Ein Weg zur Philosophie [Reprint 2020 ed.] 9783112317808, 9783112306536


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German Pages 147 [156] Year 1962

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INHALT
EINLEITUNG WISSENSCHAFT UND GANZHEITS-PHILOSOPHIE
I. VON NIETZSCHE BIS ZUM SCHEMA DER FÜNF DIMENSIONEN
II. VON KANT UND NIETZSCHE ZU PLATON
III. ÜBERGANG ZUM PHILOSOPHISCHEN AMT
IV. LEIBNIZ. UNIVERSITÄT KIEL
V. DER GIPFEL IN HERDER, GOETHE, HÖLDERLIN
VI. NICOLAI HARTMANN GEGEN LEIBNIZ
VII. DER DICHTER ALS PRIESTER
VIII. GANZHEIT UND SPEZIALISTENTUM
IX. DIE GESAMTSICHT
ANMERKUNGEN
BIBLIOGRAPHIE
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Ein Weg zur Philosophie [Reprint 2020 ed.]
 9783112317808, 9783112306536

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KURT HILDEBRANDT EIN WEG ZUR PHILOSOPHIE

KURT

HILDEBRANDT

BRONCEBÜSTE VON LUDWIG THORMAEHLEN

f

K U R T HILDEBRANDT

EIN WEG ZUR PHILOSOPHIE

19 6 2

H. BOUVIER u. CO. VERLAG • B O N N

Im Namen des Verfassers und seiner Freunde dankt der Herausgeber DR. h. c. H A N S F R E U D E N B E R G für seine großherzige Spende, durch welche die Herausgabe des Buches in dieser Weise möglich wurde. Auch den Subskribenten sprechen wir den Dank für die Mithilfe aus.

Alle Rechte vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen © H. Bouvier u. Co. Verlag. Bonn - 1962 Printed in Germany. Satz und Druck: Paul Funk, Berlin W 30

INHALT Einleitung. Wissenschaft und Ganzheits-Philosophie I. Von Nietzsche bis zum Schema der fünf Dimensionen

1 6

II. Von Kant und Nietzsche zu Piaton

23

III. Übergang zum philosophisdien Amt

43

IV. Leibniz. Universität Kiel

65

V. Der Gipfel in Herder, Goethe, Hölderlin VI. Nicolai Hartmann gegen Leibniz VII. Der Dichter als Priester VIII. Ganzheit und Spezialistentum IX. Die Gesamtansicht

79 86 96 109 116

Anmerkungen

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Bibliographie

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EINLEITUNG WISSENSCHAFT UND

GANZHEITS-PHILOSOPHIE

Man pflegt die philosophische Forschung streng in zwei Haupt-Disziplinen zu zerlegen: Systematische Philosophie und Historie der Philosophie. Aber der Denker stockt bereits: Wer ein System der Philosophie gründen wollte, müßte ab ovo beginnen, ohne geschichtliches Vorwissen aus sich heraus das gesamte Welt-System spinnen. Wer dürfte heute in der Menge der um Bildung Bemühten sich das ernstlich anmaßen? Wenn aber im letzten Jahrhundert die Bemühung um Systeme immer mehr verspottet wird - wer kann zuletzt nodi die H i s t o r i e der Philosophie begreifen, ohne dies denkende Geschehen mit zu erleben, ohne im philosophischen Geist zu schauen? Der Fachgelehrte der Philosophie steht vor dem vernichtenden Zirkel: ohne Philosophie-Historie ist die Philosophie fast undenkbar - und ohne Philosophie gibt es keinen Zugang zur Philosophie-Geschichte. Philosophie heißt Wesensschau, und Wesensschau beruht auf Ganzheitsschau - oder da diese unmöglich zu vollenden ist, auf dem Schauen der E r scheinungen in bezug auf die Ganzheits-Idee. Alle grundsätzlich teilhafte Erkenntnis verfällt den wissenschaftlichen Fächern, und wenn diese selbst der Philosophie wesenhaft angehören, so doch nur als Vorstufen oder technische Mittel. Mögen sie in fortschreitenden Ergebnissen der exakten Forschung noch so sehr befriedigen: eigentlich philosophisch sind sie erst in ihrem lebendigen Bezug auf die Ganzheit. So die Logik, so die Mathematik, so eine nicht wahrhaft „ethische" Gesetzesmoral. In der uns gegebenen Welt des Daseins, des Lebens und Erkennens gibt es aber zwei Begriffe der Ganzheit: das All, der Kosmos (oder das Chaos?) unendlich oder doch uns unermeßlich, uns endlichen Wesen also unfaßlich. Und die Einzelganzheit, das Individuum, die leiblich-faßbare Gestalt: das Ich, das Selbst, die leibgewordene Entelechie. Auch sie für das denkend-begriffliche Erfassen unendlich: Individuum est ineffabile, doch dem Mitindividuum in sinnlich-seelischer Wahrnehmung überwältigend klar als Wirklichkeit, noch vor allem methodischen Denken gegeben, in der Ur-Begegnung durch Furcht und Liebe erschütternd. In Antike und Mittelalter galt dafür die Formel Makrokosmos und Mikrokosmos. Welt und Menschen stehen in Analogie. Eins ohne das andere ist dem Menschen unerkennbar, unwirklich für sein Dasein. Mancher spezialistische Gelehrte erwidert: das ist unbewiesen, unbeweisbar - es ist eine phantastische Hypothese, die mit echter Wissenschaft nichts zu tun hat. W i r fordern bewiesene Tatsachen. Wissenschaft ist die Erkennt-

