’s mich, wenn ich, dem Wort nach tot, / der Tat nach lebe (logôi thanôn / ergoisi sôthô) und zu Ehren kommen kann?« Dass hier der bekannte Typus des totgeglaubten Heimkehrers im Hintergrund steht, wird im Folgenden explizit erwähnt (–): »Von klugen Männern hab’ ich omals schon gehört, / die totgesagt durch irriges Gerücht: wenn sie / nach Haus dann kehrten, ehrte man sie desto mehr.« Hier mögen Autor und Zuhörerscha an solche Hadesfahrer wie Herakles und Theseus und ihre mehr oder weniger willkommene Rückkehr gedacht haben.⁹ Der Botenbericht, in dem der Erzieher dann in Gegenwart des Chores, Klytaimestras und Elektras den scheinbaren Tod des Orestes plastisch und bis ins Detail ausmalt, steht an exponierter Stelle genau im Zentrum des Stücks und markiert eine emotionale Wende auf Seiten der Adressaten der inszenierten Täuschung, die man am treffendsten wohl mit dem von Burnett gebrauchten Terminus der minor peripeteia (›kleinerer Umschlag‹) bezeichnen könnte¹⁰: Zwar ändert der Botenbericht nichts an der großen Linie des Geschehens, ja trägt sogar bei zum Gelingen des Racheplans, doch wird der Tod des Orestes auf so wirkungsvolle Weise suggeriert, dass Klytaimestra ohlockt und Elektra sich selbst vernichtet sieht. Im eigentlichen Botenbericht, einem Paradestück des bei Sophokles auch sonst so beliebten dramatischen Formelements der Trugrede, werden alle Register gezogen, um auch das bloß Vorgespiegelte noch mit einer tieferen Bedeutung zu versehen. Nicht ohne Grund wird als Schauplatz r den angeblichen Tod des Orestes gerade die Pferderennbahn gewählt: Schon im ersten Standlied hatte der Chor einen ›mit vielen Schmerzen verbundene Ritt‹ – polyponos hippeia () – des Pelops, des Stammvaters der Atriden, besungen. Angespielt ist dabei auf ein Element des Mythos um Pelops, Hippodameia und deren ⁹ Siehe dazu die beiden Euripides-Dramen Herakleidai und Hippolytos. ¹⁰ Vgl. Burnett , –.
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Vater Oinomaos, den König von Elis, dem Sophokles auch ein eigenes, leider nur in Bruchstücken erhaltenes Drama gewidmet hat¹¹: Oinomaos hatte die Hand seiner Tochter Hippodameia demjenigen versprochen, der ihn im Wagenrennen besiegen würde. Der Sage nach gelang dies Pelops, dem Sohn des Tantalos und Stammvater der Atriden, durch eine List: Hippodameia, die sich gleich bei seiner Ankun in ihn verliebte, brachte den Wagenlenker ihres Vaters, Myrtilos, dazu, Pelops zum Sieg beim Wagenrennen zu verhelfen, indem er einen Radpflock am Wagen seines Herrn entfernte oder, nach einer anderen Version, durch einen wächsernen ersetzte.¹² Während des Rennens brach das Rad, Oinomaos stürzte und wurde zu Tode geschlei.¹³ Als Pelops danach mit Myrtilos und Hippodameia eine Wagenfahrt durch die Peloponnes unternahm, versuchte Myrtilos, gleichsam als Lohn r seinen Gefallen, sich Hippodameia zu nähern, und wurde daraufhin von Pelops ins Meer gestürzt.¹⁴ Und gerade dieser gewaltsame Tod des Myrtilos ist es, der laut dem ersten Standlied in Sophokles’ Elektra am Beginn der fortgesetzten Leiden des Pelopidengeschlechts stand.¹⁵ Im Botenbericht vom Tod des Orestes wird die aus dem Mythos bekannte Situation des Wagenrennens, eilich mit einer anderen Rollenverteilung, wieder aufgegriffen: War es dort Oinomaos, der gegen Pelops im Wagenrennen um die Hand der Hippodameia unterlag, so erscheint hier Orestes als das Opfer. Durch eine bedeutsame Einzelheit innerhalb der Schilderung drängt sich die Parallelisierung geradezu auf: Die Behauptung des alten Erziehers, Orestes sei in dem Moment vom Wagen gestürzt, als die Radnabe brach, und daraufhin zu Tode geschlei worden, ist eine detailgetreue Reminiszenz an den legendären Tod des Oinomaos infolge der List des Myrtilos.¹⁶ Die Plastizität der Schilderung im Botenbereicht weckt auch beim Zuschauer, der doch um den Trug von Anfang an weiß, einen Moment lang die Illusion der Verkehrung: Orestes, der – auch nur ein Glied in der Kette seines fluchbeladenen Geschlechts – als tätiger Rächer nach Argos kam, wird hier durch die Parallelisierung seines Schicksals ¹¹ Vgl. Sophokles, TrGF , frgg. – (Radt). ¹² Entfernung des Radpflocks: Pherekydes, FGrHist , F (Jacoby); Ps.-Apollodor, Epit. , –; Ersetzung durch einen wächsernen: Scholion zu Apollonios Rhodios , . ¹³ Da die Version schon bei Pherekydes überliefert ist (der Scholiast zu Apollonios Rhodios , zitiert aus dem . Buch der Historien des Pherekydes), muss sie zu Sophokles’ Zeiten geläufig gewesen sein. Pindar, der ja für seine Tendenz, den Mythos zu veredeln, bekannt ist, läßt Pelops in Olympiae , – den Sieg nicht durch eine List, sondern mit Hilfe eines von Poseidon geschenkten goldenen Wagens mit Flügelpferden erringen. ¹⁴ Vgl. Pherekydes, FGrHist , F (Jacoby). ¹⁵ Vgl. Sophokles, El. –. ¹⁶ Vgl. Sophokles, El. –.
Der Mensch der griechischen Tragödie
mit dem des Oinomaos zum Opfer stilisiert. Der Handelnde wird, wenn auch nur durch Trug, zum Leidenden; doch die Wahrheit dieses Truges liegt darin zu zeigen, wie ambivalent das menschliche Schicksal ist, kann es doch jederzeit umschlagen und den Täter zum Opfer, den Handelnden zum Leidenden werden lassen. Das Spiel mit dem Gegensatzpaar ›Tod – Leben‹ wird fortgesetzt, als Orestes Elektra aufsucht, um ihr die Urne angeblich mit seiner eigenen Asche zu überbringen. Die Klage über der Urne des Totgeglaubten in Anwesenheit des Lebendigen ist nicht nur bühnenwirksam, sie ist ebenso wie der Botenbericht Ausdruck des prekären Charakters eines menschlichen Daseins, dem der Tod immer vor Augen steht. Dass er durchaus nicht immer als Bedrohung, sondern auch als Erlösung empfunden werden kann, zeigt Elektras Wunsch, im Tod mit Orestes vereint zu sein: Drum nimm mich auf in dieses dein Gehäus, das Nichts zum Nichts, dass drunten ich vereint mit dir in Zukunft wohne! Denn als du hier oben warst, hatt’ ich mit dir das gleiche Los: nun sehn’ ich mich, zu sterben und von deinem Grab nicht fern zu sein; denn die Verstorbenen seh’ ich frei von allem Leid. (Sophokles, El. –)
. Tödliche Verblendung in Euripides’ Bakchen Etwa nfzehn Jahre später begegnet in den Bakchen des Euripides eine merkwürdige Verkehrung dieser Szene: Beklagt die sophokleische Elektra den scheinbaren Verlust des lebendig vor ihr stehenden Orestes über der Urne, die vorgeblich seine Asche enthält, so sieht man hier Agaue in dionysischem Wahn triumphierend nach ihrem Sohn Pentheus rufen, um ihm ihre Jagdbeute, den Kopf eines angeblichen Löwen, zu präsentieren, ohne sich dabei bewusst zu sein, dass es der Kopf des eben Herbeigerufenen ist, den sie in ihren Händen hält. Diese Szene zeigt nicht nur auf sehr drastische Weise die bewusstseinsverändernde Wirkung gottgesandten Wahns, sondern auch die Verwischung der Grenzen zwischen Mensch und Tier. In / brüstet sich Agaue damit, den vermeintlichen Löwen ›ohne Schlingen‹ (aneu brochôn) – an anderer Stelle heißt es: ›nicht mit Netzen‹ (: ou diktyoisin) – gefangen zu haben. Die deutliche Reminiszenz an das bekannte Wortspiel en brochois helôn brachionos – ›in den Schlingen des Armes ihn fassend‹ – mit dem im Hercules Furens, Vers / die legendäre Überwältigung des nemeischen Löwen mit bloßem Arm als eine besondere Ruhmestat und ein bemerkenswerter Kraakt des Herakles gepriesen wird,
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unterstreicht zum einen die grotesk verblendende Wirkung des Wahns, zum andern wird mit den Motiven der Schlinge und des Netzes an die r die Tragödie so typische Tradition der Schilderung von Tötungen in den Bildern der Jagdmetaphorik angeknüp: Auch Agamemnon wird vor seiner Ermordung durch Klytaimestra ein Netz übergeworfen, um nur ein Beispiel zu nennen. Das Bild hat eine doppelte Bedeutung: Es ist sowohl ein Symbol r die Verstrickung, in die der tragische Mensch durch eigene hamartia (›Verfehlung‹) oder Blutschuld geraten kann, als auch ein Zeichen r das in der Tragödie, insbesondere in Opferungsszenen, so häufig begegnende Oszillieren zwischen Mensch und Tier.¹⁷ Im gegebenen Kontext der Bakchen ist ein spezifisch dionysischer Hintergrund durchaus denkbar: Man hat vermutet, dass das Bocksopfer anlässlich der ›Großen Dionysien‹ im Zusammenhang mit einer im Scholion zu Aristophanes, Acharner a erwähnten Legende stand: Die Athener, so die Legende, hätten den Gott Dionysos, als er von Pelasgos aus Euböa in ihre Stadt gebracht wurde, nicht mit der gebührenden Ehre empfangen und seien deshalb vom Gott mit einer Krankheit geschlagen worden. Vor diesem Hintergrund könnte das Bocksopfer unter anderem auch als ein stellvertretendes Opfer zur Versöhnung des zürnenden Gottes wahrgenommen worden sein.¹⁸ Der Pentheus der Bakchen wäre dann, ebenso wie der mythische Thrakerkönig Lykourgos, dem Aischylos eine leider nur in Fragmenten erhaltene Tetralogie gewidmet hat,¹⁹ der Prototyp des Dionysosverächters, der seine Hybris nicht, wie die Athener des Acharner-Scholion, durch ein stellvertretendes Opfer, sondern durch den eigenen Tod bezahlt. Dahinter steht eine r uns sehr archaisch anmutende, dem im polytheistischen System der griechischen Antike sich bewegenden Menschen aber durchaus geläufige, ja alltägliche Auffassung von menschlicher Hybris und ihren Folgen: Wer sich durch mangelnde Verehrung oder sogar Spott an einer der Gottheiten des Pantheons vergeht, muss dar – o auf unverhältnismäßig grausame Weise – Sühne leisten.
¹⁷ Siehe z.B. die Iphigenie in Aulis des Euripides, wo die Vorbereitungen zu einer Opferzeremonie (: proteleia), die angeblich zur Hochzeit Iphigenies mit Achill überleiten soll, damit enden, daß Iphigenie selbst zur Opferung geführt und dabei mit einem moschos akêratos, einem ›unbefleckten Kalb‹ () verglichen wird. Vgl. dazu Seaford , –. ¹⁸ Vgl. Sourvinou-Inwood , . ¹⁹ Vgl. Aischylos, TrGF , frgg. – (Radt).
Der Mensch der griechischen Tragödie
Der Mensch als Handelnder und Leidender Typisch r den Menschen der griechischen Tragödie ist, qua genus, der Aspekt des Handelns und Leidens: In der Konontation mit unalltäglichen, ja o extremen Situationen wird er als Agierender oder passiv Erduldender vorgehrt. Angesichts des dramatischen, im wahrsten Sinne des Wortes handlungsorientierten Charakters der Tragödie hat man die Freiheit der Personendarstellung kontrovers diskutiert: Erwähnenswert ist hier besonders die Forschungsdebatte zu Beginn des . Jahrhunderts, die sich hauptsächlich an der bekannten Aussage des Aristoteles über den Primat der Handlung gegenüber der Charakterzeichnung in der griechischen Tragödie entzündete: Denn die Tragödie ist nicht die Nachahmung (mimêsis) von Menschen, sondern von Handlungen (praxeis) und vom Leben (bios). Auch Glück und Unglück gehören zur Handlung, und das Ziel ist eine Handlung, keine charakterliche Qualität (poiotês). Durch ihren Charakter (êthos) haben die Menschen eine bestimmte Qualität, aber aufgrund von Handlungen sind sie glücklich oder unglücklich. Sie handeln also nicht, um Charaktere nachzubilden, sondern schließen die Charaktere durch die Handlungen mit ein.²⁰
Die eingenommenen Positionen in der erwähnten Kontroverse bewegten sich zwischen zwei Extremen. So wurde einerseits die Existenz einheitlicher Charaktere in der Tragödie ganz und gar in Frage gestellt und das Verhalten der Personen als eine Funktion der jeweiligen szenischen Einzelwirkung aufgefasst,²¹ andererseits ging man so weit, aus den Tragödien insbesondere des Euripides ausgeklügelte Charakterporträts zu extrapolieren und diese dann ohne weiteres mit den Gestalten etwa eines Henrik Ibsen zu vergleichen.²² Eng verbunden mit der Frage nach einheitlichen Charakteren ist auch das Problem der Entscheidungseiheit. Auch hier gehen die Meinungen weit auseinander. Ist es beispielsweise r Lesky ein Grundelement aischyleischer Tragik, dass die handelnden Personen ihr eigenes Wollen einer schicksalhaen Fügung unterstellen, so betont Vernant den Einfluss des am Ende des . Jh. v. Chr. erwachenden Gerichtsdenkens auf die etwa zeitgleich sich formierende Tragödie im Sinne einer zagha einsetzenden und allmählich fortschreitenden Be²⁰ Aristoteles, Poetik , a –. Die Übersetzungen stammen von der Verfasserin. ²¹ Vgl. Howald , ; –; u.ö. ²² Steiger , bes. –.
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wusstwerdung der Möglichkeiten eines eigenverantwortlichen Handelns, die in den Stücken der Tragiker durchaus ihre Spuren hinterlassen habe.²³ Im Folgenden möchte ich zeigen, dass in der Tragödie äußerliche Ereignisse und das Agieren bzw. Reagieren der dramatis personae in einer Wechselwirkung zueinander stehen: In der Art, wie die auftretenden Personen nach Schicksalsschlägen, Provokationen oder Situationen, die eine Entscheidung fordern, sich verhalten, manifestiert sich zugleich auch ihr êthos, ihre charakterliche Geformtheit. Eine typische Situation, mit der eine Person in der Tragödie beispielsweise konontiert wird, ist der Todeswunsch oder die Aufforderung zur Opferung der eigenen Kinder oder Schutzbefohlener. Die Reaktionen fallen hier ganz unterschiedlich aus: Während in den Euripides-Dramen Herakleidai, Hekabe, Phoenissen und Hiketiden Iolaos r Makaria, Hekabe r Polyxena, Kreon r Menoikeus und Iphikles r Euadne zu sterben bereit sind, fällt Agamemnons Bereitscha, seine Tochter Iphigenie r den Sieg in Troja zu opfern, deutlich aus dem Rahmen, und so wird die Entscheidung des griechischen Heerhrers in Aischylos’ Agamemnon vom Chor auf eine ›schlecht beratene, unglückselige Geistesverwirrung‹ (/: aischromêtis talaina parakopa) zurückgehrt und in Euripides’ Iphigenie in Aulis von Klytaimestra als Ausdruck einer auf die Spitze getriebenen Ruhmsucht entlarvt (): »Liegt nur, als Fürst dich auszuzeichnen und Stratege, dir im Sinn?« Ein wenig anders gelagert ist der Fall in Euripides’ Alkestis: Die Eltern des Admet, die die Möglichkeit haben, das Leben ihres Sohnes durch ein stellvertretendes Opfer zu retten, finden sich nicht dazu bereit und werden dadurch zu Musterbeispielen der Feigheit (: apsychia). Personen in Entscheidungssituationen sind eilich auf der Bühne des griechischen Theaters sehr viel seltener anzutreffen als der Typus des unschuldig Leidenden, der in einer jähen Wendung des Schicksals ins Unglück gestürzt wurde. Das Paradebeispiel ist der Ödipus des Sophokles. Zu Beginn des Oidipous Tyrannos wird er von einem Priester des Zeus, der ihn zwar nicht als gottgleich, aber doch als »Besten der Menschen« (: brotôn arist’) und »Retter« (: sôtêra) apostrophiert, auf den Weg der aktiven Exploration geschickt: Er soll nach den Ursachen der Seuche forschen, von der die Stadt Theben heimgesucht wird. Ein Orakelspruch Apolls gibt an, welche Fährte zu verfolgen ist: Um die Stadt zu beeien, muss der Mörder des König Laios geächtet oder gar getötet werden. Beflügelt von einem durch nichts aufzuhaltenden Erkundungstrieb, ergrei Ödipus die ihm gestellte Aufgabe. Er, der als Löser des Sphinx-Rätsels seine hohe Stellung als neuer König von Theben erlangte, stößt ²³ Vgl. Lesky , –; Vernant und Vidal-Naquet , .
Der Mensch der griechischen Tragödie
am Ende seiner Nachforschungen unvermeidlich auf das Geheimnis seiner eigenen Existenz und muss erfahren, dass der Orakelspruch Apolls, er werde seinen Vater erschlagen und mit seiner Mutter das Lager teilen, trotz aller seiner Versuche, diesem Schicksal zu entkommen, in Erllung gegangen ist. Diese Wahrheit, an die der Chor in seinem letzten Standlied – mit allgemeinen Betrachtungen über die Nichtigkeit menschlichen Daseins anknüp, lässt Ödipus in seinen eigenen Augen zum »Allerverfluchtesten« (: kataratotaton) und »Göttern Verhasstesten« (: theois echthrotaton) werden. Die Blendung, die er sich zur Strafe selbst zugt, ist eine Neuerung des Sophokles und hat in mehr als einer Hinsicht symbolische Bedeutung. Dass der Vorgang der Selbstblendung mit den Spangen der Iokaste im gemeinsamen Schlafgemach mit deutlichen Anklängen an ein eheliches Beilager geschildert wird, ist schon gesehen worden.²⁴ Doch ist diese Gewalt gegen sich selbst auch die bittere Erllung einer ahnungsvollen Äußerung des Ödipus im Anfangsstadium seiner Suche nach dem Laios-Mörder (/): »Denn wer’s auch war, der ihn erschlug, er will vielleicht / sich bald an mir vergreifen mit derselben Hand.« Am bedeutsamsten aber ist der Bezug dieser Handlung zum Paradoxon des blinden Sehers.²⁵ Im Dialog mit Teiresias ist es gerade dessen Blindheit, die den Spott des Ödipus herausfordert, als er sich zur Bekräigung seiner Enthüllungen über die Identität seines Gegenübers auf die Kra der Wahrheit beru (/): »Es gibt sie – nicht r dich! Für dich gibt’s keine, weil / du blind an Ohr und Geist wie an den Augen bist!« Mit rationalistischem Spott setzt Ödipus dem traditionell weisen Seher, dem Odysseus in der Nekyia, dem . Buch der Odyssee, die sichere Führung durch die Unterwelt verdankt, seine eigene Seherkra, die er der Schärfe seines Verstandes zuschreibt, entgegen: Dann sag’ mir doch, wo bist ein klarer Seher du? Warum, als hier die Sängerin, die Wächterin war,²⁶ sprachst du für diese Bürger keinen Lösespruch? Freilich, das Rätsel lösen war nicht Sache des daher gelaufnen Mannes, sondern Sehertum (manteia) war not, wie du es offenbar von Vögeln nicht erkannt, ²⁴ Vgl. Seaford , –. ²⁵ Das Paradoxon des blinden, aber wissenden Sehers ist seit Homer (Od. , ) prototypisch verkörpert durch Teiresias. Zu Polydoros als Geblendetem, der zum Seher wird, in Euripides’ Hekabe vgl. Schlesier , mit Anm. . Zum Gegensatzpaar Blindheit und Sehertum im Oidipous Tyrannos vgl. auch Goldhill , –. ²⁶ Gemeint ist die Sphinx.
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noch von der Götter einem; sondern ich kam her, ich, Ödipus, nichts wissend, setzte ihr ein End’ mit dem Verstand (gnôme) es treffend und von Vögeln nicht belehrt. (Sophokles, OT –)
Mit unüberhörbarer Ironie spricht hier Ödipus in Vers von sich selbst als einem scheinbar nicht Wissenden in wirkungsvollem Gegensatz zum ersten Bestandteil seines Namens: oida‚ ›ich weiß‹.²⁷ Das Wesen eines Wissenden par excellence, das Ödipus mit dieser ironischen und zugleich prahlerischen Pose r sich in Anspruch nimmt, kann ihm eilich erst dann wirklich zugesprochen werden, als er seine eigene Nichtigkeit erkennt. Das geschieht in dem Augenblick, als die Relevanz des objektiv erkannten Sphinxrätsels r seine subjektive Existenz deutlich wird: Der Mensch, der auf vier, zwei und drei Beinen geht, ist er selbst, vereint er doch durch seinen Frevel alle drei Lebensalter und die mit ihnen assoziierten familiären Eigenschaen von Sohn, Vater und Ehemann sowie Großvater in seiner eigenen Person; groteskerweise eilich nicht in einer zeitlichen Abfolge, sondern simultan: Er ist zugleich Sohn und Gatte der Iokaste, zugleich Bruder und Vater seiner Kinder, ja wird sogar zum Großvater, indem er Iokaste zur Mutter ihrer eigenen Enkel macht.²⁸ Die Selbstblendung, mit der Ödipus die Erkenntnis seiner kümmerlichen Identität besiegelt, ist nicht nur Selbstbestrafung, sondern auch eine symbolische Handlung, die den jähen Umschwung von extravertiertem Forschungsdrang zu introvertierter Erkenntnis der eigenen Begrenztheit, ja Beflecktheit, markiert. Damit wird Ödipus zum lebendigen Beispiel r eine Weltsicht, die den Menschen ganz und gar der Sphäre des Göttlichen unterstellt. Der letzte Eindruck, mit dem der Oidipous Tyrannos den Zuschauer entlässt, ist der eines unauichtbar Gefallenen: Als ein agos, eine Befleckung selbst r Helios,²⁹ wird Ödipus von Kreon ins Haus geschickt. Nicht einmal der Wunsch nach Verbannung wird ihm noch gewährt. Wie der auf scheinbar unwiderrufliche Weise auf sein menschliches Maß Reduzierte zum Heil der Stadt Athen wird, zeigt das Alterswerk des annähernd neunzigjährigen Sophokles, der Oidipous auf Kolonos. Hier sieht man den blinden Greis, der schließlich doch aus Theben verbannt wurde, wie er nach langer Wanderung, gehrt von seiner Tochter Antigone und damit in einer Haltung, die an die des blinden Sehers ²⁷ Hinweis auf dieses zu Wortspielen anregende Potential des Namens ›Oidipus‹ bei Goldhill , –. Siehe auch Vernant und Vidal-Naquet , . ²⁸ Zu der Übertragung des Sphinxrätsels auf Ödipus’ eigene Person vgl. Vernant und VidalNaquet , . ²⁹ Vgl. Sophokles, OT –.
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Teiresias erinnert, am Hain der Eumeniden in Kolonos angelangt ist. In diesem Stück ist er nicht mehr der Rebell gegen göttliche Schickungen, der, im Vertrauen auf die eigenen Verstandeskräe, mit allen Mitteln versucht, dem über ihn Verhängten zu entkommen, sondern sein Weg steht im Einklang mit einer Weissagung Apolls: Der Tod des Ödipus im Eumenidenhain von Kolonos werde den ihn aufnehmenden Athenern Segen, der Stadt Theben, die ihn exilierte, dagegen Fluch einbringen.³⁰ Man hat die Verbannung des Ödipus, der eine Befleckung r die Stadt Theben bedeutete, mit dem Ritus der Austreibung zweier fluchbeladener Pharmakoi im Zuge der Thargelien zur Reinigung der Stadt verglichen.³¹ Tatsächlich knüp wohl der von Kreon zu Beginn des Oidipous Tyrannos verkündete Seherspruch Apolls, der Mörder des Laios müsse als ein Schandfleck r das Land (: miasma chôras) verbannt oder gar getötet werden, an die Tradition von Sündenbock-Ritualen an,³² doch verliert dieses Motiv zuletzt an Schärfe: Der Wunsch, das Land zu verlassen, wird Ödipus am Ende des Stücks von Kreon zunächst verweigert, und im Oidipous auf Kolonos ist von einer kathartischen Wirkung der Verbannung r die Stadt Theben nicht mehr die Rede. Vielmehr werden die Söhne des Ödipus von ihm mit einem Fluch beladen, als Polyneikes erscheint, um seinen Vater aus eigennützigen Motiven zur Rückkehr zu bewegen.³³ Athen dagegen wird die segenspendende Wirkung des Wanderers auf der Schwelle des Todes gerade nicht durch seine Vertreibung zuteil, sondern durch die Bereitscha des Theseus, dem Fremden Asyl zu gewähren. Seine Offenheit gegenüber dem Fremdling steht ganz im Gegensatz zu Kreons Erwartung, dass eine Stadt wie Athen unmöglich einen Mann wie Ödipus aufnehmen würde (–): »Ich wusste, dass ihr keinen schuldbefleckten Mann / aufnähmet, der den Vater mordete und der / in höchst verruchtem Ehebund (gamoi anosiôtatoi) betroffen ward.« Theseus dagegen versichert Ödipus schon bei seinem ersten Treffen, noch bevor er auf eine heilsame Wirkung r Athen hoffen darf, seiner Gasteundscha. Es folgt das Angebot einer Aufnahme als Bürger von Athen, ja sogar der Unterkun im eigenen Haus, sobald die wohlwollende Absicht des Ödipus deutlich geworden ist. Durch seine Stilisierung zum großmütigen Herrscher wird Theseus zum Exponenten der traditionell mit Athen verbundenen Eigenscha, r Fremde und Bedrängte offen zu sein. Der Oidipous auf Kolonos gehört damit in den Kreis jener Asyl-Dramen, in denen ein Ide³⁰ ³¹ ³² ³³
Vgl. Sophokles, OC –. Siehe bes. Vernant und Vidal-Naquet , . Siehe den Dialog zwischen Ödipus und Kreon im OT –. Siehe die Szene Polyneikes – Ödipus in OC –; der Fluch in –.
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albild Athens als Hort der Unterdrückten und Entrechteten gezeichnet wird.³⁴ Der Ton auf der segensreichen Wirkung, die von der Todesstätte des Ödipus über ganz Attika ausstrahlen soll, trägt das Seinige zu einer verklärten Athen-Darstellung bei und hat möglicherweise sogar den Ausschlag zur Gründung eines Heroen-Kultes bei Kolonos Hippios gegeben, von dem Pausanias im Attika-Buch seiner Periegese zu berichten weiß.³⁵ So wird das Schicksal des Ödipus am Ende seiner Laufbahn in ein mildes Licht getaucht. Der Verstoßene, der von selbsterrungenen Ehren zum Status eines städtelosen Schandflecks herabgesunken war, erfährt eine von Göttern gewirkte Erhöhung; und durch diese versöhnliche Wende wird der thebanische Sagenheld in die Polis der Athener gleichsam eingemeindet. Der Sturz vom Gipfel des Ruhms in völlige Nichtigkeit verbindet Ödipus mit Herakles im Hercules Furens des Euripides. Hier jedoch ist nicht mehr ein Gott am Werk, der einen Menschen auf den dornenreichen Weg der Selbsterkenntnis schickt und am Ende alles zum Guten wendet, sondern es geht um einen regelrechten Machtkampf zwischen Menschen und Göttern. Herakles, der zunächst ganz gegen das Erwarten seiner Angehörigen aus dem Hades zurückkehrt und die vom Tode Bedrohten vor den Anschlägen des Usurpators Lykos rettet, wird im zweiten Teil des Stücks zum Opfer eines Anschlags der Göttin Hera, die Herakles seit seiner Geburt aus der Verbindung ihres Gatten Zeus mit ihrer menschlichen Nebenbuhlerin Alkmene mit ihrem ganzen Hass verfolgt. Als Handlangerin ihres Planes, Herakles zum Mörder seiner eigenen Kinder werden zu lassen, erscheint in einem zweiten Prolog Iris, um Lyssa, den personifizierten Wahn, auf Herakles zu hetzen. Die Begründung, mit der Iris sich mit ihrem Anliegen an Lyssa wendet, ist aber nicht etwa die Eifersucht Heras, sondern eine Äußerung von allgemeiner Tragweite, in der sich deutlich der Topos vom Neid (phthonos) der Götter angesichts menschlicher Größe abzeichnet (/): »… nirgends werden mehr Götter sein und groß das Menschliche, wenn er nicht Buße zahlt.« Herakles ist mit seinem Gang in die Unterwelt der Macht insbesondere der Unterweltsgötter gefährlich geworden. Die bekannte Sagenversion, dass er als die letzte seiner Heldentaten den Höllenhund Kerberos mit Persephones Hilfe aus dem Hades
³⁴ In diesem Sinne interpretiert von Grethlein , –. ³⁵ Vgl. Periegesis , , . Siehe dazu Calame , –
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heraufholte, hat Euripides in seinem Sinne umgewandelt³⁶: Auf Amphitryons Frage, ob er den Hund durch Kampf oder als ein Geschenk der Göttin ans Tageslicht brachte, lautet die Antwort (): »Im Kampf (machêi).« Das Gewaltsame der Kerberos-Aktion wird also bewusst betont. Über das Drama verteilte Reminiszenzen an die Schlacht der Götter gegen die Giganten verstärken noch den Eindruck eines Machtkampfs. Wenn der Chor der thebanischen Greise – das Alter mit einer ›Bürde, noch schwerer als Felsen des Ätna‹ vergleicht, wird damit auf den Mythos des chthonischen (»erdverbundenen«) Ungetüms Typhon angespielt, den Zeus nach dessen Angriff auf die olympischen Götter im Anschluss an den Gigantenkampf in die Erdentiefe versenkte, um dann den Ätna über ihm aufzutürmen. Als nach der Wahnsinnstat des Herakles über dem Dach des einstürzenden Palastes r einen Moment lang die Göttin Athene erscheint, vergleicht der Chor ihre Intervention mit ihrem Vorgehen gegen Enkelados, den sie der Sage nach in der Gigantenschlacht in die Flucht geschlagen und unter der Insel Sizilien, die sie ihm nachschleuderte, begrub. Nicht umsonst sind es gerade Mythen von einer Versenkung aufstrebender Rebellen unter die Erde, die hier anklingen, ist doch auch Herakles selbst bei seiner Heimkehr nach Theben zunächst ein dem Hades Entstiegener, der dann in der Umnachtung des Wahns gleichsam zurück in die Unterwelt versetzt und nach seiner Greueltat von Amphitryon bezeichnenderweise als Hadou bakchos, ›Bacchant des Hades‹ () angeredet wird.³⁷ Wie aber kommt es zu diesem Rückfall in das doch überwunden geglaubte Reich der Toten? Zwar ist Hera die treibende Kra r die Umstrickung des Herakles in Wahnvorstellungen, doch dass es um mehr als eine Abrechnung zwischen persönlichen Feinden geht, zeigt neben dem Ton auf dem gewaltsamen Übergriff des Herakles in die Sphäre der Unterweltsgötter noch ein weiteres bedeutsames Faktum, das im zweiten Teil von Vers eigens hinzugegt wird: »Zum Glück sah vorher ich die Mystenfeier.«³⁸ Das bekannte Mythenelement von der Einweihung des Herakles in die eleusinischen Mysterien gewinnt hier eine besondere Tragweite, wenn man bedenkt, dass der Zu³⁶ Zur Variante einer wohlwollenden Persephone, die Herakles bei seinen Arbeiten im Hades helfend zur Seite steht, vgl. Diodor , , ; vgl. auch Wilamowitz-Moellendorff , Bd. II zu Zeile . ³⁷ Als Bakchantinnen des Hades werden auch die Frauen bezeichnet, die in Euripides’ Hekabe die Kinder des Polymestor töten; vgl. dazu Schlesier . ³⁸ Zur Überlieferung des Mythos von der Mysterienweihe des Herakles vgl. WilamowitzMoellendorff , Bd. I, , Anm. ; vgl. auch die Darstellung auf der Lovatelli-Urne, einer der Nachbildungen eines verlorenen Relief-Frieses aus Eleusis, z.B. bei Burkert , Abb. und .
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gang zu den eleusinischen Weihen Personen, die Blutschuld auf sich geladen hatten, nicht gestattet war.³⁹ Während in den sonstigen Textzeugen r die Überlieferung des Herakles-Mythos die rituelle Reinigung des Helden vor seiner Einweihung besonders betont wird und das Mythenelement des Kindermordes, wenn es überhaupt erscheint, der Mysterienweihe und Hadesfahrt vorangestellt wird, ist im Hercules Furens eine der ersten Handlungen des Herakles bei seiner Ankun in Theben die Ermordung des Tyrannen Lykos – einer Figur, die Euripides in den Mythos neu eingehrt hat.⁴⁰ Der Chor kommentiert diese Tat mit den Worten (–): »Der jüngst noch so mächtige Herrscher kehrt um auf dem Weg seines Lebens, zum Hades.« Mit gleicher Gültigkeit tri diese Bemerkung nur wenig später auch auf Herakles zu. Der Zugriff der Göttin Lyssa oder, auf menschlicher Ebene, das plötzliche Eintauchen in einen Zustand bewusstseinsverzerrenden Wahns tritt bei ihm nach dem Bericht des Dieners genau zu dem Zeitpunkt ein, als man sich um den Zeusaltar versammelt, wo schon das Opfertier zur Sühnung des Hauses von der an Lykos begangenen Blutschuld bereitliegt.⁴¹ Als Herakles in einem Moment des ommen Schweigens (: phthegma hosion) ein Brandscheit hebt, um mit der Zeremonie zu beginnen, setzt der Umschlag ein. So leicht gelingt die Entsühnung eines Mysten eben doch nicht: Das ursprüngliche Vorhaben wird zurückgestellt, und Herakles glaubt im Wahn, zunächst noch Eurystheus aufsuchen zu müssen, um sich an ihm zu rächen. Durch die Auskun des Herakles in der Stichomythie mit Amphitryon, Kerberos sei im Hain der Kore in Hermion zwischengelagert und Eurystheus wisse noch nichts von der gelungenen Aktion, war schon der Eindruck entstanden, dass ein Gang zu Eurystheus noch bevorsteht.⁴² Nicht ohne tiefere Bedeutung ist es gerade der scheinbare Vollzug dieses Ganges, der den Hintergrund r die Wahnsinnstaten des Herakles abgibt. Das Bild einer Reise, die r die Übergabe des gewaltsam entwendeten Höllenhundes tatsächlich geplant war, gibt dem Mord an den Kindern im Glauben, es handle sich um die Söhne des Eurystheus, den Anschein einer Sühne r begangenen Frevel. Tatsächlich tötet Herakles ja auch einen seiner Söhne, indem er ihn unmittelbar vom Altar fortreißt, ein anderer wird ausdrücklich als Opfer (thyma) bezeichnet.⁴³ An die Stelle ³⁹ Vgl. Mylonas , mit Anm. . ⁴⁰ Zum Element der Reinigung vor der Weihe vgl. z.B. Apollodor , , ; zur Umstellung des Kindermords an das Lebensende des Herakles vgl. Wilamowitz-Moellendorff , Bd. I, –; zur Einführung des Lykos Wilamowitz-Moellendorff , Bd. I, . ⁴¹ Vgl. Euripides HF –. ⁴² Vgl. Euripides HF –. ⁴³ Vgl. Euripides HF –; .
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des Tieropfers, das ihn von seiner Schuld beeien sollte, sind seine eigenen Kinder getreten, und so bewahrheitet sich an dieser Stelle, was Megara vor der scheinbar rettenden Ankun des Herakles über ihren dem Hades geweihten Kindern ausru: Nun, wer ist Priester, Schlächter der Unseligen oder der Mörder meines eignen unglücksel’ gen Lebens? Bereit zum Hadesgange stehn die Opfer (thymata) hier. (HF –)
Als der Chor sich agt, welchen Totengesang, welchen Unterweltsreigen er angesichts der Morde noch beginnen soll, wird das Ekkyklema (eine Bühnenmaschine, wahrscheinlich in Gestalt einer mit Rädern versehenen Plattform) heraus gerollt und gibt einen Blick auf das Innere des Palastes ei: Zwischen den Leichen Megaras und der Kinder sitzt schlafend Herakles, der von seinen Dienern aus Angst vor weiteren Übergriffen an eine Säule gebunden wurde. Das Moment der Fesselung lässt ihn als einen Gefangenen chthonischer Mächte erscheinen, ist doch seit der Gestaltung des desmios hymnos in Aischylos’ Eumeniden das Anlegen von Fesseln ein nicht mehr wegzudenkendes Charakteristikum der Erinnyen, jenen Göttinnen der Blutrache, die in der Mythologie ebenso wie Lyssa als Töchter der Nacht gelten. In den Wechselfällen seines Schicksals ist Herakles der Prototyp des zähen Dulders. Zwar ist sein erster Impuls beim Wiedererwachen seines Bewusstseins, sich das Leben zu nehmen, doch ist es auch hier wieder Theseus, der zum Wohltäter des gänzlich Gebrochenen stilisiert wird. Sein Auftritt ist, wie jüngste Interpretationen gezeigt haben, dem eines deus ex machina durchaus vergleichbar⁴⁴: Er fordert Herakles auf, sein Unglück zu tragen und ihm nach Athen zu folgen, wo er ihm seine Entsühnung ankündigt. Dieses bemerkenswerte Detail zeigt auf markante Weise, wie hier zwischenmenschliche Interaktion an die Stelle einer Gott-Mensch-Beziehung tritt: War die Entsühnung des Herakles von der Blutschuld des Mordes an Lykos durch die Opferzeremonie vor dem Altar des Zeus auf groteske Weise fehlgeschlagen, so ist es jetzt die Hand des Athenerkönigs, die von Schuld reinwaschen soll. Auch die Tatsache, dass Theseus dem so tief Gesunkenen eine Rehabilitierung seiner Ehre durch das huldigende Andenken der Stadt Athen in Aussicht stellt, wäre traditionell eher als Teil der Rede eines deus ex machina zu erwarten gewesen. Die Stellvertreterfunktion des Theseus wird bekräigt durch die Worte, mit denen er selbst die Freundscha zwischen Menschen zu einem Substitut r nicht vorhandene Göttergunst erklärt ⁴⁴ Vgl. Dunn , –; –.
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(–): »Und ich erweise diesen Liebesdienst zum Dank / r meine Rettung dir. Jetzt brauchst du selber Freunde. / Gewähren Götter Gunst, hat Freunde man nicht nötig. / Es reicht der Gott als Helfer aus, wenn er nur will.« Die Geschehnisse des Hercules Furens sind dagegen ein Paradebeispiel r die Entzogenheit göttlicher Gunst. Um es in die Worte des Herakles selbst zu fassen (): »Es trotzt die Gottheit« – authadês ho theos. Dabei stellt Euripides die Erwartungen seiner Zuschauer an das Funktionieren bestimmter etablierter Formen der Kommunikation mit dem Göttlichen auf eine dreifache Probe: Die Hikesie (›rituelle Schutzsuche‹) der Familie des Herakles am Altar des Zeus bleibt erfolglos, die vor dem gleichen Altar in Angriff genommene Opferzeremonie des Herakles zur Entsühnung vom Mord an Lykos schlägt um in einen Akt der Zerstörung und neuerlicher Blutschuld, der zur Rehabilitierung des Gefallenen erwartete Auftritt eines deus ex machina wird von einem Menschen bestritten. Das traditionelle Bild eines Herakles, der zwar von Hera ständig bedroht, von Zeus dagegen zuverlässig protegiert und letztlich in einer Apotheose unter die Götter versetzt wird, wird hier deutlich konterkariert.⁴⁵ Der sich selbst und seine Hilfe verweigernde Zeus lässt ein Vakuum entstehen, das in verschiedenen Stadien des Stückes von Menschen ausgellt zu werden scheint: Da ist zunächst Amphitryon, der sich an Tugendhaigkeit Zeus überlegen glaubt, dem er Verrat und mangelnde Loyalität vorwir, dann Herakles, der Megara bei seiner Rückkehr aus dem Hades als zeusgleicher Retter erscheint.⁴⁶ Aber die soteriologische Aura verkehrt sich in ihr Gegenteil, und der Hadesüberwinder, an dessen Gewand die Kinder sich in der Hoffnung auf Rettung wie ›Beiboote‹ (epholkides) geklammert haben, hängt sich am Ende in wirkungsvoller Wiederaufnahme dieses Bildes wie ein Beiboot an Theseus, von ihm gestützt und gehrt wie der greise Ödipus von Antigone.⁴⁷ Doch während der sophokleische Held auf den Spuren der göttlichen Verheißung eines segensreichen Todes den Weg zum Hain von Kolonos eingeschlagen hat, sind r Herakles die Versprechungen des Theseus von postumen Opfern und steinernen Denkmälern zu seinen Ehren in der Stadt Athen als Motivation r sein weiteres Handeln eher nebensächlich.⁴⁸ Es ist vielmehr der Wunsch, dem Vorwurf der Feigheit zu entgehen, der ihn von seinem Suizidvorhaben Abstand nehmen lässt. Der mit ⁴⁵ Zur Unterstützung des Herakles durch die im Auftrag des Zeus handelnde Athene vgl. schon Homer, Il. , –; zur Apotheose des Herakles in Lokris vgl. March , . ⁴⁶ Vgl. HF –; –. ⁴⁷ Zu der Beiboot-Metapher vgl. HF ; ; zu Herakles gestützt von eseus vgl. HF . ⁴⁸ Vgl. HF –.
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seinen Heldentaten verbundene legendäre Ruf des Dulders gebietet es ihm, sich unter die unglücklichen Schickungen zu beugen,⁴⁹ doch ist es nurmehr blinde Tyche, in deren Dienst er sich r den Rest seines Lebens als Sklave gestellt sieht (): »Doch jetzt muss ich, wie’s scheint, dem Schicksal sklavisch dienen.« So kennzeichnet Herakles das standhae Aushalten in einer Welt, deren sinnvolle Lenkung durch weise Götter von ihm selbst ebenso wie von Amphitryon zutiefst in Zweifel gezogen wird. Aus der Sicht des Herakles, die man auch als eine ›Perspektive von unten‹ bezeichnen könnte, ist die völlige Vernichtung seiner Persönlichkeit ausschließlich das Werk der Eifersucht Heras.⁵⁰ Der Zuschauer dagegen wird mit der Frage entlassen, ob es nicht der gewaltsame Übergriff in die Sphäre der Unterweltsgötter und die Befleckung mit Blutschuld nach der Mysterienweihe sind, die Herakles mit der Entzogenheit des Göttlichen konontiert sein lassen. Die traditionell mit einem Helden verbundenen Vorstellungen werden in der Herakles-Darstellung des Euripides ganz und gar aus den Angeln gehoben. Am Ende des Stückes erscheint er als ein gebrochener Mann, dem es nicht, wie Odysseus, gelungen ist, die Expedition in den Hades unberührt hinter sich zu lassen;⁵¹ einer, der in der Umnachtung des Wahns von den chthonischen Mächten, den Göttern des Dunkels und der Unterwelt, wieder eingeholt wurde und der in seinen letzten Worten der Freundscha zwischen Menschen den Vorrang vor den Charakteristika seines üheren Heldentums gibt. Wer Reichtum oder Körperkräfte eher sich als treue Freunde schaffen möchte, der denkt schlecht. (HF –)
Dieses Bekenntnis zum Wert zwischenmenschlicher Beziehungen steht am Ende eines Stückes, dessen Hauptcharakterzug, wie wir gesehen haben, die Störung der Kommunikation zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre ist. Es ist ein allgemeines Kennzeichen des euripideischen Menschen, dass er aus dem festen Rahmen göttlicher Ordnung und Sinnstiung sich allmählich herauszulösen beginnt: Er hadert und rechtet mit der Gottheit, stellt ihre Gerechtigkeit und Kompetenz in Frage, möchte sich bisweilen sogar selbst an ihre Stelle setzen. Das Schicksal des Herakles im ⁴⁹ Zu Herakles als Dulder vgl. schon Homer, Odyssee , – und HF : polla tlas Heraklês. ⁵⁰ Vgl. HF –. ⁵¹ Ähnlich Assaël , –: »… malgré l’éclat de son courage et de sa révolte, pour le présent et pour l’avenir, le héros devient l’otage du monde souterrain, au moins moralement.«
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Hercules Furens umfasst eine ganze Palette von Seinserfahrungen vom schwindelnden Höhenflug über Bewusstseinsverzerrung bis hin zu völliger Selbstvernichtung. Von dem Agierenden und Leidenden wird dabei das Göttliche als undurchschaubar, unzugänglich und willkürlich empfunden. Der Eindruck, ein bloßer Spielball in den Händen eines launischen Schicksals zu sein, wird artikuliert. Aber es ist keine anthropologische Wahrheit, die hier ausgesprochen wird, nicht die Ansicht des Euripides selbst, sondern Ausdruck der existentiellen Unsicherheit eines Menschen wie Herakles, der dadurch, dass er den Göttern zu nahe gekommen ist, sich zugleich unwiderruflich von ihnen entfernt hat.
Der Mensch in seiner Beziehung zum Göttlichen und zu seinesgleichen Wie bei der Behandlung des Hercules Furens schon offenbar wurde, gibt es im Bereich der Darstellung des Menschen in der Tragödie in seinem Bezug zur göttlichen und menschlichen Sphäre insbesondere bei Euripides signifikante Verschiebungen. Das soll abschließend anhand eines Vergleichs der Orestie des Aischylos mit dem Orestes des Euripides demonstriert werden. Um den hier vorgegebenen Rahmen nicht zu sprengen, ist eine Beschränkung auf einige wesentliche Gesichtspunkte vonnöten. In den Eumeniden des Aischylos bewegt sich Orestes zwischen zwei überpersönlichen Wirklichkeiten, die durch die Erinnyen, die Exponenten des Mutterrechts und der Blutrache, und die Gottheiten Apollon und Athene als Vertreter der olympischen Sphäre und zugleich auch der staatlichen Gerichtsbarkeit, verkörpert werden. Das Stück enthält zwei Hikesiegesuche: Orestes, der nach der Tötung seiner Mutter von deren Rachegeistern, den Erinnyen, verfolgt wird, wendet sich zunächst an Apollo in Delphi und danach an Athene in Athen.⁵² Die Erinnyen bleiben dabei seine ständigen Begleiter, doch ist von Anfang an deutlich, dass Orestes unter dem besonderen Schutz Apolls steht, der zwar den Muttermord befohlen hat, aber dann auch in Delphi unverzüglich die Entsühnung vornimmt. Mit den Worten ›niemals gebe ich dich preis‹ (: outoi prodôsô) sehen wir ihn zu Beginn des Stückes sich an Orestes wenden und ihm Anweisungen geben r einen Gang nach Athen, um dort in einem zweiten Schritt ganz von seinen Übeln beeit zu werden. Die unbedingte Loyalität Apolls wird von Orestes geradezu eingefordert (–): »Herrscher Apoll, du weißt, ⁵² Für eine Interpretation der Eumeniden insbesondere in ihrer Eigenschaft als Asyldrama vgl. Grethlein , –.
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nicht Unrecht zuzugen. Und da du’s weißt, lern’ auch, nicht nachlässig zu sein. Die Kra, Gutes zu tun, sei mir dein Unterpfand.« Eine ebenso verlässliche Anwältin gewinnt Orestes in Athene: Nicht nur findet sein Anruf an die Göttin, die traditionell den Abschluss eines Gebets bildende klêsis, im Erscheinen Athenes unmittelbar nach dem ›Fesselungshymnos‹ der Erinnyen ein promptes Gehör,⁵³ sie stellt auch bei der Gerichtsverhandlung auf dem Areopag mit ihrem Stimmstein zu Gunsten des Orestes Stimmengleichheit her und bewirkt damit seinen Freispruch. Rund Jahre später, im Jahr , grei Euripides in seinem Orestes den Mythos des Muttermörders wieder auf und setzt sich dabei ganz bewusst mit seinem Vorgänger Aischylos auseinander.⁵⁴ Schon zu Beginn des Stückes wird das aischyleische Bild von den Erinnyen als real existierenden überpersönlichen Rachegeistern deutlich konterkariert: Elektra beschreibt die Bedrängung ihres Bruders durch die Eumeniden als einen krankhaen Zustand, der – ähnlich dem Liebeswahn der Phaidra im euripideischen Hippolytos – klinische Symptome aufweist (–): »Sechs Tage ist es her, dass man den Leib der Mutter, der hingemordeten, den Flammen übergab; so lange schon hat keine Speise er berührt, kein Bad genommen; eingewühlt in seine Decken, vergießt er Tränen, wenn die Krankheit von ihm weicht, klar bei Verstand; dann wieder schnellt er plötzlich hoch von seinem Lager, wie ein Füllen aus dem Joch.« Der kralos auf seinem Lager schlafende Orestes, der, nach Angaben Elektras, in regelmäßigen Abständen von den Eumeniden, die nurmehr figurativ r Wahnanfälle stehen, heimgesucht wird, ist ein Gegenbild zu seinem aischyleischen Vorgänger, der zu Beginn der Eumeniden wach und auecht, umgeben von den schlafenden Rachegöttinnen, als Bittflehender im Heiligtum des Apollon in Delphi sich befindet.⁵⁵ Während sich hier ein Sieg über die Erinnyen schon abzeichnet, lässt sich dagegen der euripideische Orestes eher jenen gebrochenen Helden vergleichen, die gewöhnlich am Ende einer Tragödie r Erschütterung sorgen, wie z.B. dem sophokleischen Ödipus und besonders Herakles aus dem Hercules Furens, mit dem ihm noch weitere Details verbinden: Nicht nur erfährt er, ähnlich wie jener durch Theseus, seinerseits ⁵³ Vgl. Aischylos, Eum. (Or.): Sie komme, hört sie doch, als Göttin, auch von weitem, mit Eum. (Ath.): »Von weitem hab’ gehört ich einer Stimme Ruf …«; zur Klesis als Gebetsformel vgl. Ausfeld , –. ⁵⁴ Dieser Aspekt wird besonders in den Aufsätzen von Hunger ; Zeitlin und Euben betont. ⁵⁵ Vgl. Euripides, Or. – mit Aischylos, Eum. –. Der Vergleich auch bei Zeitlin , .
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durch Pylades unmittelbare Unterstützung, er teilt mit dem Hadesgänger auch die unterweltliche Gestimmtheit, die ihn so sehr gefangen hält, dass er dem aus Troja zurückkehrenden Menelaos wie ein Toter erscheint (): »Was seh’ ich, Götter? Welchen Toten habe ich erblickt?« Die gedrückte, ja klaustrophobische Atmosphäre zu Beginn des Stücks wird noch dadurch verstärkt, dass Orestes und Elektra der Tod durch Steinigung droht; sie stehen in banger Erwartung des Urteils, das die Versammlung der Bürger von Argos fällen wird. In dieser verzweifelten Situation wird Apollon von Elektra mit den Worten angeklagt (): »Selbst ungerecht, hast Ungerechtes damals du verkündet.« Weniger polemisch ist die Bemerkung des Orestes, als Menelaos, in diesem Moment ein Sprachrohr der Zuschauererwartung, nach Apollons Anteilnahme agt (): »Er säumt (mellei); das Göttliche ist von Natur aus so.« Der ›trotzenden Gottheit‹ des Hercules Furens tritt hier die ›zögernde‹ gegenüber⁵⁶; doch wird der Unterschied zwischen diesen beiden göttlichen Verhaltensweisen aus einer Perspektive von unten verschwindend gering, wenn man in Betracht zieht, was Orestes wenig später hinzugt (): »Das Zögern nenn’ ich gleich der Tatenlosigkeit.« Als verlässlicher Protektor scheint Apollon also r die Geschwister auszuscheiden; stattdessen knüpfen sie große Erwartungen an Menelaos. Er, der Bruder des gerächten Agamemnon und damit eine zweite Vaterfigur, soll bei der Gerichtsverhandlung eine Lanze r sie brechen; doch die Hoffnungen auf einen Dienst verwandtschalicher Treue werden enttäuscht. Als Tyndareos, der Vater der beiden Schwestern Klytaimestra und Helena, hinzukommt und eindeutig Stellung gegen den Mörder seiner Tochter bezieht, ja Menelaos r den Fall, dass er Orestes helfen werde, den Zugang zu Sparta verweigert, redet dieser sich zunächst auf das Mögliche heraus: das, was unter den gegebenen Umständen machbar sei.⁵⁷ Im entscheidenden Moment hält er sich feige zurück, und die mangelnde Loyalität gegenüber seinem Bruder, die Orestes mit der lapidaren Äußerung ›du hast verraten‹ (: proudôkas) kommentiert, steht in deutlichem Kontrast zum outoi prodôsô, der Zusicherung des Apollon in den Eumeniden des Aischylos. Der Vertrauensbruch, ein zentrales Thema in den Tragödien des Euripides, wird hier, ebenso wie in den Stücken Medea und Hekabe, zum Auslöser einer enetischen Rachehandlung.⁵⁸ Der Umschlag erfolgt in ⁵⁶ Vgl. oben auf Seite . ⁵⁷ Vgl. Or. –. Euben , vergleicht diese Haltung mit den opportunistischen Maximen der athenischen Gesandten in Melos. ⁵⁸ Zum ema ›Verrat‹ vgl. auch Euripides, HF – (Amphitryon wirft Zeus indirekt Verrat an der Sippe des Herakles vor); Herakleidai (Eurystheus dachte, daß Hera ihn nicht
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zwei Etappen:⁵⁹ Eine äußere Wende bringt zunächst das Steinigungsurteil durch die Bürger von Argos. Euripides spielt hier mit der Erwartung der Zuschauer, die aus dem Hergang der Gerichtsverhandlung in den Eumeniden des Aischylos an die Beteiligung Athenes zugunsten des Orestes gewöhnt waren. Hier dagegen fallen er und seine Schwester dem Spruch eines korrupten Menschengerichts zum Opfer. In dieser verzweifelten Situation, in der sich das Göttliche entzogen zu haben scheint, tritt Pylades auf den Plan. Wie um den Verrat des Menelaos zu kompensieren, gibt er sich den Anschein eines treuen Freundes, ist aber de facto eher einem personifizierten Rachegeist zu vergleichen. Mit seinem Vorschlag, sich an Menelaos mit dem Mord an Helena zu rächen, erweckt er in den schon todbereiten Geschwistern neue Lebensgeister und bewirkt damit insbesondere bei Orestes einen abrupten Gesinnungswandel, den Umschlag von zerknirschter Resignation zu einer Handlungsbereitscha, die von ruchlosem Lebensdrang getragen wird. Was folgt, ist eine Art Wiederholung des Muttermords unter säkularisierten Vorzeichen: Ohne durch göttliches Gebot oder rituellen Zwang gebunden zu sein, gewinnt das Racheverlangen der drei Verbündeten eine ins Verbrecherische sich wendende Eigendynamik. Der tote Agamemnon wird nicht mehr, wie im Kommos (›Klagegesang‹) in den Choephoren des Aischylos, als Helfer beim Muttermord, sondern als Handlanger (: syllêptôr) r die Tötung der Helena angerufen.⁶⁰ Ein probates Mittel r das Gelingen des Plans ist, wie schon r die Klytaimestra des aischyleischen Agamemnon, die Heuchelei; und so soll Helena durch inszenierte Todesangst in eine Stimmung von ebenso inszeniertem Mitleid versetzt und in den Palast gelockt werden.⁶¹ Das Leitmotiv des Auseinanderklaffens von Anschein und Wirklichkeit, wie es schon r das Verhalten des Menelaos kennzeichnend war, setzt sich damit fort. Doch entpuppt sich die ganze Racheaktion als eine leere und ineffiziente Übersprunghandlung: Helena wird im entscheidenden Moment durch göttliche Intervention entrückt. Die entfesselte Rachsucht geht über auf ihre Tochter Hermione; und man hat die Art, wie Orestes hier immer weiter ausgrei, als einen Ausdruck von Freudschem Wiederholungszwang zu erklären versucht: Orestes ist durch den Muttermord, dessen Entsühnung, anders als in den Eumeniden des Aischylos, (noch) nicht stattgefunden hat, derart traumatisiert, dass er immer wieder verraten würde.); Phoenissen (Menoikeus will nicht zum Verräter des Vaterlands werden); Phoenissen – (Verrat an sich selbst). ⁵⁹ Vgl. Hunger , –. ⁶⁰ Siehe dazu schon Hunger , . ⁶¹ Vgl. Or. –.
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in ähnliche Handlungen verfällt.⁶² Hinzu kommt noch, dass Hermione, wie Orestes innerhalb des Stückes auch selbst andeutet, eine Art Pendant zu der geopferten Schwester Iphigenie ist.⁶³ Das ändert eilich nichts daran, dass die Aggression des Orestes ihr gegenüber ebenso wie im Falle des Angriffs auf Helena jegliches rituellen Kontextes entbehrt. So absurd und sinnlos die gewaltsamen Aktionen des ›Banditentrios‹ auch scheinen mögen, sie werden doch ebenso wie das Racheverhalten anderer Dramengestalten mit konventionellen Metaphern beschrieben.⁶⁴ So vergleicht zum Beispiel der phrygische Sklave, als er von Orestes’ und Pylades’ Angriff auf Hermione berichtet, die beiden mit »Bakchen« (Anhängern des Dionysos, auch »Bakchos« genannt), die sich – eilich ohne den Thyrsos-Stab, das traditionelle Attribut der dionysisch Begeisterten – auf ein junges Wild aus den Bergen stürzen; ähnlich wie die Frauen, die in Euripides’ Hekabe die Kinder des Polymestor töten, als »Bakchen des Hades« bezeichnet werden.⁶⁵ Wenn dann am Ende des Stücks in einer grotesken Zuspitzung der Ereignisse Orestes auf dem Dach des Palastes Hermione mit dem Schwert bedroht, um von Menelaos die Zurückziehung des Todesurteils zu erpressen, und obendrein noch droht, den Palast in Brand zu setzen, ist dieser Auftritt zumindest äußerlich mit der Schlussszene der Medea vergleichbar, wo die Protagonistin, einem personifizierten Rachegeist gleich, in einem letzten Wortwechsel mit Jason von ihrer erhöhten Stellung auf dem Helioswagen aus sich weigert, ihm die Kinder zu übergeben. Doch während Medeas Auftritt etwas Schreckenerregend-Triumphales anhaet, mutet das bedrohliche Gebaren des Orestes eher wie ein parodistischer Spuk an; und so erscheint dann auch just in diesem Augenblick der lang erwartete Apollon als deus ex machina, um die aus den Fugen geratende Handlung in die Bahnen des vorgegebenen Mythos zurück zu zwingen. Er bekennt sich zur Rettung Helenas, weissagt dem Orestes seinen Freispruch auf dem Areopag und bestimmt ihm die Vermählung mit Hermione. Pylades soll Elektra zur Frau erhalten und Menelaos den Thron von Argos Orestes überlassen. Ist aber das Eingreifen des Gottes zu einem so späten Zeitpunkt noch glaubwürdig? Wir haben gesehen, dass es gerade der lange Aufschub der deus-ex-machina-Szene ist, der dem Orestes sein besonderes Gepräge verleiht: Weil die Rachehandlung im ⁶² Vgl. Zeitlin , . ⁶³ Vgl. Or. –. ⁶⁴ Die Bezeichnung ›Banditentrio‹ ursprünglich von W. Schmid, aufgegriffen von Burkert , . ⁶⁵ Vgl. Or. – mit Hec. .
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zweiten Teil des Stückes sich jenseits von jedem göttlichen Gebot entfaltet, entsteht der Eindruck einer sinnlosen Eskalation von Gewalt, die provoziert, beunruhigt und nach Erklärungsversuchen heischt: So hat man, sicher zu Recht, angenommen, dass die von Verschwörergeist, Feigheit und Opportunismus durchdrungenen Handlungen der Personen des Orestes auch ein Ausdruck des zeitgeschichtlichen Hintergrundes jener unruhigen Endphase des peloponnesischen Krieges seien, in der politische Korruption und die gewaltsamen Aktivitäten von umstürzlerischen Männerbünden, sog. ›Hetärien‹, an der Tagesordnung waren.⁶⁶ Darüber hinaus stellt sich aber nach wie vor die Frage, ob Apollon diesem Chaos wirklich noch Sinn zu geben vermag. Das Stück zeigt, wie grotesk sich Racheverlangen im Vakuum der über Gebühr in die Länge gezogenen Abwesenheit des Göttlichen gestaltet. Wird aber Blutrache dadurch legitimer, dass sie von einem Gott befohlen wird? Hier kann und will Euripides die Linien nicht mehr so klar ziehen wie sein Vorgänger Aischylos. Olympisches und chthonisches, Vater- und Mutterrecht verwischen sich, und Apollon rückt in ein beunruhigendes Zwielicht, wenn seine Stimme Orestes zunächst wie die eines Rachegeistes erscheint.⁶⁷ So kann das aufgepope Happy End der Deus-ex-machina-Szene die Risse, die das mythische Weltbild in diesem Stück erfährt, nicht gänzlich überspielen, und man hat wohl mit Recht behauptet, dass hier der Abgang der Literaturgattung Tragödie schon vorgezeichnet ist:⁶⁸ Die griechische Tragödie, die ja ihren Ursprüngen nach im Kultischen verankert ist, verliert da ihren eigentlichen Boden, wo nicht nur der Bezug der menschlichen zur göttlichen Sphäre, und sei es auch nur zeitweise, radikal gestört wird, sondern auch die Überzeugung von der Sinnhaftigkeit göttlicher Gebote ins Wanken gerät. Das Menschenbild der Tragödie erfährt hier einen deutlichen Wandel: Das Gege göttlicher Ordnung und Ökonomie, das sich noch bei Aischylos als ein zwar einschränkender, aber doch verlässlicher und unerschütterlicher Rahmen um das menschliche Dasein legte, verliert im Orestes an Festigkeit und Überzeugungskra. Der Mensch, der sich zunehmend weniger in göttlichem Planen aufgehoben weiß, sieht sich auf sich selbst zurückgeworfen. Das macht sich auf doppelte Weise bemerkbar: Einerseits werden Handlungen, selbst wenn sie im Einklang mit einem göttlichen Gebot stehen, auf ihren Sinn beagt, andererseits entstehen Freiräume r scheinbar autonome Handlungsmöglichkeiten.
⁶⁶ In diesem Sinne bes. Burkert und Euben . ⁶⁷ Vgl. Or. –. ⁶⁸ Vgl. Burkert , .
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Schluss Wir haben gesehen, dass die unmittelbare Konontation mit dem Tod eine Konstante des Menschenbildes der griechischen Tragödie ist: In keiner anderen literarischen Gattung sind Themen wie Schuld, Opfer und Rache, ist der Gedanke an den Tod als unüberwindliche Begrenzung alles Menschlichen so gegenwärtig wie in dieser. Der Mensch der griechischen Tragödie tritt uns innerhalb einer Abfolge von Geschehnissen sowohl als Handelnder als auch als Leidender gegenüber. In der Art, wie er in Situationen, die eine Entscheidung fordern, auf Provokationen und auf Schicksalschläge reagiert, offenbart sich zugleich auch sein êthos. Exemplarisch konnte dies an den Inszenierungen der Schicksale zweier großer Leidender gezeigt werden: Während der sophokleische Ödipus auf dem Weg der aktiven Exploration zur Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit gelangt und auf der tiefsten Stufe des Elends von den Göttern rehabilitiert wird, ist der Herakles des euripideischen Hercules Furens ein Beispiel r einen zunächst titanisch aufstrebenden Aspiranten gottgleicher Macht, der nach seinem Fall ein Gefangener der chthonischen Mächte bleibt. Von ihren Anfängen bis zu ihren letzten Ausläufern trägt die griechische Tragödie deutliche Spuren einer entscheidenden Veränderung der Grundzüge ihres Menschenbildes, was exemplarisch an einem Vergleich zwischen Aischylos’ Orestie und Euripides’ Orestes aufgezeigt werden konnte: Während der aischyleische Orestes sich noch fest in ein Gege göttlicher Ordnung eingebunden weiß, ist sein euripideischer Nachfolger Träger jener existentiellen Unsicherheit, die sich auch bei anderen Dramengestalten des Euripides findet. Die göttliche Sphäre, obgleich weiterhin präsent, wird – r die Agierenden mehr als r die Rezipienten der euripideischen Stücke – zunehmend undurchschaubarer und unnahbarer. Im Gehl, auf sich selbst und auf seinesgleichen zurückgeworfen zu sein, gerät der Mensch in einen Bereich erweiterter Handlungsspielräume.
Literatur Quellen Aischylos. »Eumeniden«. In: Tragoediae cum incerti poetae Prometheo. Hrsg. von Martin Litchfield West. Stuttgart . —— Tragödien. Hrsg. von Bernard Zimmermann. Aus dem Griechischen übers. von Oskar Werner. . Aufl. Zürich . —— Tragoediae cum incerti poetae Prometheo. Hrsg. von Martin Litchfield West. Stuttgart .
Der Mensch der griechischen Tragödie
[Ps.]-Apollodor. »Bibliotheca«. In: Mythographi Graeci. Hrsg. von Richard Wagner. Bd. . Leipzig . —— »Bibliothecae Epitoma«. In: Mythographi Graeci. Hrsg. von Richard Wagner. Bd. . Leipzig . (Zitiert als Epit.). Aristoteles. De arte poetica liber. Hrsg. von Rudolf Kassel. Oxford . Euripides. Tragödien. Bd. : Die Troerinnen, Die Phoinikerinnen, Orestes. Hrsg. und aus dem Griechischen übers. von Dietrich Ebener. Berlin . —— Fabulae. Hrsg. von James Diggle. Bde. Oxford //. —— »Hekabe«. In: Fabulae. Bd. . Hrsg. von James Diggle. Oxford . —— Tragödien. Bd. : Herakles, Die Kinder des Herakles, Die Hilfeflehenden. Hrsg. und aus dem Griechischen übers. von Dietrich Ebener. Berlin . —— »Hercules Furens«. In: Fabulae. Bd. . Hrsg. von James Diggle. Oxford . Homer. Opera. Bd. : Ilias. Hrsg. von omas W. Allen. Oxford . (Zitiert als Il.). —— Opera. Bd. : Odyssee. Hrsg. von omas W. Allen. Oxford . (Zitiert als Od.). Jacoby, Felix, Hrsg. Die Fragmente der griechischen Historiker. Berlin –. (Zitiert als FGrHist). Kannicht, Richard und Stefan Radt, Hrsg. Tragicorum Graecorum Fragmenta. Bde. Göttingen –. (Zitiert als TrGF). Pindar. Carmina cum Fragmentis. Bd. : Epinicia. Hrsg. von Bruno Snell. . Aufl. Leipzig . Sophokles. »Elektra«. In: Fabulae. Hrsg. von Hugh Lloyd-Jones und Nigel Guy Wilson. Oxford . —— Fabulae. Hrsg. von Hugh Lloyd-Jones und Nigel Guy Wilson. Oxford . —— »Oidipous auf Kolonos«. In: Fabulae. Hrsg. von Hugh Lloyd-Jones und Nigel Guy Wilson. Oxford . —— »Oidipous Tyrannos«. In: Fabulae. Hrsg. von Hugh Lloyd-Jones und Nigel Guy Wilson. Oxford . —— Tragödien und Fragmente. Hrsg. und übers. von Wilhelm Willige. Bearb. von Karl Bayer. München . Wagner, Richard, Hrsg. Mythographi Graeci. Bd. . Leipzig . Wendel, Karl, Hrsg. Scholia in Apollonium Rhodium Vetera. Berlin .
Hinweise zur weiteren Lektüre Burkert, Walter (). »Greek Tragedy and Sacrificial Ritual«. In: Greek, Roman and Byzantine Studies , S. –. [Deutet das Wort Trag-odia entgegen der traditionellen Interpretation als »Bocksgesang« (d.h. des Gesangs bocksfüßiger Satyrn) als »Gesang beim Bocksopfer« und hat damit der Tragödienforschung bahnbrechende neue Impulse gegeben.] Goldhill, Simon (). Reading Greek Tragedy. Cambridge. [Interpretiert einzelne Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides mit modernen literaturtheoretischen Methoden.] Grethlein, Jonas (). Asyl und Athen. Die Konstruktion kollektiver Identität in der griechischen Tragödie. Stuttgart und Weimar (= Drama. Beiträge zum antiken Drama und seiner Rezeption Beiheft ). [In der Tradition der »collectivists« werden die Asylstücke des Aischy-
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los, Sophokles und Euripides in ihrer Funktion als ein Beitrag zur Artikulation und zugleich Formung von Polis-Identität untersucht.] Hall, Edith (). Inventing the Barbarian. Greek Self-Definition through Tragedy. Oxford. [Interpretiert die Darstellungen des Barbarischen in der Tragödie als Mittel der kollektiven Identitätsfindung.] Hunger, Herbert (). »Realistische Charakterdarstellung in den Spätwerken des Euripides«. In: Commentationes Vindobonenses , S. –. [Behandelt das Spannungsverhältnis von einheitlicher Charakterisierung einerseits und der Gestaltung szenischer Sonderwirkungen sowie der Begrenzung der dichterischen Möglichkeiten durch den vorgegebenen Mythos andererseits am Beispiel der euripideischen Dramen Helena, Iphigenie in Aulis, Hekabe und Orestes.] Latacz, Joachim (). Einführung in die griechische Tragödie. Göttingen. [Grundlegende Einführung mit Informationen zur Aufführungspraxis, eatergeschichte und Dionysoskult, Ursprung und Wesen der Tragödie sowie einzelne Dramen der drei großen griechischen Tragiker.] Lesky, Albin (). Die tragische Dichtung der Hellenen. Dritte, völlig neubearb. u. erweit. Aufl. Göttingen. [Standardwerk über Ursprünge, Entwicklung und Überlieferungsgeschichte der griechischen Tragödie. Besprechungen der einzelnen erhaltenen Dramen des Aischylos, Sophokles und Euripides folgen zusammenfassende Beobachtungen über das Verhältnis von göttlichem Verhängnis und menschlichem Wollen bei dem jeweiligen Dichter.] Murray, Gilbert (). »Ritual Forms in Greek Tragedy«. In: emis. A Study of the Social Origins of Greek Religion. Hrsg. von Jane Ellen Harrison. London, S. –. [Plädiert für eine Verwurzelung der griechischen Tragödie im Sacer Ludus, dem geheimen drômenon einer Mysterienweihe, und führt die Formelemente einiger ausgewählter Tragödien auf rituelle Handlungen zurück.] Reinhardt, Karl (). »Die Sinneskrise bei Euripides«. In: Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung. Göttingen, S. –. [Setzt verschiedene Stücke des Euripides, insbesondere den Orestes, mit nihilistischen Strömungen zu Beginn des . Jahrhunderts in Verbindung.] Seaford, Richard (). Reciprocity and Ritual. Homer and Tragedy in the Developing CityState. Oxford. [Das Buch ist ein wichtiges Zeugnis für den »collectivist approach«. Mit einem Schwerpunkt auf soziologischen Fragestellungen sowie Aspekten der Ritualforschung schreibt der Autor der griechischen Tragödie die Funktion zu, u.a. durch die ätiologische Fundierung von Heroen-Kulten und die zahlreichen Negativ-Beispiele eines tragischen Scheiterns privaten rituellen Handelns soziale Kohäsion zu stiften und damit die Polis zu stärken.] Sourvinou-Inwood, Christiane (). Tragedy and Athenian Religion. Lanham u. a. [Auf der Grundlage von Burkerts ›Bocksopfer‹-ese ist die griechische Tragödie für S.-I. eine historisch gewachsene ›ritual performance‹ und als solche Teil des zeitgenössischen religiösen Diskurses der Polis. In einem Vorgang, den sie ›religious exploration‹ nennt, würden in den Tragödien religiöse Fragen aufgenommen und bearbeitet. Dabei sei das oberste Ziel auch bei Euripides, trotz Äußerungen von Götterkritik und Zweifeln an einer gerechten Weltordnung, grundsätzlich die Bestätigung der bestehenden Polis-Religion.]
Der Mensch der griechischen Tragödie
Vernant, Jean-Pierre und Pierre Vidal-Naquet (). Mythe et tragédie en Grèce ancienne. Paris. [Untersuchen die griechische Tragödie unter Berücksichtigung des soziologisch-kulturellen Umfelds und kritisieren den psychoanalytischen Zugang als ahistorisch, insbesondere in dem Kapitel »Œdipe sans complexe«. Einflussreich der Vergleich von Exilierung und Tod des Ödipus mit den Praktiken des Ostrakismos und der rituellen Opferung eines »Sündenbocks« (des Pharmakos in den argelien) zur Reinigung einer Stadt.]
Weitere zitierte Literatur Assaël, Jacqueline (). »L’ Héracès d’ Euripide et les ténèbres infernales«. In: Les Études classiques , S. –. Ausfeld, Karl Friedrich (). »De Graecorum precationibus quaestiones«. In: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik. Suppl. , S. –. Burkert, Walter (). Antike Mysterien. Funktion und Gehalt. München. —— (). »Die Absurdität der Gewalt und das Ende der Tragödie: Euripides’ Orestes«. In: Antike und Abendland , S. –.. Burnett, Anne Pippin (). Catastrophe Survived. Euripides’ Plays of Mixed Reversal. Oxford. Calame, Claude (). »Mort héroïque et culte à mystère«. In: Ansichten griechischer Rituale. Geburtstags-Symposion für Walter Burkert. Hrsg. von Fritz Graf. Stuttgart und Leipzig. Dunn, Francis M. (). »Ends and Means in Euripides’ Heracles«. In: Classical Closure. Reading the End in Greek and Latin Literature. Hrsg. von Deborah H. Roberts, Francis M. Dunn und Don Paul Fowler. Princeton, S. –. Euben, J. Peter (). »Political corruption in Euripides’ Orestes«. In: Greek Tragedy and Political eory. Hrsg. von J. Peter Euben. Berkeley, S. –. Euripides. »Orestes«. In: Fabulae. Bd. . Hrsg. von James Diggle. Oxford . Howald, Ernst (). Die griechische Tragödie. München und Berlin. March, Jennifer R. (). e Creative Poet: Studies on the Treatment of Myths in Greek Poetry. London (= Bulletin of the Institute of Classical Studies Suppl. ). Mylonas, George E. (). Eleusis and the Eleusinian Mysteries. Princeton. Schlesier, Renate (). »Die Bakchen des Hades. Dionysische Aspekte von Eurpides’ Hekabe«. In: Metis , S. –. Seaford, Richard (). »e social function of Attic Tragedy: a response to Jasper Griffin«. In: Classical Quarterly , S. –. —— (). »e Tragic Wedding«. In: Journal of Hellenic Studies , S. –. Segal, Charles Paul (). »Review of: Richard Seaford, Reciprocity and Ritual. Homer and Tragedy in the Developing City-State«. In: Bryn Mawr Classical Review , S. –. Steiger, Hugo (). Euripides. Seine Dichtung und seine Persönlichkeit. Leipzig. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, Hrsg. und Erläut. (). Euripides: Herakles. Bde. Berlin. Zeitlin, Froma I. (). »e closet of masks. Role-playing and myth-making in the Orestes of Euripides«. In: Ramus , S. –.
Ursula Bittrich
—— (). »ebes: eater of Self and Society in Athenian Drama«. In: Nothing to do with Dionysus? Athenian Drama in Its Social Context. Hrsg. von John J. Winkler und Froma I. Zeitlin. Princeton, S. –.
Yves Bossart/Hartmut Westermann
Erkenne dich selbst. Der Mensch bei Platon Der Mensch ist, wie wir meinen, ein zahmes Wesen; doch nur, wenn ihm eine richtige Erziehung und eine glückliche Naturanlage zuteil werden, pflegt er zum göttlichsten und zahmsten Lebewesen zu werden, wenn er aber nicht hinreichend oder nicht gut erzogen wird, zum wildesten von allen, die die Erde hervorbringt.¹
Der Großteil der überlieferten platonischen Schrien sind Dialoge, in denen Platon selbst nicht als Dialogfigur auftritt. Wer wissen möchte, was Platon über den Menschen dachte, ist also gezwungen, anhand fingierter Gespräche und unter Rückgriff auf Äußerungen literarischer Figuren zu rekonstruieren, was der Mensch nach Platon ist und wie er sein sollte. Angesichts dieser Sachlage werden wir in einem ersten Schritt (§ ) auf hermeneutische Schwierigkeiten hinweisen, die sich einerseits durch die von Platon gewählte literarische Form des Dialogs und andererseits durch die o und an entscheidenden Stellen verwendeten gleichnishaen Redeformen ergeben. Bevor wir auf einzelne anthropologisch relevante Textstellen in Platons Œuvre näher eingehen, werden wir (in § ) auf Sokrates, den Lehrer Platons, zu sprechen kommen; nicht zuletzt deswegen, weil Platon (insbesondere in den ühen und mittleren Dialogen) Sokrates in der Regel als souveränen Gesprächspartner und vorbildhaen Menschen auftreten lässt. Anschließend (§ ) soll zum einen Platons Auffassung der menschlichen Seele erläutert und zum anderen aufgezeigt werden, worin eine optimale Seelenverfassung besteht. Danach (§ ) werden wir uns der theoretischen Dimension des Menschen zuwenden und agen, was und womit der Mensch erkennen kann. Wahre Erkenntnis gibt es nach Platon nur von den so genannten Ideen, denn allein diese sind im eigentlichen Sinne wirklich. Wir werden also skizzieren, was unter einer Idee zu verstehen ist und wie Ideen erkannt werden. Die Erkennbarkeit und Wirklichkeit von Ideen gründet nach Platon in einer höchsten Idee, der Idee des Guten; wir versuchen anhand des ¹ Platon, Nomoi a.
Yves Bossart/Hartmut Westermann (). »Erkenne dich selbst. Der Mensch bei Platon«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
Erkenne dich selbst. Der Mensch bei Platon
Linien- und Höhlengleichnisses zu erläutern, was unter dieser Idee zu verstehen ist. Das darauf folgende Kapitel (§ ) beschäigt sich mit der platonischen Liebe als einer Kra, die jedem Menschen von Natur aus innewohnt und ihn zur Erkenntnis der Ideen treibt. Dabei werden wir auch auf das so genannte Daimonion zu sprechen kommen, eine als ›göttlich‹ apostrophierte innere Stimme des Menschen, die ihm von schädlichen Entscheidungen abrät. Es wird sich zeigen, dass die theoretische und die praktische Dimension des Menschen bei Platon eng zusammenhängen, da sich einerseits wahre Erkenntnis zwingend auf die Lebensform des Erkennenden auswirkt und andererseits die Erkenntnisfähigkeiten erst durch eine entsprechende Erziehung ausgebildet und anschließend durch eine philosophische Lebensform und ein rderliches soziales Umfeld kultiviert werden müssen. Es gilt (in § ) somit zu agen, welche Erziehung und Politik nach Platon nötig ist, um die Potentiale des Menschen zur Entfaltung zu bringen. Es wird sich zeigen, dass der Mensch in Platons Augen ein Mischwesen aus Anlage und Erziehung ist, wobei er zu einem Großteil das ist, wozu er erzogen wurde und wozu er sich selbst gemacht hat. In dem darauf folgenden Teil (§ ) werden wir den sogenannten Protagoras-Mythos besprechen, der von der Entstehung der Kultur berichtet. Der Mensch wird dabei als ein mit natürlichen Mängeln behaetes Lebewesen dargestellt, das Kultur und Sozialität nötig hat, um überleben zu können. Im letzten Kapitel (§ ) werden wir uns der religiösen Dimension des Menschen zuwenden und agen, ob die Seele des Menschen nach Platon sterblich ist oder ob wir auf ein Leben nach dem Tod hoffen dürfen.
Dialogform und Mythen Die von Platon gewählte literarische Form des Dialogs versucht der Kontextgebundenheit, Vorläufigkeit und Explikationsbedürigkeit der gesprochenen und lebendigen Rede möglichst gerecht zu werden. Für ein angemessenes Verständnis platonischer Dialoge ist nicht nur entscheidend, was Platon seine Dialogfiguren sagen lässt, sondern es gilt auch, den jeweiligen Äußerungskontext zu berücksichtigen. Der Leser soll sich bewusst machen, welche Dialogfigur weshalb in welcher Situation wie reagiert, welche Ziele formuliert, welche Gründe r das Zustandekommen der Gespräche genannt werden und welche Erwartungen, Interessen und Vorkenntnisse die einzelnen Dialogpartner jeweils mitbringen. All diese Komponenten werden von Platon in einer Art und Weise fingiert, die es dem Leser nicht ohne weiteres erlaubt, hinter der scheinbaren, de facto aber inszenierten Zufälligkeit die kompositorische Absicht zu
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entdecken. Diese ›poetisierte Kontingenz‹ ist symptomatisch r die Vorrangstellung, die Platon an mehreren Stellen dem lebendigen Gespräch gegenüber der Schri einräumt.² Die Dialoge Platons bestehen aus einem Ensemble von dialektisch-argumentativen Passagen auf der einen Seite und bildhaer Rede, Analogien, Gleichnissen und Mythen auf der anderen Seite. Den Gleichnissen und Mythen kommen dabei unterschiedliche Funktionen zu. Zum einen kann Platon sie aus didaktischen Motiven oder aufgrund ihres einprägsamen Charakters schwerverständlichen philosophischen Argumentationen gegenüber vorziehen. Zum anderen dienen sie aber auch kompensatorischen Zwecken: Wenn auf der Basis vernüniger Argumentation keine rationalen Entscheidungen mit Blick auf bestimmte Fragen möglich sind, lässt Platon seine Dialogfiguren häufig auf Mythen und Erzählungen zurückgreifen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es um die Frage geht, was nach dem Tod sein wird. Im Gegenzug werden auch Mythen und Gleichnisse erzählt, um diese anschließend mit rationalen Mitteln zu interpretieren und ihren wahrheitsfähigen Gehalt herauszuschälen. Die platonischen Mythen³ thematisieren in der Regel Sachverhalte, die empirisch zwar nicht nachprüfbar, einer philosophischen Deutung aber gleichwohl zugänglich sind. Als aitiologische Erzählungen handeln sie von vergangenen Geschehnissen und berichten in erklärender Absicht, wie Gegenwärtiges zustande kam. So sprechen die Mythen über die Entstehung von Staaten, über die Genese der Schri, der erotischen Liebe, der Verschiedenheit unter den Menschen und schließlich auch über die Entstehung des Weltganzen. Indem die Mythen die Genese der gegenwärtigen Verhältnisse erzählend rekonstruieren, geben sie zugleich Einsicht in deren Struktur und ordnen sie in einen geschichtlich-ganzheitlichen Prozess ein. Dabei bezieht sich der Mythenerzähler auf die mit dem Hörer geteilte Überlieferung und Tradition. Die mythisch-bildhae Erzählung erleichtert nicht nur eine Memorisierung, sondern ru bei den Rezipienten auch eine emotionale und handlungsmotivierende Wirkung hervor. Diese psychagogische (›seelenhrende‹) Funktion kommt insbesondere bei den eschatologischen Mythen zur Geltung, bei tradierten Geschichten also, die vom Leben nach dem Tod und vom Jenseits erzählen. Die in mythischer Rede entfalteten Jenseitsvorstellungen konkretisieren und plausibilisieren dabei die argumentativen Begründungen r die Unsterblichkeit der Seele. ² Platon, Phaidros b–b; Siebter Brief b–c; Politikos c–c. Vgl. Dalfen . ³ Vgl. Cürsgen ; Janka und Schäfer .
Erkenne dich selbst. Der Mensch bei Platon
Das Vorbild des Sokrates Die von Platon inszenierten Gespräche, insbesondere die ühen und mittleren Dialoge, werden von der Figur des Sokrates dominiert. Vom historischen Sokrates, dem Lehrer Platons, sind keine Schrien überliefert. Aus platonischen Dialogen und anderen Quellen (insbesondere aus den Schrien Xenophons) wissen wir jedoch, dass Sokrates seine Gesprächspartner durch dialektisches Nachagen in eine argumentative Ausweglosigkeit (aporia) hrte und sie dadurch dazu brachte, ihre bis dahin unhinteragten politischen, ethischen und theoretischen Ansichten zu reflektieren und sie gegebenenfalls zu revidieren.⁴ Platon schildert Sokrates als einen Meister der dialektischen Gesprächskunst, die als ergebnisoffene, ehrliche und gemeinsame Suche nach der Wahrheit und dem guten Leben zu verstehen und dabei strikt zu unterscheiden ist von der rhetorischen, unehrlichen und am bloßen Wortlaut orientierten Streitkunst (eristikê technê), die er den Sophisten zuschreibt. Diese traten im demokratischen Griechenland als Erzieher und Wanderlehrer auf und boten ihre rhetorischen, theoretischen und praktischen Kenntnisse r Geld an.⁵ Sokrates dagegen verstand sich selbst – Platon zufolge – als ein unwissender Wahrheitssucher, der andere von ihrem Scheinwissen beeien möchte, indem er sie durch gezieltes Fragen zu einer kritischen und bescheidenen Sicht auf die jeweils behandelte Thematik hrt.⁶ Zu den wenigen positiven Ergebnissen sokratischer Gespräche gehört neben der Auffassung, dass philosophische Überzeugungen eine entscheidende Bedeutung r die eigene Lebenshrung haben und sich in der Praxis bewähren sollen, die Einsicht, dass ethische Tugenden eine Grundbedingung wahrer Glückseligkeit darstellen. Unrecht Tun ist r Sokrates nicht nur ethisch verwerflicher als Unrecht Leiden, sondern letztlich auch schädlicher und dem Wohl der Seele abträglich, selbst wenn es unentdeckt bleibt und daher nicht sanktioniert wird.⁷ ⁴ Zur Einführung in die Problematik des »historischen« Sokrates vgl. Taylor , Kap. . ⁵ Vgl. dazu in diesem Band das Kapitel von Zbiegniew Nerczuk über die Sophisten. ⁶ Im Dialog Menon (a–b) wird Sokrates mit einem Zitterrochen verglichen, der den Gesprächspartner in lähmende Verlegenheit bringt, indem er jedem vorgebrachten Wahrheitsanspruch seines Gesprächspartners mit einem skeptischen Einwand begegnet und ihn dadurch in eine scheinbar ausweglose Situation (aporia) treibt. Andererseits gleicht er auch einer kinderlosen Hebamme (eätet, a–e), indem er die Gedanken und Argumente der Gesprächspartner diskutiert, um sie anschließend auf ihre diskursive Haltbarkeit hin zu prüfen, ohne dabei selbst esen mit einem Wahrheitsanspruch vorzubringen. ⁷ Platon, Gorgias e–e; Politeia d–a.
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Platon erarbeitete sich in Anlehnung an Sokrates und in kritischer Auseinandersetzung mit den Sophisten, den Pythagoreern und den Naturphilosophen Heraklit und Parmenides eine eigene philosophische Position, die vor allem in den mittleren und späten Dialogen zum Vorschein kommt. Mit seiner Ideenlehre nimmt er das monistisch-statische Seinsverständnis des Vorsokratikers Parmenides auf und versucht dieses mit Heraklits Überlegungen zu einer allumfassenden, kosmischen Dynamik zu verbinden. Die daraus entstandene Vorstellung einer Pluralität von objektiven und unveränderlichen Ideen bildet zugleich eine Argumentationsgrundlage gegen relativistische und subjektivistische Einwände von sophistischer Seite. Für Platon, ebenso wie r seinen Lehrer Sokrates, besteht die Grundlage eines gelungenen, ethischen Lebens in einem philosophischen Wissen über das Gute, Wahre und Schöne. Die theoretische Beschäigung mit dem eigentlichen Seienden, den vorbildhaen Ideen, gilt ihm als wesentlicher Bestandteil einer tugendhaen Lebenspraxis.
Seele und Staat – Gerechtigkeit als Harmonie⁸ Platon begrei den Menschen als ein aus Seele (psychê)und Körper (sôma) zusammengesetztes Lebewesen (zôion). Die menschliche Seele besteht ihrerseits aus drei Teilen: dem vernünigen (logistikon), dem muthaen (thymoeides) und dem begehrenden (epithymêtikon).⁹ Im begehrenden Teil der Seele sind die elementaren Bedürfnisse und Triebe situiert, die sich der Kontrolle des vernünigen Teils, des Denkens, entziehen. Die dritte Instanz der menschlichen Seele hat die Funktion, zwischen dem Begehren und der Vernun zu vermitteln. Der muthae Teil hat Einfluss auf den begehrenden Teil und ist zugleich fähig, auf die Stimme der Vernun zu hören, welcher er naturgemäß Beistand leistet – sofern der Mensch nicht durch eine schlechte Erziehung verdorben wurde.¹⁰ Jeder der drei genannten Seelenteile hat eine Funktion (ergon), die ihm von Natur aus zukommt. Die spezifische Tugend bzw. Tüchtigkeit (aretê) eines Teils besteht in der bestmöglichen Erllung seiner jeweiligen Funktion.¹¹ So ist die Tugend des vernünigen Seelenteils die Weisheit (sophia), diejenige des muthaen die Tapferkeit (andreia) und diejenige des begehrenden die Besonnenheit (sôphrosynê).¹² Die Tugend ⁸ ⁹ ¹⁰ ¹¹ ¹²
Vgl. Wagner . Platon, Politeia b–c. Vgl. Graeser . Platon, Politeia a. Platon, Politeia b–c. Platon, Politeia c–d.
Erkenne dich selbst. Der Mensch bei Platon
der ganzen Seele ist die Gerechtigkeit (dikaiosynê). Diese übergeordnete vierte Grundtugend besteht in einem harmonischen und gleichfalls naturgemäßen Arrangement aller drei Teilkräe und garantiert ein funktionales Optimum der Seele als Ganzheit.¹³ Ein wahrha tugendhaer und guter Mensch ist nach Platon also gerecht und damit sowohl weise als auch tapfer und maßvoll-besonnen. Im Dialog Phaidros illustriert Platon das Verhältnis der drei Seelenteile durch das Bild eines von zwei Pferden gezogenen Wagens.¹⁴ Der Wagenlenker symbolisiert die zügelnde Vernun. Das leichter bezähmbare Pferd, das r den muthaen Teil der Seele steht, hört auf die Befehle des Lenkers, wogegen das zweite – mit dem begehrenden Seelenteil zu identifizierende – Pferd ungleich wilder und selbst mit der Peitsche nur schwer zu bändigen ist. Die Untergliederung der Seele in die drei genannten Teile erlaubt es Platon, drei diesen korrespondierende Arten von Menschen bzw. drei menschliche Lebensformen zu unterscheiden: die weisheitsliebende, die streitlustige und die gewinnsüchtige.¹⁵ Auch in der politischen Struktur eines gerechten Staats zeigt sich die Dreiteiligkeit einer gerechten Seele.¹⁶ Dieser besteht entsprechend aus drei Ständen: den Regenten, den Wächtern und den Erwerbenden, auf welche die bereits genannten Tugenden zugeschnitten sind: Die r die Leitung des Staates Sorge tragenden Regenten zeichnen sich durch sophia aus, die sowohl im Inneren als auch nach außen r Ordnung sorgenden Wächter durch andreia und das produzierende und sich selbst sowie die beiden übrigen Stände versorgende Volk durch die sôphrosynê.¹⁷ Gerechtigkeit ist nach Platon also im Politischen wie auch beim einzelnen Menschen das harmonische Zusammenspiel (harmonia) konfligierender Kräe. Sie gelingt dann, wenn jeder Teil das Seine tut (ta hautou prattein) und sich entsprechend seiner natürlichen Position in eine von der Natur vorgegebene Hierarchie einordnet.¹⁸ Gerechtigkeit ist weniger eine nach außen gerichtete Einschränkung des individuellen Handlungsspielraums, sondern vielmehr eine »innere Praxis«¹⁹ (praxis entos) der ¹³ ¹⁴ ¹⁵ ¹⁶
Platon, Politeia c–e. Platon, Phaidros a–b. Platon, Politeia, e–a. Genauer gesagt, verhält es sich gerade umgekehrt, da Sokrates zunächst am Beispiel eines idealen Staates klären möchte, worin die Gerechtigkeit besteht. Schließlich sei das Wesen der Gerechtigkeit an einem grösseren Objekt klarer erkennbar. Die Gerechtigkeit der Seele sei anschließend leichter zu bestimmen. Vgl. Politeia c–a (Buchstabengleichnis). ¹⁷ Platon, Politeia d–e. ¹⁸ Platon, Politeia a. ¹⁹ Platon, Politeia d.
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Harmonisierung und naturgemäßen Hierarchisierung unterschiedlicher Kräe – der Seele im Individuellen und des Staates im Politischen. Platon legt also großen Wert auf eine als Selbsttherapie zu verstehende »Sorge um die Seele«²⁰ (epimeleia tês psychês), ganz entsprechend dem zur Selbsterkenntnis mahnenden delphischen Imperativ »Erkenne dich selbst« (gnôthi sauton).²¹ Eine Person ist nach Platon also erst dann tugendha, gut und glücklich, wenn ihr psychisches Kräekollektiv eine harmonisch-hierarchische Einheit bildet. Die menschliche Seele kann die ihr eigene Tätigkeit (ergon) nur ausüben, wenn sie den in ihr angelegten Widerstreit der Seelenteile zu mildern und die entgegenstrebenden Kräe harmonisch ineinander zu gen versteht. So kann auch ein Staat oder ein Heer die zu verfolgenden Ziele nur erreichen, wenn die Parteien und Soldaten unter sich nicht im Streit sind.²² Ein ungeordnetes, anarchisches Kollektiv dagegen ist nicht in der Lage, ein Gemeinschaswerk zu vollbringen. Mit Blick auf das menschliche Individuum bedeutet dies, dass ein Unruhe stiender Aufstand einzelner Seelenteile gegen das Ganze verhindert werden soll.²³ Nur eine Person, die mit sich selbst im Reinen ist, wird in der Lage sein, ihr Potential zu entfalten und die erwünschte Ausgeglichenheit und Glückseligkeit zu erreichen. Während einige Sophisten die These vertraten, es gebe keine über die jeweils herrschenden gesellschalichen Konventionen hinausgehende Gerechtigkeit, möchte Platon zeigen, dass eine solche überpositivistische Gerechtigkeit keine bloße Fiktion und Moral keine bloße Konvention ist. Die als Harmonie zu verstehende Gerechtigkeit sei in der Natur (physis) selbst zu finden: in der Seele des einzelnen Menschen, aber auch im gesamten Kosmos. Platon denkt den Kosmos, das wohlgeordnete Weltganze, dabei als ein beseeltes Lebewesen, dessen Seele als ein allumfassendes Bewegungsprinzip, als eine sich selbst mitbewegende Kra kosmischer Dynamik zu begreifen ist.²⁴ Der Kosmos ist eine nach idealem Vorbild geprägte, ewige Ordnung des Materiellen.²⁵ Die unaufhaltsam fortschreitende und nie endende Zeit ist ein Abbild der Ewigkeit eines idealen Urbildes, das außerhalb jeglicher Zeit existiert.²⁶ ²⁰ ²¹ ²² ²³ ²⁴ ²⁵ ²⁶
Platon, Apologie e; b. Platon, Charmides d; Phaidros e. Platon, Politeia a. Platon, Politeia b. Platon, Timaios e–a. Platon, Timaios a–a; a. Platon bestimmt die Zeit als das »nach Zahlen fortschreitende Abbild des im Einen verharrenden Ewigen (aiôn)« (Timaios d).
Erkenne dich selbst. Der Mensch bei Platon
Die Erkenntnis der Idee des Guten Die als Harmonie zu verstehende Tugendhaigkeit und Vollkommenheit ist, wie wir gesehen haben, jedem Menschen als natürliche Anlage der Seele mitgegeben. Die menschliche Natur bedarf jedoch der Erziehung, der Politik und der Kultur, um sich in richtiger Weise entfalten zu können. Zur Organisation eines Kollektivs ist eine regierende Obhut nötig, welche garantiert, dass jedem das zukommt, was ihm zusteht. Die Regenten eines Staats müssen also über ein fundiertes Wissen vergen bezüglich dessen, was gut und gerecht ist, damit sie in der Lage sind, die defiziente politische Wirklichkeit in Richtung des Gerechtigkeitsideals zu entwickeln. Ein umfassendes und exaktes Wissen über die zu realisierende Gerechtigkeit erreicht allerdings nur, wer einen aufwendigen philosophischen Bildungsgang absolviert hat. Am Ende dieses Weges, mit etwa Jahren, steht die schwierigste Aufgabe jedoch noch bevor: Die Erkenntnis der Idee des Guten (idea tou agathou). Erst durch diese Einsicht können alle anderen Auffassungen als verinnerlichtes Wissen gelten und in einem letzten Grund fundiert werden. Die einzigen, die in der Lage sind, sich durch die Denkkunst der Dialektik der Idee des Guten zu nähern, sind die Philosophen. Die Regenten eines idealen Staates müssen nach Platon also Philosophen sein,²⁷ d.h. Menschen, die nicht nur eine schnelle Auffassungsgabe und ein gutes Gedächtnis haben, sondern auch einen tapferen und edlen Charakter.²⁸ Allein sie kennen einerseits die bestehenden Verhältnisse und konkreten Interessen der Bürger und haben sich andererseits über viele Jahre philosophisches Wissen über das Wirkliche, Gute und Gerechte angeeignet. Unter dem Guten selbst versteht Platon zunächst das, was jeder will und wor jeder letztlich alles andere tut. Es ist der Endzweck aller Handlungen, der zugleich reiner Selbstzweck ist, d.h. selbst nicht wiederum um eines anderen willen angestrebt wird. Nach Platon will zwar jeder Mensch das Gute, nur weiß nicht jeder, was das Gute wirklich ist. Die Einsicht in das Gute ist schließlich, wie wir bereits gesehen haben, das bedeutendste und deshalb schwierigste aller Lehrstücke (megiston mathêma) und eröffnet sich lediglich philosophisch veranlagten und ausgebildeten Menschen. Erst durch diese höchste Erkenntnis des wahrha Guten tritt die Güte und der Nutzen der später so genannten Kardinaltugenden zu Tage; denn Weisheit, Gerechtigkeit,
²⁷ Platon, Politeia b. Vgl. Spaemann . ²⁸ Platon, Politeia c.
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Tapferkeit und Besonnenheit sind letztlich nur deswegen erstrebenswert, weil sie gut sind.²⁹ Die Erkenntnis der Idee des Guten ist das Ziel philosophischer Ausbildung und insbesondere der philosophischen Kunst des reinen Denkens, der Dialektik. Der Dialektiker versucht das Wesen des Wahren, Guten und Schönen zu bestimmen, ohne sich dabei von der Wahrnehmung verwirren zu lassen.³⁰ Das dialektische Denken gleicht einem »Gespräch der Seele mit sich selbst«³¹ und soll die rein begrifflichen Beziehungen offenlegen, die zwischen den allgemeinsten Ideen bestehen. Der Dialektiker weiß also, welche Ideen einander ähnlich sind, welche sich ausschließen und welche in Ableitungsverhältnissen zueinander stehen. Jede unbegründete Annahme soll dabei hinteragt und entweder begründet oder aber aufgegeben werden.³² Die Idee des Guten ist der letzte und allgemeinste Grund, auf den sich alles Wissen stützt. Wer die Idee des Guten erkannt hat, ist jedoch nicht nur in der Lage, mit Begriffen umzugehen und seine Meinungen zu begründen, sondern hat auch praktische Urteilskra und versteht es, bestimmte letztbegründete philosophische Einsichten in der politischen Praxis umzusetzen. Das verinnerlichte Wissen um das Gute ist immer auch ein praktisches und handlungsleitendes Wissen, es wirkt verpflichtend und motivierend. Wer das Gute erkannt hat, tut es auch.³³ Tugendhaigkeit resultiert also aus dem Wissen darum, was tugendha ist.³⁴ Bisher haben wir auf bestimmte Funktionen der Idee des Guten hingewiesen und gezeigt, welche Wirkungen von der Erkenntnis des Guten ausgehen. Wir haben aber nichts darüber gesagt, was das Gute ist. Das tut allerdings auch Platon nicht. Er lässt keine seiner Dialogfiguren in expliziter Weise über die Idee des Guten sprechen. Stattdessen versucht Sokrates, seinen Gesprächspartnern in der Politeia anhand dreier Gleichnisse zu illustrieren, was unter dieser höchsten Idee zu verstehen ist und welche Funktionen ihr zukommen.³⁵ ²⁹ ³⁰ ³¹ ³² ³³
Platon, Politeia d–a. Platon, Politeia a–b. Platon, eätet e–a. Platon, Politeia c; b–a. Das folgt aus der ese, dass jeder dasjenige will und tut, was ihm gut scheint. So wird auch niemand freiwillig Böses tun (Protagoras c–e). Immoralität ist immer die Folge eines Unwissens. ³⁴ Platon, Menon c. ³⁵ Die Zurückhaltung an dieser Stelle ist nach Meinung vieler Platon-Interpreten vor dem Hintergrund der platonischen Kritik an der Schriftlichkeit zu erklären. Wie Platon im Siebten Brief schreibt, könne man ernste philosophische Fragen (ta spoudaiotata) nicht schriftlich
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Im ersten der drei Gleichnisse, dem so genannten Sonnengleichnis, wird die Idee des Guten als Grundlage der Wirklichkeit und ihrer Erkennbarkeit verstanden,³⁶ während im zweiten Gleichnis, dem Liniengleichnis, über den epistemischen Zugang zu dieser Idee informiert und zwischen verschiedenen Kognitionsvermögen unterschieden wird. Im dritten und berühmtesten aller drei Gleichnisse, dem Höhlengleichnis, illustriert Platon die pädagogische und politische Dimension philosophischer Einsichten, insbesondere der Erkenntnis der Idee des Guten, und beschreibt zugleich ein einprägsames Bild r die Situation des Menschen in der Welt. Wir werden hier das Liniengleichnis und das Höhlengleichnis besprechen, da insbesondere sie r die Frage nach der Erkenntnis des Menschen relevant sind.