1 Hildebrandt,

Philosophie

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nis des kausal-notwendigen Geschehens, die allein auf Grund der festgestellten Gesetze das künftige Geschehen voraussagt. Die Historie, die rein empirisch das Vergangene erzählt, galt nicht als echte „Scientia". So sagt der exakte Naturforscher und das klingt sinnvoll und überzeugend. Man würde sich bei diesem Mehrheitswillen, wenigstens als idealem Leitsatz gern beruhigen, wenn nicht die philosophischen Störenfriede wären, die seit Piaton wissen, daß es solche philosophische „Wissenschaft" nicht gibt und niemals geben kann. Der Wille und die schöpferische Freiheit des Menschen, auch das Seelenleben der Tiere, vermutlich alles Lebendige überhaupt, widersprechen diesem mechanischen Notwendigkeitsverlauf. Wohl sind die exakten Disziplinen hoch wirksame Mittel, die Umwelt auszubeuten. Aber ist das eine Weisheitsliebe und -lehre, die programmatisch, diktatorisch alles, was dem Leben Sinn, Freude, Wert verleiht, ausschaltet? Je weiter der Mensch den erkennenden Umblick ausweitet, Europa und die Erdteile, Sonne und Sterne mit bewundernswerten Werkzeugen und kritischer Denkleistung betrachtet und berechnet, um so mehr stimmen die erkannten Bilder überein. Lebt er sich aber in die enge Umwelt ein, aus der seine vitalen und seelischen und geistigen Kräfte stammen, so können sich diese Bilder als Haus und Hof, als Heimat und Volk um so mehr unterscheiden. So schien naiven Forschern und Idealisten reiner Erkenntnis der Leitsatz unerläßlich: a l l e s S u b j e k t i v e aus der Erfahrung ausschalten - dann hat man die wahre Wirklichkeit, die rein-objektive in der Hand - „encheiresin naturae". Subjektiv ist alles Seelische - objektiv der tote Stoff, das mechanische Geschehen. Der Positivismus war stolz, alles Seelische, Schöpferische auszuschalten und lachte über die Metaphysik als mittelalterlichen Wahn. Der tote Mechanismus sei Wirklichkeit, das geistige Geschehen sei unwirkliche Zutat, Epiphaenomen, ideologischer Überbau. Natürlicherweise fühlt sich die Jugend immer den neusten, den fortschrittlichsten Kräften verwandt. Im Auto sausen! Auf den Mond geschossen zu werden! Jeder weiß, daß das Leben dort höchst ärmlich und freudlos sein wird - aber das Ideal des Fortschritts - wenn nicht zufällig die Erde zuvor zersprengt ist. Jeder könnte sich wohl besinnen, ob nicht die natürliche ethische Aufgabe des Menschen sei, die Erde schön und pfleglich zu verwalten, als Garten für ein schönes Leben? Aber wozu? Auch die Fachwissenschaft „Moral" ist fortgeschritten. Wir lernen in der Schule, im Konfirmandenunterricht: Nicht aufs Genießen, nicht auf Freude kommt es an. Piatons und Aristoteles Eudaimonie-Lehre ist veraltet, verderblich. Wir haben den kategorischen Imperativ entdeckt, neben dem die Musen der Freude und der Liebe nur Buhlschwestern sind. Pflicht der Menschen ist Fortschritt der exakten Wissenschaft, die sich als nützlich allerdings erweist, wenn sie der Technik dient. Welche Wolllust, auf dem Motorrad zu sausen mit dem Gefühl zu fliegen. Bricht man den Schädel, so ist's doch im Dienst des Fortschrittes, im Dienst der gesamten Menschheit, für das Ideal des Kosmopolitismus. Das Opfer ist selbstlose Hingabe - Sohn und Enkel werden das Tempo noch steigern. Fiat scientia, pereat mundus. „Ent-Ichung" ist der Weisheit letzter Schluß. 2

Aber auch Naturforscher sind abseits vom Spezialberuf echte Menschen, ganzheitlich, persönlich, beseelt von Ehrfurcht vor göttlichen Mächten, vor Maß und Mitte. Gerade die exaktesten der Exakten, die theoretischen Physiker, wurden sich zuerst der Grenzen der exakten Forschung bewußt. Der verehrungswürdige Planck legte uns mit Goethes Worten ans Herz, das Unerforschlidie ruhig zu verehren - als das Höhere über dem Erforschbaren. Max Born riet den mondbegeisterten Technikern, vom übersteigerten Verstand zur Vernunft zurückzukehren. Heisenberg pries Goethes Methode der Naturforschung höher als Newtons exakte Mathematik. Aber das hilft nicht viel gegen den positivistischen Zeitgeist, der sich gerade in der Biologie wieder verhärtet. Und abgesehen davon: wirksame Autorität haben auch jene Physiker nur als exakte Spezialisten, und wo sie auf Grund dieser Autorität, nicht einfach als Bürger, in das politische Leben eingreifen wollen, wird dies von der andern Seite her sehr bedenklich, denn auch die Politik bedarf, wie Sokrates wußte und forderte, der eignen Fachmänner. Die notwendige Unterscheidung von Subjekt und Objekt führt, wie gerade Heisenberg herausstellte, in ein kaum lösbares Problem. Alle Forschung, die bis zum Lebendigen, Seelischen vordringen will, kann sich nicht auf reine Ratio beschränken: sie muß - wie man immer deutlicher sieht - in einer vorwissenschaftlichen menschlichen, noch ursprünglich-ganzheitlichen Erkenntnis wurzeln: Ich und Welt, Mikrokosmos und Makrokosmos in seiner einfachsten Form. Dieser polare Gegensatz ist eine „harmonische Entgegensetzung" im Sinne Hölderlins. Daß die Wissenschaft anstelle dieser durch das Kosmische bewahrten Harmonie den absoluten Gegensatz subjektiv und objektiv gesetzt hat, ist ein Abirren vom Wesentlichsten. Zwar haben Kant und seine „erkenntnistheoretischen" Nachfolger diesen Gegensatz in seine Tiefen verfolgt, aber Kant hat bekanntlich im Drange seines Forschens sich nicht pedantisch um eine eindeutige Nomenklatur gesorgt. Vielleicht rührt daher dies „Skandalon" innerhalb der exakten Wissenschaft - gewiß nicht bei den Spezialisten der „Erkenntnistheorie", aber doch bei den Sach-Forschern, die sich auf den Sinn ihres Forschens philosophisch besinnen — daß man unter Subjektivität die Einwirkung der rein-privaten Individuen meint und darüber vergißt, daß die gesamte seelische Innenseite des wirklichen Lebens oder mindestens des bewußten Lebens, zum „Subjektiven" gehört. Die Erkenntnisse von Augustin und Descartes, daß das Einzige uns objektiv sicher Gegebene eben nur das Ich ist, diese Grundlage schließlich auch des subjektiven Idealismus von Kant und Fichte, scheint der kleinen Minorität von Spezialisten vorbehalten. Doch auch das überindividuelle Ich Kants, auf die reine Ratio beschränkt, enthält nicht das wirkliche persönliche Leben. Aber von der Erkenntnis dieses überindividuellen Ich strömte auf die Folger, die „Idealisten", eine solche Zuversicht aus, die Entdeckung oder Erfindung des endgültigen „Systems" stünde unmittelbar bevor, daß die größten Denker, Kant inbegriffen, am Ziel hastig um den Sieg rangen. Hegel schien der Sieger, aber mit seinem Tode begann der „Zusammenbruch der großen Systeme", von Kierkegaard, von Nietzsche aus den

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Wurzeln des Lebens überwunden, von den Positivisten als begriffliche Kartenhäuser verlacht. Aber erst die Phaenomenologie Husserls, die neue Existenzphilosophie setzen sich diesem groben „Naturalismus" und dem Psychologismus wirkungsvoll entgegen. Es ist nicht meines Amtes, mich kritisch mit Heideggers Philosophie auseinanderzusetzen oder sie zu bewerten. Es ist nicht zu leugnen, daß er uns von allen eingefahrenen Schlagworten befreit und dem Seienden und dem Bewußtsein auf den Grund geht. Er fragt nicht bloß nach reiner Ratio, exakter Wissenschaft, sondern nach dem schöpferischen Geist, den er vor allem in Hölderlins, des Mythendichters Versen aufsucht. Das schöpferische Ich, die wirkliche Weltsubstanz spricht sich in ihnen aus. Philosophie ist mehr als ein Spezialfach der objektiven voraussetzungslosen Wissenschaft. Man darf die verschiedenen Formen der Existenzphilosophie im groben Überschlag der „Lebensphilosophie" zurechnen, gegen die die strengen Kantianer, zumal Rickert, Protest einlegten, weil sie nicht nur in logisdien Beweisen nach Kants Kategorientafel verfährt. Auf Grund der Doppeldeutigkeit des Begriffes „Intuitionismus" versuchte man ziemlich wirkungslos das Neue zu diskreditieren (so etwa der jüngere Ebbinghaus). Indem man das gelten ließ, was im Sinne der Platonisdien Dialektik den Partner unmittelbar überzeugte, weil es unbestreitbar (evident) erschien, darf man es zur echten Wissenschaft formen, die der Spaltung subjektiv-objektiv nicht unterliegt. Audi solche wissenschaftliche Philosophie gibt sich Halt in einer Art System, einem freien und offenen, aber immerhin einem System, das nach Verzicht auf die eingeschliffenen Schlagworte eine neue Begriffssprache sprechen muß. Das wiederholt, wenn auch in geringerem Maße, die große Schwierigkeit der „idealistischen" Systemgebäude, die durch ihre Kompliziertheit den philosophischen Laien, den „Menschen" schlechthin, ausschalteten und nur den Spezialisten anreden. Aber so forderte auch der neue Weg wieder die spezialistischen Forsdier und brachte damit schon von Husserl an wieder ähnliche Schwierigkeiten wie bei den Systembauern seit Kant. Was fehlt zur Sinnerfüllung der Philosophie? Für ihre Aufgabe, das gesamte All ganzheitlich-geistig zu durchdringen, die Sprache, die Dichtung, die Religion, den Mythos, muß sie eine leichtere Begriffssprache erfinden, die lebendig der sinnlichen Anschauung nahe bleibt. Wie die Dichter zuletzt auf hoher Stufe wieder den Ton des Volksliedes erreichen, das jeden unverkümmerten Menschen ergreifen kann, so könnte auch die echteste Philosophie den Ganzen Menschen, wenn er an der Wissenschaft im allgemeinen, in irgendeinem besonderen Fach, wenn er aber zugleich an der geistigen „Bildung" teil hat, befassen. Was Bildung ist, müßte dann aus dieser Philosophie geklärt werden. Solche Philosophie würde einiger Zurückhaltung von fremden Fachausdrücken, von komplizierten Begriffsbauten bedürfen. Sie kann ihrer nidit entbehren, sie darf niemals „populär" werden im Sinn eines Verzichtes auf Genauigkeit und Tiefe, aber sie sucht nach einer Vermittlung von Volk und Forscher durch Forschung in der Tiefe des menschlichen Wesens. Das suchte Heidegger wohl, als er „Sein und Zeit" liegen ließ und in den Versen Hölderlins, des großen Me4