. Liniengleichnis Im Liniengleichnis lässt Platon seine Dialogfigur Sokrates den gesamten Bereich des Seienden durch eine Linie symbolisieren.³⁷ Diese Linie solle nun zunächst durch eine Unterteilung in zwei ungleiche Teile separiert werden. Eine der beiden Teilstrecken soll dabei die sichtbaren Gegenstände repräsentieren, während der zweite Teil r die nur denkbaren Entitäten stehen soll. Beide Teilbereiche werden nun nochmal in demselben Verhältnis geteilt, in welchem die ganze Linie ursprünglich geteilt wurde, so dass eine viergeteilte Linie entsteht. Der Bereich des Sichtbaren soll dabei in abgebildete und wirkliche Gegenstände der Wahrnehmung geteilt werden. Im ersten Teilabschnitt sollen etwa Spiegelbilder und Schatten angesiedelt werden, während im zweiten alle natürlichen und artifiziellen Gegenstände zu situieren sind. Das Wahrnehmbare verhalte sich nun zum Denkbaren wie die zweidimensionalen Abbilder der wahrnehmbaren Gegenstände zu den dreidimensionalen Gegenständen selbst. behandeln. Niedergeschriebene Aussagen seien immer interpretations- und begründungsbedürftig (Phaidros a–e). Tatsächlich gibt es viele Quellen (insbesondere von Aristoteles und anderen Schülern Platons), die nahelegen, dass Platon in seiner Akademie eine über den Gehalt der Dialoge hinausgehende ungeschriebene Lehre (agrapha dogmata) vertreten hat, deren Gehalte nur seinen Schülern zugänglich sein sollten. Dabei ist von zwei Prinzipien die Rede, dem Einen (hen) und der unbestimmten Zweiheit (ahoristos dyas), aus denen die gesamte Wirklichkeit ableitbar und erklärbar sei. Die Namen der Prinzipien machen deutlich, wie wichtig der Bezug zur Mathematik und die Anknüpfung an den Pythagoreismus für ein angemessenes Verständnis dieser Prinzipienlehre sind. Vgl. Gaiser ; Krämer ; Szlezák –. ³⁶ Vgl. Szaif , –. ³⁷ Platon, Politeia c–e; Vgl. Krämer .
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Der ganze Bereich des Wahrnehmbaren besteht also aus Abbildern (eidôla) der idealen Urbilder (paragdeigmata), welche nur dem Denken zugänglich sind. Das Denkbare soll nun aber – wie bereits erwähnt – nochmals unterteilt werden, wiederum im selben Verhältnis. Die dadurch zustande kommende und unmittelbar an das Wahrnehmbare anschließende Teilstrecke repräsentiere die mathematischen Wahrheiten mitsamt deren Voraussetzungen. Mathematische Wahrheiten wie der Satz des Pythagoras sind im Unterschied zu Aussagen über wahrnehmbare Gegenstände jederzeit, überall und r jedermann gültig. Die Mathematik setze jedoch bestimmte axiomatische Wahrheiten unhinteragt voraus und die Geometrie greife auf geometrisch-schematische Zeichnungen, konkrete Abbilder also, zurück, um Probleme zu lösen. Der vierte und letzte Streckenabschnitt symbolisiert allein die Ideen, welche Gegenstand des dialektischen Denkens sind. Im Unterschied zur Mathematik braucht die Dialektik keinerlei sinnliche Hilfsmittel und hinteragt die Geltung jeglicher Hypothesen. Der Dialektiker wagt den Aufstieg zu dem voraussetzungslosen Anfang (archê anhypothetos) aller Begründung.³⁸ Dieses gleichsam über allen übrigen Ideen stehende und selbst nicht begründungsbedürige Prinzip ist die Idee des Guten, von der es im Sonnengleichnis heißt, sie sei Ursache und Erkenntnisgrund alles Seienden und überrage alles, was es gibt (epekeina tês ousias).³⁹ Platon lehrt uns im Liniengleichnis nicht nur, dass es verschiedene Gegenstandsbereiche der Wahrnehmung und des Denkens gibt, sondern möchte auch zeigen, dass den unterschiedlichen Gegenständen unterschiedliche Arten und Vermögen des Erkennens entsprechen: Die Abbilder sichtbarer Gegenstände (Schatten, Spiegelbilder) erlauben nur unsichere Vermutungen (eikasia) über die Wirklichkeit, während dasjenige, wovon sie Abbilder sind – die dreidimensionalen Gegenstände – lediglich zu bloßen Meinungen (pistis) Anlass geben, d.h. lediglich bestimmte Sachverhalte glaubha machen. Das dianoetische Denken (dianoia) als ein Vermögen, das hypothetisch-deduktiv verfährt, gewinnt Gewissheit über mathematische Gegenstände. Dieses Vermögen des Verstandes richtet sich auf abstrakte, mathematische Gegenstände wie Zahlen und Figuren, versucht diese jedoch durch eigens konstruierte, sichtbare Abbilder zu begreifen. Ein solches Vorhaben garantiert jedoch keine absolute Gewissheit, da bestimmte Voraussetzungen unbegründet bleiben. Ein gründliches Verständnis verdankt sich letztlich einer nichtdiskursiven Einsicht (noêsis) in den voraussetzungslosen Anfang jedweder Begründung. Diese Einsicht bildet das Ziel der ³⁸ Platon, Politeia b. ³⁹ Platon, Politeia b.
Erkenne dich selbst. Der Mensch bei Platon
Dialektik, der Kunst des reinen Denkens, das sich von der Sinnlichkeit gänzlich gelöst und es nur mit Ideen zu tun hat.⁴⁰ Keines der drei im Vergleich mit der Vernuneinsicht (noêsis) defizienten Kognitionsvermögen hat Einsicht in die Abbildhaigkeit der eigens thematisierten Gegenstände. Sobald man erkennt, dass man es mit Abbildern zu tun hat, begibt man sich auf die nächsthöhere kognitive Ebene. Die Deutlichkeit der jeweiligen Kognitionsweisen korreliert dabei mit der Authentizität der jeweiligen Gegenstände.⁴¹ Versuchen wir, zu rekapitulieren und einiges zu ergänzen: Die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, die materiellen, konkreten, wahrnehmbaren und raumzeitlichen Phänomene sind nach Platon bloße Abbilder des wahrha Seienden, der Ideen. Diese sind objektive, ideale, abstrakte, ewige und allein mittels des Denkens erfassbare Gegenstände. Jeder gezeichnete Kreis etwa ist defizient im Vergleich zu dem idealen Kreis, der durch die mathematische Definition vollständig bestimmt ist. Dieser ist das gemeinsame Vorbild aller gezeichneten, konkreten Kreise, da bei ihm jeder Punkt auf der Kreislinie exakt denselben Abstand hat zum Mittelpunkt. Ebenso wie beim Kreis gibt es r alles, was wir mit Begriffen bezeichnen, ein Wesen, gleichsam ein Urbild, das nicht nur unserem Verstand als erkenntnisermöglichendes Schema dient, sondern auch von der nach idealem Vorbild gestalteten Natur angestrebt wird.⁴² Um beispielsweise einen konkreten Baum als Baum erkennen zu können, benötigt der Mensch eine Vorstellung, einen Begriff davon, was ein Baum ist. Dieses allen Bäumen Gemeinsame ist nach Platon die Idee (eidos) eines Baumes. Die einzelnen Bäume sind gleichsam Abbilder dieser Idee, haben als solche an ihr teil und streben ihre ideale Seinsweise an. Der theoretisierende Mensch, der das Wirkliche erkennen möchte, ist also gehalten, seine Suche gänzlich im Bereich des von aller Sinnlichkeit beeiten Denkens zu unternehmen, da die nur denkbaren Ideen in höherem bzw. höchstem Maße wirklich sind. Das Wissen des idealen Regenten um das Gute ist folglich keine rein praktische Kompetenz desselben, sondern ein metaphysisches Wissen von den Prinzipien des Seins und des Handelns. Wirklichkeit und Norm fallen aufgrund des verpflichtenden Vorbildcharakters der Ideen zusammen. Aus diesem Grund ist wahres, angeeignetes und verinnerlichtes Wissen stets handlungsmotivierend und wirkt sich als solches auf die individuelle Lebenshrung aus. ⁴⁰ Platon, Politeia d–e. Vgl. Mittelstrass . ⁴¹ Vgl. insbes. Szaif , –. ⁴² Platon, Phaidon d–d.
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. Höhlengleichnis Durch das Höhlengleichnis veranschaulicht Platon, dass der gewöhnliche Mensch unwissend ist und in einer Scheinwelt lebt wie in einer Höhle. Denn die wahrnehmbaren Dinge, welche die meisten Menschen als real annehmen, sind – wie wir gesehen haben – bloße Abbilder des wahrha Seienden.⁴³ Platon beschreibt Menschen, die seit ihrer Kindheit in einer unterirdischen Höhle festgebunden sind.⁴⁴ Sie blicken auf die ihnen gegenüberliegende Höhlenwand und können weder ihren Kopf noch ihre Glieder bewegen. Licht haben sie von einem Feuer, das hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und ihrem Rücken tragen Gaukler Statuen und Gegenstände vorbei, die Schatten an die Wand werfen. Die Gefangenen können lediglich die projizierten Schatten der Gegenstände sowie ihre eigenen Schatten wahrnehmen. Wenn die hinter ihrem Rücken Vorbeigehenden sprechen, hallt es von der Wand so zurück, als ob die Schatten der Figuren, die sie tragen, selber sprächen. Da sich die Welt der Gefangenen ausschließlich um diese Schatten dreht, deuten und benennen sie diese, als handele es sich bei ihnen um die wahre Welt. Sokrates beschreibt nun, was passieren würde, wenn man einen der Gefangenen beeien und ihn zwingen würde, sich umzudrehen, den steilen Gang hinaufzusteigen und die Höhle zu verlassen. Zunächst würden seine Augen vom Feuer geblendet werden, und die räumlichen Figuren würden ihm weniger real erscheinen als zuvor die Schatten an der Wand. Der Gefangene will wieder zurück zu den Schatten, die er zu kennen glaubt und an die er sich jahrelang gewöhnt hat. Man muss den Beeiten also mit Gewalt und gegen seinen Willen die Höhle hinauf an das Sonnenlicht zerren. Hier wird er anfänglich von der Sonne so stark geblendet werden, dass er nichts klar erkennen kann. Erst nachdem er sich an das grelle Sonnenlicht gewöhnt und den Anblick der Schatten und Spiegelbilder außerhalb der Höhle zu ertragen gelernt hat, kann er wirkliche Gegenstände und schließlich auch die Sonne selbst sehen, ohne die es – analog zum Sonnengleichnis – weder Objekte noch deren Schatten gäbe. Hat der durch Zwang Beeite sich an das Licht gewöhnt, so muss man ihn ein zweites Mal zwingen: Er muss nämlich zurück in die Höhle, über seine Kenntnisse berichten und die anderen davon überzeugen, dass ihre Welt der Schatten eine bloße Scheinwelt ist. Da sich seine Augen nun umgekehrt erst wieder an die Dunkelheit ⁴³ Vgl. Szlezák . ⁴⁴ Platon, Politeia a–a.
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gewöhnen müssen, kann er die Schattenbilder zunächst nur unklar erkennen. Die Gefesselten verspotten ihn und glauben, er sei mit verdorbenen Augen zurückgekommen und der Aufstieg lohne sich nicht; im Gegenteil, man müsse diesen verwirrten Irrgänger umbringen, sobald er auch andere Menschen hinaus- und damit ins Verderben hren wolle. Gemäß der naheliegenden Auslegung des Gleichnisses, die Sokrates seinen Gesprächspartnern selbst anbietet, steht die Höhle r unsere sinnlich wahrnehmbare Welt und der harte Aufstieg des Höhlenbewohners symbolisiert den Weg und die Umwendung (periagogê) der Seele hin zur Erkenntnis des tatsächlichen Ursprung des Seins und der Erkenntnis, der Idee des Guten, die durch die Sonne symbolisiert wird. Das Gleichnis illustriert die Schwierigkeiten einer ernsthaen Suche nach Wahrheit, die Macht der Gewohnheit und die verhängnisvollen Konsequenzen eines dogmatischen Scheinwissens der allermeisten Menschen. Zugleich zeigt Platon auf, wie überaus schwierig, ja beinahe unmöglich, die Durchsetzung und Verwirklichung eines philosophischen Erziehungsprogramms und einer philosophisch fundierten Politik ist. Mit dem Hinweis auf die Lebensgefahr, in welcher der in die Höhle Zurückkehrende schwebt, spielt er auf seinen Lehrer Sokrates an, der aufgrund seiner philosophischen Tätigkeit zum Tode verurteilt und v. Chr. hingerichtet wurde. Platon betont durch das Gleichnis aber auch die mit philosophischer Einsicht untrennbar verknüpe ethische Pflicht, den Mitmenschen zur Selbsterkenntnis zu verhelfen und sie philosophisch zu erziehen.
Eros und Daimonion Nach Platon gibt es eine jedem Menschen innewohnende Kra, die ihn von sich aus zu einer philosophischen Lebensform treibt – die Liebe (erôs).⁴⁵ Sie ist nicht nur eine Kra, die einen Menschen zu sich selbst hrt, indem sie ihn zu einem anderen Menschen hinzieht, dem er von Natur aus verbunden ist; sie ist zugleich von unschätzbarem Wert r eine philosophische Erziehung und r das Projekt einer Verähnlichung mit Gott (homoiôsis theôi).⁴⁶ Die Liebe treibt den Menschen nämlich zur Einsicht in das allein dem Denken zugängliche Schöne und Gute und ist insofern gleichsam eine Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Platon sieht in der Liebe ⁴⁵ Vgl. Price . ⁴⁶ Platon, Politeia d; eätet a–c; Phaidon d, Phaidros a. Vgl. Lavecchia ; Roloff .
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eine motivierende und treibende Kra beim Streben nach dem ethisch-ästhetischen Ideal der Kalokagathie, dem Schön- und Gutsein (kalos kai agathos). Eros, der Gott der Liebe, ist also ein Helfer (synergos) der Philosophie und daher unerlässlich r eine gelingende Bildung und Erziehung des Menschen.⁴⁷ Platon lässt im Symposion den Komödiendichter Aristophanes einen aitiologischen Mythos (d.h. eine die Ursache, griechisch aitia, aufzeigende Erzählung) zur Entstehung der Liebe erzählen: Ursprünglich seien alle Menschen kugelartig gewesen, meint dieser. Sie hätten vier Hände, vier Beine, zwei Gesichter und auch zwei Geschlechtsorgane gehabt. Dabei gab es drei Menschentypen: männlich-männliche, weiblich-weibliche und schließlich männlich-weibliche, also androgyne Menschen. Aristophanes berichtet weiter, die Kugelmenschen seien äußerst kräig und klug gewesen und wollten sich Zugang zum Himmel verschaffen, um den Göttern die Macht streitig zu machen. Daraufhin zerschnitt Zeus die Menschen in zwei Hälen und befahl Apollon, ihnen das Gesicht umzudrehen, sodass sie den Schnitt auf ihrem Rücken als Mahnung an die Folgen ihres Übermuts immer vor Augen haben würden. Die halbkugeligen Menschen sehnten sich nun nach ihrer andern Häle, konnten sich jedoch mit dieser nicht zusammentun, da ihre Geschlechtsorgane jeweils auf der Rückseite waren. Aus Mitleid mit den Menschen verlegte Zeus deren Geschlechtsteile nach vorne, sodass die Menschen von da an ihre erotischen Bedürfnisse beiedigen und sich lieben und fortpflanzen konnten. Platon lässt Aristophanes die zwischenmenschliche Liebe somit als etwas Angeborenes darstellen, das dazu dient, eine ursprüngliche Natur wiederherzustellen. In der Liebe sehnt man sich jeweils – wie es so schön heißt – nach seiner anderen Häle; man versucht mit und durch den anderen zu sich selbst zu finden. Die Männer, die einst doppeltmännlich waren, Platon nennt sie »Ausgeburten der Sonne«, hlen sich zu Männern hingezogen, ebenso wie sich die damals doppeltweiblich gewesenen Frauen, so genannte Ausgeburten der Erde, zu Frauen hingezogen hlen. Die ehemals androgynen Menschen dagegen, Ausgeburten des zwischen Erde und Sonne liegenden Mondes, verlieben sich in andersgeschlechtliche Partner.⁴⁸ Anders als Aristophanes hält Sokrates im Symposion keine eigene Rede auf Eros; er referiert allerdings die Worte einer Priesterin namens »Diotima«. Diese habe ihn einen ⁴⁷ Platon, Symposion b. ⁴⁸ Wenn man bedenkt, wofür die Sonne – insbesondere im Sonnen- und im Höhlengleichnis – ein Sinnbild ist, wird an dieser Stelle den homosexuellen Männern im Vergleich mit Heterosexuellen und homosexuellen Frauen die edelste Herkunft zugeschrieben.
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aufsteigenden Stufenweg gelehrt, der ausgehend von der Liebe zu einem sinnlichen Körper über die Liebe zu der in Handlungen und Sitten zum Ausdruck kommenden seelischen Schönheit hrt und bei einer rein intellektuellen Liebe und dem idealen Schönen endet, das allein dem Denken zugänglich ist.⁴⁹ Die Liebe wird dabei als eine den menschlichen Geist emporhebende Kra dargestellt, die den Liebenden letztlich zu einem tugendhaen Leben, zu wahren Erkenntnissen, zur Einsicht in die Idee des Schönen und schließlich zum Guten selbst hrt. Neben der Liebe benennt Platon eine weitere Quelle einer gelingenden Lebenshrung: das so genannte Daimonion. Es ist einer inneren Stimme göttlichen Ursprungs vergleichbar, welche in weiser Vorausschau von der Aushrung bestimmter Handlungen abrät und so die eigene Lebenshrung entscheidend mitgestalten kann – vorausgesetzt man hört hin und folgt dem Rat.⁵⁰ Die Ratschläge und Warnungen sind individuell verschieden und der göttliche Ursprung zeigt an, dass das Daimonion kein Produkt von Erziehung und Sozialisierung ist, sondern als Kern einer Person immer dann seine Stimme erhebt, wenn eine Handlung oder Entscheidung der Selbstentfaltung eines Individuums zuwider laufen würde. Mit dem ähnlich konzipierten Gewissen kann das Daimonion insofern nicht gleichgesetzt werden, als jenes sowohl zu- als auch ab-, dieses hingegen stets nur abrät. Am Schluss des Dialogs Politeia erzählt Sokrates im Rahmen eines Mythos über die Wiedergeburt der Seelen: Jede Seele werde sich im Jenseits eine neue Lebensweise (bios) aussuchen, der sie anschließend nicht mehr entrinnen könne,⁵¹ da ein Dämon (daimôn) »als Wächter der Lebensform und Vollstrecker der Wahl«⁵² an ihre Seite gestellt würde. Jeder Mensch hat seinen Charakter und seine Lebensform also der eigenen eien Wahl im Jenseits zu verdanken. Die Wahl des persönlichen Dämons, der einen durchs Leben begleitet und dar sorgt, dass die gewählte Lebensform nicht verlassen wird, ist allerdings nicht gänzlich ei, sondern hängt selbst wiederum von der Art und Weise ab, wie ein Mensch gelebt und welchen Charakter er ausgebildet hat. Die üheren Lebensweisen hat der Mensch jedoch auch sich selbst zu verdanken, schließlich hat er sich jeweils im Jenseits dazu entschieden. Der Mensch ist diesem Schlussmythos zufolge also ein eies Wesen und als solches nicht nur r seine Hand-
⁴⁹ ⁵⁰ ⁵¹ ⁵²
Platon, Symposion a–c. Platon, Apologie c–a; eätet a. Vgl. Kleve . Platon, Politeia e (ex anankês). Platon, Politeia d.
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lungen, sondern auch r seinen Charakter selbst verantwortlich: »Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos.«⁵³.
Erziehung und Politik⁵⁴ Wir haben bereits gesehen, dass philosophisches Wissen r Platon alles andere als eine Ware ist, die man kaufen und verkaufen kann. Der durch die Liebe zum Schönen vorangetriebene Lern- und Erkenntnisprozess gleicht keiner rezeptiv-passiven Informationsaneignung, sondern ist vielmehr als ein mühsamer Prozess zu denken, der zu Klarheit hrt – nicht nur über die Sache sondern auch über sich selbst. Erkenntnis ist als Wiedererinnerung (anamnêsis) zu verstehen, als zunehmendes Bewusstwerden und als eine Aktualisierung schon vorhandener Kompetenzen.⁵⁵ Das erstrebte Wissen erlangt der Begabte und Lernfähige erst nach der Absolvierung eines langjährigen Bildungsprogramms (paideia): Bis zum . Lebensjahr genießt der von der Liebe zum Schönen Geleitete eine musisch-gymnastische Ausbildung und eignet sich danach die mathematischen Künste des propädeutisch zu verstehenden Quadriviums an, um sich schließlich der Dialektik als wahrhaer Erkenntnisform zuzuwenden. Der Lern- und Bildungsprozess ist eine vom Werden zum Sein aufsteigende Dynamik, eine zunehmende Gewöhnung und Assimilation an Harmonie, Proportion und Wohlgeordnetheit. Im Rahmen der staatlich geregelten Erziehung kommt der Musik ein zentraler Stellenwert zu, da diese in jungen Jahren einen direkten Zugang zum tiefsten Inneren der menschlichen Seele findet und durch hörbare Mathematik und Wohlproportioniertheit das Gemüt und den Charakter des angehenden Staatsbürgers kultiviert und harmonisiert. Der musisch Gebildete hat einen Sinn r Maß und Ordnung – er ist besonnen. Wer mit ordentlicher Musik und Dichtung aufgewachsen ist, braucht keine Wächter, die auf ihn achtgeben, da er die Grundlagen einer tugendhaen Gemütsart bereits internalisiert hat und deshalb die rechten Gewohnheiten ausbildet.⁵⁶ Die gymnastische Erziehung ergänzt die dichterisch-musikalische, indem sie den Körper gesund hält, ihn abhärtet und lehrt, Maß zu halten, während zu viel Musik und Poesie die Seele verweichlichen würden.⁵⁷ Die körperliche Ertüchtigung dient der Tapfer⁵³ ⁵⁴ ⁵⁵ ⁵⁶ ⁵⁷
Platon, Politeia e. Vgl. Gill ; Scolnicov . Platon, Menon d–b; Phaidon e–a. Vgl. Huber ; Scott . Platon, Politeia c–d. Platon, Politeia c–e.
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keit und dem Mut angehender Staatswächter. Diese Wächter leben nach Platon ohne Eigentum und werden mit dem versorgt, was sie brauchen, um ihre Funktion bestmöglich erllen zu können. Der Staat ist aufgrund seiner Struktur, die derjenigen der Seele analog ist, mit einem Organismus vergleichbar, dessen Teile jeweils eine spezifische Funktion r das Ganze erllen. Aufgrund signifikanter Unterschiede in den natürlichen Anlagen, Bedürfnissen und Talenten verschiedener Menschen legt sich eine Arbeitsteilung und Zusammenarbeit nahe. Die Arbeitsteilung ist eine geeignete Kompensationsmaßnahme dar, dass ein einzelner nicht in allen Bereichen Übung besitzen und engagiert bei der Sache sein kann. Platon spricht sich also r eine Spezialisierung aus, die dar sorgt, dass jede Person das tut, wozu sie von Natur aus geeignet ist und worin sie ihr Potential entfalten kann.⁵⁸ In einem idealen Staat, wie Platon ihn in der Politeia skizziert, ist nahezu alles staatlich geregelt. Nicht nur steht die Politik über den technischen und musischen Künsten, indem sie festlegt, welche poetischen und mythologischen Inhalte didaktisch relevant sind und im Staat zugelassen werden dürfen. Staatlich geregelt ist auch die Art und Weise, wie Musik und Sport getrieben wird. Insbesondere auf eine kontrollierte Erziehung der Kinder legt Platon großen Wert. Bereits die Spiele und Vergnügungen der Kinder sollen nach Platons Ansicht vom Staat kontrolliert werden. Jeder Tätigkeitsbereich hat sich dem Diktat des Nutzens r den Staat zu gen. Der Staat funktioniert am besten, wenn er sich aus tugendhaen Menschen zusammensetzt. Entsprechend sollen also nur edle und tugendhae Charaktere künstlerisch dargestellt, nur einfache Harmonien gespielt und nur abhärtende und ermutigende Körperbetätigungen praktiziert werden. Dem Guten und Nützlichen gebührt, was die Erziehung anbelangt, der Vorrang vor dem Wahren, d.h. wenn wahre Erzählungen schädlich sind, müssen sie ungeachtet ihrer Wahrheit aus dem Staat entfernt werden.⁵⁹ Ausgesondert werden sollen auch schwer Erziehbare und körperlich Untaugliche; wenn nicht in der Gegenwart, so doch zumindest in Zukun: Ein idealer Staat soll nach Platon nämlich auch die menschliche Fortpflanzung regeln, indem er dar sorgt, dass die edlen, kräigen und begabten Naturen unter sich Kinder zeugen, ebenso wie die mangelhaen Menschen unter sich.⁶⁰ Die begabten Kinder werden gerdert, während die unfähigen vernachlässigt werden. Damit das Volk kei⁵⁸ Platon, Politeia d. ⁵⁹ Platon, Politeia a–b. ⁶⁰ Platon, Politeia d–e.
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ne Vorwürfe an die Regierenden richtet, lassen diese es so aussehen, als hätte das Los darüber entschieden, wer sich mit wem zu verheiraten hat. Der Mensch ist nach Platon durch eine Mischung aus Anlage und Erziehung geprägt, wobei die Erziehung, die Sozialisierung und die Kultivierung r einen Großteil dessen verantwortlich sind, was einen Menschen ausmacht. Je nach pädagogischpolitischem Umfeld entfaltet sich ein Mensch anders. Nach Platon ist der Mensch also zu großen Teilen das, wozu er erzogen wurde. Die Erziehung wiederum hängt aber von der jeweiligen Staatsform und den darin zum Ausdruck kommenden Werten ab. Die Staatsform, insbesondere das Erziehungswesen, prägt also die Lebensform und den Charakter des einzelnen Menschen. Platon unterscheidet nf verschiedene Staatsformen, die in einem natürlichen Kreislauf aufeinander folgen.⁶¹ Jede dieser politischen Organisationsformen ist getragen von einem bestimmten Charakter der Menschen, der seinerseits durch die Erziehung und Politik geprägt ist.⁶² Ausgehend von der nach seiner Sicht besten aller Staatsformen, der Aristokratie, skizziert Platon einen vierstufigen Verfallsverlauf: Auf die guten und gerechten Menschen der Aristokratie folgen die konkurrenzorientierten und ehrsüchtigen Menschen der so gennanten Timokratie. Diese Staatsform verfällt weiter zur Oligarchie, in der sich alles um Eigentum und Geld dreht. Die Oligarchen werden aufgrund des angehäuen Reichtums allerdings träge, untüchtig und verweichlicht, woraufhin sich die Ärmeren gegen diese zusammentun und die Freiheit zum obersten Wert ernennen. Es entsteht eine regierungslose Verfassung, die so viele Freiheiten wie nur möglich gewähren soll: die Demokratie. In ihr wird, so Platons pessimistische Diagnose, jede Form von Autorität verpönt und untergraben; die Menschen werden eizügig und es mangelt ihnen an jeglicher Form der Selbstdisziplin. Die Unordnung erschwert ein Funktionieren des Staats, was die Bürger unzuieden werden lässt. In dieser Phase kann ein Politiker an die Macht gelangen, der dem Volk verlockende Versprechungen macht und einen Krieg anzettelt, damit das Volk eines Anhrers bedarf. Dieser Anhrer entpuppt sich später als Tyrann und verdammt das Volk zu Uneiheit, Armut und Furchtsamkeit. Die Lehre der verschiedenen Staatsformen und ihrer Abfolge ist zugleich eine Lehre über unterschiedliche menschliche Charaktere und deren Abhängigkeit vom kulturellen und insbesondere soziopolitischen Kontext.
⁶¹ Platon, Politeia VIII. ⁶² Platon, Politeia d–e.
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Bedingungen von Zivilisation, Kultur und Sozialität Kultur ist nicht nur etwas, das den Menschen prägt, sie zeichnet ihn auch gegenüber anderen Lebewesen aus. Im Kulturentstehungsmythos, den Platon im Dialog Protagoras der gleichnamigen Dialogfigur in den Mund legt, wird der Mensch sogar als ein Mängelwesen begriffen, das wegen seiner natürlichen Schwäche zum Aussterben verurteilt scheint und seine Benachteiligung gegenüber den Tieren nur durch spezifische Kulturleistungen zu kompensieren vermag.⁶³ Der Mythos spielt zu einer Zeit, zu der zwar schon die unsterblichen Götter, nicht aber die sterblichen Lebewesen existieren. Deren Entstehung allerdings ist vom Schicksal vorbestimmt: Die Götter sind gehalten, verschiedene Arten von Lebewesen hervorzubringen, von denen einige vernunfähig, die übrigen vernunlos sein sollen. Die Vernunfähigkeit als artspezifisches Merkmal (differentia specifica) des Menschen stellt, so gesehen, keine zufällige Eigenscha (wie etwa die Lachfähigkeit) dar, sondern wird auf das Schicksal (heimarmenê) bzw. auf die Notwendigkeit (anankê) selbst zurückgehrt. Ebenfalls vom Schicksal vorgegeben ist die Weisung, dass alle Lebewesen als Spezies überlebensfähig sein sollen. Entsprechend versucht der Titan Epimetheus, an den – gemeinsam mit seinem Bruder Prometheus – die Gestaltung der Lebewesen von den Göttern delegiert wurde, die einzelnen Arten mit korrespondierenden Stärken und Schwächen zu versehen. Zu den natürlichen Vermögen (dynameis), die Epimetheus den jeweiligen Spezies zuweist, zählen zwar auch etwa die Fähigkeit zur Nahrungssuche und ein Schutz vor der Witterung, vor allem aber solche Kompetenzen, die es den Lebewesen erlauben sollen, im anstehenden struggle of life der wechselseitigen Vernichtung zu entgehen. Aufgrund der – von Protagoras mit Ironie inszenierten – unvorteilhaen Arbeitsverteilung zwischen dem unvorsichtigen Epimetheus (epi = nach/nachher, mêtis = Gedanke/Einsicht), der sich zuerst ans Werk macht, und dem vorausdenkenden Prometheus (pro = vor/voraus), der die Arbeit seines Bruders im nachhinein begutachtet, unterläu bei der Zuweisung der dynameis ein schwerwiegender Fehler: Epimetheus verteilt sämtliche natürlichen Ressourcen an die vernunlosen Lebewesen und versäumt es, auch nur irgendeine überlebenssichernde dynamis r den Menschen als der einzig vernunfähigen Spezies zurückzubehalten. Der Mensch erscheint so als das jüngste und zugleich als das signifikant benachteiligte Kind der Natur. Angesichts der Bedrohtheit der menschlichen Spezies bleibt Prometheus nur, deren natürliche Schwäche durch die unerlaubte Zuteilung ⁶³ Platon, Protagoras c–d.
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göttlicher Fähigkeiten auszugleichen: Er stiehlt – wie der Mythos unter Rückgriff auf die attische Tragödie aushrt – den Göttern Hephaistos und Athena das Feuer und technisch-handwerkliche Fähigkeiten (dêmiourgikê technê), und schenkt diese der menschlichen Spezies. Dank dieser Gabe wird der Mensch in die Lage versetzt, Kulturleistungen wie Ackerbau und Architektur, aber auch Religion und Sprache zu entwickeln. Doch ist damit das Überleben des Menschen noch keineswegs gesichert. Zwar tragen die technischen Kulturfähigkeiten zur Kompensation der natürlichen Benachteiligung des Menschen bei, doch sind sie hierr nicht hinreichend, da sie keine Ermöglichungsbedingung menschlicher Sozialität darstellen, den Menschen also nicht befähigen, in Gemeinscha zu leben. Ohne soziale Kulturfähigkeiten wie Scham (aidôs) und Recht (dikê) müssten die Menschen demnach vereinzelt leben,– mit der Konsequenz, dass sie im Kampf (polemos) mit den Tieren üher oder später zugrunde gehen würden. Hinzukommen muss also eine zweite göttliche Gabe: Der Göttervater Zeus macht den Menschen aus Mitleid Scham- und Rechtsempfinden (aidôs und dikê) zum Geschenk, so dass diese nun auch über die sozialen Kompetenzen vergen, die r die Herausbildung einer Polis-Gemeinscha unverzichtbar sind. Erst nachdem der Mensch durch den titanischen Diebstahl in den Besitz der technischen und durch das göttliche Geschenk in den Besitz der sozialen Kulturfähigkeiten gelangt ist, kann seine natürliche Schwäche als überwunden und seine Überlebensfähigkeit als gegeben betrachtet werden. Protagoras schließt den Mythos mit der Bemerkung, dass zwar die technischen Kulturfähigkeiten in ungleicher Weise auf die einzelnen Menschen verteilt, die sozialen Kulturfähigkeiten hingegen jedem Menschen zuteil geworden seien. Sollte doch ein Mensch über keinerlei aidôs und dikê vergen, so sei er als eine »Krankheit der Polis«⁶⁴ (d.h. des Stadtstaates) zu betrachten und entsprechend zu behandeln. Mit diesem Mythos, dessen Inhalt, so lässt Platon Protagoras behaupten, auch in argumentativer Rede dargestellt werden könnte, ho Protagoras gezeigt zu haben, dass die Tugend (aretê) – aufgrund der Befähigung aller Menschen r aidôs und dikê – lehrbar und seine eigene Profession als Tugendlehrer entsprechend legitimiert sei. Der Protagoras-Mythos bietet den ersten philosophiehistorisch nachweisbaren Entwurf einer anthropologischen Kompensationstheorie der Kultur, wie sie im . Jahrhundert insbesondere von Arnold Gehlen – mit Bezug auf einschlägige Aushrungen bei Herder – vertreten worden ist.⁶⁵ ⁶⁴ Platon, Protagoras d. ⁶⁵ Vgl. Gehlen , –.
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Unsterblichkeit der Seele Bisher haben wir uns mit der theoretischen und der praktischen Dimension des Menschen beschäigt. Nachdem wir zu Beginn die platonische Seelenkonzeption näher betrachtet hatten, agten wir nach der Erkenntnisfähigkeit des Menschen, nach seinen praktischen Aufgaben und schließlich nach der Rolle von Erziehung, Politik und Kultur. Abschließend wenden wir uns der religiösen Dimension des Menschen zu. Die Frage, ob es nach Platon ein Leben nach dem Tod gibt, steht dabei im Zentrum. In zahlreichen Dialogen, insbesondere im Dialog Phaidon, finden wir aushrliche Stellungsnahmen zum Tod des Menschen und zur Unsterblichkeit der Seele. Der platonische Sokrates versucht durch mythische Erzählungen und philosophische Argumentationen seinen Gesprächspartnern glaubha zu machen, dass die Seele unsterblich ist und die Trennung vom Körper überlebt. Nach Platon ist das Sterben ein sich Trennen von Seele und Körper und der Tod folglich nichts anderes als das Getrenntsein beider voneinander.⁶⁶ Die Seele begrei er dabei als das Bewegungs- und Lebensprinzip schlechthin. Sie ist die sich selbst bewegende Ursache jedweder Bewegung.⁶⁷ Was sich aber von selbst bewegt, verändert und entwickelt, das ist auch lebendig. Die Seele, verstanden als Lebensprinzip, ist also r Platon gewissermaßen per definitionem lebendig. Wird ein beseeltes Lebewesen vom Tod heimgesucht, so weicht die Seele aus dem Körper, doch im Unterschied zum Körper, der sich in seine Einzelteile auflöst, kann sie aufgrund ihrer Unkörperlichkeit und Einfachheit bzw. Einrmigkeit (monoeides) nicht zerfallen und folglich nicht vergehen. Etwas, das keine Ausdehnung und also keine räumlichen Teile hat, kann weder in seine Teile zerfallen noch sich kontinuierlich auflösen. Ein weiteres Argument r die Unsterblichkeit der Seele basiert auf einer Überlegung des Vorsokratikers Empedokles. Dieser behauptete im Rahmen seiner Wahrnehmungstheorie, dass das Wahrnehmende und das Wahrnehmbare immer gleichartig seien und zueinander passen würden. Platon überträgt diesen Gedanken auf seine Erkenntnistheorie und folgert, die erkennende Seele sei unsterblich, da auch das Erkennbare – die Ideen – einfach, unveränderlich und ewig sei.⁶⁸ Im Dialog Phaidon hrt Sokrates r die Lehre von der Wiedergeburt der Seele ein induktives Argument an: Im Bereich des Wahrnehmbaren beobachtet man Ver⁶⁶ Platon, Phaidon c. ⁶⁷ Platon, Phaidros c–a. ⁶⁸ Platon, Phaidon b–e. Vgl. Kalogerakos .
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änderungen in jeweils zwei Richtungen.⁶⁹ So gäbe es zum Prozess des Größerwerdens auch einen des Kleinerwerdens und zum Vorgang des Einschlafens auch die reziproke Dynamik des Aufwachens. Gäbe es jeweils nur Veränderungen in einer Richtung, so wäre nach geraumer Zeit der anaxagoreische Zustand einer völligen Homogenität und Statik des Seienden (homou panta chrêmata) realisiert und es gäbe weder Diversität noch Veränderung. Plötzlich gäbe es nur noch tote Menschen, keine lebenden mehr. Die natürliche Dynamik wird jedoch nie enden, da sowohl ein Aufhören der Zeit als auch eine Zeit ohne Bewegung undenkbar sind. Entsprechend muss es zum menschlichen Vergehensprozess einen korrespondierenden Entstehungsprozess geben. In jeder Veränderung gibt es jedoch etwas Gleichbleibendes: Wenn sich eine Person verändert, so verändert sich etwas an der Person; die Person selbst bleibt dabei dieselbe. Lässt man sich auf die Analogie ein, so muss es auch beim Sterbeprozess etwas geben, an dem sich die Veränderung vollzieht, das selbst aber gleich bleibt. Dieses Gleichbleibende sei die Seele, meint Sokrates. Sie wandere vom Diesseits ins Jenseits und kehre anschließend wieder ins Diesseits zurück. Die Gesprächspartner von Sokrates zeigen sich angesichts solcher Argumente allerdings unzuieden, denn r sie ist die Seele nicht mehr als ein Produkt, das durch eine optimale Mischung körperlicher Säe und aufgrund einer günstigen und hinreichend komplexen Anordnung körperlicher Bestandteile entsteht. Da beim Tod eines Menschen dessen Körper zugrunde gehe, werde also auch die Seele – als ein Produkt körperlicher Ordnung – nicht mehr existieren. Ebenso wie der harmonische Klang eines Instruments nicht ohne dieses existieren kann, so kann auch die Seele nicht ohne Körper existieren. Sokrates wendet dagegen ein, diese Ansicht könne nicht erklären, wie die Seele den Körper bewegt, wenn sie ja selbst nur ein Produkt des Körperlichen sei. Dass wir mit unseren Gedanken und Absichten unseren Körper bewegen, sei doch aber nicht zu leugnen.⁷⁰ Schließlich grei Sokrates zur Verteidigung der Unsterblichkeit der Seele auf die r die platonische Philosophie zentrale Lehre der Wiedererinnerung (anamnêsis) zurück:⁷¹ Die Erfahrung zeige, dass es möglich sei, allein durch gezieltes Fragen – etwa über geometrische Sachverhalte (wie im Dialog Menon) – die Beagten zu richtigen Antworten zu hren. Dies lasse vermuten, dass gewisse Kompetenzen und ein bestimmter Fundus an Wissen bereits mit der Geburt latent vorhanden sind und wir ⁶⁹ Platon, Phaidon c–d. ⁷⁰ Platon, Phaidon b–a. ⁷¹ Vgl. Ebert .
Erkenne dich selbst. Der Mensch bei Platon
Menschen uns nur wieder daran erinnern müssen. Nach der Anamnesislehre bedeutet Lernen und Erkennen nichts anderes als sich an bereits Gewusstes zu erinnern.⁷² Der Mensch besitzt nach Platon also bereits mit der Geburt unerlerntes apriorisches Wissen. Was im Dialog Menon anhand eines geometrischen Beispiels exemplifiziert wird,⁷³ versucht Sokrates im Phaidon durch ein transzendentales Argument zu beweisen:⁷⁴ Obwohl wir noch nie zwei exakt identische Gegenstände gesehen hätten, noch solche je sehen könnten, würden wir doch über eine Idee von vollkommener Identität vergen. Diese Vorstellung diene uns als Vergleichsfolie, etwa wenn wir von zwei Objekten behaupten, sie seien nicht identisch, sondern bloß ähnlich. Neben dem Verständnis basaler logischer Begriffe scheint, wie der Dialog Menon zeigt, auch ein arithmetisches oder geometrisches Wissen im Menschen angelegt zu sein, da gänzlich Unkundige in Sachen Mathematik o in der Lage seien, mathematische Probleme selbst zu lösen. Da dieses Wissen bereits bei der Geburt in unserer Seele vorhanden war, müsse es vor der Geburt angeeignet worden sein. Die Seele habe also schon vor unserer Geburt existiert, also bevor sie inkorporiert wurde. Die Seele, verstanden als ein ideenartiges und einfaches Lebensprinzip, könne daher auch ohne Körper existieren. Weder hat unsere Seele erst mit unserer Geburt angefangen zu existieren, noch geht sie mit unserem Tod zugrunde. Der Tod wird also, so etwa im Dialog Phaidon, keineswegs als ein Übel verstanden, sondern vielmehr als eine Beeiung der Seele von dem sie gefangen haltenden Körper. Platon entlehnt zur Verdeutlichung ein pythagoreisches Wortspiel, das den Körper (sôma) mit einem Kerker (sêma) der Seele vergleicht. Die Seele wird durch die körperbedingten Begierden und Wahrnehmungen am reinen Denken gehindert. Allein das reine Denken aber hat – wie das Liniengleichnis verdeutlicht – Zugang zur Wirklichkeit der Ideen. Die Aufgabe der Philosophie ist es, das Denken von Sinnlichem zu beeien und die Seele von der Schlacke des Körperlichen zu reinigen. Ein philosophisches Leben dient somit als Vorbereitung auf den Tod, der als vollständige Trennung und Beeiung der Seele vom Körper verstanden wird. In diesem Zustand zeigt sich das Göttlicheund rein Vernünige (logistikon) der ⁷² Mit dieser Auffassung stellt sich Platon gegen die provokante, eristische ese der Sophisten, dass man unmöglich Wissen erwerben könne. Wer etwas wissen möchte, suche nach einer Antwort auf eine Frage. Wer die Antwort nicht bereits wisse, wisse aber weder, wonach er suchen soll, noch, wann er es gefunden hat. Wer die Antwort aber bereits weiß, brauche nicht danach zu suchen (Menon d–e). ⁷³ Platon, Menon d–b. ⁷⁴ Platon, Phaidon e–a.
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menschlichen Seele: Die Philosophie, die Liebe zur Weisheit, hil dem Menschen, ein vernüniges und göttliches Leben zu hren und mit Gott ähnlich zu werden (homoiôsis theôi). Platon versteht die Verähnlichung mit Gott als Wiederherstellung der ursprünglichen, rein geistigen und göttlichen Natur des Menschen.⁷⁵ Wahre Philosophie ist r ihn immer auch eine Selbstfindung, eine reinigende (katharsis), therapeutische Sorge um die Seele (epimeleia tês psychês). Aufgabe einer philosophischen Erziehung ist es, die göttlichen Anlagen der menschlichen Seele zu entfalten und zum Vorschein zu bringen. Die Philosophie beeie den Menschen von der Furcht vor dem Tod und lehre ihn zu sterben.⁷⁶ Nach dem Tod wandere die durch Philosophie gereinigte Geistseele, also der vernünige Teil der Seele, in Begleitung ihres selbstgewählten schicksalhaen Dämons zu göttlichen Orten – zumindest tue es gut, dies zu glauben und auf den Mythos als »schönes Wagnis«⁷⁷ des Glaubens zu vertrauen, meint Sokrates. Letztlich müsse das aber jeder mit sich selbst ausmachen.
Literatur Quellen Platon. Opera. Hrsg. von John Burnet. Bde. Oxford –. —— Werke. Hrsg. von Gunther Eigler. Übers. von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Darmstadt –.
Hinweise zur weiteren Lektüre van Ackeren, Marcel, Hrsg. (). Platon verstehen. emen und Perspektiven. Darmstadt. Böhme, Gernot (). Der Typ Sokrates. Frankfurt a. M. Bordt, Michael (). Platon. Freiburg. Erler, Michael (). Platon. München. Gaiser, Konrad, Hrsg. (). Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis. Hildesheim. Görgemanns, Herwig (). Platon. Heidelberg. Heitsch, Ernst (). Wege zu Platon. Beiträge zum Verständnis seines Argumentierens. Göttingen. Kraut, Richard, Hrsg. (). e Cambridge Companion to Plato. Cambridge. Press, Gerald A., Hrsg. (). Plato’s dialogues. New Studies and Interpretations. Lanham. Schäfer, Christian, Hrsg. (). Platon-Lexikon. Begriffswörterbuch zu Platon und der platonischen Tradition. Darmstadt. ⁷⁵ Platon, Timaios c–d. ⁷⁶ Platon, Phaidon a. ⁷⁷ Platon, Phaidon d.
Erkenne dich selbst. Der Mensch bei Platon
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Ludger Jansen
Vernünftiger Rede fähig. Das Menschenbild des Aristoteles Eine Abhandlung »Über den Menschen« findet sich weder in dem uns überlieferten Korpus der Schrien des Aristoteles noch in dem bei Diogenes Laërtius überlieferten Verzeichnis seiner Schrien.¹ Das heißt aber nicht, dass Aristoteles sich nicht über den Menschen geäußert hätte oder dass die Lektüre seiner Schrien anthropologisch unergiebig wäre. Im Gegenteil: In vielen seiner Werke steht der Mensch sogar im Mittelpunkt. Seine Schri Über die Seele (De anima) etwa kulminiert in der Diskussion der Besonderheiten der menschlichen Seele,² die Ethiken handeln vom menschlichen Glück und dem r den Menschen Guten (dem anthrôpinon agathon), die »Politik« untersucht das menschliche Gemeinwesen (Tierstaaten kommen nur einmal als Kontrast vor³) und die »Poetik« behandelt menschliches Dichten und dessen Wirken auf Menschen. Lässt man einen Computer das Corpus Aristotelicum durchsuchen, findet dieser Vorkommnisse der Wurzel anthrôp- (»mensch-«).⁴ Es kann daher keine Rede davon sein, dass Aristoteles nichts über den Menschen geschrieben hat. Aristoteles hat also kein spezielles Werk über den Menschen als Menschen geschrieben, sondern seine Ansichten über ihn in ganz verschiedenen Werken unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten entwickelt. Diese Werke gehören zu ganz unterschiedlichen Sachgebieten, ganz unterschiedlichen »Pragmatien«, wie Aristoteles gesagt hätte.⁵ Sie gehören zur Logik (logikê), zur Metaphysik (prôtê philosophia), zur Naturkunde (physikê), zur Anwendungswissenscha (technê) oder zum Bereich von Ethik und Politik (êthikê,politikê). ¹ Vgl. DL V –. ² Auf der anderen Seite beklagt Aristoteles freilich die Engführung der Untersuchung auf die menschliche Seele bei seinen Vorgängern; vgl. An. I , b –. ³ Pol. I , a . ⁴ Suche durchgeführt mit dem digitalisierten esaurus Linguae Gracae (TLG), Version .. ⁵ Das Insistieren des Aristoteles auf die Vielzahl und Verschiedenheit der wissenschaftlichen Disziplinen (seine »Pragmatientrennung«) wird auch als eine Gegenbewegung zu einer platonischen Einheitsphilosophie verstanden; vgl. Krämer , und Bien , , jeweils s.v. »Pragmatientrennung«, sowie Maier , –.
Ludger Jansen (). »Vernünftiger Rede fähig. Das Menschenbild des Aristoteles«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
Vernünftiger Rede fähig. Das Menschenbild des Aristoteles
Nun unterscheiden sich Pragmatien r Aristoteles nicht nur hinsichtlich der Dinge, von denen sie handeln, sondern auch in Bezug auf die Betrachtungshinsicht, unter der sie diese Dinge untersuchen: Der Metaphysik etwa geht es um die Dinge, insofern sie etwas Seiendes sind, die Mathematik untersucht sie, insofern sie gezählt werden können, und die Physik behandelt die Dinge, insofern sie sich und anderes bewegen und verändern.⁶ Die unterschiedlichen Gegenstände und Betrachtungshinsichten bringen es mit sich, dass man die Aussagen der verschiedenen Pragmatien hinsichtlich ihrer Modalität unterscheiden kann: Sind sie notwendig oder wahrscheinlich, gelten sie immer oder nur zumeist und in der Regel? Pragmatien unterscheiden sich auch hinsichtlich der in ihnen angewandten Methode: Wird eher begriffsanalytisch vorgegangen oder eher naturerklärend (logikôs oder physikôs)? Verfährt die Pragmatie eher beweisend (wie die Logik) oder eher widerlegend (wie die Metaphysik)?⁷ Pragmatien unterscheiden sich hinsichtlich der Ausgangspunkte: Setzen sie die Ergebnisse anderer Wissenschaen bereits voraus (wie die Harmonielehre die Ergebnisse der Arithmetik)? Berufen sich die Pragmatien auf Beobachtungen, auf endoxa, also allgemein r wahrgehaltenen Meinungen (wie der Rhetoriker), oder machen sie gar keine vorgängigen Annahmen (wie die Metaphysik)?⁸ Nicht zuletzt unterscheiden sich Pragmatien hinsichtlich ihrer Genauigkeit: Sind ihre Aussagen und Argumentationen mit »Akribie« (akribeia) bis auf das kleinste Detail hin ausgefeilt und wasserdicht, wie das in der Geometrie möglich und auch vor Euklid schon üblich war, oder behandeln sie ihr Gebiet nur »im Umriss« (typôi), wie es in der Ethik und Politik angemessen ist, weil diese es mit dem Gebiet kontingenten menschlichen Handelns zu tun haben?⁹ Bei so vielen Unterschieden zwischen den Pragmatien stellt sich die Frage auf, ob man die Aussagen über den Menschen in den einzelnen Pragmatien überhaupt sinnvoll zusammenhren kann. Ich will im Folgenden zeigen, dass sie als Beiträge zu einem kohärenten Gesamtbild vom Menschen verstanden werden können.
Ausgangspunkt: Logik Einer der wichtigsten Beiträge des Aristoteles zur Beantwortung der Frage »Was ist der Mensch?« ist, dass er eine Analyse der Struktur dieser Frage nach dem Menschen vorgelegt hat. Aristoteles unterscheidet verschiedene Typen von Aussageweisen, denen ⁶ ⁷ ⁸ ⁹
Vgl. Met. IV . Vgl. Met. IV . Vgl. besonders das Vorgehen des Aristoteles in Met. IV. Vgl. NE I , b – und Met. II , a –; vgl. dazu auch Kurz .
Ludger Jansen
entsprechende Typen von Fragen entsprechen:¹⁰ Beispielsweise agt man mit »Wie beschaffen?« nach Qualitäten, mit »Wieviel?« nach Quantitäten, mit »Wo?« nach dem Ort und mit »Wann?« nach der Zeit. Die Frage »Was ist der Mensch?« ist eine Wasist-das-Frage, eine Frage nach dem, »was es ist« (ti esti), also eine Frage nach dem Wesen (der ousia) des Menschen: Es ist die Frage nach dem, was den Menschen als Menschen ausmacht und was er nicht verlieren kann, ohne aufzuhören zu existieren. Aristoteles hat aber nicht nur eine Analyse der Frage vorgelegt, sondern auch ein allgemeines Schema vorgeschlagen, wie auf eine solche Frage nach dem Wesen von etwas geantwortet werden kann. Wer danach geagt wird, was X sei (und nicht: wie groß oder wie beschaffen es sei etc.), der antwortet mit einer Erläuterung der Bedeutung des allgemeinen Terminus »X«. Dabei ist die Intention allerdings nicht, eine bloße sprachliche Konvention über die Verwendung dieses Ausdrucks »X« zu erläutern, sondern das darzustellen, was das X-Sein in seinem Wesen ausmacht. Eine solche Real-Definition (logos) formuliert man nach Aristoteles durch die Angabe von genus proximum und differentia specifica, also durch die Angabe einer X übergeordneten Gattung Y und der Angabe einer »spezifischen Differenz«, die ein X gegenüber allen anderen Y auszeichnet.¹¹ Aristoteles erläutert dieses Vorgehen beim Definieren in seinen logischen Schriften (die unter dem Titel Organon überliefert wurden) o am Beispiel des Menschen: Der Mensch sei ein zôion dipoun, ein zweißiges Lebewesen.¹² Dieses Beispiel entspricht genau dem schulmäßigen Schema: »Lebewesen« ist die übergeordnete Gattung, »zweißig« ist die spezifische Differenz. Die Formel »zweißiges Lebewesen« ist also als strukturerläuterndes Beispiel r eine Definition geeignet. Aber ist sie auch ernstgemeint? Meint Aristoteles wirklich, damit das Wesen des Menschen bestimmt zu haben? Wohl kaum. Diogenes Laërtius berichtet zwar, in Platons Akademie sei der Mensch einmal als »zweißiges Lebewesen ohne Federn« definiert worden. Daraufhin habe aber der Kyniker Diogenes von Sinope¹³ ein gerupes Huhn herbeigebracht, was die Definition eindeutig als zu weit und damit als unzureichend erwies, denn auch
¹⁰ Vgl. Cat. und Top. I ; vgl. dazu Jansen b. ¹¹ Vgl. z.B. Top. I, , b –. ¹² Vgl. APo I , a ; I , b ; II , a ; II , a , II , b ; Int. , a ; aber auch Met. IV , a , b .; VII , b .; a ; VII , a . ¹³ Die in DL VI überlieferte Anekdote, Diogenes habe am Tage mit Hilfe einer Laterne »einen Menschen« gesucht, zeugt vom anthropologischen Interesse des Diogenes.
Vernünftiger Rede fähig. Das Menschenbild des Aristoteles
ein gerupes Huhn ist ein federloser Zweißler.¹⁴ Die Unzulänglichkeit der kürzeren aristotelischen Formel ist noch augenfälliger, denn r ihre Widerlegung müsste das Huhn nicht einmal gerup werden, und ganz richtig klassifiziert Aristoteles in seinen biologischen Schrien sowohl den Menschen als auch die Vögel als Zweißer.¹⁵ Wir haben es hier also nicht mit einer ernstgemeinten anthropologischen Aussage, sondern mit einem logik-didaktischen Hilfsmittel zur Erläuterung der Struktur von Definitionen zu tun. Fernando Inciarte hat die »fast schon beleidigende Lässigkeit in der Bestimmung unserer Spezies« in dieser »Scheindefinition« dadurch zu erklären versucht, dass die Formel nur ein Platzhalter r das ansonsten vielleicht gänzlich unbekannte Wesen des Menschen sei, da es in der Metaphysik nicht auf empirische Adäquatheit ankomme.¹⁶ Das darf allerdings nicht den Blick darauf verstellen, dass Aristoteles an anderer Stelle durchaus ernstgemeinte anthropologische Formeln anhrt, und auch handfeste Schlüsse aus ihnen zieht. Die Frage darf also gestellt werden, was Aristoteles nun wirklich r das Wesen des Menschen hält. Dar werden wir unseren Durchgang durch die verschiedenen Pragmatien nach der Logik mit der Psychologie fortsetzen, um dann einen Blick auf die Ethik, die Politik und die Biologie des Aristoteles zu werfen.
Psychologie: Die Seele des Menschen . Der Mensch im biologischen Kontinuum In seinem Werk Über die Seele (De anima) setzt Aristoteles sich nicht nur kritisch mit den Seelenauffassungen seiner Vorgänger und Zeitgenossen auseinander, sondern er wagt auch eine allgemeine Charakterisierung der Seele und beschreibt ihre verschiedenen Teile (merê) oder Vermögen (dynameis). Über die Seele etwas herauszufinden, ist dabei eilich nicht so einfach wie die Beschreibung der Anatomie des Körpers, denn die Seele ist nicht sichtbar. Aristoteles geht deswegen so vor: Er geht aus von einer ¹⁴ Vgl. DL VI . Für die Platoniker war dies ein Beitrag zum Fortschritt der Wissenschaft, führte dies doch nach dem Zeugnis des Diogenes Laërtius zur Verbesserung der Definition zu »nacktes, zweifüßiges Lebewesen mit breiten Nägeln«. In der Tat findet sich ein entsprechender Eintrag in den pseudo-platonischen Definitionen (Horoi a): »Mensch: ein unbefiedertes, zweifüßiges, breitnägeliges lebendiges Wesen, welches allein der begrifflichen Erkenntnis der Dinge fähig ist.« ¹⁵ Vgl. z.B. IA , a –. ¹⁶ Inciarte , –.
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zu beobachtenden Tätigkeit (ergon) des Lebewesens und schließt dann darauf, welche seelischen Vermögen diese Lebewesens haben muss, damit ihm eine solche Tätigkeit möglich ist. Die Tätigkeiten werden wiederum durch ihren Gegenstand unterschieden: Hören unterscheidet sich von Sehen dadurch, dass wir es einmal mit Tönen und einmal mit Farben zu tun haben. Und da die erklärungsbedürigsten Tätigkeiten eines Lebewesens r Aristoteles Wahrnehmung oder Bewegung zu sein scheinen, ist seine Arbeitshypothese, dass die Seele Prinzip und Ursache von Wahrnehmung und Bewegung ist.¹⁷ Beseelt ist r Aristoteles alles, was lebt, beginnend mit den Pflanzen. Bei den Pflanzen stellt er Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung fest, bei den Tieren kommen Wahrnehmung und Fortbewegung hinzu.¹⁸ Dabei grei die Fortbewegung auf die Wahrnehmung zurück, denn ohne Wahrnehmung wüsste das sich zur Nahrungssuche fortbewegende Tier gar nicht, wann es Nahrung gefunden hat. Beim Menschen finden sich all diese Tätigkeiten und darüber hinaus die Tätigkeit des Denkens (theôrein, theôria). Tiere tun also mehr und anderes als Pflanzen, und Menschen wiederum mehr und anderes als die übrigen Tiere.¹⁹ In einer ersten Näherung ergibt sich daraus ein gradueller Aufbau der Natur, der später als »Treppe« oder »Leiter« der Natur (als scala naturae) bezeichnet wurde, wobei diese »Treppe«, von unten beginnend, aus den »Stufen« Unbelebtes, Pflanzen, Tiere und Mensch bestehen und ihre Fortsetzung im Bereich des Göttlichen finden sollte.²⁰ Dieses gestue Bild der Natur entspricht aber nicht genau der Vorstellung des Aristoteles. Für Aristoteles gibt es in der Natur gerade keine wohldefinierten Stufen, sondern kontinuierliche Übergänge.²¹ Er stellt immer wieder die Existenz von Misch-, Vor- und Zwischenformen fest: Schweine sind teils Einhufer und teils Paarhufer, das Krokodil ist sowohl ein Land- als auch ein Wasserwesen, und ovovivipare Knorpelfische (z.B. Haie) bilden eine Mischform aus eierlegenden und lebendgebärenden Tieren, da sie zunächst »Eier in sich« legen, dann aber lebendige Junge gebären.²² ¹⁷ ¹⁸ ¹⁹ ²⁰
Vgl. An. I , b –. Vgl. An. II . Eine ausführliche Diskussion der Belegstellen findet sich bei Busche , –. Vgl. Wolters . Die Reihung der Naturwesen gilt nicht zuletzt deswegen als Treppe, weil der Mensch in ihrer Betrachtung zu Gott aufsteigen könne; Lovejoy , vgl. Index s.v. scala naturae. ²¹ Vgl. HA VIII , b ff; PA IV , a –. ²² Vgl. GA IV , b (Schweine); PA IV , b (Krokodil); GA II , b – und III , a – (Knorpelfische). Weitere Belege bei Clark , – und Dierauer , –.
Vernünftiger Rede fähig. Das Menschenbild des Aristoteles
Die Übergänge zwischen Pflanze und Tier und zwischen Tier und Mensch sind r ihn daher wesentlich fließender, als das grobe Treppen-Schema erwarten lässt. Muscheln etwa sind zwischen Tieren und Pflanzen anzusiedeln.²³ Und manchen Tierarten billigt Aristoteles schon eine gewisse Fähigkeit zur praktischen und planerischen Überlegung (dianoia) zu, die es Vögeln beispielsweise erlaubt, so kunstvoll ihre Nester zu errichten, die in Vollform aber erst dem Menschen zukommt.²⁴ Statt von einer Treppe kann man daher besser von einem »biologischen Kontinuum«²⁵ sprechen, in dem sich der Mensch r Aristoteles vorfindet. Wichtig ist, dass das biologische Kontinuum bei Aristoteles keineswegs als eine historische Abfolge gemeint ist:²⁶ Eine Höherentwicklung der Lebensformen vom Einfachen zum Komplexen (wie in der modernen Evolutionstheorie) ist r Aristoteles unmöglich; deswegen hat es r ihn immer schon Pflanzen, Tiere und Menschen gegeben.²⁷
. Seele als Form Aristoteles belässt es nicht dabei, die Unterschiede zwischen den seelischen Fähigkeiten der verschiedenen Arten von Lebewesen zu beschreiben, er schlägt auch eine allgemeine Charakterisierung der Seele vor. Die Seele sei die Wesensform (das eidos) eines Lebewesens.²⁸ So, wie eine Menge Ton durch eine bestimmte äußere Gestalt eine Vase ist, so ist ein Körper deswegen ein Lebewesen, weil in ihm eine Seele ist. Nun ist aber, so Aristoteles weiter, eine solche Form oder Gestalt eine Vollendung des Geformten oder Gestalteten,²⁹ und somit ist die Seele »die erste Vollendung ei²³ Vgl. GA I , b . Zu Muscheln vgl. auch GA III , a –. ²⁴ Vgl. HA VIII , a ; IX , b ; vgl. IX . Zum Spektrum solcher »Ansätze und Vorstufen« und »Analoga menschlicher Möglichkeiten« bei den Tieren vgl. zusammenfassend Dierauer , . ²⁵ Clark , (»biological continuum«); vgl. auch Dierauer , (»allmähliche, kontinuierliche Übergänge«). Zum Teil wird in der Literatur Kontinuum und Treppe einfach gleichgesetzt; z.B. spricht Kullmann , unumwunden »von der kontinuierlichen Rangordnung der Natur, der später so genannten scala naturae«. ²⁶ So auch Landmann , und Edelstein , , : »Where Aristotle speaks of man as the highest and most perfect being, he envisages not a process that leads to the evolution of man, but rather an eternal gradation inherent in the work of Nature whose ultimate aim, at least on this earth, is mankind.« ²⁷ Vgl. Jansen a. Clark , Kap. II. argumentiert allerdings dafür, dass Aristoteles’ biologische Aussagen mit dem Modell eines devolutionary transformism vereinbar sind, einer vom Menschen ausgehenden Rückentwicklung zu den »niederen« Arten. ²⁸ Vgl. An. II , a –. ²⁹ Vgl. An. II , a .
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nes natürlichen Körpers, der dem Vermögen nach Leben hat.«³⁰ Ein solcher Körper ist aber ein »organischer« (organikon),³¹ so dass Aristoteles die Seele auch als »erste Vollendung eines organischen natürlichen Körpers« bestimmen kann.³² Aristoteles charakterisiert die Seele demzufolge als: • erste Verwirklichung, Vollendung oder, wie man auch sagt, erste Entelechie (entelecheia prôtê)… • …eines natürlichen Körpers (sôma physikon),… • …der dem Vermögen nach (dynamei) Leben hat… • …bzw. »organisch« (organikon), d.h. mit Organen ausgestattet, ist.³³ Um diese Charakterisierung zu verstehen, muss man wissen, was Aristoteles unter einer »ersten Entelechie« verstanden hat. Aristoteles erläutert dies am Beispiel eines Schülers. Dieser vergt zwar über das Vermögen, das Schreiben zu erlernen, anders als sein Lehrer aber noch nicht über die Schreibfähigkeit selbst. Der Lehrer braucht, um zu schreiben, nur seine bereits vorhandene Fähigkeit zu aktualisieren, während der Schüler diese Fähigkeit allererst erwerben muss.³⁴ Da auf dem Weg zum Schreiben die Schreibfähigkeit ein entscheidender Zwischenschritt ist, nennt Aristoteles diese Fähigkeit eine »erste Verwirklichung« oder »erste Entelechie« (während man das Schreiben selbst später als »zweite Entelechie« bezeichnet hat). Es sind also drei Stufen, die Aristoteles unterscheidet: () der Schüler als Anfänger, der das Vermögen zum Erlernen des Schreibens hat, () der Schreibkundige, der die Schreibfähigkeit erworben hat und diese besitzt, auch wenn er gerade schlä und ³⁰ An. II , a – (hê psychê estin entelecheia hê prôtê sômatos physikou dynamei zôên echontos). ³¹ An. II , a –. ³² An. II , b – (entelecheia hê prôtê sômatos physikou organikou). ³³ Es ist nicht unumstritten, was Aristoteles unter einem »natürlichen« (physikon) und »organischen« (organikon) Körper verstanden hat. Die von mir dargestellte Standardinterpretation ist, dass organikon an dieser Stelle einfach »mit Organen (Werkzeugen) ausgestattet« bedeutet; der »natürliche Körper« wäre dann der Körper des Lebewesens. Abraham Bos verteidigt hingegen eine alternative Interpretation, derzufolge organikon »[der Seele] als Organ dienend« bedeutet; den »natürlichen Körper« identifiziert Bos mit dem Pneuma, der warmen Luft, vermittelst der die Seele auf den Körper des Lebewesens einwirke. Vgl. Bos ; eine Kurzfassung der esen auf Deutsch bietet Bos . ³⁴ Vgl. An. II , a -b .
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diese nicht einsetzt, und () der Schreiber, der seine erworbene Fähigkeit gerade auch ausübt, indem er schreibt. Entsprechend unterscheidet Aristoteles beim Lebewesen () den Körper des Lebewesens mit dem Vermögen zu leben (er ist dynamei lebendig), () die Seele, die die erste Entelechie des Körpers ist, und () die jeweilige Seelentätigkeit wie Wahrnehmung oder Bewegung, die die zweite Entelechie des Körpers darstellt. Die Seele verhält sich also in einer gewissen Hinsicht zum Körper, wie die Schreibfähigkeit eines Gebildeten zum noch ungebildeten Schüler. Und so, wie ein Schreiber aufhört, ein Schreiber zu sein, wenn er die Schreibfähigkeit verliert, kann ein Lebewesen auch nicht den Verlust seiner Seele überleben. Aber während die Schreibfähigkeit vom Schüler in einem langwierigen und meist mühevollen Lernprozess erworben werden muss, wohnt die Seele, wie wir bei der Auseinandersetzung mit der Biologie des Aristoteles noch sehen werden, dem Körper von Beginn an inne, und sie ist es gerade, die ihn erscha.
. Körper und Seele Die beiden Hauptgebiete seelischer Tätigkeiten und damit auch seelischer Fähigkeiten sind r Aristoteles Wahrnehmung und Bewegung der Lebewesen. In der Regel ist ein seelisches Vermögen auf ein passendes körperliches Organ oder »Werkzeug« (organon) angewiesen. Das Sehvermögen kann nichts bewirken ohne Augen, das Hörvermögen nichts ohne Ohren, das Vermögen zur Fortbewegung ist auf Beine oder andere Gliedmaßen angewiesen, und das Vermögen zur Fortpflanzung vermag nichts ohne Geschlechtsorgane. Es ist aber nicht nur so, dass diese Seelenvermögen ohne diese Körperteile nicht aktiv werden können. Vielmehr können entsprechende Seelenvermögen gar nicht in Körpern existieren, die die entsprechende organische Ausstattung gar nicht besitzen. Auf dieser Grundlage kritisiert Aristoteles die Seelenwanderungslehre der Pythagoräer: Es könne gar nicht sein, dass die Seele eines Freundes in ein Schwein fahre, denn es würde gar nicht jeder Seelentyp zu jedem Körpertyp passen; eine solche Verwechslung komme schon deswegen nicht vor, weil die Seele den Organismus der passenden Art in der Ontogenese ja selbst hervorbringe und sie sich keineswegs einen ausgewachsenen Organismus als Träger aussuche.³⁵ ³⁵ Vgl. An. I , b –; II , a –. Vgl. die von DL VIII überlieferte Anekdote, nach der Pythagoras jemandem, der einen Hund schlug, zugerufen habe, er erkenne im Hund die Stimme eines verstorbenen Freundes.
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Die Regel ist also, dass es eine Entsprechung von Seelenvermögen und körperlicher Ausstattung gibt. Allerdings hält Aristoteles gewisse Ausnahmen zu dieser Regel r möglich. Die erste dieser Ausnahmen ergibt sich aus körperlichen Mangel- oder Verschleißerscheinungen. Wenn ein Mensch mit zunehmendem Alter schlechter sieht (oder gar von Geburt an blind ist), liegt dies r Aristoteles nicht an einer Verschlechterung der Seele, sondern an einer Verschlechterung des Körpers: Mit einem jungen Auge würde auch der Alte wieder klar sehen.³⁶ Die andere, viel diskutierte Ausnahme betri einen ganz speziellen Seelenteil, nämlich den nous des Menschen. Die Übersetzung dieser Bezeichnung macht notorische Schwierigkeiten, und es werden sowohl »Verstand« und »Vernun« als auch »Geist« vorgeschlagen.³⁷ Da die Wahl eines dieser möglichen Termini bei der Übersetzung noch nicht viel klären würde, womöglich aber unzulässige Assoziationen wachrufen würde, lasse ich den Ausdruck im Folgenden unübersetzt. Der Nous ist eine menschliche Sonderausstattung; es ist dasjenige, so Aristoteles, »womit die Seele nachdenkt (dianoein) und Annahmen macht (hypolambanein)«.³⁸ Er ist zuständig r das Denken (die theôria) und gemeinsam mit dem Strebevermögen r das Handeln (die praxis).³⁹ Damit ist er derjenige Seelenteil, der den Menschen von den übrigen Tieren unterscheidet. Innerhalb des Nous unterscheidet Aristoteles noch einmal zwischen dem passiven und dem aktivem Nous, denn zum Denken muss der Nous einerseits r die aus der Wahrnehmung entnommenen allgemeinen Schemata aufnahmefähig sein, andererseits muss er r das Subsumieren von Begriffen oder r das Ziehen von Schlüssen auch aktiv werden können.⁴⁰
Ethik: Was ist das für den Menschen Beste? . Die Seele in der Ethik Die Nikomachische Ethik, die umfangreichste Schri des Aristoteles zur Ethik, wendet sich an Polis-Bürger, denen es um die Gestaltung ihres Lebens und der Polis zu tun ist: Die Theorie des guten Lebens, die Aristoteles in diesem Werk entwir, wird von ³⁶ Vgl. An. I , a –. ³⁷ Zu den terminologischen Schwankungen in der Übersetzung zwischen »Vernunft« und »Verstand« von nous vgl. Schneiders . ³⁸ An. III , a . ³⁹ Für das Denken vgl. An. III –, für das Handeln vgl. An. III . ⁴⁰ Vgl. An. III .
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ihm in den Kontext der politischen Wissenscha eingeordnet und auf die Lenkung des Staates hin ausgerichtet.⁴¹ Explizit sagt Aristoteles, dass auch der Politiker ein Grundwissen über die Seele haben muss.⁴² Aristoteles bedient sich in der Ethik und der Politik aber eines drastisch vereinfachten Seelenmodells. Anders als in De anima unterscheidet Aristoteles nämlich nur einen rationalen und einen irrationalen Seelenteil. Dar gibt es didaktische und sachliche Gründe. Der didaktische Grund ist, dass er sich in dieser Schri, wie gesagt, nicht an Mit-Philosophen wendet, sondern an eher praktisch orientierte Polis-Bürger. Sachlich ist eine solche Vereinfachung legitim, weil es – anders als in De anima – in der Ethik erstens allein um den Menschen und sein Bestes geht, und zweitens vor allem um das Handeln und nicht um die ganze Breite der seelischen Tätigkeiten.
. Die spezifische Tätigkeit des Menschen Die Leitage der Nikomachischen Ethik ist, was das »Gute r den Menschen« (agathon anthrôpinon) ist, also die Frage, was das Beste ist, das der Mensch in seinem Leben erreichen kann. Eine Antwort auf diese Frage erho sich Aristoteles in der Nikomachischen Ethik von der Bestimmung der »eigentümlichen Tätigkeit« oder der »Funktion« (ergon) des Menschen: Nun wird das vielleicht geschehen können, wenn man die Funktion (ergon) des Menschen erfasst. Wie man nämlich annimmt, dass für den Flötenspieler, den Bildhauer und jeden Fachmann in einem Herstellungswissen, allgemein für jeden, der eine bestimmte Funktion und Tätigkeit (praxis) hat, »gut« (agathos) und »auf gute Weise« (eu) in der Funktion liegt, so sollte man wirklich annehmen, dass das wohl auch für den Menschen zutrifft, wenn er wirklich eine bestimmte Funktion hat. Sollten also wirklich der Schreiner und der Schuster bestimmte Funktionen und Tätigkeiten haben, der Mensch hingegen keine, sondern von Natur aus ohne Funktion sein? Oder kann man, ebenso wie offensichtlich das Auge, die Hand, der Fuß, allgemein jeder Körperteil eine bestimmte Funktion besitzt, so auch für den Menschen eine bestimmte Funktion neben all diesen Funktionen ansetzen?⁴³
Weil Aristoteles hier nach der spezifischen Tätigkeit oder Funktion des Menschen agt, nach seinem ergon, nennt man das Argument, das er an dieser Stelle vorbringt, auch das »Ergon-Argument«. Es besteht aus zwei Stufen: In der ersten, gerade zi⁴¹ Vgl. NE I , a –. ⁴² Vgl. NE I , a –. ⁴³ NE I , b – (Übers. Wolf ).
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tierten Stufe zeigt Aristoteles, dass der Mensch eine spezifische Tätigkeit hat, in der zweiten Stufe zeigt er, worin diese Tätigkeit besteht. Zunächst scheint das Ergon-Argument in seiner ersten Stufe lediglich einem Analogieargument gleichzukommen, wie es in platonischen Dialogen häufig anzutreffen ist.⁴⁴ Das Argument hätte dann die Form: »Der Beruf x hat eine eigene Funktion, der Körperteil y hat eine eigene Funktion, also hat auch z (etwa: der Mensch) eine eigene Funktion.« In dieser Rekonstruktion handelt es sich ganz klar um ein ungültiges Argument, das kaum Beweiskra entfaltet, da zwischen den Subjekten der Prämissen x und y und dem Subjekt der Konklusion z überhaupt kein Zusammenhang zu bestehen scheint.⁴⁵ Dementsprechend wird seiner Konklusion regelmäßig widersprochen.⁴⁶ Allerdings unterschlägt eine solche Rekonstruktion, dass es zwischen den zustimmungsheischenden Beispielen (den Berufen und den Körperteilen) und dem Menschen, um dessen Funktion es ja geht, wichtige Beziehungen gibt: Bei den angehrten Beispielen handelt es sich ja um Berufe des Menschen und Körperteile des Menschen, so dass durchaus ein systematischer Zusammenhang zwischen den Prämissen und der Konklusion besteht. Und man wird dem Argument nur gerecht, wenn man genau diese Beziehungen berücksichtigt. Wenn nun Menschen funktional differenziert eine Vielzahl von Berufen (und anderen Rollen) ausüben können und, so wird man ergänzen können, diese Berufe und ihre Funktionen doch um des Menschen willen existieren, dann scheint dies nur Sinn zu ergeben, wenn die Funktionen der Berufe je einen Beitrag zur Funktion des Menschen leisten. Ganz entsprechendes gilt r den Organismus: Den vielen Organen des Menschen kann jeweils eine Funktion r den Gesamtorganismus zugeschrieben werden. Ein System aus Funktionsträgern muss aber selbst eine Funktion haben. Ein Beitrag wozu würden die Teilfunktionen
⁴⁴ Vgl. z.B. Platon, Euth. a–c. Aristoteles selbst nennt diese Form des Argumentierens eine »Heranführung« (epagôgê) und führt das Verfahren auf Sokrates zurück (epaktikos logos; Met. XIII , b –). ⁴⁵ Vgl. Broadie , , die feststellt, als »an inductive argument or an argument by analogy« wäre das Argument »dismally weak«, um Aristoteles dann aber beizuspringen: »But the thought is not so foolish.« Die im Folgenden vorgetragene Rekonstruktion ist von Broadie inspiriert. ⁴⁶ Vgl. z.B. Searle , = Searle , : Funktionen gibt es »von Polizisten und Professoren«, aber es gibt »keine Funktion von Menschen als solchen – wenn wir Menschen nicht als Teil eines größeren Systems ansehen, wo es zum Beispiel ihre Funktion ist, Gott zu dienen«.
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sonst sein? Also muss auch das Lebewesen selbst – der Mensch – funktional bestimmt werden können. Doch was ist die Funktion des Menschen? Diese zu bestimmen ist die Aufgabe des zweiten Schritts des Ergon-Arguments, das man als das »Differenzargument« bezeichnen könnte. Dem Differenzargument scheint zunächst die Idee zugrundezuliegen, dass dasjenige das ergon des Menschen ist, was ihm eigentümlich (idion) ist, was er nicht mit anderen Arten teilt. Seine spezifische Tätigkeit kann daher nicht Ernährung und Wachstum sein, denn das teilt er sogar mit den Pflanzen; auch die Wahrnehmung scheidet aus, denn diese hat er mit den Tieren gemeinsam.⁴⁷ Übrig bleibt also »ein tätiges Leben« (praktikê) desjenigen Seelenvermögens, das über Vernun (logos) vergt.⁴⁸ Nun ergibt sich aber ein Problem: Das Denken ist r Aristoteles überhaupt kein proprium humanum, d.h. etwas, das dem Menschen eigentümlich ist und nur diesem zukommt. Denn r Aristoteles denken auch die Götter – unabhängig davon, ob diese nun mythologisch als die Olympier oder aristotelisch als unbewegte Beweger aufgefasst werden.⁴⁹ Für den Argumentationskontext der Nikomachischen Ethik stellt dies allerdings kein Problem dar. Denn gesucht ist nicht ein Proprium des Menschen, das nur ihn auszeichnet, sondern die wertvollste Tätigkeit, die er ausüben kann. Vor diesem Hintergrund ist die Göttlichkeit des Denkens gewissermaßen ein Garant r den hohen Wert dieser Tätigkeit. Gegen die »niedrigen« Seelentätigkeiten spricht also nicht so sehr, dass irgendwelche anderen Lebewesen diese auch ausüben, sondern dass »niedere« andere Lebewesen diese ausüben. Wenn eine Tätigkeit auch von »höheren« Wesen ausgeübt wird, nämlich den Göttern, dann tut dies der Hochwertigkeit dieser Tätigkeit keinen Abbruch, sondern ist vielmehr ein gutes Indiz r die Hochwertigkeit dieser Tätigkeit. Der Mensch ist r Aristoteles aber keinesweg ausschließlich ein denkendes Wesen. Ganz im Gegenteil behandelt der überwiegende Teil der Nikomachischen Ethik die Frage, wie denn die nicht-rationalen, emotionalen Seelenvermögen eines Menschen beschaffen sein müssen, um dem Menschen ein vernungemäßes und damit gutes Leben zu ermöglichen. Denn das Tun des Menschen kann nicht nur von der Vernun, ⁴⁷ NE I , b –a . ⁴⁸ NE I , a – (Übers. Wolf ). Vgl. auch HA I , b –: Wahrnehmung , Gefühl und Begierde teilt der Mensch mit den anderen Tieren; ihm allein von allen Tieren kommen aber Denken, Erinnerungsvermögen und bewusstes Wollen zu. Tiere »handeln« deshalb auch im strengen Sinne nicht (NE VI , a –). ⁴⁹ Vgl. Met. IV , Met. XII, NE X. Vgl. Dudley .
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sondern auch von seinen Emotionen beeinflusst werden, und die Vernun kommt nur zum Tragen, wenn ihr keine starken Emotionen entgegenstehen. Für ein gutes Leben benötigt der Mensch daher die richtigen Dispositionen r emotionale Reaktionen, die von Aristoteles als »Vorzüge« oder »Tugenden« (aretai) des Charakters bezeichnet werden. Eine solche Tugend, etwa die Tapferkeit, liegt r Aristoteles in der Mitte (mesotês) zweier Laster, nämlich Feigheit und Tollkühnheit, bei denen eine bestimmte Emotion zu viel oder zu wenig empfunden wird: Während der Feige zu schnell Angst bekommt, empfindet der Tollkühne zu wenig Angst; allein der Tapfere empfindet die Angst dann und nur dann, wenn sie angemessen ist, und zwar so, dass er ihr gegebenenfalls widerstehen kann.⁵⁰ Ein von Aristoteles selbst vorwegenommenes Problem besteht darin, dass ein funktionales System mehr als eine Funktion haben kann:⁵¹ Ein Messer ist zum Schneiden, ein Dosenöffner zum Dosen Öffnen, aber ein Schweizer Offiziersmesser kann beides.⁵² Da aber das Ziel des Aristoteles hier nicht ist, dem Menschen eine einzige Funktion zuzuschreiben, sondern vielmehr, zu bestimmen, was das Beste ist, das der Mensch in seinem Leben erreichen kann, ist es r ihn völlig legitim, die beste seiner vielen Funktionen herauszugreifen. Und das düre wiederum diejenige Funktion sein, die er mit den Göttern gemeinsam hat, und nicht jene Funktionen, die er mit Pflanzen oder Tieren teilt. Daran wird mehr als deutlich, dass Aristoteles im Ergon-Argument implizit bereits eine Werteskala bezüglich der miteinander verglichenen Arten voraussetzt.⁵³ Wenn dem so ist, dann geht er von sehr starken wertenden Prämissen aus, die heute viele Philosophen nicht teilen. Aber er begeht dann nicht, wie ihm häufig vorgeworfen wird, einen »naturalistischen Fehlschluss«, indem er ohne Umstände von der Beschreibung des Seins des Menschen auf ein Sollen schließen würde.⁵⁴ Vielmehr geht er von einer stark wertenden Prämisse aus.
⁵⁰ Zur Mesotes-Lehre vgl. NE II – und Wolf ; zur Tapferkeit vgl. NE III –, insbesondere III . ⁵¹ Vgl. NE I , a –. ⁵² Das Schweizer Offiziersmesser ist gewissermaßen das moderne Pendant zu dem von Aristoteles in Pol. I , b erwähnten »delphischen Messer«, das ebenfalls mehrere Funktionen erfüllen konnte. Um welche Funktionen es sich handelte, können wir nicht mehr rekonstruieren. ⁵³ Ähnlich diagnostiziert Szaif , einen »ontologisch-metaphysischen Wertbegriff, der in einer scala naturae Grade ontologischer Vollkommenheit abstuft«. ⁵⁴ Vgl. etwa Moore , .
Vernünftiger Rede fähig. Das Menschenbild des Aristoteles
Im betrachtenden Denken verwirklichen wir Menschen nach Aristoteles also »das Göttlichste in uns«,⁵⁵ und das »kontemplative« oder »betrachtende Leben« (bios theôrêtikos) ist r Aristoteles das eigentliche Ziel des menschlichen Daseins.⁵⁶ Aristoteles stellt sich Gott nun als den unbewegten Beweger der Himmelssphären vor, dem es vergönnt ist, unablässig zu denken.⁵⁷ Menschen, so stellt Aristoteles ganz richtig fest, können dies nicht. Der Mensch mag wie der Gott des Aristoteles ein denkendes Wesen sein, aber anders als ein Gott ist er ein abhängiges denkendes Wesen. Anders als der unbewegte Beweger vergt er über einen Körper, der Nahrung und Schutz benötigt, und anders als der immerwährende unbewegte Beweger ist der Mensch sterblich. Und während der unbewegte Beweger ganz auf sich allein gestellt existieren kann, bedarf der Mensch anderer Menschen. Zum einen bedarf er anderer Menschen in ontogenetischer Hinsicht, um gezeugt und geboren zu werden, zum anderen bedarf er anderer Menschen, um mit ihnen eine überlebensfähige Gemeinscha bilden zu können. Dieses Bedürfnis nach anderen hrt uns zur nächsten Schri: der Politik.
Politik: Der Mensch zwischen Tier und Gott Die Politik beginnt mit zwei Spitzenaussagen des Aristoteles: mit der staatsphilosopischen These von der Natürlichkeit des Staates (der polis) und der anthropologischen These, dass der Mensch von Natur aus in den Staat eingebettet, also ein staatsbezogenes Wesen (ein zôion politikon) sei. Aristoteles behauptet nichts weniger, als »daß der Staat zu den von Natur aus bestehenden Dingen gehört und der Mensch von Natur aus ein staatliches Wesen ist, und daß jemand, der von Natur aus und nicht bloß zufällig außerhalb des Staates lebt, entweder schlecht ist oder besser als ein Mensch […].«⁵⁸ Aristoteles erläutert diese These, indem er gewissermaßen eine »Entstehungsgeschichte« des Staates erzählt. Den Ausgang nimmt diese Erzählung bei den »ersten ⁵⁵ NE X , a ; vgl. b –. ⁵⁶ In diesem Punkt kann er an Philosophen wie Pythagoras und Anaxagoras anknüpfen; vgl. Aristoteles, Protr., Fragment B– Düring = –a Schneeweiß. ⁵⁷ Aristoteles entwickelt seine »eologie« vor allem in Met. XII. Zum Kontrast zwischen dem Leben der Götter und dem Leben der Menschen vgl. NE X –. ⁵⁸ Pol. I , a – (Übers. Rolfes). Für eine Zusammenstellung und Diskussion aller Belegstellen vgl. Kullmann ; zur Wirkungsgeschichte der Bestimmung des Menschen als zôion politikon vgl. Schmidinger .
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Gemeinschaen«⁵⁹ als den »kleinsten Teilen des Ganzen.«⁶⁰ Dazu zählt beim Staat zunächst die Geschlechtsgemeinscha zwischen Mann und Frau, die sich aus einem angeborenen Trieb heraus zusammenfinden, nämlich dem Trieb, Wesen zu zeugen, die ihnen gleichen.⁶¹ Aus dieser Gemeinscha entsteht dann zweitens die Gemeinscha zwischen Eltern und Kindern. Drittens aber, und r Aristoteles ebenso natürlich, ist die Gemeinscha von Herr und Sklave. Der Ursprung dieser Verbindung liegt r Aristoteles in der Ungleichverteilung der planerischen Intelligenz: Wer nicht über die Fähigkeit vergt, gut zu planen, der ist r Aristoteles ein »natürlicher Sklave«⁶² und bedarf der Ergänzung durch jemanden, dessen Planungsfähigkeit dieses Defizit kompensieren kann. Dies ist eilich keine zwingende Konklusion: Fähigkeitsdefizite legen die Kooperation mit solchen Menschen nahe, die diese Defizite kompensieren können, und die ungleiche Verteilung von Fähigkeiten lässt deswegen eine gesellschaliche Arbeitsteilung sinnvoll erscheinen. Aber diese Arbeitsteilung muss keineswegs die Form des antiken Rechtsinstituts der Sklaverei haben.⁶³ Hier lässt sich Aristoteles deutlich von der Rechtswirklichkeit seiner Zeit leiten, die er nur marginal kritisiert, nämlich hinsichtlich der Praxis, auch in Kriegsgefangenscha geratene Griechen zu versklaven, die aufgrund ihrer Intelligenz keineswegs »natürliche« Sklaven seien. Nun ist der Mensch nicht das einzige Lebewesen, das in Gemeinscha lebt, und manche Insekten werden sogar »staatenbildend« (politikon) genannt. Aristoteles kennt diesen Sprachgebrauch, hält den Menschen aber »mehr noch als jede Biene und jedes schwarm- oder herdenweise lebende Tier (agelaion)« in eminenter Weise r ein zôion politikon, denn es ist »einzig der Mensch unter allen animalischen Wesen mit der Sprache (logos) begabt.«⁶⁴ Tiere würden zwar über eine Stimme (phônê) vergen, mit der sie Lust und Unlust ausdrücken können,⁶⁵ aber Menschen vergen über die Sprache (den logos), in der sie sich über das Nützliche, Schädliche und Gerechte austauschen können:
⁵⁹ ⁶⁰ ⁶¹ ⁶² ⁶³ ⁶⁴
Pol. I , b (hai prôtai koinôniai). Pol. I , a – (elachista moria tou pantos). Pol. I , a – (toiouton). Pol. I , a –; vgl. auch Pol. I –. Zu diesem vgl. ausführlich Gigon und Klees ; zu Aristoteles vgl. insbes. –. Pol. I , a – (Übers. Rolfes). Vgl. dazu auch Pol. I , a ; HA I , b –a und IX , b . ⁶⁵ Vgl. Pol. I , a –; vgl. auch HA I , a -b .
Vernünftiger Rede fähig. Das Menschenbild des Aristoteles Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, daß sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat.⁶⁶
Einerseits ist der Mensch also ein mit logos begabtes Wesen, ein zôion logon echon, wobei logos ein notorisch vieldeutiger Ausdruck ist.⁶⁷ Im Lateinischen ist r diese anthropologische Kurzformel des Aristoteles die Übersetzung »animal rationale« üblich geworden,⁶⁸ im Deutschen nennt man den Menschen dementsprechend ein »vernunbegabtes Lebewesen«. Aber der Kontext in der Politik macht deutlich, dass dort mit logos zunächst nicht die Vernun gemeint ist, sondern die Sprache. Durch die Sprache vergen die Menschen dann aber auch über die Möglichkeit der rationalen Auseinandersetzung mit einer Sache und miteinander. Die üblichen Übersetzungen setzen also an die erste Stelle, was in der Politik nur durch die Sprache vermittelt ins Spiel kommt, nämlich die Vernun. Andererseits bestimmt Aristoteles den Menschen als ein zôion politikon, und wieder stellt sich die Frage nach einer angemessenen Übersetzung. Ist der Mensch nun ein »staatliches«,⁶⁹ ein »geselliges«,⁷⁰ ein »soziales«⁷¹, oder ein »politisches«⁷² Wesen? Aus dem Kontext in der Politik wird wiederum klar, dass es Aristoteles nicht um die Einbettung des Menschen in irgendwelche Gruppen oder Gemeinschaen geht, sondern dass es ihm um die Einbettung des Menschen in eine ganz bestimmte Gemeinscha geht, nämlich um die Einbettung des Menschen in die polis, den Staat im Unterschied zu Familie, Dorf oder Stamm.⁷³ Der Mensch ist r Aristoteles also ein von Natur aus auf die polis bezogenes Wesen, also auf den funktional differenzier⁶⁶ Pol. I , a –. ⁶⁷ Man denke etwa an die Probleme, die Goethes Faust (in Faust I, Z. –) mit der Übersetzung des Anfangs des Johannesevangeliums hat (»Im Anfang war der logos«). ⁶⁸ Zum Beispiel bei Seneca, Ep. ad Luc. , . ⁶⁹ So in Rolfes’ Übersetzung von Pol. I , a ; in a übersetzt er »Vereinswesen«. ⁷⁰ So beispielsweise Seidl , . ⁷¹ Barnes , zieht explizit die Übersetzung »sozial« der Übersetzung »politisch« vor. ⁷² So die Übersetzung von Suhsemihl. ⁷³ Vgl. Landmann , : »Der Mensch bildet Gemeinschaft, weil er sich nicht selbst genug ist: also muß die vollkommene Gemeinschaft sich selbst genug sein. Das sind aber die frühesten Gemeinschaften, Familie und Dorf, noch nicht, sondern das ist erst der Staat. Deshalb ist der Mensch genauer nicht nur ein gemeinschaftsbildendes, sondern speziell ein staatsbildendes und in Staaten lebendes Wesen, nicht nur ein koinônikon, sondern ein politikon zôion.«
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ten Zusammenschluss von eien und gleichen Bürgern zu einem Staat,⁷⁴ der um des Überlebens willen seinen Anfang nimmt, dann aber als Ermöglichungsgrund eines guten Lebens der Bürger fortexistiert.⁷⁵ Aristoteles bestimmt den Menschen in der Politik also als sprachbegabt und staatsorientiert. Diese beiden anthropologischen Kernaussagen stehen nun nicht unverbunden nebeneinander, sondern hängen eng miteinander zusammen.⁷⁶ Wie wir gesehen haben, kann nur ein zôion logon echon im höchsten Grad ein zôion politikon sein. Es ist der Diskurs über und das Teilen von Werten, die eine Polis überhaupt erst ermöglichen. Denn eine Polis ist, so der Anfangssatz der Politik, eine Gemeinscha, die um eines gemeinsamen Gutes besteht,⁷⁷ und die Polisbürger müssen immer wieder neu aushandeln, wie dieses gemeinsame Ziel zu bestimmen und zu verwirklichen ist.⁷⁸ Umgekehrt kann sich das zôion logon echon nur als zôion politikon voll entfalten; der autarke Staat ist Voraussetzung r das gute Leben (die eudaimonia) des sprachund damit vernunbegabten Menschen, denn nur die gesellschaliche Arbeitsteilung scha dem durch seinen Körper von äußeren Gütern abhängigen Menschen⁷⁹ genügend Freiraum r die theôria, die zweckeie wissenschaliche Kontemplation.⁸⁰
Der denkende Mensch in der Biologie des Aristoteles . Aufrecht gehen, aufrecht stehen: Die menschliche Anatomie Auch in seinen biologischen Schrien geht Aristoteles immer wieder auf den Menschen und seine Besonderheiten ein. Die Historia animalium beginnt sogar aus didaktischen Gründen mit der Darstellung der Anatomie des Menschen, denn man habe ⁷⁴ Vgl. die Übersetzungen von Schwarz (»staatsbezogen«) und Schütrumpf (»das zum staatlichen Verband gehört«). Gigon entscheidet sich für »staatenbildend«. ⁷⁵ Vgl. Pol. I , b –. ⁷⁶ Höffe , spricht von einer »eigentümliche[n] Dialektik, die sich bei genauerem Hinsehen zwischen den beiden Bestimmungen zeigt«. ⁷⁷ Pol. I , a –. ⁷⁸ Pol. III , b –. ⁷⁹ Vgl. NE X . ⁸⁰ Vgl. Aristoteles’ Erklärung in Met. I , b –, die Mathematik habe entstehen können, weil man den ägyptischen Priester »Muße erlaubt« und sie von den Sorgen um den Lebensunterhalt befreit habe. Ähnlich Höffe , –.
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mit der Untersuchung beim bekanntesten Lebewesen zu beginnen, und der Mensch sei dem Menschen nun einmal am vertrautesten.⁸¹ Aristoteles beschreibt nicht nur zahlreiche Körperteile des Menschen, sondern stellt auch viele Hinsichten heraus, in denen der Mensch sich von den übrigen Tieren – manchmal nur graduell – unterscheidet. Anders als der Nous, der nur durch das spekulative Denken erschlossen werden kann, lassen sich andere besondere Merkmale des Menschen bereits mit bloßem Auge erkennen: sein auechter Gang und der Besitz von Händen anstelle von Vorderbeinen und -ßen. Weiterhin stünden beim Menschen die Augen relativ zu ihrer Größe näher beisammen als bei anderen Tieren,⁸² nur der Mensch habe einen breiten Brustkasten, und nur er habe seine Brust auf der Vorderseite.⁸³ Nur der Mensch habe obere und untere Wimpern und Haare in den Achselhöhlen und im Schambereich.⁸⁴ Solche anatomischen Besonderheiten werden von Aristoteles aber nicht bloß inventarisiert; er zeigt vielmehr auf, wie sie mit dem Wesen des Menschen zusammenhängen. Besonders deutlich wird das beim Gehirn, von dem Aristoteles sagt, der Mensch habe im Verhältnis zur Körpergröße das größte Gehirn.⁸⁵ Unsere heutige Gehirnphysiologie identifiziert das Gehirn direkt als Organ des Denkens, aber in der Antike galt gemeinhin das Herz als Ort solcher seelischer Vorgänge. Aristoteles weist dem Gehirn trotzdem eine wichtige Funktion r das Denken zu:⁸⁶ Das Gehirn sei nicht durchblutet und deshalb kühl; es vermöge daher, den Überschuß an Wärme, die im Herzen (u.a. durch das Denken) entstanden sei und die durch die Blutgefäße auch bis zum Gehirn gelange, wieder abzukühlen. Aristoteles sieht diesen Zusammenhang dadurch bestätigt, dass alle Lebewesen mit Blutkreislauf auch über ein Gehirn vergen.⁸⁷ Das Gehirn ist r Aristoteles also gewissermaßen der Kühlturm, der es dem Menschen erlaubt, mit großen Mengen warmen Blutes besonders anspruchsvolle Seelentätigkeiten auszuüben. Denn der Mensch habe das meiste und das wärmste Blut, weil die Seele desto edler sei, je mehr Wärme das Lebewesen habe.⁸⁸ ⁸¹ ⁸² ⁸³ ⁸⁴ ⁸⁵ ⁸⁶ ⁸⁷ ⁸⁸
Vgl. HA I , a –. Vgl. HA I , b – Vgl. HA II , b –a . Vgl. HA II , b –. Vgl. PA II , a –; vgl. auch GA a –. Vgl. zum Folgenden v.a. PA II . Vgl. auch PA IV , a . Vgl. Resp. , a –; nach Resp. , a verfügt der Mensch auch über das »reinste« Blut. Dünnes Blut verbessert die Wahrnehmung und sorgt für höhere Intelligenz, während
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Auch zwischen dem auechten Gang und dem Denken des Menschen sieht Aristoteles einen engen Zusammenhang: »Auecht ist er als einziges von den Tieren, dadurch, dass seine Natur und sein Wesen göttlich sind.«⁸⁹ Die hier behauptete Göttlichkeit des menschlichen Wesens wurzelt in der Denkfähigkeit des Menschen, denn die typische Tätigkeit des Göttlichen (sein ergon) ist das Denken. Für dieses erllt der auechte Gang in Aristoteles’ Augen eine ganz mechanische Funktion: Er soll dem Menschen im wahrsten Sinne des Wortes ein ballasteies Denken ermöglichen. Durch ein auflastendes Gewicht werde nämlich das Denken erschwert, weil eine solche Last sowohl den Verstand (dianoia) als auch den Gemeinsinn (koinê aisthesis) hemme.⁹⁰ Bedingt durch den auechten Gang habe nun der Mensch im Verhältnis zu seiner Körpergröße die größten Füße im Tierreich – denn es seien, so Aristoteles, beim Menschen ja auch nur zwei Füße, die das gesamte Körpergewicht tragen müssten.⁹¹ Andererseits hätte der Mensch durch seinen auechten Gang keinen Schwanz, dar aber ein gut mit Körperfleisch gepolstertes Gesäß und fleischige Beine. Denn so könne die Natur einen Teil des Körpergewichtes nach unten verlagern, um dem Menschen das auechte Gehen zu erleichtern. Zweitens könne der Mensch unmöglich die ganze Zeit über auecht auf zwei Beinen stehen, sondern müsse auch ausruhen – was er dank seines Gesäßes bequem im Sitzen erledigen könne.⁹² Auch seine Hände unterscheiden den Menschen anatomisch von den anderen Tieren.⁹³ Sie sind r Aristoteles ebenfalls eng mit dem Wesen des Menschen verknüp, denn nur aufgrund seiner hohen Intelligenz seien beim Menschen die Voraussetzungen r Hände gegeben. Einerseits hat er aufgrund des auechten Ganges keinen Bedarf an Vorderßen, so dass ihm an deren Stelle Hände wachsen können.⁹⁴ Andererseits ist er intelligent genug, das komplizierte Werkzeug (oder Organ – organon kann beides heißen) Hand überhaupt einzusetzen. Da die Hand das organon ist, mit dem der Mensch alle anderen Werkzeuge, die er herstellt, bedient, nennt Aristoteles
⁸⁹ ⁹⁰ ⁹¹ ⁹² ⁹³ ⁹⁴
warmes und reines Blut eine gute Grundlage für Tapferkeit und Klugheit ist (PA II , a – und PA II , b –; vgl. GA II , a –). PA IV , a –:Orthon men gar esti monon tôn zôion dia to tên physin autou kai tên ousian einai theian. Vgl. PA IV , a –. Vgl. PA IV , a –. Vgl. PA IV , b –; vgl. auch IA . Mit dem aufrechten Gang und der Händigkeit hängt auch die besondere Einrichtung der Armgelenke beim Menschen zusammen. Vgl. HA II , a –, PA IV , a – u.a. Vgl. PA IV , a –.