taphysikers, von dem Schelling viel, Hegel manches, aber gerade Grundsätzliches gelernt hatten, tiefste Erkenntnis fand. Es genügt uns nicht mehr, die Beschränkung auf das apriori Geltende, das Essentielle zu durchbrechen - auf das Existentielle und uns Zustoßende grundsätzlich zurückgehend, denn wir erfahren, daß wir das Urprinzip der Welt, die schöpferische Kraft nur dann erkennen, wenn wir am schöpferischen Leben, mittätig oder doch mitlebend, aktiv oder passiv, teilnehmen. Wahre Erkenntnis ist dem endlichen Menschen nur zugänglich, wenn sie sich ihm schicksalhaft, im zeitlichen Lebensstrom eröffnet. - D a bäumt sich das Gewissen des reinen Forschers auf: Wo sollen wir hinkommen, w e n n . . . Verfallen wir so nicht dem bloßen Relativismus, dem Individualismus?! - In der T a t : Philosophie gibt es nicht ohne Wagnis. Der Philosoph muß in der Platonischen Dialektik, im Gespräch mit dem Gefährten, in der Gemeinschaft das Beständige, das Gemeinschaft-bildende, das unmittelbar Überzeugende suchen. Das heißt: er muß auf sein eigenes Erleben, sein Schicksal schauen und aus diesem scheinbar Privaten das Bleibende als gestaltende Entelechie, nicht als bloß logisches Ergebnis zu gewinnen versuchen. O b es ihm so gelingt, irgend etwas im Laufe der Geistesgeschichte Bleibendes zu gewinnen, ist Sache des Schicksals. Selbst Piaton glaubte seinen Sieg nidit durch den Fortschritt der Vernunft besiegelt, sondern stellte ihn der theia moira, dem göttlichen Geschick, anheim. In der Philosophie bedarf es nach aller strengen objektiven Arbeit auch der Gnade. Auch die Beherrschung der wissenschaftlichen Hilfsmittel sichert nicht das Letzte: den schöpferischen Vorgang oder die Erkenntnis eines solchen, denn dies eben ist das Wesen des Schöpferischen Ereignisses, daß es aus allem Gegebenen nicht als notwendig abgeleitet werden kann. Wenn es dies Schöpferische (über dem Notwendigen) nicht gibt — wo kommt dann die Welt her? Und wenn wir an diesem Schöpferischen nicht fühlend und erkennend teil haben - gibt es dann ein höheres, den geistigen Menschen erfüllendes Leben? - Wenn es aber so ist, dann hat das wissenschaftliche und philosophische Erkennen keinen Sinn, keinen inneren Halt ohne das Dasein der schöpferischen Menschen. Wer nichts ahnt von dieser schöpferischen Mitte, kann nicht wirklich nach Weisheit streben, philosophieren. Soweit dafür eine neue Sprache nötig ist, um auch den nicht-spezialistischen Denkern, den Menschen verständlich zu werden, bedarf der Philosoph des persönlichen Lebens, des vorwissenschaftlichen Daseins. Dasein und Bewußtheit des vorwissenschaftlichen Menschen ist Grundlage der ganzheitlichen Erkenntnis, der Philosophie. Er muß das Erlebnis der Kindheit innerlich und äußerlich erfahren, Schritt für Schritt die Erkenntnis ausdehnen. So kann er zur vollen Wirklichkeitsbejahung gelangen — allerdings unter der Gefahr, dem Nihilismus zu verfallen - denn ohne dies Wagnis wäre die Philosophie kein echtes Ringen um wahre Wirklichkeit. Augustin, Descartes, Kant, Fichte gingen vom (reinen) Ich aus, da die objektive Welt Täuschung sein könnte. Aber von sich selbst, dem scheinbar „privaten" Individuum auszugehen, um darin zuletzt etwas Dauerndes, der Menschheit über den eigenen

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Tod hinaus Gültiges, sei es auch von sehr beschränkter Bedeutung zu übergeben, wäre absurde Anmaßung. Welterkenntnis besteht für uns nur in Individuen - und Individuen bestehen nur in ihrer Wechselwirkung mit der Umwelt: wie kann der Denker sich aus diesem Zirkel retten? Das letzte Prinzip alles Erkennens wird immer ein Zirkel bleiben, die These, mittels deren wir das Abenteuer wagen. Dies Von-sich-selbst-Reden ist nicht Anmaßung, sondern Bescheidung, daß wir Menschen zur letzten absoluten Erkenntnis des Weltgrundes nicht berufen sind. Mögen Logik, Mathematik, reine ratio ewig gelten - die Erkenntnis des lebendigen Geschehens, der wahren Wirklichkeit, bleibt immer bedingt, endlich. Gewiß bedarf es, um Philosophie aus existentiellen Wurzeln darzustellen, nicht notwendig des Rückgangs aufs eigene Erleben, aber der Versuch auf diesem Wege die Grundlagen des Philosophierens verständlicher zu machen, manche ihrer Bestandteile sichtbarer zu machen, ist auch eines der „existentiellen" Mittel, sich von eingefahrenen Schlagworten zu lösen - oft zeigt man durch Erinnerungen Wesentliches anschaulicher und leichter als durch übersubtile Begriffsanalysen. -

I. V O N N I E T Z S C H E BIS ZUM SCHEMA DER F Ü N F D I M E N S I O N E N Ich wurde 1881 in Florenz geboren, wo mein Vater einige Jahre Prediger an der deutschen Gemeinde war. Mein Großvater Friedrich Wilhelm Hildebrandt war ein entschieden liberaler Prediger, und Lessings Nathan war sein Leitbild. Freud berief sich für seine Idee des Wunschtraumes auf einen Aufsatz von jenem über die Träume. Ebenso war dessen Vater Christian Pfarrer und Schriftsteller gewesen. Auch mein Vater, Maximilian, war als Student liberal, wandte sich aber dann dem schlichten Glauben an das Wort, zumal ans Wunder der Auferstehung zu, in liebender tätiger Frömmigkeit, ohne irgend Neigung zum Dogmatismus. Daß er von den Amtsbrüdern als etwas liberal betrachtet wurde, war ihm nicht unangenehm. Später sagte sein Vater, der Lessingianer, zu ihm, dem Sohn: „Du hast den besseren Teil erwählt." Er war bei seiner schlichten Würde eine ausgesprochen harmonische Natur, immer zum Scherzen bereit, mit großer Freude an allem Schönen. In Florenz hatte er alte Bilder gesammelt, er musizierte gern. Meine Mutter stammte von einem wohlhabenden Kaufmann Lippert, hatte einen stärkeren Lebenstrieb als der früh lungenkranke Gatte, war leidenschaftlicher, stolzer, aber mit strenger Liebe zu Haltung, Verantwortung, Gerechtigkeit. Auch sie war glücklich in Florenz, mit Freude am Schönen, mit Geschmack und Talent. Mit dem Gatten und noch Jahre nachher ordnete sie sich ins kirchliche Leben ein. Beide spielten viel vierhändig, Mozart, Beethoven, und ich lag dann gern unter dem Flügel. 6

Idi war noch nicht drei Jahre, als die Familie nach Magdeburg zurückkehrte. Meist war ich nachdenklich, aber wenn ich mich ungerecht behandelt glaubte, leidenschaftlich. Aus dem fünften Lebensjahr blieb mir ein philosophisches Erlebnis unvergessen: Wir fuhren im Gewittersturm im Raddampfer die Stromelbe hinauf. Vor dem Kajütenfenster sahen wir die "Wogen hoch anschwellen und sich brechen: das war unmittelbar das Wunder des Elementes - kein Augenblick eine verharrende Gestalt und doch die Gewißheit eines beharrenden Etwas. Alles andere, Mensch und Tier, Strauch und Haus, war die gegebene Welt, zu der man selbst gehörte - aber diese Brandung war das Rätsel des Seins. (Die Welt-Substanz des Thaies). Solange mein Vater lebte, stand mir fest, daß ich dem Herrenwort gehorsam einmal Missionar werden müsse. Jener hatte in Florenz dauernde Freundschaft mit dem sehr liberalen Theologen Wilhelm Bornemann geschlossen. Dieser ward danach in Magdeburg der „Geistliche Inspektor" und Professor unseres Gymnasiums, des „Kloster Unser Lieben Frauen" geworden, des herrlichen romanischen Baues. (Später an die Universität Basel berufen, dann Pastor in Frankfurt). Er imponierte uns Schülern durch seine energisch-strenge, seine stoische Haltung und hatte noch ein Auge auf uns Kinder seines Freundes, der starb, als ich zehn Jahre alt war; aber seine Theologie blieb strenge Wissenschaft, seine Moral war stoisches Gesetz - ich suchte im Geistigen unbewußt noch etwas anderes. Noch aus der kindlichen Spielzeit wurde ich durdi meine Vettern Henneberg, vier Studenten der Medizin und Naturwissenschaft, für ernstes Streben gewonnen: Naturwissenschaft. Es waren die Jahre höchster Darwinbegeisterung. Jene Brüder hatten schon als Schüler in Magdeburg einen Ruf erworben: sie besaßen in zehn Schränken die größte Käfersammlung in der Stadt. Nun verwandte auch ich viel Zeit auf das Herbarium, die Insektensammlung, ohne mich selbst zu verstehen: mich interessierte mehr die Systematik, die Ordnung der gesamten Natur - und dies nur als Vorbereitung der philosophischen Welterkenntnis. Idi glühte für den „Darwinismus" und den Mechanismus, das Weltgesetz von der Erhaltung der Energie. Aber jene Vettern pflegten zunehmend auch geistige Interessen, sie schenkten mir zur frühen Konfirmation, bei der idi längst begeisterter Darwinist war: Darwins „Entstehung der Arten", Schweglers „Geschichte der Philosophie" und den „Faust". Die Philosophie der Vorsokratiker schlug mich in ihren Bann: Thaies - das wogende Wasser der Elbe; Anaximander und Empedokles - die Beziehung auf Darwin, Deszendenz und natürliche Zuchtwahl; besonders aber Demokrit - die Atomtheorie. Und daneben die erste Erregung durch den „Faust" - das war etwas ganz andres als Naturforschung: das war die Einheit von Dichtung und Philosophie. Naturwissenschaft und Dichtung waren als wesensverschiedene Mächte in meinem Leben aufgestiegen - waren sie jemals vereinbar? Ein Ruhmverlangen - jetzt durch Heraklit bestätigt - war schon in der Kindheit durch belehrende Lektüre erweckt. Glänzend Reiten und Schießen (Indianerromantik), dann durch Musik die Gemeinschaft begeistern - das

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alles waren, wie ich mir bewußt wurde, bloße Tagträume. Aber durch große Entdeckungen berühmt werden, das empfand ich unmittelbar als großes Ziel, ja als Auftrag. Ich wurde mir wichtig, ich glaubte bisweilen, es sei Frevel, wenn ich Kräfte vergeudete, die diesem Ziel dienen konnten, oder wenn andere mich hinderten. Das viele Lesen, in dem sich Naturwissenschaft und Geschichte ausglichen und dazu die philosophische Besinnlichkeit waren vielleicht dadurch gesteigert, daß in mir der unmittelbare Kontakt mit der sinnlichen Natur und der menschlichen Umgebung nicht sehr lebhaft waren. Ich unterlag einer störenden Schüchternheit bis ins Mannesalter. Fausts unerwartete Verse „Vor andern fühl ich mich so klein; Ich werde stets verlegen sein" gewährten etwas Trost. Allerdings fürchte ich, die Tiefenpsychologen mit ihrer „Überkompensationstheorie" zu enttäuschen. Mit einem Minderwertigkeitsgefühl war diese Schüchternheit nicht verbunden: ich vertraute darauf, daß ich bei näherer Bekanntschaft, bei der Entfaltung nadi der ersten Hemmung, die Menschen für mich und meine Gedanken gewänne, und das bewährte sich bei Mitschülern und Lehrern. Aber meine Tätigkeit als Sammler von Pflanzen und Insekten machte mich nicht glücklich, weil ich dafür keine Gefährten fand. Wenn ich mir Wissen und „Bildung" eifrig anlas, so unterschied ich dabei doch instinktiv ein Ursprüngliches, was schon auf die spätere Unterscheidung Gundolfs von „Bildungserlebnis" und „Urerlebnis" leise vorausdeutete. So pflegte uns Kindern die Mutter abends bisweilen die Hefte des „klassischen Bilderschatzes" zu zeigen. Gegenüber der gewohnten Umwelt, auch den italienischen Gemälden, schienen uns viele Bilder zuerst etwas steif und fremd. D a zeigte sie einmal ein Engelsgesicht von Boticelli und sagte: „das ist doch schön!" Mir fiel es wie Schuppen von den Augen und bis heute besteht in mir, ganz unabhängig von irgendwelchen kunsthistorischen oder ästhetischen Gedankengängen das Bewußtsein dieser Schönheit, so daß mich keine Kritik dabei stört, ja nur interessiert. Aber ich begann mir den Zugang zu weiteren Erlebnissen durch Studium der Kunstgeschichte zu bahnen. Das Systematische und Geschichtliche rückten auf die untere Stufe, aber sie blieben für den NichtKünstler die notwendigen Mittel, den Horizont zu erweitern, sich dem Wesentlichen von manchen Seiten zu nähern. Der Ubergang in die Secunda, bei dem mich mein Bruder in seinen Leseverein und seinen Fußballverein überführte, bedeutete einen Lebensabschnitt: nach dem vielfachen Alleingang lag nun das Gewicht auf der Gemeinschaft nicht als Vereinsmeierei, sondern als Begeisterung für die gemeinsame Tätigkeit, die Interpretation der Dichtung. Beide Vereine waren ganz unabhängig von der Schule, in beiden war anfangs der spätere Dramatiker Georg Kaiser das intensivste Mitglied. Unser Fußballspiel war noch das deutsche, ein freieres Rennspiel, nicht auf eingeschränktem Sportplatz, sondern auf dem riesigen Krakauer Anger, an der alten Elbe, der auch für die Übungen der Infanterie und Artillerie genügte. Dort war dann bei Sonnenuntergängen, selbst bei Schneetreiben das Spiel oft ein elementares Naturerlebnis. Georg Kaiser war 8