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die Hand auch das »Werkzeug der Werkzeuge«.⁹⁵ Während Anaxagoras behauptet hat, der Mensch sei intelligent, weil er Hände habe, sieht Aristoteles den Zusammenhang genau umgekehrt: Der Mensch hat Hände, weil er intelligent ist. Ohne die r ein solches organon notwendige Intelligenz hätte er die Hände vergebens; er könnte sie gar nicht nutzen. Die Natur aber, so Aristoteles’ o wiederholter methodischer Leitsatz, schaffe nichts vergebens.⁹⁶ Folge man Anaxagoras, so wäre es mit der Intelligenz so, wie wenn man jemandem, der schon eine Flöte besitzt, die FlötenFähigkeit schenken würde, während Aristoteles sein eigenes Modell so beschreibt, daß es sich mit der Hand so verhält wie mit einer Flöte, die man jemandem gibt, der Flöte spielen kann. Nur ein solcher wird mit der Flöte etwas anfangen können. Aristoteles sieht also eine starke Entsprechung zwischen der körperlichen und der seelischen Ausstattung des Menschen. Dabei reicht es allerdings nicht aus, den Körper nur als bloßes Zeichen r die Seele zu sehen.⁹⁷ Vielmehr ist die Physiologie Grundlage und Voraussetzung dar, dass die Seelenvermögen sich realisieren können, denn ohne entsprechende organische Ausstattung können, wie wir gesehen haben, viele seelische Vermögen sich nicht entfalten. »Die Natur«, die, wie er immer wieder sagt, nichts vergebens scha, scha keine Seelenvermögen ohne passende körperliche Organe, aber auch keine körperlichen Organe, die nicht (direkt oder indirekt) der Verwirklichung der Seelenvermögen dienen – was deutlich die obige Rekonstruktion des Ergon-Argumentes stützt und in gutem Einklang mit Aristoteles’ Aushrungen in De anima ist. Ganz entschieden wendet sich Aristoteles gegen die These, der Mensch sei ein Mängelwesen, wie sie etwa in dem von Platon überlieferten Protagoras-Mythos zum Ausdruck kommt.⁹⁸ Die Ansicht, dass die Konstitution des Menschen nicht gut sei und er sogar das am schlechtesten ausgestattete Lebewesen sei, werde, so Aristoteles, damit begründet, dass der Mensch barßig und unbehaart sei und kein angeborenes Mittel habe, sich zu schützen.⁹⁹ Doch wendet Aristoteles ein, dass die übrigen Tiere ja nur über eine einzige Methode des Schutzes vergen und diese nicht den wechselnden Umständen anpassen können. Ja, sie müssten ihre angeborenen Schuhe und ihre angeborenen Waffen die ganze Zeit tragen und auch mit ihnen schlafen. Der Mensch hingegen kann sich seiner Waffen entledigen, kann je nach Situation eine ⁹⁵ ⁹⁶ ⁹⁷ ⁹⁸ ⁹⁹
An. III , a (organon organôn). Vgl. z.B. Pol. I , a . Wie z.B. Landmann , : »So kündigt überall schon das Körperliche das Geistige an.« Vgl. dazu die Kapitel und zur Sophistik und zu Platon in diesem Band. Vgl. hierfür und für Aristoteles’ Kritik vgl. PA IV , a -b .
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andere Waffe wählen. Nicht zuletzt zeigt die Hand die gute Einrichtung des menschlichen Körperbaus, wird ihm doch die Hand »zur Klaue und zum Horn und zum Spieß und zum Schwert und zu jeder beliebigen anderen Waffe und jedem beliebigen anderen Werkzeug«.¹⁰⁰ Die Hand kann ihm all dieses sein, weil sie eben so verschiedene Werkzeuge halten und bedienen kann. All dies hrt Aristoteles dazu, ein stark positiv wertendes Vokabular in Bezug auf die Einrichtung der Hand zu verwenden: Die Natur habe die Hand gut (eu) eingerichtet, die Fingergelenke sind »wohlgestaltet« (kalôs echousi) und auch die Fingernägel sind r Aristoteles »gut ausgedacht« (eu memêchanêtai), weil sie die Fingerspitzen schützen.¹⁰¹ Nicht zuletzt die Hand erweist die Natur also r Aristoteles als eine intelligente Designerin, die die Körperteile so gut wie möglich auf das Wohl des gesamten Lebewesens ausrichtet und nicht nur die Seele des Menschen mit dem Vermögen ausstattet, der göttlichen Tätigkeit des Denkens nachzugehen, sondern auch seinen Körper geschickt und angemessen einrichtet. Mängel kann Aristoteles im Plan der Natur nicht entdecken, sondern nur ein wunderbares Zusammenstimmen von zu lösenden Aufgaben und Zielen dienen kann.¹⁰²
. Der Nous »von draußen« In De anima schreibt Aristoteles dem Nous eine Sonderstellung zu. Er ist das einzige Seelenvermögen, das nicht auf ein körperliches Organ angewiesen ist, und deswegen ist der aktive Teil des Nous (der nous poiêtikos) auch der einzige Kandidat r einen Teil der Seele, der das Ende des Körpers überdauern könnte.¹⁰³ Auch in Aristoteles’ Theorie der Ontogenese hat der Nous eine Sonderstellung. Von ihm sagt Aristoteles, ¹⁰⁰ PA IV , b – (Übers. Kullmann). ¹⁰¹ PA IV , b (mit Pecks Konjektur), und –. ¹⁰² Die menschliche Brust ist ein Beispiel für diese regelmäßige Praxis der Natur (pollakis poiein, PA IV , a –): Einerseits schützt ihr Fleisch das Herz, andererseits dient sie im weiblichen Körper auch dazu, die Nahrung für den Nachwuchs zu speichern (PA IV , a –). ¹⁰³ Für die Nöte der Interpreten vgl. etwa die Bemerkung von Über die Seele , : »Es gibt kein Stück der antiken Philosophie, das wie die halbe Seite dieses Kapitels eine solche Masse der Erklärungen hervorgerufen hat. Seine Dunkelheit und übermäßige Kürze sind berüchtigt. Fehlte es, man würde von der naturalistischen Psychologie aus, die uns dargeboten wird, nichts vermissen. Es ist wahrscheinlich, daß Ar. das Kapitel erst nachträglich eingefügt hat […].«
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er allein käme »von draußen« (thyrathen) und er allein sei »göttlich« (theion).¹⁰⁴ Die Formulierung »von draußen« lässt ziemlich viel Spielraum r Spekulationen, und dieser Spielraum ist von den Aristoteles-Interpreten auch weidlich ausgenutzt worden. Denn wenn der Nous »von draußen« kommt, so sind insbesondere zwei Dinge immer noch unklar: Woher »von draußen« kommt er? Und wann kommt er? Eine traditionelle Antwort auf die Woher-Frage ist: Der Nous ist göttlichen Ursprungs, und er wird dem entstehenden Menschen von seinem göttlichen Urheber im Rahmen der Beseelung mitgegeben. Die Interpretation fasst gewissermaßen die Auskun des Aristoteles, der Nous sei »göttlich« (theion), nicht nur als Werturteil, sondern auch als Herkunsbezeichnung auf.¹⁰⁵ Doch sind damit längst noch nicht alle Fragen beantwortet: Ist der Nous etwas Unstoffliches oder etwas Stoffliches? Wenn etwas Stoffliches: Besteht er etwa aus Pneuma oder einem anderen der Materie der Gestirne analogen Element?¹⁰⁶ Und wenn etwas Unstoffliches: Ist er dann numerisch einer r alle Menschen, oder hat jeder Mensch seinen eigenen Nous?¹⁰⁷ Interpreten, die einen göttlichen Ursprung r den Nous ansetzen, gehen zumeist davon aus, dass der Zeitpunkt des Kommens des Nous vor der Geburt anzusiedeln ist. Eine andere Interpretationsrichtung siedelt das Kommen des Nous hingegen nach der Geburt an.¹⁰⁸ Für diese Interpretationsrichtung ist der Nous nicht göttlichen, sondern ¹⁰⁴ Vgl. GA II , b –. Hinsichtlich der Göttlichkeitszuschreibung knüpft Aristoteles an Vorgänger wie Anaxagoras oder Hermotimos an, die vom Nous als dem »Gott in uns« (hêmôn theos) gesprochen haben; vgl. Protr., Fragment Düring = g Schneeweiß. Zur Externalität des Nous vgl. auch GA II , b – und Resp. , a – (ho thyraten nous). ¹⁰⁵ Während theion in GA II , a – ebenfalls als Herkunftsprädikat gelesen werden könnte, wird theion an seinen beiden anderen (von insgesamt vier) Vorkommnissen in GA eher als Wertprädikat denn als Herkunfsprädikat verwendet, nämlich in GA II , b – (das Gute und das Göttliche – to kalon kai to theion – als Beispiele für Ewiges, das schon aus begrifflichen Gründen keine Herkunft hat) und in GA III , a – (Hornissen und Wespen haben, anders als Bienen, nichts Göttliches). Vgl. auch An. I , b (theioteron) und NE X , b –. ¹⁰⁶ Vgl. GA II , b –a und Cicero, Tusc. I : »quintum genus adhibet vacans nomine«. ¹⁰⁷ Für diese von den spätantiken und den arabischen Kommentatoren des Aristoteles – und im Anschluss an sie – geführte Diskussion vgl. z.B. Schulthess , –. ¹⁰⁸ Vgl. Clark , – und –. Ähnlich Voigt , der den »von draußen«Aspekt des Nous im Anschluss an Putnams kausal-externalistischen eorie der Bedeutung darin sieht, dass die allgemeinen Wesensbestimmungen, die der Nous denkt, stets Wesensbestimmungen von Einzeldingen sind, die in der Regel »außerhalb« der menschlichen Psyche existieren. Voigt äußert sich allerdings nicht explizit zur Wann-Frage. Hingegen bezeichnet
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sozialen Ursprungs. Denn erst durch Sozialisation, durch die Interaktion mit anderen Menschen, kann der Mensch seine Sprachfähigkeit und damit seine Fähigkeit zur rationalen Auseinandersetzung entfalten, die der Politik zufolge ja seine spezifische Tätigkeit ausmacht. Das, was den Menschen zum Menschen macht – Sprache und Denken (logos) – entwickelt sich eben erst deutlich nach der Geburt.¹⁰⁹
. Unsterblichkeit als Individuum oder als Art? Die Diskussion um den Nous wurde nicht zuletzt deswegen so intensiv gehrt, weil eng mit der Frage nach seinem Status die Frage nach der menschlichen Unsterblichkeit verknüp war. Und auch hinsichtlich dieser Frage bieten die Texte des Aristoteles Anhaltspunkte r ganz unterschiedliche Interpretationen. Einerseits trägt Aristoteles im nur agmentarisch überlieferten »exoterischen« (d.h.: sich an das weitere Publikum wendenden) Dialog Eudemos auf der Basis von Anekdoten und ausgehend von der religiösen Praxis Argumente r eine traditionelle Vorstellung von der Fortexistenz der individuellen Seele nach dem Tod des Körpers zusammen.¹¹⁰ Andererseits äußert er sich in den späteren Lehrschrien zur Psychologie und Biologie zu dieser Frage sehr viel zurückhaltender. Dort begründet er die Tatsache der Fortpflanzung der Lebewesen geradezu damit, dass diese eben nicht ewig existieren würden, und deswegen durch die Zeugung von Nachkommen immerhin als Gattung eine immerwährende Existenz verwirklichen können.¹¹¹ Eine mögliche Ausnahmestellung hat wiederum der menschliche Nous inne. Denn es habe den Anschein, dass der Nous »als eine Art Substanz« eintritt (ousia tis), also als eine Art selbständiges Wesen, und »nicht vergeht« (ou phtheiresthai);¹¹² er komme von außen in den Menschen und könne sich abtrennen »wie das Ewige vom Vergänglichen«.¹¹³ Nun können Aussagen über den Anschein oder Vergleiche (»wie«) mit sehr unterschiedlicher Verbindlichkeit vorgebracht und ebenso unterschiedlich verstanden werden. Tatsache ist jedenfalls, dass Aristoteles es an einer späteren Stelle bezüglich Hilt , , und – den Nous aufgrund einer starken Lesart des Schüler-Beispiels explizit als eine erworbene Haltung (hexis), ohne aber auf das »von außen« einzugehen. ¹⁰⁹ In diesem Sinne auch Kant : »Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß.« (A) Denn: »Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung.« (A) ¹¹⁰ Flashar , , , zufolge lassen die überlieferten Fragmente des Eudemos allerdings nur methodische, aber keine inhaltlichen Unterschiede zur Lehrschrift De anima erkennen. ¹¹¹ Vgl. GA II , b –a und An. II , b –. ¹¹² An. I , b –. ¹¹³ An. II , b –.
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der »Abtrennbarkeit« des Nous offenlässt, ob er räumlich vom Körper abgetrennt werden könne oder nur begrifflich (wie bei den anderen Seelenvermögen),¹¹⁴ um dann kurz darauf mit Bezug auf den aktiven Teil des Nous die Abtrennbarkeitsthese ohne Einschränkung zu wiederholen.¹¹⁵ Anders als die Wahrnehmungsvermögen kann der Nous seine Tätigkeiten, so Aristoteles, ohne körperliches Hilfsmittel ausüben; es sei daher sinnvoll (eulogos), dass er nicht mit dem Körper vermischt sei.¹¹⁶ Deswegen zeichnet Aristoteles in De anima den Nous als den einzigen Kandidaten r etwas Unsterbliches in der menschlichen Seele aus, allerdings nur den aktiven Teil des Nous: Dieser ist »abtrennbar, leidensunfähig und unvermischt und ist seinem Wesen nach in Wirklichkeit (têi ousiâi ôn energeia)«, und »nur dieser ist unsterblich und ewig«.¹¹⁷ Eine Erinnerung habe der aktive Teil des Nous nach dem Tode jedoch nicht, denn die habe nicht der aktive Nous, sondern der Mensch, der – bis zu seinem Tod – auch über den passiven Nous, den pathêtikos nous verge; ohne den passiven Teil erkennt der aktive Teil (der nous poiêtikos) jedoch nichts und vergt über keine Erinnerung mehr.¹¹⁸ Selbst wenn Aristoteles also annimmt, dass der aktive Nous nach dem Tode weiterexistiert, kann bei ihm von einer personalen Fortexistenz der menschlichen Person nach dem Tod kaum die Rede sein.
Zusammenfassung Damit ist nun der Bogen geschlagen von der formalen Bestimmung der Form einer Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, in den logischen Schrien des Aristoteles, bin hin zur Frage nach dem Fortleben des Menschen oder eines Teils von ihm nach dem Tode. Ich habe gezeigt, dass Aristoteles in den verschiedenen Pragmatien aufgrund seiner jeweiligen Fragestellung unterschiedliche Schwerpunkte setzt und verschiedene Herangehensweisen wählt, manchmal Dinge ra, die er anderswo aushrlicher behandelt, und keineswegs an jeder Stelle, an der ein Thema wie der Mensch aufscheint, alles sagt, was er zu diesem Thema zu sagen hat. Dabei wurde aber auch klar, dass sich die verschiedenen Pragmatien zu einem kohärenten Gesamtbild ergänzen: Die dem Menschen gegebene Ausstattung mit Sprache und Vernun ¹¹⁴ An. III , a –. ¹¹⁵ Vgl. An. III , a –. ¹¹⁶ Vgl. An. III , a –. ¹¹⁷ An. III , a – und . ¹¹⁸ Vgl. An. I , b – und III , a –.
Ludger Jansen
liefert Aristoteles nicht nur die spezifische Differenz r die Wesensbestimmung des Menschen als zôion logon echon, sondern auch die Grundlage r die Bestimmung des höchsten menschlichen Gutes in der Ethik und die Begründung der menschlichen Sozialität, da er als sprachbegabtes Wesen auch in höchstem Maße ein zôion politikon ist. In der Biologie, so habe ich gezeigt, entwir Aristoteles ein Bild der menschlichen Anatomie als eines auf diese spezifische Tätigkeit des Denkens hin ausgerichtetes Ganzes, auch wenn die nähere Bestimmung des r das Denken zuständigen Nous und die damit verbundene Frage der menschlichen Unsterblichkeit den späteren Interpreten sehr viel Spielraum gelassen hat.
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Vernünftiger Rede fähig. Das Menschenbild des Aristoteles
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Ludger Jansen
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Vernünftiger Rede fähig. Das Menschenbild des Aristoteles
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Christoph Jedan
Die Dummen und der Weise. Zur dichotomischen Anthropologie der Stoiker Die stoische Philosophenschule geht auf den aus Kition auf Zypern (dem heutigen Larnaka) stammenden Zenon (ca. – v. Chr.) zurück. Die antike biographische Tradition, die r uns in Diogenes Laërtius’ Leben und Meinungen berühmter Philosophen greifbar ist, behauptet, dass Zenon als junger Mann ein Händler gewesen sei, der nach einem Schiffbruch nach Athen gekommen sei. Er habe dort bei einem Buchhändler in Xenophons Memorabilien gelesen, sei beeindruckt gewesen von der Figur des Sokrates und habe geagt, wo er Männer wie Sokrates finden könne. Er sei auf den gerade vorbeigehenden Kyniker Krates hingewiesen worden und habe erst bei diesem, dann bei dem Megariker Stilpon und bei Xenokrates und Polemon, den Nachfolgern Platons, Philosophie studiert. Ungefähr vor Christus hat Zenon dann seine eigene Lehrtätigkeit aufgenommen. Er gab seinen Unterricht in der stoa poikilê, einer bunt bemalten Säulenhalle an der Westecke der athenischen Agora. Nach diesem Ort wurden die Schüler Zenons später die »Stoiker« genannt. Die Stoa blieb bis zum Anfang des dritten Jahrhunderts nach Christus eine der wichtigsten Philosophenschulen. In der langen Geschichte der stoischen Schule werden in der Literatur häufig drei Phasen unterschieden.¹ Die »ältere Stoa« reicht von der Schulgründung Zenons bis ins zweite Jahrhundert vor Christus. Die wichtigsten Stoiker dieser Phase waren nach Zenon vor allem seine Nachfolger als Schulhäupter Cleanthes (– v. Chr.) und Chrysipp (– v. Chr.). Chrysipp hat eine ungemein große Rolle gespielt bei der Systematisierung der stoischen Philosophie. Wie Diogenes Laërtius berichtet, wurde über Chrysipp gesagt, dass es ohne ihn die Stoa nicht gegeben hätte.² Damit wird die zentrale Rolle Chrysipps r das Formulieren ¹ Zur Geschichte der Stoa vgl. Sedley und Gill . Für eine allgemeine Einführung in die stoische Philosophie vgl. Muller ; Sellars und Holowchak . ² Vgl. DL .. Christoph Jedan (). »Die Dummen und der Weise. Zur dichotomischen Anthropologie der Stoiker«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
Die Dummen und der Weise
der stoischen Philosophie gut wiedergegeben. Deshalb werden in diesem Kapitel die Lehren Chrysipps im Vordergrund stehen. Die zweite Phase der stoischen Schule ist die der »mittleren Stoa« (im späten zweiten Jahrhundert vor Christus). Ihr werden vor allem Panaitios und Poseidonios zugerechnet. Es scheint, dass diese Philosophen in gewissem Maße von der Lehre der älteren Stoa abwichen. So hat Panaitios sein Augenmerk von der Beschreibung des idealtypischen Weisen auf die Diskussion der Probleme derjenigen gerichtet, die noch nicht weise sind. Poseidonios scheint abweichend von der monistischen Psychologie Chrysipps die platonische Theorie verschiedener Seelenteile favorisiert zu haben. In dieser Phase der stoischen Schule verschob sich auch das geographische Zentrum der stoischen Philosophie. Teile der römischen Elite bekannten sich zur stoischen Philosophie, und in der dritten Phase der Schule, in der »neueren Stoa«, sind es dann vor allem Autoren aus der kulturellen Welt Roms, die uns einen Eindruck von der philosophischen Aktivität in dieser Zeit geben: Seneca (– n. Chr.), Epiktet (–) und der Kaiser Mark Aurel (–). Aufgrund der Wirren der Überlieferungsgeschichte haben wir erst von den drei zuletzt genannten Stoikern umfangreiche Schrien. Für die üheren Stoiker müssen wir uns mit Berichten und kurzen Zitaten behelfen, die uns durch andere, den Stoikern nicht immer mit Sympathie gegenüberstehenden Autoren überliefert sind. Wenn schon die Beschreibung der ühen stoischen Philosophie einem intellektuellen Puzzlespiel gleicht, bei dem wir versuchen müssen, verstreute Berichte miteinander zu verbinden oder gegeneinander abzuwägen, so wird diese Schwierigkeit noch verstärkt, wenn es um die anthropologischen Theorien der Stoiker geht. Für die Stoiker war die Anthropologie noch keine abgegrenzte Disziplin. Aus ihrer Sicht waren in der Philosophie drei untereinander stark vernetzte Teildisziplinen zu unterscheiden: Logik, Physik und Ethik. Wir müssen die Theoriestücke, aus denen wir, wenn es irgend geht, ein einheitliches stoisches Bild vom Menschen gewinnen wollen, aus allen drei Teildisziplinen holen, und kämpfen dann noch mit den Schwierigkeiten der indirekten und bruchstückhaen Überlieferung.³ ³ Die thematisch organisierte kommentierte Textsammlung von Antony A. Long und David Sedley, e Hellenistic Philosophers (Cambridge ) liegt in einer einbändigen deutschen Übersetzung von Karlheinz Hülser vor (Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, Stuttgart/Weimar ). Im Folgenden werde ich, wo das möglich ist, Texte nach dieser Ausgabe zitieren (LS). Ein anderes Auswahlprinzip finden wir in der als Ergänzung zu LS sehr empfehlenswerten Textsammlung von Brad Inwood und L. P. Gerson, Hellenistic Philosophy. Introductory Readings. Second edition. Indianapolis (HellPh). In dieser Sammlung fin-
Christoph Jedan
Die biographische Überlieferung bei Diogenes Laërtius, auf die ich eingangs Bezug nahm, assoziiert den Schulgründer Zenon sehr stark mit der sokratischen Philosophie. Und das sicher nicht zu unrecht: Ganz deutlich ist die stoische Schule eine Erbin des sokratischen ethischen Intellektualismus. Mangel an Tugend ist einzig und allein auf ein kognitives Defizit zurückzuhren, auf einen Mangel an Wissen. Die Nichtweisen sind (in einem noch zu erläuternden Sinne) dumm. Tugend ist ein Wissen, und zwar wird dieses Tugendwissen im Sinne des stoischen religiösen Weltbildes interpretiert: Wissen ist das Begreifen der göttlichen Schöpfungsordnung, das Sich-Eingen in ihren Sinnzusammenhang. Dieses Wissen ist überaus schwierig zu erlangen, und der Weise, der gute und glückliche idealtypische Besitzer dieses Wissens, ist daher eine überaus seltene Figur, vielleicht sogar ein nie realisiertes Ideal. Die Menschen sind normalerweise unwissend, und das heißt: schlecht und absolut unglücklich. Die stoischen Auffassungen zur Anthropologie sind vor allem gekennzeichnet durch dichotomische Formulierungen, die den Weisen und die Nichtweisen (Dummen) radikal kontrastieren. In meinem Beitrag werde ich den ethischen Sinn dieser dichotomischen Formulierungen analysieren. Ich gehe in drei Schritten vor. Zuerst gebe ich eine kurze Skizze des religiösen Weltbilds der Stoiker. Ich gehe dann auf die Perfektionierung der Vernun als die Bestimmung des Menschen ein. Abschließend biete ich eine Interpretation der dichotomischen Charakterisierungen des Weisen und der Nichtweisen an.
Das Weltbild der Stoiker Für uns heute ist es gar nicht so einfach, das Weltbild der Stoiker zu beschreiben. Die Begriffe, die wir gebrauchen, und die Verbindungen und Gegensätze, die wir zwischen Begriffen sehen, passen häufig nicht zum Weltbild der Stoiker. Wir tendieren heute dazu, zwischen dem Materialismus und einem theologischen Weltbild einen Gegensatz zu sehen, vor allem weil wir bei »Materialismus« an laplacesche Theorien den sich einige ausgezeichnete englische Übersetzungen von längeren antiken Berichten über die stoische Philosophie, von denen LS nur Ausschnitte liefert. Ab und zu werde ich auf die ältere Textsammlung von Hans von Arnim, Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF ) verweisen, die zwar in Teilen überholt ist, aber noch immer viele Textstücke bietet, die anders nur mit Mühe zu konsultieren wären. Diese Ausgabe ist leider nicht in deutscher Übersetzung erhältlich (zur italienischen Übersetzung vgl. die Literaturangaben). Seit kurzem ist auch eine Fragmentsammlung mit deutscher Übersetzung erhältlich: vgl. Nickel .
Die Dummen und der Weise
denken, und damit an einen tendenziell reduktiven, mechanistischen Materialismus. Bei den Stoikern war dies anders. Ihr Materialismus war nicht reduktiv. Die Stoiker gingen davon aus, dass die Welt fundamental »materiell« ist, in dem Sinne, dass nur dasjenige, was körperlich ist, wirklich ist, aber diese materielle Wirklichkeit wird konstituiert und kontrolliert durch ein (ebenfalls körperliches) göttliches Prinzip. Die Stoiker beschrieben, offensichtlich im Anschluss an die herakliteische Naturdeutung, das göttliche Prinzip als eine Art Feuer, genauer gesagt als ein produktives und schaffendes Feuer (pyr technikon). Wahrscheinlich gingen die Stoiker seit Chrysipp dazu über, das göttliche Prinzip mit einem kosmischen »Atem« (pneuma) zu identifizieren. Das pneuma durchzieht den gesamten Kosmos und sorgt nicht nur r seinen Zusammenhalt, sondern auch r die Konstituierung aller Dinge in ihm. So nehmen die Dinge eine bestimmte Stufe auf der Stufenleiter der Natur (scala naturae) ein, je nachdem wie stark die »Spannung« ist, die das göttliche pneuma-Prinzip ausübt – man könnte sagen, je nachdem wie stark das göttliche Prinzip anwesend ist. Die Spannung wird jeweils stärker, je weiter man auf der scala naturae von den unbelebten Gegenständen über die Pflanzen und die Tiere mit ihrem seelischen Prinzip bis zum Menschen kommt, der durch seine Anlage zur Vernun charakterisiert ist. Das göttliche Prinzip steuert alle Vorgänge in der Welt; die Stoiker beschreiben die Welt darum als »Schicksal«, als einen lückenlosen deterministischen Prozess, der letztendlich in der Hand des göttlichen Prinzips liegt. Die entscheidende kausale Rolle des göttlichen Prinzips lässt die Stoiker manchmal auch die Welt als ganze mit Gott gleichstellen. Die Welt entsteht und vergeht in einem zyklischen Prozess. Die meisten Stoiker vertreten die Ansicht, dass diese Zyklen identisch sind, wir es also mit einer Wiederkehr der gleichen Weltzustände zu tun haben. Die Welt, die wir kennen, vergeht in einem »Weltenbrand«, an dessen Ende nur das Feuer, Gott, mit sich selbst allein zurückbleibt. Angesichts der umfassenden steuernden Rolle des göttlichen Elements kommt sofort die Frage auf, wie der Mensch dann eine kausale Eigenständigkeit und damit eine moralische Verantwortlichkeit behalten kann. Die Stoiker haben in einer ganzen Reihe von Denkmodellen versucht, auch angesichts der umfassenden Determination aller Prozesse eine gewisse kausale Eigenständigkeit menschlichen Entscheidens und Handelns zu behalten. In seiner unvollständig erhaltenen Schri De fato (»Über das Schicksal«) schreibt Cicero Chrysipp eine Unterscheidung von kausalen Sphären zu. Die Kontexte, in denen Menschen sich vorfinden, rufen in ihnen gewisse Ein-
Christoph Jedan
drücke (phantasiai) hervor. Um diese aber zu handlungsleitenden Impulsen (hormai) werden zu lassen, ist außerdem eine innerliche Zustimmung (synkatathesis) nötig.⁴ Die Art und Weise, auf die Menschen Zustimmung geben oder vorenthalten, ist natürlich abhängig von ihrem Charakter. Damit unterscheidet Chrysipp zwischen dem äußeren Kontext, in dem Menschen stehen, und ihrem Charakter, mit dem sie auf den jeweiligen kausalen Kontext reagieren. In Ciceros Darstellung betont Chrysipp nun die Kontrolle, die wir über die Zustimmungsakte (und damit letztendlich über unseren Charakter) ausüben. Es bleibt allerdings aglich, ob Chrysipps Lösung erfolgreich ist: Schließlich wird ja das gesamte Weltgeschehen (und damit auch die Zustimmungsakte und die Formung des menschlichen Charakters) durch das göttliche Prinzip kontrolliert. Allerdings düren sich die Stoiker an dieser fundamentalen Kontrolle des göttlichen Prinzips über das Weltgeschehen auch nicht gestört haben. Die Welt ist ja kein blinder Mechanismus, sondern durch das wohlwollende göttliche Prinzip hingeordnet auf den Menschen. Die Welt, die durch das göttliche Prinzip kontrolliert wird, ist also ein Ort, an dem sich der Mensch zuhause hlen kann. Die Bestimmung des Menschen (sein telos) besteht darin, sich in diesen Sinnzusammenhang der göttlich geordneten Welt einzugen. Die Stoiker fassen dies zusammen in der Devise »im Einklang mit der Natur leben« (homologoumenôs têi physei zên).⁵ Wir müssen uns davor hüten, in dieser Devise eine Reaktion gegen Kultur und Rationalität sehen zu wollen, wie sie in der späteren Geistesgeschichte vor allem mit dem Namen Rousseaus assoziiert wird.⁶ Zenon hat zwar im Anschluss an die kynische Philosophie Kritik geübt an einigen Gebräuchen und Institutionen der damaligen griechischen Gesellscha (etwa Kleidungsvorschrien, Währungssystem und Tempelkult),⁷ aber wir finden bei den Stoikern keine Verherrlichung eines instinktgesteuerten, tiernahen Menschen, der kein Bedürfnis nach theoretischer Kenntnis über die Natur hat. Leben in Übereinstimmung mit der Natur wird identifiziert mit der Tugend; Tugend ist Wissen und stellt hohe Anforderungen, was die Kenntnis des Weisen betri. Die Tugend gilt geradezu als die Vollendung der menschlichen Vernun. Diese Zusammenhänge werde ich im folgenden Abschnitt näher erläutern.⁸ ⁴ Mehr hierzu in Teil . ⁵ Tatsächlich scheint diese Formulierung das Resultat einer Präzisierung der zenonischen Lehre zu sein. Zu den verschiedenen telos-Formeln siehe unten. ⁶ Vgl. etwa Rousseau , Teil . ⁷ Zur Interpretation der Position Zenons vgl. Schofield , Vogt und Jedan , insbes. Kap. . ⁸ Vgl. zum Weltbild der Stoiker auch Jedan , insbes. Kap. –.
Die Dummen und der Weise
Vernunft als Bestimmung des Menschen Der Mensch ist auf den Erwerb der Vernun hin angelegt, aber zu Beginn seines Lebens steht er auf der Stufe der Tiere. Die menschliche Vernun entwickelt sich in einem Prozess, der laut den Stoikern in den zweiten der in der antiken Anthropologie unterschiedenen siebenjährigen Lebensabschnitte fällt, also zwischen das siebte und vierzehnte Lebensjahr.⁹ Unsere Quellen betonen den zieltransformierenden Charakter des Erwerbs der Vernun: Während der Mensch vor dem Erwerb der Vernun der Natur in dem Sinne folgt, dass er – wie die Tiere – vor allem r seinen physischen Selbsterhalt Sorge trägt, wird das naturgemäße Leben mit dem Erwerb der Vernun ein Leben, das im Einklang mit der Vernun steht.¹⁰ Ganz im Zeichen des stoischen ethischen Intellektualismus wird die Tugend mit der Vollendung der menschlichen Vernunft identifiziert. Cicero drückt das in seinem Buch Über die Gesetze wie folgt aus: »Tugend ist nichts anderes als die vollendete und zu ihrem Gipfelpunkt gebrachte menschliche Vernun und die Tugend ist von daher [dies ist eine Anspielung auf Platons Theaitet – CJ] die Verwandtscha des Menschen mit Gott« (Est autem virtus nihil aliud, nisi perfecta et ad summum perducta natura: est igitur homini cum deo similitudo).¹¹ Mit dem Erwerb einer (rudimentären) Vernun ist dem Menschen zumindest die Möglichkeit einer Orientierung an dem Maßstab der Tugend gegeben, das den puren Selbsterhalt als Strebensziel ablöst. Jemand, der sich entschließt, tugendha zu handeln, wird unter Umständen sein Leben oder seine Gesundheit r ein Handlungsziel aufopfern. Darin liegt die bekannte stoische Abwertung nichtmoralischer Güter begründet. Tugend wird zum souveränen Maßstab r den (vollständig) vernünigen Handelnden erklärt. Im Vergleich zur Tugend treten Erwägungen, die sich auf nichtmoralische Güter und Übel richten, auf den zweiten Rang. Die Stoiker gehen sogar soweit, diesen nichtmoralischen Gütern und Übeln jeglichen Beitrag zur Eudämonie, d.h. zum gelingenden, vollendeten menschlichen Leben, abzusprechen. Allein der Besitz der Tugend ist relevant r das gelingende Leben, nicht aber der Besitz äußerlicher Vorteile oder Güter. Diese außermoralischen Güter oder Übel sind nicht wirklich gut ⁹ Vgl. SVF . (Aëtius). ¹⁰ DL .; De fin. .–. Nicht zuverlässig ist der Bericht aus der skeptischen Schule, die Stoiker hätten auch Tieren eine Vernunft zugesprochen Vgl. dazu Niko Strobachs Beitrag zu den Skeptikern in diesem Band, . ¹¹ De leg. ..
Christoph Jedan
oder schlecht, sondern eigentlich gleichgültig (adiaphora); wirklich gut oder schlecht, das ist allein der Besitz oder Nichtbesitz der Tugend. Dennoch wollen die Stoiker der Commonsense-Perspektive der Wertschätzung außermoralischer Güter und Übel nicht jegliche handlungsleitende Funktion absprechen: Die außermoralischen Güter haben einen gewissen Wert in dem Sinne, dass sie »vorgezogene« Dinge (prohêgmena) sind, Dinge also, denen man, wenn man es irgend kann, nachstrebt. Wenn es durch tugendhaes Handeln zu realisieren ist, dass ich reich und gesund bleibe oder werde, sollte ich es versuchen. Wenn es aber nicht zu realisieren ist, dass ich reich oder gesund werde oder bleibe, sollte ich darauf ohne Trauer verzichten. Umgekehrt sind außermoralische Übel »zurückgestellte« Dinge (apoprohêgmena), Dinge also, die man, wenn es irgend kann, vermeidet. Wenn die Tugend es erforderlich macht, sollte ich Armut, Krankheit und sogar Tod ohne Zögern auf mich nehmen. Natürlich werden konkrete Abwägungen abhängig sein von den konkreten Umständen, unter denen man handelt. Die Frage ist, ob sich trotz dieser Kontextabhängigkeit allgemeine Regeln angeben lassen.¹² Darum ist die stoische Formulierung des Ziels des menschlichen Lebens als ein Leben im Einklang mit der Natur (siehe oben) keine genaue inhaltliche Bestimmung hinsichtlich der Frage, wie das gelingende Leben auszusehen hat. Vielmehr ist es vor allem das Anmahnen eines Perspektivenwechsels von der Commonsense-Perspektive der Wertschätzung außermoralischer Güter hin zu der anspruchsvollen Perspektive eines Lebens, das dem Maßstab der Tugend unterworfen ist. Von daher behalten die verschiedenen Formulierungen des Ziels des menschlichen Lebens, die sogenannten telos-Formeln, bei allen Präzisierungsversuchen, die durch die Stoiker unternommen worden sind, einen abstrakten Charakter. Sowohl diese Präzisierungsversuche als auch der bleibende Nachdruck auf einen Perspektivenwechsel hin zu einem Leben, das der Tugend unterworfen ist und sich damit in den göttlichen Sinnzusammenhang eingt, werden in zwei wichtigen antiken Texten besprochen. Ich gehe auf diese Texte hier aushrlicher ein, um damit zugleich auch an einem Beispiel die Schwierigkeiten beim Umgang mit dem stoischen Quellenmaterial zu illustrieren. Bei Diogenes Laërtius (.–) finden wir die folgende Darstellung (Übers. LS C–):
¹² Dieses Problem wurde bereits von den Stoikern diskutiert. Für uns ist eine Darstellung solcher Diskussionen in zwei Briefen Senecas greifbar (Ep. ad Luc. und ). Zur Interpretation vgl. Inwood , Brennan , Kap. – und Jedan , Kap. –.
Die Dummen und der Weise Daher erklärte Zenon in seinem Buch Über die Natur des Menschen als erster, das Endziel sei, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben, was eben heißt, im Einklang mit der Tugend zu leben. Denn die Natur führt uns zur Tugend. Ebenso stellte es auch Kleanthes in dem Buch Über die Lust dar, ferner Poseidonios und Hekaton in ihren Büchern Über Ziele. Hinwiederum ist im Einklang mit der Tugend zu leben, dasselbe wie in Übereinstimmung mit der Erfahrung dessen zu leben, was durch die Natur geschieht, wie Chrysipp im ersten Buch Über Ziele sagt. Denn unsere eigenen Naturen sind Teile der Natur des Ganzen. In Übereinstimmung mit der Natur zu leben kommt deshalb als das Endziel heraus, nämlich sowohl in Übereinstimmung mit der Natur von einem selbst als auch in Übereinstimmung mit der Natur von allem insgesamt, ohne etwas von dem zu unternehmen, was das allgemeine Gesetz für gewöhnlich verbietet, welches Gesetz die richtige Vernunft ist, die alles durchdringt und identisch ist mit Zeus, dem Lenker der Verwaltung dessen, was ist. Und eben darin besteht die Tugend des glücklichen Menschen und der gute Fluß seines Lebens, wenn alle Handlungen im Einklang des Schutzgeists eines jeden Menschen mit dem Willen des Verwalters von allem insgesamt erfolgen.
In einer der wichtigsten antiken Darstellungen der stoischen Ethik, die sich in der Anthologie von Johannes Stobaeus findet,¹³ wird die Entwicklung der stoischen telosFormel dagegen wie folgt beschrieben (LS B): Zenon gab das Ziel so wieder: »in Übereinstimmung leben«. Das heißt: in Übereinstimmung mit einem einzigen zusammenklingenden Vernunftprinzip; denn die, welche im Konflikt leben, sind unglücklich. Zenons Nachfolger verdeutlichten dies weiter und formulierten so: »in Übereinstimmung mit der Natur leben«, wobei sie annahmen, daß das von Zenon Gesagte ein unvollständiges Prädikat sei. Kleanthes, der von ihm als erster die Schule übernahm, fügte nämlich »mit der Natur« hinzu und gab folgende Bestimmung: »Das Ziel besteht darin, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben.« Diese Bestimmung wollte dann Chrysipp deutlicher machen und drückte sie folgendermaßen aus: »in Übereinstimmung mit der Erfahrung von dem Leben, was sich von Natur aus ereignet.«
Der Bericht bei Diogenes Laërtius erweckt den Anschein, als ob bereits Zenon die Formulierung »leben in Übereinstimmung mit der Natur« geprägt habe. Der Bericht scheint autoritativ zu sein, denn er bezieht sich mit Über die Natur des Menschen auf eine bestimmte, uns allerdings nicht erhaltene Schri Zenons. Wenn wir allerdings die Formulierung näher betrachten, dann sehen wir, dass es sich keineswegs um ein Zitat aus dieser Schri handeln muss; wahrscheinlich ist die telos-Formel eine zusammenfassende Interpretation der Diskussion bei Zenon. So gesehen, würde der Bericht ¹³ Eine ausgezeichnete englische Übersetzung findet sich in HellPh. Eine Ausgabe des griechischen Texts mit englischer Übersetzung liefert Pomeroy .
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bei Diogenes Laërtius nicht dem widersprechen, was wir bei Stobaeus finden. Dort wird berichtet, dass Zenons Formulierung des Ziels lautete »in Übereinstimmung leben« (homologoumenôs zên) und dass die Zugung von »mit der Natur« (têi physei) durch Kleanthes vorgenommen worden sei. Das klingt ohne weiteres wahrscheinlich. Die Fortsetzung des Berichts bei Stobaeus wird allerdings umgekehrt der Ergänzung und Korrektur durch Diogenes Laërtius bedürfen. Isoliert betrachtet, weckt der Bericht bei Stobaeus den Eindruck, dass Zenon eine »kohärenztheoretische« Interpretation des Ziels des menschlichen Lebens gegeben habe: das menschliche Leben gelingt, wenn wir »in Übereinstimmung mit einem einzigen, zusammenklingenden Vernunprinzip« leben, also keine Widersprüche zwischen unseren Überzeugungen (und auch zwischen unseren Handlungen) mehr haben. Diogenes Laërtius zeigt uns dagegen, dass diese nur formale, »kohärenztheoretische« Interpretation des Ziels des menschlichen Lebens nicht genügt. Zenon düre im Kontext seiner Diskussion des telos von der Natur als dem Orientierungspunkt menschlicher Tugend gesprochen haben. Gerade das düre der Anknüpfungspunkt r Kleanthes gewesen sein, der, wie der Bericht bei Stobaeus zeigt, Zenons telosFormel in diesem Sinne ergänzt haben düre. Zenon düre also der Auffassung gewesen sein, dass die vollständige Kohärenz unserer Überzeugungen mit einer vollständigen Orientierung an der göttlich geleiteten Natur zusammenfällt. Die späteren Stoiker versuchten in ihren Formulierungen des telos präziser als Zenon dies getan hatte auszudrücken, dass der göttliche Sinnzusammenhang, in den der Mensch sich einordnen soll, sich durch ein genaues Studium der Natur erschließt. Wie bereits gesagt, bleibt es allerdings problematisch, aus einer solchen Perspektive allgemeine und gleichzeitig inhaltsreiche Lebensregeln ableiten zu wollen, und es ist genau diese Schwierigkeit, die in Senecas Briefen und diskutiert wird. Die Breite der stoischen Lehre vom telos, die die Kohärenz der menschlichen Überzeugungen und das Übereinstimmen mit dem Sinnzusammenhang der göttlich gesteuerten Welt umfasst, finden wir auch in der stoischen Tugendlehre wieder, vor allem bei Chrysipp, dem ühen Stoiker, über dessen Tugendlehre wir die meisten Informationen in unseren Quellen finden. Auf der einen Seite finden wir immer wieder Definitionen der Tugend, in denen die Konsistenz, die Festigkeit und das Unwiderlegbare der Tugend betont wird.¹⁴ Tugend wird bestimmt als eine nichtgraduelle ¹⁴ Vgl. etwa Plutarch, Über die moralische Tugend C, enthalten in LS B.
Die Dummen und der Weise
Eigenscha – die Stoiker gebrauchen hierr den Begriff »Charakter« (diathesis) – die sich das gesamte Leben durchhält oder (der griechische Wortlaut deckt beide Bedeutungen ab) das gesamte Leben als seinen Gegenstandsbereich hat.¹⁵ Die in diesen Definitionen ausgedrückte Auffassung von der Tugend hat zwei weitreichende Implikationen: () Die Stoiker sind der Meinung, dass der Besitz der Tugend kein Mehr oder Weniger zulässt. Entweder man hat die Tugend oder man hat sie nicht. Wir werden noch sehen, dass der Besitz der Tugend etwas außerordentlich Seltenes ist. () Die Stoiker sind davon überzeugt, dass sich der Besitz der Tugend in allen Handlungen des Weisen, also desjenigen, der die Tugend hat, ausdrückt, selbst in so scheinbar unbedeutenden Handlungen wie dem Bewegen eines Fingers.¹⁶ Auf der anderen Seite zeigt der Tugendkatalog Chrysipps, wie wichtig die Kenntnis der Natur r den Weisen ist. Chrysipp geht davon aus, dass »Tugend« im Singular ein Gattungsbegriff ist, unter den verschiedene »umfassende« Tugenden fallen, die verschiedene spezialisierte, untergeordnete Tugenden koordinieren. So erkennt Chrysipp die vier bekannten Tugenden praktische Weisheit (phronêsis), Besonnenheit (sôphrosynê), Mut (andreia) und Gerechtigkeit (dikaiosynê) als umfassende ethische Tugenden an. Um ein Beispiel zu geben: Gerechtigkeit umfasst die spezialisierten untergeordneten Tugenden Frömmigkeit, Freundlichkeit, Umgänglichkeit und tadelloses Umgehen mit anderen. Alle Tugenden werden durch Chrysipp als Formen von Wissen (epistêmê) definiert. Gerechtigkeit z.B. ist das Wissen, das einem jeden zuteilt, was ihm zusteht.¹⁷ Man kann keine dieser Tugenden isoliert besitzen. Wer eine Tugend hat, hat sie alle, und wer auf der Grundlage einer Tugend handelt, handelt auf der Grundlage aller Tugenden. In unserem Zusammenhang ist entscheidend, dass r Chrysipp neben die ethischen Tugenden auch zwei andere Arten von Tugenden treten, die naturkundliche Tugend (physikê) und die dialektische Tugend (dialektikê). Während der Besitz der dialektischen Tugend dar sorgt, dass der Weise in kritischer, überlegter Weise mit den Eindrücken (phantasiai) umgeht und sich nicht vernunlos mitreißen lässt, ist die naturkundige Tugend ganz offensichtlich nötig, um dem Weisen durch umfas-
¹⁵ Stob. ..–: diathesin […] psychês symphônon hautêi peri holon ton bion. ¹⁶ Vgl. die Texte SVF .–. ¹⁷ Vgl. Stob. ..f., enthalten in LS H.
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sende Kenntnis der Natur die Eingung in den göttlichen Sinnzusammenhang zu ermöglichen.¹⁸ Es ist ohne weiteres deutlich, wie ungemein hoch der Standard ist, an dem der Besitz der Tugend gemessen wird: () Tugend wird maximalistisch als eine nichtgraduelle Eigenscha bestimmt, die man entweder vollständig hat oder gar nicht; () wer eine Tugend hat, hat alle Tugenden und handelt in Übereinstimmung mit allen Tugenden; () der Besitz der ethischen Tugenden setzt umfassende naturkundige und dialektische Kenntnisse voraus. Es kann nicht verwundern, dass r die Stoiker der Besitz der Tugend etwas überaus Seltenes ist. Seneca bemerkt, der Weise werde vielleicht, wie der Phönix – ein Wundervogel aus der ägyptischen Mythologie – nur einmal in Jahren geboren.¹⁹ Die Stoiker nahmen wahrscheinlich nicht einmal r ihren eigenen Schulgründer, Zenon, in Anspruch, er sei weise gewesen.²⁰ Durch den ungemein hohen ethischen Standard, den sie postulierten, fiel r die Stoiker die Menschheit also in zwei radikal verschiedene Typen auseinander: zum einen den als Idealfigur präsentierten Weisen, von dem aber zutiefst aglich ist, ob es ihn jemals gegeben hat; zum anderen die normalen Menschen, die die Tugend nicht haben und deswegen ein vollständig misslungenes und unglückliches Leben hren. Wie die Stoiker diese grundlegend dichotomische Anthropologie vor dem Hintergrund einer einheitlichen natürlichen Ausstattung des Menschen konzipierten, werde ich im folgenden Abschnitt zeigen.
Dichotomische Anthropologie Die Vollendung des Menschen, wie sie die Stoiker mit ihrer Idealfigur des Weisen postulierten, ist nicht das Resultat eines göttlichen Eingreifens und damit einer göttlichen Gnade. Wie bei den anderen antiken Glückstheorien ist das gelingende, vollendete menschliche Leben (die Eudämonie) r den Menschen durch eigene Anstrengung erreichbar. Wenn allerdings niemand oder beinahe niemand weise ist, wie die Stoiker ja behaupteten, dann mussten sie eine Erklärung dar anbieten, wieso dieses erreichbare Ideal nicht realisiert ist. ¹⁸ Vgl. den wichtigen Artikel Menn . ¹⁹ Vgl. Ep. ad Luc. .. ²⁰ Zur Figur des stoischen Weisen vgl. Brouwer .
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Die Stoiker gaben folgende Erklärung: Die Menschen haben zwar von Natur aus die Anlage, eine perfekte Vernun zu entwickeln, dieser Entwicklung der Vernun treten jedoch schon direkt nach der Geburt Störfaktoren entgegen.²¹ Chrysipp nannte zumindest zwei solcher Störfaktoren: erstens den täuschenden Anschein der Dinge und zweitens den Einfluss der Meinungen anderer.²² Der täuschende Anschein der Dinge beginnt direkt mit der Geburt. Für Neugeborene ist der Übergang aus der warm-feuchten Gebärmutter hinaus in die kalt-trockene Lu ein Schock. Die damals übliche Praxis, diesem Schock entgegenzuwirken, indem man die Neugeborenen sofort in warmes Wasser taucht, war in Chrysipps Augen schon der erste Beginn einer verkehrten Entwicklungstendenz. Hiermit werde der Anschein erweckt, dass unangenehme Dinge schlecht und angenehme Dinge gut seien. In der Erziehung werde diese verkehrte Tendenz weiter verstärkt durch die Übertragung verkehrter Meinungen von den Erziehern auf die Kinder. Die verkehrte Meinung, dass nicht die Tugend das einzige Gut ist, sondern dass es eine Güterskala gibt, auf der Lust bzw. Unlust einen wichtigen, vielleicht sogar den höchsten Platz innehaben, wird auf diese Weise tief im menschlichen Bewusstsein verankert. Die stoische Theorie der Aneignung (oikeiôsis) scheint demgegenüber die Funktion gehabt zu haben, eine Skizze davon zu liefern, wie die ungestörte Entwicklung des Menschen hin zur vollendeten Vernun verlaufen sollte.²³ Die oikeiôsis-Lehre skizziert sowohl die Entwicklung des individuellen Menschen hin zur Vernun als auch seine Sozialisierung. Was die Entwicklung des individuellen Menschen hin zur Vernun betri, zeigt die oikeiôsis-Lehre, wie der Erwerb der Vernun die ursprünglich auf den physischen Selbsterhalt gerichteten Drang transformiert. Anstelle eines engen, auf seine physis gerichteten Selbstverständnis des Menschen tritt eine vernungemäße Auffassung dessen, was den Menschen ausmacht. Die Tugend wird zum Strebensziel und der Mensch kann sich sogar gegen seinen physischen Selbsterhalt entscheiden, wenn das r die Realisierung des Guten nötig sein sollte. Der soziale Aspekt der oikeiôsis-Lehre findet sich in der Skizze eines Prozesses hin zum Begreifen des engen Bandes, der Verwandtscha zwischen allen Menschen. In Ciceros Darstellung beginnt diese Realisierung der »universalen Gemeinscha des Menschengeschlechts« mit dem Ausgangspunkt der Liebe der Eltern zu ihren Kin²¹ In der Forschung wird diese Erklärung unter dem Titel »Wiegenargument« (cradle argument) diskutiert: vgl. den grundlegenden Artikel Brunschwig . ²² Vgl. SVF . (Calcidius). ²³ Vgl. LS § .
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dern.²⁴ Eine davon verschiedene Version finden wir in einem Exzerpt von dem Stoiker Hierokles (. Jh. n. Chr.) bei Stobaeus.²⁵ Das Individuum ist von einer ganzen Anzahl konzentrischer Kreise umgeben. Der engste dieser Kreise umschließt die Vernun und den Körper des Individuums. Es folgt ein Kreis mit den nächsten Verwandten, und dann immer weitere Kreise mit in immer loseren familiären und sozialen Verbindungen zum Individuum stehenden Menschen. Der äußerste Kreis wird durch die gesamte Menschheit gebildet. Die Aufgabe ist nun laut Hierokles, diese Kreise zu kontrahieren und so die natürliche affektive Haltung zu den näher stehenden Menschen auszudehnen auf die Menschen, die weiter weg stehen. Wie bei Cicero ist auch hier ein enges Band zwischen allen Menschen Zielpunkt der Sozialentwicklung. Normalerweise wird jedoch, wie gesagt, dieser Zielpunkt einer vollendeten Vernünigkeit, der in der oikeiôsis-Lehre sowohl in seinem individuellen als auch in seinem sozialen Aspekt beleuchtet wird, nicht erreicht. Die Nichtweisen verfehlen das Ziel nicht etwa dadurch, dass bei ihnen verschiedene Teile der Seele nicht gut koordiniert wären und dadurch die Kontrolle durch die Vernun defizient wäre.Gemeinscha Eine derartige Erklärung hatte Platon im vierten Buch des Staates angeboten, aber im Gegensatz zur Moralpsychologie in Platons Staat bietet Chrysipp – ganz im Einklang mit Sokrates, dem Ahnherrn der Stoiker – eine monistische Psychologie.²⁶ Die menschliche Seele ist etwas Einheitliches, ein Seelenpneuma, das den gesamten Körper durchdringt. Wo unsere Quellen von »Teilen« (merê, moria) der menschlichen Seele sprechen, sind verschiedene Vermögen gemeint, die in einer zentralen Instanz, dem »Führungsvermögen« (hêgemonikon) koordiniert sind. Das Führungsvermögen wird durch Chrysipp in der Gegend des Herzens lokalisiert. Gemäß seiner Überzeugung von der transformierenden Anwesenheit der Vernun im Menschen scheint er das Führungsvermögen mit der Vernun identifiziert zu haben. Die menschliche Seele ist also grundlegend vernünig. Ein Gegensatz zwischen der Vernun und den Affekten (pathê) kann damit nicht mehr als Gegensatz zwischen einem vernünigen und einem affektiven Teil der Seele erklärt werden. Für Chrysipp sind Affekte ein Defekt der Vernun und damit der ganzen Seele. Affekte sind verkehrte Urteile. Sie sind verkehrte Zustimmungsakte. Ereignisse rufen beim Mensch bestimmte Eindrü²⁴ Vgl. De fin. .– (= LS F). ²⁵ Vgl. LS G. ²⁶ Einige grundlegende Texte sind in LS § versammelt und kommentiert. Poseidonios dürfte gegen den Monismus Chrysipps die Plausibilität der platonischen Dreiteilung der Seele betont haben, wenn auch das Ausmaß seines Abrückens von Chrysipps Psychologie umstritten bleibt; vgl. dazu etwa Kidd und Cooper .
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cke hervor. Zum Beispiel ru eine negative Entwicklung der Börse bei einem Anleger den Eindruck hervor, dass er Geld verloren hat. Dieser Eindruck wird nun fast automatisch mit einem evaluierenden Eindruck verbunden, dem Eindruck, dass hier etwas Schlechtes stattgefunden hat. Wenn der Anleger diesem Eindruck zustimmt, also urteilt, dass sich hier etwas Schlechtes zugetragen hat, wird er einen Affekt spüren, den Affekt der Unlust (lypê). Die Pointe ist nun, dass dieses Urteil verkehrt ist: Geld ist in der Überzeugung der Stoiker nicht in Wirklichkeit das Gute, das ist allein die Tugend. Es ist also verkehrt, dem Erwerb oder Verlust von Geld eine solche Bedeutung zuzumessen. Jemand, dessen Verständnis von gut und schlecht richtig wäre, würde dem Eindruck, dass der Verlust von Geld etwas Schlechtes ist, nicht zustimmen (oder vielleicht würde dieser Eindruck in ihm gar nicht entstehen) und deshalb keine Unlust hlen. Die Stoiker unterscheiden vier Arten von Affekten. Neben der Unlust (lypê) stehen die Lust (hêdonê), die Furcht (phobos) und die Begierde (epithymia). Genau wie die Unlust sind auch diese Affekte verkehrte Urteile. Der Weise, dessen Perspektive auf gut und schlecht richtig ist, wird keinen dieser Affekte haben. Das Idealbild des affektlosen Weisen, das in den Textzeugnissen von der späteren Stoa breiten Raum einnimmt, hat natürlich die populäre Gleichsetzung des »Stoizismus« mit einer »unerschütterlichen Ruhe« stimuliert. Allerdings wäre es falsch, den Weisen als regungslos zu schildern. Die Stoiker kennen dem Weisen drei »positive Affekte« (eupatheiai) zu, die den verkehrten Affekten gegenübergestellt werden: Freude (chara), Vorsicht (eulabeia) und (richtiges) Wünschen (boulêsis).²⁷ Dies sind Emotionen, die auf der Grundlage richtiger Werturteile zustande kommen und damit im Einklang mit der stoischen Wertlehre stehen. Der Weise hlt keine Furcht, etwa vor dem möglichen zukünigen Verlust von Geld, aber er wird vorsichtig sein: Besitz ist ein vorgezogenes Ding (prohêgmenon), dessen Verlust den Weisen nicht unglücklich macht, aber er wird, wenn es geht, seinen Besitz zu wahren versuchen. In Chrysipps monistischer Theorie kann auch das Handeln wider eigene bessere Einsicht (akrasia) nicht (wie es in Platons Psychologie möglich wäre) durch einen Konflikt zwischen unterschiedlichen Seelenteilen erklärt werden. Wie uns Plutarch berichtet, scheint Chrysipp eine raffinierte Theorie entworfen zu haben, die den Anschein eines synchronen Konflikts zwischen Begierde und Vernun erklären kann: Das Führungsvermögen oszilliert zwischen den beiden Standpunkten, die wir als »Begierde« und »Vernun« beschreiben würden, und zwar so rasch, dass der Eindruck ²⁷ Vgl. DL ..
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eines synchronen Konflikts zwischen Begierde und Vernun entsteht. In Wirklichkeit aber ist es das einheitliche Führungsvermögen, die einheitliche Vernun, die sukzessiv diese Standpunkte einnimmt.²⁸ So durchdacht die monistische Psychologie der Stoiker und die mit ihr verbundenen Theorien auch sind, muss doch zugegeben werden, dass die Konzeption einer grundlegend vernünigen Seele, die im Normalfall dann doch eine bloß defizitäre Vernun hat (eine Vernun also, die nicht so ist wie sie sein soll), zutiefst paradox wirkt. Vielleicht können wir dieses Paradox am besten von dem stoischen Ideal eines Lebens im Einklang mit der Natur her begreifen. Das Gelingen des menschlichen Lebens, die Eudämonie, hängt vom Einnehmen einer bestimmten Haltung ab, der Perspektive des göttlichen Sinnzusammenhangs. Was den Weisen von den Nichtweisen unterscheidet, ist, dass die Nichtweisen von einer falschen Perspektive her auf das Leben schauen, deshalb nicht die richtigen Schlüsse ziehen und deshalb keine epistemisch stabile, kohärente Position einnehmen. Das Einnehmen der richtigen oder falschen Perspektive macht das menschliche Leben als ganzes zu einem gelungenen oder misslungenen. Diesen Kontrast zwischen dem als ganzem gelungenen und dem als ganzem misslungenen Leben formulierten die Stoiker in zahllosen Wendungen, die die Dichotomie zwischen dem Weisen und den Nichtweisen unterstreichen sollten. Das Muster dieser Wendungen ist durchgehend, dass alle positiven Eigenschaen der exklusive Besitz des (oder, manchmal auch im Plural: der) Weisen sind und die Nichtweisen dem (oder: den) Weisen diametral gegenübergestellt werden. Ich gebe hier nur einige wenige dieser dichotomischen Charakterisierungen wieder:²⁹ Allein der Weise besitzt Wissen (epistêmê); die Nichtweisen haben bloß Meinungen (doxai); der Weise ist vollständig tugendha und alles, was er tut, geschieht in Übereinstimmung mit der Tugend. Die Nichtweisen sind dagegen vollständig tugendlos und nichts, was sie tun, geschieht in Übereinstimmung mit der Tugend. Der Weise hat keine Affekte, die Nichtweisen dagegen sind andauernd in einem Zustand affektiver Verwirrung (mania). Allein der Weise ist omm; er ist ein Freund der Götter und sein ganzes Leben ist ein Fest zu ihrer Ehre. Die Nichtweisen sind dagegen nicht omm, Feinde der Götter und nehmen in ihrem ganzen Leben nicht an einem Fest zu Ehren ²⁸ Vgl. Plutarch, De virtute morali F–A (= LS G). ²⁹ Eine große Anzahl relevanter Texte ist in SVF .– versammelt. Wichtigste Diskussion der dichotomischen Charakterisierungen: Daraki . Die untenstehenden Beispiele finden sich mit ersten Textverweisen bei Daraki.
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der Götter teil. Dies ist wahrscheinlich so zu verstehen, dass der misslungene Lebenswandel der Nichtweisen keine adäquate Ehrung der Götter darstellt. Auch wird behauptet, dass allein der Weise ei ist, weil er über Selbstbeherrschung vergt; die Nichtweisen dagegen sind Sklaven, weil ihnen diese Selbstbeherrschung abgeht. Ferner wird behauptet, dass allein der Weise reich sei. Wir müssen dies so verstehen, dass allein der Weise die richtige Haltung gegenüber äußerem Besitz hat und deshalb an dem, was er besitzt, genug hat. Hinzu treten Formulierungen wie die, dass allein den Weisen ein schönes Alter und ein schöner Tod beschieden ist. Und allein die Weisen sind untereinander beeundet, während die Nichtweisen untereinander verfeindet und einander emd sind, was sogar r Eltern gegenüber ihren Kindern und r Geschwister untereinander gilt. In solchen Äußerungen finden wir ganz offensichtlich den Versuch, den Kontrast zwischen dem Weisen und den Nichtweisen zu maximieren. Dies wird an der zuletzt wiedergegebenen Charakterisierung exemplarisch deutlich. Es wäre r die Stoiker möglich gewesen, von Freundscha auf verschiedenen Niveaus zu sprechen und deutlich zu machen, dass bei den Nichtweisen zwar von Freundscha und Harmonie in einem bestimmten Sinn die Rede sein kann, dass aber Freundscha auf der Basis einer geteilten Erkenntnis des Guten nicht anzutreffen ist. Was wir stattdessen in den Texten finden, ist das Bemühen, den Kontrast zwischen Weisen und Nichtweisen dadurch zu maximieren, dass bei den Nichtweisen nicht nur jede Freundscha ausgeschlossen wird, sondern umgekehrt davon gesprochen wird, dass zwischen ihnen Feindscha und Fremdheit herrschen. Was könnte der Sinn dieses maximalistisch formulierten Gegensatzes zwischen Weisen und Nichtweisen gewesen sein? Maria Daraki hat darauf aufmerksam gemacht, dass die stoischen Charakterisierungen des Weisen und der Nichtweisen deutliche Anklänge an Hesiods Werke und Tage (Erga kai hêmerai) darstellen.³⁰ Der epische Dichter Hesiod, der um v. Chr. lebte, schildert in diesem Werk eine Verfallsgeschichte in nf Weltaltern, die von dem ersten Zeitalter, in dem ein »goldenes Geschlecht« (chryseon genos) von Menschen lebte, bis zum »eisernen Geschlecht« (genos sidêreon) der heutigen Menschen reicht. Das goldene Geschlecht lebte zu Zeiten der Herrscha des Gottes Kronos. Die Menschen des goldenen Geschlechts lebten ei von Sorge, im Besitz aller guten Dinge, sie waren Freunde der Götter, gesund, kräig und wurden am Ende ihres Lebens schließlich durch einen angenehmen Tod weggerückt, gleichsam einschlafend (Erga –). Das eiserne Geschlecht der heu³⁰ Daraki .
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tigen Menschen lebt dagegen im ständigen Konflikt untereinander, selbst Eltern und Kinder leben im Zwist, sie rchten die Götter nicht, es gilt das Recht des Stärkeren, Wahrheit und Recht gelten nichts (Erga –). Die Parallelen zwischen der Schilderung von Weisen und Nichtweisen bei den Stoikern einerseits und der Charakterisierung von goldenem und eisernem Geschlecht bei Hesiod andererseits sind zu pointiert, um als zufällige Übereinstimmung wegerklärt zu werden. Die Stoiker scheinen ganz bewusst Hesiods Werken und Tagen verwendet zu haben, um ihrer Ausgestaltung des Gegensatzes von Weisem und Nichtweisen Form zu geben. Im Grunde – das zeigt Daraki überzeugend – benutzten die Stoiker Hesiod, um ihrerseits einen Kontrast zwischen zwei »Geschlechtern« von Menschen aufzubauen. Im Falle der Stoiker ist dieser Kontrast nicht historisch – der Weise ist eine zeitlose Figur und nicht in einer fernen Vergangenheit angesiedelt –, so dass wir vielleicht eher von zwei »Arten« oder »Typen« Menschen sprechen sollten. Und tatsächlich unterscheiden, wie Stobaeus uns berichtet, Zenon und die ihm folgenden stoischen Philosophen […] zwei Arten Menschen (dyo genê tôn anthrôpôn) […], den Typ der rechtschaffenen und den der schlechten Menschen. Der rechtschaffene Typ wendet durch sein ganzes Leben hindurch die Tugenden an, während der schlechte Typ die Untugenden zum Zuge bringt. Demnach handelt der erstere in allem, was er unternimmt, immer richtig, der letztere dagegen falsch.³¹
Soweit die Analyse von Daraki. Ich denke, dass wir Darakis Interpretation vervollständigen können, wenn wir den literarischen Charakter der Werke und Tage beachten, auf die die Stoiker mit ihren Beschreibungen des Weisen und der Nichtweisen zurückgreifen.³² Werke und Tage ist eine Ermahnung in Dichtform. Das Gedicht ist – zumindest in der literarischen Fiktion – an Hesiods Bruder Perses gerichtet, der nach dem Tod des Vaters durch Bestechung der Richter einen unrechtmäßig großen Teil des Erbes zugesprochen bekommen hatte. Hesiod ermahnt mit Werke und Tage seinen Bruder, auf dem begangenen Unrecht nicht zu beharren. Er erklärt, dass Recht und harte Arbeit die gottgegebenen Parameter der menschlichen Existenz sind. Hesiod betont, genau wie nach ihm die spätere philosophische Tugendethik, den prudentiellen Charakter des Strebens nach Tugend: der Erwerb der Tugend ist im besten Interesse des Menschen, das Laster lohnt sich nicht. ³¹ Stob. ..– (= LS N). ³² Zu Hesiod vgl. etwa Knebel .
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Wenn die Stoiker mit ihren dichotomischen Charakterisierungen des Weisen und der Nichtweisen auf die Werke und Tage zurückgreifen, gewinnen diese Charakterisierungen also den Sinn eines Auufs, einer Ermahnung, den mit harter Arbeit verbundenen tugendhaen Lebenswandel zu wählen. Die dichotomische Charakterisierung von zwei Typen von Menschen stellt die Adressaten der stoischen Philosophie vor die Wahl, ob sie beim Schlechten bleiben wollen oder, im eigenen Interesse, dem Guten nachstreben wollen. Das Zurückgreifen der Stoiker auf Hesiod zeigt also, dass es bei ihrem Nachdenken über den Menschen nicht um eine neutrale, beschreibende anthropologische Theorie geht (sofern das überhaupt möglich wäre), sondern dass es sich um eine Anthropologie in ethischer Perspektive handelt, die paränetisch (d.h. im Stil einer Mahnrede) vorgetragen wird. Diese »Intertextualität« der dichotomischen stoischen Anthropologie wird von den Adressaten ohne Zweifel verstanden worden sein: Werke und Tage war ein zentraler Text des griechischen Curriculums, mit dem die Adressaten der stoischen Philosophie vertraut waren. Bleibt natürlich die Frage, ob eine Rhetorik, die den Kontrast zwischen dem Weisen und den Nichtweisen maximiert, nicht eher demotivierend auf die Adressaten gewirkt haben düre. Es fällt jedenfalls auf, dass in der mittleren und späteren Stoa ein sehr zurückhaltender Gebrauch von der Figur des Weisen gemacht wird.³³ An die Stelle einer konontierenden, das Ideal des Weisen betonenden Rhetorik tritt nun ein mehr verbindender paränetischer Stil, der vor allem Anknüpfungspunkte zu dem sucht, was der Einzelne hier und jetzt leisten kann. Kann es sein, dass die Adressaten die maximierende Rhetorik der älteren Stoa als Teil eines literarischen Verweisungsspiels und deshalb sowieso mit einem Körnchen Salz aufgenommen haben? Dann würde die moderatere Paränese in den späteren Phasen der Schule im Grunde nur ein Verständnis der ühstoischen dichotomischen Rhetorik artikulieren, das in der Intertextualität zu Hesiods Werken und Tagen schon beschlossen lag. Das wäre gut möglich, aber mit den heute zur Vergung stehenden Quellen ist diese Frage nicht definitiv zu beantworten.
³³ Vgl. etwa Seneca, Ep. ad Luc. . (= LS C) und Long , – zu Epiktet.
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Hinweise zur weiteren Lektüre Brouwer, René (). »Sagehood and the Stoics«. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy , –. Daraki, Maria (). »Les deux races d’hommes dans le stoïcisme d’Athènes«. In: Les stoïciens. Hrsg. von Gilbert Romeyer Dherbey und Jean-Baptiste Gourinat. Paris, S. –. Gill, Christopher (). »e School in the Roman Imperial Period«. In: e Cambridge Companion to the Stoics. Hrsg. von Brad Inwood. Cambridge, S. –. Holowchak, Mark Andrew (). e Stoics. A Guide for the Perplexed. London und New York. Inwood, Brad, Hrsg. (). e Cambridge Companion to the Stoics. Cambridge. Jedan, Christoph (). Stoic Virtues. Chrysippus and the Religious Character of Stoic Ethics. London und New York. Long, Anthony A. (). Epictetus. A Stoic and Socratic Guide to Life. Oxford. Menn, Stephen (). »Physics as a Virtue«. Hrsg. von John J. Cleary und Gary M. Gurtler. In: Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy , –. Muller, Robert (). Les stoïciens. La liberté et l’ordre du monde. Paris.
Die Dummen und der Weise
Schofield, Malcolm (). e Stoic Idea of the City. Mit einer Einl. von Martha Nussbaum. . Aufl. Chicago. Sedley, David (). »e School, from Zeno to Arius Didymus«. In: e Cambridge Companion to the Stoics. Hrsg. von Brad Inwood. Cambridge, S. –. Vogt, Katja Maria (). Law Reason, and the Cosmic City. Political Philosophy in the Early Stoa. Oxford.
Weitere zitierte Literatur Brennan, Tad (). e Stoic Life. Emotions, Duties, and Fate. Oxford. Brunschwig, Jacques (). »e Cradle Argument in Epicureanism and Stoicism«. In: e Norms of Nature. Studies in Hellenistic Ethics. Hrsg. von Malcolm Schofield und Gisela Striker. Cambridge, S. –. Cicero, Marcus Tullius. De legibus. Hrsg. von Konrat Ziegler. Bearb. von Waldemar Görler. . Aufl. Freiburg und Würzburg . (Zitiert als De leg.). Cooper, John Madison (). »Posidonius on Emotions«. In: Reason and Emotion. Essays on Ancient Moral Psychology and Ethical eory. Princeton, S. –. Inwood, Brad (). »Rules and Reasoning in Stoic Ethics«. In: Topics in Stoic Philosophy. Hrsg. von Katherina Ierodiakonou. Oxford, S. –. Kidd, Ian G. (). »Posidonius on Emotions«. In: Problems in Stoicism. Hrsg. von Anthony A. Long. London, S. –. Knebel, Gerda (). Art. »Hesiod«. In: Lexikon der alten Welt. Hrsg. von Carl Andresen u. a. Bd. : Haaropfer–Qumrān. Zürich und München, Sp. –. Rousseau, Jean-Jaques (). Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Übers. von Ph. Rippel. Stuttgart. Sellars, John (). Stoicism. Berkeley und Los Angeles.
Jula Wildberger
Partikel und Erinnerungsspuren. Der Mensch Epikurs Der epikureische Mensch ist ein Paradoxon. In die Welt gekommen als zufällig entstandenes Aggregat von Atomen, erfährt er unter Schmerzen durch die »Stimme seines Fleisches«,¹ was gut und was schlecht r ihn ist. Ein Sklave falscher Meinungen, die ihn mit Ängsten und unnötigen Bedürfnissen quälen, kann er lernen, durch die intellektuelle Kra seines Geistes jedes Leid zu überwinden und glückselig wie ein Gott zu werden. Erst ein Einzelwesen, dessen ganzes Streben auf Verfolgung des Eigennutzes ausgerichtet ist, entwickelt er sich vom grobknochigen, einsam streifenden Tier zum Bewohner eines zivilisierten Staates, von dem er sich abwendet, um in der Gemeinscha gleichgesinnter Freunde Geborgenheit, Einsicht und Glück zu finden. Dem, was r einen Epikureer der Begriff »Mensch« bedeutet haben könnte, möchte ich mich aus drei Richtungen nähern. () Zunächst werde ich den epikureischen Menschen quasi aus naturwissenschalicher Perspektive in den Blick nehmen, ihn in seine Bestandteile zerlegen und als Teil des Kosmos und als biologischen Organismus analysieren. () Dann werde ich versuchen, in die Haut eines Exemplars dieser Spezies zu schlüpfen und nachzuvollziehen, wie es sich in seiner epikureischen Welt zurechtfindet. () Damit ist die Grundlage geschaffen r den letzten Schritt: den epikureischen Menschen als Kulturwesen in einer Gemeinscha zu verstehen.
Der Mensch von außen betrachtet . Mensch aus Atomen Wie der epikureische Kosmos insgesamt bestehen Menschen aus winzigen, unterschiedlich geformten, nicht weiter teilbaren Materiekörperchen, den Atomen, die ¹ Sententiae Vaticanae . Die Sententiae Vaticanae sind eine anonym überlieferte Sammlung epikureischer Lehrsätze; darunter befinden sich Stücke aus Epikurs Hauptlehrsätzen, aber auch Sätze die nachweislich von anderen Epikureern stammen. Vgl. auch Sextus Empiricus, Gegen die Mathematiker ..
Jula Wildberger (). »Partikel und Erinnerungsspuren. Der Mensch Epikurs«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
Partikel und Erinnerungsspuren. Der Mensch Epikurs
durch ein unendliches Vakuum schwirren. Menschen sind durch eine Mischung von Gesetzmäßigkeit, Zufall und Selektion entstanden: Atome von unterschiedlicher Form und Größe und entsprechend unterschiedlichen Eigenschaen prallen zufällig aufeinander und verbinden sich zu mehr oder weniger großen Aggregaten. So entstehen und vergehen zahllose immer neue Welten und vor allem auf den jüngeren Welten auch allerlei Organismen. Wie der römische Epikureer Lukrez (. Jh. v. Chr.) im nen Buch seines Lehrgedichts Über die Natur (De rerum natura) erklärt,² können diese Organismen in drei Klassen eingeteilt werden: die Missgeburten, die gleich nach ihrer Entstehung eingehen, die gerade so Überlebensfähigen und die Fitten. Auch auf unserer Welt habe es Missgeburten gegeben, denen wichtige Glieder oder Organe fehlten, so dass sie unfähig waren sich fortzupflanzen oder zu wachsen und manche sogar überhaupt »weder irgendetwas tun konnten noch sich irgendwohin bewegen noch Übel meiden noch sich nehmen, was ihr Nutzen wollen würde«.³ Die übrigen Organismen konnten überleben und waren »fähig, durch Fortpflanzung Arten (saecla) zu schaffen« (). Allerdings konnten von diesen überlebensfähigen Arten nur die fittesten auf Dauer fortbestehen, nämlich diejenigen, die zusätzlich mit irgendeiner besonderen überlebenssichernden Fähigkeit ausgestattet waren. Arten ohne eine solche Spezialisierung waren r die anderen eine leichte Beute und starben wieder aus (–). Physiologisch verändert sich eine einmal entstandene Art nicht mehr. Es gibt keine Evolution im Sinne Darwins – wohl aber eine Selektion unter den verschiedenen Arten, die im Streben nach ihrem eigenen Überlebensvorteil teils in Konkurrenz um die gleichen Ressourcen stehen, teils eine andere Art als Ressource nutzen oder mit ihr kooperieren, wie die Haus- und Nutztiere, die von Menschen r ihre jeweiligen Leistungen Schutz erhalten (–). Epikureer stellten sich vererbte artspezifische Fähigkeiten bei Tieren also durchaus komplex vor und dachten dabei nicht nur an physische Merkmale, sondern auch an Charaktereigenschaen und Verhaltensmuster, einschließlich der Interaktion mehrerer Individuen derselben oder verschiedener Arten. Eine grundsätzliche Trennung zwischen einerseits menschlicher Kultur und andererseits dem als ›natürlich‹ aufgefassten Instinktverhalten der Tiere ist hier nicht ² Lukrez hat sich bei der Abfassung dieses Gedichts sehr eng an eine nur in Papyrusfragmenten erhaltene Schrift Epikurs Über die Natur angelehnt (Sedley ). Die Entstehung von Leben auf jungen Welten beschreibt er in Buch .–. Siehe zum ema Campbell mit weiterer Literatur. ³ Lukrez .–. Die Übersetzung folgt dem Wortlaut, der in den Handschriften bezeugt ist (quod volet usus).
Jula Wildberger
zu erkennen. Die menschliche Zivilisation dringt nicht etwa störend in einen unberührten ›natürlichen‹ Lebensraum ein; Menschen mit ihren spezifischen Bedürfnissen und ihrer Kultur sind vielmehr ein Teil der Umwelt- und Selektionsbedingungen, auf die verschiedene Tierarten mehr oder weniger gut eingestellt sind. Umgekehrt sind Menschen auch nur eine der vielen spontan entstandenen Arten, die sich aufgrund der ihnen von Anfang an gegebenen Fähigkeiten als fit genug erwiesen haben, um bis heute immer neue Generationen von Nachkommen hervorzubringen.
. Funktionen und Naturen Die Epikureer widersprachen also teleologischen Welterklärungen, wie sie von den meisten ihrer zeitgenössischen Philosophenkollegen vertreten wurden: Weder der Kosmos insgesamt noch die Welt, in der wir leben, wurde von irgendeiner planenden, wollenden Kra hervorgebracht. Keine Gottheit hat die Menschheit geschaffen oder gar die Welt zu der Menschen Vorteil eingerichtet. Keine Vorsehung kümmert sich liebevoll um ihre Geschöpfe. Menschen sind ein Zufallsprodukt in einer Zufallswelt und zufällig so beschaffen, dass sie unter den gegebenen Umständen überleben und sich fortpflanzen können. Selbstverständlich brachten Epikureer zahlreiche Argumente vor, um dieses nichtteleologische Weltbild gegen die Meinungen anderer Philosophen zu verteidigen. Interessant ist der Einwand, den der Peripatetiker Alexander von Aphrodisias (. Jh. n. Chr.) gegen eine solche Argumentation vorbrachte: Der Irrtum der Epikureer bestehe darin, dass sie meinten, alles, was »wegen etwas« (heneka tou) geschehe, könne nur durch einen rationalen, wollenden Geist, also im Wege einer intentionalen Handlungsentscheidung (prohairesis) und mit vernüniger Überlegung (logismos) geschehen.⁴ Nach Alexander argumentierten die Epikureer also auf der Basis der falschen Alternative, dass unsere Welt entweder von einem intendierenden, denkenden Subjekt geschaffen und erhalten werde oder rein zufällig entstanden sei und weiter bestehe. Es gab nämlich auch Theorien, wonach ein Geschehen, das auf ein bestimmtes Ziel hinausläu, also etwas, das »wegen etwas« geschieht, auf die Aktivität einer nicht-intendierenden Naturkra, einer sogenannten physis, zurückzuhren sei, auf eine Kra also, die ohne Entscheidung und Selbstreflexion das Leben und das Wachstum einzel⁴ Bei Simplikios in Phys., .
Partikel und Erinnerungsspuren. Der Mensch Epikurs
ner Wesen oder des gesamten Kosmos steuert und Dinge hervorbringt, die sie weder will noch sich vorher überlegt hat.⁵ Ganz so einfach machen es sich die Epikureer allerdings nicht. Lukrez erörtert einen Begriff von biologischer Funktion, wonach Organe nicht zu einem bestimmten Nutzen oder Gebrauchszweck geschaffen wurden; der Nutzen stelle sich vielmehr erst nach Entstehung der Organe ein, wenn man anfängt, sie zu gebrauchen: [...] da ja nichts deswegen in unserem Körper entstanden ist, dass wir es benutzen können, sondern vielmehr das, was entstanden ist, [seinerseits erst] den Nutzen (usus) hervorbringt (procreat). Und so gab es auch kein Sehen, bevor die Augen entstanden waren, und nicht eher das Reden mit Worten, als die Zunge geschaffen wurde (creatast); vielmehr ging der Ursprung der Zunge dem Sprechen lange voraus, und viel eher wurden Ohren geschaffen, als dass ein Ton gehört wurde, und schließlich, meine ich, gab es alle Körperteile, schon bevor es ihren Gebrauch gab. Folglich konnten sie nicht um ihrer Benutzung willen wachsen.⁶
Lukrez unterscheidet also zwischen Organ und Funktion und bestreitet, dass es eine Funktion unabhängig vom entsprechend funktionsfähigen und tatsächlich so gebrauchten Organ geben kann. Darin unterscheidet er sich z.B. von Aristoteles, r den die Funktion die Form- und Zielursache des Organs und somit r das Organ originär und essenziell ist: Ohne seine Funktion wäre das Organ gar kein Organ. Näher kommt Lukrez einem modernen evolutionstheoretischen Funktionsbegriff, bei dem die Funktion ebenfalls erst im Nachhinein konstituiert wird, nämlich dadurch, dass – grob gesagt – die direkte oder indirekte Wirkung eines replizierbaren Merkmals einen Selektionsvorteil r seine Träger darstellt, so dass es zur Replikation des betreffenden Merkmals kommt. Allerdings meint Lukrez, auch ohne die jeweilige Funktion sinnvoll von einem Organ sprechen zu können. In modernen Funktionstheorien wird dagegen ein physiologisches Merkmal, ebenso wie bei Aristoteles, erst durch seine Funktion zu einem Organ. Ferner findet man Texte, in denen Epikureer von so etwas wie einer nicht-intendierenden, aber regelha wirkenden physis (lat. natura) zu sprechen scheinen, so etwa Lukrez (.–), wenn er ankündigt, er werde darlegen »woher natura alle Dinge scha, sie wachsen lässt und nährt, und wohinein dieselbe natura sie, wenn sie zugrunde gegangen sind, wieder auflöst.« Natura als dasjenige, was Wachstum oder ⁵ Ein Vertreter dieser physis-eorie war z.B. Straton von Lampsakos (Peripatetiker; im . Jh. v. Chr. Nachfolger eophrasts als Schulhaupt; siehe vor allem Frg. Wehrli). ⁶ Lukrez .–.
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Vergehen initiiert oder steuert, erscheint auch in der Darstellung epikureischer Theologie, die Cicero auf der Basis einer Schri seines Zeitgenossen Philodem (. Jh. v. Chr.) gestaltetet hat.⁷ Dort heißt es, dass die Welt durch eine natura hergestellt wurde, dass dafür kein Produktionsverfahren notwendig war und dass eben das, was nach eurer Behauptung nur durch göttliche Cleverness⁸ hervorgebracht werden konnte, dermaßen einfach ist, dass [besagte] natura noch unendlich viele weitere Welten sowohl hervorbringen wird als auch gerade hervorbringt und bereits hervorgebracht hat.⁹
In Epikurs erhaltenen Originaltexten sind vergleichbare Stellen jedoch nicht zu finden; wenn er von der physis des Ganzen spricht meint er vermutlich den Kosmos insgesamt, insofern er Gegenstand naturphilosophischer Forschung, der sogenannten physiologia, sein kann.¹⁰ Doch auch Epikur hat einen Begriff von physis, nämlich den einer Einzel-physis. Solche Einzel-physeis sind erstens Gegenstände wie das Vakuum, die Atome oder Atomaggregate, die man als etwas r sich Bestehendes betrachten kann, im Gegensatz zu den dauerhaen Eigenschaen (symbebêkota) oder nur vorübergehenden Zuständen (symptômata) eines solchen Gegenstandes. Zweitens spricht Epikur von physis auch dann, wenn er speziell auf die »fortwährende Gesamtstruktur« (Krautz) eines solchen Gegenstandes Bezug nimmt; diese Struktur-physis ist die Gesamtheit aller dauerhaften Eigenschaen eines Gegenstandes, allerdings nicht einfach nur die Summe, quasi ein Agglomerat aller einzelnen Eigenschaen: die Struktur-physis ist vielmehr eine einzige, einheitliche Gesamtstruktur, die mit dem betreffenden Gegenstand immer gegeben ist, solange er existiert.¹¹ Während physis im ersten Sinn, also als eine Art ⁷ Obbink , . Der epikureische Dichter und Philosoph Philodem ist für uns besonders wichtig, weil seine Bibliothek mit fremden und eigenen Schriften bei dem Vesuvausbruch n. Chr. in Herculaneum verschüttet und so teilweise erhalten wurde (Gigante ; Sider ). ⁸ Der Sprecher bezieht sich auf die teleologische Welterklärung der Stoiker. Die Ausdrücke »Cleverness« (sollertia) und »Produktionsverfahren« (fabrica) sind verächtliche Anspielungen auf das Konzept eines kunstfertigen Schöpfergottes, des platonischen Demiurgen, den die Stoiker in ihre eologie übernahmen. Handwerker und Ingenieure standen zu Ciceros Zeit in keinem besonders hohen Ansehen. ⁹ Cicero, Über die Natur der Götter (De natura deorum) .. ¹⁰ Siehe z.B. Hauptlehrsätze (Kyriai doxai) , und im Brief an Herodotos und . Long (, –) sammelt Belege für epikureische Vorstellungen von regelmäßigen, quasi naturgesetzlich determinierten Vorgängen in der Natur. ¹¹ Brief an Herodotos –; die Struktur-physis findet man auch bei Lukrez (z.B. .).
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Existenzbegriff, auf Individuen angewendet wird, um zu sagen, dass es diese Individuen als r sich bestehende Entitäten gibt, kann man mit physis als Strukturbegriff auch Klassen von Individuen beschreiben. In diesem Sinne kann auch ein Epikureer von der »Natur des Menschen« oder von der »Natur der Seele« sprechen.
. Seele und Geist In der so verstandenen Menschennatur findet man nun all das, was der nicht-teleologische epikureische Kosmos insgesamt nicht hatte: Hier durchdringt ein Wirkprinzip das Gesamtgebilde »Mensch«, und es gibt eine hierarchische Ordnung sowie Ziele, Zwecke und Richtungen, auf die das Ganze sich planvoll hinbewegen kann. Dieses Wirkprinzip ist die Seele (psychê) des Menschen.¹² Die Seele macht das Gesamtaggregat Mensch empfindungs-, wahrnehmungs- und bewegungsfähig; »sie ist«, wie Lukrez sagt, »die Wächterin des Körpers und Ursache seiner Erhaltung« (.). Wie der restliche Mensch ist auch seine Seele ein Atomaggregat, ein feinteiliger Körper, der über das gesamte Aggregat hin ausgesät ist, am ähnlichsten einem Windhauch (pneuma) mit einer Beimischung von Warmem, teils mehr dem einen ähnelnd und teils mehr dem anderen. Es gibt aber auch den Anteil [der Seele], der sich im Hinblick auf seine Feinteiligkeit sogar von diesen beiden [d.h. dem Windhauch und dem Warmen] noch erheblich unterscheidet und deswegen noch mehr auch mit dem übrigen Aggregat mit affiziert wird (sympathes) […].
So beschreibt es Epikur im Brief an Herodotos (). Spätere Quellen sprechen von vier Arten von Seelenatomen: Windhauchatomen, die die Seele beweglich machen, Feueratomen, die r die Wärme verantwortlich sind, Luatomen, die Ruhe verleihen, und einer vierten, namenlosen Art, der die Seele ihre Wahrnehmungsfähigkeit verdankt.¹³ Es wurde vermutet, dass Luatome nichts anderes sind als ruhende Windhauchatome, so dass man wieder auf die drei Atomarten im Herodotbrief käme. Gegen diese Lösung spricht allerdings, dass Lukrez auch drei verschiedene Temperamente – Aggressivität, Ängstlichkeit und Lethargie – auf das Vorherrschen je einer der drei Atomarten – der Feuer-, Windhauch- oder Luatome – zurückhrt (.–). Als Beispiel hrt er an dieser Stelle unter anderem feurig aggressive Löwen und hauch¹² Zur epikureischen Psychologie siehe Annas ; Gill ; Konstan , sowie Gill . ¹³ Aëtius .. = Epikur, Frg. Usener; vgl. Lukrez .–.
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artig ängstliche, flüchtige Hirsche an. Löwen und Hirsche kehren später im Lehrgedicht wieder als Beispiele dar, wie eine besondere Fähigkeit bestimmten Tierarten einen Überlebensvorteil sichert (.–; siehe .). Nimmt man beide Passagen zusammen, erhält man einen Hinweis, wie sich Epikureer die physiologische Grundlage solcher Überlebensvorteile dachten: Eine Tierart weist spezifische Verhaltensmuster und Fähigkeiten auf, weil die Aggregate dieser Art aus bestimmten Atomsorten in einem spezifischen Mischungsverhältnis bestehen. Die Seelenatome liegen dicht beieinander und sind sehr gut miteinander vermischt. Deswegen berühren sie sich gegenseitig so o und schwirren so durcheinander, dass sie eine einheitliche physis bilden. So spricht Epikur im Herodotbrief von der »Vielzahl von Atomen die zur physis der Seele beitragen« (); Lukrez sagt, dass die vier Atomarten mit ihren verschiedenen Kräen »miteinander vermischt eine einzige natura schaffen« (.–). Die Seelenatome bilden also im Rahmen des Gesamtaggregats »Lebewesen« eine solche strukturelle und funktionale Einheit, dass man die Seele auch als Entität r sich betrachten und vom »übrigen Aggregat« unterscheiden kann. In einem Scholion zum Herodotbrief ¹⁴ wird Epikur eine weitere Untergliederung des Gesamtaggregats Mensch zugeschrieben, die man auch bei Lukrez (.–) findet: Vom Körper wird zunächst die Seele unterschieden; innerhalb der Seele unterscheidet das Scholion dann weiter einen rationalen und einen irrationalen Teil, während Lukrez von der Hauchseele (anima) und dem Geist (animus) spricht. Die Hauchseele durchdringt den gesamten Körper, während der Geist in der Brust angesiedelt ist, wo man ja auch die Emotionen spüre. Die Unterscheidung im Scholion ist insofern irrehrend, als auch Tiere einen Geist haben – und auch haben müssen, da der Geist nicht nur der Sitz der Emotionen und Gedanken ist, sondern auch der Ort, an dem alle Wahrnehmungseindrücke zusammenlaufen und von dem aus die Bewegungen von Mensch und Tier initiiert werden. Diese Einteilung in Körper, Hauchseele und Geist unterscheidet sich von Epikurs eigener Einteilung. Epikur selbst vermeidet es im Herodotbrief, Körper und Seele oder Körper und Geist einander gegenüberzustellen. Er spricht nicht vom Körper, sondern entweder vom Gesamtaggregat oder von dem »übrigen Aggregat«, das nach Abzug der Seele übrig bleibt. Auch hat die Seele hier keine räumlich klar getrennten Teile, sondern nur Anteile (merê),¹⁵ d.h. sie besteht aus Portionen verschiedener Atome mit unterschiedlichen Eigenschaen, und einen dieser Anteile bilden die be¹⁴ Überliefert im Text selbst: = Frg. Usener. ¹⁵ Lukrez gebraucht das Wort partes (.–).
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sonders feinen, glatten, hochbeweglichen, namenlosen Atome, die r Wahrnehmung und das Initiieren von Bewegungen zuständig sind. Nach Lukrez (.–) »gibt« diese Klasse von Atomen »von sich den Anfang der [Verhaltens-]Bewegung weiter an jene [anderen Atom-Anteile], und von ihr her entsteht zuerst jene wahrnehmungstragende Bewegung (sensifer motus) durch die Eingeweide hin«. Es ist zwar durchaus plausibel, dass auch Epikur meinte, diese namenlosen Atome seien in der Brust besonders konzentriert vertreten; sie dürfen aber nicht mit einem räumlich abgegrenzten Seelenteil »Geist« identifiziert werden, schon allein deswegen nicht, weil es überall im Gesamtaggregat solche Atome geben muss, wenn sie so mit den übrigen Seelenatomen vermischt sind, wie es auch Lukrez behauptet (.–).
. Wahrnehmung und andere mentale Aktivitäten Mit der Annahme dieser besonderen Klasse namenloser Seelenatome glaubten die Epikureer eine Erklärung r die Seelenfunktionen Wahrnehmen, Empfinden, Denken und Handeln vorlegen zu können. Die Besonderheit dieser Atome, die ich im Folgenden zur Vereinfachung »Geist-Atome« nennen werde, besteht darin, dass sie extrem fein und glatt sind und deswegen äußerst leicht in Bewegung geraten. Wahrnehmung ist r einen Epikureer nämlich eine bestimmte Form der Atombewegung, sowohl der Geist-Atome selbst als auch der übrigen Atome im Mensch- oder TierAggregat. Die Atome im übrigen Aggregat r sich genommen sind nicht zu einer Wahrnehmungsbewegung fähig; vielmehr erzeugt [die Seele] für sich selbst im Wege der [Wahrnehmungs-]Bewegung direkt einen Wahrnehmungszustand und gibt diesen auch an das [übrige Aggregat] weiter im Wege der Nachbarschaft [der Seelen- und der übrigen Atome] und des MitAffiziert-Werdens. ¹⁶
Geist-Atome werden durch Auftreffen von Atomen der wahrgenommenen Gegenstände in Bewegung versetzt; das geschieht schon, wenn sie ganz leicht angetippt werden, während bei anderen Atomen ein viel stärkerer Impuls nötig ist. Und eben diesen stärkeren Impuls erhalten die übrigen Seelen- und die anderen Atome im Gesamtaggregat von den Geist-Atomen. Geist-Atome sind gewissermaßen Verstärker und auf diese Weise – neben den Sinnesorganen – Rezeptoren von Sinnesreizen. Die meisten Sinnesreize erreichen den Geist über die Sinnesorgane, z.B. wenn in besonderer Weise geformte Atome die Geist-Atome in der Nase in bestimmte Be¹⁶ Epikur, Brief an Herodotos .
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wegungen versetzen und so einen Geruchsreiz auslösen.¹⁷ Exakt welche physiologischen Prozesse auf dem Weg vom Sinnesorgan zum Geist ablaufen und was genau der Geist mit dem eintreffenden Reiz macht, lässt sich den Quellen nicht entnehmen. Grundsätzlich kann man aber davon ausgehen, dass von den Sinnesorganen entweder Atombewegungen oder Atome zu den Geist-Atomen gelangen, und dass der Geist mit diesen atomaren Sinnesdaten in ähnlicher Weise verfährt, wie mit den Daten, die er direkt durch sein eigenes Wahrnehmungsvermögen erhält. Denn, wie Lukrez erklärt, »versteht (sapit) [der Geist] auch r sich allein und eut sich r sich allein, wenn nichts die Hauchseele (anima) und den Körper (corpus) zusammen [mit dem Geist] in Bewegung versetzt« (.–). Diese Denk- und Vorstellungsvorgänge – selbst das Träumen – sind ebenfalls Reaktionen auf von außen kommende Wahrnehmungsreize. Auch Epikur behauptet das ausdrücklich im Brief an Herodotos (): Man muss auch annehmen, dass wir die [verschiedenen] Formen dadurch sehen und denken [!], dass etwas von den Dingen außerhalb von uns her- und in uns hineinkommt.
Er glaubte, dass von der Oberfläche aller Festkörpern ein ständiger Strom feiner Atomfilme ausgehe, die das Äußere der Körper, von denen sie abströmten, wie ein Abziehbild wiedergäben (–). Überhaupt betont er in seiner Diskussion der Wahrnehmung (–), dass die Atome, die im Geist Wahrnehmungen hervorrufen, Strukturen der wahrgenommenen Aggregate, von denen sie herkommen, bewahren und so zuverlässig Auskun über die Beschaffenheit ihrer Ursprungsaggregate geben würden. Die von den Oberflächen abgesonderten Atomfilme, die sogenannten eidôla, fliegen mit ungeheurer Geschwindigkeit quasi gedankenschnell durch die »Umgebung« (periechon), d.h. den Raum zwischen den wahrgenommenen Festkörpern und dem Wahrnehmenden, und verursachen einen optischen Sinnesreiz im Auge. Besonders feine eidôla, die im Auge keinen Reiz auslösen, können nur noch vom Geist wahrgenommen werden. Solche Gedanken-eidôla können auch dann in der Umgebung präsent sein, wenn ihr Ursprungsaggregat gar nicht mehr anwesend ist. Weil sie so fein sind, zerfallen sie auch leicht in Stücke und und verbinden sich mit Stücken von anderen Gedanken-eidôla, so dass z.B. aus eidôla von Menschen und Pferden eidôla von Kentauren entstehen.¹⁸ Vermutlich zogen die Epikureer sogar in Betracht, dass ¹⁷ Epikur, Brief an Herodotos . ¹⁸ Epikur, Brief an Herodotos –; Lukrez .–.
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sich in der Lu ganz neue eidôla bilden.¹⁹ Aber etwas, das es überhaupt nicht gibt, noch nicht einmal als eidôlon, kann man nicht denken, da jeder Gedanke von einem auslösenden Atomfilm herrührt. Der Geist kann zwar auch r sich allein Wahrnehmungs- und Empfindungsbewegungen aushren, erklärt Lukrez; öer jedoch wird die Wahrnehmungsbewegung an die übrige Seele und das übrige Aggregat weitergegeben. Wenn z.B. die Geist-Atome beim Gedanken an etwas Schauerliches in heige Angstempfindungsbewegung geraten, »dann sehen wir die gesamte Hauchseele durch die Glieder mitempfinden (consentire)« mit Schweißausbrüchen, Erbleichen, Stottern, dröhnenden Ohren und Ohnmacht, »so dass auch wirklich jeder daran leicht erkennen kann, dass die Hauchseele mit dem Geist verbunden ist und ihrerseits, wenn sie von der Bewegungskra des Geistes getroffen wird, dann wiederum den Körper anstößt und peitscht« (.–). In gleicher Weise werden die Handlungen und Bewegungen eines Menschen oder Tieres mit der Beweglichkeit der Geist-Atome erklärt, das Gehen von Lukrez z.B. folgendermaßen (.–): Ich behaupte, dass zuerst eidôla (lat. simulacra) auf unseren Geist treffen und den Geist anstoßen, […]. So entsteht ein Wollen (voluntas). Denn es fängt ja niemand an, irgendetwas zu tun, ohne dass sein Geist schon vorher gesehen hat (providit),²⁰ was er will. [Und] von derjenigen Sache, die er vor sich sieht, gibt es ein eidôlon (lat. imago). Wenn also der Geist sich selbst so bewegt, als wolle er gehen und einherschreiten, dann schlägt er sofort die Kraft der Hauchseele, die im ganzen Körper durch die Körperteile und Glieder verteilt ist. Und das ist auch leicht zu tun, da sie ja [mit ihm] ganz eng verbunden ist. Dann schlägt die Hauchseele, nun selbst an der Reihe, den Körper, und so wird die gesamte Masse allmählich vorangetrieben und in Bewegung versetzt.
Zu beachten ist, dass die Beweglichkeit der Geist-Atome nur eine der Möglichkeitsbedingungen r die Seelenfunktionen Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln ist. Was das Handeln betri, so setzt dieses voraus, dass die »gesamte Masse«, also alle Atome des Aggregats in eine bestimmte Bewegung versetzt werden. Sie müssen somit auch alle in einem bestimmten Maße und in bestimmter Weise bewegungsfähig sein. Zum Wahrnehmen und Empfinden ist der Geist zwar r sich allein, bereits ohne die Sinnesorgane fähig; dennoch betont Epikur im Herodotbrief, dass auch das Wahrnehmen keine Funktion bloß der Seele ist und auch nicht sein kann: Nicht nur, dass die ¹⁹ Epikur, Brief an Herodotos ; Lukrez .. ²⁰ Providere kann auch »vorausschauend planen« und »vorsorgen« bedeuten.
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Seele ihre Wahrnehmungsbewegungen an das übrige Aggregat weitergibt, die Seele hätte überhaupt keine Wahrnehmung, »wenn sie nicht irgendwie von dem übrigen Aggregat bedeckt würde« (). »Es ist nämlich nicht denkbar, dass [das Gesamtaggregat] Wahrnehmungen hat, wenn [es sie] nicht in diesem System [aus Seele und übrigem Aggregat hat] und [es] sich nicht in diesen [Wahrnehmungs-]Bewegungen bewegt, wenn [also] das, was [die Seele] bedeckt und umfängt, nicht so beschaffen wäre, wie das, in dem sie sich jetzt befindet, [so dass] sie diese Bewegungen hat« (). Was Epikur meint, wird verständlich, wenn man etwas weiter oben im selben Brief nachliest, wie er sich Atombewegungen generell vorstellt (). Wie Billardkugeln bewegen sich Atome normalerweise in eine Richtung geradeaus, bis sie auf ein Hindernis treffen, das sie ablenkt oder abprallen lässt. Es kommt aber auch vor, dass Atome auf der Stelle pulsieren, was Epikur palmos nennt. Ein solcher palmos entsteht, »wenn die Atome zufällig durch eine Verflechtung [mit anderen Atomen] eingeschlossen sind oder von den Verflechtungs[atomen] bedeckt sind«. Offenbar ist die Wahrnehmungsbewegung ein Pulsieren, und dazu benötigen die hochbeweglichen Seelenatome andere Atome, die die Seelenatome einschließen und so von sich abprallen lassen, dass sie im Inneren des Atomgeflechts zurückgehalten werden. Dass Wahrnehmungsbewegung nur dann auftritt, wenn die Seelenatome Teil eines größeren Aggregats sind, ist der Grund, weswegen der Tod, den man in der Antike gemeinhin als die Trennung von Körper und Seele definierte, das Ende jeglicher Wahrnehmung und Empfindung bedeutet. »Der Tod ist der Verlust der Wahrnehmung«, sagt Epikur im Brief an Menoikeus, um zu beweisen, dass der Tod »uns nicht betri« (). Wenn das Atomaggregat zerfällt oder die Seelenatome sonst irgendwie aus dem Körper entweichen, dann treffen sie nicht mehr auf den Widerstand des übrigen Aggregats, durch den ihre Bewegung bisher zum Wahrnehmungspulsieren wurde. Da sie hochbeweglich sind, werden sie sich auch weiterhin heig bewegen, aber nunmehr nicht mehr als palmos, sondern in andere Richtungen, und zwar – wie bei so feinen Atomen zu erwarten – in alle Richtungen. Die Seele stiebt auseinander wie Nebel und Rauch.²¹
Der Mensch aus der Innensicht Der Mensch ist ein physischer Teil des Kosmos, nach denselben Prinzipien zufällig entstanden wie alle anderen Aggregate; und wie diese wird er wieder zerfallen. Die ²¹ Lukrez .–. Zu epikureischen Gedanken über den Tod siehe Warren .