mit meinem Bruder nächst befreundet und verkehrte viel in unserer Familie. Wie damals in Magdeburg die besondere Zeit der Lesevereine an den Gymnasien war, so hatte er mit meinem Bruder die „Sappho" gegründet. Er war ein unbedingter Verehrer von Gerhart Hauptmann, den er neben Goethe stellte, und mühte sich selbst schon um die Technik des naturalistischen Dramas. Mir, dem Jüngsten, imponierte seine Persönlichkeit durch seinen höchst energischen Willen, seine geschlossene, feste Haltung, weit weniger die Richtung seines Dichtens und seiner Kritik. Aber es gab mir sehr zu denken, als er mir einmal mitteilte, er habe über mein naturwissenschaftliches Studium nachgedacht und sei über mein systematisches Durcharbeiten der zehn Bände Brehms Tierleben zu keinem günstigen Ergebnis gekommen. Ich sah ein, daß ich mich viel zu sehr in die Kleinlichkeiten der Systematik verlor. Doch geschah meine geistige Erweckung nicht durch Kaiser, sondern durch die Lektüre Nietzsches. Ein für den Übermenschen schwärmender Vetter wollte mir den Zarathustra bringen, konnte aber durch einen glücklichen Zufall nur „Die Geburt der Tragödie" auftreiben. Das war nun eine schwierige und höchst aufregende Lektüre! Bis heute gilt sie mir als Nietzsches schönstes Buch. Nicht Übermensch, nicht Wille zur Macht - noch weniger erkenntniszersetzende Grübelei, sondern der ehrfürchtige Rausch für das frühe Griechentum! Da empfand ich etwas wie ein Urerlebnis, mehr als humanistische Wissenschaft, auch mehr als bloße dichterische Begeisterung - das war Erwachen eines neuen Tatwillens, einer geistigen Wiedergeburt aus glühender Lebensbejahung. Als ich die Beschreibung dieser mythischen Kämpfe des Dionysos las, bei denen Nietzsche in das enthusiastische Bekenntnis ausbricht: „Ach, es ist der Zauber dieser Kämpfe, daß, wer sie schaut, sie auch kämpfen muß!" war ich so hingerissen, daß ich zu mir sagte: „Wenn man dies gelesen hat, so hat sich das Leben gelohnt!" Von da ab studierte ich Nietzsches Werke. Die Kameraden verehrten auch Nietzsches Namen und Glanz - aber im Studium seiner Philosophie war ich doch wieder allein. Jener junge Nietzsche schätzte die exakte Fachwissenschaft ebenso wie die Systemgebäude der Philosophie verglichen mit dem glühenden Leben nicht hoch. Mir war das Problem der Erkenntnis: mechanistische Notwendigkeit oder geistiges Leben wohl bewußt geworden, aber beide Ideale blieben viele Jahre in mir bestehen, ohne daß dieser Widerspruch mich beunruhigte, ja ein minimaler Rest davon ist in mir nie ganz aufgelöst. Goethe, der am schönsten Dichtung und Metaphysik verschmolz, ergriff mich vielleicht aus diesem Grunde besonders. Mit Schillers Pathos glaubten wir früh fertig zu sein, reiften danach aber wieder für seine glühende Idealisierung durch einen Lehrer, der gleichzeitig Kenner der „Moderne" war und zu den Hauptmann- und Sudermann-Premieren nach Berlin fuhr. Mehr als die Naturalisten fesselte midi damals Ibsens „Problematik". Neben diesem Kennertum des modernen Theaters hatte es unser „Probst und Direktor" Urban, Platon-Enthusiast, GoetheVerehrer und frommer Christ, nicht ganz leicht. Er galt als „Stockphilologe" und Verächter der modernen Naturwissenschaft und Technik (damals der Dar9

winismus und der harmlose Phonograph) und etwas veraltet. Als er nun mit uns den Phaidon las, konnte midi die Unsterblichkeitstheorie nicht ganz überzeugen, und der Lehrer sah im formalen Sprachunterricht seine Aufgabe. Aber einmal gab er doch in der Begeisterung einen zarten Fingerzeig von weckender und bis heute wirkender Kraft. Er wies auf das Bild: Sokrates spielend in den Locken des jungen Phaidon, der zu seinen Füßen hockt. Piatons „mimische" Kunst sei im Altertum berühmt gewesen. Das war eine unmittelbare Offenbarung, unabhängig von Geschichtswissenschaft, unberührbar durch Kritik. Aber noch sträubte ich mich gegen die Einsicht, daß der Beruf als praktischer Arzt meinem philosophischen Triebe nidit entsprach und ich entschloß midi nidit zum geistigen Wege. 1900 ging ich nadi München zum Medizinstudium. Der geborene Arzt pflegt sich bei den naturwissenschaftlichen Fächern zu langweilen und aufzuhorchen, wo er etwas für den Heilberuf Brauchbares wahrnimmt. Mir ging es eher umgekehrt: mir schien die Bewertung allein nach dem Nutzen nicht hodi genug und ich strebte nach dem Ideal der „Wissenschaft". Aber die Fach-Vorlesungen ergänzte ich durch solche über Kunstgeschichte und über Dichtung (Munker, Rhiel, v. d. Leyen). Wie glücklich war das geistige und volkstümliche Leben in München, das damals nodh das große Dorf genannt wurde: das Zusammenwirken von klassischer und moderner bildender Kunst (um hier von Theater und Konzert zu schweigen - noch schwärmten wir für Wagner). Ich war verschwägert mit dem damals und noch lange berühmten Landschaftsmaler Ridiard Kaiser, bei dem auch meine Schwester Fanny (später Frau von Paul Thiersdi) malte. So hatten wir nahe Verbindung zu den Malern, die auch Böcklin, den von uns schon längst begeistert verehrten, sehr hodi schätzten, wenn sich auch bei den Fadimännern hin und wieder eine leise Kritik regte. Aber wir lernten auch Leibis Größe verstehen, der zuerst als etwas glatt und nüchtern mißverstanden wurde. Glücklich waren wir in der Schackgalerie, bei Schwind, bei Feuerbadi. Aber das neue Licht, das uns aufging, waren die Pleinairisten, die Impressionisten. Mittags aßen wir in einem bescheidenen Restaurant der Alten Pinakothek gegenüber, wo wir gelegentlich auch die bekannte Gräfin Reventlow, die einfach und bescheiden aussah, mit ihrem Söhndien sitzen sahen. Ihr Protest gegen die Bürgermoral erwarb ihr Sympathie. Nach dem Essen pflegte ich in die Alte Pinakothek zu gehen und midi mit Hilfe der Einführung von Muther in die klassische Bildersammlung einzuleben. Ein wesenhafter Eindruck aber war die Schönheit des katholischen Kultes - eine Weihnachtsmesse in der Frauenkirche, die strahlende Lichterglut der Wachskerzen. (Wenige Jahre danach waren die Kerzen verdrängt durch elektrisches Licht: es war noch viel heller, aber nüchterner). Solche heiligen Feiern in kirchlicher Pracht blieben ein unüberwindlicher Einwand gegen das kalte Licht der Aufklärung. Alle diese Erfahrungen und Eindrücke konnten den metaphysischen Trieb nur zeitweise überdecken. Schon längst hatten midi auch die großen Romane von Tolstoi und Dostojewsky gefesselt, die das Nachdenken über die ethi10