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physischen Einflüsse, denen er ausgesetzt ist, wirken auch auf seine ebenso physische Seele. Atome, Atomfilme und Atomaggregate treffen wie in einem gigantischen Billardspiel auf das Atomaggregat »Mensch« und lösen darin nach den Regeln der epikureischen Mechanik weitere Reaktionen und Gegenreaktionen aus, so auch das Fühlen, Denken und Handeln. Da agt man sich, was ein solches pulsierendes und hin und her gestoßenes Atomhäuflein mit dem empfindenden, selbstständig handelnden Wesen zu tun haben soll, als das wir selbst uns wahrnehmen. Wie können diese menschlichen Atomaggregate aufgrund der Erfahrung ihres eigenen Handelns einen zutreffenden Begriff einer bei ihnen selbst liegenden Ursächlichkeit haben, wie sie Epikur gegenüber den Fatalisten betont? Vor allem in zwei Bereichen, meine ich, kann man Antworten auf diese Frage finden. Der eine Bereich ist die Theorie der Empfindungen (pathê); der andere Bereich umfasst eine Reihe von Konzepten und Argumenten, nach denen dem Wahrnehmenden oder Handelnden irgendeine Initiativmacht zugeschrieben wird, die zu dem beiträgt, was man heutzutage unter dem Oberbegriff Willenseiheit diskutiert.
. Fokussierung: Die Initiative des Geistes Beginnen möchte ich mit diesem zweiten Bereich: Selbstverständlich hatten die Epikureer wesentlich komplexere Vorstellungen vom Wahrnehmen, Denken und Handeln, als sie sich aus dem bisher Dargelegten ergeben, und mit steigender Komplexität wird weniger klar, wie man sich die einzelnen psychischen Phänomene auf atomarer Ebene implemenetiert denken soll. Eines dieser rätselhaeren Konzepte ist die Fokussierung (epibolê). Damit ist offenbar gemeint, dass der Geist (oder das Wahrnehmungsvermögen) sich auf etwas Wahrnehmbares ausrichtet. So unterscheidet Epikur im Herodotbrief z.B. verschiedene Eigenschaen desselben Gegenstandes, auf die sich die Fokussierung als Wahrnehmungsobjekte ausrichten kann, und zwar gesondert von dem Gegenstand insgesamt, der ja auch ein mögliches Wahrnehmungsobjekt ist (). Dass es ein solches Konzept der Fokussierung gibt, ist überaus sinnvoll: Ständig treffen zahllose Atome auf alle Sinnesorgane, und doch haben wir immer nur eine begrenzte Zahl von Wahrnehmungen. Es muss also irgendeine Auswahl stattfinden. Durch Fokussierung wird aus dem eigentlich passiven Wahrnehmungsvorgang eine Aktivität, bei der der wahrnehmende Geist die Initiative hat. Er selbst wählt aus, was er wahrnimmt und denkt, und reagiert nicht nur mechanisch auf die von Wahrnehmungsobjekten herkommenden Atome. Dies gilt auch und vor allem r die Auswahl
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von Gedanken-eidôla, die – so heißt es bei Lukrez – zu jeder Zeit und an jedem Ort beliebig zur Vergung stehen (.–). Und weil [die Gedanken-eidôla so] fein sind, kann der Geist scharf nur das wahrnehmen, auf das er sich konzentriert (quae contendit). Entsprechend gehen all die [Gedanken-eidôla], die es außerdem gibt, zugrunde, bis auf diejenigen, die [d.h. deren Wahrnehmung] er aus sich heraus selbst vorbereitet hat (ex se ipse paravit).²²
So würden ja auch die Augen, wenn sie etwas Feines wahrzunehmen begonnen hätten, »sich konzentrieren und vorbereiten« (contendere se atque parare) und anders könnte man keine scharfe Wahrnehmung haben (–). Selbst wenn Dinge klar vor Augen stünden, sehe man sie o nicht, wenn man nicht auf sie achte, genauso wie wenn sie außer Sichtweite lägen (–). Lukrez erklärt nicht, was genau bei der Fokussierung im Geist geschieht; man erfährt aber, dass sie nicht nur ein Anspannen oder Ausrichten auf etwas hin (contendere), sondern auch ein Vorgang ist, bei dem der Geist sich selbst auf eine bestimmte Wahrnehmung, d.h. auf das Eintreffen bestimmter eidôla vorbereitet (parare). Diese Information lässt sich sinnvoll mit dem verknüpfen, was wir aus einer anderen Quelle über die epikureische Erklärung des Gedächtnisses wissen: Im Wege der Sinneswahrnehmung aufgenommene eidôla hinterlassen im Geist »Eindrücke« (entypôseis), und entsprechend werden in solcher Weise Bahnen in unserer physis angelegt, dass auch dann, wenn die Sachen, die er zunächst noch gesehen hatte, nicht mehr anwesend sind, [immer noch] die den ersten [eidôla] ähnlichen [Gedanken-eidôla] im Geist aufgenommen werden […].²³
Gedächtnis ist demnach nichts anderes, als eine besondere Bereitscha, die sowieso immer präsenten Gedanken-eidôla von gewissen Dingen auch tatsächlich aufzunehmen, nämlich von denjenigen Dingen, von denen man bereits Wahrnehmungen hatte. Die Wahrnehmung verändert die Atomstruktur des Geistes also in solcher Weise, dass man dazu tendiert, das Wahrgenommene zu denken, indem man ähnliche Gedankeneidôla im Geist aufnimmt. Das erklärt, warum Epikureer so großen Wert darauf legten, dass man Gedanken, die man unbedingt parat haben sollte, wieder und wieder ²² Lukrez .–. ²³ Diogenes von Oinoanda, Frg. , II.– in Smith . Diogenes ließ im . Jh. n. Chr. in seinem Heimatort in der heutigen Türkei eine riesige Inschrift mit epikureischen Texten aufstellen, die noch immer nicht vollständig erschlossen ist. Siehe auch Gordon und die Webseite des Deutschen Archäologischen Instituts über die Arbeiten in Oenoanda: http: //www.dainst.org/index_8097_de.html.
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repetiere, und dar Spruchsammlungen und Kompendien anfertigten. Fokussierung und Gedächtnis gehören eng zusammen: Fokussierung hrt zu Wahrnehmungen, und Wahrnehmungen hinterlassen Gedächtnisspuren in der Seele; umgekehrt sind diese Gedächtnisspuren der Grund, weswegen die betreffende Seele von nun an das gleiche Wahrnehmungsobjekt öer und leichter fokussiert.²⁴ Lukrez kommt auf die Fokussierung zu sprechen, weil er erklären will, wie es möglich ist, dass anscheinend immer dann, wenn man Lust hat, an irgendetwas zu denken, auch gleich das erwünschte Gedanken-eidôlon zur Vergung steht. Bisher haben wir den Teil der Antwort darauf kennengelernt, der sich aus der Vergangenheit und der Gegenwart sowohl des Wahrnehmenden als auch der Wahrnehmungsobjekte konstruieren lässt. Wie aber kann der epikureische Menschen Gedanken über die Zukun haben? Auch hierzu finden wir bei Lukrez Hinweise: Er agt nämlich, wie man im Traum bewegte Bilder wie z.B. Tanzende sehen kann (.–) und erklärt das damit, dass in winzigen, nicht wahrnehmbaren Zeitabständen ein Bild auf das andere folgt, so dass der Eindruck einer Bewegung entsteht (–). Interessanterweise sagt er aber nicht, dass die Bilder in dieser Folge zueinander passen, weil es sich um zusammenhängende Serien von Gedanken-eidôla handeln würde, die ein tanzendes Atomaggregat irgendwann einmal emittiert hätte und die noch immer in der ursprünglichen Reihenfolge hintereinander durch die Umgebung fliegen würden, ähnlich wie die Bilder auf einer Filmspule. Die Reihenfolge wird vielmehr vom wahrnehmenden Geist hergestellt (–): »Er selbst bereitet sich weiter vor (parat) und erwartet (sperat), dass er [in Gedanken] sehen wird, was auf jede Sache [die er gerade denkt] folgt. Und so geschieht es.« Beim Denken von Bewegungen geschieht also Folgendes: Schon dann, wenn der Geist das eine Gedanken-eidôlon aufnimmt, erwartet er, dass darauf ein passendes weiteres Gedanken-eidôlon folgen wird, bereitet sich darauf vor und ermöglicht so die Fokussierung auf eben dieses nächste Gedankeneidôlon und – im Wege der Fokussierung – auch seine Wahrnehmung. Lukrez hrt das an der betreffenden Stelle zwar nicht aus, aber hier ist zu erkennen, wie der epikureische Mensch Gedanken über die Zukun hat, wie er plant und logisch schließt. Denn auch dies sind Vorgänge, bei denen man »sieht, was auf jede Sache/aus jeder Sache folgt« (). Wie allerdings dieses Erwarten und Das-Folgende-Sehen physiologisch vorzustellen ist, bleibt ein Rätsel. Denkbar ist, dass es nicht nur zeitlose Gedächtnisspuren bestimmter Wahrnehmungsobjekte gibt, sondern auch Eindrücke von Abfolgen, quasi ²⁴ Vgl. Epikur, Brief an Herodotos –.
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Gedächtnisbahnen in unserer physis entstehen, die bei der Fokussierung von einem eidôlon-Typ zum nächsten hren. Der Traum von einem Tänzer könnte so z.B. dadurch möglich sein, dass der Träumende Erinnerungen von tanzenden Menschen hat, also von geordneten Abfolgen visueller eidôla. Solche Abfolgen würden dann beim Träumen von einem Tänzer die Fokussierung in ähnlicher Weise lenken, wie wenn man sich im Wachzustand an einen Tanz erinnert, den man üher einmal gesehen hat. Wenn ein eidôlon wahrgenommen würde, das in den Anfang einer Abfolge von erinnerten Wahrnehmungen passt, würde der Geist diese Gedächtnisbahn abgehen und nacheinander die übrigen Gedanken-eidôla der Abfolge fokussieren. Epikureer stellten sich die Aktivität des Geistes also nicht als ein simples Wechselspiel von Reiz und Reaktion vor. Der Geist selbst hat einen erheblichen Anteil daran, wie er seine Umwelt wahrnimmt und wie er sich in ihr verhält. Nach wie vor jedoch erscheint das bisher Beschriebene als eine zwar komplexe, aber doch mechanisch nach festen Gesetzen verlaufende Verarbeitung atomaren Inputs. Denn das Verhalten des Geistes ist durch ühere Wahrnehmungen geprägt: Diese sind Ursache seiner Erinnerungen und damit auch der entsprechenden Bereitscha, nur gewisse Dinge zu fokussieren. Das Problem haben die Epikureer selbst gesehen und verschiedene Antworten vorgeschlagen, deren Interpretation in der Forschung sehr umstritten ist. Das gilt nicht zuletzt auch r Epikurs aushrliche Diskussion im . Buch seiner Schri Über die Natur, die auf Papyrus agmentarisch erhalten ist und an deren Rekonstruktion noch immer gearbeitet wird.²⁵ An dieser Stelle alle Verzweigungen der vielschichtigen Debatte zu erörtern, würde zu weit hren. Ich werde daher nur einige weitere Komponenten des epikureischen Begriffes von menschlicher Freiheit und Verantwortung umreißen.
. Kausal wirksame höhere Naturen Eine solche Komponente, und zwar wohl die grundlegendste, ist der Umstand, dass Epikur im Gegensatz zu Demokrit neben Atomen und Leere auch andere physeis (vgl. .) als etwas Reales und auch kausal Wirksames anerkannte. Konkret bedeutet das, ²⁵ Eine aktuelle, sehr verständlich geschriebene Gesamtdiskussion ist O’Keefe (aktualisiert in O’Keefe a,b). Die Debatte über die Rekonstruktion der hier interessierenden Fragmente von Epikurs Über die Natur wird zum größten Teil auf Italienisch in der Zeitschrift Cronache Ercolanesi geführt, worin auch die Ausgabe der hier interessierenden Fragmente (Laursen , ) erschienen ist. Einen Zwischenstand dokumentiert die Ausgabe von Masi a.
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dass ein Mensch wirklich eben auch ein Mensch und nicht nur die Atome ist, aus denen er besteht, und entsprechend der menschliche Geist, wie auch seine Dispositionen und Zustände, etwas Reales. Wir könnten dieses bestimmte Ding nicht nur qua (hêi) Atomaggregat mit einer Bezeichnung belegen sondern auch qua [eine Vielzahl einzelner] Atome oder qua bewegte Atome oder [bewegtes] Atomaggregat, und [zwar] nicht nur insofern [die Atome] ›die Abwärtsbewegung‹ genannt werden.²⁶
In der Forschung ist umstritten, wie Epikur das Verhältnis von Einzelatomen zu den aus ihnen gebildeten höheren Strukturen auffasste. Vorgeschlagen wurden u.a. Emergenz, Supervenienz oder verschiedene Formen der Identität. Am plausibelsten erscheint mir ein schwacher Reduktionismus, wonach der Geist und andere physeis mit den jeweiligen Atomen zwar identisch sind, von diesen einzelnen Atomen aber darin verschieden, dass die Aggregate nicht nur einzelne Atome sind, sondern diese Atome in ihren strukturellen, funktionalen oder sonstigen Relationen zueinander (und zu anderen Atomen). So ist etwa die Seele nicht nur die einzelnen Atome, aus denen die Seele besteht, sondern diese Atome in einer bestimmten Anordnung in einem Gesamtaggregat, das ein Lebewesen ist. Wenn die Seelen-Atome aus diesem Gesamtaggregat austreten und in alle Winde verstreut werden, hören nicht die einzelnen Atome auf zu existieren, wohl aber die Atome in ihrer Relation zueinander und zum Gesamtaggregat, und deswegen geht die Seele zugrunde, während die Atome, die nun keine Seelen-Atome mehr sind, weiterexistieren. Wie immer sich die aus Atomen gebildeten Strukturen zu den Einzelatomen selbst verhalten, Übereinstimmung herrscht bei den Interpreten darüber, dass Epikur den höheren Strukturen auch eine kausale Wirksamkeit zuschreibt, die er von der Wirksamkeit der Einzelatome zumindest konzeptionell unterscheidet. Ein Beispiel dar wäre die Wahrnehmung: Die Wahrnehmungsbewegung (vgl. Abschnitt .) wird zwar von den Einzelatomen entsprechend ihrer jeweiligen Einzel-physis ausgehrt, aber diese Einzelatome bewegen sich so, weil sie zu den anderen Atomen in einer bestimmten Relation stehen.²⁷ ²⁶ Epikur, Über die Natur, Buch , Frg. . Arrighetti/Laursen , . Siehe zu diesem ema auch Warren . ²⁷ Epikur, Über die Natur, Buch , Frg. . Arrighetti/Laursen , . Der Text und die Interpretation des Papyrusfragmentes sind umstritten. Hier ist meine Lesart: »Immer wenn etwas hervorgebracht wird, das eine Unterschiedlichkeit von den [Einzel]-Atomen erhält – im Wege irgendeiner Differenzierung (kata tina tropon dialêptikon), nicht auf dem Wege, dass
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Die Seele und die Seelenatome nehmen den gleichen Raum ein; sie sind also miteinander identisch. »Im Wege irgendeiner Differenzierung« bildet die Seele aber auch eine von den Einzelatomen zu unterscheidende physis, die die Ursache – oder, allgemeiner gesprochen, das kausale Prinzip – z.B. ihrer eigenen Wahrnehmungsbewegung ist. Indem das System von Einzelatomen in bestimmter Weise kausal wirksam wird und z.B. eine Wahrnehmungsbewegung aushrt, wird aber zugleich auch jedes Einzelatom kausal wirksam, indem es gemäß seiner Einzel-physis zu der GesamtWahrnehmungsbewegung beiträgt. Die kausale Wirksamkeit der Einzelatome und der Seele fallen insofern zusammen; doch wären die Einzelatome nicht in einer Seele innerhalb eines Lebewesens, würden sie diese Bewegungen nicht aushren. Allein mit den Eigenschaen der Einzelatome, aus denen ein Mensch besteht, kann man also sein Verhalten, seine psychische Entwicklung und die Struktur seines Geistes nicht erklären. Man muss zusätzlich die Gesamtstruktur und die komplizierten Relationen zwischen den Einzelatomen berücksichtigen. Bisher erschienen die Wirksamkeit der Einzelatome und die des Aggregats nur konzeptionell voneinander getrennt, je nachdem ob man das Verhalten nur einzelner Atome in einer spezifischen Umgebung oder das Gesamtverhalten einer Gruppe von Atomen erklären will. Nun scheint Epikur aber ausdrücklich vorgesehen zu haben, dass etwas von Atomen Hervorgebrachtes, also ein Atomaggregat oder eine Bewegung bzw. ein Zustand des Atomaggregats, bisweilen zusätzlich zu den Einzelatomen oder gar gegen sie kausal wirksam wird. Wie genau das möglich sein kann und ob man Epikur überhaupt in diesem Sinn verstehen soll, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Umstritten ist außerdem, ob bereits Epikur einen Freiheitsbegriff von der Art hatte, wie er heutzutage weit verbreitet ist, nämlich dass man nicht nur selbst Ursache seiner Handlungen ist, sondern darüber hinaus auch etwas anderes hätte tun können als das, was man tatsächlich getan hat.²⁸ Wie immer man diese Frage beantwortet, fest scheint zu stehen, dass Epikur jedenfalls dem Atomaggregat »Mensch« die prinzipielle Fähigkeit zusprach, bei gleicher Ausgangsveranlagung verschiedene geistige Dispositionen und Prozesse hervorzubringen. Das bedeutet zwar nicht unbedingt, dass ein Mensch auch im konkreten [der Unterschied bloß] von einer unterschiedlichen räumlichen Entfernung [zwischen den Einzelatomen] herrühren würde – dann hat es die Ursache aus sich selbst heraus. Dann gibt es sie sofort zurück (anadidôsin) zu den ersten Naturen [d.h. den Einzelatomen] und macht [die Ursache] irgendwie insgesamt zu einer einzigen.« ²⁸ Zu dieser Unterscheidung siehe Bobzien .
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Einzelfall, etwa bei einer Wahrnehmung oder Handlung, etwas anderes hätte hervorbringen können als er tatsächlich hervorbrachte; es bedeutet aber, dass das Atomaggregat Mensch zusätzlich zu seinen Einzelatomen auch an sich ein kausales Prinzip darstellt, also ursächlich r etwas sein kann, r das seine Einzelatome nicht ursächlich sind.²⁹ Wenn ein komplexes Aggregat so beschaffen ist, dass es prinzipiell verschiedene Veränderungen oder Zustände in sich hervorbringen kann (z.B. entweder gelehrt oder ungebildet werden, entweder einen Wahrnehmungseindruck durch genauere Fokussierung präzisieren oder ihn so ungenau hinnehmen, wie er beim ersten Hinsehen erschienen ist), dann ist es r alles das, was es nicht hervorbringt, allein verantwortlich. Denn nur an dem, was das Aggregat tatsächlich hervorbringt, sind die Einzelatome mit ihren individuellen Bewegungen beteiligt; an der Fähigkeit, etwas nicht hervorzubringen, sind sie nicht beteiligt, da ja am Unterlassen einer möglichlichen Aktivität keine Einzelatome beteiligt sind. Die Fähigkeit zum Nicht-Hervorbringen haben nur die zum Aggregat verbundenen Atome in ihrer Relation zueinander, nicht aber diese einzelnen Atome r sich genommen. Wenn sich nun Menschen durch solches Unterlassen in bestimmter Weise entwickeln – oder besser gesagt gerade nicht weiterentwickeln, dann werden sie dar verantwortlich gemacht und getadelt, weil sie ihre physis nicht geändert haben, so dass sie immer noch so im Auuhr (tarachôdês) ist wie bei den Tieren.³⁰ Von Anfang an gibt es Samen, die immer teils zu diesem, teils zu jenem, teils zu beidem hinführen, und zwar sowohl von Handlungen als auch von Gedanken als auch von Dispositionen, und zwar mehr oder weniger, so dass das am Ende schließlich Hervorgebrachte bisweilen einfach nur (haplôs) in unserer Macht steht (par hêmas geinesthai), dass es von dieser oder jener Art ist (toia ê toia), und [so dass sogar] das, was durch die Öffnungen [des Körpers] notwendigerweise in uns hineinfließt [d.h. die eidôla], manchmal in der Macht von uns selbst und unseren eigenen Meinungen steht.³¹
Von dieser vollen Verantwortlichkeit unterscheidet Epikur eine begrenzte Verantwortlichkeit, bei der das Hervorgebrachte zwar eine eigene physis und entsprechend auch ²⁹ Epikur, Über die Natur, Buch , Frg. . Arrighetti/Laursen , –: »Viele [aus Atomen hervorgebrachte Dinge], die die physis haben, etwas zu werden, das sowohl dies als auch jenes hervorbringt, werden durch sich selbst etwas, das [dieses oder jenes] nicht hervorbringt – [also] nicht durch dieselbe Ursache sowohl der [Einzel-]Atome als auch ihrer selbst.« ³⁰ Epikur, Über die Natur, Buch , Frg. . Arrighetti/Laursen , . ³¹ Epikur, Über die Natur, Buch , Frg. . Arrighetti/Laursen , –.
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eine Ursache seines weiteren Verhaltens ist, hier aber eines Verhaltens, das keinerlei Variationen und Veränderungen zulässt. Hier verhält sich das Aggregat konstant immer in derselben Weise, die durch seine ursprüngliche, bei seiner Entstehung gebildete Atomstruktur – seine ursprüngliche Zusammensetzung oder Konstitution (systasis) – bestimmt ist.³² An allen bisher behandelten Stellen ist von einer Entwicklung die Rede, die bestimmte Aggregate durchmachen können, andere aber nicht. Aggregate, die sich selbst entwickeln und somit verbessern können, sind z.B. Menschen; Aggregate, die das nicht können, sind die Tiere. Tiere zu tadeln, wäre sinnlos; manche dressiert man vielleicht, aber bei vielen lohnt sich noch nicht einmal dies. Menschen dagegen sind selbst die Urheber dessen, was sie aus sich machen – und durch Unterlassen nicht aus sich machen. Das Mittel dieser Selbstgestaltung ist die Vernun (logos, logismos; lat. ratio), die nur Menschen haben. Nur sie, erklärt Lukrez, können ihr Temperament, das ihnen durch das Mischungsverhältnis ihrer Seelenatome angeboren ist (vgl. .), durch verfeinernde Ausbildung und Gebrauch ihrer Vernun so verändern, »dass sie nichts daran hindert, ein Leben zu hren, wie es den Göttern würdig wäre«.³³
. Objektiver Zufall: Das clinamen Eine weitere Komponente des Epikureischen Freiheitsbegriffs ist auf atomarer Ebene zu finden, nämlich eine Art Quantensprung, eine zufällige minimale Abweichung der Atome aus ihrer bisherigen Flugbahn (parenklisis; lat. clinamen). So heißt es bei Lukrez (.–): ³² Epikur, Über die Natur, Buch , Frg. . Arrighetti/Laursen , –: »〈Wenn〉 das am Ende Hervorgebrachte der ursprünglichen Konstitution 〈ähnlich ist〉 und wenn das am Ende Hervorgebrachte nicht fähig ist, andere Dinge zu bewirken [als seine ursprüngliche Konstitution], und auch in der gegenwärtigen Situation nichts Verschiedenes von dem [bewirken kann], was die erste Konstitution vollbracht hat, und [wenn es] nicht einmal einiges für ein bisschen oder gezwungenermaßen und irgendwie ein Stück weit widerstrebend tut, sondern immer mit denselben Dispositionen, dann schließen wir das am Ende Hervorgebrachte nicht von der Ursache aus [d.h. dann halten wir es auch für beteiligt an der Ursache], sondern machen aus ihm und der ursprünglichen Konstitution etwas Einheitliches und reinigen [sie beide] gleichermaßen [von ihrer Schuld]; mit Tadel belegen wir das [am Ende Hervorgebrachte] allerdings nicht, und vieles [an ihm] bringen wir nicht einmal im Wege irgendwelcher Gewöhnungen ohne den Sinn der Worte [d.h. ohne bedeutungstragende, sprachliche Anleitung] in eine bessere Ordnung.« ³³ Lukrez .–; vgl. –, Epikur, Brief an Menoikeus und Erler .
Partikel und Erinnerungsspuren. Der Mensch Epikurs Schließlich, wenn jede Bewegung immer angebunden ist und aus der vorherigen Bewegung in fester Ordnung die jeweils neue Bewegung entsteht und nicht durch Abweichen (declinando) die Atome irgendeinen Anfang einer Bewegung bewirken (motûs principium quoddam), der des Schicksals Satzungen sprengt, so dass nicht seit unendlicher Zeit eine Ursache auf die nächste folgt, woher bekommen dann überall auf der Erde die Lebewesen dieses freie Wollen (libera voluntas), woher, frage ich, stammt dann dieses dem Schicksal entrungene Wollen, mittels dessen wir voranschreiten, wohin einen jeden von uns die Lust führt, und wir ebenso auch Bewegungen ablehnen (declinamus motûs),³⁴ [und zwar] weder zu einer bestimmten Zeit noch an einem bestimmten räumlichen Punkt, sondern dann und dort, wo der Geist selbst es veranlasst (tulit)?³⁵
Diese Passsage soll nicht das »eie Wollen« erklären, sondern umgekehrt ein Argument dar sein, dass es die zufällige Abweichbewegung gibt. Von etwas r Lukrez Offensichtlichem, dass nämlich Lebewesen ein »eies Wollen« haben, wird auf etwas den Sinnen nicht Zugängliches geschlossen. Wenn es keine zufälligen Abweichbewegungen gäbe, gäbe es auch kein »eies Wollen«; es gibt aber »eies Wollen«, und somit auch zufällige Abweichbewegungen. Unklar und umstritten ist, was genau mit »eiem Wollen« gemeint ist und wie dieses Wollen mit der Abweichbewegung zusammenhängt. Mit einiger Sicherheit lässt sich sagen, dass das »eie Wollen« nicht identisch ist mit der oben in . vorgestellten Fähigkeit, dieses oder jenes hervorzubringen und sich in verschiedener Weise zu entwickeln, denn diese Fähigkeit haben nur Menschen, während »eies Wollen« von Lukrez auch Tieren zugesprochen wird. Außerdem hrt Lukrez als Beispiel das »Wollen« von Rennpferden an, die beim Öffnen der Startbox nicht automatisch zu exakt diesem Zeitpunkt zu laufen beginnen – so als wäre das Öffnen die auslösende Ursache des Laufens, sondern erst dann, wenn der Geist diese Bewegung aufgrund seines Wollens initiiert und sich die Wollens-Bewegung durch den gesamten Körper fortgesetzt hat (.–; –). Deswegen kann »die leidenschaliche Kra der Pferde nicht so plötzlich [aus der Startbox] hervorbrechen, wie sogar der Geist selbst es begehrt« (–). Die empirisch zu beobachtende Verzögerung beim Start zeigt r Lukrez also an, dass eine interne Ursache, eben das Wollen des Geistes, die Pferde zum Laufen bringt und dass die Bewegung nicht direkt und unvermittelt durch eine äußere Ursache, eine von außen antreibende Kra (vis ³⁴ Der Ausdruck ist mehrdeutig und kann auch heißen: »unsere Bewegungen ablenken«. ³⁵ Oder »wo der Sinn selbst danach steht«. Formen dieses Verbs mit Ausdrücken für eine Wollensinstanz bezeichnen ein beliebiges Wollen. Gleichzeitig ist auch an eine gewisse Antriebskraft zu denken. Siehe den Kommentar von Fowler zur Stelle.
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externa), angestoßen wird (–). Ein Wollen, bei dem wir Bewegungen ablehnen bzw. ablenken (), liegt umgekehrt dann vor, wenn wir uns gegen eine solche von außen erzwungene Bewegung sträuben und die Bewegung unseres Körpers bremsen (–). Das Wollen ist also nicht nur ein Entschluss, sondern eine physische Kra, die Bewegungen des gesamten Aggregats entweder initiiert und antreibt oder dagegen hält und sie abbremst. Weniger klar ist, inwiefern das Wollen »ei« ist. Die Art, wie es eingehrt wird, der Umstand, dass es »dem Schicksal entrungen« ist, und die Tatsache, dass es als innere Ursache äußeren Kräfen gegenüber gestellt wird, deuten darauf hin, dass es ei ist, weil es nicht durch vorausgegangene Ursachen determiniert ist, jedenfalls nicht nur durch vorausgegangene Ursachen außerhalb des wollenden Aggregats. Wie Lukrez aber weiter sagt, »bewirkt« (facit) die zufällige Atomabweichung auch, »dass der Geist selbst keine interne Notwendigkeit (necessum intestinum) hat bei sämtlichen Handlungen und, vollständig besiegt, gewissermaßen gezwungen wird zu ertragen und zu leiden« (.–). Das wird man wohl so verstehen müssen, dass es auch innerhalb des Geistes oder Gesamtaggregats keine vollständig determinierten und somit »notwendigen« kausalen Abfolgen gibt. Das »bewirkt« die zufällige Atomabweichung unter andem dadurch, dass sie in Kausalketten ein unvorhersagbares Element eingt. Ob aber und wie die Atomabweichung dem Geist die Fähigkeit zu einer gleichartigen unvorhersagbaren Spontanbewegung allein aus sich selbst heraus verleiht, ist eine der großen offenen Fragen der Epikurforschung. Lukrez können wir nur entnehmen, dass es »eine uns angeborene Fähigkeit« wäre, »da wir ja sehen dass nichts aus nichts entstehen kann« (.–) und somit auch Zufallsbewegungen eine Ursache haben müssen.
. Die Lustorientierung der menschlichen Natur Auch wenn sich die einzelnen Komponenten noch nicht zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammensetzen lassen, wurde doch deutlich, dass Epikur den Menschen als ein selbstständig handelndes und sich selbst gestaltendes Wesen ansieht, dessen Zukun nicht von vornherein determiniert ist, weder durch äußere Kräe noch durch etwas, das sich in seinem Inneren notwendig immer so abspielt. Noch nicht dargelegt wurde, wie der Mensch überhaupt dazu kommt, sich in irgendeine Richtung zu bewegen. Selbst wenn er es kann, warum sollte er? Wie kommt ein zufällig zusammengewürfeltes Atomaggregat überhaupt dazu, etwas zu wollen und anzustreben? Parado-
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xerweise endet genau an diesem Punkt die Willenseiheit des Menschen. Hier haben Menschen wie Tiere keinerlei Wahl. Der Umstand, dass sie auf etwas hinstreben, ebenso wie die Grundausrichtung ihres Tuns sind ihnen vorgegeben und von Anfang an, seit ihrer Geburt, in ihrer Atomstruktur fest implementiert. Das »eie Wollen«, erklärt Lukrez, geht dahin, »wohin einen jeden von uns die Lust hrt« (.). Es ist die Lust, auf die wir uns zubewegen, wenn wir etwas wollen, und umgekehrt Schmerz dasjenige, von dem wir uns wegbewegen.³⁶ Lust ist gut r Lebewesen, Schmerz ist schlecht r sie; ihr einziges, angeborenes, unverrückbares Ziel ist es, ein Höchstmaß an Lust zu empfinden. Ein Lebewesen hat nicht nur zuverlässige Sinneswahrnehmungen (aisthêseis) von seiner Umwelt, sondern auch Empfindungen (pathê) über seine eigene Verfassung. Diese Empfindungen sind Schmerz und Lust, deren Physiologie Lukrez wie folgt erklärt (.–): […] Schmerz tritt auf, wenn die Materiekörper [d.h. die Atome], durch irgendeine gewaltsame Kraft überall in den lebenden Eingeweiden und in den Gliedern in Erregung versetzt wurden und drinnen an ihrem eigenen Platz unruhig zittern; und wenn sie an ihren Ort zurückkehren, entsteht schmeichelnde Lust, […].
Schmerz ist eine unruhige, heige Bewegung von Atomen, die aus ihrer normalen Position gestoßen wurden. Entsprechend erwartet Epikur von einem Menschen, dass er seine Handlungsmacht dar einsetzt, seine physis in der Weise zu verändern, dass sie weniger im Auuhr (tarachôdês) ist (vgl. .). In einem Zustand zu sein, bei dem alle Atome an ihrem Platz sind, empfindet das Lebewesen als Lust, das Gegenteil davon als Schmerz. Diese Empfindungen sind ihm zugleich Wegweiser und Ziel seiner Aktivitäten. Eine Lustempfindung zeigt ihm an, dass etwas anzustreben ist, eine Schmerzempfindung, dass etwas gemieden werden muss. Zugleich sind solche Empfindungen die einzig wahren Güter und Übel, die ein Epikureer anerkennt. Alles andere als Lust ist nur gut als Mittel zum Zweck des Lustgewinns. Wir sagen, dass die Lust der Anfang/das Prinzip (archê) und das Ziel (telos) des glückseligen Lebens ist. Denn sie haben wir als erstes und uns angeborenes Gut erkannt; von ihr aus fangen wir jedes Streben und Meiden an, und zu ihr gelangen wir, indem wir jedes Gut mit unserer Empfindung als Maßstab beurteilen.³⁷ ³⁶ Vgl. Cicero, De fin. .. Das erste Buch dieser Schrift enthält eine Gesamtdarstellung der epikureischen Güterlehre. ³⁷ Epikur, Brief an Menoikeus –.
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Ein bestimmter Zustand der eigenen physis ist r sich genommen weder erstrebensnoch meidenswert: auf die daraus resultierenden Lust- bzw. Schmerzempfindungen kommt es an. Lebensziel eines Menschen ist nicht Selbsterhaltung, Gesundheit oder Erllung irgendeines ihm inhärenten Potenzials; Ziel, Ausgangspunkt und Richtung aller Handlungen – aber nicht der Sinn des Lebens – ist die Lustempfindung. Nur diese wird intuitiv und evidentermaßen als erstrebenswert erlebt.³⁸ Lust ist das Lebensziel also nicht in einem teleologischen Sinne, etwa dass damit ein vernüniger, guter Weltenplan verfolgt oder auch nur der Bauplan des betreffenden Lebewesens bis zur Vollendung realisiert würde. Es ist einfach eine Tatsache, dass Lebewesen nur Lust als erstrebenswert empfinden und es ihnen entsprechend nur dann gutgehen kann, sie also nur dann ein Gut haben, wenn sie Lust empfinden. Vollkommene Lust empfindet ein Lebewesen immer dann, wenn es keine Schmerzen hat. Dann ist es wunschlos glücklich.³⁹ Schon antike Kritiker des Hedonismus, wie etwa Platon, wandten gegen eine solche Position ein, Lust könne nichts Gutes sein, da sie dann auftrete, wenn ein Lebewesen von Schmerz beeit werde. Trinken sei nur so lange lustvoll, wie die unangenehme Durstempfindung andauere. Man müsse also Schmerz empfinden, um Lustempfindungen zu haben. Wenn Lust ein Gut sei, bedeute das somit nichts anderes, als dass man etwas Gutes – die Lust – nur dann habe, wenn zugleich etwas Schlechtes – der Schmerz – anwesend sei. Sei der Schmerz beseitigt, gebe es auch keine Lust mehr, so dass man Lust niemals r sich anstreben könne, sondern immer nur Zustände, in denen zugleich Lust und Schmerz, also etwas Gutes und etwas Schlechtes präsent seien.⁴⁰ Um ein solches Problem zu umgehen, hrte Epikur zwei verschiedene Arten von Lust ein: einerseits die »kinetische« Veränderungslust und andererseits die »katastematische« Zustandslust.⁴¹ Die Veränderungslust tritt auf, wenn sich etwas verändert, wenn in Auuhr gebrachte Atome, wie es bei Lukrez heißt, wieder »an ihren Ort zurückkehren« (.) oder wenn z.B. angenehm glatte Atome passende Atome in der Zunge umschmeicheln (.–). ³⁸ Cicero, De fin. .. ³⁹ Vgl. Epikur, Brief an Menoikeus . ⁴⁰ Vgl. Platon, Philebos b–c; Gosling und Taylor sowie die Diskussion in Hossenfelder . Zu Epikurs Lustlehre generell vgl. Held ; Tsouna ; Warren a; Woolf . ⁴¹ DL .–. Diogenes Laërtios (frühes . Jh. n. Chr.?) ist eine unserer wichtigsten Quellen zum Epikureismus: Neben einer ausführlichen Doxographie gibt er uns den Originalwortlaut von vier Schriften Epikurs, nämlich der Briefe an Herodotos, Menoikeus und Pythokles sowie der Hauptlehrsätze. Sie dienten als leicht memorierbare Zusammenfassungen seiner Lehren.
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Die Zustandlust ist dagegen dann gegeben, wenn ein Lebewesen in einem schmerzeien Zustand ist. Lust ist bei Epikur also nicht nur das Beseitigen von Schmerzen, sondern auch die andauernde Freiheit von Schmerzen. Unklar und in der modernen Forschung umstritten ist, was genau man sich unter katastematischer Lust vorzustellen hat. Ist das Lebewesen, wenn es katastematische Lust hat, einfach nur ei von unangenehmen Schmerzempfindungen oder geht diese Schmerzeiheit zugleich mit einer angenehmen Empfindung einher? Dar, dass die zweite Antwort die richtige ist, dass also nach Epikur eine schmerzeie Existenz immer mit einer angenehmen, lustvollen Grundempfindung einhergeht, sprechen klarstellende Äußerungen zur Abgrenzung gegenüber anderen Hedonisten, die Mischzustände oder, wie z.B. die Kyrenaiker, neutrale Zustände annahmen, während deren ein Lebewesen weder Lust noch Schmerzen empfinde. So betont Epikur an prominenter Stelle, im dritten Hauptlehrsatz, dass es »an einem Ort, an dem das Lust Empfindende (hêdomenon) ist, so lange, wie es darinnen ist, niemals das Schmerz Empfindende (algoun) oder das Leid Empfindende (lypoumenon) oder auch beides« geben könne, und zählt zu den kinetischen Lustempfindungen auch solche, die nicht durch bloße Schmerzbeseitigung entstehen, z.B. die Lust beim Hören von Musik.⁴² Entsprechend meinte er mit katastematischer Lust wahrscheinlich eine angenehme dauerhae Grundempfindung, die zwar immer dann auftritt, wenn man keinen Schmerz empfindet, die aber nicht auf das bloße Fehlen eines Schmerzgehls beschränkt ist.⁴³ Eben diese katastematische Lust dessen, der in einem Zustand der Schmerzeiheit ist, stellt r Epikur die intensivste Lustempfindung dar, die es gibt. Auch das betont er im dritten Hauptlehrsatz: »Grenze der Größe der Lustempfindungen ist die Beseitigung von allem Schmerz Empfindenden.« Weitere Lustempfindungen variieren die bei Schmerzeiheit erreichte Lust, steigern sie aber nicht weiter.⁴⁴ Neben prozesshaer und statischer Lust unterscheiden die Epikureer Empfindungen auch nach ihrem Ursprungsort. Einerseits gibt es körperliche Lust- und Schmerzempfindungen, andererseits aber auch Lust und Schmerz aufgrund des Zustandes der ⁴² Cicero, Tusc. .. ⁴³ Gestützt wird diese Interpretation durch Cicero, De fin. ., sofern man dort privatio auch als Terminus für das dauerhafte Abwesendsein von etwas versteht: »Da wir nämlich dann, wenn uns der Schmerz genommen wird (privamur), über eben diese Befreiung und Freiheit (liberatione et vacuitate) von jeglicher unangenehmen Empfindung Freude empfinden und [da] alles das, worüber wir Freude empfinden, Lust ist – ebenso wie alles, was uns stört, Schmerz [ist], wurde das Fehlen (privatio) von jeglichem Schmerz als Lust bezeichnet.« ⁴⁴ Vgl. Epikur, Hauptlehrsätze (in Bezug auf die körperliche Lust »im Fleisch«).
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Seele oder, genauer gesagt, des Geistes. Wie Epikur im Brief an Menoikeus sagt (), strebt der Mensch nach Gesundheit des Körpers und Freiheit von seelischem Aufruhr (ataraxia), weil dies das Ziel und höchste Maß (telos) des glückseligen Lebens ist. Dafür nämlich führen wir jede Handlung aus, dass wir weder Schmerzen noch Angst haben. Wenn aber ein solcher Zustand bei uns erst einmal eingetreten ist, entspannt sich der ganze Seelensturm, weil das Lebewesen nun keinen Antrieb mehr hat, auf etwas zuzugehen, so als würde es ihm fehlen, oder etwas anderes zu suchen, mit dem es das Gut der Seele und des Körpers etwa noch vervollständigen könnte.
. Vernunftgebrauch und Vorbegriff Wie die Tiere haben auch die Menschen nur ein Ziel: die Lust. Im Gegensatz zu den Tieren können Menschen sich aber verändern und entwickeln. Das Mittel dazu ist die ihnen eigentümliche Vernun. Was aber kann die Vernun tun, um die Lust ihres Trägers zu steigern?⁴⁵ Stellen wir zunächst fest, was Vernun nicht ist: Mit Ausnahme des logischen Schließens und der Selbstveränderung vergen auch Tiere über die bisher vorgestellten mentalen Funktionen. Auch Tiere streben nach Lust und meiden Schmerz. Sie haben »eies Wollen«, Empfindungen und Sinneswahrnehmungen – und sie träumen, fokussieren also Gedanken-eidôla, wobei sie sich an intensiv oder vor Kurzem Erlebtes erinnern.⁴⁶ Da sie auch bewegte Abläufe träumen, müssen sie die Fähigkeit haben, wenigstens das auf eine Wahrnehmung unmittelbar Folgende vorauszusehen.⁴⁷ Zwar können sich Tiere nicht spontan aus sich heraus verändern, doch hält Epikur bei manchen Arten Dressur r möglich. Sprache würde er dabei allerdings nicht verwenden: Ermahnungen können nur Menschen mit ihrer Vernun verstehen (vgl. .). Eine Voraussetzung sprachlicher Kommunikation ebenso wie des logischen Schließens ist die Fähigkeit, Begriffe zu bilden. Auch diese Fähigkeit ist eine Besonderheit der menschlichen Vernun. Weitere solche Fähigkeiten sind das Hinzumeinen (prosepidoxazein) und Meinen (doxa) überhaupt, das überprüfende und präzisierende Nachdenken (epilogismos) sowie das Schlussfolgern von etwas Evidentem auf etwas Nichtevidentes, mit den Sinnen nicht Fassbares. ⁴⁵ Eine nicht immer einfach zu lesende, aber exzellente Diskussion der epikureischen Kognitionstheorie ist Jürß ; die Quellen zu epikureischen Begriffen erschließt A. Manuwald (). Siehe außerdem Asmis , , ; Everson . ⁴⁶ Vgl. Lukrez .– (Träume von Tieren) und .– (Fokussierung). ⁴⁷ Vgl. Abschnitt . sowie Philodem, Über die Götter, col. .–.
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Grundlage allen Vernungebrauchs sind die sogenannten Vorbegriffe (prolêpseis). Es ist umstritten, um was genau es sich bei diesen Vorbegriffen handelt; klar scheint jedoch zu sein, dass Vorbegriffe aus Erinnerungen von ähnlichen Wahrnehmungsobjekten entstehen, wobei aus den Einzelwahrnehmungen und Einzelerinnerungen in irgendeiner Weise etwas Allgemeines gebildet wird, z.B. die Vorbegriffe »(So etwas ist ein) Mensch«, »Pferd«, »Rind« oder »Gott«.⁴⁸ Wie genau die Allgemeinheit der Vorbegriffe zustandekommt, ist den Quellen nicht zu entnehmen. Naheliegend ist jedoch die Annahme, dass die Vorbegriffe eher die dauerhaen Eigenschaen erfassen, die bei mehrfacher Wahrnehmung immer wiederkehren, d.h. physeis (vgl. .) und nicht die momentanen Zustände von Aggregaten. Als geronnene Evidenzerfahrung sind Vorbegriffe Wahrheitskriterien. Sie liefern denjenigen Gedanken (ennoêma), an den man zuerst denkt, wenn man das entsprechende Wort hört, und sind so auch der Ausgangspunkt r jedes Nachdenken und Forschen, z.B. wenn jemand agt: »Ist das, was da in der Ferne steht, ein Pferd oder ein Rind?« Wörter werden nicht durch andere Wörter definiert, sondern ein Epikureer verweist stattdessen auf die Evidenz der Vorbegriffe.⁴⁹ Vermutlich wird diese Evidenz in der Weise aktualisiert, dass der Vorbegriff beim Hören des betreffenden Wortes zur Fokussierung eines passenden Gedanken-eidôlons, eines typos, hrt: »[…] sobald ›Mensch‹ gesagt worden ist, wird sofort gemäß dem Vorbegriff auch seine Abprägung gedacht […]«.⁵⁰ Vorbegriffe entstehen aber nicht nur aus der Wahrnehmung mit den Sinnen, sondern auch aus der wiederholten Wahrnehmung gleichartiger Gedanken-eidôla. Jedenfalls soll Epikur so den Vorbegriff von »Gott« erklärt haben: Die physis der Götter werde nicht durch die Sinne, sondern durch den Geist erfasst, und auch nicht [als etwas] mit einer gewissen Kompaktheit und bis ins Detail, wie die Dinge, die er wegen ihrer Festigkeit steremnia [›Festkörper‹] nennt. Vielmehr würde der Geist nach Wahrnehmung von eidôla aufgrund ihrer Ähnlichkeit bei [ihrem] Durchgang [durch den Geist] – [diese geschehe, weil] eine unendliche Serie von überaus ähnlichen eidôla aus unzähligen Atomen gebildet werde und zu den Göttern hinzuströme – unter höchsten Lustempfindungen auf diese eidôla konzentriert und fokussiert (intentam ⁴⁸ DL .; Epikur, Brief an Menoikeus . ⁴⁹ DL .–; Epikur, Brief an Herodot –; Sextus Empiricus, Gegen die Mathematiker (Adversus Mathematicos) .; Cicero, De fin. .. ⁵⁰ DL .. Zu dieser Vermutung passt, wie nach Clemens von Alexandria (./. Jh. n. Chr.) Epikur den Vorbegriff verstanden haben wollte, nämlich als »Fokussierung auf etwas Evidentes« (Stromateis ., . epibolê epi ti enarges).
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infixamque) einen Begriff davon bekommen (intellegentiam capere), was eine glückselige und ewige physis sei.⁵¹
Die Deutung dieser schwierigen Passage, von der ich hier nur eine der vielen möglichen Übersetzung vorgelegt habe, ist so umstritten, dass man sich noch nicht einmal darüber einig ist, ob r einen Epikureer Götter etwas wirklich Reales sind oder nur in dem epistemischen Sinn ›existieren‹, dass es physische eidôla geben muss, wenn unser Geist solche Bilder wahrnimmt.⁵² Gerade diese Schwierigkeiten zeigen aber, dass Vorbegriffe keineswegs nur einfachste, sinnlich wahrnehmbare Dinge zum Gegenstand haben. Neben der Begriffsbildung durch Verallgemeinerung von Wahrgenommenem kannten die Epikureer auch durch Überlegen (logismos), z.B. aufgrund von Analogie oder Zusammensetzung gewonnene Vorstellungen (epinoiai).⁵³ Eine durch Wahrnehmung erzeugte Erscheinung (phantasia) kann im Geist ›bearbeitet‹, z.B. mit einer anderen Erscheinung kombiniert werden. Das wird man sich so vorzustellen haben, dass beim Denken dieser Vorstellungen der Geist entsprechende Gedanken-eidôla fokussiert und so nach und nach einen neuen Begriff bildet. So kann es auch Begriffe von sinnlich nicht Wahrnehmbarem geben, wie etwa von den Atomen durch Analogie und Verkleinerung. Eine weitere Art, Wahrnehmungsdaten mit Hilfe der Vernun zu ›bearbeiten‹, ist das Meinen. Eine Meinung (doxa, hypolêpsis) »hängt ab von etwas Evidentem, das ihr vorausgegangen ist« (DL .). Eine Meinung kann wahr oder falsch sein. Wahrnehmungen dagegen sind immer wahr. Denn jede Wahrnehmung ist ohne Vernunft (alogos) und nimmt keinerlei Erinnerung auf [d.h. es kann nichts Erinnertes in den gegenwärtigen Wahrnehmungseindruck selbst integriert werden]. Sie wird nämlich auch weder durch sich selbst in Bewegung versetzt [so wie es die Vernunft tut, wenn sie Wahrnehmungsdaten weiterverarbeitet] noch kann sie, wenn sie von etwas anderem [z.B. einem eintreffenden eidôlon] in Bewegung versetzt wurde [ihrerseits] etwas dazutun oder wegnehmen.⁵⁴
Eben das, was die Wahrnehmung nicht kann, das tut die Vernun, wenn sie meint: Sie ordnet den Wahrnehmungseindruck einer Erinnerung oder einem Begriff zu oder ⁵¹ Cicero, Über die Natur der Götter .. ⁵² Siehe z.B. Sextus Empiricus, Gegen die Mathematiker .–. Eine gute und knappe Übersicht über die epikureische eologie gibt Purinton . ⁵³ DL .. ⁵⁴ DL ..
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generiert Begriffe von nicht Wahrnehmbarem, also Nichtevidentem (adêlon) wie dem Vakuum und kombiniert diesen Begriff mit anderen Begriffen zu sogenannten Zeichen (sêmeia), die es erlauben, aus Evidentem auf Nichtevidentes zu schließen.⁵⁵ Es wurde oben (.) dargelegt, wie beim Träumen vermutlich Gedächtnisbahnen die Fokussierung von Gedanken-eidôla steuern. Auch Begriffe und Zeichen kann man als solche vorgebahnten Abfolgen auffassen, was erklären würde, wie eine Wahrnehmung eine Serie von Gedanken auslösen kann, deren Zusammenhang nicht durch das mit den Sinnen wahrgenommene Objekt konstituiert ist, sondern durch eine im Geist des Wahrnehmenden vorgegebene Abfolge-Struktur in gewissem Sinne konstruiert wird. Wenn das stimmt, hätten wir eine physiologische Erklärung r die Fähigkeit des vernunbegabten Geistes, über Wahrnehmungen auch eigene Gedanken zu haben, d.h. solche Gedanken, die nicht von der Beschaffenheit des Wahrgenommenen determiniert sind. Jedenfalls merkt Lukrez nach der Diskussion der bewegten Traumbilder an, dass der Geist eben nur die Dinge registriere, »in die er selbst versunken ist« (.). Eben dieses Versunken-Sein und die jeweiligen Bahnen, in denen der Geist gerade denkt, scheinen nun auch zu bestimmen, was er mit seinen Sinneseindrücken anfängt: »Dann, abgeleitet von kleinen Indizien (signis), meinen wir die größten Dinge hinzu (adopinamur) und benebeln uns selbst mit dem Betrug einer Täuschung« (, –). Begriffsbildung und das dadurch ermöglichte Meinen sind etwas Zweischneidiges. Einerseits erlauben sie den Menschen, sich selbst zu einem glücklicheren Wesen zu verändern, indem sie ihre Wahrnehmungseindrücke ergänzen, durch Fokussierung neue hinzugewinnen und ihre geistige Welt bis ins Unendliche erweitern: auf alles Nichtevidente, das Weltall und die gesamte Zeit. Andererseits hrt das Meinen zu selbstverschuldeten Irrtümern, die unangenehme Folgen haben können. So haben etwa die meisten Menschen zusätzlich zu ihrem Vorbegriff von Göttern falsche Meinungen, wonach die Götter sie bestrafen und ihnen gefährlich werden können. Das löst in ihnen Angst, also eine unruhige Schmerzbewegung der Seelenatome aus und vergiet so ihr Leben. Eine andere nicht weniger schmerzhae Klasse von falschen Meinungen sind die irrigen Vorstellungen der meisten Menschen vom Tod, z.B. dass er ein schlimmer Verlust sei oder dass man in der Unterwelt furchtbare Qualen leiden
⁵⁵ DL . und ; Sextus Empiricus, Gegen die Mathematiker .–, und . Speziell mit Zeichen befasst sich Philodem in seiner auf Papryrus erhaltenen Schrift Über Zeichen (De signis; herausgegeben von De Lacy und De Lacy ).
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müsse.⁵⁶ Angesichts solch gefährlicher Irrtümer wäre ihre Vernun r die Menschen eher ein Fluch als ein Segen, wenn sie nicht zusätzlich zum Meinen auch die Fähigkeit hätten, ihre Meinungen und Begriffe durch überprüfendes Nachdenken (epilogismos) zu präzisieren und zu klären, um so Irrtümer in ihren Meinungen zu erkennen. Eine Wahrnehmung kann nicht durch etwas anderes widerlegt werden (DL .), eine Meinung aber sehr wohl. Hierbei wird, grob gesagt, zunächst unterschieden, was an der Meinung auf gegenwärtigen Wahrnehmungseindrücken beruht und was nicht, entweder weil es nichtevident, also grundsätzlich nicht wahrnehmbar (adêlon) ist oder weil eine solche Wahrnehmung noch aussteht (prosmenomenon).⁵⁷ Ist das Gesicherte vom Unklaren erst einmal geschieden, kann man bei noch ausstehenden Wahrnehmungen versuchen, die fehlende Wahrnehmung nachzuholen (epimartyrêsis); bei Nichtevidentem wird man nach Zeichen suchen, aufgrund deren man feststellen kann, ob das angenommene Nichtevidente mit den gegenwärtigen Wahrnehmungen entweder vereinbar (ouk antimartyrêsis) oder unvereinbar (antimartyrêsis) ist.⁵⁸ Durch den Gebrauch seiner Vernun ist der Mensch in der Lage, sich selbst zu verändern. Das Ziel, das er durch solche Veränderungen erreichen soll, ist ihm mit seiner physis unveränderlich vorgegeben: ein möglichst hohes Maß an Lust. Doch welche Strategien kann ein Mensch anwenden, um dieses Ziel zu erreichen? Und ist das Ziel überhaupt erreichbar? Die Epikureer hielten die Zukun r nicht determiniert und somit prinzipiell unvorhersagbar (vgl. .): Planen hat seine Grenzen. Auch gingen sie davon aus, dass die Lustbilanz eines Menschen durch Anlagen wie ein zu seelischer Erregung neigendes Temperament, körperliche Beschwerden und äußere Verhältnisse positiv oder negativ beeinflusst werden kann. All das wird von Epikur unter dem Oberbegriff tychê – »Zufallsglück« – zusammengefasst, und er erklärt in den Hauptlehrsätzen (), dass dem Weisen tychê nur in geringem Maße »in die Quere kommt«, dass vielmehr »die Vernun als lenkende Kra schon bisher über die größten und wichtigsten Dinge bestimmt hat und auch dauerha r die gesamte Lebenszeit weiter bestimmt und bestimmen wird«. Jeder Mensch kann ein solcher Weiser werden, gleich welche Anlagen er hat, und sein ganzes Leben im Zustand höchster Lust verbringen. Das ist vor allem aus folgen⁵⁶ Konstan ; Warren . ⁵⁷ Dieser Terminus ist teils im Aktiv »das [auf Bestätigung] Wartende« (prosmenon) überliefert, teils aber auch im Passiv »das, worauf man noch wartet« (prosmenomenon). ⁵⁸ Sextus Empiricus, Gegen die Mathematiker .–; ein Beispiel für das Verfahren der ouk antimartyrêsis ist der in . vorgestellte Beweis der zufälligen Atom-Abweichung durch das freie Wollen.
Partikel und Erinnerungsspuren. Der Mensch Epikurs
den Gründen möglich: Erstens ist die intensivste Lust, die man erleben kann, nicht unbegrenzt und somit prinzipiell erreichbar; sie tritt ein, wenn es keinen Schmerz mehr gibt (vgl. .). Zweitens kann Schmerz mit Lust aufgewogen werden. Drittens ist, wie Epikur im Sterben selbst bezeugte (DL .), seelische Lust stärker als körperlicher Schmerz, was unter anderem daran liegt, dass – so behaupteten es jedenfalls die Epikureer steif und fest – starke körperliche Schmerzen nur kurz andauerten, während bei chronischen Schmerzen die körperlichen Lüste überwögen.⁵⁹ Aufgrund dieser Gegebenheiten wird der Weise seine Vernun so gut gebrauchen, dass sein Leben immer lustvoll und damit – im Sinne eines Epikureers – auch sittlich vollkommen ist: Er wird die seelischen Schmerz erregenden falschen Meinungen aus törichteren Zeiten korrigieren und sich nicht mehr vor den Göttern oder dem Tod rchten. Was die praktische Lebensgestaltung betri, klärt er durch überprüfendes Nachdenken, was er wirklich will,⁶⁰ und sieht ein, dass nur ganz wenige von seinen Wünschen natürliche Bedürfnisse sind und dass selbst von diesen natürlichen Bedürfnissen viele, z.B. das Verlangen nach Geschlechtsverkehr, eben nur natürlich, aber keineswegs notwendig sind.⁶¹ Nun erfasst ihn ohe Zuversicht. Er weiß jetzt, dass er das, was er wirklich will, so gut wie immer erreichen wird und dass er keine Zukunsangst zu haben braucht. Außerdem nutzt er seine Fähigkeiten zur Fokussierung, zur Erinnerung und zur Vorausschau, um seine gegenwärtige Lust zu steigern: Das, was ihm in Zukun Freude machen wird, erlebt er schon jetzt als Voreude; an vergangene Freuden erinnert er sich dankbar und erlebt sie so immer wieder neu; durch Fokussierung lenkt er sich von gegenwärtigem Schmerz ab und richtet seine Aufmerksamkeit auf etwas, das ihm Lust bereitet.⁶²
Gemeinschaft und Kultur In einer berühmten Passage beginnt Lukrez eine Beschreibung des Glücks mit diesen Worten (.–): Süß ist es, wenn Winde die weite Meersfläche aufwühlen, vom Land aus zuzuschauen, wie ein anderer sehr leidet und kämpft. Nicht etwa, weil es angenehm und lustvoll wäre, dass jemand gequält wird. Nein, zu begreifen, von welchen Übeln du selbst frei bist, das ist süß. Süß ist es auch, das gewaltige Ringen des Krieges zu betrachten ⁵⁹ ⁶⁰ ⁶¹ ⁶²
Vgl. etwa Epikur, Hauptlehrsätze . Epikur, Über die Natur, Buch , Frg. . Arrighetti/Laursen , . Vgl. etwa Epikur, Brief an Menoikeus . Zenon von Sidon bei Cicero, Tusc. .; zur Ablenkung von Schmerz siehe dort ..
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über die Ebene hin, wie es bereit steht zum Kampf, ohne dass du irgendeinen Anteil hättest an der Gefahr. Aber nichts ist wonnevoller, als sich festzusetzen in der durch Ausbildung (doctrina) wohlbeschirmten Feste der Weisen, dem hohen, heiteren und geweihten Reich, von wo du hinabschauen kannst und sehen wie die anderen planlos umher wimmeln und unstet nach dem Weg für ihr Leben suchen: sich mit den Kräften ihres Geistes messen, wettstreiten um Rang und Namen, Tage und Nächte sich mehr als alle anderen quälen und kämpfen, um aufzutauchen und aufzusteigen zum Gipfel des Reichtums, um die Herrschaft zu erringen. O, elende, unglückliche Menschen! O blinde Herzen!
Dieser Epikureer wendet sich ab von dem Staat Rom, in dem er lebt: Überseehandel, Eroberungen, Redegefechte auf dem Forum, Karriere, Geld und Macht, all das, was Männer seiner Schicht umtreibt, sind r Lukrez nur Quellen schmerzvoller Unruhe, die vom einzig richtigen Lebensziel, der Lust, ablenken. Wenn aber solches Treiben nach Ansicht eines Epikureers der menschlichen Natur nicht gemäß ist, wie kann er da die Entstehung von Staaten wie Rom erklären? Wie erklärt er, der kein anderes Gut kennt als seine eigene Lust, soziales Verhalten?⁶³ Lukrez beschreibt die ersten Menschen als »hart«, grobknochig, »versehen mit kräigen Sehen und Muskeln« und entsprechend widerstandsfähig. So »hrten sie ihr Leben wahllos umherschweifend wie die wilden Tiere« (.–). Zu dieser Zeit trieb man noch keinen Ackerbau, sondern die junge, uchtbarere Erde lieferte auch so genug Nahrung r »die armen Sterblichen« (). Es gab kein Handwerk, keine Kleidung, keine Häuser; die Menschen schliefen in Höhlen oder versteckt im Gebüsch (–). »Nicht fähig, ein gemeinsames Gut zu erkennen« lebten sie getrennt voneinander und »verstanden es [noch] nicht, untereinander gemeinsame Bräuche und Gesetze zu befolgen«, zu teilen oder zum gemeinsamen Vorteil zu kooperieren (–). Was also hrte diese Urmenschen zusammen? Die Antworten auf diese Frage sind nicht einhellig: Während in anderen epikureischen Texten der Schutz vor Aggressoren das primäre Motiv r einen Zusammenschluss ist, betont Lukrez die »weich« machende Wirkung der Sexualität und der ühesten Kulturtechniken. Schon die ersten Menschen trafen sich vorübergehend in den Wäldern zum Geschlechtsverkehr, gingen dann aber wieder auseinander (–); später, als sie gelernt hatten, Hütten zu bauen und sich mit Fellen und Feuer zu wärmen, wurde aus den sich paarenden ⁶³ Literaturauswahl zum Folgenden: B. Manuwald ; Müller ; Schofield ; Long , –; Brown ; Campbell . Siehe außerdem z.B. Armstrong ; Grilli ; Vander Waerdt .
Partikel und Erinnerungsspuren. Der Mensch Epikurs
Körpern der Liebenden () ein sesshaes Paar. Nun lernten die Männer auch die von ihnen gezeugten Kinder kennen. »Da begann das Menschengeschlecht zum ersten Mal weich zu werden« (–), weil ihre Körper nicht mehr so abgehärtet waren, der Geschlechtsverkehr (venus) ihre rohe Kra (vires) verminderte und die Kinder mit Zärtlichkeiten leicht den angeborenen schroffen Stolz ihrer Väter brachen. So begannen sie auch sehr gern, mit ihren Nachbarn Freundschaft zu schließen [und zu vereinbaren], dass sie einander weder verletzen noch voneinander Schaden leiden wollten, […]. (–)
Ähnlich wie bei Aristoteles die Hausgemeinscha die Keimzelle der Staaten war, ist es bei Lukrez die Sesshawerdung und die damit verbundene Entstehung der Familie, die Männer zu zarteren Gehlen befähigt, so dass sie anfangen, sich auch mit einem weiteren Kreis von Mitmenschen zu beeunden, mit diesen Nichtangriffsbündnisse zu schließen und sich gemeinsam um den Schutz von Kindern und Frauen zu kümmern (–). Nach dem Epikureer Hermarch⁶⁴ waren die ersten Bündnisse dagegen Schutzgemeinschaen zur Abwehr von wilden Tieren oder Angriffen emder Menschen. Erwiesen sich solche ad hoc geschlossene Bündnisse als erfolgreich, blieb man iedlich zusammen, und so enstand aus einem bloßen Nachbarschasverhältnis allmählich auch ein Verwandtschasverhältnis. In den Hauptlehrsätzen Epikurs erscheint als Grund r einen Zusammenschluss regelmäßig die objektive Sicherheit (asphaleia) und das Gehl der Sicherheit (tharroun) vor anderen Menschen, die eine potentielle Bedrohung darstellen. Dabei dienen die Zusammenschlüsse der gemeinsamen Abwehr von Dritten () oder auch nur der Vermeidung von Konflikten zwischen den Verbündeten (). Einig sind sich die drei Autoren aber darin, dass die Entstehung menschlicher Lebensgemeinschaen eng mit dem Ursprung der Sprache⁶⁵ verbunden ist. Nach Lukrez sind die Wörter und Sätze der Menschen eine höher entwickelte Form der ausdrucksvollen Laute, mit denen Tiere kommunizieren (.–). Kein Erfinder habe sich die Sprache wie eine andere Kulturtechnik ausgedacht und die anderen gelehrt (–). Sprache sei ein angeborenes Vermögen der Menschen, das aber von den Urmenschen erst noch entwickelt werden musste, ähnlich wie Kinder Sprache lernen oder wie z.B. junge Vögel flügge werden. So fanden auch die ⁶⁴ Porphyrios, Über Enthaltung von Lebendem .–/Frg. in der Ausgabe von Auricchio (). Hermarch war ein gleichaltriger Schüler und Freund Epikurs und führte die Schule nach Epikurs Tod v. Chr. weiter. ⁶⁵ Siehe z.B. Atherton , ; Everson ; Verlinsky .
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urzeitlichen Paarungen bei Lukrez noch ohne verbalen Austausch statt (–). Erst die ühesten Hausväter »bedeuteten sich stammelnd mit Stimme und Gesten: es sei gerecht, dass sich alle der Schwachen erbarmen« (–). Auch Epikur setzt die Sprachentstehung im Herodotbrief (–) erst zu einem Zeitpunkt an, als es schon Völker gibt, und erklärt die verschiedenen Sprachen mit deren unterschiedlichen Anlagen und Lebensbedingungen. Die ersten Sprachäußerungen hätten direkt auf selbst erlebte Wahrnehmungen und Empfindungen Bezug genommen und seien quasi instiktiv geformt worden. Doch schon bald hätten die Menschen ihre Laute untereinander so abgestimmt, dass es zu keinen Missverständnissen kam, und so eine gemeinsame Sprache entwickelt. Weitere Ausdrücke kamen hinzu, wenn ein Einzelner eine besondere Wahrnehmungserfahrung machte und diese den anderen mitteilte. Schließlich wurden auch durch Überlegen, nicht mehr nur durch Wahrnehmung gewonnene Erkenntnisse in Worte gefasst und mitgeteilt. Nun konnten aus primitiven Nachbarschasbünden und Sippenverbänden komplexe Staatsgebilde mit Bräuchen und Gesetzen werden. Nach Hermarch blieben die Urmenschen, die sich zur Verteidigung gegen ein wildes Tier zusammengerottet hatten, auch nach ihrem Sieg beieinander, weil die Erinnerung an den durch die gemeinsame Abwehr genossenen Vorteil in ihnen lebendig war und bei jeder neuen Gefahr wieder aufgeischt wurde. Allmählich aber nahmen die akuten Gefahren ab, so dass der Nutzen den Menschen nicht mehr so direkt wahrnehmbar vor Augen stand. Da »entwickelten manche von ihnen eine Überlegung (epilogismos) von dem, was am gemeinsamen Zusammenleben nützlich ist, und nicht [mehr] nur eine vernun- und sprachlose (alogos) Erinnerung«.⁶⁶ Sie begannen also, aus der Erfahrung des nützlichen Zusammenlebens einen Begriff von Gerechtigkeit zu entwickeln und diesen den weniger Einsichtigen mitzuteilen. Für Epikur gibt es nur ein Ziel, den persönlichen Lustgewinn, und entsprechend auch nur eine Form von Gerechtigkeit, die er in den Hauptlehrsätzen definiert (): Das Gerechte der Natur (tês physeôs dikaion) ist ein wechselseitiger Beitrag (symbolon) zum Nützlichen, dahingehend dass man einander weder schadet noch voneinander Schaden leidet.
Das Gerechte ist »irgendein Nutzen im Rahmen der Gemeinscha miteinander« (). Einzelne Rechtssysteme können sich zwar unterscheiden, von Natur aus immer gerecht, d.h. so ausgerichtet, dass eine entsprechende Gemeinscha der menschlichen ⁶⁶ Hermarch bei Porphyrios, Über Enthaltung von Lebendem ..
Partikel und Erinnerungsspuren. Der Mensch Epikurs
physis und ihren Bedürfnissen entspricht, sind aber nur Systeme, von denen jeder Beteiligte einen Nutzen hat. Konkret bedeutet das: Die Lustbilanz eines jeden Rechtssubjektes fällt in einer gerechten Gemeinscha positiver aus, als wenn es r sich allein leben würde, vorausgesetzt natürlich, das Rechtssubjekt hält sich an die vereinbarten Spielregeln. Epikurs »Naturrecht« begründet sich also nur aus der menschlichen Natur, ihren Zielen und Bedürfnissen; es gibt keine kosmische Ordnung oder sonst ein über den Menschen stehendes Prinzip, das ihnen Normen r das Zusammenleben vorgeben könnte. Gerechtigkeit ist kein Wert r sich, sondern nur Mittel zum Zweck des Lustgewinns (). Der epikureische Mensch hat noch nicht einmal jenes angeborene Verlangen nach Gemeinscha, das andere antike Philosophen den Menschen zusprachen. Das Zusammenleben ist eine erlernte Kulturtechnik, eine Erfindung wie der Hausbau oder das Feuermachen. Und der wichtigste Grund des Zusammenschlusses, derjenige, der als einziger in Epikurs Hauptlehrsätzen angegeben wird, ist die Bedrohung, die von anderen Menschen ausgeht. Menschen tun sich zusammen, damit sie voreinander keine Angst zu haben brauchen. Wären sie zu solchen Zusammenschlüssen nicht wenigstens einigermaßen fähig, hätten sie sich schon längst alle gegenseitig zerfleischt, behauptet Lukrez (.–). Bis zur Erschöpfung gehrte Konkurrenzkämpfe (–) und Kriege (–) zeigen, dass die menschliche physis durchaus asoziale Züge hat. Entsprechend diesem Selbstbild und seiner Vorstellung darüber, warum Gemeinschaen entstehen, hat ein Epikureer eine eher distanzierte Haltung zu seinem Staat. Er opfert sich nicht r seine Gemeinscha auf, weil sie ihm etwa mehr bedeutete als er selbst. Wenn Popularität und Macht tatsächlich zu größerer Sicherheit vor anderen Menschen hren würden, dann würde Epikur empfehlen, danach zu streben. Tatsächlich aber meint er, dass ein begrenztes Maß an Geld und Einfluss zum Selbstschutz genügen und dass weiteres Engagement nur zu Unsicherheit und somit zu innerer Unruhe, d.h. seelischem Schmerz hrt.⁶⁷ Dass man etwa verpflichtet wäre, sich r andere einzusetzen, oder auch nur, dass Altruismus vielleicht etwas an sich Beiedigendes und daher lustvoll sein könnte, wird hier nicht in Betracht gezogen. Wenn aber das Recht allein dadurch definiert ist, dass es den Rechtssubjekten nützt, warum halten sich dann nicht alle daran? Hermarch erklärt das erstens mit der Abstraktheit des Nutzens, der nicht jedem so unmittelbar evident ist, wie üher der Umstand, dass man erst gestern noch gemeinsam den Löwen hatte vertreiben ⁶⁷ Epikur, Hauptlehrsätze , und .
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können, und zweitens mit den unterschiedlichen Anlagen der Menschen: Manche sind unverständiger und wilder als die anderen. Wenn alle erkennen könnten, was r sie nützlich ist, würden sie sich schon von sich aus gerecht verhalten. Es seien aber nur wenige gewesen, die von selbst zu einer richtigen Einschätzung des Nützlichen gelangten. Trotzdem sei das Recht nicht unter Zwang und gegen den Willen der versklavten Massen eingehrt worden, »nicht mit Körperkra, sondern von der Weisheit der Seele«. Mithilfe der Sprache, die ihnen erlaubte, das mitzuteilen, was ihre Adressaten noch nicht selbst erfasst hatten, erklärten die Einsichtigeren ihren Nachbarn, warum es gut sei, sich nicht gegenseitig zu schaden. Die begabteren Zuhörer lernten von ihnen, auch selbst »eine Überlegung über das Nützliche anzustellen, das sie bis dahin nur ohne Vernun wahrgenommen und o wieder vergessen hatten; die anderen [ganz Törichten] aber erschreckten sie mit der Größe der angedrohten Sanktionen.« Da sie die wahre Gefahr, die drohende innere Unruhe aus Furcht vor anderen Menschen, nicht erkannten, musste man ihnen eine weniger starke, dar aber fassliche Angst einflößen, um sie vor dem wirklich unerträglichen seelischen Schmerz zu bewahren.⁶⁸ Hermarch unterscheidet hier drei Gruppen von Menschen: Die einen sind so begabt, dass sie von sich aus erkennen können, was gut r sie ist; die anderen wären zwar nicht selbst auf die Lösung gekommen, können sie aber begreifen, wenn man sie ihnen erklärt; die Angehörigen der dritten Gruppe müssen zu ihrem Glück im wahrsten Sinne des Wortes gezwungen werden. Interessanterweise sind dies genau die drei Gruppen, in die Epikur seine Schüler eingeteilt haben soll.⁶⁹ Ganz überraschend ist die Parallele aber nicht, haben doch das gerechte Gesetz und gute philosophische Lehrsätze den gleichen Zweck: die Lust derer, die sie befolgen, zu vermehren. Damit wären wir bei dem größten Rätsel angelangt, das Epikur denen aufgibt, die sein Menschenbild verstehen wollen. In Epikureer-Kreisen wurden Geselligkeit und Freundscha mit dem größten Aufwand zelebriert, und wohl kaum ein Philosoph hat Freundscha mit größerer Begeisterung gepriesen als Epikur, etwa in den folgenden Ausprüchen: Die Freundschaft tanzt rings um die bewohnte Welt und heißt uns alle: »Erwachet zur Seligpreisung!« ⁶⁸ Hermarch bei Porphyrios, Über Enthaltung von Lebendem .. ⁶⁹ Seneca, Briefe über Ethik .–
Partikel und Erinnerungsspuren. Der Mensch Epikurs Der edle Mensch beschäftigt sich am meisten mit der Weisheit und der Freundschaft, wovon das erste sterblich, das zweite aber unsterblich ist.⁷⁰
Nicht nur, dass r Epikur in seiner Todesstunde die Erinnerung an Gespräche mit Freunden so lustvoll war, dass er darüber seine schrecklichen Schmerzen nicht mehr spürte, er soll sogar erklärt haben, dass er r seine Freunde die schlimmsten Schmerzen auf sich nehmen würde, während seine Nachfolger behaupteten, Gutes zu tun sei lustvoller als Gutes zu erfahren.⁷¹ Woher kommt diese Lust, die so viel Schmerz aufwiegen kann? Gewiss, ein guter Freund kann eine verlässliche Stütze sein und ein Gehl der Sicherheit vermitteln.⁷² Aber es gibt doch anderes, das dieses Gehl auch und in bestimmten Situationen sogar besser vermitteln kann. Freunde können nicht immer helfen. Rechtfertigt bloße materielle Unterstützung durch einen Freund solches Lob? Und wenn es nicht das ist, was ist es dann, das Freunde einem Epikureer geben? Vielleicht muss man doch annehmen, dass Epikur mit der Freundscha einen besonderen, über praktische Nützlichkeit hinausgehenden Wert anerkennt, der nur den Menschen, aber weder den schemenhaen, isolierten, glückselig inaktiven epikureischen Göttern noch den sprachlosen, zu keiner gerechten Einigung fähigen Tieren zugänglich ist. Vielleicht ist der epikureische Mensch, wenn nicht ein zôion politikon, so doch aus tiefstem Herzen ein animal sociale, r das Gemeinscha einen über den praktischen Nutzen hinausgehenden Eigenwert hat? Man möchte es fast meinen, wenn man einen Satz wie diesen liest: Jede Freundschaft ist um ihrer selbst willen erstrebenswert; ihren Anfang nimmt sie allerdings vom Nutzen.⁷³
Literatur Quellen Cicero, Marcus Tullius. De finibus bonorum et malorum. Über das höchste Gut und das größte Übel. Übers. von Harald Merklin. Stuttgart . (Zitiert als De fin.). ⁷⁰ Sententiae Vaticanae und . Siehe z.B. Giesz ; Konstan ; O’Keefe . ⁷¹ DL .; Plutarch, Moralia: Gegen Kolotes b; Plutarch, Moralia: Dass man nach Epikur nicht lustvoll leben kann a. ⁷² Epikur, Hauptlehrsätze ; Sententiae Vaticanae . ⁷³ Sententiae Vaticanae ; siehe Brown .
Jula Wildberger
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Partikel und Erinnerungsspuren. Der Mensch Epikurs
Lukrez. Von der Natur. Lateinisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Hermann Diels. Mit Erläut. von Ernst Günther Schmidt. Mit einer Einl. von Ernst Günther Schmidt. Düsseldorf und Zürich . Philodemus. On Methods of Inference. Hrsg., übers. und komm. von Phillip Howard De Lacy und Estelle Allan De Lacy. Überarb. Ausg. Neapel . —— On piety, Part . Critical Text with Commentary. Hrsg. von Dirk Obbink. Oxford . Simplicius. Commentaria in Aristotelem Graeca. Bd. : In Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria. Hrsg. von Hermann Diels. Berlin . (Zitiert als in Phys.).
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Jula Wildberger
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Niko Strobach
Philosophen auf der Couch. Das Menschenbild der Skeptiker Einleitung Das Menschenbild einer Philosophenschule könnte in einer Antwort auf die Frage bestehen: »Was ist der Mensch?« Es veranschaulicht und entfaltet dann, wie diese Schule den Begriff »Mensch« definiert; und wie sie versucht, argumentativ nachzuweisen, dass dies die zutreffende Definition ist. Es wäre nicht schwer, das bei den Stoikern so zu machen. Auch bei Epikur ginge es. Bei den Skeptikern ist das unmöglich. Die Frage nach dem Menschenbild der Skeptiker ist deshalb eine methodische Herausforderung. Sie zwingt nämlich zur Reflexion darauf, was man ein Bild nennen kann und wie ein Bild entsteht. Im Folgenden möchte ich anhand des um n. Chr. entstandenen Grundriss der pyrrhonischen Skepsis des Sextus Empiricus skizzieren, inwiefern sich überhaupt vom Menschenbild dieser konsequentesten Spielart der antiken Skepsis sprechen lässt und welcher Eindruck davon entsteht. Das geht, denn der Grundriss ist ein sich geschlossener Text. Was Pyrrhon von Elis selbst davon schon um v. Chr. vertreten hat, versuche ich nicht zu isolieren. »Skeptiker« steht im Folgenden r »Pyrrhonischer Skeptiker nach Sextus«. Das methodische Problem rührt nicht daher, dass die Skepsis eine psychotherapeutische Schule ist, die Hinweise zur Erlangung des Glücks in Form der Seelenruhe gibt. Das tun die anderen hellenistischen Schulen auch.¹ Es rührt nicht daher, dass sich die Skeptiker selbst widersprechen. Denn das tun sie nicht. Es rührt auch nicht daher, dass Skeptiker zur Handlungsunfähigkeit (apraxia) verdammt wären.² Denn das stimmt nicht. Es liegt an der ganz anderen Herangehensweise, die den Skeptikern ¹ Das zeigt im großen Maßstab Nussbaum . Michel Foucault hat dies unter dem Stichwort epimeleia heautou (souci de soi, Selbstsorge) in seiner Hermeneutik des Subjekts (Foucault ) auch mit der klassischen Periode, etwa mit Platons Apologie, verbunden. Vgl. hierzu auch Foucault , –. ² So lautet etwa der Vorwurf von Hume , Section , Part , § .
Niko Strobach (). »Philosophen auf der Couch. Das Menschenbild der Skeptiker«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
Philosophen auf der Couch. Das Menschenbild der Skeptiker
eigen ist. Diese lässt es nicht nur zweifelha erscheinen, ob die Skeptiker eine Schule bilden, sondern sogar, ob sie überhaupt Philosophen sind. Vielleicht sind die Skeptiker nämlich eher Meta-Philosophen. Daraus erklärt sich der Titel dieses Beitrags. Die Idee ist: (Andere) Philosophen sind nicht, wie sonst üblich, Gegner, mit denen der Skeptiker auf einer Ebene Argumente austauschen würde. Sie sind Patienten. Sie leiden. Sie liegen auf der Couch. Der Skeptiker blickt auf sie. Er beobachtet die Symptome ihrer gedanklichen Aktivitäten. Das hat nichts mit Arroganz zu tun. Er glaubt selbst nicht, etwas Besseres zu haben. Er will ihnen helfen. Die (anderen) Philosophen sind wie andere Menschen auch, nur dass sie sich besonders viel Gedanken machen. Sie gehören zu den megalophyeis (PH ..), den Begabten, denen es gerade deshalb besonders schlecht geht, weil sie Erklärungen suchen. Der Blick, den der pyrrhonische Skeptiker auf den Menschen hat, ist der Blick des Seelenarztes.
Die negative Anthropologie der Skeptiker Man zweifelt schnell daran, ob ein Skeptiker überhaupt ein Menschenbild haben kann. Schlüge er eine Definition vor, die ausdrücken soll, was das Wesen des Menschen ist, und beanspruchte dann noch, fest begründen zu können, warum sie zutri, so wäre er kein Skeptiker. Er hätte viel zu viel behauptet. Ein erster Versuch, doch noch von einem Menschenbild der Skeptiker sprechen zu können, wäre zu sagen: Wenn wir uns anschauen, wie der Skeptiker Definitionsversuche kritisiert, so bekommen wir zumindest eine negative Anthropologie heraus; wir erfahren, was der Mensch nach Meinung der Skeptiker nicht ist. Tatsächlich gibt es eine längere Passage im Grundriss (PH ..–, ..), in der Sextus sich auf Definitionsversuche r »Mensch« durch andere Philosophen stürzt, seiner Redeweise nach allesamt Dogmatiker (dogmatikoi). Die Stelle ist systematisch gesehen ein Bericht (vgl. PH ..) des Skeptikers, warum es ihm scheint (dokei moi, PH ..), dass der Mensch jedenfalls nicht im Sinne dessen, was die Dogmatiker bisher an Definitionen versucht haben, definierbar ist. Das schließt nicht aus, dass der Mensch doch definierbar ist. Der Zweck der Passage ist, wie immer, den Leser zu gleich starker Tendenz zur Berwortung wie zur Ablehnung (isostheneia) einer Aussage zu bringen, in diesem Fall der Aussage »Der Mensch ist definierbar« oder »Man weiß, was der Mensch ist«. Dass Sextus hier nur daran arbeitet, Ablehnung zu dieser These hervorzurufen, ist einer Art skeptischem Ökonomieprinzip geschul-
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det: Wenn du annehmen kannst, dass der Leser von sich aus nur dazu tendiert, p zuzustimmen, und gar nicht dazu tendiert, p abzulehnen, dann begnüge dich mit Punkten gegen p. Das Ökonomieprinzip bestimmt auch die Passagen zu Sitten und Gebräuchen: Es reicht, anzuhren, was gegen die Annahme von anthropologischen Konstanten spricht, da sich das Vorurteil schon dar stark macht, dass die eigenen Sitten anthropologische Konstanten sind. Wie geht Sextus vor? Er geht eine Reihe von Beispielen durch (hier zeigt sich exemplarisch auch sein Wert als doxographische Quelle): . Einzig Platons Sokrates hält sich, Sextus’ Referat zufolge, mit der Definierbarkeit des Menschen zurück. Denn er gibt ja zu, dass er nicht weiß, ob er ein Mensch oder ein Ungeheuer ist – so reduziert Sextus den Enthusiasmus des Sokrates an der Nymphenquelle in Platons Phaidros a barbarisch aufs Wörtliche. . Danach referiert Sextus Demokrits Formel »Der Mensch ist, was wir alle kennen« (anthrôpos estin ho pantes ismen). Man kann sie lesen als die Meta-Aussage, dass eine formelhae Definition des Menschen nicht zu erwarten, aber auch nicht vonnöten ist, da Menschen Menschen spontan (er)kennen wie Hunde Hunde. Für bioethische Grenzbereiche wäre das ein reizvolle Idee, die eine einseitige Überbetonung dieser oder jener Eigenscha als vermeintlich essentiell verhindern könnte. Leider ist sie empirisch nicht haltbar: Die Richter des Bundesverfassungsgerichts erkennen spontan ihresgleichen, wo andere einen Zellhaufen sehen.³ Und König Hanno von Karthago hielt die großen Menschenaffen, auf die seine Mannscha bei einer Expedition an der westaikanischen Küste um v. Chr. traf, spontan r Menschen, was ihn nicht daran hinderte, sie zu jagen:⁴ In der Bucht war eine Insel ähnlich der ersten mit einem See darauf. Und in diesem war eine weitere Insel voll von wilden Menschen (mestê anthrôpôn agriôn). Die allermeisten von ihnen waren Frauen (gynaikes) mit stark behaarten Körpern, welche die Dolmetscher Gorillas nannten (has hoi hermênees ekaloun Gorillas). Wir verfolgten die Männer (andres) zwar, konnten sie aber nicht ergreifen, sondern alle entflohen, weil sie behende Kletterer waren und sich mit Steinwürfen verteidigten, drei der Frauen aber schon, die bissen und kratzten und den sie Wegführenden nicht folgen wollten. Nachdem wir sie aber getötet hatten, häuteten wir sie und brachten die Häute mit nach Carthago. Weiter nämlich segelten wir nicht, weil unsere Essensvorräte zur Neige gingen. ³ Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. (), . Anderer Meinung ist Hoerster . ⁴ Hannonis Carthaginiensis Periplus, –, § , meine Übersetzung. Diskussion des Textes bei Casson .
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Was macht Sextus mit Demokrits Sentenz? Er nimmt sie als Definition beim Wort und zerpflückt sie pedantisch als nicht eindeutig (PH ..): Viele Menschen kennen neben Menschen auch den einen oder anderen Hund, und nicht jeder Mensch kennt jeden anderen. Die mit »(wir) alle« bezeichnete maßgebliche Gruppe ist nicht genügend bestimmt. Bestimmt man sie, so macht man es in jedem Fall falsch: Ist es die Familie, in der Bello mitlebt, und aus der ihn alle kennen, so ist Bello ein Mensch. Nimmt man an, dass es alle Menschen sein sollen, so ist Herr Müller aus Gelsenkirchen kein Mensch, da Frau Li aus Peking ihn nicht kennt. »So ist es doch bei Demokrit bestimmt nicht gemeint«, möchte man sagen. »Na gut«, könnte Sextus antworten, »ich will hier nur das Vorurteil ins Wanken bringen, der Mensch sei leicht definierbar, und ich induziere genug Beunruhigung, wenn ich beim Leser die Meinung hervorrufe, dass auch ein mit noch so großer Emphase vorgetragenes Bonmot keine Definition ist.« . Dass Sextus auch raffinierter argumentieren kann, zeigt er, wenn er, noch zu Demokrit, sogleich nachkartet (PH ..), dass Menschen sich von nichts anderem unterscheiden ließen, wenn sie, wie alles andere auch, bloß Agglomerationen von Atomen seien, was eben Demokrits Atomismus behaupte. Das ist auf den zweiten Blick besser, als es auf den ersten Blick erscheint: Qua Agglomeration von Atomen unterscheidet sich der Mensch nicht von Steinen, Pflanzen, Tieren, Sternen etc. Qua etwas anderem, etwa einer immateriellen Seele, die ihn gerade Mensch sein lässt und nichts anderes, auch nicht, denn die gibt es nicht, wenn es nur Atome und das Leere gibt. Es liegt nahe, zu sagen: »Aber doch qua Agglomeration von Atomen in Menschengestalt!«. Sextus könnte darauf hinweisen, dass ein Freund nichtzirkulärer Definitionen das besser nicht sagen sollte. Es läge dann nahe darauf zu antworten »Na dann eben qua Agglomeration von Atomen in dieser Gestalt«, während man auf einen Menschen zeigt. . Genau das ist es denn auch, was Sextus als nächstes diskutiert (PH ..). Denn von Epikur überliefert er eine deiktische Definition: Mensch ist so-wie-diesesGeformtes mit Beseelung (to toiuotoni morphôma meta empsychias). Wie stark und aktuell Epikurs Vorschlag ist, sieht man an Wittgensteins Auffassung, eine gelungene Worterklärung habe o die Form, »Dies und Ähnliches sind X«,⁵ oder an Kripkes Ansicht, »natural kind terms« hre man mit »this kind of thing« ein.⁶ Aber, so der Einwand von Sextus: in welcher Hinsicht wie dieses denn? War das Paradigma ⁵ Wittgenstein , § . ⁶ Kripke , . Vorlesung.
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des Menschen eine Frau, wie soll man dann noch darauf kommen, auch Männer als Menschen zu bezeichnen, und umgekehrt? Der Einwand ist tief. Auch das zeigt der weitere Verlauf der Philosophiegeschichte. Man kann ihn benutzen, um den Gedanken zu plausibilisieren, eine platonische Form sei nichts Anschauliches.⁷ Man kann damit auch Berkeleys Leugung von abstract general ideas verknüpfen (denn »ideas« bei Berkeley sind immer anschaulich).⁸ Wittgenstein sieht, dass, wenn überhaupt, nur ein rabiates Mittel den Einwand immunisiert:⁹ Ähnlichkeit, und zwar simpliciter, also hinsichtenlos, ist, was die Sprachgemeinscha als Ähnlichkeit zu akzeptieren bereit ist. Der Mensch ist, was wir alle kennen. . Nach Epikurs ostensiver Definition knöp sich Sextus die klassische Definition des Menschen als vernunbegabtes (logikon) sterbliches Lebewesen mit Fähigkeit zum Wissen vor (PH ..–). Der wesentliche Gegenpunkt ist, dass dies keine ordentliche Abgrenzung liefert, weil, jedenfalls nach Ansicht der zum Thema Vernun doch wohl einschlägigen Stoiker, auch Tiere Vernun haben. An anderer Stelle (PH ..) referiert Sextus dar das schöne stoische Beispiel mit einem Jagdhund, der den disjunktiven Syllogismus beherrscht: Nach Chrysipp, der sich am meisten für die vernunftlosen Tiere einsetzt, hat [der Hund] sogar an der vielgepriesenen Dialektik teil (dialektikê). Jedenfalls behauptet Chrysipp, der Hund wende das fünfte mehrgliedrige unbewiesene Argument an, wenn er an einen Dreiweg komme und nach dem Spüren auf den zwei Wegen, die das Wild nicht entlanggelaufen sei, sofort den dritten entlang stürme, ohne hier überhaupt gespürt zu haben.
Und er hrt an (PH ..), der Hund, der seine verletzte Pfote ruhig halte, entspreche dem Rat des Hippokrates. Man könnte meinen, es sei einfach, hier zwischen Vernun und unbewusstem vernunanalogen Verhalten zu unterscheiden. Doch selbst wenn man berücksichtigt, dass das dem griechischen Wort logos im Allgemeinen und noch viel mehr seinem Gebrauch bei den an dieser Stelle dar maßgeblichen Stoikern widerspricht, sieht man auf den zweiten Blick, dass der Preis, der dar zu zahlen ist, hoch wäre: Auf eine Herdplatte zu fassen, von der man weiß, dass sie heiß ist, ist sicher unvernünig. Ist, in derselben Situation nicht auf sie fassen, Gebrauch der Vernun? Das ist schwer zu sagen. ⁷ Vgl. z.B. Platon, Politeia c. ⁸ Berkeley , Introduction § . ⁹ Wittgenstein , § .
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. Wer sagt, so Sextus weiter, der Mensch sei wesentlich aus Leib und Seele zusammengesetzt, handelt sich wegen der Unerkennbarkeit der Seele die Unerkennbarkeit des Menschen insgesamt ein (PH ..–). . Überhaupt legt die Uneinigkeit der Dogmatiker nahe, dass eine Definition des Menschen nicht in Sicht ist, »da die Verschiedenheit der Menschen groß ist« (pollê tôn anthrôpôn esti diaphora, PH ..). Sextus wendet hier routiniert einen so genannten skeptischen Tropus an: eine standardisierte Argumentfigur, wobei »Argument« nicht im starken Sinn des Beweisanspruchs, sondern im schwächeren Sinn des Versuchs der Beeindruckung zu verstehen ist. Aber welchen Tropus eigentlich? Es ist wichtig, zu beachten, dass der Hinweis auf die große Verschiedenheit der Menschen an dieser Stelle im Rahmen des Uneinigkeits-Tropus (diaphônia, PH ..) eingesetzt wird und nicht im Rahmen des Relativitäts- (pros ti, PH ..) oder des VerschiedenheitsTropus (diaphora, PH ..), der in der – provisorischen – Systematik der Skeptiker eine Unterart des allgemeinen Relativitäts-Tropus ist. Der Verschiedenheits-Tropus hat nämlich bei genauerer Betrachtung die Form »Schau, wie verschieden all diese Wesen sind; wie verschieden wird ihnen da die Welt erscheinen; du bist eines von ihnen; also was spricht dar, dass gerade dir die Welt so erscheint, wie sie ist?« Doch darum geht es in PH .. ausnahmsweise gar nicht. Vielmehr legt Sextus nahe, dass der empirische Befund r Folgendes spricht: Die Menschen sind so verschieden, dass überhaupt nicht eines zu erwarten ist, das genau nur alle Menschen gemeinsam haben.¹⁰ In diesem Fall ist es kein Wunder, dass die Dogmatiker sich nicht auf eine klassische Definition des Menschen einigen, die, wie es von einer klassischen Definition verlangt wird, auf etwas allen Menschen, und nur ihnen, Gemeinsamem beruht.¹¹ Sextus findet es ohnehin unplausibel, dass das Sprachverständnis im Sinne der blitzschnellen Subsumtion unter starre Definitionen funktionieren sollte (vgl. zu Definitionen PH . passim). Denn schließlich spricht nichts dar (PH ..), dass ¹⁰ Wittgenstein , § und § : »[...] es ist diesen Erscheinungen gar nicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden [...] [D]ie Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen.« ¹¹ Kann man so etwas heute leicht angeben, indem man etwa den Menschen als Ergebnis einer bestimmten Trennung von anderen Arten im Laufe der Evolutionsgeschichte oder durch bestimmte Eigenschaften des menschlichen Genoms, die genau das individuelle Genom jedes Menschen besitzt, definiert ansieht? Nein. Es ist vielmehr zu erwarten, dass man auch Wesen mit artifiziellem Genom, die uns ansonsten sehr stark ähneln, selbstverständlich Menschen nennen wird.
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irgend jemand die (vermutlich während einer Verfolgungsjagd und also in großer Eile gestellte) Frage »Mensch, ist dir ein Mensch begegnet, der auf einem Pferd ritt und einen Hund hinter sich her zog?«
verstehen würde im Sinne von »Vernunftbegabtes, sterbliches, für Geist und Wissen empfängliches Lebewesen, ist dir ein des Lachens fähiges, breitnägeliges, für politisches Wissen empfängliches Lebewesen begegnet, das mit den Hinterbacken auf einem sterblichen, des Wieherns fähigen Lebewesen saß und ein vierfüßiges, des Bellens fähiges Lebewesen hinter sich herzog?«
Sextus’ ungefährer Zeitgenosse, der unschätzbare philosophische Anekdotensammler Diogenes Laërtius, haut übrigens in dieselbe Kerbe, wenn er¹² seinen Diogenes von Sinope dem Platon wegen dessen Definitionsvorschlag, der Mensch sei ein zweißiges federloses (apteron) Lebewesen, ein gerupes Huhn vorhalten lässt und diesen damit zur Emendation »zweißiges federloses breitnägeliges (platyônychon) Lebewesen« animiert.¹³ Zwischenergebnis: Was Sextus Empiricus in PH . vorbringt, sind schwere Geschütze gegen die Definierbarkeit des Menschen – jedenfalls, wenn man den Text angemessen ernst nimmt. Man kann ihn dann in zweierlei Hinsicht als negative Anthropologie lesen: einerseits als Punkte gegen das Projekt einer definitorischen Anthropologie überhaupt; andererseits, indem Sextus jedesmal, wenn er einen bestimmten Vorschlag, den Menschen allgemein zu charakterisieren, deplausibilisiert, zugleich nahe legt, was der Mensch allgemein jedenfalls alles nicht ist. Als negative Anthropologie in beiderlei Sinn, ist PH . also ein starker Text. Aber r etwas, das man das Menschenbild der Skeptiker nennen könnte, muss er dürig bleiben. Kann Sextus mehr bieten, oder darf er gar kein Menschenbild haben, wenn er Skeptiker bleiben will? Die Antwort ist: Er darf. Und er hat auch eines. ¹² DL ... ¹³ Das Ecce homo des Diogenes lautet: houtos estin ho Platônos anthrôpos. Die Anekdote bei Diogenes Laërtius (DL ..) spielt an auf Platon, Politikos a–e. Die dort vom Fremden aus Elea vorgebrachte Definition des Menschen ist »im Trockenen vorkommendes, befußtes, hornloses, unkreuzbares, zweifüßiges und nacktes Lebewesen«. Der Zusatz »nackt« wird dort ausdrücklich eingeführt, um den Menschen vom Huhn zu scheiden (b–e). Übrigens könnte der Fremde aus dem Politikos gegen Diogenes vorbringen, ein gerupftes Huhn sei, wenn auch apteron, so doch pterophyes im Sinne von e.
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Die positive Anthropologie der Skeptiker . Methodisches Die umfangreichen Sammlungen von Argumenten und Gegenargumenten (nicht nur im Grundriss, sondern auch im weiteren Werk von Sextus) wären sinnlos, wenn es Sextus nicht zumindest plausibel erschiene, dass der Mensch ein Wesen ist, das sich je nach Einfluss eine andere Meinung bildet. Ist das schon zu viel behauptet? Nein. Man kann ein Menschenbild haben, ohne definieren zu wollen, was der Mensch ist. Man kann Beobachtungen darüber anstellen, wie Menschen sind, und diese festhalten, ohne r sie den Status von Definitionsmerkmalen einer einstmals zu erreichenden vollständigen Definition zu beanspruchen. Man kann auch alles, was man über den Menschen festhält, unter dem skeptischen Vorbehalt und provisorisch festhalten, dass es einem zur Zeit und nach allem, was man bisher erfahren hat, so erscheint. Dieses »es scheint« ist nicht ein Lippenbekenntnis, das mühsam Widersprüche vermeidet, sondern Indikator einer bestimmten vorsichtigen Sprechhaltung. Der konsequenteste Pyrrhoniker der Neuzeit ist Sam Hawkens (sic!) in den Wildwest-Romanen von Karl May, der, dabei ganz und gar lebenstüchtig, jeden seiner Beiträge mit den Worten schließt »…wenn ich mich nicht irre«. Vielleicht ist es auch die Haltung eines guten Arztes, der auf Überraschungen gefasst ist. Kurz: Der Skeptiker kann durchaus beschreiben, wie ihm die Menschen vorkommen und wie es ihnen seinem Eindruck zufolge geht. Der globale Vorbehalt am Beginn des Buchs würde sogar viel mehr Sympathie r bestimmte Theorien zulassen, als sich Sextus tatsächlich gönnt, ohne dass das zu Selbstwiderspruch hrte (PH ..): Vorher aber möchte ich bemerken, dass ich von keinem der Dinge, die ich sagen werde, mit Sicherheit behaupte (diabebaioumetha), dass es sich in jedem Fall (pantôs) so verhalte, wie ich sage, sondern dass ich über jedes einzelne nur nach dem, was mir jetzt erscheint, erzählend berichte (kata to nyn phainomenon hêmin historikôs apangellomen).
Im Sinne einer falliblen vorläufigen Meinung kann Sextus ein Menschenbild haben, und in diesem Sinn muss er das über den Menschen Evidente nicht abstreiten, sondern kann es sogar systematisieren wie in der wichtigen Systematik der »allgemeinen Lebenserfahrung« (têrêsis biôtikê)¹⁴ (PH ..–, vgl. auch PH ..), die auch anleitend ist, »da wir gänzlich untätig nicht sein können« (PH ..): ¹⁴ Die Wendung têrêsis biôtikê ist nicht einfach zu übersetzen. Bury (Loeb) übersetzt »the normal rules of life«; têrêsis ist hier Beobachtung ungefähr in dem Sinne, in dem man Diätratschläge oder deren theoretische Grundlagen beobachtet.
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Diese alltägliche Lebenserfahrung scheint (eoike) vierteilig zu sein. [...] Und zwar [scheint sie zu bestehen aus] [.] natürlicher Vorzeichnung (hyphêgêsis physeôs), sofern wir von Natur aus die Fähigkeit besitzen, sinnlich wahrzunehmen und zu denken, [.] aus Erlebniszwang (anankê pathôn), sofern uns Hunger zur Nahrung, Durst zum Getränk führt; [.] aus Überlieferung von Sitten und Gesetzen (ethôn kai nomôn paradosis), sofern wir es für das alltägliche Leben so übernehmen, indem wir die Gottesfurcht als ein Gut, die Gottlosigkeit als ein Übel betrachten, [.] aus Unterweisung in Techniken (technôn didaskalia) schließlich, sofern wir nicht untätig sind in den Techniken, die wir übernehmen. Dieses alles meinen wir jedoch undogmatisch.
Doch der skeptische Vorbehalt ist längst nicht die einzige methodische Besonderheit an einem skeptischen Menschenbild. Er hängt vielmehr mit zwei anderen Aspekten eng zusammen: . Ein skeptisches Menschenbild besteht nicht aus vorläufig angenommenen potentiellen Definitionsmerkmalen r eine Wesensbestimmung, aus hier und da aufgelesenen Essentialien. Es besteht eher in einer Beschreibung der Bedingungen des menschlichen Daseins, soweit sie ihn r sein Vorhaben angehen. Das sind eilich keine Existenzialien im Sinne Heideggers, da es Sextus nicht darum geht, wie er sich selbst schon immer und unhintergehbar vorfindet.¹⁵ Den Skeptiker interessiert, wie die Menschen (in all ihrer Verschiedenheit) sind, nicht so sehr, was der Mensch (im Allgemeinen) ist. Wo er auf Gemeinsamkeiten abhebt, liegen diese in der Unabweislichkeit des Erlebens und den körperlichen Grundbedürfnissen. . Wenn der Skeptiker ein Menschenbild hat, so wird er stark vermuten: Es fällt auch deshalb so aus, wie es ausfällt, weil er selbst es sich gemacht hat. Das Bild entsteht so, wie er blickt. Schließlich reflektiert er fortwährend die Bedingungen der Entstehung von Meinungen (vgl. auch PH ..).¹⁶ Dies macht ein Teil der Beschreibung des vierten Tropus der älteren Skeptiker, des Tropus aus den Umständen (peristaseis), deutlich (PH ..): Zu behaupten, [der Mensch] sei in gar keinem Zustand (diathesis) – dass er z.B. weder gesund noch krank sei, sich weder bewege noch ruhe, sich nicht in irgendeinem ¹⁵ Vgl. zur Terminologie Heidegger , § , –. ¹⁶ Dies ist auch der Grund, warum in der provisorischen Systematisierung der zehn Tropen der älteren Skeptiker (PH ..) der Tropus der Relativität (pros ti) die oberste Gattung ist.