sehen und sozialen Probleme förderten, mich aber nicht in der Tiefe bestimmten. Der entgegengesetzte Trieb nach Sonne und bildhafter Schönheit trieb mich mit zwei Kameraden nach Italien. Verona, Venedig, Florenz - welche beglückende Fülle. Zu den Gemälden und Palästen der Frührenaissance kamen die Gestalten der Mediceerkapelle, der Mensch in gesteigerter Leiblichkeit und doch in harmonischer Anmut - das war ein unmittelbarer Eindruck, der für immer standhielt — zu dem kein historisches Wissen nötig war und den keine ästhetische Kritik gefährden konnte. — So bescheiden, fast ängstlich hatten wir gelebt (ohne am einfachen Chianti zu sparen), daß wir noch fünf Tage in Rom dem Reiseplan zugeben konnten. Aber da standen wir drei nun in Rom, zwei Juristen und ein Mediziner, ziemlich hilflos in der Überfülle. Wo so schnell das Wesentliche finden! Was bei den Trümmern denken, schauen! Ich sah: für dies Erlebnis mußte ich mit der Geschichte der Stadt Rom, mit der antiken Kunstgeschichte vertrauter sein. Hier mußte man säen, um zu ernten. Da taudite ein Urerlebnis erst auf, wenn man es mit Bildung vorbereitet hatte. Sicher waren viele zur unmittelbaren Aufnahme der Kunstwerke begabter, aber es waren wohl nicht allzu viele - im allgemeinen blieb ich skeptisch: wie hatte selbst Goethe um Rom mit seinen Studien ringen müssen. Was wir vom gegenwärtigen Kult in Italiens Kirchen sahen, schien doch nicht die seelische Erschütterung, die wir am Rhein und in München gefunden hatten, eher die sachliche Pflichterfüllung der Gottheit und Gemeinde gegenüber wie vielleicht meist in der Antike. Mit dem Physikum endete diese mehr theoretische Stufe. Aller andere Sport war vertrieben gewesen durch das Bergsteigen, und ein Semester in Genf eröffnete weitere Alpenlandschaften, große Hochtouren, ohne geistige Probleme. Dann siedelte ich für die klinischen Semester nach Berlin über, das mich alsdann für Jahrzehnte beruflich festhielt. Nach Berlin war mein nächster Freund, Friedrich Andreae, der Historiker vorausgegangen. Er hatte sich dem Kreise Kurt Breysig« angeschlossen und dort die Freundschaft mit Friedrich Wolters, dem Lieblingsschüler von Breysig und wohl auch von Schmoller gefunden. In diesem Kreise, zu dem auch bald Berthold Vallentin trat, fühlte ich midi sogleich heimisch. Mit Andreae hatte ich ja schon in der „Sappho" hohe Feste mit Kränzen und Kerzen bereitet - das fand nun seine höhere Erfüllung durch die Pflege der Georgeschen Dichtung. Breysig war in der Geschichts-Philosophie, in der Theorie des gleichmäßigen Stufenbaues ein Vorläufer Spenglers und besaß eine tiefere Bildung in Dichtung und Kunst als dieser. In kunstgeschichtlichen Vorlesungen strebte er nach dem Ton der Weihe: Gotik (und Frührenaissance), Mystik waren seine Ideale. Er war Nietzsche-Verehrer und hatte 1900 die Totenrede in Weimar gehalten. Das waren glückliche Berührungspunkte: Nietzsche und Frührenaissance, gemeinsames Lesen von Gedichten, Stunden der Weihe, die immer klarer zu Georges Dichtung führten! Aber doch fehlte es an manchen Stellen. In der Front gegen rationale Aufklärung standen wir zusammen: das Künstlerische, Dichterische, Kultische stand gegen mechanistische, positivistiII