Philosophen auf der Couch. Das Menschenbild der Skeptiker Alter befinde und auch von den übrigen Zuständen frei sei – ist völlig absurd. Wenn er aber in irgendeinem Zustand ist, während er die Vorstellungen beurteilt, dann ist er Glied des Widerstreits (diaphônia).
Man kann deshalb das Menschenbild des Skeptikers selbst nicht beschreiben, ohne seinen Blick zu beschreiben. Dies ist, so wird sich noch genauer zeigen, der ärztliche Blick. Dass Sextus von Beruf Arzt war, ist unbestritten.¹⁷ Bei den im Folgenden angehrten Stellen ist es nötig, zum Teil von dem Tropus zu abstrahieren, in dessen Skopus sie sich befinden. Insbesondere die medizinischen Beispiele kommen r gewöhnlich im Skopus des Tropus der Relativität, am häufigsten in dessen Unterart des Umstände-Tropus vor und haben dort offiziell das Ziel, an sich selbst als Beurteilungsmaßstab dar, wie die Dinge an sich sind, zweifeln zu lassen. Sein Ziel ist es also hier nicht, ein Menschenbild zu malen. Dass Sextus damit detailversessen so viele Seiten llt, lässt sich zwar sowohl mit seinem Beruf als auch seiner Absicht erklären. Für Gehirnwäsche gilt: viel hil viel. Aber man kann die Passagen legitimerweise von ihrem offiziellen Ziel und systematischen Ort lösen. Denn da Sextus ihren Inhalt selbst r plausibel hält, zeigen sie die motivierenden Voraussetzungen auf, die ihn sein Unternehmen in Angriff nehmen lassen.
. Zehn anthropologische Ausgangspunkte für das Vorgehen der Skeptiker Im erläuterten Sinn lassen sich Beobachtungen sammeln, die zusammen die grobe Skizze eines Menschenbildes der Skeptikers in zehn Punkten ergeben. . Der Mensch meint dies und das. Menschen ändern o ihre Meinung, wenn man sie einer anderen Meinung aussetzt (PH ..). Ein Argument hrt zur gleichen Zustimmungstärke wie ein anderes (PH ..). Wichtig ist, dass dabei letztlich ein guter Grund nichts anderes ist als etwas, von dem man beobachten kann, dass es ziemlich zuverlässig umstimmt. Übersetzt man, wie Hossenfelder in PH .., pistis mit »Glaubwürdigkeit«, so sollte man das Wort nicht normativ lesen, also »Glaubwürdigkeit« und nicht »Glaubwürdigkeit« betonen. Sextus ist zwar nicht nur distanzierter Meinungsforscher, r den Ansichten nur Objekt sind. Sie sind r ihn auch Mittel, denn er will den Leser ja zur Isosthenie bewegen (vgl. unten dazu, wieso er das wollen darf ). Doch schon um die Übersetzung nicht jedesmal misszuverstehen, wenn, praktisch unvermeidlich, von Glaubwürdigkeit die Rede ist, muss man sich vor Augen ¹⁷ Bury , xli. Gerade gegenüber der »empirischen« Ärzteschule äußert sich Sextus freilich kritisch: PH .–, ..
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halten: Sextus blickt, einem modernen Meinungsforscher, Soziologen oder Sozialpsychologen durchaus vergleichbar, aus der Distanz auf Meinungen und Einstellungen, die Menschen, wenn sie ihnen lange und intensiv genug ausgesetzt sind, zu übernehmen pflegen. . Der Mensch will seine Ruhe haben. Menschen wollen nicht hin- und hergerissen sein. Das macht unglücklich. Der Zustand der Unzerrissenheit (ataraxia) ist es eigentlich, den Menschen sich wünschen. Aber Menschen sind beunruhigt, wenn ihnen die Bildung einer stabilen Meinung misslingt (PH ..). . Menschen haben Vernunft. Menschen können denken (PH .., . Aspekt), auch wenn sie dem Denken ein bisschen viel zutrauen. Der Mensch gehört damit zu den vielen Tieren mit Vernun (PH ..–). Seine rein konventionelle Sprache ist dar nicht besonders wichtig (PH ..). . Der Mensch will beweisen (wie der Hamster im Rad vorankommen will). Menschen können keine unendlichen Aufgaben lösen (PH ..; ..). Aber sie versuchen es und geraten dabei, nach den nf Tropen der jüngeren Skepsis, immer wieder ins Begründungstrilemma von willkürlicher Setzung, Zirkel oder unendlichem Regress (PH ..–).¹⁸ . Menschen haben Phänomene. Menschen haben Sinne (PH ..). Ihre sinnlichen Phänomene sind unwillkürlich und unbezweifelbar (PH ..–). Menschen bringen sich in Unruhe, weil sie nach den »verborgenen Dingen« (adêla) suchen, die dahinter stecken (PH ..). . Der Mensch kann nicht aus seiner Haut. Den Menschen erscheint vieles verschieden (PH ..); wie ein Mensch ist, so nimmt er wahr. Die Verschiedenheit der Erscheinungen hat Ursachen in der körperlichen Konstitution (PH ..–): So nennen die Gelbsüchtigen gelb, was uns weiß erscheint, und die Leute mit einem blutunterlaufenen Auge nennen es rot. [...] Ferner, wenn wir lange Zeit in die Sonne schauen und uns dann über ein Buch neigen, meinen wir, die Buchstaben seien golden und tanzten umher. [...E]s ist [...] zu erwarten, dass alle Lebewesen mit schräger und länglicher Pupille, wie Ziegen, Katzen usw. die Dinge verschieden und nicht so vorstellen, wie die Lebewesen mit runder Pupille sie auffassen.
Dass Sextus selbst vielfach wie selbstverständlich auf theoriegetränkte medizinische Beobachtungen oder auf Theorien wie die Säelehre (z.B. PH ..) zurückgrei, ¹⁸ Dieses heißt nach Sextus’ skeptischem Vorgänger Agrippa oft »Agrippa-Trilemma«. Albert , , hat ihm den Namen »Münchhausen-Trilemma« gegeben, der sich als so zugkräftig erwiesen hat, dass das Trilemma selbst heute oft für eine Entdeckung Alberts gehalten wird.
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heißt nicht, dass er diese als Dogmatiker unterschreibt. Andererseits zwingt ihn nichts dazu, sie r unplausibel zu halten. Sie gehören zu seinem Menschenbild im oben beschriebenen undogmatischen Sinn und passen gut zu einem guten Arzt: Wir wollen nicht wirklich, dass der Arzt untätig am Krankenbett steht, weil er sich nicht hundertprozentig sicher ist, ob die Theorie über die Ursachen des schlechten Befindens des Patienten, die er im Studium gelernt hat, auch wahr ist. Zugleich wollen wir nicht, dass er sich dogmatisch erfolgversprechenden neuen Trends verschließt. Ein guter Arzt hält Ausschau nach besseren Methoden und handelt bis auf weiteres entschlossen nach den herkömmlichen (soviel zum Vorwurf der apraxia). . Menschen begehren und meiden. Menschen haben Bedürfnisse und einige dar spezifische Gehle (PH .., . Aspekt). Hunger geht eben auf Essen, Durst auf Trinken. Manche Menschen (man darf vermuten: nicht zuletzt die Stoiker) verkrampfen sich beim krankhaen Versuch der Selbstbeherrschung (PH ..–). Vieles Begehren und Meiden hängt mit kulturell tradierten Wertungen zusammen. Manches mit persönlichen (PH ..): Viele halten auch ihre hässlichen Geliebten für sehr schön.
Und manches liegt einfach am regionaltypischen Körperbau (PH ..): Durch die verschiedene Vorherrschaft der Säfte aber fallen auch die Vorstellungen verschieden aus [...]. Deshalb auch herrscht unter den Menschen große Verschiedenheit im Wählen und Meiden der äußeren Gegenstände; denn die Inder freuen sich über andere Dinge als wir. Die Tatsache aber, dass man sich über Verschiedenes freut, deutet an, dass man von den zugrundeliegenden Gegenständen (hypokeimena) unterschiedliche Vorstellungen (phantasiai) erhält.
. Der Mensch ist nicht festgestellt. Menschen sind sehr, sehr verschieden.¹⁹ Dies gilt selbst r die natürliche Konstitution. Das erste Buch des Grundriss enthält, im Zusammenhang mit dem Unterschiedlichkeits-Tropus der älteren Skeptiker (dem Tropus der diaphora), ein wahres medizinisches Kuriositätenkabinett: Unempfindlichkeit ¹⁹ Es sei aber noch einmal an das Ökonomieprinzip erinnert. Sextus will nicht von der ese überzeugen »Es gibt keine anthropologischen Konstanten« oder »Wir kennen die anthropologischen Konstanten nicht, falls es welche gibt«. Er will vielmehr zwischen solchen esen und ihren Negationen Isosthenie erreichen. Sie sind keine skeptischen esen, denn so etwas gibt es nicht. Dennoch gehört die Verschiedenheit der Menschen zu seinem Menschenbild im erläuterten bescheidenen Sinn. Übrigens hätte Sextus bei jedem Detail, mit dem er beeindrucken will, angesichts der Kommunikations- und Reisemöglichkeiten seiner Zeit hinzufügen können »unter dem Vorbehalt, dass ich das nur vom Hörensagen her als Tatsache präsentieren kann«.
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gegenüber Wassermangel, Gikraut, Schlangenbissen, Nieswurz oder einer Dosis von Gramm Opium auf der einen Seite; auf der anderen Seite Herzinfarkt allein durch Pfeffer und Cholera allein durch den Geruch von Bratfisch (PH ..–). Menschen – insbesondere Stoiker – missverstehen sich also selbst, wenn sie, um richtig zu leben, zurück zu ihrer Natur wollen. Das beunruhigt nur (PH ..). Es sieht nicht danach aus, dass es, abgesehen von wenigen biologischen Fundamentalia (Feuer hlt sich heiß an, Schnee kalt, PH ..) einen natürlichen Zustand (kata physin) gibt, oder natürliche Normalbedingungen r richtige Wahrnehmung (PH ..–) oder natürliche Güter (PH ..). Dass es keine natürlichen Güter gibt, legt die Empirie nahe: Wenn Tapferkeit ein natürliches Gut ist, warum sind dann die meisten Menschen feige (PH ..)? Und wenn es natürliche Güter gibt, wieso werten dann die Menschen so unterschiedlich? (PH ..) Wenn nun das von Natur Einwirkende auf alle in der gleichen Weise wirkt, wir aber bei den so genannten Gütern nicht alle in der gleichen Weise empfinden, dann ist nichts von Natur gut.
Nun drängt sich aber empirisch auf, dass der Untersatz dieses Argumentes wahr ist, was auf rätselhae Weise auch dann noch verunsichert, wenn man sich tausendmal vorgesprochen hat, dass aus dem Sein kein Sollen folgt: Das scheinbar Selbstverständliche ist anderswo anders. Die Ägypter heiraten ihre Schwestern (PH ..; ..); die Perser schlafen mit der eigenen Mutter (PH ..), Perser wie Inder tun es auf der Straße (PH .., ..), Homosexualität ist bei ihnen – wie bei den Römern – geduldet (PH ..), in Äthiopien hat alle Welt Tattoos (PH .., ..) und bei den Syrern tragen Männer Ohrringe (PH ..). Auch Kannibalismus kommt, selbst ohne Not, vor (PH ..– u.ö.). Noch zur scheinbar natürlichsten aller Wertungen findet sich ein Gegenbeispiel (PH ..): Von einigen rakern wird berichtet, dass sie sich um den Neugeborenen herumsetzen und ihn beweinen. Also wird man auch den Tod wohl nicht zu den von Natur furchtbaren Dingen zählen wie auch das Leben nicht zu den von Natur schönen.
Konsequenterweise ist eine thrakische Beerdigung ein Freudenfest, da der Tote das Leben nun hinter sich hat (ebd.). Bei soviel Verschiedenheit ist auch eine allgemeine Lebenskunst nicht zu erwarten (PH ..). Auffälligerweise kommen die Leute, die behaupten, eine zu haben, zu denselben ethischen Ratschlägen, zu denen man auch mit etwas common sense kommt (PH ..).
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Und wenn sich einmal doch kein Gegenbeispiel findet? Dann kann man, parallel zum historischen Joker, den geographischen Joker spielen. Der historische Joker lautet (PH ..–): [W]enn uns jemand ein Argument vorlegt, das wir nicht entkräften können, dann entgegnen wir ihm: »So, wie sich vor der Geburt des Stifters der Lehrmeinung, der du anhängst, das ihr entsprechende Argument noch nicht als richtig offenbart hatte, jedoch der Natur nach schon existierte, so ist es ebenso möglich, daß auch das Argument, das dem von dir jetzt vorgelegten entgegensteht, der Natur nach zwar schon existiert, sich uns aber noch nicht offenbart, so daß wir deinem Argument, das jetzt stichhaltig zu sein scheint, doch noch nicht zustimmen müssen.«
Der geographische Joker ist (PH ..): Wie wir z.B., wenn wir die Sitte der Ägypter, ihre Schwestern zu heiraten, nicht kennten, zu Unrecht versichern würde, es sei bei allen anerkannt, dass man seine Schwester nicht heiraten dürfe, so dürfen wir auch nicht über die Dinge, in denen uns keine Ungleichförmgkeiten (anomaliai) begegnen, versichern, es gebe hierin keinen Widerstreit, da es, wie gesagt, möglich ist, dass sich der Widerstreit hierüber bei irgendwelchen Völkern findet, die wir nicht kennen.
Auf etwas indirekte Weise klärt übrigens auch der Einsatz des geographischen Jokers einen Teil des Menschenbilds, das jemand hat: Er zeigt, was er vom Menschen über das Bekannte hinaus noch r möglich hält. . Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Er folgt traditionellen Sitten und Gesetze, Techniken und Routinen (PH ..). Man gewöhnt sich an alles, selbst an Erdbeben (PH ..–): Wenn wir uns [...] vorstellen, die Sonne erschiene nur selten und ginge nur selten unter und erhellte dann alles mit einem Schlag und ließe es sich plötzlich wieder verfinstern, so würden wir großes Erstaunen dabei beobachten. Auch das Erdbeben beunruhigt diejenigen, die es zuerst erleben, und diejenigen, die daran gewöhnt sind, nicht gleichermaßen. Welch großen Eindruck aber macht der erste Anblick des Meeres auf den Menschen! Und auch die Schönheit eines menschlichen Körpers bewegt uns beim ersten und plötzlichen Erschauen mehr, als wenn ihr Anblick zur Gewohnheit wird.
. Dem Menschen kann geholfen werden. Menschen, die nachdenken, erkranken o an Dogmen und bedürfen der Therapie (PH ..). Meinungen lassen sich zum Glück manipulieren wie Körpersäe mit Medikamenten. Der Konflikt wird mit ihnen zur Krisis getrieben. Die Heilung erfolgt im Erfolgsfall nicht durch Argumente qua Argumente, sondern wie bei Appeles, dem Maler (PH ..–):
Niko Strobach
Dem Skeptiker geschah dasselbe, was von dem Maler Apelles erzählt wird. Dieser wollte, so heißt es, beim Malen eines Pferdes dessen Schaum auf dem Gemälde nachahmen. Das sei ihm so mißlungen, daß er aufgab und den Schwamm, in dem er die Farben vom Pinsel abzuwischen pflegte, gegen das Bild schleuderte. Als dieser auftraf, habe er eine Nachahmung des Pferdeschaumes hervorgebracht. Auch die Skeptiker hofften, die Seelenruhe dadurch zu erlangen, daß sie über die Ungleichförmigkeit der erscheinenden und gedachten Dinge entschieden. Da sie das nicht zu tun vermochten, hielten sie inne. Als sie aber innehielten, folgte ihnen wie zufällig die Seelenruhe wie der Schatten dem Körper.
Bei aller gebotenen Vorsicht mit asiatischen Parallelen liegt es nahe, dass diese Stelle etwas beschreibt, das der Wirkungsweise des Koan, der pädagogisch eingesetzten Absurdität, im Zen-Buddhismus entspricht.²⁰
Der Skeptiker als Menschenfreund Im abschließenden Abschnitt des dritten Buchs (PH ..) betont Sextus noch einmal die medizinische Metaphorik. Es gibt keine guten und schlechten Argumente, nur angemessene und unangemessene. Wo ein schwaches Medikament bereits effektiv ist, ist es angemessen – denn wozu dann noch ein stärkeres, das weniger schonend ist? – und so ist es auch mit Argumenten. Sie sollen sich ja nicht im Geist festsetzen, sondern (PH ..) so wie die Abführmittel nicht nur die Säfte aus dem Körper treiben, [...] auch sich selbst zusammen mit den Säften abführen.
Das Menschenbild des Skeptiker entsteht durch den eundlich-nüchtern-sachlichernsten Blick des Arztes oder Therapeuten. Es sieht zunächst wie ein schlechter Witz aus,²¹ wenn Sextus am Schluss schreibt (PH ..): Der Skeptiker will aus Menschenfreundlichkeit (dia to philanthrôpos einai) nach Kräften die Einbildung und Voreiligkeit der Dogmatiker durch Argumentation (logôi) heilen. ²⁰ Ich erwähne die Parallele mit einigem Zutrauen, da Rolf Elberfeld, der sich mit dem ZenBuddhismus auskennt, sie in seinem Vortrag »Kreativität und das Phänomen des Nichts« auf dem . Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie am . September in Berlin zustimmend aufgegriffen hat. Der Vortrag ist meines Wissens leider nicht veröffentlicht. ²¹ So fragt Bury , xlii anläßlich dieser Stelle: »Or is Sextus here the veiled humorist?« Ist er nicht. Aber Bury sieht wenigstens das Problem.
Philosophen auf der Couch. Das Menschenbild der Skeptiker
Aber das ist ganz ernst zu nehmen, auch die ärztliche Freundlichkeit. Aufs Wohlbefinden kommt es an. Wozu Gedanken, die den Denkenden leiden lassen? Das Menschenbild der Skeptiker, sofern sie eins haben, besteht denn auch aus Platitüden. Es ist seicht, ohne Tiefe. Denn sie sind groß darin, keine »Hinterweltler«²² zu sein.
Literatur Quellen Diogenes Laërtius. Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Übers. von Otto Apelt. . Aufl. Hamburg . —— Vitae philosophorum. Hrsg. von Miroslav Marcovich und Hans Gärtner. Bde. Stuttgart und München –. (Zitiert als DL). »Hannonis Carthaginiensis Periplus«. [= Seereisebericht des Hanno von Carthago]. In: Geographi graeci minores. Hrsg. von Carl Müller. Paris . Nachdruck Hildesheim . Sextus Empiricus. Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Übers. und mit einer Einl. vers. von Malte Hossenfelder. Frankfurt a. M. . —— Pyrrhôneioi hypotypôseis. Outlines of Pyrrhonism. Hrsg. und übers. von Robert G. Bury. Cambridge MA und London . (Zitiert als PH). Ich zitiere aus PH nach dem Schema »Buch.Großabschnitt.Kleinabschnitt«. Oft wird der Großabschnitt weggelassen, da die Kleinabschnitte pro Buch fortlaufend nummeriert sind.
Hinweise zur weiteren Lektüre Bury, Robert G. (). »Introduction«. In: Sextus Empiricus. Pyrrhôneioi hypotypôseis. Outlines of Pyrrhonism. Hrsg. und übers. von Robert G. Bury. Cambridge MA und London. Grundmann, omas (). eorie oder erapie? Die pyrrhonische Skepsis aus der Sicht von Sextus Empiricus. : http://uk-online.uni-koeln.de/remarks/d3141/rm7731 .pdf. Hossenfelder, Malte (). »Einleitung«. In: Sextus Empiricus. Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Übers. von Malte Hossenfelder. Frankfurt a. M. Long, Anthony A. und David Sedley (). e Hellenistic Philosophers. Cambridge. [Deutsche Übersetzung von Band : Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, übersetzt von Karlheinz Hülser, Stuttgart ]. Nussbaum, Martha (). e erapy of Desire. Princeton. [insbesondere Kap. , »Skeptic Purgatives: Disturbance and the Life without Belief«]. Ricken, Friedo (). Antike Skeptiker. München.
Weitere zitierte Literatur Albert, Hans (). Traktat über kritische Vernunft. Tübingen. ²² Vgl. Nietzsche , I »Von den Hinterweltlern«.
Niko Strobach
Berkeley, George (). »Principles of Human Knowledge«. In: Georg Berkeley. Principles of Human Knowledge with other Writings. Hrsg. von Geoffrey J. Warnock. London, S. –. Casson, Lionel (). e Ancient Mariners. . Aufl. Princeton. Heidegger, Martin (). Sein und Zeit. . Aufl. Tübingen. Hoerster, Norbert (). Ethik des Embryonenschutzes. Stuttgart. Hume, David (). Enquiries concerning Human Understanding and concerning the Principles of Morals. An Enquiry concerning Human Understanding. Mit Erläut. von Peter H. Nidditch. . Aufl. Oxford. Kripke, Saul (). Naming and Necessity. Oxford. Nietzsche, Friedrich (). Kritische Studienausgabe. Bd. : Also sprach Zarathustra. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München. Wittgenstein, Ludwig (). »Philosophische Untersuchungen«. In: Ludwig Wittgenstein. Werke. Bd. . Frankfurt a. M, –.
George H. van Kooten
e Two Types of Man in Philo of Alexandria and Paul of Tarsus. e Anthropological Trichotomy of Spirit, Soul and Body¹ Introduction Today probably the best known expression of philosophical anthropology in antiquity is Plato’s differentiation between body and soul.² It is perhaps less well known that already in Plato the features of a tripartite anthropology shine through alongside this dichotomic anthropology. What is virtually unknown, however, is that by the first century AD this tripartite anthropology, which distinguishes between mind, soul and body, was being received and reworked by Jewish and Jewish-Christian authors such as Philo of Alexandria (fl. AD ), Paul of Tarsus (fl. AD ) and Flavius Josephus (fl. AD –). Especially for Philo and Paul, this type of anthropology, reshaped by their Jewish interpretation, strongly coloured their understanding of man. The further differentiation of soul into soul and mind already takes place, if only incipiently, in Plato. In several passages Plato points out that mind (nous) is a quality of the soul (psychê): mind (nous) is one of the good aspects of the soul, together with other virtues such as courage (andreia) and self-restraint (sôphrosynê; Philebus b).³
¹ is paper has now also been incorporated into George H. van Kooten (b). Paul’s Anthropology in Context. e Image of Assimilation to God, and Tripartite Man in Ancient Judaism, Ancient Philosophy and Early Christianity. Tübingen (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament ). For Christian theological reflections on this issue, see, inter alia, the first chapter of Dietrich Bonhoeffer’s Gemeinsames Leben; Bonhoeffer , chap. , , – (I owe this reference to the Rev’d René van den Beld, Bilthoven). ² On the mind-body dichotomy in Plato, see, e.g., Robinson . ³ For mind as a quality of the soul, see further Laws .d, b. George H. van Kooten (). »e Two Types of Man in Philo of Alexandria and Paul of Tarsus. e Anthropological Trichotomy of Spirit, Soul and Body«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
e Two Types of Man in Philo of Alexandria and Paul of Tarsus
In the Phaedrus, the mind even rises to prominence within the soul, since it is called »the pilot of the soul«, the psychês kybernêtês (Phaedrus c).⁴ In a cosmological context, Plato remarks that the »by no means feeble cause which orders and arranges years and seasons and months« is justly called »mind« (nous) and that this mind could never come into being without soul (psychê)⁵: »in the nature of Zeus you would say that a kingly soul (psychê) and a kingly mind (nous) were implanted […]. It confirms the utterances of those who declared of old that mind (nous) always rules the universe« (Philebus c–d). In the Cratylus, these utterances are attributed to Anaxagoras: »Do you not believe the doctrine of Anaxagoras, that it is mind (nous) and soul (psychê) which orders and holds the nature of all things?« (Cratylus a). According to Plato, it is the cosmic soul, »in conjunction with mind«, which »runs aright and always governs all things rightly and happily« (Laws .d–b). In his Timaeus, Plato clearly locates this cosmic mind within the cosmic soul, which is again constructed within the body of the cosmos: »mind cannot possibly belong to any apart om soul. So because of this reflection He [i.e. the Demiurge] constructed mind within soul and soul within body as He fashioned the All. […] This cosmos has verily come into existence as a living creature endowed with soul and mind« (Timaeus b–c). Implicitly, then, Plato states here that a living human being also consists of mind, soul and body. The dominance of the mind within this tripartite anthropology is confirmed by the above passage om the Phaedrus, where Plato explicitly calls it »the pilot of the soul«. In this way, already in Plato the outline of a tripartite anthropology begins to emerge.⁶ The aim of this paper is to show how this trichotomy was adopted by Philo of Alexandria and Paul of Tarsus, Jews living in the first century AD, and how they reworked it on the basis of the Jewish Scriptures. In Paul, these anthropological views on the constitution of man are unfolded in a notoriously difficult chapter of his First Letter to the Corinthians, the well-known passage on the nature of the post-resurrection body ( Cor ). Paul had briefly ex⁴ All translations of classical authors are taken from the Loeb Classical Library, sometimes with minor modifications; the English translation of the New Testament is normally taken from the Revised English Bible. ⁵ Cf. Timaeus c: »the one and only existing thing which has the property of acquiring nous is Soul«. ⁶ Scholars have pointed out that this incipient trichotomic anthropology is boosted by Aristotle who clearly distinguished between mind and soul. See, e.g., Dillon , –; Roig Lanzillotta , –.
George H. van Kooten
pressed his view on man’s trichotomous constitution prior to that, as we shall see (in Thess .), but it is in Cor that he has reason to expound his views on the issue and it is here that we can grasp the full range of his thought. In this chapter, Paul gives us an insight into his anthropological views by distinguishing between »the first man« (ho prôtos anthrôpos), Adam, and »the second man« (ho deuteros anthrôpos), Christ. Following a quotation om the narrative about the creation of man in Genesis . LXX (the Septuagint version), which tells of God blowing into man’s face a breath of life by which man »became a living soul« (kai enepsysêsen eis to prosôpon autou pnoên zôês, kai egeneto ho anthrôpos eis psychên zôsan), the »first man« is identified as »soul« (psychê) and, for that reason, is regarded as belonging to the sphere of »that which is psychic« (to psychikon). The »second man«, however, is identified as »spirit« (pneuma) and belongs to »that which is pneumatic« (to pneumatikon). The first man, moreover, is characterized as »earthly« (choïkos), whereas the second man is depicted as »om heaven« (ek ouranou) and »heavenly« (epouranios). The first man has a »psychic body« (sôma psychikon), whereas the second man possesses a »pneumatic body« (sôma pneumatikon). Their bodily status seems to differ in accordance with their characterization as »psychic« and »pneumatic« respectively. Until now, according to Paul, we have worn the image of the earthly man, and only aer the resurrection shall we shall (fully) wear the image of the heavenly man – kai kathôs ephoresamen tên eikona tou choïkou phoresomen kai tên eikona tou epouraniou ( Cor .–). It is important to note that here, too, Paul alludes to the creation narrative, this time not to Gen . but to Gen .– which speaks about the image (eikôn) in which man was created. Although Paul’s prime concern in this section on the resurrection is the bodily status of man before and aer the resurrection, his full anthropological views can easily be discerned, although they remain difficult to understand in the absence of analogies. There is general consensus in current scholarship that the earthly, »psychic« and the heavenly, »pneumatic« pair distinguished in Cor does not derive om protoGnosticism.⁷ Considerable debate continues, however, about the relevance of Philo’s differentiation between the two types of man, a heavenly and an earthly man, for a proper understanding of Cor . Most of those who do regard Philo’s writings as relevant for discerning the meaning of Cor construe a difference between Paul and Philo, assuming that Paul is in fact arguing against a Corinthian version of the two ⁷ For a profound criticism of a gnosticizing interpretation of Philo’s notion of the heavenly man, see Wedderburn , esp. , –, –.
e Two Types of Man in Philo of Alexandria and Paul of Tarsus
types of man anthropology also known om Philo.⁸ On this understanding, Paul’s Corinthian opponents are »Philonic«. This argument is based on the fact that Paul seems to deliberately invert Philo’s sequence of the first, pneumatic-heavenly man and the second, psychic-earthly man: »Observe, the pneumatic does not come first but the psychic, and only subsequently the pneumatic« – all’ ou prôton to pneumatikon alla to psychikon, epeita to pneumatikon ( Cor .). This line is read as an expression of Pauline polemic against a Philonic, ontological priority of the ideal, heavenly man over the earthly man – a priority which, it is believed, is deliberately reversed by Paul. The ontological priority is turned into a chronological order in which the earthly man comes first and is followed, eschatologically, by the heavenly man, who comes last.⁹ In this article I wish to show, however, that Philo (section ) and Paul (section on page ) do not differ in their understanding of the heavenly and earthly man, but both adopt the same tripartite anthropology which distinguishes between body, psychê and pneuma. Philo, too, is of the opinion that the pneumatic man is subject to degeneration and that, for this reason, the psychic man should be restored to his original ideal, the heavenly man. This transition om psychic to pneumatic man is fundamentally identical to that in Paul. Both thinkers develop a soteriological tripartite anthropology which aims at man’s re-spiritualization. We shall first look in detail at Philo’s view on the relation between the heavenly and earthly man at Creation, as expressed in his exegesis of the creation narrative of Gen – (section .). Subsequently, we shall focus on Philo’s thoughts about the degeneration of man (section . on page ), to be followed by his views on the restoration of man (section . on page ). Finally, we shall compare Philo’s view of the two types of man with Paul’s (section on page ).
Philo of Alexandria . e relation between the heavenly and earthly man at Creation .. Double creation – Gen and Before we look at Philo’s interpretation of the creation of man, and at his detailed views on the anthropological constitution of man, it is important to examine the ⁸ For an extensive bibliography on those »who argue that the Corinthians with whom Paul argues are significantly guided by a Philonic type of thinking«, see Hay , , note . ⁹ Cf. a similar critical reconstruction of these common views in Schaller , –.
George H. van Kooten
general amework of Philo’s understanding of creation in Gen –. In Paul we have already encountered two important anthropological passages om Gen and respectively. According to Gen .– LXX, man was created »in the image of God« ( Cor .); Gen . LXX tells how »God formed man by taking clay om the earth, and breathed into his face the breath (pnoê) of life, so that he became a living soul« ( Cor .). The same key passages om Gen – are constitutive for Philo’s anthropology. The creation of man in Gen is taken as the creation of the heavenly man, whereas Gen is understood as an account of the creation of the earthly man. In Philo’s Platonizing interpretation, the creation in Gen is about the creation of the invisible, ideal, »archetypical« man, whose visible creation is then narrated in Gen – a double creation. Gen , in Philo’s view, still concerns the design phase, the creation of models, as he says explicitly: He [God] conceived beforehand the models of its parts, and […] out of these He constituted and brought to completion a world discernible only by the mind, and then, with that for a pattern, the world which our senses can perceive (On the Creation ).¹⁰
The remark at the beginning of Gen , »Thus the heavens and the earth and everything in them were completed« (Gen .), is understood as a remark about the completion of the ideal, paradigmatic word, on the pattern of which the visible world was created: He [Moses] does not say that either the individual mind or the particular senseperception have reached completion, but that the originals (all’ ideas …) have done so, that of mind and that of sense-perception (Allegorical interpretation .).
Philo’s reading of Gen and is not entirely the product of his own Platonizing interpretation. The LXX text of Gen .– already speaks of the earth as »invisible«, aoratos, thus suggesting a Platonic interpretation of the first creation account of Gen in terms of the creation of a paradigmatic, true reality, to be followed by the creation of a visible reality, narrated in Gen .¹¹ ¹⁰ Translations from Philo are taken from the Loeb Classical Library (F. H. Colson and G. H. Whitaker), with minor alterations when needed. For a running commentary on Philo’s On the Creation, see Runia . ¹¹ is is how Gen – was interpreted by Philo and Clement, but also by John the Evangelist, as his terminology of »the true light« indicates. See van Kooten .
e Two Types of Man in Philo of Alexandria and Paul of Tarsus
.. e heavenly man – Gen .– It is within this amework that Philo understands the creation of the heavenly and the earthly man. According to Philo, the creation of the former is the subject of Gen .–, which speaks of God’s deliberations to »make human beings in our image, aer our likeness«: Poiêsômen anthrôpon kat’ eikona hêmeteran kai kath’ homoiôsin. Philo comments on this phrase as follows: After all the rest […], man was created after the image of God and after His likeness (Gen .). […] nothing earth-born is more like God than man. Let no one represent the likeness as one to a bodily form […]. No, it is in respect of the Mind, the sovereign element of the soul, that the word image is used; for after the pattern of a single Mind […] the mind in each of those who successively came into being was moulded (On the Creation ).
Philo explains that the common denominator between man and God, which establishes the likeness between them, is the mind (nous), which he calls »the sovereign element of the soul«. The underlying view is that man consists of three parts – body, soul, and mind, as becomes clear om the following comparison: For indeed the wise man is the first of the human race, as a pilot in a ship or a ruler in a city or a general in war, or again as a soul in a body and a mind in a soul (kai psychê men en sômati, nous d’ en psychêi), or, once again, as heaven in the world or God in heaven (On Abraham ).
The basic distinction is that between body and soul, but within the soul the dominating principle is that of the mind, which rules the lower, irrational soul, made up of the senses: the soul […] is a whole consisting of two parts, the rational and irrational, as if it were a property shared by two persons, who have partitioned it out between them. One class has taken as its portion the rational part, that is the mind (nous); the other has taken the irrational, which is subdivided into the senses (e Special Laws .).
Mind is what God and man have in common. At the level of man, mind is located in the top part of the soul, and modelled on the single Mind of God: after the pattern of a single Mind […], the mind in each of those who successively came into being was moulded (On the Creation ).
As a consequence, man is indeed closer to God than is anything else created on earth:
George H. van Kooten
But man, the best of living creatures, through that higher part of his being, namely, the soul, is most nearly akin […] to the Father of the world, possessing in his mind (nous) a closer likeness and copy than anything else on earth of the eternal and blessed Archetype (e Decalogue ).
This is what constitutes the likeness between God and man. Our reason is modelled on the divine reason (logos) and, for that reason, is not itself »the image of God«, but is created »in, or aer the image«. There are two forms of reason (logoi): One is the archetypal reason (logos) above us, the other the copy of it which we possess. Moses calls the first the »image of God«, the second the cast of that image. For God, he says, made man not »the image of God« but »after the image« (Gen .). And thus the mind (nous) in each of us, which in the true and full sense is the »man«, is an expression at third hand from the Maker, while between them is the Logos which serves as model for our reason, but itself is the representation of God (Who is the Heir –).
In this view, (the cast of ) the divine image is born within the upper part of the soul, the mind, mediated by the Logos by which it is shaped. For a man’s soul is a precious thing, and when it departs to seek another home, all that will be left behind is defiled, deprived as it is of the divine image. For it is the mind (nous) of man which has the form of God, being shaped in conformity with the ideal archetype, the Logos that is above all (e Special Laws .).
At this point, let me draw attention to the broad similarities with several aspects of Paul’s anthropology in Cor: ⒜ the same ascending hierarchy of man – Logos / Christ – God is found in Cor : »every man has Christ for his head«, and »Christ’s head is God« (.). Within this hierarchy, »man is the image of God, and the mirror of his glory« (.). This implies that this image and glory are mediated through Christ. ⒝ The mediating role of Christ (Philo’s Logos) in the creation of man is also explicitly expressed in Cor : »there is one Lord, Jesus Christ, through whom are all things, and we exist through him« (.). As the preposition »through« in the formula »through him« should be taken against the background of the language of prepositional metaphysics, as Sterling has convincingly argued¹², Christ’s role is indeed that of Philo’s paradigmatic Logos on which the human mind is modelled. ¹² Sterling .
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⒞ For this reason, it can scarcely be a coincidence that Christians not only possess a human nous ( Cor .) but are also said to possess »the nous of Christ«: hêmeis de noun Christou echomen ( Cor .). This is not just a manner of speaking, but makes sense if indeed, in Philo’s wording »it is the mind (nous) of man which has the form of God, being shaped in conformity with the ideal archetype, the Logos that is above all« (The Special Laws .). It seems that Paul and Philo share basic anthropological convictions. This shall become clearer as we now address Philo’s view on the creation of the earthly man and his composition. .. e earthly man – Gen . Although the creation of the heavenly man does indeed precede that of the earthly man, it is important to understand that Philo, without exception, calls the earthly man »the first man«, ho prôtos anthrôpos. As in Paul, »the first man« means »the first man fashioned«. Despite many scholarly claims to the contrary,¹³ the expression »the first man« in Philo does not refer to the heavenly man.¹⁴ The first insight which will transpire om a close reading of Philo’s passages on the creation of the earthly man is that Philo and Paul use the expression »the first man« in the same sense. The second insight is that, for their views on the constitution of the first man, both authors equally focus on Gen . LXX, the text about God breathing his breath into man: kai eplasen ho theos ton anthrôpon choun apo tês gês kai enephysêsen eis to prosôpon autou pnoên zôês, kai egeneto ho anthrôpos eis psychên zôsan – »And God moulded the man of dust om the earth and blew into his face a breath of life, and man became a living soul (psychê).« We shall look at two extensive passages in Philo about the constitution of the first man, one om On the Creation, the other om Allegorical interpretation. The first passage will be of help in establishing the meaning of »the first man« in Philo, the second in drawing a more detailed outline of Philo’s anthropology. ¹³ For such claims, see, e.g., Sellin ; cf. Betz , , note . ¹⁴ Cf. Schaller , : »Macht man sich die – nicht einmal große – Mühe, den philonischen Sprachgebrauch zu verfolgen, dann zeigt sich, dass bei Philo an keiner einzigen Stelle der himmlische, ›der pneumatische Urmensch‹ als ho prôtos anthrôpos bezeichnet wird. Das wird zwar in der Forschung immer wieder behauptet, trifft aber nicht zu. Erst in späteren gnostischen Texten lässt sich dieser Gebrauch nachweisen. Im philonischen Schrifftum selbst begegnet ho prôtos anthrôpos durchgehend als terminus technicus für den irdischen Adam, für den gêgenês.«
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⒤ Taking his starting point in Gen ., Philo first points out the difference between the creation of the heavenly man, already narrated in Gen .–, and that of the earthly man: By this also he [Moses] shows very clearly that there is a vast difference between the man thus formed [as described in Gen .] and the man that came into existence earlier after the image of God [as described in Gen .–] (On the Creation ).
Whereas »he that was aer the (divine) image« was by nature incorruptible (aphthartos), the earthly man, who consists of body and soul, is by nature mortal (thnêtos). The formation of the latter is »the formation of the individual man«. In his description of this formation Philo replaces the LXX term »breath« (pnoê; Gen . LXX) with pneuma, which better suits his anthropological interest. The formation of the earthly man is a composite one made up of earthly substance and of divine breath (pneuma, rather than the pnoê of Gen . LXX); for it says that that the body was made through the Artificer taking clay and moulding out of it a human form, but that the soul was originated from nothing created whatever, but from the Father and Ruler of all: for that which He breathed in was nothing other than a Divine breath (pneuma theion) that migrated hither from that blissful and happy existence (On the Creation ).
Having alluded to Gen ., Philo states that »that first man (ekeinos d’ ho prôtos anthrôpos), earthborn (ho gêgenês), ancestor of our whole race, was made […] most excellent in each part of his being, in both soul and body« (On the Creation ). Philo proposes several reasons why the first man was excellent both in soul and body. The Creator excelled in skill to bestow on man a body with a beautiful form, »desiring the first man (ton prôton anthrôpon) to be as fair as could be to behold« (). But also the soul of the first man was most excellent: for the Creator […] employed for its making no pattern taken from among created things, but solely, as I have said, His own Word / Reason (logos). It is on this account that he says that man was made a likeness and imitation of the Word (logos), when the Divine Breath was breathed (empneusthenta < empneô, instead of the verb emphysaô, »to blow in«, in Gen . LXX) into his face […]. Such was the first man (ho prôtos anthrôpos) created, as I think, in body and soul (kata te sôma kai psychên), surpassing all the men that now are (On the Creation –).
In this passage Philo also links the creation of the heavenly man with that of the earthly man and shows how they relate om the perspective of the latter. When
e Two Types of Man in Philo of Alexandria and Paul of Tarsus
the divine pneuma is breathed into the face of the first man (Gen .) he is made a likeness of the divine image (Gen .–), the Logos. This interconnection between the two men is also highlighted elsewhere in Philo’s œuvre, in a passage in which Philo criticizes the Aristotelian view »that our human mind (nous) is a particle of the ethereal substance«¹⁵. This would render man only »a kinship with the upper air«, which is still part of creation. Instead, Philo argues, Moses likened the fashioning of the reasonable soul (tês logikês psychês to eidos) to no created thing, but averred it to be a genuine coinage of that dread Spirit (pneuma), signed and impressed by the seal of God, the stamp of which is the eternal Logos. His words are »God in-breathed (again the verb empneô, instead of the LXX verb emphysaô) into his face a breath of life« (Gen .); so that it cannot but be that he that receives is made in the likeness of Him who sends forth the breath. Accordingly we also read that man has been made after the image of God (Gen .–), not however after the image of anything created (Noah’s work as a Planter –).¹⁶
As in On the Creation, Philo shows how, in his understanding, the creation of the first, earthly man relates to that of the heavenly man: by receiving God’s pneuma (Gen .) the first man »is made in the likeness (Gen .–) of Him who sends forth the pneuma«. We also note, in passing, that in Philo, the terminology of »mind« (nous), »reasonable soul« (logikê psychê), and »spirit« (pneuma) are near-synonyms. What is clear om the extensive passage om On the Creation is that Philo here understands the phrase »the first man« in the sense of the »ancestor of our whole race« (). Or, as he explicitly says further on in On the Creation, as »the man first fashioned« ( – ho prôtos diaplastheis anthrôpos), »the first-made man« ( – tou men oun prôtou phyntos anthrôpou …). In this, there is no difference between Philo and Paul. The latter also takes »the first man« to mean »the first man, Adam«, the ancestor of the entire human race. Despite the fact that Philo uses the expression »the first man« equently, he remains consistent in its meaning and application. ¹⁵ See also Philo, e Special Laws .: »And clearly what was then thus breathed (Gen .) was ethereal spirit, or something, if such there be, better than ethereal spirit, even an effulgence of the blessed, thrice blessed nature of the Godhead«; Allegorical interpretation .: »e body, then, has been formed out of earth, but the soul is of the upper air«; and e Unchangeableness of God –: the mind »was allotted something better and purer, the substance, in fact, out of which divine nature [i.e. the stars] was wrought.« ¹⁶ Cf. perhaps also Philo, e Worse Attacks the Better : »the mind of man … [is] an inseparable portion of that divine and blessed soul«. But it could also be that, as in e Unchangeableness of God –, Philo has the divine nature of the stars in mind (see previous footnote).
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There is only one passage in Philo that seems to contravene this otherwise consistent usage. When Philo’s interpretation reaches the story of the creation of Eve, and he needs to comment on Gen ., »It is not good that any man should be alone«, Philo applies the text to both men we have so far encountered, the heavenly and the earthly man: For there are two races of men, the one made after the (divine) image (Gen .–), and the one moulded out of the earth (Gen .). For the man made after the image it is not good to be alone, because he yearns after the Image […]. Far less is it good for the man moulded of the earth to be alone. Nay, it is impossible […]. With the second man (tôi de deuterôi anthrôpôi) a helper is associated … (Allegorical interpretation .–).
In this passage, the earthly man is referred to as »the second man«. This, however, is no breach of Philo’s consistent reference to Adam as »the first man« but is due to the specific order of the two men in this specific exposition. »Second« here clearly means the second of both men which were enumerated in this passage. That Adam is called »the second man« in this context cannot be used as evidence that, as a matter of fact, »the first man« is the heavenly man in Philo. The contextual nature of the need to call Adam this time »the second man« is confirmed by the fact, that further on in Allegorical interpretation, Adam is again called »the first generated [man]«, ho prôtos genomenos (.). At the same time, it is telling that the passage just discussed is the only instance, in Philo’s entire œuvre, in which he uses the phrase »the second man«. As the extensive passage om On the Creation has shown, Philo, like Paul, applies the phrase »the first man« to the first generated man, Adam. And, as another extensive passage om Allegorical interpretation will show, again like Paul, Philo refers to the two men as the »heavenly« and the »earthly« man respectively. This passage will also deepen our understanding of Philo’s anthropology. (ii) Elsewhere in his Allegorical interpretation, Philo gives a detailed interpretation of Gen ., »And God formed man by taking clay om the earth, and breathed into his face a breath (pnoê) of life, and the man became a living soul«. According to Philo, ere are two types of men; the one a heavenly man, the other an earthly (ditta anthrôpôn genê: ho men gar estin ouranios anthrôpos, ho de gêïnos). e heavenly man, being made after the image of God (Gen .–), is altogether without part or lot in corruptible and terrestrial substance; but the earthly one was compacted out of matter […]. For this reason he [Moses] says that the heavenly man was not moulded, but
e Two Types of Man in Philo of Alexandria and Paul of Tarsus was stamped with the image of God (Gen .–); while the earthly is a moulded work (Allegorical interpretation .).
In his interpretation of Gen . proper, Philo rather bluntly states that we »must account the man made out of the earth einai noun eiskrinomenon sômati, oupô d’ eiskekrimenon, to be mind mingling with, but not yet blended with, body« (.). The »body« is of course implied in the »clay of the earth«, om which the first man was formed (Gen .), but it remains unclear whence Philo derives »the mind«, which he regards as being, at the point of Gen ., in the yet unfinished process of »mingling with […] body«. Philo calls this mind the »earthlike mind«. It is, in all likelihood, the mind which is modelled on the »heavenlike« mind of the heavenly man, which functions as its archetype. Yet, interestingly, Philo makes clear that, during its formative phase, this earthlike mind is still corruptible as long as it has not yet been breathed into by God: But this earthlike mind is in reality also corruptible, were not God to breathe into it a power of real life (ho de nous houtos geôdês esti tôi onti kai phthartos, ei mê ho theos empneuseien autôi dunamin alêthinês zôês); when He does so, it no longer undergoes any moulding, but becomes a soul (tote gar ginetai … eis psychên), not an inefficient and imperfectly formed soul, but one endowed with mind and actually alive (all’ eis noeran kai zôsan ontôs; Allegorical interpretation .).
This means that at his creation, the first man was breathed into by God. As Philo explains, this expression, »breathed into«, implies of necessity three things, () that which inbreathes, () that which receives, () that which is inbreathed: that which inbreathes is God, that which receives is the mind (nous), that which is inbreathed is the spirit / breath (pneuma). What, then, do we infer from these premises? A union of the three comes about, as God projects the power that proceeds from Himself through the mediant breath till it reaches the subject (.).
From this passage it becomes possible to determine the exact relation between »mind« (nous) and »spirit« (pneuma) in Philo. The »mind« is the highest part of the soul, as it is in contemporary Greek philosophy: man consists of body and soul, and within the soul the leading part, the nous, is differentiated om the lower soul, made up of the senses. This tripartite thinking is adopted by Philo, but under the influence of his exegesis of Gen . he is able to link the nous with the pneuma.¹⁷ Properly speaking, ¹⁷ is has also been noted by Festugière , –.
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the nous is not identical with the pneuma (nous ≠ pneuma). Rather the pneuma is greater than or equal to the nous (pneuma ≥ nous) because, in Philo’s view, it is within the nous that the pneuma is received, the nous is the receptacle. The nous, in turn, mediates this pneuma to the rest of the soul so that this spirit dominates both nous and (the rest of the) psychê: the mind [is] the dominant element of the soul (psychês hêgemonikon estin ho nous): into this only does God breathe (toutôi monôi empnei ho theos). […] the mind imparts to the portion of the soul that is devoid of reason a share of that which it has received from God, so that the mind was besouled by God (hôste ton men noun epsychôsthai hypo theou), but the unreasoning part by the mind (to de alogon hypo tou nou; Allegorical interpretation .–).
If the nous is indeed inbreathed by, and filled with the divine pneuma it becomes synonymous with the pneuma. This shows that Philo not only knows the triad nous, psychê and sôma, in accordance with Greek philosophy, but also, under the influence of his exegesis of Gen ., the similar triad pneuma, psychê and sôma. This latter triad does not occur in Greek philosophers,¹⁸ but is found in Jewish authors such as Philo, Flavius Josephus, and Paul. Its occurrence in Paul will be the subject of section , but I should like first to look briefly at the situation in Josephus. He, too, appears to understand Gen . in terms of the dichotomy of pneuma and psychê. In his retelling of the Pentateuch in the Jewish Antiquities, Josephus even explicitly inserts the term pneuma in his alleged quotation of Gen .: »Moses begins to interpret nature, writing on the formation of man in these terms: ›God fashioned man by taking dust om the earth and instilled into him pneuma and psychê.‹ Now this man was called Adam« (.; cf. .). This shows that the triad pneuma, psychê and sôma¹⁹ is the Jewish equivalent of the Greek tripartite division of man in terms of nous, psychê and sôma,²⁰ which is read om the perspective of Gen .. Since this passage is explicitly quoted by Philo, Paul ¹⁸ »Pneuma« does occur in relation to nous and psychê in Corpus Hermeticum X., but there pneuma is not equivalent with nous and not superior but inferior to psychê since, as Dillon explains, it is taken »in the sense of the basic life-force, which forms a sort of ›cushion‹ for the soul when united to a body (the ›the pneumatic vehicle‹ of later Platonism)«; Dillon , . ¹⁹ For another early Christian differentiation between pneuma and psychê, see the author of Hebrews . about the word of God »piercing so deeply that it divides soul and spirit« – diïknoumenos achri merismou psychês kai pneumatos. ²⁰ For another Jew differentiating between nous and psychê, see the Jewish author of the PseudoOrphica, Recension C, lines –: »… and him [God] no one among | Mortals sees with
e Two Types of Man in Philo of Alexandria and Paul of Tarsus
and Josephus, their interpretation seems to reflect a common Jewish understanding of Gen . LXX in the first century AD.²¹ This is an important finding, I believe, which indicates that the allegedly Gnostic distinction between the pneumatic, psychic and sarkic man (see section on page ) is not a Gnostic invention, but rather a development of this Jewish-Hellenistic interpretation of Gen . and its consequent tripartization of man. According to Philo, the reason why God breathes the pneuma into the human nous is as follows: And for what purpose save that we may obtain a conception of him? For how could the soul have conceived of God, had He not breathed into it and mightily laid hold of it? For the mind of man would never have ventured to soar so high as to grasp the nature of God, had not God Himself drawn it up to Himself (Allegorical interpretation .–).
As we have seen, Philo’s reflections on the relation between pneuma and nous are based on his interpretation of Gen .. There is, however, one complication which threatens to blur Philo’s exegesis: the fact that the text of Gen . LXX – as I have already pointed out in passing – does not read pneuma (»breath« or »spirit«) but pnoê (»breath«). Only here in Allegorical interpretation does Philo raise awareness of this textual problem. Everywhere else Philo interprets Gen . LXX as if the text read pneuma. The reason that Philo draws attention to the actual Septuagint reading in Allegorical interpretation is that, in his understanding of Gen –, it is only in the case of the creation of the earthly man (Gen .), and not in that of the heavenly man (Gen .–), that Moses seems to speak of the inbreathing of the divine pneuma. Given the importance of this pneuma it would seem odd that Moses fails to mention it when describing the creation of the heavenly man: e question might be asked, why God deemed the earthly and body-loving mind (ton gêgenêi kai philosômaton noun) worthy of divine breath (êxiôsen … pneumatos the soul, but he is seen with the mind« – oude tis auton eisoraai psychên thnêtôn, nôi d’ eisoraatai (ed. Holladay , –). ²¹ For pagan philosophical familiarity with Gen ., see Porphyry, Ad Gaurum : »the animation takes place after the conception and formation of the body. e theologian of the Hebrews [Moses] also seems to signify this when he says that when the human body was formed, and had received all of its bodily workmanship, God breathed the spirit into it to act as a living soul« – hotan peplasmenou tou anthrôpinou sômatos kai apeilêphotos pasan tên sômatikên dêmiourgian emphysêsai ton theon autôi eis psychên zôsan legêi to pneuma (Stern –, No. ).
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theiou) at all, but not the mind which had been created after the original (ton kata tên idean gegonota; Allegorical interpretation .).
This question is answered, Philo suggests, when closer scrutiny reveals that Moses, in speaking of the creation of the earthly man, does not speak of the divine pneuma, but rather of the divine pnoê: He uses the word »breath« (pnoê) not »spirit« (pneuma), implying a difference between them; for »spirit« is conceived of as connoting strength and vigour and power, while a »breath« is like an air of peaceful and gentle vapour. e mind that was made after the image and original (Gen .–) might be said to partake of spirit (pneuma), for its reasoning faculty possesses robustness; but the mind that was made out of matter (Gen .) must be said to partake of the light and less substantial air (Allegorical interpretation .).
In this way, Philo makes sense of the LXX reading »pnoê« in Gen .. In his view, the qualitative difference between the mind of the heavenly man and that of the earthly man is reflected in the fact that the latter is said to have received the divine pnoê, whereas the former »might be said to partake of pneuma«.²² In his Allegorical interpretation Philo offers an unusual, very close reading and interpretation of Gen .. The problem-generating, rather than problem-solving nature of the passage just discussed serves to show that Jewish authors such as Philo did indeed face textual difficulties when they tried to develop the Graeco-Roman trichotomy of sôma – psychê – nous into a Jewish trichotomy of sôma – psychê – pneuma. Normally, however – in other writings but also elsewhere in his Allegorical interpretation – Philo does not hesitate to say that God’s pneuma (not his pnoê) was received by the earthly man: »that which inbreathes is God, that which receives is the mind (nous), that which is inbreathed is the spirit (pneuma)« – to men oun empneon estin ho theos, to de dechomenon ho nous, to de empneomenon to pneuma (Allegorical interpretation .). This is confirmed by many other passages which suggest that it is the divine pneuma which is breathed into man. Man is akin (syngenês) to God,²³ »since the divine Spirit (pneuma) had poured into him in full flow« (On the Creation ). The human mind (nous) is closely linked to the divine pneuma: »it would be strange if a light substance like the mind (nous) were not rendered buoyant and raised to the utmost height by ²² Cf. Philo, Noah’s Work as a Planter : »the man stamped with the Spirit […] is after the image of God.« ²³ On the notion of man’s kinship (syngeneia) with God, see Des Places and om , , –.
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the native force of the divine Spirit (pneuma)« (Noah’s Work as a Planter ). An interesting case is a passage in The Special Laws, in which Gen . and Gen .– are merged into a single view: »our dominant part [is] the rational pneuma within us (en hêmin logikon pneuma), which was shaped according to the archetypal form of the divine image« (.). .. Spirit and blood In a special set of passages in Philo, the pneuma, as the substance of the nous, is clearly and persistently contrasted with the blood, which is considered to be the substance of the rest of the soul. In these passages Philo aims to do justice to what he regards as another important anthropological assertion in the Jewish scripture, that of Leviticus .: »the soul of every flesh is his blood« – hê gar psychê pasês sarkos haima autou estin. We shall now consider these passages, as the contrast which Philo draws between »pneuma« on the one hand, and »flesh« and »blood« on the other is very similar to Paul’s language. Philo’s challenge is to reconcile two different, and seemingly contradictory views on the substance of the soul – () that of Gen ., according to which, at least in Philo’s understanding, the soul consists of pneuma; and () that of Lev ., which contends that the soul consists of blood. Philo’s solution is to distinguish between two types of soul: the leading part of the soul, the nous, and the rest of the soul, which is simply called »soul«. This is brought out in the following passage in Who is the Heir, which also shows that Philo, in the construction of his anthropology, refers to the three key texts of Gen .–, Gen ., and Lev .: We use »soul« in two senses (psychê dichôs legetai), both for the whole soul (hê te holê) and also for its dominant part, which properly speaking is the soul’s soul (kai to hêgemonikon authês meros, ho kuriôs eipein psychê psychês esti).²⁴ […] And therefore the lawgiver [Moses] held that the substance of the soul is twofold (Edoxe … dittên kai tên ousian einai psychês), blood being that of the soul as a whole (haima men tês holês), and the divine spirit (pneuma) that of its most dominant part (tou d’ hêgemonikôtatou pneuma theion). us he says plainly »the soul of every flesh is the blood« (Lev .). […] On the other hand he did not make the substance of the mind (tou de nou tên ousian) depend on anything created, but represented it as ²⁴ Cf. the term dipsychos in James . and . which probably also reflects the differentiation between the whole psychê (., .) and its dominant part, the pneuma (., .). In this I differ from Seitz , , and Marcus , who understand dipsychos primarily against the background of the Hebrew concept of »double-heartedness«.
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breathed upon by God (hypo theou katapneustheisan). For the Maker of all, he says, »blew into this face the breath of life, and man became a living soul« (Gen .); just as we are also told that he was fashioned after the image of his Maker (Gen .–) (Who is the Heir –).
The pneuma is clearly depicted as the substance of the nous, the leading part of man’s soul. Basing himself on the three Scriptural passages om Genesis and Leviticus, Philo reaches the following conclusion: So we have two kinds of man (hôste ditton eidos anthrôpôn), those who live by reason, the divine pneuma (to men theiôi pneumati logismôi biountôn), and those who live by blood and the pleasure of the flesh (to de haimati kai sarkos hêdonêi zôntôn). is last is a moulded clod of earth, the other is the faithful impress of the divine image (Who is the Heir ).
As we shall see in due course, Philo’s distinction between »those who live by the divine pneuma« and »those who live by blood and the pleasure of the flesh« resembles that in Paul between the pneumatikoi (»those who live by the pneuma«) on the one hand and the psychikoi (»those who live by the lower psychê«) or the sarkinoi / sarkikoi (»those who live by the flesh«) on the other. Although, as Philo clearly indicates, the substance of the soul is twofold (Who is the Heir –) and consists of pneuma (for the nous) and blood (for the rest of the soul), the two layers which are as such present in every man are nevertheless exemplified in two distinct types of man (Who is the Heir ). »Those who live by the pneuma« have their soul directed by the divine pneuma which has been breathed into man’s nous, whereas »those who live by the flesh« limit the effectiveness of their soul to its lower part, that of the senses. This might be a good point to note that, whereas in Who is the Heir Philo distinguishes between two types of man, elsewhere, in On the Giants, the tripartite nature of man is made manifest in three distinct types of man: some men are earth-born, some heaven-born, and some God-born (hoi men gês, hoi de ouranou, hoi de theou gegonasin anthrôpoi). e earth-born are those who take the pleasures of the body (sôma) for their quarry […]. e heaven-born are the votaries of the arts and of knowledge, the lovers of learning. For the heavenly element in us is the mind (to gar ouranion tôn en hêmin ho nous), as the heavenly beings are each of them a mind. […] But the men of God are priests and prophets who […] have risen wholly above the sphere of sense-perception and have been translated into the world of the intelligible (to de aisthêton pan hyperkypsantes eis ton noêton kosmon metanestêsan). […] But the sons of earth have turned the steps of mind out of the path of reason (hoi de gês paides ton noun ekbibasantes tou logizesthai) and transmuted
e Two Types of Man in Philo of Alexandria and Paul of Tarsus it into the soulless and inert nature of the flesh (kai metalloiôsantes eis tên apsychon kai akinêton sarkôn physin) (On the Giants –, ).
This passage, together with the combined evidence of the previous passage om Who is the Heir, shows that Philo’s tripartition of man develops into a theory of three kinds of man.²⁵ As John Dillon has shown, this scheme of three classes of man predates but is essentially similar to schemes in ancient philosophers such as Plutarch (On the Sign of Socrates d–c) and Plotinus (Enneads ..), schemes which have also been adopted in Gnostic anthropology (Clement of Alexandria, Excerpta ex Theodoto ; see further in section on page below).²⁶ One illustration of the similarity between Philo and Plutarch can be found in the latter’s On the Sign of Socrates: Every soul partakes of nous (psychê pasa nou meteschen); none is irrational or unintelligent. But the portion of the soul that mingles with the flesh (all’ hoson an autês sarki michthêi) and passions suffers alteration and becomes in the pleasures and pains it undergoes irrational. Not every soul mingles to the same extent: some sink entirely into the body (all’ hai 〈men〉 hilai katedysan eis sôma) […]. Others mingle in part, but leave outside what is purest in them. is is not dragged in with the rest, but is like a buoy attached to the top, floating on the surface in contact with the man’s head, while he is as it were submerged in the depths […]. Now the part carried submerged in the body is called soul (to men oun hypobrychion en tôi sômati pheromenon psychê legetai), whereas the part left free from corruption is called by the multitude the nous (to de phthoras leiphten hoi polloi voun kalountes entos einai) (On the Sign of Socrates d–e).
On this basis, Plutarch distinguishes between three classes of man. In ascending order, () »the souls that sink entirely into the body« (f ); () the souls that do not coincide with their bodies but have difficulty in pulling on »the tie which is like a bridle inserted into the irrational part of the soul« (b); () and the souls that really »possess nous« (f ). This differentiation between various types of man can clearly be recognized in the passages om Philo examined above – the three types of man in On the Giants, the two types of man in Who is the Heir. In Philo, the difference between the highest type of man and the lower one is buttressed by his references to Gen . and Lev . respectively: whereas pneuma is the substance of the nous, blood is the substance of the (lower, irrational) psychê which is devoid of pneuma. In another similar passage dealing with Lev ., Philo states: »the fleshly nature (hê sarkôn physis) has received no share of mind (nous)«. Man is a »living creature with ²⁵ Cf. Mendelson , chap. on »Philo’s typology of mankind«, esp. chap. . and .. ²⁶ Dillon , – with , note .
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two natures (to diphyes zôion)«; he is a »composite mass«, which consists of () »the highest form in which life shows itself«, the mind (nous), reason or spirit (pneuma), »that God-like creation with which we reason«, whose »nourishment [is] celestial and imperishable (aphthartos), not perishable (phthartos) and earthly«, and of () »the fleshly nature«, whose life is the blood (Lev .) (The Worse Attacks the Better –). This lower part of the soul, as another passage makes clear, is the soul which »gives the life which we and the irrational animals possess in common« and »operates through the senses«.²⁷ This passage merits quoting in full because it combines various important notions outlined so far. The divine pneuma is clearly depicted as the substance of the mind. And at the same time, the »first man« unambiguously stands for the »founder of our race«, Adam: Blood is prohibited for the reason which I have mentioned that it is the essence of the soul (Lev .), not of the intelligent and reasonable soul, but of that which operates through the senses (ousia psychês estin – ouchi tês noeras kai logikês alla tês aisthêtikês), the soul that gives the life which we and the irrational animals possess in common. For the essence or substance of that other soul is divine spirit (pneuma), a truth vouched for by Moses especially, who in his story of the creation says that God breathed a breath of life upon the first man (anthrôpôi tôi prôtôi) (Gen .), the founder of our race (kai archêgetêi tou genous hêmôn), into the lordliest part of his body, the face, where the senses are stationed like bodyguards to the great king, the mind (nous) (e Special Laws .).
The pneuma, then, is the substance of the human nous, as other passages confirm: Now the divine Spirit is the substance of the rational (part) according to the theologian [i.e. Philo], for in (the account of ) the creation of the world, he says, »He breathed the breath of life into his face« (as) his cause. But blood is the substance of the sense-perceptive and vital (soul) […]. […] the substance of the soul is truly and infallibly spirit (Quaestiones in Genesin .).
Before we come to the next section, on the disintegration and downfall of man, it is important to underline that what we have seen of Philo’s anthropology in key ²⁷ For the differentiation of the soul into (a) a rational and intelligent soul and (b) a senseperceptive and vital soul, see also Philo’s Quaestiones in Genesin ., a commentary on Gen .: »Flesh in the blood of the life you shall not eat«: »the blood is the substance of the soul, but of the sense-perceptive and vital soul, not of that which is called (soul) kat’ exochên, (namely) that which is rational and intelligent. For there are three parts of the soul: one is nutritive, another is sense-perceptive, and the third is rational.« See also e Special Laws .: »the baser kind of soul, the irrational, which the beasts also share«, as opposed to reason, »the better part of the soul«; without the latter, man is »transformed into the nature of a beast, even though the outward characteristics of his body still retain their human form«.
e Two Types of Man in Philo of Alexandria and Paul of Tarsus
passages presented so far is confirmed in many other, oen short passages in which his anthropological views come to the surface. Despite their brevity, we can recognize in them the anthropology outlined above. In these passages Philo differentiates between »a man, this compound animal in which soul and body are woven or intertwined or mingled (use any word you will)«, the earthly man of Gen ., and »the mind pure and unalloyed«, the heavenly man of Gen .– (On Drunkenness ). The latter is called »the real man, who is absolutely pure mind (nous katharôtatos)«, »he who is man in the special sense«, »that invisible reasoning faculty ee om admixture« whereas the earthly man is the »man so-called, one that has an admixture of sense-perception«, he »in whom an irrational and rational nature are woven together« (On Flight and Finding –). Consequently, »the mind […] is the real man in us« (Noah’s work as a Planter ); it is »the man within the man, the better part within the worse, the immortal within the mortal« (The Preliminary Studies ), »the man in us, the ruling mind« (On Dreams .), »the invisible man«, »the veritable man« (Every Good Man is Free ). In some passages Philo focuses only on the basic dichotomy between body and soul: For there are two things of which we consist, soul and body. e body, then, has been formed out of earth, but the soul is of the upper air, a particle detached from the Deity: »For God breathed into his face a breath of life, and man became a living soul« (Gen .) (Allegorical interpretation .).
In other passages Philo is more detailed in his description of man and distinguishes between the soul and its leading part, the mind: »To crown all […] He made man and bestowed on him mind par excellence, the soul of the soul (noun exhaireton edôreito, psychês tina psychên)« (On the Creation ). This mind, »the ruling part of the soul« (On Dreams .), is »a agment of the Deity«: among created things, that which is holy is, in the universe, the heavens […]; in man it is mind, a fragment of the Deity (nous, apospasma theion ôn), as the words of Moses in particular bear witness, »He breathed into his face a breath of life, and man became a living soul« (Gen .) (On Dreams .).
In some passages Philo even distinguishes between three layers within the soul: Our soul, we are told, is tripartite, having one part assigned to the mind and reason, one to the spirited element and one to the appetites – trimerous hêmôn tês psychês hyparchousês to men nous kai logos, to de thymos, to de epithymia keklêrôsthai legetai (e Confusion of Tongues ).
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This is a further differentiation of the human soul under the influence of Plato’s Timaeus: ey [i.e. the philosophers] had made researches into the nature of the soul and observed that its components were threefold: reason, high spirit and desire (to men logou, to de thymou, to d’ epithymias) (e Special Laws .; cf. Plato, Timaeus e– f ).²⁸
In these passages, the differentiation between, on the one hand, the mind (nous) and reason (logos), and, on the other, the faculties of the lower soul are still discernible. Now we have seen the manifold expressions of Philo’s anthropological views, I shall demonstrate that, according to Philo, man has been subject to degeneration because the pneumatic-noetic part of his soul has been lost. For this reason, the soul (i.e. the lower soul) should be restored to its original archetype, the heavenly man.
. e degeneration and fall of man Speaking about the current descendants of the first earthly man, Philo is both positive and critical. Having described »the beauty of the first-made man (Tou men oun prôtou phyntos anthrôpou to … kallos) in each part of his being, in soul and body«, Philo remarks: It could not but be that his descendants, partaking as they did in the original form in which he was formed, should preserve marks, though faint ones, of their kinship with their first father. Now what is this kinship? Every man, in respect of his mind (dianoia), is allied to the divine Reason, having come into being as a copy or fragment or ray of that blessed nature (On the Creation –).
Despite this positive resemblance between us and the first earthly man, in other passages Philo stresses the degeneration and fall of man. This degeneration is partly due to natural developments since creation. In this Philo follows particular views on the physical degeneration of the world and its inhabitants due to the ageing of the world (»mundus senescens«).²⁹ According to Philo, ²⁸ See further Philo, Allegorical interpretation .: »our soul is threefold, and has one part that is the seat of reason, another that is the seat of high spirit, and another that is the seat of desire: estin hêmôn trimerês hê psychê kai echei meros to men logikon, to de thymikon, to d’ epithymêtikon«; and cf. also On Dreams .. On this tripartition in Philo, see Whittaker . For reflections on »the truth of tripartition« of the soul in Plato, see Burnyeat . ²⁹ Cf. Aulus Gellius, Attic Nights ..: »the men of old were larger and taller of stature, but now, because the world is ageing, as it were (et nunc, quasi iam mundo senescente), men
e Two Types of Man in Philo of Alexandria and Paul of Tarsus Such was the first man created, as I think, in body and soul, surpassing all the men that now are, and all that have been before us. […] the man first fashioned was clearly the bloom of our entire race, and never have his descendants attained the like bloom, forms and faculties ever feebler having been bestowed on each succeeding generation (On the Creation ).
To illustrate this natural process of degeneration, Philo points to the received wisdom in the arts, in sculpture and painting, that »the copies are inferior to the originals«. He also uses the example of the magnet which gradually looses its hold over the objects which depend om it: Much the same appears in the case of the magnet: for the iron ring which touches it is held most forcibly, but that which touches this one less so. A third hangs on to the second, and a fourth on to the third, and a fifth on to the fourth, and so on in a long series, all held together by one attracting force, only not all alike for those removed from the starting-point get looser all the time, owing to the attraction being relaxed and losing its power to grip as it did before (On the Creation ).
This illustrates Philo’s point that mankind goes through a similar process in which the original force diminishes through time: Mankind has evidently undergone something of the same kind. As generation follows generation the powers and qualities of body and soul which men receive are feebler (On the Creation ).
Although »the sovereignty with which that first man was invested was a most lo one«, many generations later, »owing to the lapse of ages, the race had lost its vigour« (On the Creation ). But Philo does not give only physical reasons for the degeneration of man. He also speaks about the first moral lapse of man in the garden of Eden. In Philo’s view, at the very beginning, the garden was populated by two men, the heavenly man and the and things are diminishing in size.« On this theme of the loss of the world’s original vitality, see Bartelink and , who characterizes this view as Epicurean, with reference to Lucretius, On the Nature of ings .–: »… all things gradually decay, and go to the reef of destruction, outworn by the ancient lapse of years (spatio aetatis defessa vetusto)« (Bartelink , –). Unlike Bartelink, I believe the concept is also Stoic, because irrespective of the fact that the cosmos is eternally recurrent, the present cosmos is fading away. Unlike Plato and Aristotle, the Stoics regarded the world as admitting of deterioration and destruction (cf. Furley , esp. chap. .., –). Cf. also Paul, Cor .: paragei gar to schêma tou kosmou toutou; see Adams , – for a cosmological interpretation.
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earthly one, and it was the latter who was cast out. Philo justifies this view of two different inhabitants of Eden by referring to two different phrases in the account of Gen on the garden. According to Gen . LXX, God »placed there the man whom He had moulded« (kai etheto ekei ton anthrôpon, hon eplasen), whereas Gen ., at least according to Philo, reads as follows: »The Lord God took the man whom He had made, and placed him in the garden to work on it and to guard it« – elabe kurios ho theos ton anthrôpon hon epoiêse kai etheto auton en tôi paradeisôi, ergazesthai auton kai phylassein (Allegorical interpretation .).³⁰ According to Philo, the latter is a different man, the one that was made after the image and archetype, so that two men are introduced into the garden, the one a moulded being, the other »after the image« (Allegorical interpretation .).
Whereas the latter is received by God, the former is cast out of the garden of Eden: »the moulded mind (ho de plastos nous) […] soon runs away and is cast out« (Allegorical interpretation .); he is »the more earthly mind«, as opposed to the less material, pure mind (.–). Because of his constitution, it is the earthly man, Adam, »the earthly and perishable mind«³¹, who needs to be commanded by God. This is not necessary for the »mind that was made aer the image«, which is »not earthly but heavenly« – »the being created aer [God’s] image and aer the original idea« (.–). In a passage which is highly relevant for our study of Cor in section on page , this heavenly mind is called »the perfect man« and contrasted with the bad man and the child, who do need commandments and instruction: ere is no need, then, to give injunctions or prohibitions or exhortations to the perfect man formed after the (divine) image (tôi teleiôi tôi kat’ eikona), for none of these does the perfect man (ho teleios) require. e bad man³² has need of injunction and prohibition, and the child (tôi nêpiôi) of exhortation and teaching (Allegorical interpretation .).
This way of thinking is very similar to that of Paul who, as we shall see in section on page , considers his Corinthian opponents as »children« (nêpioi; Cor .), and not as »perfect men« (teleioi; Cor .), because they fail to live up to their pneumatic potential and are therefore not pneumatikoi (., ; .) but simply psychikoi (.) and sarkinoi (., ). ³⁰ As a matter of fact, however, Gen . LXX also reads eplasen (like Gen .), not epoiêse. ³¹ Cf. Who is the Heir : »the earthly mind, called Adam«. ³² Cf. On Dreams .: »the wicked mind (ho phaulos … nous)«.
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Philo subsequently explains how the earthly mind can experience downfall if it fails to give heed to God’s commandments: Quite naturally, then, does God give the commandments and exhortations before us to the earthly mind who is neither bad nor good but midway between these. […] Should he obey the exhortations, he may be deemed worthy by God of His benefactions; but […], should he rebel, he may be driven from the presence of the Lord (Allegorical interpretation .).
The last option, that of a rebellious earthly mind, is the one which materializes, as Philo makes clear in another writing. Despite the »nobility of birth« of the »first and earth-born man«, »moulded with consummate skill into the figure of the human body by the hand of God […], and judged worthy to receive his soul […] through the breath of God (empneusantos theou)« (On the Virtues ), he made the wrong moral choice: his father was no mortal but the eternal God, whose image he was in a sense in virtue of the ruling mind within the soul (oun tropon tina genomenos eikôn kata ton hêgemona noun en psychêi). Yet though he should have kept that image undefiled and followed as far as he could in the steps of his Parent’s virtues, when the opposites were set before him to choose or avoid, good and evil, honourable and base, true and false, he was quick to choose the false, the base and the evil and spurn the good and honourable and true, with the natural consequence that he exchanged mortality for immortality, forfeited his blessedness and happiness and found an easy passage to a life of toil and misery (On the Virtues –).
This moral lapse is repeated every time the mind comes to love the body and the passions: there is a different mind which loves the body and the passions (philosômatos kai philopathês nous) and has been sold in slavery to […] pleasure (e Unchangeableness of God ).
Following his tripartite division of man into body, soul, and mind, Philo portrays the degeneration of man as a consequence of the soul which wavers in the middle, to the detriment of the mind: when the soul (psychê) is swaying and tossing like a vessel, now to the side of the mind (nous) now to that of the perception by the senses (aisthêsis), owing to the violence of the passions and misdeeds that rage against her, and the billows rising mountains high sweep over her, then in all likelihood the mind (nous) becomes waterlogged and sinks; and the bottom to which it sinks is nothing else than the body (sôma) (On Husbandry ).
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Or, alternatively, Philo can portray the earthly mind as the medial or neutral mind, as we have already seen in his Allegorical interpretation: »the earthly mind […] is neither bad nor good but midway between these« (.). This mind is played upon by the opposing forces of good and evil: the middle or neutral mind (ho mesos nous) [is] played upon by forces drawing it in opposite directions and given the high calling to decide between them, that it might be moved to choose and to shun, to win fame and immortality should it welcome the better, and incur a dishonourable death should it choose the worse (Noah’s work as a Planter ).³³
In many passages Philo sketches the negative outcome of this strife between body and mind, »the cycle of unceasing war ever revolving round the many-sided soul« (On Dreams .) – the kyklos peri tên polytropon psychên aïdiou polemou. In one of them, he talks, in a »Pauline« fashion, about »the order of the flesh«: when that which is superior, namely Mind, becomes one with that which is inferior, namely Sense-perception, it resolves itself into the order of the flesh (to sarkos genos) which is inferior (Allegorical interpretation .).
Philo sees the downfall of the mind illustrated in many stories in the Bible. The ground which opened to receive the blood of Abel (Gen .), shed by Cain, symbolizes how »the mind, swallowed up by the huge inpouring (Gen .), is found at the bottom, unable so much as to rise to the surface and look out« (The Worse attacks the Better ). And in his commentary on the fall of the angels in Gen , Philo highlights God’s decision that his »Spirit will not remain in a human being for ever«: Nothing is harder than that it [i.e. the divine Spirit] should abide for ever in the soul with its manifold forms and divisions (en poluschidei kai polymorphôi psychei) – the soul which has fastened on it the grievous burden of this fleshly coil. It is after that spirit [i.e. after the Spirit has gone] that the angels or messengers go in to the daughters of men (e Unchangeableness of God ).
This story of the fall of the angels is about the souls of those who have abandoned themselves to the unstable things of chance, none of which has aught to do with our noblest part, the soul or mind, but all are related to that dead ³³ Cf. also On Rewards and Punishments ff. in a passage which reads like a Philonic counterpart to the Treatise of the Two Spirits in e Community Rule, QS III–IV, among the Dead Sea Scrolls.
e Two Types of Man in Philo of Alexandria and Paul of Tarsus thing which was our birth-fellow, the body, or to objects more lifeless still […]. [ey, the children of the earth] have turned the steps of the mind out of the path of reason (nous) and transmuted it into the lifeless and inert nature of the flesh. (On the Giants , ).
This is the third class of man, which, as we have seen before, takes the lowest rank in Philo’s tripartite division of man (see section . on page ). Furthermore, Philo also sees the downfall of the mind at work in the story of Sodom (The Sacrifices of Abel and Cain ) and in the story of the Midianites, who »flood the ruling mind and sink it to the lowest depths, so that it cannot float up to the top or rise ever so little« (On the Change of Names ). In another context, the pagan gods are considered »obstacles and the cause of stumbling, by which the mind is lamed and falls short of the natural road […] which ends in the Father« (Quaestiones in Exodum .). The main threats to the human mind, in Philo’s view, are posed by false opinions and the bodily senses: e human mind [is] imprisoned as it is amid all the thronging press of the senses, so competent to seduce and deceive it with false opinions, or rather entombed in a moral body which may be quite properly called a sepulchre (e Special Laws .).
Philo’s repetitive remarks on the loss of man’s pneumatic-noetic identity also serves a concrete polemical purpose. This becomes clear in two passages in which Philo attacks the sophists (and Protagoras in particular), who are of the opinion that the human mind is the measure of all things. In Philo’s time the Second Sophistic movement was just taking off and becoming a dominant cultural force.³⁴ Philo poses the following rhetorical question and immediately answers it: Of what sort than is an impious man’s opinion? at the human mind is the measure of all things, an opinion held they tell us by an ancient sophist named Protagoras, an offspring of Cain’s madness (e Posterity of Cain –).
This opinion is contrasted with that of Moses: »But Moses held that God, and not the human mind, is the measure and weighing scale and numbering of all things« (On Dreams .–). As I shall suggest below, it is perhaps no coincidence that Paul’s polemic in Cor – and his criticism of the psychikoi, who lack inner pneumatic identity, seem also to be addressed against Corinthian sophists. ³⁴ On Philo and the sophists, see B. W. Winter and van Kooten a, chap. , –.
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. Restoration of the human mind and spirit As we have already seen in section . on page on the creation of the earthly man, »the earthly and body-loving mind« was inbreathed by God’s pneuma at the very moment of creation. The reason stated for this was that »the mind of man would never have ventured to soar so high as to grasp the nature of God, had not God Himself drawn it up to Himself« (Allegorical interpretation .–). One could argue that here there is already a primordial restoration of the human mind while its creation is still taking place (.). The earthlike mind, which in Philo’s view is modelled on the mind of the heavenly man, would have remained corruptible if God’s pneuma had not breathed into it. This sets the model for Philo’s considerations about the restoration of the mind in other parts of his writings: the earthlike mind needs the breath of God’s pneuma to become »a soul, not an inefficient and imperfectly formed soul, but one endowed with mind and actually alive« (.). The biblical narrative which, according to Philo, is all about the restoration of the human mind, is the story of Abraham’s migration om Haran; this migration symbolizes the mind’s departure om the dominance of the lower soul and the senses: When the mind (nous) begins to know itself and to hold converse with the things of mind, it will thrust away from it that part of the soul (psychê) which inclines to the province of sense-perception, the inkling which among the Hebrews is entitled »Lot«. Hence the wise man [i.e. Abraham] is represented as saying outright, »Separate thyself from me« (Gen .). For it is impossible for one who is possessed by love for all that is incorporeal (asômata) and incorruptible (aphtharta) to dwell together with one who leans towards the objects of sense-perception doomed to die (e Migration of Abraham ).
Abraham and Lot are presented as contrasting figures which symbolize, respectively, the mind and the soul. According to Philo, the migration of the mind occurs in several stages, the most important of which are accurate self-knowledge and knowledge of God himself (The Migration of Abraham –). This is a gradual process of migration: e mind gradually changing its place will arrive at the Father of piety and holiness. […] It will stay no longer in Haran, the organs of sense, but withdraw into itself. For it is impossible that the mind whose course still lies in the sensible rather than the mental should arrive at the contemplation of Him that Is (e Migration of Abraham , ).
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Indeed, as Philo himself summarizes his account of Abraham’s migration, towards the end of his treatise: »To resume: the mind […] has gone forth om the places about Haran …« (). The entire migration of Abraham is interpreted as a restoration of the mind and its journey towards God. From some passages in Philo, one gets the impression that his soteriology, his view on how the human mind is restored, is closely related to education. In one passage, for instance, Philo states that parents benefit their children by having their bodies trained in the gymnasium, and that they have done the same for the soul by means of letters and arithmetic and geometry and music and philosophy as a whole which lifts on high the mind (»nous«) lodged within the mortal body and escorts it to the very heaven and shows it the blessed and happy beings that dwell therein (e Special Laws .).
The educational nature of this soteriology is confirmed by Philo’s somewhat elitist remark about the small number of those who despise vanity: is kind is few in number. […] After investigating the whole realm of the visible to its very end, it straightway proceeds to the immaterial and conceptual, not availing itself of any of the senses but casting aside all the irrational parts of the soul (psychê) and employing only the part which is called mind (nous) and reasoning (On Rewards and Punishments ).
This selective attitude differs considerably om the popularizing potential of Paul’s theory about Christ as the heavenly man, in whose identity all are invited to join and experience a transformation of the mind. Yet, Philo’s educational drive clearly serves an ethical purpose. As we have already seen, there is no need, then, to give injunctions or prohibitions or exhortations to the perfect man formed after the (divine) image, for none of these does the perfect man require. e bad man has need of injunction and prohibition, and the child of exhortation and teaching (Allegorical interpretation .).
Instead of describing Philo’s soteriology as »educational«, it is perhaps more appropriate to call it a »psychological soteriology«. This soteriology is built on the tripartite definition of man in terms of mind (or spirit), soul and body, and entails the view that the mind, purified and restored by the divine spirit, influences (the rest of ) the soul which, in its turn, transforms the body. This soteriology comes to the fore in
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three passages. In his commentary on Gen ., »in thee shall all tribes be blessed«, Philo says: if the mind which is in me (ho en emoi nous) has been rendered pure by perfect virtue, then the »tribes« [Gen .: »in thee shall all tribes be blessed«] of that which is earthly in me are sharers of its purifying, those I mean which pertain to the senses (hai aistheseis) and to that chiefest container, the body (to sôma) (On Dreams .).
In this passage the purified mind clearly influences and purifies the lower soul of the senses, and also the body. For this reason, Philo warns against the dominance of the concerns of soul and body over what should be the guiding principle, the mind: If we hold that moral beauty is the only good, the end we seek is contracted and narrowed, for it is bound up with only one of our myriad environments, namely, with the dominant principle, the mind (nous). But if we connect that end with three different kinds of interests, the concerns of the soul (psychê), those of the body (sôma) and those of the external world, the end is split up into many dissimilar parts and thus broadened (On Sobriety ).
That God’s spirit influences both soul and body is also shown in a passage about Abraham: e divine spirit which was breathed upon him from on high made its lodging in his soul, and invested his body with singular beauty (On the Virtues ).
That Philo uses the language of Gen . about the inbreathing of God’s Spirit not only with regard to Adam, but also with regard to his descendants, such as Abraham, shows that his reflections on the creation of Adam are more broadly applicable. Although the singular beauty of Abraham’s body is doubtlessly exceptional, it nevertheless demonstrates that, in Philo’s anthropology, pneuma influences the soul, and the soul, in turn, the body. Once this psychological soteriology is understood, it can easily be recognized in Paul. Already in Thess, Paul warns the Thessalonians not to suppress the Spirit (.: to pneuma mê sbennyte) and wishes that God himself may keep them sound in spirit, soul, and body, ee om any fault: kai holoklêron hymôn to pneuma kai hê psychê kai to sôma amemptôs … têrêtheiê (.). As in Philo, the link between God’s Spirit (Pneuma) and the spirit of man (pneuma) is not coincidental but shows that man’s spirit was inbreathed by God’s Spirit.³⁵ ³⁵ On the issue of the identity, or rather correspondence between the human and divine pneuma, cf. Vollenweider .
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Against the ancient philosophical and Philonic background outlined in this article, it is clear that Paul’s trichotomy of pneuma, psychê and body in Thess . is equally technical. This triad has been misunderstood by Udo Schnelle in one of the few anthropologies of the New Testament which have been written. Schnelle explicitly denies that the triad should be taken in a technical Hellenistic sense: »The trichotomous sounding phrase to pneuma kai hê psychê kai to sôma reflects no Hellenistic anthropology according to which a person is divided into body, soul, and spirit. Paul is merely emphasizing that the sanctiing work of God concerns the whole person«.³⁶ Schnelle is apparently unaware of the parallels which Paul’s contemporary fellow-Jews Philo and Josephus provide in differentiating between pneuma and psychê on the basis of Gen ., in this way establishing a Jewish counterpart to the Greek differentiation between nous and psychê. In this light, Schnelle’s comments on the meaning of pneuma in Thess . become artificial and incomprehensible: »in Thessalonians pneuma is for Paul not a component of the human essence but the expression and sign of the new creativity of God in humankind. With psychê and sôma Paul is only adding what constitutes each person as an individual. What is actually new and determinative is the Spirit of God.«³⁷ This is clearly mistaken, even though it may reflect a common view in New Testament scholarship. In Paul’s triad pneuma, psychê and body, the pneuma is a component of man, as the comparisons with Philo unequivocally show. It is part of the triad which characterizes man as a trichotomous being. Of course is it true that elsewhere in Thess the pneuma does denote the spirit of God. As Paul reminds the Thessalonians, God has given them his holy pneuma: anyone who flouts particular ethical rules »is flouting not man but the God who bestows on you his holy Spirit« ( Thess .). Therefore, at the end of the letter, the Thessalonians are warned not to suppress the spirit, i.e. the Spirit of God: to pneuma mê sbennyte ( Thess .). But the gi of the Spirit results in the reconstitution of man’s own pneuma, and for this reason he should keep sound »in pneuma, psychê and body« ( Thess .). By partaking in the Spirit of God, man possesses a pneuma which is part of his own constitution. Against the background of Philonic and Hellenistic trichotomous anthropology, this is perfectly clear. Classicists, incidentally, have no difficulty in recognizing the philo³⁶ Schnelle , – at (italics mine). ³⁷ Schnelle , . Heckel , , note seems to be aware of the Greek background of »the tripartite body-soul-pneuma synthesis in ess. :«, but stresses Paul’s free interpretation of it, without further explanation.
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sophical nature of Paul’s anthropology. André-Jean Festugière, for instance, devotes an extensive excursus to the ancient philosophical background of Thess . in his L’idéal religieux des grecs et l’évangile ().³⁸ The presupposition at work in Schnelle’s interpretation is that Thess, as Paul’s first letter, contains only a simple, rudimentary theology which will be developed further over the years: As the oldest document of Pauline theology, the First Letter to the essalonians shows rather that the continuing passage of time was of great significance in the formation of the apostle’s anthropology. is letter lacks all the important anthropological terms of later letters, such as sarx (›flesh‹), hamartia (›sin‹), thanatos (›death‹), eleutheria (›freedom‹), zôê (›life‹).³⁹
Yet although Thess is indeed Paul’s first preserved letter, this view neglects the fact that, prior to his visits to the cities of the Eastern Mediterranean, Paul had already spent about fourteen years in the Roman provinces of Syria and Cilicia, in cities such as Antioch and Tarsus, where he must already have tested the reception of his gospel by the Hellenized world (Gal .–.). It is misleading to state that in Thess »all the important anthropological terms are lacking«,⁴⁰ as the important trichotomy pneuma, psychê and body does occur. In a later letter, Cor, Paul shows that he is able to expand on it when he distinguishes between different classes of man, those who have a pneuma, the pneumatikoi, and those who have not, the psychikoi ( Cor .–.). It is far more natural then, to interpret the triad of spirit, soul and body in Paul’s first letter in the technical, Hellenized sense in which is was also used by Philo. Likewise, against the background of Philo, the descending hierarchical order of pneuma, psychê and body is not haphazard either, but implies that the restored and purified spiritmind influences the rest of man’s soul and his body. In Philo, the purification of the mind is an important motif. We have already seen that the mind which has been rendered pure by perfect virtue, in its turn, purifies the lower soul of the senses and the body (On Dreams .). To phrase it differently, the wholly purified mind […] disregards not only the body, but that other section of the soul which is devoid of reason and steeped in blood, aflame with seething passions and burning lusts (Who is the Heir ). ³⁸ Festugière , Excursus B, –. For a different philosophical reading of Paul’s concept of pneuma in Stoic terms, see Engberg-Pedersen . ³⁹ Schnelle , . ⁴⁰ Schnelle , .
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As a consequence, »the purified mind (ho kekatharmenos nous) of the wise man preserves the virtues ee om breach or hurt« (On Flight and Finding ). This complex of ideas can be rightly called a soteriology, a doctrine of salvation. As a matter of fact, Philo himself stresses that the mind (nous) is »brought back by the mercy of its Saviour (sôtêr)«: e mind (nous) which has strayed everywhere in prolonged vagrancy, maltreated by pleasure and lust, the mistresses it honoured so unduly, may well be brought back by the mercy of its Saviour (sôtêr) from the pathless wild into a road wherein it is resolved to flee straight on, a flight […] of one banished from evil to salvation. […] is mind […] has been honoured with the gift of quietude by God, who willed that it should be undistracted, never affected by any of the troublesome sensations which the distresses of the body engender (On Rewards and Punishments , ).
Only then, when the mind has been granted quietude, can there be an end to the kyklos peri tên polytropon psychên aïdiou polemou, »the cycle of unceasing war ever revolving round the many-sided soul«, the strife between body and mind (On Dreams .). That war »the mind (nous) is wont to leave, when, filled with the divine, it finds itself in the presence of the Existent Himself and contemplates the incorporeal ideas« (On Drunkenness ). This psychological soteriology is implied in many shorter passages throughout Philo’s writings. Again, despite their brevity, they are an expression of Philo’s thoughts about the restoration of man. In several passages, Philo talks about the mind leading the soul and being followed by the senses. In one passage, which we have already quoted on the matter of the disintegration of man, Philo goes on to state the opposite, salutary development: When that which is superior, namely Mind (nous), becomes one with that which is inferior, namely Sense-perception, it resolves itself into the order of the flesh (to sarkos genos) which is inferior […]. But if Sense the inferior follows Mind the superior, there will be flesh (sarx) no more, but both of them will be mind (Allegorical interpretation .).
In a similar passage Philo explains: Most profitless is it that Mind should listen to Sense-perception, and not Senseperception to Mind: for it is always right that the superior should rule and the inferior be ruled; and Mind is superior to Sense-perception […]. Just so, when Mind, the charioteer or helmsman of the soul, rules the whole living being as a governor does a city, the life holds a straight course (Allegorical interpretation .–).
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For that reason, the Mind (nous) is characterized as »the ruler of the flock, taking the flock of the soul (psychê) in hand« (On Husbandry ). The road along which the mind travels is that of wisdom – a road derided by those who are fleshly: Wisdom is a straight high road, and it is when the mind’s (nous) course is guided along that road that it reaches the goal which is the recognition and knowledge of God. Every comrade of the flesh (pas ho sarkôn hetairos) hates and rejects this path and seeks to corrupt it (e Unchangeableness of God ).
When the mind decides to follow this path, it »turns away om pleasure and cleaves to virtue« (The sacrifices of Abel and Cain ). This is clearly characterized as a conversion: If the mind be safe and unimpaired, free from the oppression of the iniquities or passions which produce the frenzy of drunkenness, it will renounce the slumber which makes us forget and shrink from the call of duty (On Sobriety ).
It shows that the mind does not necessarily »remain for ever deceived nor stand rooted in the realm of sense« (On Abraham ), but that it can be »mastered by the love of the divine« (On Dreams .). Those who turn back to God have the image of God in them restored. They are those »who do not deface with base practices the coin within them which bears the stamp of God, even the sacred mind (nous)« (The Unchangeableness of God ).
Paul of Tarsus There are many similarities between Philo and Paul with regard to the differentiation between the heavenly man, who is identified with pneuma, and the earthly man, who is identified with the psychê. Moreover, in both authors the »first man« is the earthly Adam. Nevertheless, many scholars have assumed that there is an implicit criticism of Philonic views in Paul’s statement that »the pneumatic does not come first but the psychic, and only subsequently the pneumatic« – all’ ou prôton to pneumatikon alla to psychikon, epeita to pneumatikon ( Cor .).⁴¹ However, as we have seen above, for Philo too the term »first man« (ho prôtos anthrôpos) refers to the earthly Adam. This being the case, the chances are slight that the phrase »the pneumatic does not come first« (all’ ou prôton to pneumatikon) entails a criticism of Philonic views on this matter. It is important to note that the discussion in Cor is not about the psychic (to psychikon) and the pneumatic (to pneumatikon) ⁴¹ Cf. Schaller , –, already referred to above.
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in general, but about the psychic and pneumatic body. What is at issue is the sôma psychikon and the sôma psychikon. In Paul’s view, it is not that the pneumatic reality (to pneumatikon) as such belongs to the future, but rather that the pneumatic body only becomes a reality aer the eschatological resurrection. Paul’s reflections have wrongly been taken to mean that, in opposition to Philonic ideas, the pneumatic is only a future reality. This cannot be true, since the pneumatic already occurs in the present, as Paul makes clear in a different polemical setting in Cor –. In this section Cor Paul already reckons with the existence of the pneumatikoi, those who are characterized by pneuma ( Cor ., ; .; cf. Gal .). This is Paul’s designation of true, mature men, as opposed to the psychikoi ( Cor .) and nêpioi (the children; Cor .). This is reminiscent of the passage om Philo discussed in section . on page , in which Philo, on the basis of his tripartite division of man, calls the mind (nous) »the perfect man« and contrasts it with the bad man and the child, who need commandments and instruction: ere is no need, then, to give injunctions or prohibitions or exhortations to the perfect man formed after the (divine) image (tôi teleiôi tôi kat’ eikona), for none of these does the perfect man (ho teleios) require. e bad man has need of injunction and prohibition, and the child (tôi nêpiôi) of exhortation and teaching (Allegorical interpretation .).
As in Philo, in Paul, too, those who have had their nous or pneuma restored, the pneumatikoi, are a present type of man, not a future one. In response to this view on the restoration of man’s pneuma, however, one could object that according to Paul there is no question of the restoration of man’s pneuma: in Cor , the passage om Gen . is applied in such a way that, whereas the first Adam possesses only a psychê, the last Adam will be granted a pneuma: »It is in this sense that Scripture says: ›The first man, Adam, became a living soul‹, whereas the last Adam has become a life-giving spirit« ( Cor .). If the passage is read this way, man’s pneuma is not restored, but rather pneuma is bestowed for the first time in man’s existence. Whereas the first man possessed psychê, only the second man will possess pneuma. This, however, cannot be true. It would imply that whereas the original anthropology was dipartite, consisting of psychê and body, only future anthropology will become tripartite, consisting of pneuma, psychê and body. This, in turn, would imply that man was created as an incomplete human being. Although the context in Cor is indeed a debate about the future – or, more specifically about the future, post-resurrection constitution of the body – the underlying logic must be that, as
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a consequence of the birth and apparition of Christ, the second and last man om heaven, man’s pneuma is restored to him, not granted for the first time. Although theoretically the first man had a tripartite structure, effectively man failed to keep his pneuma, so that it needs to be restored. That man as such does possess pneuma is confirmed by Paul in Cor . where, in a generalizing way, he speaks about man’s pneuma: »Who knows what a human being is but the human spirit (pneuma) within him? In the same way, only the spirit (pneuma) of God knows what God is«.⁴² In this generalizing passage, Paul reveals his view about the standard composition of man in general, a constitution which also encompasses pneuma. Naturally, in Paul’s view, whereas, technically speaking, every human being has pneuma, only the Christians can have their pneuma really and effectively restored. The same ambiguity is found in Plutarch when, in On the Sign of Socrates, he reflects on the three kinds of man. Although Plutarch emphasizes that »every soul (psychê) partakes of mind (nous); none is irrational or without mind (a-nous)« (d), he nevertheless goes on to state that the lowest class of man sinks entirely into the body (hai 〈men〉 holai katedysan eis sôma), as if into the depths of the terrible, deep, water-filled abyss of the Styx. Unlike the intermediate class, whose nous »is not dragged in with the rest, but is like a buoy attached to the top, floating on the surface in contact with the man’s head, while he is as it were submerged in the depths« (e), the lowest class seems, in the words of John Dillon, »to have souls that are completely immersed in the body, in such a way as to leave no ›nous‹ floating as a ›buoy‹ above them.«⁴³ As Dillon asks: »Does this mean that they have effectively no nous?« Indeed, he answers, »they have no nous remaining above«.⁴⁴ In this way a picture emerges of »souls breaking loose on their own, quite devoid of intellect«; »some souls are le wholly devoid of nous«.⁴⁵ Plutarch thus shows the same ambiguity as Paul: although, strictly speaking, all souls possess nous,⁴⁶ effectively some have none. To put it in Paul’s terminology: although originally man was created with a trichotomous identity of pneuma, psychê and body, effectively, aer the degeneration and fall of man, man had no pneuma till it was restored to him by means of his unification with Christ, the second man ⁴² ⁴³ ⁴⁴ ⁴⁵ ⁴⁶
I owe this observation to Dr Edward Adams, London. Dillon , (italics mine). Dillon , . Dillon , , . Cf. De Lacy and Einarson , note a: »All souls, strictly speaking, possess understanding« (nous).
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om heaven. It is om this perspective of restoration that Paul quotes Gen . in Cor .: »It is in this sense that Scripture says: ›The first man, Adam, became a living psychê‹, whereas the last Adam has become a life-giving pneuma.« Paul does not mean that man was originally created as a dichotomic being, consisting only of psychê and body, but rather that, though man was created as a trichotomic being, made up of pneuma, psychê and body, it is only Christ who restores the pneuma which had effectively become lost. In his quotation of Gen ., Paul forgets about the brief period in which, between his creation and almost instantaneous fall, man did effectively possess pneuma. Rather he attributes the bestowal of pneuma to its definitive endowment by Christ as an act of recreation (cf. Cor .–). This gi of pneuma is a uit of realized eschatology. The restoration of man’s pneuma is a result of the eschatological gi of the Spirit which is already operative (e.g. Thess .; Cor ., .; Rom ., ., .). In the context of Cor , however, Paul stresses that, although already at work, the Spirit is not yet fully effective. Only at the end of time will the Spirit also transform the psychic body into a pneumatic body ( Cor .–). For a proper understanding of Cor , it is important to distinguish the different kinds of oppositions which Paul addresses throughout and Cor, as well as the positions with which Paul agrees in principle, but still deems necessary to modi. At least three kinds of oppositions and of positions in need of further modification can be distinguished in Cor alone, () those who »say there is no resurrection of the dead«, () the psychikoi, and () those pneumatikoi who are too excessive in their spiritualization.
. »Some […] say there is no resurrection of the dead« To start with Cor , the first kind of opposition consists of »some« of the Corinthians who »say there is no resurrection of the dead« (.) and are concerned with the questions of how the dead are raised and in what kind of body (.). Who are these »some«? For the moment we shall leave this question open, and return to it later. As we have seen, what is clear is that in his polemic Paul focuses on the body. His answer is about the pneumatic body (sôma pneumatikon), not about the pneumatic (to pneumatikon) as such. Due to a particular kind of opposition, in Cor the focus is on the body, the third and lowest layer of tripartite man. Apparently what Paul is saying is that it is only eschatologically that the pneuma influences the psychê to such an extent, and the psychê, in its turn, the body, that the body will turn into a pneuma-
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dominated body, a pneumatic body. Only then we will bear the image of the heavenly man to the fullest extent – kai kathôs ephoresamen tên eikona tou choïkou, phoresomen kai tên eikona tou epouraniou ( Cor .–). Cor provides confirmation for the supposition that in Cor Paul focuses on the future body, but that this does not preclude the present manifestation of the pneumatic and the present relevance of bearing the image (eikôn) of the heavenly man. In Cor it is clear that the bearing of the image of the heavenly man is not a future event, but already a present reality. Already before the end of time, man may experience a gradual transformation into God’s image, Christ: hêmeis de pantes … tên autên eikona metamorphoumetha apo doxês eis doxan, kathaper apo kyriou pneumatos ( Cor .–. at .). At present we carry the image of the first man ( Cor .a), but, as Cor suggests, also increasingly the image of the heavenly man, although not to such an extent that the pneuma already transforms the body into a pneumatic body, a sôma pneumatikon. That, but only that, is a future reality according to Cor .
. e sophists/ psychikoi versus the pneumatikoi That the pneumatic body (sôma pneumatikon) but not the pneumatic (to pneumatikon) as such is a future reality is also apparent om a different polemical section of Cor, in chapters –. In this section Paul differentiates between two types of man and assumes that the pneumatikoi are already present now and differ om the psychikoi. The section of Cor – is addressed, as Bruce Winter has convincingly shown, to the sophists who advocate an outward rhetorical modus operandi; they are interested in the public impression they make and in public opinions, not primarily in inner conviction or truth.⁴⁷ It is therefore very apt for Paul to characterize them as psychikoi who lack the inner spirit. This is again reminiscent of Philo, according to whom, as we have seen, the main threats to the human mind are posed by false opinions and the bodily senses: »the human mind [is] imprisoned […] amid all the thronging press of the senses, so competent to seduce and deceive it with false opinions« (The Special Laws .). Philo, too, applied his thoughts about the loss of man’s pneumatic identity in his polemics with the sophists: »Of what sort then is an impious man’s opinion? That the human mind (ton anthrôpinon noun) is the measure of all things, an opinion held they tell us by an ancient sophist named Protagoras« (The Posterity of Cain –). Like ⁴⁷ Cf. B. W. Winter , chaps. –.
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Philo, Paul criticizes those who forget their inner pneumatic identity and limit their existence to their lower soul. For that reason, they are well characterized by Paul as »psychikoi«, as opposed to the »pneumatikoi« whose life is dominated by the pneuma. This comes out in Cor .–. in particular. In this passage, Paul compares his opponents to a psychic man, a psychikos anthrôpos, who »refuses what belongs to the Spirit of God; it is folly to him; he cannot grasp it, because it needs to be judged in the light of the Spirit« (.). Paul, however, aims to communicate »spiritual truths to those who have the S/spirit«, the pneumatikoi (.). Unlike a psychic man, the spiritual person (ho pneumatikos) »can judge the worth of everything, yet is not himself subject to judgement by others« (.). The way Paul continues this passage is most revealing: »Scripture asks, ›Who can know the mind of the Lord (tis gar egnô noun kyriou), which will advise him?‹ (Isaiah . LXX as quoted by Paul in contracted form) Yet we do possess the mind (nous) of Christ – hêmeis de noun Christou echomen« (.). This bold, confident statement makes sense in the context of Philo’s and Paul’s thinking about tripartite man, whose mind (nous) is inbreathed by God’s pneuma. The pneumatikoi have their nous restored and, by being modelled on the heavenly man, Christ, are in fact in the possession of his nous: hêmeis de noun Christou echomen. Paul criticizes his opponents for the fact that he is not able to speak to them as »pneumatikoi«, persons who are dominated by the S/spirit, because they are »sarkinoi« or »sarkikoi«, dominated by the flesh, and are still infants (nêpioi) (.–). This all neatly fits the tripartite model which we have explored in Philo. The ambiguity about whether we should translate pneumatikoi as »those who are dominated by the Pneuma« or »those who possess pneuma« (in addition to their lower psychê) seems to be intrinsic to Philo’s and Paul’s tripartite anthropology. The human pneuma is called pneuma because it has been bestowed by, and, for this very reason, corresponds with the divine Pneuma. It is both simultaneously. Philo, like Paul, depicts the opposite lifestyle as a life dominated by the flesh and as childish. At this stage it is perhaps important to note that Paul’s tripartite division of man into pneumatikoi, psychikoi and sarkinoi/sarkikoi is neither Gnostic nor proto-Gnostic,⁴⁸ but precedes Gnosticism, so that the dependence is the other way around. As Elaine Pagels stated, »Some of what has been described as ›Gnostic terminology‹ in the Pauline letters may be explained more plausibly instead as Pauline […] terminology in ⁴⁸ For Paul’s alledged dependence on Gnosticism in this respect, see, e.g., M. Winter .
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the Gnostic writings.«⁴⁹ This certainly applies to the division of man into pneumatikoi, psychikoi and sarkinoi/sarkikoi. As we have seen om Philo, the differentiation between pneuma and psychê is nothing other than the Jewish interpretation of the Greek opposites of nous and psychê. As we saw in section . on page , Philo and Plutarch, too, distinguish three classes of man. When Gnostics, in turn, also use this distinction they reveal their dependence on this debate.⁵⁰ Moreover, by referring to these three classes in terms of the pneumatic, psychic and sarkic man, they demonstrate particular acquaintance with Paul’s specific colouring of this tripartite classification.⁵¹ The expressions of this tripartite anthropology can be discerned in several passages in Cor. The word »pneuma« is used, in a double sense, to depict both the divine pneuma ( Cor ., –; .) and the human pneuma ( Cor .). Likewise, the word »nous« can refer either to the human nous ( Cor .; .–, .) or to the nous of Christ ( Cor .). These passages also show that, as in Philo, in Paul too the words »pneuma« and »nous« can be synonymous. To conclude, the present reality of the pneumatic (to pneumatikon) is visible in the type of men referred to as pneumatikoi. Paul contrasts this type with that of the psychikoi, who have forgotten their highest and most important constituent, that of pneuma. Paul is prompted to apply this contrast by the fact that his opponents, the Corinthian sophists, are only interested in outward, public opinion and appearance and not in man’s inner self. It need not surprise us that Paul develops such a full tripartite anthropology, since, as we saw in section . on page , Thess . already shows that he was familiar with it. In the context of Corinth, however, there is a need to apply it further.
. e excessive pneumatikoi Although Paul’s ideal type of man is that of the pneumatikos, he recognizes the dangers inherent to this concept. The danger is posed by excessive pneumatikoi. To this threat, which results om his own endorsement of the pneumatikoi, Paul devotes Cor – ⁴⁹ Pagels , . ⁵⁰ Cf. also Pearson , –. ⁵¹ See the Valentinian-Gnostic distinction in Celsus apud Origen Contra Celsum .; Irenaeus, Adversus haereses (edn W. W. Harvey ) .., , –, (with explicit evidence that the Valentinians claim Paul as their authority); Clement of Alexandria, Stromateis ... and Excerpta ex eodoto . See also Clement of Alexandria, Paedagogos .... It is equally anachronistic to draw upon rabbinic literature as Hultgren does.
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. In this section he makes clear that one should beware of excessive spirituality. Although the sophists are rightly portrayed as psychikoi and the right attitude is that of the pneumatikoi, the latter should not overdo it. They are not opponents of Paul, but represent a position which needs modification. Indeed, they should learn about pneumatic things: »About the pneumatic things (ta pneumatika), my iends, I want there to be no ignorance.« (.) But at the same time, Paul warns them that even those who have experienced pneumatic gis such as pneumatic food (to pneumatikon brôma) and pneumatic drink (to pneumatikon poma), as the Israelites did during their journey through the wilderness, may in the end nevertheless not be accepted by God and may perish (.–). Even if, as pneumatikoi, they are eager for the pneumatic things (ta pneumatika), they should not forget love, which is more important than trust and hope: de menei pistis, elpis, agapê, ta tria tauta: meizôn de toutôn hê agapê, zêloute de ta pneumatika (.–.). That Paul, despite his promotion of the pneumatikos-type of man, finds fault with a possible excess of pneuma, is clear om what follows. Although the pneumatic things also include speaking in tongues, Paul strongly dissuades the pneumatikoi om exercising this spiritual activity to the detriment of nous: »If I pray in tongues, my pneuma prays, but my nous is barren« (.). The juxtaposition of pneuma and nous in this passage fits what we have seen in Philo’s tripartite anthropology, in which pneuma and nous are near-synonyms: pneuma is greater than or equal to nous because the divine pneuma is received within the human nous. According to Philo, in the case of prophecy the influence of the pneuma upon the nous is even greater. The nous is then inspired (The Migration of Abraham ) or guided (The Life of Moses .) by the pneuma: »prophecy finds its way to what the nous fails to reach« (The Life of Moses .).⁵² Moses is even depicted as »the mind of purest quality« (ho katharôtatos nous) who, by divine inspiration, received the art of prophecy: is is Moses, the mind of purest quality (ho katharôtatos nous), the truly goodly, who, with a wisdom given by divine inspiration, received the art of legislation and prophecy alike (e Preliminary Studies ).⁵³ ⁵² On the pneuma and prophecy in first-century Judaism and Graeco-Roman conceptions of prophecy, see Levison , chap. , – and chap. , –. ⁵³ See also On the Giants , : »Such a divine spirit, too, is that of Moses. […] e spirit which is on him is the wise, the divine, the excellent spirit«; and Moses .: »the purest of spirits, the spirit of Moses«. Cf. also On the Change of Names : »For we have read ›there
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In one passage, however, Philo even describes prophecy not merely as inspiration or guidance of the nous by the pneuma, but as the complete withdrawal of the nous in favour of the pneuma: While the radiance of the mind (nous) is still all around us, when it pours as it were a noonday beam into the whole soul (eis pasan tên psychên), we are self-contained, not possessed. But when it [i.e. the mind, the nous] comes to its setting, naturally ecstasy and divine possession and madness fall upon us. For when the light of God shines, the human light sets; when the divine light sets, the human awakes and rises. is is what regularly befalls the fellowship of the prophets. e mind (nous) is removed from his home (exoikizetai; LSJ exoikizô remove from his home, eject, banish; empty) at the arrival of the divine Spirit (pneuma), but when that departs, the mind (nous) returns to its tenancy (Who is the Heir –).
The complete withdrawal of the nous, however, is exactly the position which Paul criticizes. For this reason, he urges the pneumatikoi to pray with the pneuma, but also with the nous; to sing hymns with the pneuma, but at the same time with the nous: tis oun estin? proseuxomai tôi pneumati, proseuxomai de kai tôi noï: psalô tôi pneumati, paslo de kai tôi noï (.). The use of pneuma should be balanced with nous, because this is what the ideal pneumatikos-type of man is about: not annihilating one’s nous but receiving the pneuma within one’s nous. This is why, in the congregation, Paul prefers to speak five words with his nous rather than thousands of words in tongues (.). Although Paul promotes the way of life of the pneumatikoi, the pneumatikos should acknowledge that there are limits to his independence within the community: »If anyone claims to be a prophet or a pneumatikos, let him recognize that what I write has the Lord’s authority« (.). From this perspective, the position which Paul modifies in Cor – is the corrective supplement to his endorsement of the pneumatikos way of life in Cor – in the face of the influence of the sophists. Now that we have defined the various types of opponents in Cor – (the sophists, labelled »psychikoi« and »sarkinoi« or »sarkikoi«) and – (the opposite extreme of pneumatikoi who overdo it), we return to the still undecided question of who the opponents of Paul are in Cor . These are the »some« who »say there is no resurrection of the dead« (.) and raise questions about how the dead are raised and in what kind of body (.). It seems that those who deny the resurrection in Cor could be was another spirit in him‹ (Num .), as though the ruling mind in him was changed to supreme perfection.«
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either the sophistic psychikoi or the excessive pneumatikoi. The former, in Paul’s view, could be falsely content with their present psychic body (sôma psychikon), which they, in their rhetorical performance, wished to be strong and not weak (cf. their criticism of Paul’s weak physical appearance and performance in Cor .).⁵⁴ The latter, in overrating their spiritual existence, might perhaps be inclined to deny their bodily existence altogether. This inclination might be illustrated by reference to Philo, who also has a tendency to be critical about the body and to subsume it into a spiritual reality, that of the mind. This is nicely illustrated in a passage on the transformation of Moses’ body at his death, a passage in which Philo argues that the dichotomy of body and soul is resolved in death. According to Philo, afterwards the time came when he [i.e. Moses] had to make his pilgrimage from earth to heaven, and leave this mortal life for immortality, summoned thither by the Father Who resolved his twofold nature of soul and body into a single unity, transforming his whole being into mind, pure as the sunlight (metharmozomenos eis noun hêlioeidestaton) (Moses .).
This view comes close to annihilation of the body, Philo uses the language of resolving and changing the twofold nature of man into a single unity. To some extent, Paul, too, goes in the same direction, since the psychic body (sôma psychikon) is said to be transformed into a pneumatic body (sôma pneumatikon). Although he continues to talk of »body«, it is not entirely clear what a »pneumatic body« is. Perhaps we should draw on Stoic views to explain it, as this term is used by Chrysippus to describe the pneumatic and ethereal body of God himself (sôma de pneumatikon kai aitherôdes), which is entirely dominated by his pneuma (Chrysippus, SVF apud Origen, Commentary on the Gospel of John ..).⁵⁵ This would accord very well with Paul’s Stoicizing description of the eschaton in Cor ., when finally God will be »all in everything«.⁵⁶ If all of creation is ultimately ⁵⁴ On the sophists’ insistence on the importance of physical performance, see Philostratus, Lives of the Sophists , , ; Plutarch, On Listening to Lectures d. ⁵⁵ Origen, Commentary on the Gospel of John ..–: »God, too, if he is material, must be mutable and subject to variation and change. ose who hold this view are not ashamed to say that since God is a body he is also subject to corruption, but they say his body is spiritual and like ether, especially in the reasoning capacity of his soul. Furthermore, they say that although God is subject to corruption he is not corrupted, because no one exists who might corrupt him« (transl. R. Heine, e Fathers of the Church: A New Translation series). ⁵⁶ For this translation and its philosophical background, see van Kooten , chap. .. (b), –.
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identified with God, it is no wonder that the psychic body (sôma psychikon) is turned into a pneumatic body (sôma pneumatikon). This seems to constitute a small but not insignificant difference between Philo and Paul. Whereas Philo, following his Platonic predilections, seems to abrogate the body and to conceive of the aerlife only in terms of mind, Paul seems to apply the Stoic terminology of a pneumatic body to express both: the enduring existence of the body and its spiritual transformation. Despite this difference, Philo’s and Paul’s anthropology of tripartite man is very similar. Inasmuch as they call the highest part of man not only nous but, on account of their exegesis of Gen ., preferably pneuma, one might also suggest that they stressed the identical, pneumatic nature of God and man in a far more egalitarian and accessible way than is the case in the Greek equivalent anthropology. In order to experience fellowship with God, man did not have to improve the intellectual abilities of his nous but felt connected through the pneuma. In Plutarch, as John Dillon explains, the highest class of people, who possess nous, is rather restricted: »Intellect [nous] thus becomes something rather special, not readily accessible to the mass of humankind.«⁵⁷ Both Philo and Paul make transition om nous to pneuma, although, as we saw in section . on page , Philo’s soteriology still remains somewhat elitist, in line with its ancient philosophical counterparts. According to Festugière, it is the difference between nous and pneuma that is the characteristic mark of Christiantiy.⁵⁸ More than in pagan philosophy, participation in God himself is open to all: Our soul is already its pneuma. Very naturally, therefore, it becomes a seat of grace, hê charis meta tou pneumatos hymôn [the grace be with your spirit], – thus the conclusion of the letters to the Galatians ., the Philippians . and to Philemon , – the container of the hagion pneuma, the Holy Spirit. [...] us, thanks to Paul, thanks to Christianity, that what was the best part of the heathen soul finally finds its true meaning.[...] e intellect has become spirit.⁵⁹
The ee accessibility of this pneumatic identity is an aspect of Paul’s »Adam Christology«, as James Dunn calls it.⁶⁰ By participating in Christ’s death and resurrection in baptism (Rom .–), the human identity starts to fuse with that of Christ, the second Adam, the second man who, in contrast to the first man, is om heaven. ⁵⁷ Dillon , . ⁵⁸ »Du nous au pneuma, voilà toute la différence, ce qui […] distingue spécifiquement le christianisme« (Festugière , ). ⁵⁹ Festugière , –. ⁶⁰ See Dunn , §§ , ., .. e principle passages containing Adam Christology are Rom .–.; Cor .–; Cor .–.
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Whereas man still bears the image of the first, earthly Adam ( Cor .), Christians increasingly bear the image of the heavenly man and are increasingly transformed into his likeness ( Cor .). In this way their pneuma is restored and they turn again into trichotomous human beings, the pneumatikoi. For this reason they can boldly claim to possess the nous of Christ ( Cor .–), the nous of the heavenly, archetypal man. Whereas in Plutarch the highest class of human beings, who possess nous, is sparsely populated, this possession is within reach for all Christians. The more they share in the pneuma and nous, the more their outer man decreases and their inner man, the esô anthrôpos, develops. This is pointed out in Cor and in Romans, which is not part of the present article. Nevertheless, Paul’s use of the Platonic notion of the inner man, applied in Cor . and Rom .,⁶¹ further underlines what we have already found, that Paul’s anthropology is truly addressed to the Graeco-Roman world. Here, in Paul’s anthropology, more than anywhere else, Nietzsche’s description of Christianity as »Platonismus rs Volk« is fully justified.⁶²
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Christoph Jedan
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen Die antiken medizinischen Schrien gehören nicht zum Kanon der Texte, die an philosophischen Instituten im deutschsprachigen Raum weithin gelesen werden – zu Unrecht, wie dieser Beitrag zeigen wird. Mit ihrer Vernachlässigung der antiken Medizin folgt die deutschsprachige Philosophiegeschichtsschreibung einer in Bezug auf unsere Quellen anachronistischen strikten Trennung zwischen Philosophie und Medizin. Zwar hat es – vor allem vonseiten der Philosophen – Versuche einer Abgrenzung schon in der Antike gegeben, aber diese Versuche entspringen, wie ich hier zeigen will, vor allem dem propagandistischen Interesse, die Aufmerksamkeit und Unterstützung des Publikums zu gewinnen. Die typische Strategie der Philosophen war es, der Medizin einen untergeordneten Platz zuzuweisen, weil sie sich nur mit dem Körper beschäige und nichts beizutragen habe zur Heilung der zentralen Instanz im Menschen, der Seele. In Wirklichkeit aber waren Medizin und Philosophie gar nicht so deutlich voneinander geschieden, wie das diese definitorische Gütertrennung (Körper einerseits, Seele andererseits) nahelegen könnte. Philosophen und Mediziner erkannten die innige Verflochtenheit von Leib und Seele, und wir werden sehen, dass sowohl vonseiten der Medizin als auch vonseiten der Philosophie immer wieder Versuche unternommen wurden, auf das Gebiet der Rivalen vorzudringen. Wenngleich wir bei der Beschreibung der antiken Texte nicht ganz ohne die Abgrenzung mithilfe der Wörter »Philosophie« und »Medizin« auskommen können, sollten uns vor Augen halten, dass diese Abgrenzung nicht so deutlich zu ziehen ist, wie uns das aus heutiger Perspektive scheinen könnte. Der vorliegende Beitrag ist in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt gehe ich auf das Verhältnis zwischen Medizin und Philosophie aus der Perspektive der Philosophie ein. Ich behandele die philosophischen Versuche Platons und Ciceros, eine definitorische Gütertrennung zwischen Philosophie und Medizin zustandezubringen. Ich werde zeigen, dass diese Trennung vor allem auf einem propagandistischen InterChristoph Jedan (). »Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen
esse beruht. Ich werde dann diese säuberlichen Unterscheidungen kontrastieren mit den Übergriffen ins Gebiet der Medizin, die wir bei Platon finden. In den Abschnitten zwei bis vier werde ich die Perspektive der antiken Medizin wählen. In Abschnitt zwei gehe ich auf das Corpus Hippocraticum ein, eine Sammlung von medizinischen und naturphilosophischen Texten, von denen die ühesten ins ne Jahrhundert vor Christus zu datieren sind. In dieser Textsammlung tritt zum ersten Mal ein Schrientitel Über das Wesen des Menschen in Erscheinung. Im dritten Abschnitt gehe ich auf diese Schri näher ein und auf ihre historisch sehr folgenträchtige Interpretation im Kommentar des Arztes Galen von Pergamon ( – ca. n. Chr.). Galen sah in dieser Schri, die nur eine unter vielen Tendenzen im umfangreichen Corpus Hippocraticum repräsentiert, den Kernbestand der Lehre des historischen Hippokrates und formulierte im Rückgriff auf sie eine »Humoralpathologie«, die bis weit in die Neuzeit die Medizin geprägt hat. Im vierten Abschnitt wende ich mich dann einigen anderen r unsere Fragestellung zentralen Werken Galens zu. Wahrscheinlich wird nirgendwo so deutlich wie bei Galen der Anspruch formuliert, von der Medizin her entscheidend zu philosophischen Diskussionen über die Wechselwirkung zwischen Seele und Körper, über die Moralpsychologie und Ethik beizutragen.
Philosophen über die Medizin: Abgrenzungsversuche und Übergriffe Zu Beginn des dritten Buches seiner Gespräche in Tusculum äußert sich Cicero zum Unterschied zwischen Philosophie und Medizin. Die Medizin beschäige sich mit der Heilung des kranken Körpers. Die Philosophie sei auch eine Heilkunst, nämlich eine, die sich mit der Heilung der kranken Seele befasse. Und natürlich sei die Seele viel wichtiger als der Körper: Sie sei das Zentrum des Menschen, das Höchste im Menschen.¹ Cicero fährt fort: [D]ie seelischen Krankheiten sind gefährlicher und zahlreicher als die körperlichen; denn sie sind gerade deswegen unangenehm, weil sie sich auf die Seele erstrecken und sie in Unruhe versetzen […]. Welche Krankheiten können im Körper denn schwerer sein als diese beiden, Kummer und Begierde, um andere beiseite zu lassen?²
Weil die Seele wichtiger ist als der Körper, muss die Philosophie auch wichtiger sein als die Medizin. Warum aber liefert Cicero diese aushrliche Abgrenzung zwischen ¹ Vgl. Tusc. .–. ² Tusc. . (Übers. Kirfel).
Christoph Jedan
Philosophie und Medizin? Um dies zu verstehen, müssen wir uns zum Beginn des dritten Buches zurückwenden. Cicero schreibt dort: Was soll ich denn als Grund ansehen, mein Brutus, warum, da wir doch aus Seele und Körper bestehen, zur Heilung und zum Schutz des Körpers eine Kunst gesucht und ihr Nutzen der Erfindung der unsterblichen Götter zugeschrieben worden ist, ein Heilmittel für die Seele aber weder in dem Maße verlangt wurde, ehe es gefunden wurde, noch in dem Maße gepflegt wurde, nachdem man es kannte, noch so vielen angenehm und willkommen, ja, mehr Menschen sogar verdächtig und verhaßt ist?³
Wir sehen hier ganz deutlich, dass der Versuch einer Abgrenzung zwischen Philosophie und Medizin vonseiten der Philosophen auf dem Anliegen beruht, die eigene Tätigkeit zu verteidigen. Philosophen agen sich, warum ihre Fragen und Interessen nicht das öffentliche Echo finden, das – jedenfalls ihrer eigenen Meinung nach – diese Fragen und Interessen verdienen: Warum haben wir nicht den Zulauf, den wir verdienen? Warum das Misstrauen, die Reserve oder schlichtweg das Desinteresse? Ciceros Diskussion ist also vor allem in diesem Kontext einer Verteidigung der Philosophie und einer Werbung r die Philosophie zu verstehen. Aus Ciceros Sicht steht die Philosophie, jedenfalls in Bezug auf das öffentliche Interesse, in Konkurrenz zur Medizin. Während die Medizin in den Augen vieler eine gewisse Daseinsberechtigung hat, muss die Philosophie sich diese Anerkennung noch erstreiten.⁴ Cicero leistet hierzu seinen Beitrag, indem er sein »Fach« zuerst in Analogie zur Medizin als eine Form von Heilkunst charakterisiert und dann in einem zweiten Schritt den Gegenstandsbereich der Philosophie, die Gesundheit der Seele, als wichtiger erweist als den Körper, den Gegenstandsbereich der Medizin. Diese Abgrenzung von Philosophie und Medizin zum Zwecke einer Verteidigung der Philosophie war keineswegs eine Erfindung Ciceros oder seiner hellenistischen (vor allem stoischen) Quellen. Im Grunde gehen die Elemente dieser Kritik auf Platon zurück. Sowohl im Gastmahl als auch im Staat wird die Medizin als eine auf den Körper bezogene Heilkunst beschrieben.⁵ In verschiedenen Schrien stellt Platon der Medizin verschiedene andere heilkundliche Bemühungen gegenüber, in denen wir unschwer Gestalten der philosophischen Tätigkeit erkennen können. Zwei Beispiele: ³ Tusc. . (Übers. Kirfel). ⁴ Es ist wichtig, dass wir uns vor Augen halten, dass dies die Wahrnehmung vonseiten der Philosophie ist. Wir werden im zweiten Abschnitt sehen, dass umgekehrt auch die antiken Mediziner Anlass hatten, sich über die prekäre Stellung ihrer eigenen Disziplin Sorgen zu machen. ⁵ Vgl. Symp. a–b; Rep. b.
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen
() Im Gorgias werden Gymnastik und Medizin als Disziplinen, die das Gesundbleiben bzw. Gesundwerden des Körpers zum Ziel haben, der Gesetzgebung und der Rechtspflege (dikastikê)⁶ gegenübergestellt. Beide Disziplinen sind Teile der Staatskunst (politikê), die das Gesundbleiben bzw. Gesundwerden der Seele zum Gegenstand hat.⁷ Gegen Ende des Dialogs, im Gespräch mit Kallikles, wird dann die Pointe deutlich, dass es gerade die in Sokrates personifizierte Philosophie ist, die zu Recht einen Anspruch darauf erheben kann, die wahre Staatskunst zu sein.⁸ () Im Dialog Phaidros übt Sokrates Kritik an einer falschen Auffassung von Redekunst. Die Redekunst wird mit der Medizin verglichen. Während die Medizin dem Körper durch verschiedene Heilmittel und Speisen Gesundheit und Stärke bringen soll, richtet sich die Redekunst auf die Seele und soll dieser Überzeugung und Tugend bringen.⁹ Der Clou liegt natürlich darin, dass die Redekunst diesem Auftrag nur dann gerecht werden kann, wenn sie ihre Sache gründlich anpackt: Genauso, wie in der Medizin Hippokrates geglaubt habe, man könne nicht einmal die Natur des Körpers begreifen, ohne »die Natur des (Welt-) Ganzen« (tês tou holou physeôs) zu verstehen, ebenso müsse die Redekunst, um die Natur der Seele, um deren Leitung ist hier ja gehe, zu begreifen, zuallererst die Natur des (Welt-) Ganzen begreifen.¹⁰ Hippokrates, an dem die Redner sich ein Beispiel nehmen sollten, habe das Folgende gefordert: Muß man nicht folgende Betrachtungen anstellen über die Natur jeglichen Dings: zuerst fragen, ob es etwas Einfaches oder Vielgestaltiges ist, betreffs dessen wir selbst kunsttüchtige Meister und Lehrer anderer werden sein wollen; dann – falls es einfach ist – untersuchen, welche Kraft es hat anderem gegenüber, entweder darauf einzuwirken oder davon Einwirkung zu erfahren; und hat es mehrere Gestalten, so wird man zunächst diese aufzählen müssen und dann bei jeder einzelnen dasselbe fragen wie bei dem einfachen Ding: wodurch übt es oder erfährt es Einwirkungen, welche sind dies und von welcher Seite kommen sie?¹¹
Letztendlich wird damit verlangt, dass die Redekunst eine umfangreiche Wahrheitssuche wird; der Redner muss, wie es gegen Ende des Dialoges heißt, »die Wahrheit ⁶ ⁷ ⁸ ⁹ ¹⁰ ¹¹
Andere Lesart: »Gerechtigkeit« (dikaiosynê). Vgl. Gorg. b–c. Vgl. Gorg. c–e. Vgl. Phaidr. b. Vgl. Phaidr. c. Phaidr. c–d (Übers. Apelt).
Christoph Jedan
kenn[en] von den einzelnen Dingen, über die er redet oder schreibt«.¹² Will die Redekunst erfolgreich sein, muss sie im Grunde Philosophie sein. Die Erwähnung des Hippokrates im Phaidros sollte man nicht in dem Sinne missverstehen, als sei sie eine Anerkennung des Arztes als einer Autorität auch in philosophischen Dingen; vielmehr geschieht die Erwähnung des Hippokrates gerade vor dem Hintergrund, dass an üherer Stelle im Dialog die Medizin gegenüber der Philosophie deutlich abgewertet worden ist: Nach der Beschreibung einer Ideenschau durch die menschliche Seele im Gefolge des Zuges der Götter wird eine Stufenleiter von möglichen Inkarnationen der Seele skizziert. Die Seele, die die Ideen am besten sehen konnte, wird in einen Menschen inkarniert, der die Anlage zum Philosophen, zum Freund des Schönen oder des Musischen hat. Seelen, die weniger von den Ideen sehen konnten, werden sich in weniger attraktiven Rollen wiederfinden. Die Herabsetzung der Medizin wird schon daraus deutlich, dass der Arzt erst als vierte Inkarnationsstufe genannt wird, zusammen mit dem Gymnastiktreibenden – und das ist eine niedrigere Stufe als der verächtliche, zum Lebensinhalt gewordene Gelderwerb –, wenngleich noch vor solchen zwielichtigen Figuren wie Wahrsagern und Dichtern.¹³ Soweit sich die Lage bisher darstellt, scheint sich ein eindeutiges Bild des Verhältnisses von Medizin und Philosophie zu ergeben: Die Medizin beschäigt sich mit der Heilung des kranken Körpers, die Philosophie mit der Gesundung oder Gesunderhaltung der Seele. Der Vorrang der Philosophie ergibt sich aus dem Vorrang ihres Gegenstandsbereichs, der Seele. Es hat den Anschein, als ob sich die Seele deutlich vom Körper unterscheiden lasse, als ob ein deutlicher Dualismus die Gegenüberstellung von Medizin und Philosophie und die Abwertung der Medizin begründe. Es scheint, als sei die Medizin r den Philosophen, den Experten der Seelengesundheit, schlichtweg irrelevant. Dieses Bild ist jedoch keineswegs repräsentativ r die gesamte Breite von Platons Denken. Neben den zitierten Texten, die zweifellos in die genannte Richtung weisen, finden wir auch den Versuch, aus naturphilosophischer Perspektive die enge Verflechtung von Körper und Seele zu beschreiben. Der Dialog Timaios, in dem Platon diesen Versuch unternimmt, bildet einen deutlichen Übergriff auf das Gebiet der Medizin. Wir werden sehen, dass dieser Übergriff nicht folgenlos r Platons eigene Philosophie bleibt. Eine Verzahnung von Körper und Seele lässt die Unsterblichkeit der Seele, die Platon in üheren Dialogen vollmundig propagiert
¹² Phaidr. b (Übers. Apelt). ¹³ Vgl. Phaidr. c–e.
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen
hatte, einigermaßen zweifelha erscheinen. (In Abschnitt auf Seite werde ich zeigen, wie Galen von Platons Theorie im Timaios Gebrauch macht.) Im Timaios geht Platon von der Unterscheidung von drei Seelenteilen aus, die er bereits im Staat formuliert hatte. Dort hatte er einen »vernünigen« Seelenteil (logistikon) vom einem »muthaen« (thymoeides) und einem »begehrenden« Seelenteil (epithymêtikon) unterschieden. Platon schwebte eine Aufgabenteilung vor, nach der die Vernun steuert, der muthae Teil den vernünigen Seelenteil unterstützt und der begehrende, triebhae Seelenteil soweit wie möglich dazu gebracht werden soll, den Anweisungen der Vernun Folge zu leisten.¹⁴ Im Timaios lokalisiert Platon diese drei Seelenteile in unterschiedlichen Körperregionen, wobei er eine überaus interessante Kombination von moralpsychologischen und anatomischen Theorien verwendet. Der vernünige Seelenteil, der auch als »unsterblicher« Seelenteil bezeichnet wird, wird im Kopf lokalisiert. Mit seiner runden Gestalt ist der Kopf eine Nachahmung des Alls.¹⁵ Die vernünige Seelentätigkeit wird als eine doppelte Kreisbewegung interpretiert, die den kosmischen Kreisläufen entspricht. Durch die Inkarnation in Unordnung gebracht, kann die Doppelbewegung der vernünigen Seele durch Beobachtung und Nachahmung der kosmischen Kreisbewegungen wieder justiert werden.¹⁶ Die beiden anderen Seelenteile werden summarisch als »sterblich« angedeutet.¹⁷ Damit sie von der unsterblichen Seele getrennt sind, werden sie im Oberkörper lokalisiert, in angemessener Entfernung vom Sitz der Vernun, wobei der Hals als eine »Landenge« und »Grenze« interpretiert wird, die r die effektive Trennung zwischen sterblicher und unsterbliche Seele sorgen soll. Entsprechend der Tatsache, dass von den beiden sterblichen Teilen der eine besser, der andere schlechter ist, werden sie auf unterschiedlicher Höhe im Oberkörper angesiedelt, nämlich ober- bzw. unterhalb des Zwerchfells. Ich zitiere zunächst aus Platons Aushrungen zum mutartigen Seelenteil, aus denen die charakteristische Verbindung von moralpsychologischen und anatomischen Theorien deutlich wird: Den Teil der Seele also, der an Mannesmut und Zornesmut teilhat und ehrgeizig ist, siedelten sie [die Götter] näher dem Kopfe, zwischen Zwerchfell und Hals an, damit er der Vernunft gehorche, gemeinschaftlich mit ihr gewaltsam das Geschlecht der Begierden im Zaum halte, wann immer es dem von der Burg aus ergangenen ¹⁴ Vgl. zu den anthropologischen eorien in Platons Staat den Beitrag von Bossart und Westermann in diesem Band. ¹⁵ Vgl. Tim. d. ¹⁶ Vgl. Tim. c–d. ¹⁷ Vgl Tim. c.
Christoph Jedan
Gebot und Spruch in keiner Weise freiwillig gehorchen wollte. Das Herz aber, Knotenpunkt der Adern und Quelle des alle Glieder mächtig durchströmenden Blutes, setzten sie in die Wachtstube, damit, sobald der Zornesmut aufbrause, wenn ihm die Vernunft mitteilt, daß von außen her oder auch von Begierden im Innern aus eine Freveltat im Bereich der Glieder geschehe, alles, was im Körper wahrnehmen kann, schnell durch alle diese engen Gänge hindurch Befehle und Drohungen wahrnimmt und vernimmt, auf jede Weise gehorcht und so dem Besten die Herrschaft über sie alle überläßt. Aber gegen das Pochen des Herzens bei Erwartung schrecklicher Ereignisse und bei Erwachen des Zornes ersannen sie, da sie voraussahen, dass jedes derartige Anschwellen der zornigen Teile eine Wirkung des Feuers sein werde, ein Hilfsmittel und pflanzten die Gestalt der Lunge ein, welche erstens blutlos und weich ist, sodann in ihrem Innern Hohlräume hat, die wie bei einem Schwamm hindurchgebohrt sind, damit sie, wenn sie den Atem und den Trank in sich aufnimmt, durch Abkühlung Aufatmen und Erholung in der brennenden Hitze gewährt. Darum schnitten sie die Kanäle der Luftröhre nach der Lunge und legten sie wie ein Polster um das Herz, damit es, wenn der Zornesmut in ihm auf dem Höhepunkt sei, gegen etwas Nachgebendes anschlage und abgekühlt werde, sich weniger quälen müsse und dadurch eher, mit Zorn verbunden, der Vernunft dienen könne.¹⁸
Der begehrende Seelenteil ist im oberen Bauchraum, zwischen Zwerchfell und Nabel, angesiedelt. Die größere Entfernung vom vernünigen Seelenteil soll ein Minimum an Störungen durch die Begierden zuwege bringen. Platon versucht nun zu erklären, wie eine Beeinflussung des begehrenden Seelenteils, der ja nicht geradewegs r Vernunüberlegungen zugänglich ist, durch den vernünigen Seelenteil möglich sein kann. Für Platon spielt die Leber die Rolle eines vermittelnden Organs, das durch körperliche Signale die Steuerung durch die Vernun verwirklichen kann. Daneben beruht die Fähigkeit des Wahrsagens auf der besonderen Empfänglichkeit dieses Organs: Da sie [die Götter] von ihm [dem begehrenden Seelenteil] wußten, daß es vernünftige Rede nicht verstehen werde und daß es selbst dann, wenn es auf irgendeine Weise irgendeine Wahrnehmung von ihnen [den vernünftigen Überlegungen] erhielte, nicht in seiner Natur liegen werde, sich um irgendwelche vernünftigen Überlegungen zu kümmern, sondern daß es bei Nacht und Tage stets durch Trugbilder und Erscheinungen sich verzaubern lasse – eben hierauf also hatte ein Gott es abgesehen und verfertigte ihm die Form der Leber und setzte sie in die Wohnung jenes Teiles; er gestaltete sie dicht, glatt, glänzend, süß mit einem Zusatz von Bitterkeit, damit in ihr die vom Verstand kommende Kraft von den Gedanken wie in einem Spiegel Eindrücke aufnehme und Abbilder erblicken lasse und so ihm [diesem Seelenteil] Furcht einflöße, wenn sie [die Seele] den angeborenen Anteil an Bitterkeit benutze, ¹⁸ Tim. a–d (Übers. Müller/Widdra).
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen mit drohender Strenge nahe und schnell die Bitterkeit unter die ganze Leber mische und dadurch gallige Farben erscheinen lasse und alles durch Zusammenziehen runzlig und rauh mache, den Leberlappen aber und die Gefäße und Zugänge teils aus der richtigen Lage bringe und zusammenzwänge, teils verstopfe und verschließe und so Schmerzen und Unwohlsein erzeuge; und damit sie, wenn dagegen vom Denken her irgendein Anhauch von Sanftheit die entgegengesetzten Erscheinungen malt, indem sie vor der Bitterkeit dadurch Ruhe gewährt, daß sie die ihr selbst entgegengesetzte Natur weder aufregen noch mit ihr in Berührung kommen will, sondern die jener [der Leber] angeborene Süßigkeit ihm gegenüber anwendet und alle ihre Teile wieder gerade, glatt und frei macht und so den um die Leber herum angesiedelten Teil der Seele gütig und heiter [oder: »schön zahm«] macht und ihn während der Nacht einen maßvollen Zeitvertreib haben läßt, dadurch, daß sie im Schlaf die Sehergabe anwendet, da sie an Vernunft und Einsicht ja nicht teilhatte.¹⁹
Die These von der Verzahnung von Körper und Seele wird durch Platon nicht nur mithilfe moralpsychologischer Theorien begründet, sie hat ihrerseits auch Rückwirkungen r die Moralpsychologie. Im Timaios formuliert Platon die These, dass bestimmte Erkrankungen der Seele durch physiologische Abweichungen entstehen. Dies hat Folgen r die Einschätzung der Freiwilligkeit solcher Erkrankungen. Während derartige Erkrankungen traditionell als Charakterdefizite interpretiert wurden, r die der Betroffene selbst verantwortlich ist, äußert Platon im Timaios die Einschätzung, dass sie außerhalb der Kontrolle des Individuums liegen düren. Auch wenn Erziehung eine gewisse Rolle spielen könne, sei diese Erziehung natürlich nicht der Kontrolle desjenigen, der erzogen werde, unterworfen: Wem aber viel und reichlich fließender Same am Mark entsteht und wer von Natur wie ein über das Maß hinaus fruchtbarer Baum ist, der bekommt, je nachdem, viele Schmerzen und viele Lüste bei seinen Begierden und den damit zusammenhängenden Zeugungen. Und obwohl er während des größten Teils seines Lebens infolge der größten Lust- und Schmerzgefühle rasend wird und seine Seele unter der Einwirkung des Körpers erkrankt ist und unvernünftig, hält man ihn nicht für krank, sondern für vorsätzlich schlecht; doch in Wahrheit ist die Unmäßigkeit auf sexuellem Gebiet eine Krankheit der Seele, meistens dadurch hervorgerufen, daß eine einzige Substanz auf Grund der Porosität der Knochen im Körper eine flüssige und bewässernde Beschaffenheit besitzt. Und fast alles, was als Unbeherrschtheit in Lüsten und als Schande bezeichnet wird, als wären die Schlechten freiwillig schlecht, ist ein unberechtigter Vorwurf. Denn freiwillig ist niemand schlecht, sondern durch eine bestimmte nachteilige Beschaffenheit seines Körpers und eine ungebildete Er¹⁹ Tim. a–d (Übers. Müller/Widdra).
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ziehung wird der Schlechte schlecht. Das alles ist aber jedem zuwider und widerfährt ihm wider seinen Willen.²⁰
Platon wiederholt hiermit die sokratische Position zum Problem der Unbeherrschtheit (akrasia).²¹ Im Protagoras hatte Platon Sokrates die Auffassung zugeschrieben, dass niemand eiwillig Unrecht tue. Für Sokrates war diese These eine Folge der Überzeugungen, () dass die Tugenden in dem Sinne eine Einheit bilden, dass man entweder alle Tugenden oder keine hat, () dass alle Tugend eine Form von Wissen ist, () dass dieses Wissen eine Abwägung der lustbringenden gegenüber den unlustbringenden Folgen einer Handlung betri und () dass Tugend eine Charakterhaltung ist, die das zuverlässige Wählen des am meisten Lustbringenden garantiert. In dem einer späteren Schaffensphase zugeordneten Staat formulierte Platon dann eine Moralpsychologie, die charakteristisch von der im Protagoras beschriebenen sokratischen Position abweicht. Platon unterscheidet im Staat die drei Seelenteile (logistikon, thymoeides, epithymêtikon), von deren Existenz er im Timaios ausgehen wird. Diese Konstruktion eröffnet zumindest die Möglichkeit, das Bestehen von akrasia als Konflikt zwischen Seelenteilen anzuerkennen. Im Timaios dagegen wird diese Möglichkeit durch die starke Betonung der Abhängigkeit der Seelenteile vom Körper wieder zunichte gemacht. Letztlich wird mithilfe dieser Theorie der Analyse der körperlichen Grundlagen des Seelischen eine außerordentliche Bedeutung zugesprochen. Und es nimmt nicht wunder, dass gerade die Medizin als Expertin r körperliche Funktionen auf diese Theorie zurückgreifen kann. Wir werden im vierten Teil sehen, wie Galen in der Lage ist, im Rückgriff auf den Timaios seinem Anspruch Nachdruck zu verleihen, eine erkenntnistheoretisch geschulte, empirisch orientierte Disziplin zu vertreten, die dem amateurhaen, spekulativen Im-Dunkeln-Tappen der Philosophen um Lichtjahre voraus ist. Da hil es nichts, dass Platon auch im Timaios seine Reserve gegenüber der Medizin keineswegs fallen lässt. Platon macht deutlich, dass er eine Heilung der Seele favorisiert, die nicht an deren körperlicher Grundlage manipuliert, sondern bei einer Gesundung des vernünigen Seelenteiles ansetzt,²² und auch, was die Gesundung des Körpers betri, vor dem Gebrauch von Arzneimitteln warnt und stattdessen Leibesübungen und Seereisen empfiehlt.²³ ²⁰ ²¹ ²² ²³
Tim. c–e (Übers. Müller/Widdra). Für eine Darstellung der antiken akrasia-Problematik vgl. Price . Vgl. Tim. c–d (den kosmischen Umläufen »folgen«). Vgl. Tim. a–b.
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen
Bevor wir uns jedoch Galens Rückgriff auf Platons Timaios zuwenden, sollten wir uns mit dem Corpus Hippocraticum eine Sammlung von Texten ansehen, die dem berühmtesten Arzt der Antike, Hippokrates von Kos, zugeschrieben wurden. Hippokrates war dermaßen legendär, dass er als Rollenmodell r Ärzte diente. Die Schriften, die unter seinem Namen überliefert sind, haben viel dazu beigetragen, das Bild des Arztes in der Antike festzulegen.
Das Corpus Hippocraticum Der Name des Hippokrates von Kos ist uns auch heute noch überaus geläufig. Jeder hat schon vom »Hippokratischen Eid« gehört, der zwar heute nicht mehr in der historischen Form von Ärzten abgelegt wird, dessen Inhalt aber – etwa die Schweigepflicht und das Verbot, dem Patienten zu schaden – das ärztliche Berufsethos geprägt hat. Der Name des Hippokrates hat also r uns etwas überaus Vertrautes und daher mag es überraschen, dass wir über Hippokrates viel weniger wissen, als diese Namensbekanntheit suggerieren könnte. Die antike biographische Tradition berichtet, dass Hippokrates im Jahr v. Chr. auf der Insel Kos geboren wurde.²⁴ Dies ist wahrscheinlich; zahlreiche Quellen stellen Hippokrates als einen ungefähren Zeitgenossen des Sokrates dar. Dies düre eine der wenigen Angaben zur Biographie des Hippokrates sein, die wir ohne Weiteres als zuverlässig ansehen können. Hippokrates scheint nämlich schon so üh eine so große Bekanntheit erlangt zu haben, dass sein Ruf einer Legendenbildung Vorschub geleistet hat, die es r uns schwer macht, historisch Gesichertes und Legende voneinander zu trennen. So finden wir etwa im Corpus Hippocraticum unter anderem eine Briefsammlung. In dieser Sammlung steht auch eine Serie von Briefen, die so etwas wie einen Briefroman bilden. Die Bürger von Abdera agen Hippokrates um Hilfe. Er soll den Philosophen Demokrit heilen. Die Bürger rchten, dass Demokrit verrückt geworden ist, weil er über alles lacht. Als Hippokrates in Abdera ankommt, erkennt er, dass Demokrit keineswegs wahnsinnig ist, sondern über den menschlichen Unverstand lacht. Hippokrates und Demokrit schließen Freundscha und bleiben in Briefkontakt.²⁵ Wenn auch der historische Wert dieser Anekdote sehr bescheiden ist, so bestätigt sie doch, dass Hippokrates ungefähr zur gleichen Zeit wie Demokrit (ca. – v. ²⁴ Bei Soranus von Ephesos, ca. – n. Chr.; vgl. Jouanna , . ²⁵ Jouanna , .
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Chr.) lebte, und sie lässt die Vermutung zu, dass Hippokrates auch in Abdera gewirkt haben düre. Dasselbe Problem, dass der außerordentliche Status des Hippokrates r eine Anlagerung zusätzlichen Materials gesorgt hat, gilt ganz allgemein r das Corpus Hippocraticum: Unter dem Namen des Hippokrates sind uns Schrien überliefert sowie eine Anzahl weiterer apokrypher Texte, die keinen Eingang in die Werkausgaben gefunden haben.²⁶ Dass diese Schrien unter dem Namen des Hippokrates überliefert wurden, bedeutet noch nicht, dass sie auch von ihm verfasst wurden. Die Schrien des Corpus Hippocraticum wurden über einen Zeitraum von vielleicht oder Jahren geschrieben; zwar düre die Mehrheit der Schrien im Zeitraum von bis v. Chr. verfasst worden sein und damit zu Lebzeiten des Hippokrates, aber die spätesten Schrien könnten aus dem ersten oder sogar zweiten Jahrhundert nach Christus stammen.²⁷ Diese lange Zeitdauer macht begreiflich, dass es, auch was den Inhalt betri, deutliche Unterschiede und Widersprüche zwischen den Texten im Corpus Hippocraticum gibt. Diese Unterschiede und Widersprüche sind übrigens schon in der Antike bemerkt und diskutiert worden. Galen von Pergamon schreibt eine Abhandlung über die Echtheit beziehungsweise Unechtheit der hippokratischen Schrien und diskutiert Echtheitsagen auch anderswo in seinem Werk. Ich werde weiter unten eine solche galenische Echtheitsdiskussion am Beispiel der uns in diesem Kontext besonders interessierenden Schri Über die Natur des Menschen vorhren. Vorerst jedoch möchte ich auf den modernen Umgang mit den Widersprüchen im Corpus Hippocraticum eingehen. Die übliche Lösung ist, verschiedene Gruppen von Traktaten zu unterscheiden. Während einige Traktate der Medizinerschule um Hippokrates auf der Insel Kos zugeschrieben werden, düren andere Traktate dem Betrieb der Medizinerschule von Knidos zuzuordnen sein. Dieser Unterscheidung entsprechend wird dann von »koischen« bzw. »knidischen« Schrien gesprochen. Natürlich erschöp diese Einteilung die Vielzahl hippokratischer Schrien noch nicht. Neben die beiden Gruppen der koischen und knidischen Schrien treten auch solche Schrien, die deutlich späte²⁶ Für eine Werkliste mit kurzen Inhaltsangaben vgl. Jouanna , –. Übrigens ist die Anzahl von Traktaten auch nicht unumstritten, denn einige Schriften könnten in Wirklichkeit durch Zusammenfügung mehrerer ursprünglich selbständiger Schriften entstanden sein, während andere, im Werkkatalog als selbst ständig aufgeführte Werke in Wirklichkeit Teile einer einzigen Schrift gewesen sein könnten. (Siehe unten zum Beispiel der hippokratischen Schrift Über die Natur des Menschen.) ²⁷ Vgl. Nutton , –.
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen
ren Datums sind und nicht aus dem Kontext der beiden genannten Medizinerschulen stammen können. Als Beispiele r die so genannten koischen Schrien werden etwa das erste und dritte Buch der Epidemien genannt und die Aphorismen. Das zweite und dritte Buch der Krankheiten wird den knidischen Schrien zugeordnet. Die Schri De decente habitu ist ein typisches Beispiel r die dritte Gruppe.²⁸ Obwohl die Unterscheidung von koischen und knidischen Schrien ihre Wurzeln in der antiken Echtheitsdiskussion hat, ist in letzter Zeit auch deutliche Kritik an diesem Einordnungsschema geäußert worden. Die deutliche Einordnung in drei Gruppen spiegelt eine Sicherheit vor, die unserer durch die schwierige Quellenlage beschränkten Kenntnis zuwiderläu. Ein ganz eklatantes Beispiel ist die Schri De septimanis r die in der Forschung Datierungen angeboten worden sind, die vom sechsten Jahrhundert vor Christus bis zum ersten Jahrhundert nach Christus reichen.²⁹ Auch die fortdauernden Diskussionen über die Einheit bestimmter Schrien tragen dazu bei, allzu klare Einteilungsschemata als zu kurz gegriffen erscheinen zu lassen.³⁰ Es ist daher vielleicht am besten, sich dem Inhalt und der besonderen Ausrichtung der einzelnen hippokratischen Schrien zuzuwenden, ohne den Versuch zu unternehmen, diese einem Kernbestand »authentischer« hippokratischer beziehungsweise koischer Schrien zuzuordnen oder aus ihm auszusondern. Ich werde daher im Folgenden ausschließlich auf die Frage eingehen, was uns einige der Schrien des Corpus Hippocraticum über die Rolle der antiken Medizin und die Frage nach der Natur des Menschen zu sagen haben. Die erste Schri aus dem Corpus Hippocraticum, auf die ich hier kurz eingehen möchte, ist die Schri Über die Technê.³¹ Den Inhalt der Schri könnte man beschreiben als eine »Rede über die Medizin an die Gebildeten unter ihren Verächtern«. Es handelt sich um eine Rede, die wahrscheinlich nicht durch einen Arzt, sondern durch einen sophistisch geschulten Rhetor gegen Ende des nen Jahrhunderts v. Chr. verfasst wurde.³² Der Schreiber betont, dass es eine ärztliche Kunst gibt, dass sie tatsächlich einen Einfluss auf den Heilungsprozess hat und die Heilung nicht auf Zufall beruht, dass die Mortalität unter den Patienten nicht dem Arzt angerech²⁸ Vgl. Jouanna , –. ²⁹ Vgl. Nutton , , Fn. . ³⁰ Im Kontext dieses Beitrages ist interessant, dass vor allem die Schrift Über die Natur des Menschen für Probleme sorgt, siehe unten. ³¹ De arte, übers. als »Die ärztliche Kunst« bei Diller. ³² Diller, ; Jouanna , –. Zum Interesse der Sophisten an der Medizin vgl. den Beitrag von Nerczuk (Kapitel ) in diesem Band.
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net werden kann, sondern dem unzureichenden Befolgen der ärztlichen Vorschrien durch die Patienten und dass die Ärzte ganz zu Recht die Behandlung hoffnungslos Kranker ablehnen. Auf den ersten Blick mag der Inhalt dieser Schri uns kurios erscheinen: Wir sind an den hohen Status der Medizin und der Mediziner gewöhnt; wir würden nicht daran zweifeln, dass eine ärztliche Kundigkeit besteht und dass diese zur Heilung von Patienten beitragen kann. Die Verteidigungsrede Über die Technê zeigt uns, dass ein derartig hoher Status der Medizin und den Medizinern im späten . Jahrhundert vor Christus nicht zukam. Allein schon die Tatsache, dass eine derartige Schri – deren Inhalt übrigens Parallelen in anderen hippokratischen Schrien hat – Eingang in das Corpus Hippocraticum gefunden hat, weist auf das, was Geoffrey Lloyd treffend die »Unsicherheit« genannt hat, die »die Ärzte in Bezug auf ihre eigene Position empfinden«. Lloyd weist auf die Tatsache, dass die medizinische Praxis zur Zeit der hippokratischen Autoren außerordentlich prekär war. »Medizin«, so erläutert Lloyd, »war kein Beruf im modernen Sinne. Der antike Doktor besaß keine rechtlich anerkannten beruflichen Qualifikationen. Es gab also kein feststehendes Curriculum, das man durchlaufen konnte, um sich danach Arzt nennen zu dürfen. Jeder konnte behaupten, Kranke zu heilen. Ärzte standen in Konkurrenz zu Hebammen, Kräutersammlern, Arzneiverkäufern, aber auch mit Anbietern ritueller Läuterungen und Verkäufern von Talismanen und Zaubersprüchen.«³³ Die Tatsache, dass etwa Zauberer und Anbieter ritueller Läuterungen zu den Konkurrenten der Ärzte gehörten, wird durch die aus dem nen Jahrhundert vor Christus stammenden hippokratischen Schri Über die heilige Krankheit belegt. In ihr wird die aus den Kreisen der Zauberer und rituellen Heiler stammende Auffassung bekämp, dass die Epilepsie eine heilige, von den Göttern verursachte Krankheit sei: Die Epilepsie sei im Gegenteil eine von natürlichen Ursachen herrührende Krankheit, die von den Ärzten behandelt werden könne.³⁴ Zu dieser aus der Konkurrenzsituation resultierenden Unsicherheit kommt noch hinzu, dass Ärzte in der Antike nicht institutionell durch Festanstellungen abgesichert waren. Die Ärzte mussten ihre Patienten selbst anwerben; viele Ärzte zogen deshalb in ähnlicher Weise auf der Suche nach Kundscha umher, wie das die Sophisten taten. Die ebenfalls aus dem nen Jahrhundert stammende Schri Über Winde, Wasser und Örtlichkeiten richtet sich an solche umherziehenden Ärzte und erklärt ³³ Lloyd (meine Übersetzung). ³⁴ Vgl. Morb. sacr. .
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen
ihnen, welchen Einfluss die verschiedenen klimatischen und Umweltbedingungen auf die Gesundheit der Menschen haben, um durch diese Kenntnis in ganz verschieden gelegenen Städten erfolgreich behandeln zu können. Übrigens wird in Über Winde, Wasser und Örtlichkeiten der Einfluss von Klima und Umwelt auch verwendet, um die Psychologie und selbst politischen Organisationsformen von Völkern zu erklären. So muss das sehr gemäßigte Klima Asiens als Erklärung r die »Schlaffheit« seiner Bewohner herhalten und die damit einhergehende Königsherrscha; die Europäer dagegen seien wegen des wechselhaeren und härteren Klimas beherzter und tapferer. Mit diesen Eigenschaen gehe die Organisationsform der Selbstregierung einher.³⁵ Die Unsicherheit der Ärzte äußert sich in vielen Aspekten der hippokratischen Schrien, aber vielleicht nirgendwo so sehr wie in den Erörterungen zur Methode der ärztlichen Kunst. Und gerade bei diesen Versuchen einer methodologischen Selbstvergewisserung kommt die Philosophie als Konkurrentin in den Blick. Die Frage ist nämlich, ob die medizinische Theorie und Praxis von abstrakten naturphilosophischen Konstruktionen Gebrauch machen darf oder ob sie eine vor allem von individuellen Gegebenheiten ausgehende, stark an der konkreten ärztlichen Praxis orientierte empirische Disziplin sein sollte. Der Autor der Schri Über die alte Heilkunst etwa weist die »neumodischen« Versuche, die medizinische Theorie und Praxis auf der Basis einer Theorie der Grundqualitäten warm, kalt, trocken und feucht zu gestalten, aufs Entschiedendste zurück. Der Autor favorisiert ein Einspielen auf die individuellen Gegebenheiten des Patienten: Als Maß aber wird man keine Zahl und kein Gewicht finden, auf die man sich beziehen könnte, um zu exakten Ergebnissen zu gelangen, sondern nur die körperliche Empfindung (tou sômatos tên aisthêsin). Darum ist schwierig, so exakte Erkenntnisse zu gewinnen, daß man nur kleine Fehler nach der einen oder der anderen Seite macht, und ich würde einen solchen Arzt sehr loben, der nur kleine Fehler macht; denn das vollkommen Richtige ist nur selten zu erkennen.³⁶
Der Autor sieht die Rolle der Medizin vor allem in einem individuelle Gegebenheiten berücksichtigenden Festsetzen der richtigen Nahrung. Medizin ist individualisierte Diätetik. Die im Gegensatz zu dieser stark individualisierten Herangehensweise stehende naturphilosophisch orientierte »Hypothesenmedizin« tut der Autor als redundante verbale Übung ab: ³⁵ Vgl. Aër. . ³⁶ Vgl. VM (Übers. Diller).
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Ich weiß aber wirklich nicht, wie eigentlich die, die jene Lehre vertreten und die ärztliche Kunst von der von mir beschriebenen Methode weg auf den Weg der Hypothese führen, die Menschen nun im Sinne ihrer Hypothese behandeln wollen. Denn ich glaube, sie haben doch nicht ein Warmes oder Kaltes, ein Trockenes oder Feuchtes entdeckt, das für sich allein steht und mit keiner anderen Qualität Gemeinschaft hat; vielmehr meine ich, es stehen ihnen dieselben Speisen und Getränke zur Verfügung, deren wir alle uns bedienen. Sie legen aber dem einen die Qualität des Warmen, dem anderen die des Kalten, dem dritten die des Trockenen, dem vierten die des Feuchten bei. Denn es ist ja unmöglich, dem Kranken zu verordnen, er solle etwas Warmes zu sich nehmen. Dann wird er nämlich gleich fragen: Was denn?, und dann muß man entweder allgemeine Redensarten machen oder seine Zuflucht zu einem der vertrauten Nahrungsmittel nehmen.³⁷
Deshalb wehrt sich der Autor dieser Schri gegen eine philosophisch inspirierte Medizin, wobei Empedokles namentlich genannt wird.³⁸ Nicht die Medizin muss Anleihen bei der Philosophie machen und sollte bei ihr in die Schule gehen, um sich zu informieren, aus welchen Elementen der Mensch zusammengesetzt ist, vielmehr hält die Medizin selbst den Schlüssel zur Naturerkenntnis in Händen:
Es behaupten aber einige, und zwar sowohl Ärzte als auch Wissenschaftler, daß der, der nicht weiß, was der Mensch ist, unmöglich die ärztliche Kunst verstehen könne, sondern eben dieses müsse der, der die Menschen richtig behandeln will, genau studieren. Mit dem, was sie da sagen, wollen sie auf Philosophie hinaus, in dem Sinne, wie Empedokles und andere über Natur geschrieben haben, nämlich was der Mensch von Ursprung her ist und wie er zuerst entstand und aus welchen Elementen er sich zusammenfügte. Ich aber glaube, das, was so ein Wissenschaftler oder Arzt über Natur gesagt oder geschrieben hat, gehört weniger zur ärztlichen Kunst als zur Schreibkunst, und ich meine, daß man über Natur aus keiner anderen Quelle etwas Genaues wissen kann als aus der ärztlichen Kunst.³⁹
Die Tatsache, dass der Autor von Über die alte Medizin es nötig findet, Empedokles explizit zu nennen und zu kritisieren, zeigt deutlich, welchen Einfluss Empedokles auf die Medizin seiner Zeit gehabt haben muss.
³⁷ Vgl. VM (Übers. Diller). ³⁸ Vgl. VM . ³⁹ VM (Übers. Diller).
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen
Die hippokratische Schrift Über die Natur des Menschen und der Kommentar Galens In den Debatten zur Klärung des Verhältnisses von Philosophie und Medizin nimmt der Autor der am Ende des . Jahrhunderts vor Christus entstandenen Schri Über die Natur des Menschen eine deutlich nuanciertere Position ein. Während in Über die alte Medizin mit Empedokles die Naturphilosophie als untaugliches Instrument abgelehnt wird, neigt der Autor von Über die Natur des Menschen zu einer – wahrscheinlich gerade an Empedokles’ Theorie orientierten – philosophisch inspirierten Medizin und mengt sich sogar selber in eine philosophische Debatte. Die Schri Über die Natur des Menschen beginnt mit einer kritischen Stellungnahme zu monistischen naturphilosophischen Theorien, die den Menschen aus einem einzigen Element (Lu, Feuer, Wasser oder Erde) bestehen lassen. Der Autor ironisiert den Amateurismus der Vertreter solcher Thesen, die völlig untaugliche »Beweise« r ihre Lehren anhren: Wenn dieselben Männer vor denselben Zuhörern miteinander diskutieren, trägt niemals auch nur dreimal hintereinander derselbe den Sieg in der Diskussion davon, sondern bald behält dieser die Oberhand, bald jener, und dann wieder der, der der Masse am meisten zu Gefallen reden kann. Dabei wäre es doch billig, daß derjenige, der behauptet, daß er die richtige Meinung über die Dinge habe, seine ese immer siegreich durchsetzen kann, wenn anders er die Wahrheit erkennt und sie richtig darstellt. Mir jedenfalls scheinen diese Menschen, wenn sie ihren esen einen Namen geben müssen, infolge ihres Unverstandes sich selbst zu widerlegen und die ese des Melissos zu rechtfertigen.⁴⁰
Der Autor von Über die Natur des Menschen schaltet sich aus medizinischer Perspektive mit einem philosophischen Argument in die Debatte ein. Gegen monistische Theorien über die Natur des Menschen wendet er ein: Ich aber sage, wenn der Mensch Eins wäre, würde er niemals Schmerzen haben; denn es gäbe nichts, wodurch er Schmerzen empfinden könnte, wenn er Eins wäre. Und wenn er schon Schmerzen hätte, müßte doch auch das Heilmittel ein einziges sein. Nun gibt es aber viele Heilmittel; denn im Körper ist vieles vorhanden, das, wenn es durch gegenseitige Einwirkung wider die Natur erhitzt und abgekühlt und trocken und feucht wird, Krankheiten erzeugt.⁴¹ ⁴⁰ NH (Übers. Diller). Gemeint ist, dass diese Argumente eine Skepsis bzgl. der Realität verschiedener Substanzen entstehen lassen, wie beim historischen Melissos. ⁴¹ NH (Übers. Diller).
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Der Autor plädiert daher, wahrscheinlich in bewusster Anlehnung an Empedokles,⁴² dar, dass der Mensch aus vier Basisqualitäten (trocken, feucht, warm, kalt) besteht.⁴³ Das passt nicht ganz zu der Richtung, die der Argumentationsgang der Schri im Weiteren einschlägt: Statt die These von den vier Basisqualitäten weiter auszuarbeiten, setzt der Autor mit der These, dass die Natur des Menschen durch vier Stoffe erklärt werden kann, neu an: Der Körper des Menschen hat in sich Blut und Schleim und gelbe und schwarze Galle, und das ist die Natur seines Körpers, und dadurch hat er Schmerzen und ist gesund. Am gesundesten ist er, wenn diese [Säfte] im richtigen Verhältnis ihrer Kraft und ihrer Quantität zueinander stehen und am besten gemischt sind. Schmerzen hat er, wenn etwas von ihnen zu viel oder zu wenig vorhanden ist oder sich im Körper absondert und nicht mit dem Ganzen vermischt ist.⁴⁴
Der Traktat Über die Natur des Menschen, wie wir ihn in den modernen Ausgaben von Littré und Jones finden, besteht aus Abschnitten, von denen die ersten acht eine physiologische Beschreibung des Menschen liefern, wobei die Unterscheidung von vier Basisqualitäten oder vier »Säen« und eine Beschreibung ihrer Rolle beim Zustandekommen von Krankheiten eine zentrale Stellung einnehmen. Die Abschnitte – wirken wie ein Anhang kürzerer Diskussionen zum Zustandekommen von Krankheiten und insbesondere Fiebern, in dem, etwas unvermittelt, auch eine längere Beschreibung der Erstreckung der wichtigsten Blutgefäße zu finden ist.⁴⁵ Nun ist umstritten, ob der Text bereits mit diesen Abschnitten abgeschlossen ist. In den modernen Ausgaben des Corpus Hippocraticum steht nach dem Text von Über die Natur des Menschen ein kurzer, in sieben Abschnitte gegliederter Traktat, dessen Titel als Régime salutaire (Littré) oder Regimen in Health (Jones) angegeben wird (Peri diaitês hygieinês). Es ist aglich, ob dieser als selbständiger Text abgedruckte kurze Traktat ursprünglich tatsächlich selbständig gewesen ist oder ob er nicht vielmehr das Ende, also die Abschnitte –, des Traktats Über die Natur des Menschen bildet. Jacques Jouanna, dessen Hand wir den maßgeblichen modernen Kommentar zu Über die Natur des Menschen verdanken, weist darauf hin, dass sich in den Manuskripten nach dem . Abschnitt von Über die Natur des Menschen eine Überschri »Über die ⁴² Vgl. auch Nutton , . ⁴³ Vgl. NH . ⁴⁴ NH (Übers. Diller, verändert). Anders als Diller füge ich Klammern ein, um zu zeigen, dass das Wort »Säfte« eine interpretierende Hinzufügung ist. ⁴⁵ Vgl. NH .
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Lebenshrung« (Peri diaitês) findet; aber nichts deutet darauf hin, dass mit diesem Titel mehr intendiert ist als eine Inhaltsangabe des folgenden Abschnittes. Keineswegs lässt sich also aus den Handschrien das Bestehen eines unabhängigen Textes mit dem Titel »Über gesunde Lebenshrung« (Peri diaitês hygieinês) ableiten.⁴⁶ Die Tatsache, dass vielfach die Existenz eines selbständigen Traktats über gesunde Lebenshrung unterstellt wird, verdankt sich vor allem der Autorität des Galen von Pergamon ( – ca. n. Chr.). Galen war Sohn eines Architekten und widmete sich nach längerer philosophischer Ausbildung der Medizin. Er praktizierte u.a. in Rom, wo er Hofarzt von Mark Aurel war. Galen war ein außerordentlich produktiver Autor, von dessen Werken viele auf uns gekommen sind. Etwa % des uns erhalten gebliebenen Textumfanges der vor Mitte des vierten Jahrhunderts nach Christus entstandenen griechischen Literatur stammt von ihm.⁴⁷ Aber nicht nur die Textlle, auch die Anzahl der von ihm bearbeiteten Gebiete ist beeindruckend; Galen war ein echter Universalgelehrter, der neben medizinischen Werken auch viele philosophische Werke verfasste: u.a. Kommentare zu Platon und Aristoteles, Kritiken an der stoischen und epikureischen Philosophie, eigene moralphilosophische Werke und sogar einiges zur »Grammatik« oder – wie wir es heute nennen würden – zur »Linguistik« (so schrieb er z.B. ein Werk über politische Begriffe bei Aristophanes). Ein großer Teil der Werke Galens besteht aus Kommentaren zu hippokratischen Schrien. Auch die Schri Über die Natur des Menschen hat Galen kommentiert. In seinem Kommentar behandelt Galen die Kapitel – von Über die Natur des Menschen als selbständiges Werk, das aus der Feder eines gewissen Polybos stamme – ein Schüler und, wie einige Quellen behaupten, sogar der Schwiegersohn des Hippokrates. Die Abschnitte – betrachtet Galen dagegen als authentisch hippokratische Schri, die geradezu den Kern der hippokratischen Lehre geformt habe. Galen wird – wie wir gleich sehen werden – diese Lehre systematisch ausbauen. Die Abschnitte – schließlich betrachtete Galen als Interpolation eines hellenistischen Editors, der die beiden selbständigen Schrien auf amateurhae Weise habe zusammengen wollen.⁴⁸ Diese Erklärung klingt auf den ersten Blick sehr gesucht, aber sie ist der Versuch einer Synthese von einander widersprechenden Zeugnissen antiker Autoren. Auf der einen Seite finden wir Platons oben zitierte Erwähnung der hippokratischen Metho⁴⁶ Vgl. Jouanna , –. ⁴⁷ Vgl. Hankinson c, . Hankinson bietet eine ausgezeichnete, knappe Einführung in Biographie und Werk Galens. ⁴⁸ Vgl. HNH .– Mewaldt.
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de im Phaidros. Wenngleich Platons kurze Charakterisierung sehr allgemein bleibt, könnte man in ihr eine Anspielung auf die Schri Über die Natur des Menschen sehen. Galen jedenfalls sieht in ihr eine solche Anspielung, zitiert die Stelle in seinem Kommentar zu Hippokrates’ Über die Natur des Menschen und wertet sie als einen Beleg r die Echtheit der Schri.⁴⁹ Auf der anderen Seite finden wir Zeugnisse, die Inhalte der Schri dem Hippokrates-Schüler Polybos zuweisen. So schreibt Aristoteles in seiner Historia animalium die Passage über die Erstreckung der Blutgefäße Polybos zu.⁵⁰ Galen findet die Passage zu amateurha r einen Hippokrates-Schüler und verwir diese Zuschreibung.⁵¹ Manchmal widersprechen sich auch Zeugnisse innerhalb einund derselben Schri. In einem aus dem ersten oder zweiten Jahrhundert nach Christus stammenden Papyrus des Britischen Museums (Anonymus Londonensis), von dem große Teile auf eine Doxographie antiker Ärzte aus der Feder des Aristoteles-Schülers Menon zurückgehen düren, werden einerseits Inhalte des dritten und vierten Abschnittes von Über die Natur des Menschen dem Polybos zugeschrieben und andererseits Inhalte des neunten Abschnittes dem Hippokrates.⁵² Vor dem Hintergrund dieser komplexen Gemengelage ist die Echtheitsdiskussion des Galen zu sehen. Für uns ist interessant, welchen Gebrauch Galen von dem ersten Teil dieser Schri macht, den er – wie gesagt – als authentisch ansieht. Ich hatte bereits beim Zitieren von Dillers Übersetzung von Über die Natur des Menschen darauf hingewiesen, dass das Wort »Säe« eine Hinzugung Dillers ist. Tatsächlich fällt, wenn man den griechischen Text von Über die Natur des Menschen durchsieht, auf, dass das Wort chymos (lat. humor), das wir mit »Sa« übersetzen würden, im Text gar nicht vorkommt – Jacques Jouanna weist in seiner Ausgabe zu Recht darauf hin, dass stattdessen die Paraphrase »das, was im Körper ist« (ta en tôi sômati eneonta) verwendet wird.⁵³ Die Tatsache, dass in der Schri Über die Natur des Menschen der Genusbegriff chymos gar nicht vorkommt, ist ein sprachlicher Beleg dar, dass dem Autor dieser Schri noch gar keine deutlich umrissene Humoraltheorie vor Augen stand.⁵⁴ Erst Galen sorgt ⁴⁹ ⁵⁰ ⁵¹ ⁵² ⁵³ ⁵⁴
Vgl. HNH .–. Mewaldt. Vgl. HA ., b–a. Vgl. HNH .–. Mewaldt. Vgl. für dies alles Jouanna , –. Vgl. Jouanna , und Index s.v. In anderen Schriften des Corpus Hippocraticum finden wir etwa die zwei Flüssigkeiten Schleim und Galle als zentrale Faktoren (Vgl. etwa Aër. –). Morb. nennt Galle und Wasser statt gelber und schwarzer Galle. In Hum. werden ganz andere Flüssigkeiten genannt (Urin, Schweiß, Nasenschleim), vgl. hierzu Nutton , –.
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r eine systematisierende Festlegung, die als kanonisches Schema tradiert werden wird. Galen legt nicht nur die Humoraltheorie auf das kanonische Schema Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle fest; er ist auch in der Lage, die isolierten Theoriestücke über Basisqualitäten und Säe aus dem ersten Teil von Über die Natur des Menschen philosophisch zu synthetisieren. Galen erreicht dies, indem er eine aristotelisierende Ontologie an diese Theoriestücke heranträgt.⁵⁵ Ganz im Stile des Aristoteles geht er von einer Theorie von Elementen (stoicheia) als den fundamentalen Konstituenten des Körperlichen aus. Bei allem Lebendigen sind diese Elemente die vier Säe. Die Körper der Lebewesen sind aus Blut, gelber Galle, Schleim und schwarzer Galle aufgebaut. Das Heiße, Kalte, Feuchte und Trockene integriert Galen als »Qualitäten« (poiotêtes) in diese Theorie.⁵⁶ Die vier Qualitäten sind »Prinzipien« (archai). Die Prädominanz einer dieser Qualitäten macht das Element bzw. den Sa zu dem, was es ist. Genauer gesagt, treten diese Qualitäten paarweise auf, wobei eine Qualität dominiert.⁵⁷ Blut ist ebenso wie die Lu feucht (dominant) und warm, gelbe Galle wie das Feuer warm (dominant) und trocken, Schleim ist wie das Wasser kalt (dominant) und feucht; schwarze Galle wie die Erde trocken (dominant) und kalt. Die Prinzipien sind auch bestimmend r die vier Jahreszeiten. Jede Jahreszeit hat dadurch die Tendenz, einen anderen Sa besonders zu stimulieren⁵⁸ und damit eine jeweils andere Form von Ungleichgewicht und Krankheit hervorzurufen. Die Rolle der Medizin ist es nun, dem durch die jahreszeitliche Abfolge drohenden Ungleichgewicht von Säen entgegenzuwirken. Es würde zu weit hren, detailliert zu zeigen, welchen Einfluss diese Auffassung auf die spätere Medizin gehabt hat. Es ⁵⁵ Vgl. für das Folgende Hankinson a, insbes. –, und HNH v.a. . (.–. Mewaldt). Spätere Darstellung der eorie in der unechten Schrift [Hum.]. ⁵⁶ Im Kontext seiner pharmakologischen Untersuchung SMT unterscheidet Galen in Anlehnung an Aristoteles’ GC fundamentale und abgeleitete Qualitäten: fundamentale Qualitäten sind die Qualitäten heiß, kalt, feucht, trocken; abgeleitete Qualitäten sind die Wirkungen, die eine Substanz auf einen Körper haben kann. So hat Pfeffer eine erwärmende Wirkung. Manchmal unterscheidet Galen von den abgeleiteten Qualitäten auch noch eine dritte Kategorie Qualitäten: Wirkungen, die eine Substanz auf ganz bestimmte Körperteile haben kann (vgl. zu diesen Unterscheidungen Vogt ). Bei alledem ist sich Galen der Tatsache bewusst, dass es einen Unterschied zwischen der umgangssprachlichen Rede von Elementen und Qualitäten und der philosophischen Verwendungsweise dieser Begriffe gibt. Vgl. z.B. SMT (..–. Kühn). (Diesen Hinweis verdanke ich Niels Grewe.) ⁵⁷ Vgl. Hankinson a, –. ⁵⁸ Der Frühling das Blut, der Winter den Schleim, der Herbst die schwarze Galle, der Sommer die gelbe Galle.
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mag genügen, hier anzudeuten, dass die galenische Medizin durch arabische Vermittlung auch die nachantike Medizin grundlegend geprägt hat. Bis gegen Ende des . Jahrhunderts ist die Grundlage der Medizin eine Humoraltheorie gewesen, und selbst heute, nach dem Aufkommen der modernen »wissenschalichen« Medizin, leben humoralpathologische Auffassungen noch in populärmedizinischen Ideen und in der Alternativmedizin fort.⁵⁹
Galen: Der Arzt als der bessere Philosoph Wir haben im vorigen Abschnitt gesehen, dass Galen die Schri Über die Natur des Menschen als einen zentralen Text des historischen Hippokrates ansieht und wie er die in dieser Schri enthaltenen Theoriestücke mithilfe einer aristotelischen Terminologie systematisiert. Galen macht damit eine Schri, die eine ganz spezifische, beschränkte Tendenz im Corpus Hippocraticum repräsentiert, auch r die spätere Geschichte der Medizin zu einem zentralen systematischen Text. Aus der Perspektive dieses Textes liegt eine r Ärzte sehr attraktive Rollenbestimmung der Medizin zum Greifen nahe, die Galen in einigen seiner Schrien entwickelt: Wenn Hippokrates auf der Grundlage einer medizinischen Methodologie einen Beitrag zur naturphilosophischen Debatte liefern kann, hat womöglich der gut geschulte Arzt einen entscheidenden Vorteil gegenüber den gewöhnlichen, nicht empirisch geschulten Philosophen. Der Mediziner ist im Grunde der bessere, weil empirisch geschulte, Philosoph. Im Folgenden will ich zeigen, wie sich Galen zum »besseren Philosophen« aufwir und aus der Perspektive des Mediziners eigene Beiträge zu philosophischen Debatten liefert. Das Übertrumpfen der nicht empirisch geschulten Philosophen ist wahrscheinlich nirgendwo im Werk Galens so deutlich wie in seiner Schri Über die Affekte und Irrtümer der Seele.⁶⁰ Der philosophische Anspruch Galens wird schon zu Beginn des Textes deutlich: Anlass seiner Abfassung ist die Bitte eines nicht namentlich genannten Bekannten, Galen möge doch seine mündlich geäußerte Kritik an einem philosophischen Buch schrilich niederlegen. Es handelt sich um das r uns verloren gegangene Buch Über die Kontrolle der Affekte des uns weiter nicht bekannten Epikureers Antonios. Überaus selbstbewusst kritisiert Galen diese Schri in einigen ⁵⁹ Vgl. Nutton . ⁶⁰ Die zwei Bücher dieser Schrift werden in der Literatur vielfach wie unabhängige Schriften zitiert als Aff. Dig. (erstes Buch) und Pecc. Dig. (zweites Buch).
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen
wegwerfenden Bemerkungen. Antonios habe es unterlassen zu erklären, was er unter dem Begriff »Kontrolle« verstehe, und er habe es auch unterlassen, zwischen »Irrtümern« (hamartêmata) und »Affekten« (Emotionen, pathê) zu unterscheiden. Irrtümer entstehen »aufgrund falscher Meinung und Affekte entstehen aus einer irrationalen Kra in uns, die der Vernun ungehorsam ist«.⁶¹ Im Gegensatz zu ihm, Galen, habe Antonios sich selbst nicht ausreichend über die Geschichte der philosophischen Seelentherapie informiert, die neben Platon, Aristoteles und seiner Schule bis zu Chrysipp reiche.⁶² Nachdem Antonios auf diese bündige Weise abgetan ist, wendet sich Galen seiner eigenen Analyse des Themas zu. Dreh- und Angelpunkt sei, dass zwar allein der Weise gottähnlich und perfekt sei, dass es aber r Menschen unmöglich sei, diese Perfektion plötzlich zu erlangen.⁶³ Vielmehr sei eine kontinuierliche Übung und Selbstverbesserung nötig.⁶⁴ Dabei sollte man zuerst die Affekte loswerden und dann zur Ausmerzung der Irrtümer übergehen, weil es wahrscheinlich sei, dass die Affekte eine Quelle falscher Meinungen seien.⁶⁵ Um die Heilung von Affekten bei eigener kognitiver Unzulänglichkeit zustande bringen zu können, sollte man sich der Seelenleitung durch einen erfahrenen Mann anvertrauen. Galen gibt nun dem uns unbekannten Adressaten der Schri mit vielen autobiographischen Details zu verstehen, dass nicht irgendwelche Philosophen, sondern er, Galen, ein solches Vorbild ist, dass er von den Menschen in seiner Umgebung als Vorbild anerkannt wird und dass er häufig als Ratgeber zur Charakterverbesserung von Menschen beigetragen hat. Entsprechend seiner Überzeugung, dass es zwei irrationale Seelenteile gibt,⁶⁶ identifiziert Galen zwei zentrale Affekte, die es zu bestreiten gilt: den Zorn (thymos) und den seelischen Schmerz (lypê). Letzterer wird durch die Unerllbarkeit eines unmäßigen Verlangens hervorgebracht. Beide Fehler gilt es zu vermeiden, und stattdessen die entgegengesetzten Eigenschaen Freiheit von Zorn und Mäßigkeit zu erwerben. Was nun den Fehler des vernünigen Seelenteils betri, den Irrtum, so hrt Galen diesen in Übereinstimmung mit der stoischen Philosophie auf einen voreiligen und ⁶¹ ⁶² ⁶³ ⁶⁴ ⁶⁵
Vgl. Aff. Dig. . Vgl. Aff. Dig. . Vgl. Aff. Dig. . Vgl. Aff. Dig. . Vgl. Aff. Dig. . Es ist deutlich, dass in dieser Auffassung eine ganze Menge stoischer Überzeugungen aufgenommen werden – Galen steht den Stoikern überhaupt viel näher, als man denken könnte, wenn man sich vor allem an Galens Polemik gegen Chrysipps Seelen- und Affektelehre orientiert (siehe unten auf Seite ). ⁶⁶ Galen folgt hiermit der platonischen Einteilung der Seele im Staat und im Timaios (siehe Abschnitt ). Ich komme darauf im Folgenden zurück.
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daher »schwachen« Zustimmungsakt zurück (synkatathesis asthenês).⁶⁷ Es könnte vielleicht auf den ersten Blick so scheinen, als hätten die Philosophen eine wichtige Rolle beim Ausmerzen dieses Fehlers zu spielen, aber dieser Anschein trügt, zumindest was die meisten Repräsentanten der Philosophie zuzeiten Galens betri: Galen rügt, dass die zeitgenössischen Philosophen gar kein argumentationstheoretisches Bewusstsein und keinen Respekt r empirische Beobachtungen mehr hätten; sie äußerten apodiktische Urteile über große Fragen, ohne sich Rechenscha darüber zu geben, ob das Behauptete überhaupt Gegenstand unserer Erkenntnis sein könne, und sie bemühten sich nicht einmal, ihre Theorien auf der Grundlage des klar Feststellbaren (ta enargôs phainomena) zu errichten.⁶⁸ Gegenüber jemandem, der sich durch ein echtes logisches sowie praktisch-empirisches Training gebildet habe, würden solche spekulativen Philosophen immer das Nachsehen haben.⁶⁹ Sie spielten nur Philosoph, aber sie seien es nicht. Galen beschreibt in Über die Affekte und Irrtümer der Seele mit viel Gusto, wie er in seinen Vorlesungen Platoniker, Epikureer, Stoiker und Peripatetiker wie Schuljungen auftreten und sich blamieren lässt.⁷⁰ In scharfem Gegensatz hierzu lobt Galen den Respekt der »alten« Philosophen r die Empirie; und hiermit sind vor allem Platon und Aristoteles gemeint, also Philosophen, die schon ein halbes Jahrtausend tot sind. Aus der Sicht Galens werden aber selbst diese Philosophen übertroffen durch Hippokrates, »den göttlichen«.⁷¹ Damit ist die Philosophie nicht völlig irrelevant – im Gegenteil: Galen hat sogar eine kurze Schri mit dem Titel Der beste Doktor ist auch ein Philosoph verfasst, in der er betont, dass der Arzt alle Teile der Philosophie kennen muss: Logik, Physik und Ethik.⁷² Galen ist bereit, der Philosophie einen wichtigen Beitrag zur ärztlichen Ausbildung zuzuerkennen, und er urteilt ungnädig über seine Ärztekollegen (und das heißt in der Zeit Galens vor allem: Konkurrenten), die nicht so gründlich ausgebildet sind wie er selber. In Über die Affekte und Irrtümer der Seele macht Galen ganz folgerichtig mit Stolz auf seine eigene, gründliche philosophische Schulung aufmerksam. Aber ein philosophisch und empirisch geschulter Arzt wird die philosophischen Probleme in weit besserer Weise lösen können als ein empirisch nicht trainierter Schulphilosoph. ⁶⁷ ⁶⁸ ⁶⁹ ⁷⁰ ⁷¹ ⁷²
Vgl. Pecc. Dig. . Vgl. Pecc. Dig. und QAM (.–. Müller). Vgl. Pecc. Dig. . Vgl. Pecc. Dig. . Vgl. QAM (.– Müller). Vgl. Opt. med. (.–. Müller).
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen
Der Anspruch, als Arzt zur Philosophie beitragen zu können, wird in zwei Schrien besonders deutlich, die von besonderer Bedeutung r die anthropologische Diskussion der Antike sind: das bekannte Werk Über die Lehren von Hippokrates und Platon und die Schri Über die Abhängigkeit der Seele vom Körper. Beginnen wir mit Über die Lehren von Hippokrates und Platon. In dieser relativ ühen Schri⁷³ will Galen die grundsätzliche Übereinstimmung der Lehren des Hippokrates und Platon über die Seele beweisen. Platon hatte mit seiner Dreiteilung der Seele und seiner Lokalisierung des Denkens im Gehirn Akzente gesetzt, die in der Philosophie nicht unumstritten geblieben waren. Aristoteles und seine Schüler hatten einer »kardiozentrischen« Theorie, die im Herz das zentrale Steuerungsorgan sieht, den Vorzug gegeben und auch die Stoiker hatten das Herz als Sitz des Hegemonikon identifiziert. Hinzu kam, dass sowohl Aristoteles als auch die meisten Stoiker⁷⁴ anders als Platon die Einheit der Seele betonten. Während Platon drei Seelenteile unterschied, versuchte Aristoteles, durch die Sprachregelung von »Funktionen« die Einheit der Seele zu betonen, und auch die stoische monistische Psychologie mit dem Hegemonikon als Zentrum trat r eine derartige Einheitsthese ein. Galen will nun in seiner Schri Über die Lehren von Hippokrates und Platon zeigen, dass die kardiozentrischen und monistischen Theorien verkehrt sind, dass Platons Ansicht die richtige war und dass bereits Hippokrates, der Ahnherr aller sich auf ihre Sache verstehenden Ärzte, die platonische Ansicht vorweggenommen hatte. Galens Hauptgegner ist dabei die monistische Theorie der Stoiker.⁷⁵ Natürlich ist Galens Harmonisierungsversuch aus inhaltlichen Gründen ziemlich suspekt. Platons Dreiteilung der Seele ist deutlich unterschieden von der in der hippokratischen Schri Über die heilige Krankheit vertretenen Position. Dort wird das Gehirn nicht nur als Sitz des Denkens, sondern als Zentralorgan allen leiblichen und geistigen Lebens bestimmt.⁷⁶ In der Schri Über die heilige Krankheit haben wir es also mit einer echten »kephalozentrischen« Theorie zu tun, die – ebenso wie die kar⁷³ Nach seinen eigenen Angaben schrieb Galen die insgesamt neun Bücher von PHP in zwei Phasen: die ersten sechs müssen nach diesen Angaben zwischen und n. Chr., die letzten drei zwischen und n. Chr. datiert werden. Allerdings könnten einige Verweise auf andere Texte Galens auf eine etwas spätere Abfassungszeit deuten (oder zumindest auf eine spätere Aktualisierung des Textes von PHP); vgl. De Lacy , –. ⁷⁴ Eine Ausnahme ist Poseidonios; vgl. meinen Beitrag zur Stoa in diesem Band. ⁷⁵ Zur Auseinandersetzung Galens mit den Stoikern in PHP vgl. die sehr lesenswerte Analyse in Tielemann . ⁷⁶ Vgl. Morb. sacr. –.
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diozentrischen Theorien des Aristoteles und der Stoiker – ein einheitliches zentrales Steuerungsorgan konzipiert, aber dieses im Gehirn lokalisiert. Man kann von Galen daher auch keine überzeugende Platon-Exegese erwarten; vielmehr sieht er Platon vor allem als einen Anlass, seine eigenen Theorien zu präsentieren. Trotz dieser philologisch-historischen Defizite ist Galens Vorgehen r uns besonders interessant, denn Galen versucht, die Unzulänglichkeit einer nicht empirisch – und das will hier heißen: medizinisch – informierten Philosophie aufzudecken, und er legt zu diesem Zweck eine überaus interessante Verbindung von »philosophischen« und »medizinischen« Argumenten vor. Der Stoiker Chrysipp scheint im ersten Buch seiner verloren gegangen Schri Über die Seele r eine Lokalisierung des Hegemonikons in der Region des Herzens unter anderem mit den Beobachtungen argumentiert zu haben, dass wir, wenn wir »ich« sagen (Griechisch: egô) die Hand an unsere Brust hren und dass wir beim Aussprechen des Wortes »egô« bei der ersten Silbe mit der Unterlippe und dem Kinn auf uns selber – genauer gesagt: auf den Brustbereich – weisen.⁷⁷ Eine Geste in Richtung unseres Brustraums unternehmen wir mit unseren Händen laut Chrysipp auch, wenn wir »Gib mir das«, »Das passt mir« oder »Ich sage dir« sagen.⁷⁸ Natürlich sind das keine sehr starken Argumente, und Galen merkt mit diebischer Freude an, dass Chrysipp wohl vergessen habe, dass wir häufig auch unsere Nase anfassen, wenn wir solche Dinge äußern.⁷⁹ Sicherlich ernster zu nehmen sind Argumente, die sich auf die Lokalisierung des Sprachvermögens richten. Sprache ist ein Beispiel par excellence r eine vom Willen gesteuerte menschliche Aktivität. Laut den Stoikern entstehen Sprachlaute durch eine Formung des Pneumas in Lunge und Luröhre, gesteuert durch das Pneuma in der Herzregion.⁸⁰ Die Stoiker unterstellten, wie übrigens auch andere Philosophen, dass sich die zentrale Steuerungsinstanz der Seele da befinden müsse, wo das willensgesteuerte Sprachvermögens lokalisiert sei. Die Nähe der Luröhre zum Herzen weise auf das Herz als Zentralorgan.⁸¹ Galen kritisiert die Unsinnigkeit einer solchen Lokalisierungsthese: Weil ja die Sprachlaute primär im Rachen- und Mundraum geformt würden, seien die Luröh⁷⁷ ⁷⁸ ⁷⁹ ⁸⁰ ⁸¹
Vgl. PHP ..–. Vgl. PHP ... Vgl. PHP ... Vgl. PHP ... Vgl. PHP ...
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen
re und die Lunge näher am Ort der Sprachentstehung als das Herz.⁸² Aber solche Argumente sind r Galen nur Vorgeplänkel. Die entscheidenden Argumente sind medizinischer Art: Galen beru sich dabei auf seine eigenen anatomischen Einsichten. Die Muskeln, die Bewegungsprozesse ermöglichen, werden von Nerven (ta neura) angesteuert, und diese Nerven haben ihren Ausgangspunkt im Gehirn. Daher kommt es, dass, wenn die Nervenbahnen zwischen dem Kopf und dem Rest des Körpers blockiert werden, ein Lebewesen seine Bewegungsfähigkeit verliert.⁸³ Außerdem weisen einige einfache Tests bei der Vivisektion von Tieren auf die Rolle des Gehirns als Zentralorgan: Denn, wenn du das Herz bloßlegst […], wenn du es anpackst, drückst oder quetschst, dann siehst du, dass das Lebewesen keineswegs Atem oder Stimme verliert oder an einer anderen Bewegung, die dem Bewegungsimpuls (hormê) folgt, gehindert wird; aber wenn du das Gehirn unter der Schädeldecke bloßlegst und eine seiner Wölbungen verletzt oder drückst, dann verliert das Lebewesen nicht nur sofort Stimme und Atem, sondern verliert ganz und gar das Bewusstsein und die Bewegungen, die dem Bewegungsimpuls folgen.⁸⁴
Mit einer derartigen Synthese von »philosophischen« und »medizinischen« Argumenten unterstützt Galen in Über die Lehren von Hippokrates und Platon die platonische Dreiteilung der Seele, wobei er, spezifischer als Platon, den vernünigen Seelenteil im Gehirn ansiedelt, den mutartigen Seelenteil im Herzen und den begehrenden Seelenteil in der Leber. In Über die Lehren von Hippokrates und Platon ist Galen nicht daran interessiert, die Neuigkeit des eigenen Beitrags zur Philosophie herauszustellen. In der Spätschri Dass die Kräfte der Seele eine Folge der Mischungen des Körpers sind ist das ganz anders. Galens Selbstbewusstsein bezüglich der Leistungskra seiner medizinischen Philosophie scheint noch weiter gewachsen: Zwar gilt Platon noch immer als das Modell eines die Empirie ernst nehmenden Philosophen, an dessen Seelentheorie aus dem Timaios sich Galen immer noch orientiert, aber jetzt zeigt er viel deutlicher, dass er auf der Grundlage seiner medizinischen Philosophie einige platonische Lehrsätze in Zweifel ziehen würde.⁸⁵ Wie schon der Titel der Schri zeigt, geht es Galen gerade darum, die Abhängigkeit der Seele vom Körper zu beschreiben. Die Beobachtungen ⁸² ⁸³ ⁸⁴ ⁸⁵
Vgl. PHP ... Vgl. PHP ... PHP .., meine Übersetzung. Meiner Auffassung nach ist also ein Prozess des Weiterdenkens und das gesteigerte Selbstbewusstsein Galens die richtige Erklärung für den von PHP deutlich abweichenden Tenor von
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Platons im Timaios, die diese Abhängigkeit unterstützen, sieht er als den zentralen theoretischen Gewinn dieses Dialogs, zu dem seiner Meinung nach jedoch die dualistische Metaphorik Platons (im Tod »trennt« sich die Seele vom Körper) und die Überzeugung, dass die (vernünige) Seele einen besonderen, vom Körper unabhängigen Status habe und daher unsterblich sei, nicht recht passen wollen.⁸⁶ Platon und seine Schüler hätten, so Galen, keine Antwort auf die Frage, warum diese oder jene Einwirkung zu einer solchen Trennung der Seele vom Körper hren müsse, und Platon selbst habe im Timaios mit seiner Analyse der körperlichen Ursachen der Unbeherrschtheit Argumente dar geliefert, dass auch das Funktionieren der Vernun deutlich abhängig vom Körper sei und dass bestimmte körperliche Einwirkungen das Funktionieren der Vernun beeinflussen würden.⁸⁷ Galen sieht daher allen Grund, in Bezug auf eine eventuelle Unsterblichkeit der Seele deutlich vorsichtiger zu sein als Platon. Galen nimmt einen agnostischen Standpunkt ein.⁸⁸ Schon im Timaios schien die Abhängigkeit der Seele vom Körper die verantwortungsunterminierende Folgerung nahezulegen, dass niemand eiwillig schlecht handelt. Galen akzeptiert diese Folgerung in Dass die Kräfte der Seele eine Folge der Mischungen des Körpers sind und behil sich mit einer Lösung, die auf eine Konzeption natürlicher Reaktionen rekurriert: Nicht alle werden nämlich als Feinde der Gerechtigkeit geboren und auch nicht alle als ihre Freunde; durch die Mischungen der Körper werden beide [Freunde bzw. Feinde der Gerechtigkeit] zu dem, was sie sind. Wie, so fragen [manche], kann dann gerechterweise jemand gelobt oder getadelt, gehasst oder geliebt werden, wenn er schlecht oder gut geworden ist, falls er dies doch nicht aus sich selbst heraus, sondern durch die Mischung [geworden ist], die ja aus anderen Ursachen stammt? Unsere Antwort ist, dass es eine Eigenschaft von uns allen ist, sich über das Gute zu freuen, sich zu ihm hingezogen zu fühlen und es zu lieben, sich vom Schlechten dagegen wegzukehren, es zu fliehen und zu hassen, ohne erst zu fragen, ob diese Qualitäten [durch eigenes Handeln] entstanden sind oder nicht. Wir töten ja auch die Skorpione, Giftspinnen und Giftschlangen, obwohl sie von Natur so geworden sind, wie sie sind, und nicht aus eigenem Antrieb. Genauso ist es auch vernünftig, dass wir schlechte Menschen hassen, ohne zuvor darüber nachzudenken, durch welche Ursache sie zu dem geworden sind, was sie sind, und dass wir uns zu den QAM. Anders Donini (), der den Grund in dem Selbst-Marketing-Charakter von QAM sieht. Die Frage ist aber, inwiefern sich QAM darin von anderen Schriften Galens unterscheidet. ⁸⁶ Vgl. QAM (.–. Müller). ⁸⁷ Vgl. QAM (.–. Müller) und QAM (.– Müller). ⁸⁸ Vgl. QAM (.– Müller).
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen Guten hingezogen fühlen und sie lieben, gleichgültig, ob sie nun von Natur oder durch Bildung und Unterricht oder durch einen Entschluss und durch Übung zu dem geworden sind, was sie sind.⁸⁹
Das Selbstbewusstsein Galens ist hiermit deutlich auf seinem Zenit angekommen. Nicht nur lässt er seine philosophische Autorität Platon ein gutes Stück hinter sich, indem er dessen philosophische Einsichten vom Standpunkt seiner medizinischen Philosophie aus in Zweifel zieht, er schreibt den Philosophen auch vor, welche Probleme relevant sind und welche nicht. Man könnte sagen, dass Galen damit die Inkarnationsstufenleiter aus dem Phaidros umgedreht hat: Auf der höchsten Stufe steht jetzt der philosophisch und empirisch trainierte Arzt, als dessen beste Vorbilder Galen neben Hippokrates natürlich sich selbst im Auge hat; erst danach kommen die ehrwürdigen alten Philosophen mit ihrem Respekt vor der Empirie und auf den unteren Stufen schließlich die bedenklichen Figuren des philosophisch nicht trainierten Arztes und des empirisch nicht geschulten Philosophen. Die Siege, die man sich selbst zuerkennt, sind manchmal doch die schönsten.
Literatur Quellen Es gibt nur relativ wenige deutsche Übersetzungen von Teilen des Corpus Hippocraticum. Eine nützliche Auswahl in deutscher Sprache bietet Diller (s.u.); sehr empfehlenswert ist Lloyd, mit einer ausgezeichneten Einführung (s.u.). Griech.-dt. Textauswahl von Schubert/Leschhorn (s.u.). Textausgabe des Corpus Hippocraticum mit franz. Übers. von Littré (s.u.), neuere Einzelausgaben in Budé/Les Belles Lettres; griech.-engl. Ausgabe bei Loeb (Hrsg. Jones, Withington, Potter). Schlechter ist die Lage bei Galen: Häufig gibt es keine Übersetzung in eine moderne europäische Sprache. Ausgangspunkt ist vielfach noch die griech.-lat. Ausgabe von Kühn (s.u.). Zahlreiche neuere textkritische Editionen von Einzelwerken und Werkgruppen liegen vor. Beste Übersicht über Editionen und Übersetzungen in Hankinson b. Gute engl. Übers. einiger wichtiger Werke: Singer (s.u.). Aristoteles. Aristotle on Coming-to-be and Passing-away. Hrsg., komm. und mit einer Einl. vers. von Harold H. Joachim. Oxford . (Zitiert als GC). —— Historia animalium. Hrsg. von Arthur L. Peck und David M. Balme. Bde. Cambridge MA und London –. (Zitiert als HA). Cicero, Marcus Tullius. Tusculanae disputationes – Gespräche in Tusculum. Hrsg. und übers. von Ernst Alfred Kirfel. Stuttgart . (Zitiert als Tusc.). ⁸⁹ QAM (.–. Müller), meine Übersetzung.
Christoph Jedan
Galen. »De animi cuiuslibet peccatorum dignotione et curatione«. In: Scripta minora. Hrsg. von Johannes Marquardt. Bd. . Leipzig . (Zitiert als Pecc. Dig.). [Zweites Buch der Schrift Über die Affekte und Irrtümer der Seele, meistens als eigenständige Schrift zitiert. Auch in Kühn .–; engl. Übersetzung in Singer, Titel: »e Affections and Errors of the Soul«]. —— De placitis Hippocratis et Platonis. Hrsg. von Phillip de Lacy. Bde. Berlin – (= Corpus Medicorum Graecorum V. . , ). (Zitiert als PHP). —— De propriorum animi cuiuslibet affectuum dignotione et curatione. Hrsg. von Johannes Marquardt. Bd. . Leipzig . (Zitiert als Aff. Dig.). [Erstes Buch der Schrift Über die Affekte und Irrtümer der Seele, meistens als eigenständige Schrift zitiert. Auch in Kühn .–; engl. Übersetzung in Singer, Titel: »e Affections and Errors of the Soul«]. —— »De simplicium medicamentorum tempramentis ac facultatibus«. In: (Zitiert als SMT). Kühn ,–; .–. —— In Hippocratis De natura hominis. Hrsg. von Johannes Mewaldt. Leipzig und Berlin (= Corpus Medicorum Graecorum V..). (Zitiert als HNH). —— Opera Omnia. Hrsg. von Karl Gottlob Kühn. Bde. Leipzig –. (Zitiert als Kühn). (Reprint Hildesheim ). —— »Quod animi mores corporis temperamenta sequuntur«. In: Scripta minora. Bd. . Hrsg. von Iwan Müller. Leipzig . (Zitiert als QAM). [Auch in Kühn .–; engl. Übers. in Singer, Titel: »e Soul’s Dependence on the Body«]. —— »Quod optimus medicus sit quoque philosophus«. In: (Zitiert als Opt. med.). Kühn .–. [Engl. Übers. in Singer, Titel: »e Best Doctor Is Also a Philosopher«]. —— Selected Works. Übers. von Peter N. Singer. Oxford (e World’s Classics). (Zitiert als Singer). Hippokrates. Ausgewählte Schriften. Hrsg. und übers. von Hans Diller. Stuttgart . (Zitiert als Diller). —— Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Charlotte Schubert und Wolfgang Leschhorn. München und Zürich . —— Œuvres complètes. Hrsg. und übers. von É. Littré. Bde. Paris –. (Zitiert als Littré). (Reprint Amsterdam –). —— De aëre aquis et locis. Hrsg. von Jacques Jouanna. Paris . (Zitiert als Aër.). [Diese Ausg. mit franz. Übers. Dt. Übers. bei Diller, Titel: »Die Umwelt«; engl. Übers. in Lloyd]. —— »De arte«. In: (Zitiert als De arte). Littré .–. [Dt. Übers. bei Diller, Titel: »Die ärztliche Kunst«]. —— »De humoribus«. In: (Zitiert als Hum.). Littré .–. —— »De morbis«. In: (Zitiert als Morb.). Littré .–; .–. —— »De natura hominis«. In: Corpus Medicorum Graecorum. Hrsg. und übers. von Jacques Jouanna. Bd. I ,. Berlin . (Zitiert als NH). [Diese Ausgabe mit franz. Übers.; dt. Übers. der ersten Abschnitte bei Diller; engl. Übers. in Lloyd, dort auch Übers. der Abschnitte – unter dem Titel »A Regimen for Health«]. —— De prisca medicina. Hrsg. von Jacques Jouanna. Paris . (Zitiert als VM). [Dt. Übers. bei Diller, Titel; »Die alte Heilkunst«].
Im Visier der Ärzte. Hippokrates und Galen über die Natur des Menschen
Hippokrates. La maladie sacrée. Hrsg. von Jacques Jouanna. . (Zitiert als Morb. sacr.). [Diese Ausg. mit franz. Übers. Dt. Übers. bei Diller, Titel: »Die heilige Krankheit«]. Lloyd, Geoffrey Ernest Richard, Hrsg. Hippocratic Writings. Harmondsworth (Penguin Classics). (Zitiert als Lloyd). Platon. Der Staat. Hrsg. von Günther Eigler. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Bd. . Darmstadt . (Zitiert als Rep.). —— Gorgias. Hrsg. von Günther Eigler. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Bd. . Darmstadt . (Zitiert als Gorg.). —— Phaidros. Hrsg. von Günther Eigler. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Bd. . Darmstadt . (Zitiert als Phaidr.). —— Symposion/Das Gastmahl. Hrsg. von Günther Eigler. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Bd. . Darmstadt . (Zitiert als Symp.). —— Timaios. Hrsg. von Günther Eigler. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Bd. . Darmstadt . (Zitiert als Tim.). [Ps.]-Galen. »De humoribus«. In: (Zitiert als [Hum.]). Kühn .–.
Hinweise zur weiteren Lektüre Donini, Pierluigi (). »Psychology«. In: e Cambridge Companion to Galen. Hrsg. von Robert James Hankinson. Cambridge, –. Hankinson, Robert James (a). »Philosophy of Nature«. In: e Cambridge Companion to Galen. Hrsg. von Robert James Hankinson. Cambridge, –. —— Hrsg. (b). e Cambridge Companion to Galen. Cambridge. [Exzellente Einführung und Präsentation des Forschungsstandes]. »e Man and His Work« (c). In: e Cambridge Companion to Galen. Hrsg. von Robert James Hankinson. Cambridge, –. Jouanna, Jacques (). Hippocrates. Übers. von Malcolm B. DeBevoise. Baltimore und London. —— Hrsg. (). Hippocratis De natura hominis. Berlin (= Corpus Medicorum Graecorum I. ,). Nutton, Vivian (). Ancient Medicine. London und New York. —— (). »Humoralism«. In: Companion Encyclopedia of the History of Medicine. Hrsg. von William F. Bynum und Roy Porter. London und New York, S. –. Tielemann, Teun (). Galen and Chrysippus on the Soul. Argument and Refutation in the De Placitiis Books II–III. Leiden, New York und Köln. Vogt, Katja Maria (). Law Reason, and the Cosmic City. Political Philosophy in the Early Stoa. Oxford.
Weitere zitierte Literatur Price, Anthony W. (). Mental Conflict. London und New York.
Matthias Perkams
Der Kosmos im Menschen. Plotins Antwort auf die Frage »Was ist der Mensch?« nach den Enneaden I und VI Nach einem gelegentlich zu findenden Vorurteil wird der Mensch in vormodernen Konzeptionen nicht in seiner Eigenwirklichkeit betrachtet, sondern im Rahmen übergeordneter kosmologischer Strukturen in den Blick genommen, weswegen es auch eine anthropologische Forschung vor Beginn der Neuzeit nicht gegeben haben soll.¹ Bei näherer Betrachtung der philosophiegeschichtlichen Entwicklung kann man vermuten, dass dieses Vorurteil, wenn überhaupt irgendwo, dann im antiken Neuplatonismus eine gewisse Berechtigung haben könnte: Denn bis heute ist das verbreitete Bild von dieser Philosophie das eines streng hierarchisch in die Hypostasen des Einen, des Geistes und der Seele gegliederten metaphysischen Systems, in dem der Mensch, könnte man meinen, nur von diesen Hypostasen bestimmt sein und ihren Einfluss nach unten weiter geben kann. Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, dass dieses Verhältnis eher umgekehrt zu betrachten ist: Die Stellung des Menschen im griechischen Neuplatonismus ist nicht sekundär gegenüber dem ihn umgebenden Kosmos; vielmehr ist er der primäre Gegenstand philosophischer Forschung, die sich letztlich insgesamt auf den Menschen bezieht. »Bemühen muss man sich in erster Linie um die Wahrheit über die Sachen selbst, und zwar um die über die anderen und um die über die Seele, welche r uns von Anfang an näher als alles andere ist«², betont der Neuplatoniker Priskian von Lydien (um ) zu Beginn seines Kommentars zu Aristoteles’ De anima. Philosophie muss r ihn also immer ein Nachdenken über sich selbst, über die eigene Seele, sein, da erst diese Überlegung zu Einsichten darüber hren kann, in welchen ontologischen Strukturen diese Seele zu verorten ist. Die Frage nach der eigenen Seele bzw. der eigenen Person muss gestellt werden, will die Philosophie ihr ¹ Matzker , –; Arlt , . ² Priscianus Lydus (Pseudo-Simplicius), [In De an.] , –. Vgl. Ioannes Philoponus, In De an. , . Matthias Perkams (). »Der Kosmos im Menschen. Plotins Antwort auf die Frage ›Was ist der Mensch?‹ nach den Enneaden I und VI «. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
Der Kosmos im Menschen
Ziel erreichen, den Menschen nicht nur theoretisch zu beschreiben, sondern auch zu seiner eigenen, ihm wesensgemäßen Vollendung anzuleiten. Philosophische Reflexion ist nämlich nicht nur ein Weg zur theoretischen Erkenntnis, sondern auch zur Vervollkommnung als Mensch. »Denn die Philosophie ist die Vervollkommnung der Seele, so wie die Medizin die des Leibes«³. Die neuplatonische Philosophie als ganze wird daher am besten als ein Nachdenken über den Menschen und über die Möglichkeiten seiner Entwicklung beschrieben. Die Grundlagen r diesen Ansatz finden sich, wie auch die übrigen Grundzüge der neuplatonischen Philosophie, im Werk des Philosophen, der, dank seiner Einhrung des Einen als eines Modells absoluter Transzendenz in das philosophische Denken,⁴ gemeinhin als Begründer und bedeutendster Denker des Neuplatonismus angesehen wird: Plotin (–). Er ist r die Frage nach der antiken Anthropologie auch deswegen besonders wichtig, weil er wohl so klar und konsequent wie kein anderer antiker Denker die Frage gestellt und diskutiert hat, was der Mensch ist bzw. wie er zu definieren ist. Es ist daher folgerichtig, dass sein Schüler Porphyrios von Tyros (/–) seine unter dem Titel Enneaden bekannte Zusammenstellung von Plotins Werken mit einem Traktat (Enneade I ) eröffnete, dem er den durchaus passenden Titel gab: »Was das Lebewesen, d.h. was der Mensch ist«.⁵ Bereits im Hinblick auf die Fragestellung kann man also bei Plotin den Ansatz einer philosophischen Anthropologie erkennen. Allerdings ist zu beachten, wie diese Frage gestellt wird: Denn die Definition des Menschen ergibt sich r Plotin aus einer Erklärung dessen, was »wir« (hêmeis) sind.⁶ Unter »der Mensch« (ho anthrôpos) bzw. »der wahre Mensch« (ho alêthês anthrôpos) versteht er daher nichts anderes als das »wir« bzw. – wie wir heute wohl eher sagen würden – das »ich«, d.h. unsere Persönlichkeit, unser Selbst.⁷ Diese Fragestellung ³ Simplicius, in Phys. , –. Diese Grundtendenz bleibt bis weit ins arabische Mittelalter fast unverändert erhalten, wenn etwa Avicenna im . Jahrhundert sein philosophisches Hauptwerk »Buch der Genesung« (Kitāb aš-Šifā’ ), nämlich der Seele, nennt. ⁴ Als Einleitung in Plotins Werk eignet sich neben der prägnanten Einleitung zur Übersetzung Tornau vor allem Halfwassen . Die beste Einführung in seine Philosophie des Selbst ist nach wie vor O’Daly , zahlreiche Schwierigkeiten sind diskutiert bei Gerson und Remes . ⁵ Diese Übersetzung ist genauso richtig wie Tornaus »Was das Lebewesen und was der Mensch ist«, und passt noch besser zum Inhalt des Traktats. ⁶ Vgl. besonders Enn. I [], und VI [], , dt. – und – Tornau. ⁷ Remes , –. Remes interpretiert Plotins Denken daher als Beitrag zu einer »Philosophie des Ich« bzw. »des Selbst«.
Matthias Perkams
hat mit dem Text zu tun, der die Basis r Plotins Enneade I abgibt. Denn weil sich Plotin als Erklärer der bei Platon zu findenden, aber nicht immer klar ausgedrückten Wahrheit verstand, ist dieser Text, so wie viele andere Traktate Plotins auch, eine kommentierende Reflexion auf einen platonischen Dialog, in diesem Fall auf den Ersten Alkibiades.⁸ Hier weist Sokrates den Alkibiades darauf hin, dass die Erkenntnis seiner selbst eine hinreichende Bedingung r die Sorge um sich selbst ist (a) und stellt ihm von daher die Frage: »Was denn ist also der Mensch?« (e). Im Anschluss an diesen platonischen Text stellt Plotin die Frage nach dem Menschen von vornherein nicht in einer werteien Weise, in der er gleichsam eine Beobachterperspektive einnimmt, sondern diese Frage ist r ihn die nach den Entwicklungsmöglichkeiten der eigenen Existenz, wie sie sowohl die philosophische Reflexion als auch die eigenen Erfahrungen ausmachen. Insofern ist r ihn das Nachdenken über den Menschen bereits ein Stück Genesung der Seele, und jeden Versuch, den Menschen zu einem Objekt unter anderen zu machen, würde er als der existenziellen Dimension dieser Frage unangemessen verwerfen. Wenn ich im Folgenden die Überlegungen Plotins zum Menschen anhand der Enneade I (mit abschnittweisen Rückgriffen auf die Enneade VI )⁹ nachzeichne, wird dies daher einer Schilderung des Auf- und Abstiegs der menschlichen Seele in ihrer prekären Stellung zwischen der ewigen Unveränderlichkeit des Denkens und der Transzendenz des Einen auf der einen und der Wandelbarkeit der sinnlich wahrnehmbaren Natur auf der anderen Seite gleichkommen. All diese Elemente, so soll deutlich werden, stehen r Plotin dem Menschen nicht als etwas äußeres gegenüber – sie sind vielmehr im Menschen enthalten, der durch Reflexion auf diese Konzepte immer tiefere Stufen der Wirklichkeit in sich selbst finden kann.
Der Ansatzpunkt: Sinneswahrnehmung Vergleicht man die Traktate I und VI , so fällt besonders auf, dass die Frage nach dem Menschen in beiden Texten als Frage nach der Sinneswahrnehmung (aisthêsis) ⁸ Vgl. O’Daly , –. Die Echtheit des Ersten Alkibiades, die heute von einigen Forschern in Zweifel gezogen wird, stand für Plotin außer Frage. ⁹ Neben dieser auf Porphyrios zurückgehenden, systematisch inspirierten Gliederung von Plotins Traktaten in sechs Neunergruppen (griech. Enneaden) überliefert Porphyrios auch die chronologische Reihenfolge der Entstehung der Texte. Derzufolge ist Enneade VI der Traktat nr. und I der Traktat nr. (von ); wir haben es also mit einer der spätesten Überlegungen Plotins überhaupt zu tun.
Der Kosmos im Menschen
formuliert wird. Während VI mit einer Überlegung dazu anhebt, zu welchem Zweck der Schöpfergott (d.h. der Demiurg aus dem platonischen Timaios b–c und b– d, also keinesfalls der höchste der Götter) die Sinneswahrnehmung geschaffen hat, und diese Linie im Folgenden weiter verfolgt, hält Plotin diese in I direkt als den Ausgangspunkt der Frage nach dem Menschen fest: Und vorab [ist zu untersuchen], wem das sinnliche Wahrnehmen zugehört. Es ist nämlich angemessen, hiermit den Anfang zu machen, insofern die Empfindungen entweder eine Art von sinnlichen Wahrnehmungen oder zumindest nicht ohne sinnliche Wahrnehmung möglich sind.¹⁰
So wie auch in der aristotelischen Seelenlehre die Sinneswahrnehmung der typische Fall ist, an der die Definition der Seele als »erste Entelechie des natürlichen werkzeughaen Körpers« exemplifiziert werden kann – weswegen sie in De anima II –III aushrlich behandelt wird –, so ist auch r die Neuplatoniker die Sinneswahrnehmung dasjenige Seelenvermögen, an dem sich die Probleme bei der Definition des Menschen besonders klar erörtern lassen: Denn insofern er ein sinnlich wahrnehmendes Wesen ist, ist der Mensch mit dem Körper und der körperlichen Welt untrennbar verbunden. Innerhalb eines platonischen Menschenbildes, in dem prinzipiell von der Unkörperlichkeit und Ewigkeit der Seele ausgegangen wird, stellt sich in Anbetracht dieser Verbundenheit der Seele mit der Außenwelt das Problem, ob diese tatsächlich der wahre Mensch bzw. unser wahres Selbst sein kann. Das sieht Plotin sehr genau: »Somit muss der Mensch seiner sprachlich-rationalen Struktur nach etwas anderes als die Seele sein«.¹¹ Der hier mit »sprachlich-rationale Struktur« wiedergegebene logos eines Gegenstandes umfasst diejenigen r sein Sosein wesentlichen Elemente, die eine Definition möglichst treffend angeben soll; und genau hierin scheinen sich unsere Intuitionen darüber, was »wir« sind bzw. was »der Mensch« ist, von den auf die Seele zentrierten platonischen Lehrsätzen zu unterscheiden. Aufgrund dieser Probleme erwägt Plotin grundsätzlich drei mögliche Beschreibungen des Subjekts der Sinneswahrnehmung bzw. der ihr zugehörigen Empfindungen, »nämlich entweder die Seele, oder diejenige Seele, die sich eines Körpers bedient, oder ein drittes aus beiden«.¹² Ausgeschlossen bleibt bei dieser Alternative, deren Glieder gleich näher zu besprechen sind, die aristotelische Definition des Menschen als eines ¹⁰ Enn. I , , –. Übers. Tornau , , leicht angepasst. ¹¹ Enn. VI , , –. Übers. Tornau. ¹² Enn. I , , –. Übers. Tornau, leicht angepasst.
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leib-seelischen Wesens, in dessen Definition der Körper als gleichwertiges Element mit eingeht. Plotin kennt diese Definition des Menschen als etwas Zusammengesetztes nicht nur aus Aristoteles’ De anima, sondern auch aus dem Ersten Alkibiades (a– b), weist sie aber zurück, weil sie wiederum die Wesensbestimmung des Menschen, seinen logos, nicht anzugeben vermag, um den es bei der Frage nach der Definition aber gerade geht. Dieser logos, »das Mensch-Sein«, das r Plotin wie r Aristoteles mit dem »Das-Was-es-war-sein« (to ti ên einai), also dem Wesen, des Menschen zusammenfällt,¹³ ist aber nicht wie bei diesem die innere Struktur der Sache selbst (die bei körperlichen Dingen auch ihre Materie einschließt), sondern »die sprachlichrationale Struktur¹⁴ […], die etwas gemacht hat, z.B. die sprachlich-rationale Struktur ›Mensch‹«. Wenn Plotin also nach der Form (to eidos) des Menschen agt, möchte er die transzendente Wirkursache bestimmen, die im hierarchisch strukturierten Weltbild der Neuplatoniker r die Entstehung des Menschen verantwortlich ist (und in gewissem Sinn auch seine Zielursache bildet, wie noch zu erläutern sein wird). Die aristotelische Formulierung kann daher übernommen werden, aber ihr Sinn ändert sich grundlegend: Die zu definierende Form des Menschen muss eine transzendente Ursache, eben die Seele im platonischen Sinn, sein. Wie das aber zu verstehen ist, und insbesondere wie diese transzendente Form über Sinneswahrnehmung vergen soll, ist noch keineswegs klar.
Seele oder Seele-Sein? Plotin geht das Problem im Traktat I mit folgender Frage an: »Als erstes ist aber die Seele ins Auge zu fassen und zu agen, ob die Seele (hê psychê) etwas anderes ist als das Seele-Sein (to psychêi einai)«.¹⁵ Hieran fällt zunächst auf, dass Plotin sich terminologisch aus dem achten Buch von Aristoteles’ Metaphysik bedient, wo es heißt: Das Was-es-war-Sein kommt der Form und der Aktivität zu. Seele und Seele-Sein sind nämlich dasselbe, Mensch-Sein und Mensch sind hingegen nicht dasselbe, wenn nicht etwa auch die Seele Mensch genannt werden soll; so ist es aber in einer Weise, in anderer aber nicht.¹⁶ ¹³ Zu diesem Begriff bei Aristoteles vgl. jetzt Schramm , –. ¹⁴ Logos hat bei Plotin durchgängig sowohl sprachliche als auch ontologische Konnotationen, was Tornaus Übersetzung zu berücksichtigen sucht. ¹⁵ Plotin, Enn. I , , – ¹⁶ Aristoteles, Met. VIII , b –. Plotins Anspielung auf diese Stelle wird von Tornau zu Recht angegeben; sie fehlt bei Henry/Schwyzer.
Der Kosmos im Menschen
Diese Andeutung, deren Spuren sich auch in der gerade geschilderten Reflexion auf das »Was-es-war-sein« auffinden lassen, ist zunächst einmal insofern aufschlussreich, als sie zeigt, dass Plotins Nachdenken über die Seele ganz wesentlich eine Reflexion über die aristotelische Terminologie darstellt, die ihm nicht weniger geläufig ist als die platonische. Das Label Neuplatonismus darf daher nicht darüber hinwegtäuschen, wieviel nachplatonisches Gedankengut sich bei ihm auffinden lässt und seine Philosophie nicht unwesentlich prägt. Gleichwohl ist Plotins Stellung zu Aristoteles deutlich anders als seine Benutzung Platons. An unserer Stelle bestreitet er von vornherein die Richtigkeit von Aristoteles’ Aussage, indem er behauptet, dass die Seele und das Seele-Sein gerade nicht dasselbe sind, da die Seele, in Plotins Worten, »etwas Zusammengesetztes« ist. Diese Annahme erscheint ihm deswegen attraktiv, weil ein derartiger Unterschied der Seele und ihres Seins die Möglichkeit schaffen könnte, das Vorhandensein von Sinneswahrnehmung und durch sie verursachter Empfindungen in der Seele zu erklären. Bei der von Aristoteles ausgesprochenen Annahme der Identität von Seele und SeeleSein scheint dies unter Plotins Voraussetzungen nämlich nicht möglich zu sein, weil die Seele dann ganz in der Zuwendung zu sich selbst ruhen und allerhöchstens Verbindung »nach oben« haben könnte, gegenüber den Empfindungen des ontologisch »unter« ihr stehenden Körpers aber ganz unempfindlich sein müsste.¹⁷ Diese Aussage enthüllt das konzeptuelle Modell, vor dem Plotin argumentiert und das sich sowohl von den aristotelischen als auch von den platonischen Vorgaben unterscheidet. Für ihn steht es außer Zweifel, dass die Seele oberhalb des Körpers anzusiedeln und von diesem verschieden ist, während sie mit etwas über ihr Befindlichem – nämlich dem Geist (nous) und den in ihm enthaltenen Ideen – in untrennbarer Verbindung steht. Vor diesem konzeptuellen Hintergrund kann Aristoteles’ aglose Identifizierung des Seins der Seele, d.h. ihrer Aktivität, mit der Seele selbst, die daraus folgt, dass Seele zu sein nichts anderes bedeutet als lebendig zu sein, von Plotin nicht aglos übernommen werden: Denn r ihn kann sich Seele-Sein nur auf die Form der Seele beziehen, d.h. genau jene transzendente Entität, die aufgrund der gerade gegebenen Definition von Seele gar nicht mit dem Körper in Verbindung stehen kann. Wenn die Seele daher, Aristoteles’ Worten gemäß, nichts anderes ist als diese Form, ergibt sich die genannte Aporie, dass die Seele gar nichts von den körperlich vermittelten Empfindungen, einschließlich dem auf der Sinneswahrnehmung beruhenden diskursiven ¹⁷ Plotin, Enn. I , , –.
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Denken (dianoia) erleiden kann, wie Plotin zunächst genauer erläutert.¹⁸ Aristoteles’ Formulierung, so lässt sich hieran deutlich erkennen, hat r Plotin nur heuristische Bedeutung, wird aber nicht in ihrer eigenen systematischen Struktur betrachtet, die von Plotin schon aufgrund der eigenen Vorannahmen ausgeschlossen wird. Andererseits wird deutlich, dass Plotin innerhalb dieser Vorannahmen problemorientiert vorgeht, da er die Unterscheidung von Seele-Sein und Seele benutzt, um das Problem der Empfänglichkeit der Seele r körperlich verursachte bzw. vermittelte Empfindungen zu nutzen. Hieraus ergibt sich zunächst die Frage, wie die Seele denn im Körper sein soll. Hierzu findet Plotin im Ersten Alkibiades eine passende Formulierung, dass die Seele nämlich »das den Körper Gebrauchende sei« (e). Denn, so Plotin, »als den Körper wie ein Werkzeug gebrauchende ist die Seele nicht gezwungen, solche Empfindungen in sich aufzunehmen, die durch den Körper kommen, ebensowenig wie die Handwerker die Zustände ihrer Werkzeuge übernehmen«.¹⁹ Die platonische Formulierung suggeriert also eine tatsächlich bestehende Verbindung zwischen Seele und Körper, ohne dass die wesentliche Verschiedenheit beider aufgegeben werden müsste, wie es aus dem bereits abgelehnten aristotelischen Hylemorphismus folgen würde. Freilich leistet diese Einsicht kaum mehr als zu zeigen, dass die Frage nach der Natur der Seele eine wesentliche Frage rechter Platondeutung ist. Denn systematisch ist nach wie vor die entscheidende Frage unbeantwortet: »Aber wie würden in diesem Fall die Empfindungen des Körpers zur Seele gelangen?« – schließlich würde das ja heißen, dass etwas Körperliches auf die unkörperliche Seele einwirkt.²⁰ Plotin merkt nun an, dass die Trennung zwischen Körper und Seele eine philosophische Annahme sei, der im Lebewesen selbst eine Mischung beider Elemente entspreche; diese Mischung gelte es aber zu erklären, wozu ein genauerer Blick vonnöten sei.²¹ Dieser genauere Blick ergibt zunächst, dass die von Platon erwähnte »Verflochtenheit« der Seele mit dem Körper (Timaios e) nicht bedeuten muss, dass sie durch diesen etwas erleidet: »Was mit etwas anderem verflochten ist, kann von Empfindungen ei sein, d.h. die Seele kann sich überall [im Körper] aufhalten, ohne dass sie dessen Empfindungen empfindet, so ähnlich wie das Licht«.²² Plotin entwir also die Vorstellung ¹⁸ ¹⁹ ²⁰ ²¹ ²²
Plotin, Enn. I , , –. Plotin, Enn. I , , –; Übers. Tornau, leicht angepasst. Plotin, Enn. I , , –; Zitat –. Übers. Tornau, leicht angepasst. Plotin, Enn. I , , –. Plotin, Enn. I , , –. Übers. Tornau, leicht angepasst.
Der Kosmos im Menschen
einer Einheit von Körper und Seele, die nicht zugleich eine Einheit im Empfinden bzw., wie der griechische Wortstamm pathos bzw. paschein noch wörtlicher zu übersetzen wäre, im Erleiden darstellt. Daher lehnt er Aristoteles’ Vorstellung von der Seele als Entelechie ab, wie er im unmittelbaren Anschluss noch einmal betont.²³ Stattdessen sucht er nach einer eigenen Beschreibung des Zusammenwirkens beider, die sowohl der notwendigen Freiheit der Seele von körperlich vermittelten Empfindungen als auch der Wirkeinheit von Körper und Seele gerecht werden soll. Dies erweist sich jedoch einmal mehr in Anbetracht der sinnlichen Empfindungen, aber auch des Bildens von Meinungen als schwierig: Wie kann dies zustande kommen, ohne dass die Seele vom Körper her etwas erleidet?²⁴ An diesem Punkt kehrt Plotin nun, r den mit seiner Philosophie nicht vertrauten Leser vielleicht etwas überraschend, zurück zur Vorstellung des Lebewesens, das aus Körper und Seele zusammengesetzt ist, also im Grund einem aristotelischen hylemorphistischen Kompositum (to synamphoteron), das auf ganz eigene Weise mit der Seele verbunden ist: Aufgrund der Gegenwart von Vermögen ist das, was sie jeweils besitzt, in der ihnen entsprechenden Weise aktiv [...]. Wenn das aber der Fall ist, dann kann es sein, dass das Lebewesen empfindet, dass aber die Ursache des Lebens, die sich dem zusammengesetzten Lebewesen zur Verfügung stellt, währenddessen von Empfindungen frei ist, weil es sich nur um Empfindungen und Aktivitäten desjenigen handelt, was sie hat.²⁵
Plotin unterscheidet also zwischen dem im Lebewesen befindlichen Leben – das strukturell die Stelle der als Entelechie fungierenden aristotelischen Seele einnimmt – und der Seele selbst, die als dieses Leben im Körper präsent, als Ursache des Lebens jedoch vom so zustande gekommenen Lebewesen zugleich getrennt ist. Die transzendente Seele ermöglicht so das Leben desjenigen Wesens, das sie als eine ontologisch höherstehende Ursache als ganzes konstituiert; aber sie wird nicht selbst Teil der Wirkeinheit, die dieses Lebewesen bildet. Plotin entwir also ein Konzept, dass die Seinshierarchie der platonischen Tradition streng beachtet, insofern lediglich die ontologisch höherstehenden Elemente – die unkörperliche Seele – kausale Wirkung auf die niedriger stehenden ausüben können, ohne dass es möglich ist, dass sie von diesen her etwas erleiden. Plotins Bild r diese Idee des Zusammenwirkens von Körper ²³ Plotin, Enn. I , , –. Eine ausführliche Kritik an Aristoteles’ Seelendefinition liefert Plotin in Enn. IV [], ⁵. Vgl. dazu jetzt C. Tornau b. ²⁴ Plotin, Enn. I , . ²⁵ Plotin, Enn. I , , –. Übers. Tornau.
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und Seele ist das des Lichtes, das einen Raum erleuchtet, ohne dass seine Quelle mit dieser Erleuchtung identisch und damit Teil des Raumes wäre;²⁶ ebenso belebt auch die Seele den Körper, ohne dass sie mit dem in ihm befindlichen Leben identisch wäre. Hiermit hat Plotin nun endlich die Mittel gefunden, sein Eingangsproblem zu lösen: Aber wie kommt es, dass wir sinnlich wahrnehmen? Nun, weil wir von dem so verstandenen Lebewesen nicht losgelöst sind, auch wenn bei uns noch anderes, Wertvolleres vorhanden ist und in das Sein des Menschen insgesamt eingeht, das aus Vielem ist. Was aber das Wahrnehmungsvermögen der Seele betrifft, so darf es sich nicht auf die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände beziehen, sondern muss eher die Fähigkeit sein, die von der Sinneswahrnehmung aus im Lebewesen entstehenden Eindrücke zu erfassen; denn diese sind bereits geistig erkennbar (noêta).²⁷
Diese Erklärung der Sinneswahrnehmung verdeutlicht noch einmal Plotins Standpunkt zum Verhältnis von Leib und Seele: Das leibliche, beseelte und daher aus Körper und Seele zusammengesetzte Wesen und die Seele selbst sind in gewisser Weise Parallelstrukturen, die nur in vermittelter Weise miteinander zusammenwirken: Die aus der Außenwelt stammenden wahrgenommenen Eindrücke werden im Lebewesen in ganz unkörperliche Formen umgewandelt, die Plotin hier als Denkobjekte (noêta) bezeichnet. Dieser Begriff ist an dieser Stelle nicht im engen Sinn als Objekte des gleich zu besprechenden Geistes (nous) zu verstehen, sondern als solche des menschlichen Geistes, der Plotin zufolge eine »Haltung« ist, »die nur etwas vom Geist Herkommendes ist«.²⁸ Gemeint ist also die Denkfähigkeit der Seele selbst, wobei Plotin voraussetzt, dass auch diese bereits prinzipiell vom Körper unabhängig ist und die Dinge auf rein gedankliche Weise analysiert, weswegen ihr auch die Wahrnehmungsobjekte auf derartige Weise gegeben sein müssen, soll sie in der Lage sein, sie zu behandeln. Auf der Stufe dieses Denkens ist nun nicht nur die Seele, sondern, wie sich aus dem gerade angehrten Zitat auch ergibt, ebenfalls das »wir« des Menschen anzusiedeln, also der »wahre Mensch«, wie Plotin einige Zeilen später erläutert, d.h. unser eigentliches Selbst im zu Beginn erläuterten Sinn einer vom Körper ganz abgetrennten Seele. Plotin hält hierzu fest: ²⁶ Außer dem Zitat in Anm. auf Seite wird dieses Bild auch in I , , – erwähnt; weitere Stellen sind IV , , – und VI , , –. ²⁷ Plotin, Enn. I , , –. Übers. Tornau, einschließlich der Hervorhebungen. ²⁸ Plotin, Enn. I , , . Übers. Tornau.
Der Kosmos im Menschen Hier sind wir mehr als irgendwo sonst. Was hingegen vor diesen kommt, ist unser; wir, wohlgemerkt, sind das von hier aus gesehen Obere und stehen an der Spitze des Lebewesens.²⁹
Diese Identifizierung von wahrem Selbst und diskursiv denkender Seele ist in mancher Hinsicht aufschlussreich: Zum einen lässt sie die Fragerichtung von Plotins Anthropologie noch besser erkennen, insofern es diesem nicht einfach um eine möglichst umfassende Charakterisierung des Menschen geht, sondern darum, den Aspekt des menschlichen Daseins herauszuarbeiten, der r den Menschen als Menschen konstitutiv ist – nämlich seine Existenz als rationales Wesen. Damit erweist es sich zudem als nicht zufällig, dass die Frage nach dem Menschen und die nach dem Selbst r Plotin zusammenfallen: Denn die Frage nach dem Selbst zielt ja niemals nur auf das ab, was wir bereits sind, sondern auf die uns offenstehenden Möglichkeiten, zu sein. Die Frage nach dem Menschen hat also r Plotin insofern eine existenzielle Dimension, als sie r jeden Menschen die Frage nach der eigenen Existenz ist, die niemals voll eingeholt ist, prinzipiell aber durchaus eingeholt werden kann. Trotz aller Auseinandersetzung mit der Sinneswahrnehmung als einem typischen Zug des körperlich verfassten Menschen verweist Plotins Ansatz damit auf ein Leben in Rationalität als die r den Menschen ideale Lebensform.
Das Verhältnis der Seele zum Geist Aus dieser Feststellung heraus verschiebt Plotin sein Frageinteresse von der zur körperlichen Welt hingewandten Sinneswahrnehmung hin zur Verbindung der Seele zu den höheren Hypostasen, zum Geist und zum Einen. Der entsprechende Abschnitt aus der Enneade I verdient es, als ganzes zitiert und erklärt zu werden: Und wie verhalten wir uns zum Geist? [...] Nun: Auch diesen haben wir, und zwar oberhalb von uns. Wir haben ihn aber entweder gemeinsam oder jeder für sich allein [...]: gemeinsam, weil er unteilbar und eins und überall derselbe ist, für sich allein, weil ihn trotzdem jeder in seiner ersten Seele ganz besitzt. Mithin besitzen wir auch die Formen auf zwei Arten, in der Seele quasi entwickelt und quasi voneinander separat, im Geist dagegen alle auf einmal (homou ta panta). Und den Gott, inwiefern besitzen wir ihn? Nun: insofern er auf der geistig erkennbaren Natur, d.h. auf dem wirklichen Sein, aufsitzt; und wir sind von dort aus gesehen das dritte [nämlich hinter dem Gott und dem Geist].³⁰ ²⁹ Plotin, Enn. I , , –. Übers. Tornau, einschließlich der Hervorhebungen. ³⁰ Plotin, Enn. I , , –. Übers. Tornau, leicht angepasst.
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Plotin geht hier zunächst auf den Geist (nous) ein, d.h. auf die Welt der reinen, von der Materie eien Formen bzw. der platonischen Ideen. Sie werden von Plotin, u.a. im Anschluss an die Geistlehre des Peripatetikers Alexander von Aphrodisias, als Objekte und Bestandteile eines Geistes verstanden, die zueinander in der Weise eines ewigen Denkens und Gedacht-Werdens stehen und gerade als Denken das wahre Sein ausmachen, weswegen Plotin an anderer Stelle auch vom »seinshaen Denken« spricht.³¹ Die Aussage, dass »wir« (bzw. jeder von uns) den Geist in den höchsten Teilen seiner Seele ganz besitzen, bedeutet also wesentlich mehr als dass der Mensch zum Denken in der Lage ist. Vielmehr meint Plotin, dass in der Seele des Menschen die gesamte Welt der Ideen in ihren ewigen Relationszusammenhängen in gewisser Weise vorhanden ist, d.h. dass das vollständige Sein und die vollendete Wahrheit ihr komplett zugänglich sind. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass der Geist in seiner ewigen und umfassenden Natur selbstverständlich nicht schlechthin Teil eines sterblichen Wesens wie des körperlichen Menschen sein kann. Denn zum einen ist dessen Seele ja selbst Teil der unsterblichen Welt oberhalb unserer Alltagserfahrung, in die sie nur immer wieder eintaucht, um Körper zu beseelen; und andererseits stellt die Universalität und Einheit des Geistes r Plotin keinen Widerspruch zu seinem Vorhandensein in jedem einzelnen menschlichen Individuum dar. Vielmehr bildet der Geist ein Kontinuum verschiedener Denksubjekte und –objekte, die miteinander verbunden und aufeinander verwiesen sind wie die verschiedenen Teile einer Wissenscha³² und sich zudem in einer steten, überzeitlichen Bewegung befinden, die Plotin im Traktat VI als ein »Umherwandern in der Ebene der Wahrheit« beschreibt.³³ Diese Einheit und Vielheit des Geistes findet ihre tiefste Begründung in der Erkenntnis, dass auch in dem einen Akt des Denkens (noêsis), den der Geist immer ausübt, der Unterschied von Denksubjekt und Denkobjekt zumindest analytisch immer noch ermittelbar bleibt, weswegen auch eine Erkenntnis des eigenen Selbst r den Geist kein Problem bereitet, da er in seinem ununterbrochen aktuellen Denken stets eine Einheit von Denkendem und Gedachtem ist, die sich aber immer noch unterscheiden lassen. Aus dieser Logik heraus kann die Selbsterkenntnis des Geistes als systematische Grundlage der neu-
³¹ Plotin, Enn. V , , ; vgl. Beierwaltes , –. ³² Vgl. zu diesem Bild Tornau . ³³ Plotin, Enn. VI , , –.
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platonischen Anthropologie verstanden werden, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe.³⁴ Insofern das menschliche Denken von einer Idee zur anderen voranschreitet und dabei auch Irrtümern erliegen kann, entspricht dies nicht der eigentlichen Natur des Denkens, auch nicht desjenigen der Seele, sondern resultiert aus der Verbindung der Seele mit der Sinneswahrnehmung und der Vorstellungskra (phantasia). Erst diese Verbindung hrt zu der defizienten Form des Denkens, die r unser Alltagsbewusstsein typisch ist; Plotin bezeichnet sie im Unterschied zum Geist als »diskursives Denken« (dianoia) oder »Meinen« (doxa).³⁵ Dass diese Arten des Denkens unser alltägliches Bewusstsein prägen, ist der Grund dar, dass wir das in uns befindliche geistige Denken in der Regel nicht auffassen können. »Wir sind mit dem geistig Erkennbaren im Geist bzw. in uns selbst entweder in Berührung oder wir sind es nicht; es ist ja möglich, dass man es gleichzeitig hat und nicht greifbar hat.«³⁶ Mit dieser Annahme rechtfertigt Plotin bewusstseinstheoretisch seine persönliche Ansicht, dass ein Element unserer Seele stets oben, d.h. in direkter Verbindung mit dem Geist, bleibt. Hierbei handelt sich um eine dezidierte Sondermeinung Plotins, die unter den übrigen Platonikern schon vor ihm kaum Anhänger hatte,³⁷ was sich in der Folgezeit nicht änderte.³⁸ Für Plotins Denken ist sie jedoch essentiell: Erst durch die Verbindung der Seele zum Geist wird deutlich, dass die Seele gerade nicht lediglich eine Form in einem körperlichen Wesen darstellt, die mit dessen Körper wesenha verbunden ist. Vielmehr ist die Seele der Ort, an dem alle Elemente der gesamten Wirklichkeit versammelt sind und einander begegnen. Dem Menschen ist es daher prinzipiell möglich, sich auf die Stufe jedes Objekts dieses Kosmos zu begeben und auf dessen Weise aktiv zu sein.
³⁴ Vgl. v.a. Plotin, Enn. V , übersetzt und erläutert von Beierwaltes . Dazu Emilsson , –, und Perkams , – mit weiterer Literatur. ³⁵ Plotin, Enn. I , , –. Gemeint sind die zugrundeliegenden Vermögen, was aufgrund der Ambiguität der verwendeten Begriffe nicht so klar ist wie beim Geist. ³⁶ Plotin, Enn. I , , –, Übers. Tornau. ³⁷ Einschlägig ist v.a. IV , , –: »Und wenn es entgegen der Meinung der anderen nötig ist, das richtig Erscheinende ganz klar auszusprechen zu wagen, so ist auch unsere Seele nicht ganz eingetaucht, sondern etwas von ihr ist immer im Geistigen«, meine Übers. ³⁸ Zur Kritik an Plotin in diesem Punkt s.u. Abschnitt auf Seite .
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Der Aufstieg zum Einen Dies lässt sich besonders gut erläutern, wenn man sich »den Gott« vor Augen hält, den wir laut dem eben zitierten Text ebenfalls »besitzen«, und zwar »insofern er auf der geistigen Natur, d.h. auf dem wirklichen Sein, aufsitzt«. Diese Charakterisierung zeigt, dass Plotin hier nicht den Geist meint (den er und andere Neuplatoniker auch gelegentlich als Gott bezeichnen), sondern die absolute Spitze der hierarchisch gestuften Wirklichkeit, das Eine. Denn während das unveränderbare Denken des Geistes r Plotin eben das wirkliche Sein ist, steht das Eine »jenseits des Seins« (nach Plat. Pol. b –): »Es ist also nichts von dem, was ist, und alles – nichts, weil alles, was ist, erst nach ihm da ist; alles, weil alles aus ihm ist«.³⁹ Anders gesagt, »ist« das Eine insofern nicht mehr, als es als nichts Einzelnes bestimmt ist;⁴⁰ vielmehr übersteigt es alles Bestimmte so, dass über es in keiner Weise positive Aussagen getroffen werden können; einzig die Negation bleibt daher als Bestimmungsweise des Einen übrig.⁴¹ Für die Seele bedeutet diese Verbindung, dass ihr letzter Grund ihren normalen Erkenntnismodi nicht mehr zugänglich ist. Will die Seele daher das Eine in ihr, d.h. ihre höchste Spitze, ergreifen, dann ist dies selbst auf dem Wege geistigen Denkens nicht mehr möglich. Über dieses hinaus muss sie zu einer Negation ihrer selbst bzw. des Seins insgesamt vorstoßen bzw. aus sich selbst heraustreten – also eine »Ekstase« (ekstasis)⁴² vollziehen. Diese Einsicht in einen denkerisch nicht mehr positiv erreichbaren Kern des Menschen wird so zum Ansatzpunkt r die sogenannte neuplatonische »Mystik«, die nichts anderes meint als die Einswerdung des Menschen mit dem Einen.⁴³ Eine eindrucksvolle Schilderung des hierr nötigen Aufstiegs liefert Plotin im Traktat VI : Ausgangspunkt der Argumentation ist hier der Begriff des Guten, der aufgrund von Platons Aussagen in Politeia a–b mit dem des Einen als synonym angesehen wurde. Anhand seiner beantwortet Plotin die Frage nach dem ³⁹ Plotin, Enn. VI , –, Übers. Tornau. ⁴⁰ Die Gleichsetzung von »sein« und »existieren« findet sich in der griechischen Philosophie kaum, sondern verdankt sich dem Denken der monotheistischen Religionen. Der Unterschied von Existenz und Essenz hat namentlich über die Rezeption der Metaphysik aus Avicennas Buch der Genesung Eingang in die westliche Philosophie gefunden. Vgl. besonders Avicenna, Metaphysik I (I, , –, Madkur; dt. Avicenna , –) und VIII (II, , –, Madkur; dt. Avicenna , –). ⁴¹ Zur Rolle des Einen bei Plotin vgl. Tornau , –; Halfwassen , –. ⁴² Der Begriff wird von Plotin in Enn. VI , , für diese Erfahrung benutzt. ⁴³ Vgl. die aufschlussreichen Überlegungen bei Tornau , – und Halfwassen , –.
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Grund des Strebens der Seele über sich selbst hinaus. Denn schon wenn sie sich dem reinen Denken des Geistes zuwendet, ist dies keine Selbstverständlichkeit, sondern lässt sich nur erklären, wenn der Geist im Lichte eines ihn erleuchtenden Gutes als erstrebenswert erscheint. »Denn seine Schönheit ist untätig, solange sie nicht das Licht des Guten erhalten hat«.⁴⁴ Dieser Lichtglanz, der allen Dingen vom Guten her zukommt, ist die Ursache r jedes Liebesstreben (erôs).⁴⁵ Dass der Geist selbst nicht das Ziel dieses Strebens sein kann, enthüllt sich eilich nicht dem diskursiven Nachdenken, sondern es wird gerade der Seele deutlich, die das geistige Denken bereits erlangt hat und sich auf seiner Stufe befindet. Denn sobald sie dieses Ziel erreicht hat, stellt sie fest, noch nicht das Gute erlangt zu haben, das durch seinen inneren Wert die Schönheit und Anziehungskra des Geistes ausmacht. Denn dessen Inhalte, die Ideen, sind immer noch in gewisser Weise bestimmt und somit voneinander abgrenzbar, so dass keine von ihnen dasjenige sein kann, was ihnen allen ihre Güte und Anziehungskra verleiht. Dieses muss vielmehr etwas sein, das sich gerade durch Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit auszeichnet. Das Ziel des Strebens entzieht sich also jeder konzeptuellen Fassung: Denn hier ist die Liebe nicht begrenzt, weil das Geliebte es genausowenig ist, sondern die Liebe zu so etwas kann nur unendlich sein. Und so ist auch seine Schönheit auf eine andere Weise zu verstehen: als Schönheit über der Schönheit.⁴⁶
Mit dieser Beschreibung des Guten als Objekt der grenzenlosen Liebe hrt Plotin diesen Begriff eng an die neuplatonische Beschreibung des Einen heran, das sich ja eben – als ein Begriff reiner Transzendenz – vor allem Seienden, d.h. Bestimmten auszeichnet, während es selbst keiner positiven Prädikation mehr zugänglich ist. Erst durch die Verbindung mit der Lehre vom Eros erhält dieses Konzept eilich volle philosophische Signifikanz, insofern das Eine nicht nur als metaphysisches Konzept von Transzendenz Bedeutung erlangt, sondern den Menschen in seiner eigenen Seele als letzter Motivationsgrund des Anstiegs existenziell berührt. Insofern verdeutlicht gerade Plotins Beschreibung des Aufstiegs der Seele zum Einen, dass Plotins Metaphysik von seiner Anthropologie nicht trennbar ist: Der von ihm beschriebene Kosmos ist nichts anderes als die Innensicht der menschlichen Seele, die in sich selbst verschiedene Modi größerer Vollkommenheit finden und zu ihnen aufsteigen kann. ⁴⁴ Plotin, Enn. VI , –; Zitat , f. Übers. Tornau, leicht geändert. ⁴⁵ Dazu besonders C. Tornau a, –. ⁴⁶ Plotin, Enn. VI , , –. Übers. Tornau.
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Heute kann uns dieses Konzept vielleicht in mancher Hinsicht sehr emd vorkommen: Weder steht bei Plotin der leib-seelisch verfasste Mensch im Mittelpunkt des Interesses, noch wird auf dessen Individualität und Unwiederholbarkeit großer Wert gelegt. Das Ziel der Anthropologie besteht vielmehr darin zu beschreiben, wie der Mensch seine unbeiedigende Situation in einer ihm äußerlichen Welt verstehen und überwinden kann, und zwar mit dem Ziel und um den Preis, dass Leiblichkeit und Individualität überwunden werden zugunsten einer absoluten Entgrenzung des Ich, in der dieses vom Kern aller Dinge nicht mehr trennbar ist. Insofern ist die von Plotin geschilderte mystische Erfahrung eigentlich keine Vervollkommnung der Person, sondern deren Aufhebung in die Vollkommenheit hinein – und stellt somit ein radikales Gegenmodell gegen eine Anthropologie der Person als Individuum dar.⁴⁷
Schuld und Bestrafung Eine solche Anthropologie steht aber auch in Plotins Augen vor einem schwierigen Problem, wie er selbst in der Fortsetzung des Traktats I deutlich macht: Wenn man davon ausgeht, dass der Mensch durch sein Seele-Sein definiert wird, das selbst letztlich geistig und unkörperlich ist, dann stellt sich die Frage, wie der so definierte Mensch überhaupt empfänglich r ein Erleiden und r Strafen werden kann. Diese Frage hrt in gewisser Weise zum Ausgangsproblem des Traktats I zurück, nämlich der Frage, wie der Mensch sinnliche Eindrücke erfahren kann, die ja in gewisser Weise auch ein Erleiden darstellen, insofern die Seele sich rezeptiv gegenüber der körperlichen Welt verhält. Der Druck dieses Problems hrt Plotin zunächst zu einer neuen, differenzierteren Formulierung der Definition des Menschen. Ausgehend von der Feststellung, dass »wir ja auch von dem, was unser Körper erleidet, sagen, dass wir es erleiden«, gibt Plotin folgende Definition: Das wir ist also etwas Zweifaches – entweder es wird das Tier mit dazugerechnet, oder es ist nur das, was bereits über diesem steht. D.h. das Tier ist der mit Leben versehene Körper; der wahre Mensch ist dagegen etwas anderes,⁴⁸
nämlich derjenige, der bereits während seiner körperlichen Existenz ein differenziertes Verhältnis zu dieser gewonnen und somit in gewissem Sinne die geistige Existenz ⁴⁷ Hierauf weist insbesondere Tornau , hin; vgl. auch Remes , –. ⁴⁸ Plotin, Enn. I , , –. Übers. Tornau inkl. der Hervorhebung, leicht geändert.
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bereits erreicht hat, so dass seine Seele schon vom Körper »abgetrennt (chôristê) ist, wenn sie noch hier ist«.⁴⁹ Der Mensch wird also als Wesen aufgefasst, das in einem fundamentalen Zwiespalt lebt, insofern ihm zweierlei Existenzweisen innewohnen, nämlich neben der Existenz als Seele, die vom Körper getrennt ist und den Aufstieg zum Geist und zum Einen vollziehen kann, auch eine Existenz als körperliches Wesen, die r Plotin eilich von vornherein ethisch negativ konnotiert ist, insofern sie einer tierhaen, nicht wirklich – und das heißt nur scheinbar – menschlichen Existenz entspricht.⁵⁰ Von dieser Grundlage ausgehend, kann Plotin die Frage nach dem Erleiden verschärfen und sich dem Problem zuwenden, wie es möglich sein kann, dass der Mensch Strafen erleidet, wie auch die griechische Mythologie mit ihrer Annahme eines Abstiegs in den Hades vorsieht.⁵¹ Einen Widerspruch zu seiner Theorie sieht er mit dieser Annahme allerdings nicht gegeben, denn die Seele wird im Hinblick auf ihre Bestrafbarkeit in einer anderen Hinsicht betrachtet als hinsichtlich ihrer eigentlichen Existenz: Das Argument, das der Seele Fehlerlosigkeit zuschreibt, setzte sie als Eines, in jeder Hinsicht Einfaches an, wobei es die Seele und das Seele-Sein als identisch bezeichnet, während das Argument, das ihr Fehler zuschreibt, eine andere Form von Seele, die die ungeheuren Empfindungen hat, mit ihr verknüpft und ihr hinzusetzt.⁵²
Plotin schließt hier also den zu Beginn des Traktats eröffneten Kreis, indem er die anfänglich gestellte Frage, ob Seele und Seele-Sein identisch sind, aufgrei und nun differenziert beantwortet: Insofern die Seele mit ihrem to ti ên einai, ihrem Das-wassie-war-Sein, identisch ist, ist sie eine rein unkörperliche Form, die beständig mit dem Geist verbunden ist und zum Einen hin aufsteigen kann. Insofern beide verschieden sind, ist mit Seele etwas anderes gemeint, nämlich die belebende Form (eidos) des aus Leib und Seele zusammengesetzten Wesens, das folglich Empfindungen (pathê) hat und deshalb auch dem Erleiden (paschein) unterworfen ist; denn ebenso wie die Empfindungen ist auch das Erleiden nur durch ein passives Verhalten gegenüber der körperlichen Außenwelt möglich. ⁴⁹ Plotin, Enn. I , , f. Übers. Tornau, leicht geändert. ⁵⁰ Dass Menschen durch ein schlechtes Leben wieder zu Tieren werden können, ist in der Antike eine verbreitete Annahme. Ein deutliches Beispiel ist Cicero, De officiis I, . ⁵¹ Plotin, Enn. I , , –. ⁵² Plotin, Enn. I , , –.
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Die Verbindung dieser beiden Seelendefinitionen ergibt sich dadurch, dass die zweite, im Körper befindliche Art von Seele als eine Hinzusetzung (prosthêkê)⁵³ zur eigentlichen Seele verstanden wird, eine Ergänzung, die nicht zu ihrer eigentlichen Natur gehört. Plotin spricht auch von einer »Erleuchtung« (ellampsis) der Seele, insofern sie vermittels dieser anderen Seelenart einen Körper »erleuchtet«, d.h. ihm von ihrem eigenen Gut mitteilt. Aus diesem Grund sei das Existieren dieser Erleuchtung, die zum Bösen fähig ist, auch an sich nichts Schlechtes, sondern es gehöre zu ihrer Aufgabe als Seele.⁵⁴ Im Hintergrund dieser Überlegung steht die neuplatonische Seinshierarchie mit der mit ihr verbundenen Ursachenlehre, der zufolge das Eine die Wirklichkeit stufenweise scha, so dass immer die nächsthöhere Stufe der niedrigeren ihre spezifische Existenzweise und ein entsprechendes Gutsein verleiht. Während dies bei der Erschaffung des Geistes durch die Seele gut funktioniert, scheitert es beim Übergang von der Seele zur körperlichen Welt: Zwar belebt und vervollkommnet die Seele diese, doch so, dass etwas von ihr, d.h. die den Körper belebende Erleuchtung, in gewisser Weise Teil dieser Welt wird und von ihren Unvollkommenheiten etwas erleiden kann.⁵⁵ Insofern dies aber nicht die Seele selbst betreffen kann, die ihre Vollkommenheit vom Geist erfahren hat und damit von körperlichen Einflüssen nicht zu berühren ist, muss Plotin annehmen, dass das leidensfähige Lebensprinzip unseres Körpers etwas anderes ist als die Seele selbst, ohne doch aufzuhören, Seele zu sein. Zugleich sichert er sich auch systemintern gegenüber dem Vorwurf ab, eine Trennung in die Seele einzuhren – denn eine höhere Seinsform wie die Seele ist nach neuplatonischem Verständnis stets weiterhin in der von ihr verursachten präsent und eines mit dieser.⁵⁶
Zusammenfassung Im Ergebnis erweist sich Plotins Anthropologie somit als komplexes Verschränkungsverhältnis verschiedener Arten des Mensch- und des Seele-Seins: Damit wird die Seele selbst zu etwas Zusammengesetztem, d.h. zu dem, was aus allen Seelenformen zusammen besteht, und ist demnach als ganzes Empfindungen ⁵³ Der Begriff fällt in Plotin, Enn. I , , . ⁵⁴ Plotin, Enn. I , , –. ⁵⁵ Das ist die Interpretation von Plotins eorie des Bösen in Schäfer , die vielleicht in Enn. I , einen ihrer stärksten Belege finden kann. ⁵⁶ Vgl. Remes , besonders –.
Der Kosmos im Menschen unterworfen. Dieses Zusammengesetzte macht die Fehler, und dieses ist es, was nach Platon Strafe verbüßen muss, nicht das andere [d.h. die Seele als solche].⁵⁷
Das Entlanggehen am Text der Enneade I hat gezeigt, wie diese Aussage zu verstehen ist: Zum Einen ist die Seele eine transzendente, unsterbliche, nicht leidensfähige und ganz unkörperliche Entität, die stets mit dem Geist verbunden ist und von ihrem Liebesstreben bis zu einer mystischen Union mit dem Einen bzw. Guten emporgehrt werden kann; zum anderen ist sie durch ihre Wirkungen ein Lebensprinzip des Körpers und als solches Teil eines insgesamt leidensfähigen Lebewesen. Anders gesagt, ist die Seele der gesamte Kosmos, bzw. der gesamte Kosmos ist in der Seele. Von daher ergibt sich die Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten der Seele, die Plotin durch die Formulierung ausdrückt, dass die Seele in der Mitte steht und sich nach oben oder unten wenden kann. Die so gerechtfertigte Vielfältigkeit des Seelischen, seine Mittelstellung und seine Verwiesenheit auf den Kosmos waren wohl die Ursache r das eingangs geschilderte Phänomen, das Plotin wohl expliziter als alle anderen antiken Denker die Grundage der Anthropologie stellt, was der Mensch ist bzw. was er wirklich ist – aus den vielen Möglichkeiten, die sich dadurch ergeben, dass er als rationale Seele in gewisser Weise alles ist bzw. alles werden kann. Wo der ganze Kosmos im Menschen ist, wird der Ort des Menschen im Kosmos aglich.
Ausblick Nach Plotin hatte die von ihm begründete neuplatonische Philosophie noch eine jährige Geschichte im griechischen Sprachraum und wurde dort die dominierende Philosophenschule. Vermittelt durch Gestalten wie Augustinus, Boethius und Pseudo-Dionysios Areopagita hat sie das westliche Denken bis heute zutiefst geprägt. Damit wurde auch Plotins Anthropologie und seine Deutung der platonischen Seelenlehre ein Teil des geistigen Erbes Europas. Es ist jedoch ein bemerkenswertes Faktum, dass gerade auf diesem Gebiet bereits die antiken Neuplatoniker ihrem Lehrer weniger getreu folgten, als sie das auf den meisten anderen Feldern philosophischen Nachdenkens taten. Denn im Gefolge von Jamblich, einem Schüler von Plotins Schüler Porphyrios, wandten sie sich einhellig gegen Plotins Vorstellung, dass etwas von der Seele immer ⁵⁷ Plotin, Enn. I , , –.
Matthias Perkams
im geistigen Bereich bleibe. Vielmehr gehe die Seele, wenn sie einen Körper belebe, als ganze in eine zumindest funktionale Einheit mit diesem ein, so dass ihr nicht die Möglichkeit geistigen Denkens oder der Vereinigung mit dem Einen zukomme, sondern bestenfalls Aktivitäten, die an derartiges heranreichen, nicht aber mit ihm identisch sind.⁵⁸ Die Seele war auf diese Weise wieder in den Kosmos eingeordnet, nicht dieser insgesamt in der Seele zu finden. Im Zusammenhang damit wurde ferner angenommen, dass der vom Guten angeregte Eros der Seele selbst nicht ausreichte, um die Vereinigung mit dem Einen zu erlangen; dies müsse vielmehr durch gewisse kultische Praktiken, die sogenannte Theurgie, erreicht werden.⁵⁹ Diese Neudeutung der Rolle der Seele bedeutete zugleich auch einen Wechsel des anthropologischen Paradigmas im engeren Sinne: Denn während bei Plotin ja auch und gerade die Rolle der Seele im Körper unklar blieb, war diese in der neuen Konzeption insofern festgelegt, als eine völlige Loslösung der Seele vom Körper während des Lebens in ihm nicht mehr in Frage kam. Das bereitete allerdings einige philosophische Probleme, da ja zugleich die transzendente Stellung der Seele nicht ganz aufgegeben werden sollte. Aus diesem Grund nahm Proklos (–) an, dass die Seele ihrem Sein nach immateriell und unveränderlich sei, obwohl die Aktivität ihrer meisten Vermögen mit dem Körper verbunden sei. Dagegen zog der von Jamblich beeinflusste Aristoteles-Kommentator Priskian von Lydien (um ) den radikaleren Schluss, dass die im Körper befindliche Seele auch in ihrem Sein nicht ganz unveränderlich sein könne, da die in ihr vorhandene Einheit geistiger Inhalte gegenüber dem reinen Geist gelockert sei. Mithilfe der zusätzlichen Annahme, dass wir neben unserem Alltagsbewusstsein auch eine Art ideales Selbst besitzen, das sich mit diesem verändert, formulierte er das spätneuplatonische Modell in einer Weise aus, die ebenso wie Plotins Darstellung die Dramatik und Dynamik der menschlichen Existenz verdeutlichte, ohne aber anzunehmen, dass der Mensch seine Körperlichkeit jemals völlig verlassen kann.⁶⁰ Im Ergebnis dieser verschiedenen Entwicklungen und Konzeptionen erbte die spätere Anthropologie von den Neuplatonikern ein außergewöhnlich spannungsgeladenes Bild des Menschen, der einerseits an die körperliche Welt gebunden und andererseits ihr gegenüber transzendent ist, so dass seine Lebenshrung darin besteht, um die Einheit mit sich selbst zu ringen. Plotins Idee, dass es im Menschen ein niemals ⁵⁸ Vgl. dazu Steel , –; Perkams , besonders –; –; –. ⁵⁹ Vgl. dazu C. Tornau a; van den Berg , –. ⁶⁰ Ich habe dieses Modell in Perkams ausführlich vorgestellt.
Der Kosmos im Menschen
verlorengehendes gutes Element gibt, konnte sich zwar bei den antiken Platonikern nicht durchsetzen. Dar wurde sie in veränderter Form von den mittelalterlichen Christen aufgegriffen, die von hier die Ideen des Urgewissens, der sogenannten Synderesis (syntêrêsis), oder des mystisch zu erreichenden Seelennkleins gewannen. Auf diese Weise blieb Plotins Idee einer Selbstvervollkommnung durch Überschreiten des Denkens hin zum Unbestimmten bis heute eine Triebkra r die Radikalität mit der uns die Grundage der Anthropologie begegnet: Was ist der Mensch – nur ein Stück Materie oder nicht doch ein transzendentes Wesen im Fleische?
Literatur Quellen Der sehr schwierige Text von Plotins Enneaden ist zweimal gemeinsam von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer herausgegeben worden. Die aktuellste und preisgünstigste Edition, die auch hier zugrundegelegt wurde, ist die Editio minor. Die ältere Editio maior ist daneben wegen ihrer alternativen Textgestaltung und ihres ausführlichen Apparats für die Forschung weiterhin unentbehrlich. Zu den Schriften des Proklos vgl. die Übersicht der Textausgaben bei van den Berg , –. Zu weiteren Übersetzungen vgl. Beierwaltes . Avicenna. Die Metaphysik Avicennas. Enthaltend die Metaphysik, eologie, Kosmologie und Ethik. Übers. und erläut. von Max Horten. (Das Buch der Genesung der Seele. Eine philosophische Enzyklopädie Avicennas II. ). Halle und New York . Philoponus, Johannes. Commentaria in Aristotelem Graeca. Bd. : In Aristotelis De anima libros commentaria. Hrsg. von Michael Hayduck. Berlin . (Zitiert als In De an.). Plotin. Opera. Hrsg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer. Bde. Paris, Brüssel und Leiden –. (Zitiert als Editio maior). —— Opera. Hrsg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer. Bde. Oxford –. (Zitiert als Editio minor). —— Schriften. Übers. von Richard Harder. Bde. Neubearbeitet mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, fortgeführt von Rudolf Beutler und Willy eiler. Hamburg –. [Ps.]-Simplicius [i.e. Priscianus Lydus]. Commentaria in Aristotelem Graeca. Bd. : In libros Aristotelis De anima commentaria. Hrsg. von Michael Hayduck. Berlin . (Zitiert als [In De an.]). Simplicius. Commentaria in Aristotelem Graeca. Bd. : In Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria. Hrsg. von Hermann Diels. Berlin . (Zitiert als in Phys.).
Matthias Perkams
Hinweise zur weiteren Lektüre Als Einstieg in Plotins Denken empfehlen sich – wie bei jedem Denker – in erster Linie seine eigenen Texte, die freilich etwas Einarbeitung erfordern. Eine repräsentative Auswahl sowie die prägnanteste Einleitung zu Plotin in deutscher Sprache findet sich in Plotin. Ausgewählte Schriften. Hrsg., übers. und komm. von Christian Tornau. Stuttgart . Darüber hinaus sind zur Vertiefung der hier vorgestellten Fragestellung nützlich: Emilsson, Eyjólffur (). Plotinus on Intellect. Oxford. Halfwassen, Jens (). Plotin und der Neuplatonismus. München. Perkams, Matthias (). Selbstbewusstsein in der Spätantike. Die neuplatonischen Kommentare zu Aristoteles’ De anima und das Problem der Selbsterkenntnis. Berlin und New York. Remes, Pauliina (). Plotinus on Self. e Philosophy of the ‘We’. Cambridge.
Weitere zitierte Literatur Arlt, Gerhard (). Philosophische Anthropologie. Stuttgart. Beierwaltes, Werner (). Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V . Text, Übersetzung, Interpretation, Erläuterungen. Frankfurt. Gerson, Lloyd P. (). Plotinus. London und New York. Matzker, Reiner (). Anthropologie. München. O’Daly, Gerard J. P. (). Plotinus’ Philosophy of the Self. Shannon. Schäfer, Christian (). Unde malum. Die Frage nach dem Woher des Bösen bei Plotin, Augustinus und Dionysius. Würzburg. Schramm, Michael (). Die Prinzipien der aristotelischen Topik. München. Steel, Carlos G. (). e Changing Self. A Study on the Soul in Later Neoplatonism. Iamblichus, Damascius and Priscianus. Brüssel. Tornau, Christian (a). »Eros versus Agape? Von Plotins Eros zum Liebesbegriff Augustins«. In: Philosophisches Jahrbuch , S. –. —— (b). »Plotinus’ Criticism of Aristotelian Entelechism in Enn. IV [], , –«. In: Studi sull’anima in Plotino. Hrsg. von Riccardo Chiaradonna. Napoli, S. –. van den Berg, Robert M. (). Proclus’ Hymns. Essays, Translations, Commentary. Leiden u. a.
Joachim Söder
Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa Historischer Kontext Wenn philosophische Anthropologie gemäß der ursprünglichen Wortbedeutung eine vernungeleitete Untersuchung (logos) darüber sein will, was den Menschen als Menschen (anthrôpos) ausmacht, wenn sie sich also – antik gedacht – mit der Natur oder dem Wesen des Menschen beschäigt, dann düre die erste im engeren Sinne philosophische Schri, die explizit diesen Anspruch im Titel hrt, die Abhandlung »Über die Natur des Menschen« (Peri physeôs anthrôpou) des Nemesios von Emesa sein.¹ Nemesios will eine umfassende philosophische Theorie des Menschenseins vorlegen, die weder auf die ›äußere Natur‹ beschränkt ist, noch sich mit einer bloßen Lehre vom ›inneren Menschen‹ begnügt. Es geht ihm – mit einem Titel Max Schelers – um ›die Stellung des Menschen im Kosmos‹, wobei ›Kosmos‹ natürlich nicht das Weltall der Astronomie, sondern ein universales Ordnungsgege meint.² Alles, was wir über den Autor wissen, ist aus diesem meist lateinisch als De natura hominis (DNH) zitierten Werk erschlossen. Die Überschri nennt Nemesios, den christlichen Bischof von Emesa, als Verfasser. Emesa, das heutige Homs, liegt in Syrien am Oberlauf des Flusses Orontes. Berühmt war die Stadt in der Antike wegen des dortigen Elagabal-Kults. Mehrere römische Kaiser, von Caracalla bis Severus Alexander, stammen aus der Priesterkönigsdynastie von Emesa. Auch der Neuplatoniker Iamblichos ist, wenn die Angaben bei Photios stimmen, Nachkomme dieser Familie.³ Auf Grund der in DNH erwähnten Personen lässt sich der Autor historisch in etwa einordnen. Besonders aussagekräig ist die namentliche Nennung der beiden christlichen Häretiker Eunomios und Apollinaris. Deren gegensätzliche christologi¹ Allerdings sind im Corpus Hippocraticum und von Galen Schriften zur Natur des Menschen überliefert. Vgl. hierzu in diesem Band Kapitel zur Medizin. ² Vgl. Kallis . ³ Photius, Bibliotheca MS , a (Damascii Vita Isidori). Vgl. Fowden , Anm. .
Joachim Söder (). »Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa
sche Lehren wurden beide auf dem ersten Konzil von Konstantinopel verurteilt. Der eine – Apollinaris – starb um , der andere – Eunomios – etwa /. Die Verurteilung der Lehren des Origenes in Alexandrien und in Rom dagegen scheint Nemesios nicht zu kennen. Da Nemesios keine Personen und Lehrmeinungen erwähnt, die eindeutig dem . Jahrhundert zuzuordnen sind,⁴ wird die Schri – und damit der Autor – auf das Ende des . Jahrhunderts datiert.⁵ Die Schlusskapitel von DNH zeigen im Unterschied zu den wohlkomponierten Anfangskapiteln einige Unebenheiten, so dass ihnen möglicherweise die Endredaktion fehlt. Wenn dem so ist, dann düre Nemesios also vor der endgültigen Vollendung seines Werkes, d.h. gegen , gestorben sein. Zu seinen Zeitgenossen zählen demnach Augustinus, Johannes Chrysostomos, die kappadokischen Kirchenväter Basileios, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz, aber auch die Philosophen Plutarch von Athen, Synesios von Kyrene und der Rhetor Libanios. Aus dem Briefcorpus Gregors von Nazianz ist ein Statthalter von Kappadokien bekannt, der Nemesios hieß, und mit dem Gregor sich austauschte.⁶ Der Mangel an gesicherten Fakten zu Nemesios von Emesa hat der Vermutung Vorschub geleistet, dass es sich bei dem Verfasser von Peri physeôs anthrôpou um den zum Bischof aufgestiegenenen ehemaligen Verwaltungsbeamten gehandelt haben könnte.⁷ Der Reiz dieser Vorstellung würde noch dadurch gesteigert, dass Gregor von Nyssa um herum ebenfalls ein anthropologisches Werk verfasst hat: Über die Erschaffung des Menschen (Peri kataskeuês anthrôpou / De hominis opificio), eine theologische Abhandlung im Ausgang von der biblischen Schöpfungserzählung in Genesis .. Demnach gäbe es Verbindungslinien zwischen Nemesios und zweien der drei großen kappadokischen Kirchenväter: die Korrespondenz mit Gregor von Nazianz und das mit Gregor von Nyssa geteilte anthropologische Interesse. Doch finden sich keinerlei Anhaltspunkte, dass der Emesener den Nyssener überhaupt kennt – wie sich auch umgekehrt bei Gregor keine Hinweise auf Peri physeôs anthrôpou ausmachen lassen. Ebensowenig gibt es positive Indizien r die Identität des kappadokischen Statthalters mit dem syrischen Bischof, im Gegenteil: die Wahrscheinlichkeit spricht sogar stark dagegen.
⁴ Vgl. Bender , –. ⁵ Vgl. Telfer , ; Sharples und van der Eijk , . ⁶ Neben den Briefen – (PG , –) ist ihm auch ein langes Gedicht (PG , –) gewidmet. ⁷ Telfer , –.
Joachim Söder
Was auch immer der Autor von DNH vor seiner Bischofsweihe gewesen sein mag, fest steht, dass die Schri ein Sonderfall ist: Ausdrücklich wendet sich der christliche Bischof an ein vorwiegend paganes Publikum⁸ und entwickelt eine Anthropologie, die zwar christlich inspiriert ist, aber auf ganz und gar philosophischer Argumentation aufbaut. Anders als bei dem erwähnten Werk Über die Erschaffung des Menschen Gregors von Nyssa, das eine Auslegung von Genesis . – eben die Erschaffung des Menschen – sein will, bezieht sich Nemesios schon im Titel eindeutig auf eine vorchristliche und außerbiblische Tradition: das im Corpus der hippokratischen Schrien überlieferte Werk mit genau demselben Titel Peri physeôs anthrôpou. Aristoteles zitiert daraus eine längere Passage und schreibt es Polybos, dem Schwiegersohn des Hippokrates, zu (HA III , b–a). Zu diesem Text hat Galen einen philosophisch-medizinischen Kommentar verfasst. Das Titelwort »Natur« meint bei Nemesios zweierlei: Wie bei Polybos bzw. PseudoHippokrates und Galen bezeichnet es auch in DNH einerseits die körperliche, physiologische Verfasstheit des Menschen. Dementsprechend nehmen beispielsweise die Erörterungen über Verdauungs- und Zeugungsvorgänge einen bei einem Kirchenvater ungewöhnlich breiten Raum ein. Die physiologische Betrachtung geschieht jedoch aus einer philosophischen Perspektive heraus. Nemesios’ Anliegen ist es, eine ganzheitliche Sicht des Menschen zu gewinnen, den physischen Vorgängen und Vermögen ebenso Rechnung zu tragen wie den psychischen. Aus diesem Grund ist die Untersuchung eingebettet in ein gängiges, man könnte etwas abschätzig sagen: populärphilosophisches Bezugssystem mit neuplatonischer Grundtönung. Es werden Ansichten von Philosophen exponiert, gegenübergestellt, abgewogen, bejaht oder verworfen. Wie gut Nemesios die herangezogenen Personen und ihre Schrien tatsächlich gekannt hat, ist im Einzelfall umstritten; manche Position ist nur holzschnittartig und rustikal skizziert – doch ist dieses Verfahren in der Antike ja nicht ungewöhnlich.⁹ Die kleine Schri erzielte eine große Wirkung im Osten wie im Westen. Sie wurde nämlich von Johannes Damascenus über weite Strecken in die anthropologischen Kapitel seines Kompendiums der christlichen Glaubenslehe Ekdosis (De fide orthodoxa) ⁸ DNH Morani .–: »An die Griechen [= Heiden] richtet sich nämlich die Abhandlung«; ähnlich DNH Morani .. – Die erste Stelle hält zwar Morani, dessen Athetesen in der Forschung nicht immer gut aufgenommen wurden, für eine spätere Einfügung, die kritische Edition von Einarson (nach seiner Zählung c., –) behält sie aber bei. ⁹ Vgl. Koch ; Sharples und van der Eijk , –; speziell zu den Quellen der Vorsehunglehre vgl. Politês .
Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa
integriert, was ihr in der mittelalterlichen Theologie geradezu kanonische Geltung verschae. Neben Übersetzungen ins Armenische, Arabische und Georgische wurde DNH im Mittelalter zweimal ins Lateinische übersetzt.¹⁰ Die erste Version des Alfanus von Salerno (gest. ) erwies sich zunächst als wenig erfolgreich. Deutlich besser verbreitete sich hingegen die Übersetzung des Burgundio von Pisa von . Burgundio schreibt das Werk allerdings wohl wegen eines Fehlers in seiner griechischen Vorlage fälschlich Gregor von Nyssa zu, was dazu hrte, dass der wahre Autor jahrhundertelang in Westeuropa fast unbekannt blieb. Burgundios lateinische Textversion ging – ähnlich wie das griechische Original bei Johannes Damascenus – häufig wortwörtlich in die anthropologische Summe De homine des Albertus Magnus ein und hatte, unter anderem bei Thomas von Aquin,¹¹ ein breites Fortleben im Abendland. In der Renaissance werden zentrale Gedanken aus DNH wieder aufgegriffen und beispielsweise über Pico della Mirandola an die Neuzeit vermittelt.
Die ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ Eine Untersuchung über die ›Natur des Menschen‹ erfordert zunächst einen Naturbegriff, der es gestattet, den Menschen in Verbindung mit allen anderen Naturwesen zu bringen und zugleich seine spezifische Eigenart herauszuarbeiten. Einen solchen Naturbegriff erarbeitet Nemesios unter Rückgriff auf die traditionelle Stufenfolge alles Natürlichen (scala naturae), wie sie im Ausgang von Platons Timaios vor allem von Aristoteles, der Stoa und Plotin entwickelt wurde. Demnach gliedert sich die sichtbare Wirklichkeit in die Bereiche der unbelebten, der pflanzlichen und der tierischen Natur; ihr gegenüber steht die Welt des Geistes, die nach spätantiker Anschauung von allerlei vernunbegabten Naturen bevölkert wird. Innerhalb der beiden Großreiche der sichtbaren und der geistigen Welt stehen die einzelnen Stufen nicht isoliert neben- bzw. übereinander, sondern sind durch differenzierte Übergänge kunstvoll miteinander verbunden, wie Nemesios mit großer Akribie exemplarisch an der materiellen Natur zeigt: Zwar sind Steine und Pflanzen deutlich dadurch unterschieden, dass den letzteren eine innere Formkra – die vegetative Seele – zukommt, kra derer sie unter anderem Nahrung aus der Umgebung ziehen und in sich aufnehmen. Doch findet sich sogar unter den unbelebten Dingen eine Vorstufe zu dieser primitiven Lebenskra: Der leblose Magnetstein übt »offen erkennbar« eine Kra aus; er ¹⁰ Vgl. Verbeke und Moncho , lxxxvi–xcii; Morani . ¹¹ Vgl. die Studien von Dobler ; ; ; .
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»zieht Eisen zu sich hin und hält es fest, als ob er es sich zur Nahrung zubereiten wollte« (DNH Morani .–). Ähnlich gibt es auch zwischen Pflanzen und Tieren, die sich durch das Vorhandensein einer sensitiven Seele unterscheiden lassen, als Übergangsstufe die sogenannten ›Pflanzentiere‹ (zoophyta): Steckmuscheln und Nesseltiere sind »sozusagen empfindungsfähige Bäume«: Sie schlagen »im Meer Wurzeln nach Art der Pflanzen«, sind »wie Gehölze mit harter Schale« umkleidet, besitzen aber darüber hinaus »den Tastsinn, der allen Tieren gemeinsam ist« (DNH Morani .–.). Die Konzeption eines sanen, fast kontinuierlichen Übergangs vom Unbelebten bis zum Animalischen düre klarerweise aus Aristoteles entlehnt sein,¹² dessen Name in diesem Zusammenhang sogar einmal lobend fällt: Seiner Forschung sei die Erkenntnis zu verdanken, dass der pflanzenartige Schwamm »sich zusammenzieht und wehrt, sobald er jemanden herannahen spürt« (DNH Morani .ff ). Bedrängender jedoch ist die Frage, ob und wie die geistige Welt, die noêtê physis, mit der sichtbaren Welt zusammenhängt. Hier stellt sich seit Platon die chôrismosProblematik: Gelingt es nicht, beide ›Welten‹ zusammenzudenken, zerfällt die Wirklichkeit in gänzlich heterogene Bereiche, die beziehungslos nebeneinander persistieren. Zur Überbrückung der Klu grei Nemesios auf Platons Demiurgen zurück, den er stillschweigend und wie selbstverständlich mit dem jüdisch-christlichen Schöpfergott identifiziert. Der Demiurg steht außerhalb der beiden von ihm hervorgebrachten ›Naturen‹, der körperlichen und der geistigen; er selbst ist ein Einziger (heis ôn) und legt als solcher das All darauf an eins zu sein (hina hen ê to pan; DNH Morani .). Die entscheidende Klammer zwischen den scheinbar so verscheidenartigen Sphären der materiellen und der intelligiblen Natur stellt der Mensch dar: selbst körperlich in der Materie verhaet, gehört er mit seiner Vernun zugleich der Welt des Geistes an. Er ist »so etwas wie das beiden Welten entstammende natürliche Band« (desmos tis symphyês kai physikos; DNH Morani .), welches »beide Naturen zusammenbindet« (DNH Morani .): »Beim Übergang von den vernunftlosen zu dem vernünftigen Lebewesen – dem Menschen – bildete der Schöpfer dieses nicht unvermittelt, sondern pflanzte schon vorher den anderen Tieren so etwas wie naturhafte Fähigkeiten der Einsicht, der Geschicklichkeit, der Schlauheit zur Lebenserhaltung ein, so dass sie den Vernunftwesen bereits recht nahe zu stehen scheinen. Erst dann nahm er sich das wahrhaft vernünftige Lebewesen vor, den Menschen. Desgleichen wird man im Hinblick auf die Stimme finden, dass sie sich vom einfachen und eintönigen Rufeausstoßen der Pferde und Rinder nach und nach zur vielfältig differenzierten Stimme der Raben ¹² Vgl. Aristoteles, HA VIII , b–.
Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa und Papageien entwickelte, bis sie schließlich in der wohlartikulierten und vollkommenen menschlichen Stimme ihr Ziel erreichte. Die wohlartikulierte Redeweise wiederum band der Schöpfer an den Verstand und das Denken an und machte sie so fähig die Geistesbewegungen auszusprechen. Und so fügte er auf kunstvolle Weise harmonisch alles mit allem zusammen, verband es und machte aus der geistigen und der sichtbaren Welt eine Einheit, indem er die Menschen in der Mitte entstehen ließ.« (DNH Morani .–)
Es ist diese Mittelstellung, die den Menschen vor allen anderen Wesen auszeichnet und ihm eine Erhabenheit und Würde verleiht, die mit keinem anderen Geschöpf vergleichbar ist. Als vereinigendes Band der beiden Naturen, oder, wie es später heißen wird, als Bürger zweier Welten, gehört er gleichermaßen zur Sinnenwelt wie zur Verstandeswelt. Die Brückenfunktion macht ihn zum unentbehrlichen Schlussstein, der dem Universum erst Einheit und Sinn verleiht. Deshalb kann Nemesios unter indirektem Bezug auf Philon von Alexandrien sagen, dass »dieses All um des Menschen willen erschaffen wurde« (DNH Morani .). Die r sich getrennten Bereiche des »geistigen und des sichtbaren Seins« (noêtê ousia kai horatê) sind genau auf dieses Bindeglied hin angelegt, »damit alles wechselseitig aufeinander einwirken kann (sympathes heautôi) und sich selbst nicht emd ist« (DNH Morani .ff ). So bildet der Mensch in seiner eigentümlichen Seinsweise in sich die beiden Naturen ab, die zusammen die gesamte Wirklichkeit ausmachen, das Körperliche und das Unkörperliche, das Vernunlose und das Vernünige. Damit ist er selbst die Wirklichkeit im Kleinen: ein Mikrokosmos (mikros kosmos, DNH Morani .). Als zwei verschiedenen Naturen angehöriges Wesen findet sich der Mensch »auf die Grenze« (en methoriois) von Materie und Geist gesetzt. Diese Sonderstellung¹³ ist ebenso erhaben wie prekär: Sie verleiht dem Grenzwesen einerseits eine Würde, die sogar die Dignität reiner Geistwesen noch übertri; sie zeigt aber zugleich die Ungesichertheit und ontologische ›Heimatlosigkeit‹ seiner Existenz. Ausgespannt zwischen zwei heterogenen Welten, nicht eindeutig der einen oder der anderen zugeordnet, obliegt es dem Menschen selbst, sich zu entscheiden, auf welcher Seite des Abgrundes er sich eher einrichten will: »Da der Mensch nun genau auf der Grenze zwischen vernunftloser und vernünftiger Natur seinen Platz hat, eignet er sich, wenn er mit seinem Schwergewicht zum ¹³ Im . Jahrhundert ist dieser Gedanke – freilich ohne philosophiegeschichtlichen Verweis – von Scheler zum Angelpunkt seiner philosophischen Anthropologie gemacht worden; das ema der Ungesichertheit und ›Heimatlosigkeit‹ wird bei Plessner breit ausgearbeitet.
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Körper hinneigt und alles, was mit dem Körper zu tun hat, stärker liebt, die Lebensweise der vernunftlosen Wesen an und wird ihnen zugezählt werden [...]. Wendet er sich jedoch unter Verachtung aller körperlichen Lüste zum Vernünftigen, so strebt er hin zum göttlichen und gottgefälligsten Leben, einem Leben, wie es für einen Menschen besonders vorzüglich ist [...].« (DNH Morani .–)
Die beiden Alternativmöglichkeiten: hier das behagliche Leben der vernunlosen Natur, dort die Lebenform des Geistes, sind – daran lässt Nemesios keinen Zweifel – moralisch keineswegs gleichwertig, denn »das Hauptstück der vernünigen Natur besteht darin, das sittlich Schlechte zu fliehen und sich von ihm abzuwenden, das sittlich Schöne hingegen zu erstreben und vorzuziehen« (DNH Morani .–). Ein vernunorientiertes Leben zu hren gilt daher nicht nur als im höchsten Maße gottgefällig; es ist die im eigentlichen Sinn menschliche Existenzform, im Unterschied zur bloß animalischen.¹⁴ Und doch liegt es im Ermessen des Menschen selbst, welchen Entwurf er sich zu eigen macht. Auf der Grenze stehend, ohne vorgezeichnete Festlegung, ist er auf sich allein gestellt. Damit gewinnt r Nemesios die Frage nach dem Willen als Entscheidungsprinzip besondere Bedeutung, wie weiter unten verdeutlicht wird. Von dieser autonomen Willensentscheidung, der eigenen Existenz eine bestimmte Form zu geben, hängt auch ab, ob der Mensch letzlich seine Vollendung in der Unsterblichkeit findet oder ob er der Vergänglichkeit der sichtbaren Natur anheimfällt. Die ontologische Nicht-Festgelegtheit erfordert eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung, sie legt aber die Verantwortung ganz und gar in die Hand des Menschen,¹⁵ so dass er selbst über sein ewiges Schicksal entscheidet: »Die Hebräer sagen, ursprünglich sei der Mensch nach allgemeiner Ansicht weder sterblich noch unsterblich erschaffen worden, sondern auf der Grenze beider Naturen, damit er, sollte er den körperlichen Leidenschaften folgen, auch in die körperlichen Veränderungen hineinfalle, sollte er die Schönheiten der Seele höher achten, der Unsterblichkeit würdig erachtet werde.« (DNH Morani .–) ¹⁴ Vgl. DNH Morani .–.: »Diejenigen nun, die sich dafür entscheiden (prohairountai) das Leben eines Menschen zu führen – und zwar als Mensch, und nicht bloß als animalisches Lebewesen –, streben zu den Tugenden und zur Frömmigkeit.« ¹⁵ Diese bei den Kirchenvätern verbreitete Auffassung findet ihre vielleicht zugespitzteste Formulierung bei Nemesios’ Zeitgenossen Gregor von Nyssa, De vita Moysis . (ed. Murillo, ): »Wir sind gewissermaßen Väter unserer selbst: Wir können uns als diejenigen hervorbringen, die wir sein wollen, und uns durch unsere eigene Willensentscheidung zu der Gestalt formen, die wir verwirklichen wollen.« – Vgl. hierzu Kobusch , .
Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa
Diese ursprüngliche Indifferenz ist zwar – in der Sprache der herangezogenen jüdischen bzw. biblischen Tradition – durch den Sündenfall verloren gegangen, jedoch nicht vollständig. Das körperliche Leben endet mit dem Tod, doch muss dies nicht das absolute Ende sein, denn der Mensch ist noch immer »potentiell unsterblich« (dynamei athanatos; DNH Morani .–): Hat er sich durch beharrliches Fortschreiten auf dem Weg der Tugenden und der Frömmigkeit in diesem Leben vervollkommnet, kann er nach dem Tod die Unsterblichkeit wiedererlangen.¹⁶ Nemesios denkt hier offensichtlich an mehr als an die verbreitete Auffassung von der Unvergänglichkeit der lauteren Geistseele. Für ihn als Christen bedeutet ›Wiedererlangung der Unsterblichkeit‹ Auferstehung: Zwar trennt sich im Tod die Seele vom Leib und der Mensch vergeht; der Tugendhae jedoch darf die Hoffnung haben, dass nicht nur seine Seele weiterlebt, sondern dass »um dieser Seele willen« der »sterbliche Leib unsterblich gemacht wird«, und dass dann, wenn er »nach dem Tod aufersteht und in die Unsterblichkeit eingeht«, die integrale Ganzheit des Menschen wieder hergestellt wird (DNH Morani .–; .–).
Die Einheit von Seele und Leib Geht Nemesios von einer integralen Ganzheit des Menschseins aus, so stellt sich die Frage, wie die beiden Hauptkonstituentien dieser Ganzheit, Leib und Seele, sowie ihr Zusammenwirken zu denken sind. Dass hier ein schwieriges Problem liegt, räumt der Autor unumwunden ein: »Die Sache ist problematisch; sie wird aber noch problematischer, wenn – wie manche wollen – der Mensch nicht nur aus diesen beiden, sondern auch noch aus Geist besteht« (DNH Morani .ff ). Eine solche Dreiteilung schreibt Nemesios Plotin zu; er selbst bevorzugt dagegen – ohne es eigens zu begründen – die klassische Zweiteilung: psychê und sôma sind die beiden Konstitutionsprinzipien, der nous wird als theoretisches Vermögen innerhalb des vernünigen Seelenteils aufgefasst und vom Vermögen praktischer Rationalität – logos oder phronêsis genannt – unterschieden (DNH Morani .–). In einer ausgedehnten Diskussion aller möglichen philosophischen Ansichten arbeitet Nemesios ex negativo heraus, dass r ihn die menschliche »Seele eine Art unkörperliche Substanz« (ousia ¹⁶ Pico della Mirandola greift diesen Gedanken an zentraler Stelle seiner Rede Über die Würde des Menschen auf, wenn er den Schöpfer zum Menschen sagen lässt: »Weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich haben wir dich gemacht, damit du gleichsam als eigenmächtiger und selbstverantwortlicher Bildner und Former deiner selbst dich zu der Gestalt ausbilden kannst, die du am liebsten willst« (De hom. dign. , Übers. J. S.).
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tis asômatos hê psychê; DNH Morani .) ist. Mit dieser Festlegung scheidet der aristotelische Hylemorphismus als Lösungversuch, die Leib-Seele-Einheit zu denken, von vornherein aus, denn r Aristoteles ist die Seele als Form des Leibes ein unselbständiges, nicht-substanzhaes Co-Prinzip, das nur zusammen mit Materie auftritt. Die Einheit des Menschen aus Leib und Seele als selbständigen Ausgangsprinzipien kann nach verschiedenen Paradigmen gedacht werden.¹⁷ () Das Verschmelzungsmodell: Seele und Leib sind so sehr miteinander eins geworden, dass beide als eigenständige Prinzipien in der Einheit untergegangen sind und nicht mehr identifiziert werden können. () Das Koordinationsmodell: Seele und Leib sind als selbständige Prinzipien identifizierbar, die nebeneinander bestehen, aber einander zugeordnet sind »wie Tänzer im Reigen«. () Das Vermischungsmodell: Seele und Leib durchdringen sich »wie Wasser und Wein«; sie werden eins, aber so, dass jedes Konstituens in der Einheit weiterbesteht. Während das Koordinationsmodell () r Nemesios eine zu schwache Form der Einheit repräsentiert – tatsächlich meint ja die intrinsische Lebendigkeit bzw. Beseeltheit des Leibes mehr als das bloße Nebeneinandergestelltsein (parathesis) von Seele und Leib –, leistet das Verschmelzungsmodell () zuviel: nach erfolgter Vereinigung sind die Ausgangskonstituentien untergegangen. Der scheinbare Ausweg (), das Vermischungsmodell, erweist sich jedoch bei näherem Zusehen als irrehrend: Entweder bestehen die Ausgangsbestandteile nach der Vermischung tatsächlich fort, dann handelt es sich letzlich um eine Form der parathesis von Modell . Oder aber die Vermischung ist mehr als das Nebeneinander der Bestandteile, nämlich ihre Verschmelzung zu einer neuen Substanz; dann aber gilt der gegen Modell gemachte Einwand. Deshalb sucht Nemesios die Lösung bei einem Gedanken, den er explizit »Ammonios, dem Lehrer Plotins« (DNH Morani .–)¹⁸ zuschreibt: Geistige Gehalte (noêta) können sich mit bestimmten materiellen ›Trägern‹ vereinigen, ohne dass sie dadurch selbst ihre geistige Natur verlieren. Das noêton ›Die Winkelsumme im Dreieck beträgt zwei rechte Winkel‹ kann als Gedanke von einem Menschen ›aufgenommen‹, das heißt gedacht werden.¹⁹ Der Gedanke als solcher bleibt aber, was er ist, und auch der Mensch verändert sich zwar beim Aufnehmen des Gedankens, er geht aber nicht unter – was ja der entscheidende Einwand gegen Modell war. Gedanke und ¹⁷ Vgl. zum Folgenden DNH Morani .–.. ¹⁸ Zur Identität dieser Person vgl. Schroeder , –; Rist , –. ¹⁹ In Antike und Mittelalter wird das Denken weitgehend als rezeptiver Vorgang verstanden: ein objektiver Gedanke wird von einem vernunftbegabten Subjekt aufgenommen.
Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa
Denkerin stehen jedoch ebensowenig in einem bloß parathetischen Zuordnungsverhältnis wie die ›Tänzer im Reigen‹ des Modells . Der Gedanke ›durchdringt‹ vielmehr die ihn Denkende, so dass Denksubjekt und Denkobjekt im Akt des Denkens eins werden. Diese Art von Einheit bewahrt also die beiden Prinzipien ihrer Konstitution zugleich »unvermischt und unzerstört«.²⁰ Das aus der neuplatonischen Intellektlehre stammende Denkmodell überträgt Nemesios ohne weitere Problematisierung auf das Leib-Seele-Verhältnis: »Die Seele nun ist mit dem Leib vereinigt, und zwar unvermischt vereinigt. Dass sie [mit dem Leib] vereinigt ist, zeigt das wechselseitige Aufeinander-Einwirken (sympatheia): wie etwas, das eins ist, wirkt das Lebewesen auf sich selbst als ganzes ein. Dass sie unvermischt bleibt, ist deutlich aus der Tatsache, dass die Seele in gewisser Weise sich im Schlaf vom Leib löst [...]. Dasselbe ereignet sich auch, wenn sie auf sich selbst zurückgezogen sich auf etwas konzentriert; dann nämlich löst sie sich soweit wie möglich vom Leib und wird ganz sie selbst, um sich auf diese Weise in die Gegenstände hineinzuversenken. Denn weil sie unkörperlich ist, hat sie das Ganze durchdrungen, wie es Konstitutionsprinzipien tun, die dabei untergehen [= Modell ]; sie hingegen bleibt unzerstörbar und unvermischt und bewahrt die Einheit mit sich selbst [= Modell ].« (DNH Morani .–)
Es ist mithin die Unkörperlichkeit der Seele, welche ihr sowohl den Vorzug des Modells , die vollständige Durchdringung und Einswerdung mit dem Co-Prinzip, als auch den Vorzug des Modells , die Bewahrung der eigenen Identifizierbarkeit und Selbständigkeit, sichern. Da die unkörperliche Seele nicht räumlich lokalisierbar ist (mê perigraphomenê topôi) – Räumlichkeit ist eine Eigenscha von Körpern –, »ist sie auch nicht im Leib wie in einem Behälter oder Schlauch; sondern vielmehr ist der Leib in ihr.« Deshalb auch »wird sie nicht vom Leib beherrscht, sondern sie beherrscht den Leib« (DNH Morani .ff ). Nemesios nimmt hier einen Wechsel der Blickrichtung vor: Normalerweise gehen wir davon aus, dass das Materielle das primär Gegebene ist, dass das Körperliche unzweifelha real ist. In dieser Einstellung denken wir dann auch das Unkörperliche, Seelische, Geistige analog dem kategorialen System der materiellen Wirklichkeit. Bei genauer Analyse des Immateriellen hingegen erweist sich, dass es gar nicht in den üblichen Kategorienrahmen passt:²¹ Es hat keine Größe (amegethes), es hat keine ²⁰ Der Terminus »unvermischt« (asynchytos), der hier bei Nemesios zum erstenmal in systematischer Absicht greifbar ist, wird später auf dem Konzil von Chalkedon eine zentrale Rolle spielen, um die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur in Christus zu beschreiben. Vgl. Abramowski . ²¹ Vgl. zum Folgenden DNH Morani .–..
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Masse (aongkon), es hat keine Teile (ameres), deshalb unterliegt es auch nicht einem räumlichen Bedingungsverhältnis (topikê perigraphê). Im Gegenteil: als Unbedingtes ist es dem kategorial Bedingten überlegen (kreitton). Nicht das Unbedingte ist im Bedingten, sondern umgekehrt – wenn man hier überhaupt die der Raumvorstellung entlehnte Metapher des ›In-etwas-Sein‹ verwenden darf. Der traditionelle Ausdruck ›Die Seele ist (estin) im Leib‹ kann daher nur als ungenaue Sprechweise r ›Die Seele wirkt (energei) im Leib‹ verstanden werden. Die Einheit von Leib und Seele ist keineswegs eine räumliche – das hieße, vom Unräumlichen in Kategorien des Raumes sprechen. Wie aber kann das Überräumliche sich überhaupt mit dem Räumlichen einen? Nemesios spricht hier von Hinordnung (schesis), Hinneigung (pros ti ropê) und Disposition (diathesis). Im Wirkgeschehen (energeia) ist die auf den Leib bezogene Seele in diesem anwesend (pareinai), ohne in ihm aufzugehen: »Sagt man, sie sei ›im Leib‹, so bedeutet das nicht, dass sie räumlich (en topôi) im Leib sei, sondern dass sie auf ihn hingeordnet und in ihm anwesend sei.« Diese Hinordnung muss eilich nach dem zuvor Gesagten mehr sein als die bloße Koordination aus Modell : Da Leib und Seele unterschiedlichen ontologischen Rängen angehören – das Immaterielle ist dem Materiellen überlegen –, durchdringt die Seele in ihrer Hinneigung zum Leib diesen ganz und gar und bildet eine vollkommene Einheit mit ihm, ohne doch in ihm aufzugehen oder sich mit ihm zu vermischen. So ist der Leib ›Organ‹ der Seele (organon tês psychês; DNH Morani ., DNH Morani .–), wie etwa die Hand Organ des Menschen ist: Die ungeteilte Seele ist in allen Teilen des Leibes anwesend und benutzt ihn r ihre Zwecke wie ein lebendiges Werkzeug.²² – Das griechische Wort organon wird sowohl von unbelebten Werkzeugen als auch von belebten Organen gebraucht, und obwohl seit Platon die Werkzeug-Metapher häufig benutzt wird, um das Leib-Seele-Verhältnis zu charakterisieren, kann die verengte Vorstellung vom Leib als totem Werkzeug in die Irre hren: Ein solches Werkzeug ist mit der Person, die es benutzt (Agens), immer nur akzidentell verbunden. Ein lebendiges Organ hingegen repräsentiert die wesentliche Einheit von Stoff, Funktion und Agens, auf die es Nemesios gerade ankommt (vgl. DNH Morani .–). Die Analogie vom Leib als Organ der Seele bietet sich r Nemesios als Interpretationsschlüssel an, um körperliche Vorgänge als Ausdruck des Psychischen zu identifizieren. »Da der Leib Organ der Seele ist, ist er entsprechend den seelischen Vermögen strukturiert« (DNH Morani .–). In der Materie drückt sich das Immaterielle aus. Dieses Ausdrucksgeschehen ist r Nemesios zugleich Legitimationsbasis, ²² Vgl. zu den platonisch-neuplatonischen Hintergründen dieser Konzeption Wyller .
Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa
um sich in ungewöhnlicher Breite und Detaileude mit den somatischen Aspekten des Menschseins zu beschäigen. Damit nimmt der Verfasser von De natura hominis einen im . Jahrhundert recht originellen Standpunkt ein: Weder die neuplatonisch inspirierte Popularphilosophie noch das spezifisch christliche Nachdenken über den Menschen zeigen sonderliches Interesse an der Leiblichkeit des Menschen. Exemplarisch mag dies an Plotins Einstellung illlustriert werden, dass »er sich schämte im Leib zu sein.«²³ Nemesios hingegen schöp die ihm erreichbaren physiologischen und medizinischen Quellen – neben dem Corpus Hippocraticum vor allem Galen und Aristoteles – aus und entwickelt darauf aufbauend eine ganzheitliche Anthropologie der psycho-physischen Einheit.²⁴ Diese Konzeption ist die systematische Einlösung seiner programmatischen Grundannahme, dass der Mensch, ›auf der Grenze‹ der beiden unterschiedlichen Wirklichkeitsbereiche situiert, deren Brücke und ›einigendes Band‹ darstellt, dass er somit in sich die große Wirklichkeit im Kleinen als ›Mikrokosmos‹ widerspiegelt.
Der innere Mensch Die Rede vom Leib-Organ, dessen sich die Seele bedient, verweist zurück auf Platons Konzeption des ›inneren Menschen‹, der sich des ›äußeren‹ bedient.²⁵ Damit stellt sich die Frage nach dem eigentlichen Selbst (auto tauto), dem innersten Wesenskern des Menschen, die in der sokratischen Tradition antiken Philosophierens mit dem Verweis auf die Vernun beantwortet wird. In der spätantiken Philosophie wird dieser klassische intellektualistische Ansatz jedoch zunehmend problematisiert, da er keine beiedigende Erklärung r ein zentrales ethisches Dilemma gibt: Wie kann ein vernunbegabter Mensch trotz rationaler Einsicht eine schlechte Tat begehen? Die Antwort des Intellektualisten: ›aus mangelnder Vernunstärke (akrasia)‹, insinuiert, dass eine schlechte Tat, gerade weil sie der Vernun widerspricht, dem Vernunwesen Mensch eigentlich nicht zugerechnet werden kann. Damit wäre also niemand r Böses verantwortlich – eine klar kontraintuitive Konsequenz. Bereits die ältere Stoa hatte sich mit ihrer Lehre von der Zustimmung des Akteurs zu einer vorgestellten Handlung auf einen entscheidungstheoretischen Willensbegriff ²³ Porphyrius, Vita Plotini , ed. Henry-Schwyzer .. ²⁴ Dass ihm dabei auch medizinhistorisch eine gewisse Bedeutung zukommt, zeigt van der Eijk , der nachweist, dass Nemesios der erste uns bekannte Hirntopograph ist, der versucht, einzelne mentale Funktionen mit bestimmten Hirnarealen in Zusammenhang zu bringen. ²⁵ Vgl. Platon, Alc. I e–c.
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zubewegt. In der Kaiserzeit interpretieren Epiktet und Alexander von Aphrodisias die prohairesis, die bei Aristoteles schlicht die Vollzugseinheit von Streben und Vernun²⁶ meint, ausdrücklich im Sinne eines Entscheidungsvermögens.²⁷ Das Thema der Willenseiheit und Verantwortungszuschreibung gewinnt schließlich im Denken der Patristik auch aus theologischen Gründen überragende Bedeutung: Wenn es keinen eien Willen gäbe, könnte auch nicht von Sünde gesprochen werden, und infolgedessen wäre Erlösung überflüssig. So sehen wir im . Jahrhundert die Kirchenväter des Ostens wie des Westens um einen philosophisch konsistenten Willensbegriff ringen: Ab schreibt der Lateiner Augustinus an De libero arbitrio. Einige Jahre zuvor () war am östlichen Rand des Römischen Reiches Ephräm der Syrer gestorben, der in der Selbstmächtigkeit des Menschen den Grund seiner Größe und seines Elends sah.²⁸ Zeitgleich, aber unabhängig davon arbeiten die griechischen Väter an der Willensthematik. Es ist die gemeinsame Problemlage, welche über kulturelle Grenzen hinweg in der lateinischen, orientalischen und griechischen Patristik jeweils struktur-ähnliche, aber dennoch eigenständige Lösungen hervortreibt: Die Konontation der überkommenen kosmos-Tradition mit einer neuen Auffassung von Freiheit und Verantwortung. Für Nemesios ergibt sich aus Ambiguität und Nicht-Festgestelltheit der menschlichen Natur die Notwendigkeit, dass das Individuum selbst das bestimmt, was die Gattungskonstitution offen gelassen hat. Das ›Wesen auf der Grenze‹ ist sich selbst aufgegeben: Es muss, da ihm eine eindeutige Naturfestlegung fehlt, sein Leben in die Hand nehmen und sich selbst zu dem machen, was es sein will. Dies setzt ein Vermögen zur Selbstmächtigkeit voraus. Aushrlich setzt sich der Verfasser in den Kapiteln DNH – mit gegenläufigen Auffassungen auseinander: Nicht nur hrt die Annahme, dass »der Mensch bloß ein Rädchen im Getriebe der Himmelmechanik« (DNH Morani .–) sei und seine Gedanken und Handlungen nichts als Wirkungen dieses blinden Naturprozesses, zu ethisch absurden Konsequenzen. Auch der stoische Versuch, die Kompatibilität von universalem Schicksal und individueller Eigenverantwortung zu denken, wird als versteckter Determinismus entlarvt: »Denn wenn, wie sie sagen, die Impulse [etwas zu tun] uns vom Schicksal eingepflanzt sind und sie bisweilen vom Schicksal behindert werden, bisweilen aber nicht, dann ist klar, dass alles gemäß dem Schicksal geschieht – auch das, was ›in unserer Macht‹ zu liegen ²⁶ Riedenauer , , mit Bick auf Aristoteles NE VI , b–; vgl. Chamberlain . ²⁷ Vgl. hierzu und zum Folgenden Dihle . ²⁸ Vgl. hierzu und zum Folgenden Kobusch , –.
Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa
scheint.« Systematisch agt Nemesios alle in Frage kommenden Instanzen ab, die r ein Handlungsgeschehen verantwortlich gemacht werden könnten: »Wem nun schieben wir das zu, was durch Menschen geschieht, wenn denn nicht der Mensch Ursache und Ursprung der Handlungen ist? Nicht Gott: unrecht wäre es, die zuweilen schändlichen und ungerechten Handlungen ihm zuzuschreiben. Nicht der Notwendigkeit: Handlungen gehören nämlich nicht zu dem, was immer auf dieselbe Weise geschieht. Nicht dem Schicksal (heimarmenê): das Schicksalhafte ist nämlich nicht kontingent, sondern notwendig. Nicht der Natur: die Produkte der Natur sind Tiere und Pflanzen. Nicht dem Zufall (tychê): die menschlichen Taten liegen nämlich nicht außerhalb jeglicher Erwartbarkeit. Nicht dem blinden Geschick (automaton): nur bei Unbeseeltem und Unvernünftigem spricht man von blind zusammentreffenden Ereignissen. So bleibt also nur, dass der handelnde und schaffende Mensch selbst selbstmächtiger Ursprung seiner eigenen Werke ist.« (DNH Morani .–)
Die Selbstmächtigkeit (to autexousion) setzt uns in den Stand, »dass wir Herren bestimmter Handlungen (kyrioi praxeôn tinôn) sind« (DNH Morani .). Was genau umfasst aber »das in unserer Macht Liegende« (to eph’ hêmin), wie Nemesios mit einem stark stoisch geprägten Terminus den Gegenstandsbereich menschlicher Vergungsgewalt bezeichnet? Die Antwort klingt ebenfalls stoisch: »alles Psychische, über das wir mit uns zu Rate gehen.« Der Vorgang des ›Mit-sich-zu-Rate-Gehens‹ (boulê) wird dahingehend analysiert, dass angesichts von synchronen kontradiktorischen Handlungsoptionen, die jeweils »in gleicher Weise« (episês) eintreten können, ein Abwägungsprozess stattfindet, der schließlich in einer Wahl mündet: »Das ist ›das in unserer Macht Liegende‹: [entgegengesetzte] Sachverhalte, die in gleicher Weise eintreten können, z.B. sich zu bewegen und sich nicht zu bewegen, einem Impuls nachzugeben und nicht nachzugeben, nicht-notwendige Dinge zu erstreben und nicht zu erstreben, zu lügen und nicht zu lügen, zu geben und nicht zu geben, Freude am Schicklichem zu haben und nicht zu haben – was immer von solcher Art ist, fällt unter die Differenz von Laster und Tugend: denn hierüber verfügen wir aus eigener Vollmacht.« (DNH Morani .–.)
Dieses Vermögen, ›aus eigener Vollmacht‹ sich r eine von zwei entgegengesetzten Handlungsoptionen entscheiden zu können, ist nichts anderes als die Freiheit, unter gleichbleibenden extrinsischen Rahmenbedingungen aus sich heraus einen Handlungsimpuls zu setzen: »Wenn aber auch der Impuls aus Notwendigkeit erfolgt, wo bliebe dann noch ›das in unserer Macht Liegende‹? Frei nämlich muss ›das in unserer Macht Liegende‹ sein;
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frei aber wäre es, wenn es unter denselben Umständen in unserer Macht läge, im einen Fall einen Impuls zu geben, im anderen Fall jedoch nicht.« (DNH Morani .–.)
Oder noch einmal anders gewendet: »Ein Sachverhalt ist dann einer, der ›in gleicher Weise eintreten kann‹, wenn wir ihn und sein Gegenteil bewirken können« (DNH Morani .–). Nemesios vertritt hier bereits eine Freiheitstheorie, die auf dem Gedanken der synchronen Kontingenz alternativer Handlungsoptionen basiert – ein Gedanke, der später bei Duns Scotus zu systematischer Entfaltung kommt und das neuzeitliche Freiheitsverständnis entscheidend geprägt hat.²⁹ Was aber im Menschen ist diejenige Instanz, die zwischen den gleichzeitig möglichen Alternativen entscheidet? »Unser eigener Geist (ho nous ho hêmeteros) bewirkt die Wahl des Sachverhalts, er ist Ursprung von Handlungen«. Die Betonung liegt, wie das nachgestellte ho hêmeteros zeigt, darauf, dass nicht eine stoische Weltvernun oder ein – wie Alexander von Aphrodisias im Anschluss an Aristoteles sagt – ›von außen kommender Geist‹ unser Tun veranlasst, sondern wir selbst. Doch nicht mit dem naheliegenden biblischen Ausdruck thelêma (Wollen) wird dieses geistige Vermögen des Menschen bezeichnet – das nur ein einziges Mal in DNH vorkommende Wort behält Nemesios dem göttlichen Willen vor –, sondern mit dem aristotelischen Terminus prohairesis (Entscheidungsvermögen: DNH Morani .–); sie wird definiert als »etwas aus ›Mit-sich-zu-Rate-Gehen‹ (boulê), Entscheidung (krisis) und Streben (orexis) Gemischtes« (DNH Morani .–). Alle drei Elemente finden sich zwar dem Namen nach auch schon bei Aristoteles, doch hat die krisis bei Nemesios eine signifikante Umakzentuierung erhalten: War sie in der Nikomachischen Ethik noch das aus dem Mit-sich-zu-Rate-Gehen hervorgehende Reflexionsurteil,³⁰ so ist sie in De natura hominis – sicherlich unter spätstoischem Einfluss³¹ – zum Moment der dezisionistischer Setzung geworden. Der Leib ist, so kann man zusammenfassen, Organ der Seele. Sie kann sich seiner ei bedienen, weil der vernünige Seelenteil seiner selbst mächtig ist. Die Selbstmächtigkeit wird analysiert als Zusammenwirken von Streben, Mit-sich-zu-RateGehen und Entscheidung. Somit steht im Zentrum dessen, was den Menschen als Menschen ausmacht, das Entscheidungsvermögen (prohairesis) als eine Instanz, de²⁹ Vgl. Söder . ³⁰ Aristoteles, NE III , a–. ³¹ Vgl. Origenes, De princ. III . (= SVF II ), dem offensichtlich eine stoische Quelle zugrundeliegt.
Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa
ren Tätigkeit spontan und daher unableitbar erfolgt.³² Die Freiheit selbstmächtiger Entscheidung ist die Wesensmitte des Menschen. Mit dieser Auffassung steht Nemesios in seiner Zeit nicht allein; sie ist charakteristisch r christliche Denker der Spätantike von Augustinus bis Gregor von Nyssa. Auffallend ist in De natura hominis jedoch die bewusste Hintanstellung genuin theologischer Überlegungen und stattdessen das Anknüpfen an rein philosophische Fragestellungen und Begriffe. Trotz der vielfachen Rückbezüge auf Klassiker der Philosophie scheint hier ein neuartiges Verständnis des Menschen auf, das bis heute nachwirkt: Der Mensch ist nicht einfach Ding (ousia) unter Dingen, lediglich versehen mit einem unterscheidenden Merkmal – der ›Vernun‹. Er ist vielmehr selbstmächtiges Subjekt seiner Taten, er ist personifizierte Freiheit. Die Freiheitsanthropologie tritt in Konkurrenz zur Substanzanthropologie. Am schärfsten hat diesen Bruch mit einer fast -jährigen Tradition der ousia-Philosophie Nemesios’ Zeitgenosse Johannes Chrysostomos (gest. ) formuliert: »Wichtiger als die Substanz (ousia) ist das Entscheidungsvermögen (prohairesis), und der Mensch ist eher prohairesis als ousia.«³³
Literatur Quellen Aristoteles. Ethica Nicomachea. Hrsg. von Ingram Bywater. . Aufl. Oxford . (Zitiert als NE). —— Historia animalium. Hrsg. von David M. Balme. Cambridge . (Zitiert als HA). —— Nikomachische Ethik. Übers. von Olof Gigon. München . —— Tierkunde. Übers. von Paul Gohlke. . Aufl. Paderborn . Arnim, Hans von, Hrsg. Stoicorum veterum fragmenta. Bde. Leipzig –. (Zitiert als SVF). (Nachdruck Stuttgart ). Chrysostomus, Johannes. »In epistulam ad Colossenses«. In: Patrologia cursus completus. Series Graeca. Bd. . Hrsg. von Jacques-Paul Migne. Paris , Sp. –. Gregorius Nyssenus. Opera. Bd. /: De vita Moysis. Hrsg. von Hubertus Musurillo. Leiden . (Zitiert als De vita Moysis). Migne, Jacques-Paul, Hrsg. Patrologiae cursus completus. Series Graeca. Bde. Paris –. (Zitiert als PG). Nemesius Emesenus. Anthropologie. Übers. von Emil Orth. Maria-Martental . [Dt. Übersetzung, nicht immer zuverlässig, manchmal eigenwillig und frei]. ³² Dass die deskriptive Unableitbarkeit der Willensentscheidung nicht eine präskriptive Ungebundenheit impliziert, betont Horn , . ³³ Johannes Chrysostomus, In Ad Coloss. (PG , ).
Joachim Söder
—— De natura hominis (Typoskript). Hrsg. von Benedict Einarson. Veröffentlicht im esaurus Linguae Graecae (TLG) unter http://stephanus.tlg.uci.edu. [Nicht im Druck erschienene kritische Edition, Alternative zu DNH Morani; Kapiteleinteilung weicht von Morani ab]. —— De natura hominis. Hrsg. von Moreno Morani. Leipzig . (Zitiert als DNH Morani). [Maßgebliche kritische Edition des griechischen Texts; zitiert wird nach Kapitel, Seite und Zeile]. —— On the Nature of Man. Übers. und mit einer Einl. vers. von Robert W. Sharples und Philip van der Eijk. Liverpool . [Engl. Übersetzung mit Einleitung, sehr ausführlichen kommentierenden Fußnoten und umfangreicher Bibliographie]. Origenes. De principiis. Hrsg. von Paul Koetschau. Leipzig . (Zitiert als De princ.). —— Vier Bücher von den Prinzipien. Hrsg. und übers. von Herwig Görgemanns und H. Karpp. . Aufl. Darmstadt . Pico della Mirandola, Giovanni. Oratio de hominis dignitate. Hrsg. und aus dem Lateinischen übers. von Gerd von der Gönna. Stuttgart . (Zitiert als De hom. dign.). Platon. »Alkibiades I«. In: Werke. Hrsg. von Günther Eigler. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Bd. . Darmstadt , S. –. Porphyrius. »Über Plotins Leben und die Ordnung seiner Schriften«. In: Plotins Schriften. Bd. c. Übers. von Richard Harder. Hamburg , S. –. —— »Vita Plotini«. In: Plotini Opera. Hrsg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer. Bd. . Oxford , S. –. (Zitiert als Vita Plotini).
Hinweise zur weiteren Lektüre Dománski, Boleslaw (). Die Psychologie des Nemesius. Münster (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters /). Jaeger, Werner (). Nemesios von Emesa. Quellenforschungen zum Neuplatonismus und seinen Anfängen bei Poseidonios. Berlin. Kallis, Anastasios (). Der Mensch im Kosmos. Das Weltbild Nemesios’ von Emesa. Münster (= Münsterische Beiträge zur eologie ). März, Friedrich M. (). »Anthropologische Grundlagen der christlichen Ethik bei Nemesios von Emesa«. Diss. München. Motta, Beatrice (). La mediazione estrema. L’antropologia di Nemesio di Emesa fra Platonismo e Aristotelismo. Padova. Sharples, Robert W. und Philip van der Eijk (). »Introduction«. In: Nemesius Emesenus. On the Nature of Man. Übers. und mit einer Einl. vers. von Robert W. Sharples und Philip van der Eijk. Liverpool, S. –. Siclari, Alberto (). L’antropologia di Nemesio di Emesa. Padova (= Filosofia e religione ). Streck, Martin (). »Aristotelische und neuplatonische Elemente in der Anthropologie des Nemsius von Emesa«. In: Studia Patristica , S. –. —— (). Das schönste Gut. Der menschliche Wille bei Nemesius von Emesa und Gregor von Nyssa. Göttingen (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte ).
Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa
Telfer, William (). »General Introduction«. In: Cyril of Jerusalem and Nemesius of Emesa. Hrsg. von William Telfer. (Nachdruck ). London, S. –. Verbeke, Gérard (). Filosofie en Christendom in het mensbeeld van Nemesios van Emesa. Brüssel (= Mededelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten van België, Klasse der Letteren ). Wyller, Egil A. (). »Die Anthropologie des Nemesios von Emesa und die Alkibiades ITradition: Eine Untersuchung zum Platon-Bild in der Schrift ›Über die Natur des Menschen‹ (Kap. I, )«. In: Symbolae Osloenses , S. –. Young, Frances M. (). »Adam and Anthropos. A Study of the Interaction of Science and the Bible in two Anthropological Treatises of the Fourth Century«. In: Vigiliae Christianae , S. –.
Weitere zitierte Literatur Abramowski, Luise (). »Synapheia und asynchytos henôsis als Bezeichnungen für trinitarische und christologische Einheit«. In: Drei christologische Untersuchungen. Berlin, S. –. Chamberlain, Charles (). »e Meaning of prohairesis in Aristotle’s Ethics«. In: Transactions of the American Philological Association , S. –. Dihle, Albrecht (). Die Vorstellung vom Willen in der Antike. Göttingen. Fowden, Garth (). »e Pagan Holy Man in Late Antique Society«. In: e Journal of Hellenic Studies , S. –. Horn, Christoph (). »Augustinus und die Entstehung des philosophischen Willensbegriffs«. In: Zeitschrift für philosophische Forschung , S. –. Kobusch, eo (). Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität. Darmstadt. Koch, Heinrich A. (). Quellenuntersuchungen zu Nemesios von Emesa. Berlin. Morani, Moreno (). La tradizione manoscritta del »De natura hominis« di Nemesio. Milano. Plessner, Helmuth (). Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin. Politês, Nikolaos G. (). »Pegai kai periechomenon tôn peri heimarmenês kephalaiôn tou Nemesiou Emesês«. Diss. Athen. Rist, John M. (). »Pseudo-Ammonius and the Soul/Body Problem in some Platonic Texts of Late Antiquity«. In: American Journal of Philology , S. –. Söder, Joachim (). Kontingenz und Wissen. Die Lehre von den futura contingentia bei Johannes Duns Scotus. Münster. Scheler, Max (). Die Stellung des Menschen im Kosmos. Darmstadt. Schroeder, Frederic M. (). »Ammonius Saccas«. In: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II/., S. –. Verbeke, Gérard und José R. Moncho (). »Les traductions latines«. In: Némésius d’Émèse: De natura hominis. Traduction de Burgundio de Pise. Hrsg. von Gérard Verbeke und José R. Moncho. Leiden, S. lxxxvi–c.
Christoph Horn
Augustins Anthropologie. Zwischen Dualismus und Hylemorphismus Augustinus (– n. Chr.) hat einen beträchtlichen Teil seines umfangreichen Werks Überlegungen gewidmet, die wir mit dem Ausdruck ›anthropologisch‹ kennzeichnen würden: also Überlegungen, welche das spezifisch Menschliche oder das wesentlich Menschliche thematisieren, grundlegende Eigenschaen und Fähigkeiten des Menschen herausarbeiten und seine Vorzüge und Grenzen, seine Bedürfnisse und Wünsche, seine Leistungen und Fehler diskutieren. Von besonderer Wichtigkeit sind r Augustinus Fragen, die das Psychische, das Geistige und die körperlich-seelische Einheit des Menschen betreffen. Denn er glaubt, dass die Stellung des Menschen innerhalb der göttlichen Schöpfung insofern privilegiert ist, als der Mensch ›Abbild Gottes‹ ist (nach der Bibel-Stelle Genesis .). Genau genommen ist es die menschliche Seele – und noch genauer deren Vernun –, die »nach dem Bild Gottes geschaffen ist« (facta est ad imaginem dei: Trin. XIV .). Allerdings muss man zwei Phasen des anthropologischen Denkens bei Augustinus unterscheiden. In einer ühen Periode, die bis etwa reicht, zeigt er sich fast ausschließlich daran interessiert, wie man ein christliches Menschenbild mit den Mitteln der wichtigsten zeitgenössischen philosophischen Strömung, des Neuplatonismus, darstellen kann. Ohne diese Orientierung an den Neuplatonikern aufzugeben, gewinnt er in seinen späteren Texten ein immer stärker werdendes Interesse daran, philosophische Theorien direkt aus der Bibel abzuleiten. Dabei revidiert er manches, was er üher behauptet hat, bleibt aber grundsätzlich Platoniker.
Augustins Frühphase: Vorrang der Seele und des Geistes Dass Augustinus in seiner ühen Anthropologie neuplatonisch bestimmt ist, heißt im Wesentlichen Folgendes: Er deutet den Menschen als zusammengesetzt aus einem sterblichen, veränderlichen, irdischen Leib einerseits und einer unsterblichen, invariChristoph Horn (). »Augustins Anthropologie. Zwischen Dualismus und Hylemorphismus«. In: Philosophische Anthropologie in der Antike. Hsrg. von Ludger Jansen und Christoph Jedan. Frankfurt und Lancaster, S. –.
Augustins Anthropologie. Zwischen Dualismus und Hylemorphismus
anten, göttlichen Seele (anima) bzw. einem Geist (animus) andererseits. Unter anima oder animus versteht Augustinus (weitgehend austauschbar¹) dasjenige im Menschen, was Erkenntnis- und Wahrnehmungsleistungen ebenso ermöglicht wie seine Emotionen, Wünsche, Erinnerungen und Vorstellungen. Die Seele ist aber nicht nur wie bei Descartes das Vermögen, mentale Leistungen zu vollziehen; sie vergt zudem wie bei Aristoteles über vegetative Aspekte: Sie steuert solche Prozesse wie Ernährung, Stoffwechsel, Wachstum, Reifung, Altern und Sexualität. Dabei kennzeichnet es die Seele, selbstbewegt zu sein und in Bezug auf den menschlichen Leib das Bewegungsprinzip zu bilden. Für sich genommen gehört sie der unkörperlichen, intelligiblen Welt an, aus der sie hervorgegangen ist und in die sie (so zumindest der ühe Augustinus) nach ihrer Trennung vom Körper wieder zurückkehren wird. Erst im Kontext seiner späteren ausgedehnten Schriinterpretationen, besonders zum Genesis-Buch (dem »Ersten Buch Moses«), das die Schöpfungsgeschichte enthält, und zu den paulinischen Briefen, kommen unplatonische, biblisch inspirierte Motive hinzu: Augustinus modifiziert seine Anthropologie unter dem Eindruck der biblischen Schöpfungskonzeption, der Lehre von Inkarnation und Auferstehung Christi, der Sündenvorstellung, der Lehre von der leiblichen Auferstehung der Toten sowie der Sakramententheologie. Damit entsteht eine komplexe, vielfach auch inkonsistente, in jedem Fall aber diskontinuierliche Gesamtposition. Einerseits hält Augustinus noch in seinem Spätwerk an der neuplatonischen Vorstellung fest, »unsere wahre Heimat« sei die intelligible, immaterielle Welt, auch wenn wir dies in unserem Alltagsbewusstsein »vergessen« hätten. Augustinus erklärt unseren folgenschweren Gedächtnisverlust damit, dass wir die »Bilder der wahrgenommenen Dinge«, also unsere Sinneseindrücke von materiellen Objekten, irrigerweise ernster nähmen als die Seele, in der sie vorkämen. Folglich tendierten wir dazu, uns auch selbst als materielle, körperliche Entitäten misszuverstehen (Trin. X .). Andererseits akzeptiert er nunmehr die anti-platonische Meinung, dass in das ewige Leben, welches nach der Auferstehung der Toten beginnen soll, der Körper der auferstandenen Person in gleicher Weise wie die Seele einbezogen sein soll.² Augustins anthropologische Frühposition ist mithin diejenige eines Leib-SeeleDualismus, nicht die eines Materialismus oder Physikalismus (wie bei den Vorsokratikern, Epikureern oder Stoikern) und auch nicht die eines aristotelischen Hylemorphismus. Noch in De trinitate zählt er in doxographischer Absicht auf, was er r ¹ Vgl. O’Daly –. ² Vgl. Retr. I .
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philosophische Fehldeutungen des Menschen hält: Bestimmte Philosophen hätten die Ansicht vertreten, die Seele sei mit dem Blut, dem Gehirn oder dem Herz zu identifizieren; andere seien der Auffassung gewesen, sie setze sich aus kleinen, unsichtbaren Teilchen zusammen, sie sei Lu, Feuer oder ein bloßes Epiphänomen, nämlich eine »Harmonie« oder eine »Schwingung« (X .). Augustinus verwendet einige Mühe darauf, die Immaterialität der Seele auf argumentativem Weg zu erweisen. Es handelt sich hauptsächlich um drei miteinander eng verknüpe Argumente r einen Leib-Seele-Dualismus:³ . Materielle Körper weisen im Unterschied zu seelischen Phänomenen stets räumlich-zeitliche Eigenschaen auf: Sie besitzen eine dreidimensionale Ausdehnung; sie haben sinnlich wahrnehmbare Eigenschaen wie Farb- und Formqualitäten; sie lassen sich in Abschnitte oder Segmente einteilen (links/rechts, oben/unten, vorn/hinten) und in Teile zerlegen, wobei ganze, ungeteilte Körper stets größer als ihre Abschnitte oder Teile sein müssen. Für einen Körper lässt sich zu jedem Zeitpunkt ein bestimmter Aufenthaltsort angeben; kein anderer Körper kann zur selben Zeit denselben Ort einnehmen. Im Gegensatz dazu kann man, so Augustinus, keine dieser Eigenschaen auf seelische Phänomene übertragen: Sie gelten weder von einer Empfindung, einem Wunsch, einer Emotion, einer Imagination, einer Erinnerung, einer Wahrnehmung noch von einer Erkenntnis. Augustinus entwickelt diese Gegenüberstellung von Körper und Seele besonders in den Schrien De quantitate animae, De Genesi ad litteram VIII und De trinitate IX-X und XIV-XV. . Zwar tri es zu, dass die Seele jeweils mit einem bestimmten Körper verbunden und insofern lokalisierbar ist. Doch von einem Ort innerhalb dieses Leibes kann man nicht sinnvoll sprechen. Im Gegenteil, die Seele ist stets überall im Leib präsent, und zwar überall zugleich als ganze. Diese totum simul-Konzeption entstammt ursprünglich der Geistmetaphysik Plotins und wurde bereits von diesem, besonders in der Schri Enneade VI – [–], als zentrales Merkmal der Seele herausgestellt. Beispielsweise wird eine Verletzung der rechten Hand als Schmerz registriert, während gleichzeitig völlig andere, evtl. schmerzeie Eindrücke gesammelt werden können, z.B. Geschmacks-, Geruchs- oder Tastwahrnehmungen. Es handelt sich um ein und dieselbe Seele, die zugleich einen Schmerz, einen Geschmack, einen Geruch und eine Oberflächenbeschaffenheit registrieren und zueinander in Beziehung setzen kann. Folglich kann die Seele unmöglich abschnittsweise über den Körper verteilt sein. Die Seele ist vielmehr unräumlich sowie einheitlich, ungeteilt und unteilbar; sie ermög³ Eine detaillierte Analyse liefert Hölscher .
Augustins Anthropologie. Zwischen Dualismus und Hylemorphismus
licht ein einheitliches Leibempfinden, das sich nicht aus den räumlich-materiellen Eigenschaen des Leibes erklären lässt.⁴ . Für Augustinus ist die Seele gemäß einem auf Platon zurückgehenden Motiv eine selbstbewegte Entität (z.B. Div. qu. ): Sie bildet den ersten Ursprung aller in ihr stattfindender Veränderungsprozesse.⁵ Zudem ist die Seele das Bewegungsprinzip des Leibes. Daher sind beseelte Körper, zumal die von Menschen, mitunter in einem anderen Sinn in Bewegung als ein Wasserlauf, vorüberziehende Wolken oder ein nach unten fallender Stein. Sie bewegen sich in einem aktiven Sinn und werden nicht passiv von etwas anderem bewegt; sie tragen die Ursache ihrer Bewegung in sich selbst. Grund dar ist ihre seelische Innenwelt, die eine spontane Selbstbewegung gestattet. Augustinus bringt diese Beobachtung gerne mit der sowohl platonischen als auch biblischen Unterscheidung eines »äußeren« und eines »inneren« Menschen in Verbindung: Der Leib gilt als der homo exterior, der von der Seele als dem homo interior gelenkt und gesteuert wird.⁶ Augustinus lässt sich auf diese Weise als üher Vertreter, wenn nicht gar als Erfinder einer Anthropologie der Innerlichkeit kennzeichnen.⁷ Hieran schließt sich unmittelbar die Vorliebe des jungen Augustinus r einen Asketismus an, der die Vergbarkeit des Leibes r den Geist und die Transformation der Seele in Richtung auf eine größere Autonomie gegenüber dem Leib zum Gegenstand hat. Augustinus ist Anhänger einer intellektualistischen Lebenskunst- und Bildungskonzeption, die eine grundlegende Veränderung der Persönlichkeitsmerkmale durch schrittweise Selbstvergeistigung r möglich hält. Die Antithese des Leiblichen, Vergänglichen und Irdischen im Menschen und des Psychisch-Geistigen, Unvergänglichen und Göttlichen wird bei Augustinus – im Gegensatz zur Auffassung der Manichäer, welche einen markanten Dualismus vertraten – nicht mit einer stark kontrastiven Wertung von Schlecht und Gut versehen.⁸ Hierin unterscheidet er sich deutlich von den Manichäern, einer auf den aus Vorderasien stammenden Mani (–ca. ) zurückgehenden synkretistischen gnostischen Sekte, zu der Augustinus sich in ühen Jahren selbst hingezogen hlte.⁹ Die Manichäer vertraten einen markanten, wertenden Dualismus und identifizierten das Körperliche und Vergängliche mit dem Bösen, das Geistige und Unvergängliche aber mit dem ⁴ ⁵ ⁶ ⁷ ⁸ ⁹
Vgl. etwa Ep. , .. Vgl. Pépin . Vgl. Civ. XIII ; Ep. , .. Vgl. Taylor ; Cary . Vgl. van Oort u. a. . Vgl. Conf. III . ff.
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Guten. Augustinus sieht zwar ebenfalls einen Vorrang des Intelligiblen, er hält das Körperliche aber nicht r ein Übel. Vielmehr gilt ihm das Körperliche ebenso als Gottes Schöpfung wie die Seele; weder wird das Körperliche wie bei den Manichäern als minderwertiges Produkt eines bösen Demiurgen gedeutet, noch gilt die Seele als präexistenter Teil der intelligiblen Welt wie bei den Neuplatonikern. Augustinus lehnt ferner die neuplatonische Reinkarnationsvorstellung ab und nimmt stattdessen an, dass der Mensch nach Tod und Auferstehung in ewiger Glückseligkeit oder ewiger Verdammnis lebt. Gelegentlich kann man bei Augustinus die dreigliedrige Seelenteilungslehre Platons finden;¹⁰ häufiger taucht allerdings die einfache aristotelische Unterscheidung eines rationalen und eines irrationalen Seelenteils auf.¹¹ Zwar bleibt r ihn die materielle Welt evaluativ betrachtet deutlich hinter der immateriellen zurück; aber der Kontrast ist kein absoluter wie bei den Manichäern. Augustins Interpretation der leiblich-seelischen Einheit des Menschen ist maßgeblich – und biographisch gesehen mit zunehmender Tendenz – von seinem Verständnis der Inkarnation Christi geprägt. Die Tatsache, dass Jesus Christus nach dem Zeugnis des Neuen Testaments einen sterblichen Körper besessen und Gottes Sohn daher mit den Menschen solche Phänomene wie Wachstum, Altern, Ernährung, Schlaf, Schmerz, Emotionen oder Versuchungen geteilt haben soll, begünstigt bei Augustinus eine positivere Sichtweise auf den menschlichen Körper. Augustinus wendet sich in De civitate dei X gegen die neuplatonische Auffassung, man müsse alles Körperliche meiden (omne corpus esse fugiendum). Er betont, die neuplatonische Materie- und Leibfeindlichkeit sei inkonsistent, da gleichzeitig die Welt wie auch Sonne und Sterne als glückselige göttliche Wesen verehrt würden. Es sei keineswegs absurd anzunehmen, die im Himmel lebenden Glückseligen besäßen unvergängliche, alterungsresistente, unsterbliche Körper, die einer reinen Gotteserkenntnis keineswegs im Weg stünden. Augustinus entwickelt verschiedene Theorien über die Relation eines animalischen und eines spirituellen Leibes (corpus animale – corpus spiritale); über letzteren habe auch Christus nach seiner Auferstehung vergt. Exakt diese von ihm selbst eingehrte Kontrastierung eines irdischen und eines himmlischen Körpers lehnt er im Spätwerk hingegen ab (corpus terrenum – corpus caeleste: Retr. I ). Nach Augustins reifer Christologie musste Christus die in der Schri dargestellte Inkarnation, Tod und Auferstehung vollziehen, um die gesamte menschliche Natur aus Seele und Leib erlösen zu können. ¹⁰ Vgl. Civ. XIV ; vgl. Platon, Politeia IV b–a. ¹¹ Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik I .
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Die spätere Entwicklung: Aufwertung des physischen Leibes Neben der christlichen Lehre von der Inkarnation Christi sind es mithin noch zwei weitere biblische Motive, die das Denken des späteren Augustinus über den menschlichen Leib in eine positivere Richtung bewegen, nämlich der Schöpfungsgedanke und die Vorstellung einer leiblichen Auferstehung von den Toten. Die ühe Lösung – der Vorschlag, der Mensch besitze im irdischen Leben einen groben, widerständigen, bedürigen und verletzungsanfälligen Körper, erhalte nach der Auferstehung dagegen einen spirituellen Körper – scheint ihm zu wenig schrikonform zu sein. Daher geht der reifere Augustinus dazu über, als denjenigen Leib, der in der Auferstehung zu neuem Leben erweckt wird, den irdisch-physischen, nicht einen spirituellen Leib anzusehen. Beginnend mit der Schri Contra Faustum () unterscheidet er jedoch zwischen jener vorläufigen Erlösung der Seele, die bereits jetzt möglich sein soll, und der endgültigen Erlösung, die den Körper einbezieht und sich erst im Moment der Auferstehung ergeben kann.¹² Nach Augustins späterer Körperauffassung werden die im irdischen Leben gegenwärtigen Mängel des Leibes, nämlich Schwäche, Altern, Anfälligkeit, Verletzlichkeit und Tod, erst in der Auferstehung aufgehoben. Der reife Augustinus meint folglich nicht mehr, dass der Akt der Beeiung und Erlösung in der Trennung von Leib und Seele läge, obwohl er den Seelen guter Menschen einen Zustand angenehmer Ruhe zuschreibt. Vielmehr glaubt er, auch diese Seelen befänden sich erst dann in einer wirklich guten Verfassung, wenn sie ihren physischen Leib zurückerhielten. In De civitate dei XXII hrt Augustinus denn auch ein Idealbild des Himmels vor Augen, das auf physischer Körperlichkeit beruht, welche allerdings von allen negativen Aspekten (Alterung, Krankheit, Behinderung usw.) gereinigt ist. Bei aller Betonung des Physischen muss man sich jedoch klarmachen, dass Augustinus keineswegs »weniger leibfeindlich« ist (in den Augen von uns Heutigen zumindest) als seine durchschnittlichen christlichen Zeitgenossen. Zu beachten ist, dass er lediglich eine neuartige Dekadenztheorie entwickelt. Der Kirchenvater vertritt seit den späten er Jahren in Anlehnung an den paulinischen Römerbrief (.–) die Auffassung, alle Menschen stünden seit dem von Adam und Eva begangenen »Sündenfall« (von dem in Genesis erzählt wird) unter der Last einer vererbten Urschuld, die die gesamte physische Natur, zudem die politisch-soziale Lebenswelt des Menschen und schließlich auch die physisch-psychische Verfassung jedes Einzelnen gra¹² C. Faust. ..
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vierend korrumpiert haben soll.¹³ Aus dieser Überzeugung ergibt sich r unseren Autor eine Reihe gravierender Änderungen hinsichtlich des Menschenbilds. Eines der anthropologischen Themen, an denen sich Augustins neue Theorie besonders deutlich zeigt, hängt mit der Frage zusammen, ob der menschliche Körper eine Art von begehrlichem Eigenleben hrt, das den höheren Zielen von Seele und Geist widerstrebt und sie ganz oder teilweise behindert. Erleidet die Seele dadurch eine Verminderung, dass sie unter irdischen Bedingungen mit dem Körper verbunden ist? Augustinus ist einer der wenigen Autoren der Spätantike, die mit dieser Vorstellung brechen. Für ihn ist es nicht die materiebedingte Widerständigkeit des Körpers, die die Seele auf Abwege bringt; vielmehr meint er, der Sündenfall Adams und Evas im Paradies habe die menschliche Verfassung insgesamt depotenziert. Der Ungehorsam des ersten Menschenpaars gegenüber Gott habe sich auf die gesamte Menschheit, ja sogar auf die gesamte Schöpfung, im Sinn einer »Erbsünde« übertragen. Die Auswirkungen des Sündenfalls auf den Menschen lassen sich auf der körperlichen Ebene ebenso feststellen wie auf der seelisch-geistigen. In den Confessiones beschreibt Augustinus beispielsweise seine eigene Verfassung vor der Konversion zum christlichen Glauben sowohl in Begriffen seelisch-körperlicher Fehlorientierung (besonders in puncto Sexualität: Conf. III ,) als auch Verwirrung des Willens (Conf. VIII –) und als Konfusion seines philosophischen Weltbilds (vor allem in Conf. V). In dieselbe Richtung weist jene Innovation, die Augustinus mit Blick auf die menschlichen Affekte oder Emotionen vorgenommen hat. Auch hier gelangt er auf der Basis der Erbsündentheorie zu einer neuartigen Einschätzung: Er akzeptiert zwar die stoische Auffassung, wonach Affekte prinzipieller Ausdruck einer verirrten seelischen Haltung sind, weswegen sich der moralisch Fortschreitende um Affekteiheit (apatheia) bemühen müsse. Doch beschränkt Augustinus die Geltung dieser Theorie auf die Konstitution des Menschen vor dem Sündenfall. Hingegen gehört es r ihn zu den Bedingungen der menschlichen Natur in postlapsarischer Zeit (d.h. nach dem Sündenfall), dass Menschen natürlicher- und unvermeidlicherweise Affekte zeigen.¹⁴ Im Hintergrund steht ein doppelter anthropologischer Naturbegriff: Die gegenwärtige menschliche Natur ist durch den Fall depraviert und zeigt Verfallserscheinungen, die während der paradiesischen Phase nicht bestanden haben sollen. Einen Bruch mit der stoischen Affektenlehre kann man in einem weiteren Punkt feststellen: Augustinus interpretiert den Schmerz (dolor) als ein körperliches, nicht ¹³ Vgl. bes. Simpl. I . ¹⁴ Vgl. Civ. IX –, XIV ; dazu Brachtendorf .
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als psychisches Phänomen. Diese Auffassung hat zur Folge, dass man sich nach Augustinus gegen Schmerzen nicht durch eine Transformation der inneren Haltung schützen kann. Auch wer die stoische apatheia erreichen würde, wäre immer noch von physischem Schmerz betroffen. Augustinus ist zudem der Ansicht, dass Schmerz ein Übel und Lust ein Gut ist – wenn auch nicht jeder Schmerz zu meiden und nicht jede Lust zu suchen ist. Anders als die Stoiker und in einer gewissen Nähe zur Güterlehre des Peripatos glaubt Augustinus, Leiden und Krankheit seien Übel und Gesundheit und Wohlbefinden entsprechend Güter. Eine Konsequenz hiervon ist, dass er sich die ewige Verdammnis derjenigen, die nicht gerettet werden, als einen dauerhaen Schmerzzustand vorstellt; entsprechend bildet das ewige Heil einen permanenten Lustzustand. Trotz der deutlichen Transformation seiner ühen Position durch die Erbsündenlehre hält Augustinus an einer grundlegenden anthropologisch-ethischen Überzeugung fest, die die meisten Philosophen der ausgehenden Antike teilen: Er ist der Ansicht, dass sich Menschen um ihres Glücks oder ihrer Erlösung willen sukzessive vom Sinnlichen abkehren und dem Geistigen oder Göttlichen zuwenden sollen, nämlich in Form eines Aufstiegs (anagôgê). Zur Abwendung des Gottsuchers von der sinnlich-körperlichen Welt soll es nach Buch X der Confessiones (X .–.) durch eine zentrale Einsicht kommen: dadurch, dass dieser entdeckt, dass das wesentliche Element alles Sinnlichen in seinen Formen und Ordnungsstrukturen besteht. Nicht das Empirisch-Vielfältige oder das Kontingente, sondern das relativ Beständige, das Erkennbare und das Strukturierende innerhalb der körperlichen Welt ist ihr konstitutives Element. Eben dies beruht aber auf Prinzipien, die sich in reiner Form in der menschlichen Innenwelt finden lassen – eilich ohne dass Augustinus einem subjektiven Idealismus zuneigen würde: es ist r ihn nicht einfach das Subjekt, das die Welt konstituiert. Die deshalb geforderte Wendung »nach innen« ist erstens eine Selbstzuwendung, eine Wendung zur eigenen Seele als dem Erkenntnissubjekt. Genauer betrachtet soll das Innere jedoch »das Bessere« in einem metaphysisch-objektiven Sinn sein (melius quod interius: Conf. X .), nämlich das, was in der Ordnung der Welt höher steht. Mit der »inneren Kra«, die in einem zweiten Schritt innerhalb der Seele entdeckt wird, ist ein ordnendes Vermögen oder ein Orientierungssinn gemeint, ein Vermögen, das dem Menschen mit den Tieren gemeinsam ist. Denn auch Tiere, so Augustinus, sind zu elementaren Interpretations-, Orientierungs- und Bewertungsleistungen imstande; sie können z.B. Außenweltgegenstände nach beutetauglichen und unnützen Dingen differenzieren oder sich im Raum zurechtfinden
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(Augustins Beispiel dar ist, dass Vögel ihre Nester wiederfinden können). Darüber hinaus besitzt allein der Mensch das Denkvermögen (ratio, ratiocinans potentia), das er als »Richter« gebrauchen kann (iudex: Conf. X .). Der Mensch ist zu abstrakten Interpretationsleistungen fähig; er kann zur Welt eine objektiv-distanzierte Haltung einnehmen und das Material der Sinne sowie des inneren Sinnes einer Bewertung unterziehen. Dieses Vermögen nicht nur unbewusst zu gebrauchen, sondern bewusst zu entdecken, macht den dritten Schritt dieser Anagogik aus. Der vierte Schritt soll nun darin bestehen, das Denkvermögen von seiner gewöhnlichen Tätigkeit, dem Erkennen und Beurteilen der sinnlichen Realität, welche in der Seele in Form von Bildern (phantasmata) gegenwärtig ist, ganz abzubringen. Das Denken soll bildlos und ungegenständlich werden. Dann ist der Weg dar ei, dass sich der Aufsteigende dem nen, letzten und entscheidenden Schritt zuwendet: Er soll sich die Frage stellen, von welcher Art das Wissen ist, das er bei einer systematischen Ausschaltung alles Sinnlichen »in sich selbst« entdeckt und woher das geistige Urteilsvermögen, das er besitzt, seine Inhalte und seine Kra nimmt. Wovon oder von wem wird es »erleuchtet«, wenn es ein Urteil tri? Dabei gelangt der Aufsteigende zu einer Einsicht, die in den Confessiones wie folgt formuliert wird: Gott ist die verdeckte Basis meiner Innenwelt; er ist »innerlicher als mein Innerstes und höher als mein Höchstes« (interior intimo meo et superior summo meo: Conf. III ). Impliziert diese Konzeption nicht, dass Menschen unter irdischen Bedingungen glücklich sein können, und zwar aus eigener Initiative? Der junge philosophisch geprägte Christ Augustinus stimmt der Ansicht der römischen Philosophen Varro und Cicero zu, es gebe r das Philosophieren keinen anderen Grund als das Glücksstreben (nulla est homini causa philosophandi nisi ut beatus sit: Civ. XIX ). In der Tradition der antiken Glücksphilosophie versteht Augustinus das Glücksstreben als ein invariantes anthropologisches Merkmal: »Wir wollen glücklich sein« (beatos nos esse volumus: De beata vita .; Trin. XIII .). Das Glück ist notwendigerweise das höchste Ziel menschlichen Handelns.¹⁵ Was allerdings den späteren Augustinus von seinem ühen philosophischen Modell unterscheidet, ist seine grundlegende Skepsis hinsichtlich der Erreichbarkeit des Glücks unter irdischen Voraussetzungen.¹⁶ Das philosophische Weisheitsideal ist, so der Kirchenvater, seit dem Sündenfall unerreichbar geworden. Augustinus teilt irdische Tugenden, wie sie günstigenfalls von Staatsmännern oder Philosophen praktiziert werden, nunmehr in zwei Kategorien ein. Haben ¹⁵ Beata v. .; vgl. Civ. VIII . ¹⁶ Vgl. Brown , –.
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sie ihre Quelle in der Gottes- und Nächstenliebe und sind sie letztlich auf Gott hin finalisiert, so handelt es sich um »wahre Tugenden« (verae virtutes). Eine solche Finalisierung wird erreicht, indem man alles andere dazu ›gebraucht‹ (uti), um letztlich zum ›Genuss‹ (frui) Gottes zu gelangen. Sind sie dagegen von Menschen ausgehende und auf innerweltliche Ziele gerichtete Charakterdispositionen, so muss man sie »eher als Laster denn als echte Tugenden« betrachten (vitia sunt potius quam virtutes: XIX ). Sogar r die »wahren Tugenden« gilt allerdings, dass sie unter irdischen Bedingungen niemals vollständig sein können; ihre Komplettierung erhalten sie erst in der Endzeit. Dennoch wäre es ein Missverständnis anzunehmen, dass die Gnaden- und Erbsündenlehre die augustinische Strebenskonzeption beseitigt oder aufgehoben hätte. Das Modell wird vielmehr beibehalten, aber spezifisch christlich uminterpretiert.
Wille und Willensschwäche In engem Zusammenhang damit ergibt sich eine anthropologische Innovation: Nach Augustins späterer Ansicht ist der menschliche Wille unaufhebbar zerrissen oder partikularisiert. Um diese Ansicht nachvollziehbar zu machen, muss man sich die Willenstheorie von Confessiones VIII ansehen.¹⁷ Sie ergibt sich bei Augustinus als eine Interpretation jenes Konflikts, den Paulus im Römerbrief, Kap. als die Auseinandersetzung zwischen »Fleisch« und »Geist« beschreibt. Nach Augustinus ist das, was Menschen daran hindert, einen rundum guten Charakter zu entwickeln, nicht eine emde Macht und ebenso wenig die eigene Triebkomponente; es ist die »Fessel« des eigenen zerrissenen Willens. Der Wille wird dabei – wie in der klassischen antiken Konzeption seit Platon – nicht als Entscheidungsvermögen, sondern als rationale Strebenstendenz gedacht. Während es aber r Autoren wie Platon und die Stoiker eine eindeutige Ausrichtung aufweist – der Wille (boulêsis) gilt ja als vernüniges Streben zum Guten und Vernun ist stets eindeutig –, glaubt Augustinus, dass diese traditionelle Beschreibung nur auf den Menschen vor dem Sündenfall Adams und Evas zutri. Seit diesem problematischen Fall sei der Wille des Menschen hingegen in zahlreiche Einzeltendenzen aufgespalten, die sich nicht mehr ohne göttliche Intervention vereinheitlichen lassen sollen. Augustins Bericht von seiner endgültigen Bekehrung kann als Beispiel dar dienen: »So kämpen meine zwei Willen miteinander, einer der alte Wille, ein anderer der neue, jener fleischlich, dieser geistig, und ¹⁷ Vgl. Saarinen ; Horn .
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zerrissen durch ihre Zwietracht meine Seele«.¹⁸ Auch r die augustinische Theorie der zerrissenen voluntas in den Confessiones bleibt es dabei, dass beide Teilwillen (voluntates) »meine eigenen« sein sollen. Nur soll der Mensch zu jedem der beiden Teilwillen einen (oder mehrere) gegenläufige Volitionen (Willensakte) besitzen. Wäre dies anders, so könnte sich ein definierter Wille leicht gegenüber dem Körper durchsetzen; genau dies soll jedoch ohne göttliche Hilfe unmöglich sein: keiner der Teilwillen kann zum Gesamtwillen werden. Augustinus erklärt »dieses Unbegreifliche« (hoc monstrum: Conf. VIII .) mittels folgender Überlegung: Die Vorstellung, wir könnten unseren Willen vereinheitlichen, enthalte ein Paradox. Einerseits sei sie überhaupt nur sinnvoll, wenn der Wille nicht schon vereinheitlicht ist; folgerichtig muss es in uns zu jedem Wollen gegenläufige Formen des Nicht- oder Anderswollens geben. Andererseits sei unser Bestimmungsversuch genau deswegen von vornherein sinnlos: da keiner der Teilwillen der ganze Wille ist, ist der Konflikt durch keinen von ihnen aufhebbar. Die verschiedenen Willensakte stehen in einer notwendigen Korrelation. Der Mensch unterliegt aufgrund seiner inneren Zerrissenheit einer dauerhaen »Krankheit des Geistes« (aegritudo animi: Conf. VIII .). Die Tatsache, dass in einem gegebenen Fall gerade zwei Willen miteinander im Streit liegen, spielt r diese Theorie keine Rolle; die Zerrissenheit kann sich ebenso im Auftreten mehrerer Willen manifestieren.¹⁹ Auch muss sich unter den Willensmomenten nicht zwingend ein moralisch guter sowie ein böser Teilwille befinden. Möglich seien auch ausschließlich schlechte Willensoptionen, so etwa, wenn jemand unschlüssig zwischen einem Gladiatorenspektakel, einer Theatervorstellung, einem Diebstahl und einem Ehebruch schwanke; ebenso kann die innere Spaltung im Hin- und Hergerissensein zwischen guten Optionen zum Ausdruck kommen.²⁰ Notwendig ist nur das wechselseitige Ausschlussverhältnis des Wollens. Diese Zerrissenheit des Willens ist r Augustinus eine Folge der Erbsünde, eine »Strafe«, die vor der Wirkung der erlösenden Gnade Gottes »auf meinem Geist liegt.«²¹ Diese aegritudo animi-Konzeption aus den Confessiones bietet nun eine interessante Neufassung des traditionellen Problems der Willensschwäche oder Unbeherrschtheit (akrasia), also des Handelns wider bessere Einsicht.
¹⁸ ¹⁹ ²⁰ ²¹
Conf. VIII .. Vgl. Conf. VIII .;.; Trin. X .. Conf. VIII .. Conf. VIII ..
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Im Unterschied zu Platon und Aristoteles stellt Augustinus das Problem der Unbeherrschtheit nicht länger als die Überwältigung eines guten, rationalen Moments durch ein schlechtes, irrationales dar. Platon wählt bei seiner Behandlung der Willensschwäche im Protagoras als Beispiele r kurzsichtige Vergnügungen und r notwendige Übel Essen, Trinken, Sexualität bzw. Leibesübungen, Feldzüge und ärztliche Behandlungen. Für willensschwache Personen gilt dann, dass sie lieber kurzistige Vergnügungen auch um den Preis langistiger Schädigungen wählen oder kurzistige Übel auch dann meiden, wenn sie langistige Vorteile brächten. Aristoteles berücksichtigt zwar zusätzlich Fälle, in denen sich jemand maßlos auf etwas Erstrebenswertes richtet oder in denen ein tierisches oder pathologisches Triebleben vorliegt; beides dient jedoch allein der Abgrenzung des Problems der Willensschwäche gegen das allgemeine Problem des Überwältigtwerdens. Unbeherrschtheit erscheint so als ein moralisches Problem oder doch wenigstens als ein alltägliches Ärgernis. Der Text Confessiones VIII behandelt das Problem dagegen in drei Hinsichten weiter: (.) Es können mehr als zwei Willen am Konflikt beteiligt sein, (.) Unbeherrschtheit kann auch dann vorliegen, wenn das Gute siegt, (.) die Tatsache, dass das Gute siegt, ist noch kein ausreichender moralischer Gesichtspunkt. Gut ist der Wille bei Augustinus (übrigens wie bei Kant) nur dann, wenn er ausschließlich Gutes will – was er von sich aus jedoch nicht vermag. Bleibt der Wille zerrissen, tri aber eine gute Wahl, wie dies r die Tugenden der Heiden gelte, so handelt es sich, wie wir bereits sahen, eher um »glänzende Laster«. Geheilt werden kann die Zerrissenheit des Willens nur durch göttliche Gnade. Nach vertritt Augustinus folgerichtig die Idee, daß es zwei Ebenen des Willens gibt. Der Wille im emphatischen Wortsinn ist der gute Wille (voluntas recta, Civ. XIV ), der aber nur durch ein Zusammenspiel (Synergismus) von menschlicher Willensentscheidung (liberum arbitrium) und göttlicher Gnadenwirkung zustande kommen kann. Der menschliche Normalfall ist hingegen die perversa voluntas, innerhalb deren dem liberum arbitrium nur die Möglichkeit verbleibt, zwischen mehr oder weniger schlechten Teiloptionen auszuwählen. Dies ist die strebenstheoretische Konzeption, nach der im Willen die Gesamtausrichtung des Menschen auf das höchste Gut zum Ausdruck kommt. Dennoch deckt sich Augustins Modell nicht mit dem bei Platon und Aristoteles, da der Kirchenvater zusätzlich ein Entscheidungsvermögen kennt und nicht annimmt, dem rationalen Streben seien lediglich Affekte und Begierden entgegengesetzt. Augustins böser Wil-
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le ist natürlich nicht einer, der beständig das Schlechte wählt, sondern der zerrissene Wille. Wie in Kants Religionsschri (/) zeigt sich radikale Bosheit also bereits darin, dass jemand neben Gutem auch Böses will. Bei Augustinus hrt die Gegenüberstellung dieser beiden Willen zu einer prinzipiellen moralischen Differenz. In De civitate dei entfaltet Augustinus die Dichotomie von verkehrt und richtig orientiertem Willen (malus amor, bonus amor: Civ. XIV ), wie wir bereits gesehen haben, zur pointierten staatsphilosophischen Antithese von terrena civitas und civitas dei.
Die Konzeption der Erbsünde und ihre sozialen und politischen Folgen Die Theorie, nach der die gesamte Menschheit in einem verdammungswürdigen Ausmaß schuldig ist, ist allerdings keineswegs so rational, wie es Augustinus erschienen sein mochte. Denn wie kann ein Mensch stellvertretend r alle anderen gesündigt haben? Wie soll man sich die physische Übertragung einer moralischen Schuld vorstellen? Augustinus sagt, in Adam habe »unser Wesen« (natura nostra) gesündigt. Vielleicht dachte Augustinus hierbei ursprünglich an die (neu-)platonische Weltseelenlehre, welche von Platon und seinen späteren Schülern ursprünglich zur Erklärung der kosmischen Bewegungen (besonders der des Fixsternhimmels) herangezogen wurde: Wenn die Weltseele, deren Teilseelen wir sind, als Ganze gesündigt hätte, wäre es immerhin denkbar, dass sich eine solche Schuld in allen menschlichen Einzelseelen als Merkmal wiederfände. Doch bekennt sich Augustinus nirgends eindeutig zu dieser ganz unbiblischen Auffassung. In jedem Fall ausgeschlossen ist eine Erklärung der Erbsünde aus »Sippenhaftung«: Niemand darf, gleichgültig wie eng verwandt er mit einem Verbrecher ist oder wie nahe er ihm steht, r eine emde Tat zur Verantwortung gezogen werden. Zwei Lösungen bleiben übrig.²² Entweder erscha Gott zugleich mit jeder menschlichen Seele auch eine Verbindung zur Schuld Adams; in einem solchen Kreatianismus geht die Sündentradierung jedoch auf Gott selbst zurück, was r das Gottesbild verheerend ist. Oder die Schuld vererbt sich beim Geschlechtsakt; in diesem Traduzianismus wird jedoch ein moralisches Problem fälschlich als ein biologisches interpretiert. Augustinus sieht zwar den Kategorienfehler, der in der zweiten Antwort liegt, hält an ihr aber ohne nähere Erhellung des Vererbungsvorgangs fest. ²² Vgl. Gn. litt. VII und X; Ep. .
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Eine der wesentlichen Folgewirkungen des menschlichen Sündenfalls liegt r Augustinus in unserer Neigung, triebhaen Begierden zu folgen und dabei jegliche Kontrolle über unser Verhalten zu verlieren. Besonders das sexuelle Begehren (concupiscentia, libido, cupiditas), das in seiner eigenen Biographie eine große Rolle spielte, dient ihm als Objekt der Veranschaulichung: Augustinus beschreibt aushrlich seine ühen sexuellen Erfahrungen, sein jahrelanges Zusammenleben mit einer Frau (der namentlich unbekannten Mutter seines Sohnes Adeodatus) und seine Traumphantasien (die ihn auch als zölibatär lebenden Bischof immer noch beschäigten, vgl. Conf. X .). Sexualität ist r ihn nicht an sich etwas Schlechtes; doch meint er, ihre Sündhaigkeit werde an ihrer willentlichen Unvergbarkeit und ihrer tendenziellen Maßlosigkeit erkennbar. Der Kirchenvater entwickelt die Vorstellung einer ›Paradieses-Ehe‹, also einer sexuellen Verbindung des Ureltern-Paares Adam und Eva, an der nichts Übles gewesen sein soll.²³ Sexualität wird somit keineswegs grundsätzlich verworfen. Unter den Bedingungen des gegenwärtigen Weltzustands hält er Sexualität r akzeptabel, wenn sie in einer Ehe praktiziert wird und der Kinderzeugung dient. Zwar soll die Ehelosigkeit vorziehenswert sein, jedenfalls soweit sie aus christlicher Motivation praktiziert wird, aber der Ehe inhäriert nichts Sündhaes. Auch die sexuelle Lust soll nichts prinzipiell Verkehrtes sein; Augustinus konzediert, wie neuere Predigtfunde belegen, beiden Ehepartnern ein Recht auf eine erllte Sexualität.²⁴ In seiner Anthropologie der beiden menschlichen Geschlechter ist Augustinus ambivalent. Einerseits ist die Frau r ihn keineswegs mängelbehaet. Die biblische Geschichte von der Verhrung des ersten Paares durch eine Schlange (Genesis .–) wird von ihm nicht so interpretiert, als ob das weibliche Geschlecht (wegen Evas Verfehlung) eine irgendwie mindere moralische oder intellektuelle Stellung aufwiese. Ausdrücklich lehnt er die aristotelische Auffassung von der Defizienz des weiblichen Geschlechts ab und betont, Frauen würden bei der Auferstehung erneut zu ihrem weiblichen Körper gelangen.²⁵ Frausein ist also kein zu behebender Mangel, der von Gott am Ende der Zeiten behoben würde. Andererseits konzediert Augustinus dem männlichen Geschlecht eine ganze Reihe von Rollen- und Herrschasprivilegien, die er vor dem Hintergrund seiner eigenen Überzeugungen streng genommen nicht legitimieren kann. ²³ Civ. XIV und –. ²⁴ Vgl. Dolbeau . ²⁵ Civ. XXII .
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In seiner politischen Anthropologie findet die Konzeption von Sündenfall und Erbsünde ebenfalls einen markanten Niederschlag. Irdische Gerechtigkeit bleibt wegen der Korruption der menschlichen Strebensorientierung nur in dem Sinn möglich, dass es durch einen christlichen Herrscher zu rudimentären Ausformungen einer zuiedenstellenden staatlichen Rechtsordnung kommen kann. Augustinus weist somit alle Idealstaatsmodelle zurück. Noch ein weiterer Aspekt einer Restmoral bleibt jedoch übrig: In De civitate dei XIX vertritt Augustinus die Position, es gebe niemanden, der ohne Restelemente von Moral auskommen könne. Wie er am Beispiel des mythischen Straßenräubers Cacus feststellt, muss selbst dieser stillschweigend die Friedens- und Rechtsordnung voraussetzen, um seinen Raubzügen ungestört nachgehen zu können (XIX ). Nicht einmal der konsequenteste Egoist könne den Primat des Friedens vor dem Unieden aufheben, wenn auch nur im Blick auf sich selbst. In dieselbe Richtung weist Augustins Aussage, selbst der unmoralischste Krieg werde um eines künigen Friedens willen unternommen. Und der innere Friede eines noch so korrupten Staates (und damit auch der Räuberbande), seine geordnete Eintracht (ordinata concordia), ist in De civitate dei ein bleibendes Indiz r die umfassende göttliche Friedensordnung, selbst wenn hier nur eine Schwundstufe dieser Ordnung vorliegt (XIX ). Allgemein gesprochen, kann die Strebensordnung von Personen oder Institutionen nicht rundum pervertiert sein; sie enthält immer bleibende Spuren ihrer ursprünglichen, auf Gott gerichteten Finalisierung. Analog zu den verbliebenen Elementen einer ursprünglichen göttlichen Gerechtigkeit findet sich in der augustinischen Geschichts- und Staatsanalyse eine Tendenz zur ungeschminkten realpolitischen, tendenziell pessimistischen Deutung politischsozialer Verhältnisse. Augustinus scheint der erste Staatsphilosoph gewesen zu sein, der menschliches Leiden scharf akzentuiert und als grundsätzlich unüberwindbar angesehen hat; er begrei Politik als Möglichkeit einer allenfalls schrittweisen Verbesserung der Lebensverhältnisse, als Chance zur graduellen Verringerung des Übels, nicht als Anwendung einer Idealkonzeption oder als Herstellung vollkommener Verhältnisse. Bei Augustinus finden sich aufschlussreiche Beispiele r eine Situationsbeschreibung, die auf seiner tendenziell pessimistischen Anthropologie beruht, etwa seine Beschreibung des Herrschasstrebens als des Grundmotivs der römischen Expansion, oder das Beispiel des Richters, der zur Wahrheitsfindung Foltermethoden einsetzt und sich dabei trotz bester subjektiver Absichten in Unrecht verstrickt (XIX ). Als weiteres Beispiel lässt sich die schonungslose Predigt anhren, in der der Kirchenvater das politische Treiben städtischer Verwaltungen brandmarkt; dieses sei
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einzig von Faktoren bestimmt wie dem Ausbeutungsstreben, dem persönlichen Ehrgeiz, von Herrschsucht, Verschwendung und Ruhmsucht. Beginnend mit dem Brudermord Kains (welcher zugleich als erster Stadtgründer präsentiert wird: XV –), sieht Augustinus die Geschichte politischer Herrscha mehrheitlich als Unrechtsund Katastrophengeschichte an. Deutlich zeigt sich dies an den heidnischen Weltreichen, vor allem am Römischen Reich, an dessen Ursprung er ebenfalls einen Brudermord sieht, begangen von Romulus an Remus. Ähnlich fällt auch die augustinische Bewertung des Gerichtswesens aus. Obwohl der Kirchenvater etwa die Folter bei Strafprozessen r moralisch illegitim hält, gesteht er ihre Unvermeidlichkeit unter Bedingungen irdischer Rechtsfindung zu. Dabei beklagt er zwar ihren faktischen Gebrauch, fordert aber nicht, sie abzuschaffen (XIX ). Man sollte jedoch den Einfluss der Sündenfallkonzeption auf Augustins Anthropologie nicht so verstehen, als ob er gewissermaßen seine ältere manichäisch-dualistische Konzeption von der gleichzeitigen Präsenz von Gutem und Üblem im Menschen restituiert hätte. Vielmehr nimmt Augustinus an, die ursprüngliche Perfektion der göttlichen Schöpfung sei – in der menschlichen Natur wie auch in jeder anderen Hinsicht – gravierend vermindert, nicht aber verloren. Zudem soll die verloren gegangene Vollkommenheit am Ende der Zeiten unter Bedingungen einer Versöhnung von Gott und den Menschen restituiert werden.²⁶
Literatur Quellen Aristoteles. Ethica Nicomachea. Hrsg. von Ingram Bywater. . Aufl. Oxford . (Zitiert als NE). Augustinus. »De animae quantitate«. In: PL. Bd. , Sp. –. (Zitiert als An. quant.). —— »Antiarrianische Schriften: Sermo Arrianorum, Contra sermonem Arrianorum, Collatio cum Maximino Arrianorum episcopo, Contra Maximinum Arrianum«. In: Opera · Werke. Hrsg., übers. und komm. von Hermann-Josef Sieben SJ. Bd. . Paderborn . —— »De beata vita«. In: PL. Bd. , Sp. –. (Zitiert als Beata v.). —— »Confessiones«. In: PL. Bd. , Sp. –. (Zitiert als Conf.). —— »De civitate dei«. In: PL. Bd. . (Zitiert als Civ.). —— »De diversis quaestionibus LXXXIII«. In: PL. Bd. , Sp. –. (Zitiert als Div. qu.). —— »De vera religione/Die wahre Religion«. In: Opera · Werke. Hrsg., übers. und komm. von Josef Lössl. Bd. . Paderborn . ²⁶ Vgl. Civ. XXII .
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—— »De diversis quaestionibus ad Simplicianum«. In: PL. Bd. , Sp. –. (Zitiert als Simpl.). —— »Epistulae«. In: PL. Bd. . (Zitiert als Ep.). —— »De Genesi ad litteram«. In: PL. Bd. , Sp. –. (Zitiert als Gn. litt.). —— »De libero arbitrio«. In: PL. Bd. , Sp. –. (Zitiert als Lib. arb.). —— »De libero arbitrio/Der freie Wille«. In: Opera · Werke. Hrsg., übers. und mit einer Einl. vers. von Johannes Brachtendorf. Bd. . Paderborn . —— »De magistro/Der Lehrer«. In: Opera · Werke. Hrsg., übers. und komm. von erese Fuhrer. Bd. . Paderborn . (Zitiert als mag.). —— »De moribus ecclesiae catholicae et de moribus manichaeorum/Die Lebensführung der katholischen Kirche und die Lebensführung der Manichäer«. In: Opera · Werke. Hrsg., übers. und komm. von Elke Rutzenhöfer. Bd. . Paderborn . —— »Retractationes«. In: PL. Bd. , Sp. –. (Zitiert als Retr.). —— »Sermones«. In: PL. Bd. . (Zitiert als Serm.). —— »De trinitate«. In: PL. Bd. , Sp. –. (Zitiert als Trin.). Migne, Jacques-Paul, Hrsg. Patrologiae cursus completus. Series Latina. Paris –. (Zitiert als PL).
Weitere zitierte Literatur Brachtendorf, Johannes (). »Cicero and Augustine on the Passions«. In: Revue des études augustiniennes , S. –. Brown, Peter (). Augustinus von Hippo. Leipzig. Cary, Phillip (). Augustine’s Invention of the Inner Self. e Legacy of a Christian Platonist. Oxford. Dolbeau, François (). Augustin d’Hippone, Vingt-six sermons au peuple d’Afrique. Paris. Hölscher, Ludger (). Die Realität des Geistes. Heidelberg. Horn, Christoph (). »Willensschwäche und zerrissener Wille. Augustinus’ Handlungstheorie in Confessiones VIII«. In: Unruhig ist unser Herz. Interpretationen zu Augustins Confessiones. Hrsg. von Michael Fiedrowicz. Trier, S. –. O’Daly, Gerard J. P. (–). Art. »Anima, animus«. In: Augustinus-Lexikon. Hrsg. von Cornelius Peter Mayer. Bd. . Basel, S. –. Pépin, Jean (). »Pourquoi l’âme automotrice aurait-elle besoin d’un véhicule? Nouveaux schèmes porphyriens chez saint Augustin«. In: Traditions of Platonism. Essays in Honour of John Dillon. Hrsg. von John J. Cleary. Aldershot, S. –. Saarinen, Risto (). Weakness of the Will in Meldieval ought. From Augustine to Buridan. Leiden. Taylor, Charles (). Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt a. M. van Oort, Johannes u. a., Hrsg. (). Augustine and Manichaeism in the Latin West. Leiden, Boston und Köln.
Über die Autoren Ursula Bittrich ist zur Zeit Visiting Scholar an der Ohio State University, Department of Greek and Latin. Sie forscht über Allegorie, Traum und Traumdeutung im . Jh. n. Chr., mit Schwerpunkt auf Aelius Aristides. Buchpublikation Aphrodite und Eros in der antiken Tragödie. Mit Ausblicken auf motivgeschichtlich verwandte Dichtungen (). Yves Bossart ist Doktorand an der RWTH Aachen. Er forscht über die Ästhetik des späten Wittgenstein. Jan N. Bremmer ist Emeritus r Religionswissenschaen an der Universität Groningen. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Griechische, römische, ühchristliche sowie zeitgenössische Religion, Sozialgeschichte und Wissenschasgeschichte. Buchpublikationen (in Auswahl): The Early Greek Concept of the Soul (), Greek Religion (), The Rise and Fall of the Afterlife (), Greek Religion and Culture, the Bible and the Ancient Near East (), Roman Myth and Mythography (mit Nicholas Horsfall, ). omas Buchheim ist Professor r Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Metaphysik (Philosophie der Freiheit; Begriff der Seele), Ontologie (Naturphilosophie, Begriff der lebendigen Substanz), Antike Philosophie, bes. Aristoteles, Vorsokratiker und Sophistik, Klassische deutsche Philosophie (Leibniz, Kant, Schelling). Buchpublikationen (in Auswahl): Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens (), Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt (), Aristoteles (), Unser Verlangen nach Freiheit (). Christoph Horn ist Professor r Antike Philosophie sowie r Praktische Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte sind historische und aktuelle Ansätze der Moralphilosophie und der politischen Philosophie. Buchpublikationen (in Auswahl): Plotin über Sein, Zahl und Einheit (), Augustinus (), Antike Lebenskunst ().
Über die Autoren
Ludger Jansen ist wissenschalicher Mitarbeiter am Institut r Philosophie und geschäshrendes Vorstandsmitglied des Zentrums r Logik, Wissenschastheorie und Wissenschasgeschichte (ZLWWG) der Universität Rostock. Er forscht über antike und mittelalterliche Philosophie ebenso wie über die Anwendung formaler Ontologien in den Informationswissenschaen. Er ist Autor von Tun und Können () und Mitherausgeber von Biomedizinische Ontologie. Wissen strukturieren für den Informatikeinsatz (). Christoph Jedan ist Dozent an der Fakultät r Theologie und Religionswissenschaften der Universität Groningen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der antiken Philosophie sowie in der gegenwärtigen politischen Philosophie. Er veröffentlichte u.a.: Willensfreiheit bei Aristoteles? (); Modalities by Perspective. Aristotle, the Stoics and a Modern Reconstruction (mit N. Strobach, ); Stoic Virtues. Chrysippus and the Religious Character of Stoic Ethics (); Visies op goed burgerschap. Deugden in de programma’s van Nederlandse politieke partijen en in de publieke perceptie (Ansichten über Bürgerschaft: Tugenden in den Programmen niederländischer politischer Parteien und in der öffentlichen Wahrnehmung, , mit G. de Looijer); Exploring the Postsecular. The Religious, the Political and the Urban (Hg. zusammen mit A.L. Molendijk und J.R. Beaumont, ). Zbigniew Nerczuk arbeitet am Institut r Philosophie der Nikolaus-KopernikusUniversität Toruń (Polen). Sein Forschungsschwerpunkt ist antike Philosophie, insbesondere die Sophisten, Platon und die Skeptiker. Er ist Autor von Sztuka a prawda (Technê und alêtheia, ) sowie Miarą jest każdy z nas (Jeder von uns ist das Maß, ) und Übersetzer von Thomas von Aquins De deo und Sextus Empiricus’ Adversus mathematicos ins Polnische. Matthias Perkams ist Akademischer Rat r Philosophie und Klassische Philologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Hauptinteressengebiete liegen in der antiken und mittelalterlichen sowie der praktischen Philosophie. Buchpublikationen (Auswahl): Liebe als Zentralbegriff der Ethik nach Peter Abaelard (); Proklos. Methode, Seelenlehre, Metaphysik (hg. zusammen mit R.M. Piccione, ); Das Problem der Willensschwäche in der mittelalterlichen Philosophie. The Problem of Weakness of Will in Medieval Philosophy (hg. zusammen mit T. Hoffmann und J. Müller, ); Selbst-
Über die Autoren
bewusstsein in der Spätantike. Die neuplatonischen Kommentare zu Aristoteles’ De anima (). Joachim Söder ist Professor r Philosophie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abt. Aachen. Seine Forschungsschwerpunkte sind philosophische Anthropologie in Antike und Mittelalter, Theorien des Willens und der Rationalität. Buchpublikationen (Auswahl): Kontingenz und Wissen (); Albertus Magnus: De homine (mit H. Anzulewicz, ); Johannes Duns Scotus: Pariser Vorlesungen (); Platon-Handbuch (mit C. Horn und J. Müller, ) Niko Strobach ist Professor r Analytische Philosophie am Philosophischen Institut der Universität des Saarlandes. Neben der theoretischen Philosophie in systematischer Hinsicht ist die antike Philosophie sein historischer Forschungsschwerpunkt. Buchpublikationen: The Moment of Change (), Modalities by Perspective (mit Christoph Jedan, ), Einführung in die Logik (), Alternativen in der Raumzeit (). George H. van Kooten ist Professor r die Ursprünge des Christentums an der Universität Groningen. Er ist Spezialist r das griechisch/römische Umfeld des Neuen Testaments und Autor von Paul’s Anthropology in Context: The Image of God, Assimilation to God, and Tripartite Man in Ancient Judaism, Ancient Philosophy and Early Christianity und des Einhrungskapitels in D. Jeffrey Bingham (Hrsg.), The Routledge Companion to Early Christian Thought (). Hartmut Westermann ist wissenschalicher Mitarbeiter am Seminar r Philosophie der Universität Erfurt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der antiken, mittelalterlichen und Renaissance-Philosophie sowie in der Argumentationstheorie und Religionsphilosophie. Er ist Autor von Die Intention des Dichters und die Zwecke der Interpreten – Zu Theorie und Praxis der Dichterauslegung in den platonischen Dialogen () und Mitherausgeber von Philosophische Anthropologie und Lebenskunst – Rainer Marten in der Diskussion (). Jula Wildberger ist Associate Professor of Classics and Comparative Literature an der American University of Paris. Sie forscht u.a. über hellenistische Philosophie, kaiserzeitlichen Stoizismus und literarische Darstellungsformen der Philosophie, insbesondere die sogenannte Diatribe. Buchpublikationen (in Auswahl): Seneca und die
Über die Autoren
Stoa. Der Platz des Menschen in der Welt (), Seneca, De ira/Über die Wut, Lateinisch/Deutsch (), Lukian, Symposion. Griechisch/Deutsch ().
Siglenverzeichnis
Aër. Hippokrates. De aëre aquis et locis.
De arte Hippokrates. De arte.
Aff. Dig. Galen. De propriorum animi cuiuslibet affectuum dignotione et curatione.
De fin. Marcus Tullius Cicero. De finibus bonorum et malorum..
Alc. I Platon. Alkibiades I.
De hom. dign. Giovanni Pico della Mirandola. Oratio de hominis dignitate.
An. Aristoteles. De anima.
De leg. Marcus Tullius Cicero. De legibus.
An. quant. Augustinus. De animae quantitate.
De princ. Origenes. De principiis.
Arrighetti Epikur. Opere. Hrsg. von Graziano Arrighetti. . Aufl. Turin . APo Aristoteles. Analytica Posteriora. Bacch. Euripides. Bakchen. BCH Gorgias von Leontinoi. Reden, Fragmente, und Testimonien. Hrsg., übers. und komm. von omas Buchheim. Hamburg . Beata v. Augustinus. De beata vita. Cat. Aristoteles. Categoriae. CEG Petrus Allanus Hansen, Hrsg. (). Carmina epigraphica Graeca saeculi IV a. Chr. n. Berlin und New York. Civ. Augustinus. De civitate dei. Conf. Augustinus. Confessiones. C. Faust. Augustinus. Contra Faustum.
De vita Moysis Gregorius Nyssenus. De vita Moysis. Degani² Enzo Degani, Hrsg. (). Hipponactis testimonia et fragmenta. . Aufl. Stuttgart und Leipzig. Diller Hippokrates. Ausgewählte Schriften. Hrsg. und übers. von Hans Diller. Stuttgart . Discours Gottfried Wilhelm Leibniz. Discours de Métaphysique. Div. qu. Augustinus. De diversis quaestionibus LXXXIII. DK Hermann Diels und Walther Kranz, Hrsg. (). Die Fragmente der Vorsokratiker. . Aufl. Bde. Dublin und Zürich. DL Diogenes Laërtius. Leben und Meinungen berühmter Philosophen. DNH Nemesius Emesenus. De natura hominis.
Siglenverzeichnis
El. Sophokles. Elektra.
HF Euripides. Hercules Furens.
Enn. Plotin. Enneaden.
HNH Galen. In Hippocratis De natura hominis.
Ep. Augustinus. Epistulae.
Horoi [Ps.]-Platon. Horoi. Definitionen. Ep. ad Luc. Seneca. Ad Lucilium Epistulae Morales. In ep. Io. tr. Augustinus. In epistulam Iohannis ad Parthos tractatus. Epit. [Ps.]-Apollodor. Bibliothecae Epitoma. Erga Hesiod. Werke und Tage. Eum. Aischylos. Eumeniden. Euth. Platon. Euthydemos. FGrHist Felix Jacoby, Hrsg. (–). Die Fragmente der griechischen Historiker. Berlin. GA Aristoteles. De generatione animalium. GC Aristoteles. De generatione et corruptione. Gn. c. Man. Augustinus. De Genesi contra Manicheos. Gn. litt. Augustinus. De Genesi ad litteram. Gorg. Platon. Gorgias. HA Aristoteles. Historia animalium.
Hum. Hippokrates. De humoribus. [Hum.] [Ps.]-Galen. De humoribus. IA Aristoteles. De incessu animalium. I. Erythrae Helmut Engelmann und Reinhold Merkelbach, Hrsg. (). Die Inschriften von Erythrai und Klazomenai. Bd. . Bonn. IG August Böckh u. a., Hrsg. (–). Inscriptiones Graecae. Bde. Berlin. Il. Homer. Ilias. Imm. an. Augustinus. De immortalitate animae. In Ad Coloss. Johannes Chrysostomus. In epistulam ad Colossenses. In De an. Johannes Philoponus. In Aristotelis De anima libros commentaria. [In De an.] [Ps.]-Simplicius [i.e. Priscianus Lydus]. In libros Aristotelis De anima commentaria.
Hec. Euripides. Hekabe.
In Phys. Simplicius. In Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria.
Hel. Euripides. Helena.
Int. Aristoteles. De interpretatione.
Hipp. Euripides. Hippolytos.
In Io. eu. tr. Augustinus. In Iohannis evangelium tractatus.
HellPh Brad Inwood und Lloyd P. Gerson, Hrsg. (). Hellenistic Philosophy. Introductory Readings. . Aufl. Indianapolis.
Kühn Galen. Opera Omnia. Hrsg. von Karl Gottlob Kühn. Bde. Leipzig –.
Siglenverzeichnis
Laks Diogenes of Apollonia. La dernière cosmologie présocratique. Hrsg., übers. und komm. von André Laks. Lille .
NE Aristoteles. Nikomachische Ethik.
Lex. Hom. Apollonius Sophista. Lexicon Homericum.
Od. Homer. Odyssee.
Lib. arb. Augustinus. De libero arbitrio.
OF Albertus Bernabé, Hrsg. (). Orphicorum et Orphicis similium testimonia et fragmenta. Leipzig und München.
Littré Hippokrates. Œuvres complètes. Hrsg. und übers. von É. Littré. Bde. Paris –.
NH Hippokrates. De natura hominis. OC Sophokles. Oidipous auf Kolonos.
Or. Euripides. Orestes. Ord. Augustinus. De ordine.
Lloyd Geoffrey Ernest Richard Lloyd, Hrsg. (). Hippocratic Writings. Harmondsworth (Penguin Classics).
Opt. med. Galen. Quod optimus medicus sit quoque philosophus.
Logik Immanuel Kant. Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen.
OT Sophokles. Oidipous Tyrannos.
LS Anthony A. Long und David Sedley (). e Hellenistic Philosophers. Cambridge.
Pecc. Dig. Galen. De animi cuiuslibet peccatorum dignotione et curatione.
LXX Septuaginta. Maehler Pindar. Carmina cum Fragmentis. Hrsg. von Herwig Maehler und Bruno Snell. . Aufl. . Mag. Augustinus. »De magistro«. In: PL. Bd. , Sp. –. Mem. Xenophon. Erinnerungen an Sokrates. Met. Aristoteles. Metaphysik. Morb. Hippokrates. De morbis. Morb. sacr. Hippokrates. De morbo sacro. Mus. Augustinus. De musica. MXG [Ps.]-Aristoteles. Über Melissus, Xenophanes und Gorgias.
PA Aristoteles. De partibus animalium.
Periegesis Pausanias. Periegesis. PG Jacques-Paul Migne, Hrsg. (–). Patrologiae cursus completus. Series Graeca. Bde. Paris. PH Sextus Empiricus. Pyrrhôneioi hypotypôseis. Outlines of Pyrrhonism. Phaidr. Platon. Phaidros. PHP Galen. De placitis Hippocratis et Platonis. PL Jacques-Paul Migne, Hrsg. (–). Patrologiae cursus completus. Series Latina. Paris. PMG Denys Lionel Page, Hrsg. (). Poetae Melici Graeci. Oxford. Pol. Aristoteles. Politik.
Siglenverzeichnis
Prot. Platon. Protagoras.
Symp. Platon. Symposion/Das Gastmahl.
Protr. Aristoteles. Protreptikos. Hinführung zur Philosophie.
g. Hesiod. eogonie. t. Platon. eätet.
QAM Galen. Quod animi mores corporis temperamenta sequuntur.
uc. ukydides. Der Peloponnesische Krieg.
Rep. Platon. Der Staat.
Tim. Platon. Timaios.
Resp. Aristoteles. De respiratione.
Top. Aristoteles. Topica.
Retr. Augustinus. Retractationes.
Trin. Augustinus. De trinitate.
SEG Jacob J. E. Hondius u. a., Hrsg. (–). Supplementum epigraphicum graecum. Leiden.
Treatise David Hume. A Treatise of Human Nature.
Serm. Augustinus. Sermones. Simpl. Augustinus. De diversis quaestionibus ad Simplicianum. Singer Galen. Selected Works. Übers. von Peter N. Singer. Oxford (e World’s Classics). SMT Galen. De simplicium medicamentorum tempramentis ac facultatibus. Sol. Augustinus. Soliloquia. Stob. Johannes Stobaeus. Anthologium. Strom. Clemens von Alexandria. Stromateis. Suppl. Euripides. Die Schutzflehenden. SVF Hans von Arnim, Hrsg. (–). Stoicorum veterum fragmenta. Bde. Leipzig.
TrGF Richard Kannicht und Stefan Radt, Hrsg. (–). Tragicorum Graecorum Fragmenta. Bde. Göttingen. Tusc. Marcus Tullius Cicero. Gespräche in Tusculum. Usener Epikur. Epicurea. Hrsg. von Hermann Usener. Leipzig . Vita Plotini Porphyrius. Vita Plotini. VM Hippokrates. De prisca medicina. Voigt Eva-Maria Voigt, Hrsg. (). Sappho et Alcaeus. Fragmenta. Amsterdam. Wehrli² Fritz Wehrli, Hrsg. (/). Die Schule des Aristoteles. . Aufl. Basel. West² Martin Litchfield West, Hrsg. (). Iambi et elegi Graeci ante Alexandrum cantati. : Archilochus. Hipponax. eognidea. . Aufl. Oxford.
Personenverzeichnis
A Abramowski, Luise, Adams, Douglas Q., Adams, Edward, Aischylos, , , , , –, , Albert, Hans, Alexander von Aphrodisias, , , Alkmaion, –, Aly, Wolfgang, Anaxagoras, , , , Anaximenes, Anderson, William Scovil, Annas, Julia, Apollonius Sophista, Aristarchos von Samos, Aristophanes, , , , Aristoteles, , , , , –, , , , , , , Arlt, Gerhard, Armstrong, John M., Arnim, Hans von, , , , , Asmis, Elizabeth, Assaël, Jacqueline, Atherton, Catherine, Augustinus, , , , , , , , –
Auricchio, Longo, Ausfeld, Karl Friedrich, Avicenna, B Bakker, Egbert J., Balles, Irene, Barnes, Jonathan, , Bartelink, Gerard J. M., Basileios von Caesarea, Bechert, Heinz, Beierwaltes, Werner, , , Berkeley, George, Bernabé, Albertus, Betz, Hans Dieter, , Bien, Günther, Biraud, Michèle, Birkhan, Helmut, Boardman, John, Bobzien, Susanne, Böckh, August, , Bodewitz, Henk, Boethius, Bonhoeffer, Dietrich, Bos, Abraham P., Brachtendorf, Johannes, Braun, Ludwig, Bremmer, Jan N., , , , , , ,
Personenverzeichnis
Brennan, Tad, Broadie, Sarah W., Brouwer, René, Brown, Eric, , Brown, Peter, Brunschwig, Jacques, Buchheim, Thomas, , , Burgundio von Pisa, Burkert, Walter, , , , , –, , , , , Burnett, Anne Pippin, Burnyeat, Myles F., Bury, Robert G., , Busche, Hubertus, Buthelius, C., C Cairns, Douglas, , Calame, Claude, Calogero, Guido, Campbell, Gordon, , Cary, Phillip, Casadio, Valerio, Cassin, Barbara, Cassmann, Otto, Casson, Lionel, Caswell, Caroline P., Chadwick, John, Chamberlain, Charles, Cheyns, André, Chrysipp, , , –, , , , , , Chrysostomus, Johannes, , Cicero, Marcus Tullius, , , , , , ,
Clark, Stephen R. L., , , Clarke, Michael J., , , Classen, Carl Joachim, , , Cleanthes, Clemens von Alexandrien, Cooper, John Madison, Cornford, Francis Macdonald, Courcelle, Pierre, Cousins, Lance Selwyn, Cürsgen, Dirk, D Dalfen, Joachim, Damascenus, Johannes, Daraki, Maria, , De Lacy, Estelle Allan, De Lacy, Phillip Howard, , Degani, Enzo, Demokrit, , , Des Places, Édouard, Diels, Hermann, , , , , , – , , , , Dierauer, Urs, , Dihle, Albrecht, Dillon, John, , , , , Diogenes Laërtius, , , , , , Diogenes of Apollonia, Diogenes von Sinope, , Dodds, Eric Robertson, Dolbeau, François, Donini, Pierluigi, Dudley, John, Duncan, Thomas Shearer, , Dunn, Francis M.,
Personenverzeichnis
Dunn, James D. G., Duns Scotus, Dupréel, Eugene, , , E Ebert, Theodor, Edelstein, Ludwig, Ehnmark, Erland, Eichner, Heiner, Einarson, Benedict, Elias, Norbert, Embree, Ainslie Thomas, Emilsson, Eyjólffur, Empedokles, , , , , , , , , Emsbach, Michael, Engberg-Pedersen, Troels, Engelmann, Helmut, Epiktet, , Epikur, – Erler, Michael, Euben, J. Peter, , , Euklid, Euripides, , , , –, – Everson, Stephen, , F Farrar, Cynthia, Festugière, André-Jean, , , Feuerbach, Ludwig, Fischer, Joachim, Flashar, Hellmut, , Flavius Josephus, , Foucault, Michel, Fowden, Garth, Fowler, Don Paul,
Fowler, Robert L., Furley, David, G Gagarin, Michael, Gaiser, Konrad, Galen, , , –, , Gehlen, Arnold, , Gelzer, Thomas, Gerson, Lloyd P., , , Giesz, Ludwig, Gigante, Marcello, Gigon, Olof, , Gill, Christopher, , , Giovinazzo, Grazia, Gladigow, Burkhard, Goldhill, Simon, , , Gomperz, Theodor, Gordon, Pamela, Gosling, Justin Cyril Bertrand, Graeser, Andreas, Graf, Fritz, , , Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa, –, , Grethlein, Jonas, , , Grilli, Alberto, Guthrie, William Keith Chambers, , , – H Habermas, Jürgen, Halbfass, Wilhelm, Halfwassen, Jens, , Hall, Edith, Halliwell, Stephen, Hankinson, Robert James, , ,
Personenverzeichnis
Hansen, Petrus Allanus, Hay, David M., Heckel, Theo K., , Heidegger, Martin, Heinimann, Felix, Held, Katharina, Heraklit, , , –, –, , , Herder, Johann Gottied, Hesiod, , , , –, , , , Hierokles, Hilt, Annette, Hippokrates, , , , , –, , , Hipponax, Hoerster, Norbert, Höffe, Otied, Hoffmann, Ernst, Holladay, Carl R., Holowchak, Mark Andrew, Hölscher, Ludger, Hölscher, Uvo, Homer, , , Hondius, Jacob J. E., , Horn, Christoph, , , , Hossenfelder, Malte, Howald, Ernst, Huber, Carlo E., Huffman, Carl A., Hultgren, Stephen, Hume, David, Hundt, Magnus, Hunger, Herbert, , Hussey, Edward,
I Ibsen, Henrik, Inciarte, Fernando, Ingenkamp, Heinz Gerd, Inwood, Brad, , , Isokrates, J Jacoby, Felix, , Jaeger, Werner, , , Jahn, Thomas, , Jamblich, Janka, Markus, Jansen, Ludger, , Jedan, Christoph, , Johnston, Sarah Iles, , Jouanna, Jacques, , –, , Jürß, Fritz, K Kahn, Charles, Kallis, Anastasios, Kalogerakos, Ioannis G., , Kannicht, Richard, , , Kant, Immanuel, , , , , Karttunen, Klaus, Kennedy, George Alexander, Kerferd, George Briscoe, –, , , –, , , Kidd, Ian G., Kingsley, Peter, Kippenberg, Hans Gerhard, Kleanthes, Klees, Hans, Kleve, Knut, Knebel, Gerda,
Personenverzeichnis
Kobusch, Theo, , Koch, Heinrich A., Konstan, David, , , Koziak, Barbara, Krämer, Hans Joachim, , Kranz, Walther, , , , , , – , Kripke, Saul, Kullmann, Wolfgang, , Kurz, Dietrich, L Laks, André, Landmann, Michael, , , Latacz, Joachim, Laursen, Simon, , , , , Lavecchia, Salvatore, Leibniz, Gottied Wilhelm, Lesky, Albin, Levison, John R., Libanios, Lloyd, Geoffrey Ernest Richard, Lloyd-Jones, Hugh, Long, Anthony A., , , , , , , , , , , , Lovejoy, Arthur O., Lukrez, , –, , , , , , , , , , –, M Maier, Eva Maria, Mansfeld, Jaap, , , Manuwald, Anke,
Manuwald, Bernd, March, Jennifer R., Marcus, Joel, Marett, Robert Ranulph, Markschies, Christoph, Marquard, Odo, , , Marrou, Henri Irénée, Martin, Alain, Masi, Francesca Guadalupe, Matzker, Reiner, Mendelson, Alan, Menn, Stephen, Merkelbach, Reinhold, , Migne, Jacques-Paul, , Mittelstrass, Jürgen, Moncho, José R., Moore, George Edward, Morani, Moreno, Müller, Reimar, Muller, Robert, Murray, Gilbert, Mylonas, George E., N Nehring, Alfons, Nemesius Emesenus, , , – Nestle, Wilhelm, , , , , , Newiger, Hans Joachim, Nickel, Rainer, Nietzsche, Friedrich, , Nussbaum, Martha, , , Nutton, Vivian, , , , , O O’Daly, Gerard J. P., , , O’Keefe, Tim, ,
Personenverzeichnis
Origenes, , P Padel, Ruth, Page, Denys Lionel, Pagels, Elaine H., Panaitios, Paulus, , , – Pausanias (Empedokles-Schüler), , Pausanias (Geograph), Pearson, Birger A., Pépin, Jean, Perkams, Matthias, , Pfeiffer, Rudolf, Pherekydes, Philo von Alexandria, , , – Philodem, , , Philoponus, Johannes, Pico della Mirandola, Giovanni, Pikhaus, Dorothy, Pindar, , , , –, Platon, , , , , –, , –, , , –, , –, Plessner, Helmuth, , Plotin, – Plutarch, , , , , , , –, Pàmias, Jordi, Pohlenz, Max, Politês, Nikolaos G., Polybos, Pomeroy, Porphyrios, Porphyrius, , ,
Poseidonios, , , Price, Anthony W., , Primavesi, Oliver, Priskian von Lydien, , Proklos, Protagoras, , , , –, , , , , , , , , , , , , [Ps.]-Apollodor, [Ps.]-Dionysios Areopagita, [Ps.]-Platon, [Ps.]-Simplicius, siehe Priskian von Lydien Pucci, Pietro, Purinton, Jeffrey S., Pyrrhon von Elis, Pythagoras, , , , R Radt, Stefan, , , Rashed, Marwan, Reinhardt, Karl, Remes, Pauliina, , , Rethe, Johann, Riedweg, Christoph, Rist, John M., Robert, Louis, Robinson, Thomas M., Rohde, Erwin, , Roig Lanzillotta, F. Lautaro, Roloff, Dietrich, Romilly, Jacqueline de, Rosenmayer, Thomas G., Rosenthal, Franz, Rousseau, Jean-Jaques,
Personenverzeichnis
Runia, David T., S Saarinen, Risto, Schadewaldt, Wolfgang, Schäfer, Christian, , , Schaller, Berndt, , , Scheler, Max, , Schibli, Hermann S., , , Schirren, Thomas, Schlesier, Renate, , Schmid, Wilhelm, , Schmidinger, Heinrich, Schnaufer, Albrecht, Schneiders, Werner, Schnelle, Udo, , Schofield, Malcolm, , Schramm, Michael, Schroeder, Frederic M., Schubert, Charlotte, Schulthess, Peter, Schwerhoff, Gerd, Scolnicov, Samuel, Scott, Dominic, Seaford, Richard, , , Searle, John R., Sedley, David, –, , , , , , , , , Segal, Charles Paul, , , , Seidl, Horst, Seitz, Oscar J. F., Seligman, Paul, Sellars, John, Sellin, Gerhard, Seneca, , , , ,
Setaioli, Aldo, Sextus Empiricus, , –, , – Sharples, Robert W., , Sider, David, Sihvola, Juha, Simplicius, , Simplikios, Smith, Martin Ferguson, Snell, Bruno, Söder, Joachim, Solmsen, Friedrich, , , Sophokles, , –, – Sourvinou-Inwood, Christiane, , , , Spaemann, Robert, Stählin, Otto, , Stauber, Josef, Steel, Carlos G., Steiger, Hugo, Steiner, Peter M., Stein-Hölkeskamp, Elke, Sterling, Gregory E., Stern, Menahem, Stobaeus, Johannes, –, Sullivan, Shirley Darcus, , , , Synesios von Kyrene, Szaif, Jan, , , Szlezák, Thomas A., , T Taylor, Charles, Taylor, Christopher Charles Whiston, , Telfer, William,
Personenverzeichnis
Theophrast, , Theunissen, Michael, Thom, Johan C., Thomson, Ann, Thukydides, Tielemann, Teun, Tolomio, Ilario, Tornau, , , , Tornau, Christian, , , Tsouna, Voula, U Untersteiner, Mario, V van den Berg, Robert M., , van den Broek, Roelof, van der Eijk, Philip, , van der Mije, Sebastiaan Reinier, van Kooten, George H., , , , van Oort, Johannes, Vander Waerdt, Paul, Varro, Marcus Terentius, Verbeke, Gérard, Verdenius, Willem Jacob, , Verlinsky, Alexander, Vernant, Jean-Pierre, , , Vidal-Naquet, Pierre, , , Violante, Maria L., Vlastos, Gregory, Vogt, Katja Maria, , Voigt, Eva-Maria, Voigt, Uwe, Vollenweider, Samuel,
W Wagner, Ellen, Warren, James, , , , Weber, Max, Wedderburn, Alexander J. M., Wehrli, Fritz, – Wernhart, Karl R., West, Martin Litchfield, , , West, Stephanie, Whittaker, John, Wieland, Wolfgang, Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, , Windelband, Wilhelm, , Winter, Bruce W., , Winter, Martin, Wittgenstein, Ludwig, – Wolf, Ursula, Wolters, Gereon, Woolf, Raphael, Wyller, Egil A., X Xenokrates, Xenophanes, , Xenophon, , , Z Zeitlin, Froma I., , , Zeller, Eduard, Zenon, , , , , , Zhmud, Leonid,
Schlagwortverzeichnis
A Abbild, , Affekt, , , , , –, siehe auch Emotion aisthêsis, siehe Wahrnehmung akrasia, siehe Willensschwäche alêtheia, siehe Wahrheit Altruismus, anankê, siehe Notwendigkeit anamnêsis, siehe Erkenntnis, durch Wiedererinnerung Aneignung, – Anthropologie, Wortgeschichte, , Anthropomorphismus, Arbeitsteilung, , Art, , , , –, Arzt, siehe Medizin Atomismus, –, Aufklärung, Aufstieg als Erkenntnisweg, , , , – Autonomie, B Bedürfnis, , , , , , , , , , Begierde, , , , , , –,
Bewegung, , , , –, , , , , Bewusstsein, –, , Bildung, Biologie, , , –, –, C Charakter, , , , –, , , , , , D Daimonion, , – Definition, , , , –, , , , nach differentia specifica und genus proximum, Degeneration, siehe Verfall Demiurg, – Denken, , –, –, , , , , , , , , – , , , , , Gegenstand des, , , – Determination, siehe Freiheit Dialektik, , , , , Dialog, – differentia specifica, siehe Definition Diotima, Disposition, – doxa, siehe Meinung
Schlagwortverzeichnis
Drama, siehe Tragödie dynamis, siehe Fähigkeit; Disposition
E Eindruck, in der stoischen Handlungstheorie, , , Element, , , – ellampsis, siehe Erleuchtung Emotion, , , , , , –, Empfindung, , , , siehe auch Affekt; Wahrnehmung entelecheia, Entelechie, –, , , –, siehe auch Seele epistêmê, siehe Wissen ergon, siehe Funktion Erkenntnis, , , , , , , – , –, , , , – , , , , , , siehe auch Dialektik der Idee des Guten, durch Wiedererinnerung, , , Erleuchtung, erôs, siehe Liebe Erziehung, , , , , , , , und Bildung, , und Politik, – eudaimonia, Eudämonie, , , Evolution, , Ewigkeit, , , , ,
F Fähigkeit, , , , , , , , , Fatalismus, fatum, siehe Schicksal Form, –, , , siehe auch Ursache Freiheit, , , , , , – , –, siehe auch Autonomie Freundscha, , , , Funktion, , , , , –, , , , –, , , , , , G Gedächtnis, , Geist, , , , , –, – , , , , , – , , , , , siehe auch pneuma kausale Wirksamkeit des, – Gemeinscha, , , , , , – , , siehe auch Staat genus proximum, siehe Definition Gerechtigkeit, , –, , , , –, , , Gesetz, , , , –, göttliches, ungeschriebenes, Gesundheit, , , , – Gewohnheit, Gleichnis, Höhlengleichnis, – Liniengleichnis, – Sonnengleichnis, ,
Schlagwortverzeichnis
Glück, Glückseligkeit, , , , , , Gott, Götter, , , , , , –, , , , , , , –, , , –, , , –, , –, – , , , , , siehe auch Unsterblichkeit als unbewegter Beweger, Kommunikation mit den Menschen, , Göttliches, , , , , , , , , , , , –, , , Gute, das, , , , –, , H Handeln vs. Leiden, , , , – , Handlung, , , , , , , , , , , –, , , – Harmonie, , –, , Hedonismus, , heimarmenê, siehe Schicksal Held, siehe Heros Heros, , , Heroenkult, , Hikesie, , homoiôsis theôi, siehe Verähnlichung mit Gott Homo-mensura-Satz, , , Humoraltheorie, ,
Hylemorphismus, , , , , I Idee, , , , , als Urbild, , , des Guten, – Lehre von den, Identität, , , kollektive, Innere Praxis, Intellektualismus, ethischer, Intentionalität, K Kognition, siehe Erkenntnis Konvention, –, Körper, , , , , , , , , –, , , – , –, , , , , –, – Körper-Seele-Dualismus, –, , , –, , , –, – , , , –, , – Kosmos, –, , , , , , , , , , , , , , , –, , Krankheit, , , , , , , , der polis, Kult, , , siehe auch Heros; Opfer, Opferkult; Ritus; Schamanismus; Mysterien, eleusinische; Tragödie Kultur, –, , , , –
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Kompensationstheorie der, Kulturtechnik, , Kyrenaiker, L Leben, , , gutes, , , im Einklang mit der Natur, , –, Lebensform, , philosophische, , Lebewesen, , , , , – , , , –, , Licht, , Liebe, , , , , , –, Logik, – logos, siehe Sprache; Vernun Lust, , , , , , –, , , , , , , siehe auch Hedonismus M Mängelwesen, , , , Materialismus, , siehe auch Atomismus Mathematik, –, , Medizin, , –, , – Arzt als Spezialist r, , , , , , , Meinung, , , , , , , – Menschenbild, , , , –, , , , Menscheneund, , Menschentypen,
Mysterien, eleusinische, Mythos, –, , , , , , , , , siehe auch Gleichnis; Tragödie vom Kugelmenschen, , , , N Natur, , , , , , , , , – , , , , , , – , –, , , , , , als Anlage, , , , , , , –, , – als Ursache, – höhere, – im Gegensatz zu Gesetz/Kultur, –, , , Naturphilosophie, , , Neuplatonismus, –, , , nomos, siehe Gesetz; Konvention Notwendigkeit, , , nous, , , –, –, , –, siehe auch Denken; Vernun aktiv vs. passiv, von draußen, – O oikeiôsis, siehe Aneignung Ökonomieprinzip, skeptisches, , Opfer, Opferkult, , , , , Ordnung, göttliche, , , , , siehe auch Kosmos Organ, , , Organismus, , ,
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organon, siehe Werkzeug ousia, siehe Wesen; Form P pathos, siehe Empfindung phainomenon, siehe Phänomen Phänomen, , , phronêsis, siehe Weisheit Physiologie, , –, , , physis, siehe Natur pneuma, , –, und Blut, – und nous, – pneumatikoi, , , – polis, siehe Staat Politik, –, , , , , – Polytheismus, , praxis entos, siehe Innere Praxis Prinzip, –, –, , , , , , , , , , , , , , siehe auch Ursache psychê, siehe Seele psychikoi, , – Psychologie, , –, , , , , –, monistische, , Pythagoreer, –, , , Q Qualität, R Reinkarnation, , –, , , , , ,
Religion, , , , , , , siehe auch Kult; Polytheismus; Schamanismus Rhetorik, , , – Ritus, , , siehe auch Hikesie S scala naturae, , , Schamanismus, Schicksal, , , , , , , , , , , , Schöpfung, , , , , Schuld, , , –, siehe auch Sühne Seele, , , , , , , , , – , , , , , – , , , , –, –, –, als Bewegungsprinzip, –, als Entelechie, , –, Einheit der, –, , Teile der, –, , , , , –, , –, –, Umwendung der, und Staat, – Unsterblichkeit der, , , , , , , –, –, , , Vermögen gemäß der, Selbstbeherrschung, Selbstbewegung, , Selbsterhaltung, , , , Selbsterkenntnis, , , , , Sinne, siehe Wahrnehmung
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Sitten und Gebräuche, , , , , , Skepsis, Skeptiker, – sôma, siehe Körper sophia, siehe Weisheit Sophisten, Sophistik, , , –, , , , , Sozialität, , , , , siehe auch Gemeinscha Sprache, , –, , , , , , , , , , , siehe auch zôion logon echon Staat, , , , , , , , , , , siehe auch zôion politikon Formen des, idealer, Sterblichkeit, –, , , siehe auch Unsterblichkeit Stoa, Stoiker, –, – Streben, , , , , , , , , , , Sühne, , synkatathesis, siehe Zustimmung T Tagödie, technê, siehe Fähigkeit; Kulturtechnik Teleologie, –, telos, siehe Ziel telos-Formel, Tier, , , , , , , –, , , , , , – , , , , to ti ên einai, siehe Wesen
Tod, , , , , , , , , – , –, , , , siehe auch Sterblichkeit Tragödie, , – und Kult, Transzendenz, , , Traum, , , , Tropus, , , , Tugend, , , , , , , – , , , , , U Unsterblichkeit, –, , siehe auch Reinkarnation; Seele der Götter, , , , , , des Menschen, , Ursache, , , , Form als, , V Verähnlichung mit Gott, Verantwortung, , siehe Freiheit Verfall, – Vermögen, , –, Vernun, , , –, , , , , –, , , , –, , , , – , , , Verstand, , , Vier-Säe-Lehre, siehe Humoraltheorie Vollendung, siehe entelecheia, Entelechie Vorbegriff, – Vorsokratik, Vorsokratiker, , , – Vorstellung, ,
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W Wahn, Wahnsinn, , , , –, Wahrheit, , , , , , , , , , , , Kriterium r, , , , siehe auch Homo-mensura-Satz Wahrnehmung, –, , –, – , , , , , –, , , –, , , , –, –, – , siehe auch Eindruck, in der stoischen Handlungstheorie aktive vs. passive, Gegenstand der, , , , , Weise, der, , , – Weisheit, , , , , Werkzeug, , , , , , siehe auch Körper-Seele-Dualismus Wert, , , , , , Wesen, , , , , , siehe auch Natur des Menschen, –, , , –, –, –, , , –, , , , , Wesensform, Wiedererinnerung, siehe Erkenntnis, durch Wiedererinnerung Willenseiheit, siehe Freiheit Willensschwäche, , , ,
Wirklichkeit, , , , , , , , , , siehe auch Erkenntnis; Idee Wissen, , –, , , , , , Z Zeit, Ziel, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , des Menschen, , , , , , , , , , siehe auch Natur Zielursache, , Zivilisation, , , , , –, siehe auch Staat zôion logon echon, , zôion politikon, – Zufall, , – Zustimmung,