sehe Wissenschaft. Mit Freuden nahm ich von Wolters die Kenntnis des Nikolas von Cues, von Vallentin die Pflege Ekkeharts und Franziskus auf und dies Seelische und Geistige blieb die Lebensgrundlage. Aber wenn dies bei den Freunden, wie damals bei den meisten geistigen Menschen, mit der Verachtung aller mechanistischen Wissenschaft zur Einseitigkeit in der Philosophie führen konnte, steigerte es bei mir zugleich den Wunsch, in philosophischer Erkenntnis den Ausgleich zu finden. Piatons und Goethes Naturphilosophie, Dantes exakte Astronomie - sollten das alles Irrwege gewesen sein? Breysig, ohne Kenntnis der Naturwissenschaft (bald allerdings moderner „Monist") wollte meine Forschung auf Paracelsus, auf die Medizinmänner lenken. Ich glaubte durch Kants Erkenntnisanalyse die Klärung zu finden. Vergebens - ich fand wohl die nötigen Unterscheidungen, aber nicht die befriedigende Ganzheit, die schöpferische Urkraft. Wie beglückte midi dagegen das Platonische „Gastmahl". Da war der schöpferische Eros, der geistig in den Athenern, aber auch animalisch zeugend in den lebendigen Geschöpfen, ja vielleicht in den kosmischen Kräften des Alls waltet. Und das alles im dichterischen Erlebnis der hohen Freundes-Feier! Da schien es uns nun die Sinnerfüllung eines eigenen Gastmahles, wenn wir das Platonische Gastmahl - jeder einen der Gäste lesend - miterlebten. Breysig, der Nietzsche-Verehrer lehrte uns ja: auf das gelebte Leben komme es mehr an als auf die geordnete Wissenschaft. Aber nun war er es, der nicht mitgehen konnte und der im Gastmahl wieder nur das „übliche Sokratische Gerede" fand. Da deutete sich ein grundsätzlicher Riß an. Breysig war naher Freund Hartlebens gewesen, sie verehrten den jungen Goethe, sahen aber in der italienischen Reise den Bruch. Das Klassische, Raffael war die Entartung ins Akademische. Nietzsche wurde einseitig nach seiner mißratenen Sokrates-Legende geschätzt und gegen seine herrlichen Aussprüche über Piaton blieb man taub. Die Geburt der Tragödie, die Glut für die Vorsokratik, für Aischylos galt für Breysig wenig, die Antike blieb ihm fremd, denn er glühte nur für Urzeit, Germanentum, Mystik. (Was Klages hier bedeutete, sah ich viel später.) Die Medizinmänner der Frühzeit interessierten ihn danach, nicht die moderne Naturwissenschaft. Kein Zweifel: das Lebendig-Geistige mußte sich wehren gegen die Mechanisierung in Wissenschaft und Wirtschaft, gegen die rationalisierende Aufklärung. Idi spürte wohl die mißverstandene Problematik der Zeit: Rationalismus oder Irrationalismus. Aber mein philosophischer Instinkt wehrte sich gegen diese Trennung. Ich sah, daß jene Geistigen, die doch auch ernste Forscher der historischen Wissenschaft waren, nicht nur die exakte Spezial-Wissenschaft, sondern mit ihr zugleich die echte Philosophie infrage stellten. Und ich war überzeugt, daß der „Irrationalismus" um nichts besser sei als der „Rationalismus" - richtiger, daß diese Scheidung nicht sinngemäß sei. Wenige mögen es heute begreifen, wie schwer wir uns in jenen Jahren anfangs des Jahrhunderts das Verständnis des Georgesdien Werkes errangen. Wir genossen diese höchste Kunst der Verse zusammen mit denen von Hofmannsthal, da sie allein uns neben denen Goethes zu klingen schienen, auf den 12

Feiern, die wir mit Breysig lebten, aber noch fehlte uns die Vorstellung, daß wir die Gedichte interpretieren, den Aufbau des Gesamtwerkes nachvollziehen sollten. In den gängigen Literaturgeschichten fanden wir wenig und meist ganz Verständnisloses. Ohne klares Bild wudisen wir ganz allmählich in die Gedidite hinein, spürten wir lebensgestaltende Kräfte. Was heute ein belesener Forscher rückschauend in wenigen rationalen Sätzen erledigt, war für uns ein Ringen um das Verständnis der gestaltenden Form, um die echte Wirklichkeit, über Jahre verteilt. 1906 lernten wir George persönlich kennen und erst seine Haltung erweckte das volle Verständnis für Ernst und Tiefe dieses ganzen Geschehens. Kein wesentliches Eigentum brauchte ich aufzugeben: Goethe, Nietzsche und vor allem Piaton. Georges Werk verstand ich besser durch Piaton und zugleich wurde mir im weiteren Studium Piaton auf höherer Stufe durch George verständlich. Philosophie ist Wissenschaft, aber mehr: sie ist Teilnahme an der wahren Wirklichkeit, Verständnis für Seinshöhe, für Ranghöhe des Menschentums — die höchste Wirklichkeit aber ist das schöpferische Geschehen, nicht das Quantum der Kenntnisse. 1909 las uns Wolters sein Manuskript „Herrschaft und Dienst" vor. Da erst ging es uns auf: mit dem passiven Vernehmen, dem zur Kenntnis nehmen hoher Dichtung war das Wesentliche nicht geschehen - wir mußten aktiv miterleben und, soweit wir dazu fähig waren, durch eigene Leistungen mit voller Verantwortung diesem geistigen Werden dienen. Das war eine neue Stufe unserer geistigen Tätigkeit in unserm Zeitalter. Jener „Irrationalismus", extrem von Klages vertreten, dann von Rudolf Borchardt, der in Vallentin die Verehrung für George und Hofmannsthal erweckt und uns nun in Berlin besucht hatte, konnte doch nur einen Pol in unserm Leben beleuchten. Das Mißtrauen gegen jede Philosophie barg auch die Gefahr in sich, Dichtung zu Journalistik und Literatur werden zu lassen. George, der uns zunehmend vor „Romantik" warnte, ging nie diesen Weg der Einseitigkeit. Friedrich Gundolfs Bruder Ernst verwaltete gleichsam den Sektor der Philosophie und studierte Bergsons Werk und seine breite aktuelle Auswirkung aufs gründlichste. Darin fanden wir, was die damalige Wissenschaft nicht verstand und, wo nicht leugnete, doch übersah: den schöpferischen Strom des Lebens. — Bergson glaubte ich anfangs als Fortwirkung von Schopenhauer verstehen zu können, denn es ging mir damals, wie heute noch den meisten Philosophen: ich wußte fast nichts von Schelling. So dankbar wir aber auch Bergson waren, so wenig ließ sich doch auf die Dauer die Grenze übersehen: Er führte wohl alles auf den schöpferischen Fluß zurück, doch erkannte er dessen Wesen nicht in der Schöpfung der Gestalten. Sinn des Dichters, des Erziehers, des Geschichtsbetraditers aber ist die Gestalt. In unserm dritten Jahrbuch für die geistige Bewegung (1912) veröffentlichte Ernst Gundolf einen 60 Seiten langen, wissenschaftlich subtilen Aufsatz (mit einem Motto aus dem Phaidros) „Die Philosophie Henri Bergsons", den er mit voller Zustimmung Georges geschrieben hatte. Er vermißt an ihm die Anerkennung des Räumlichen, der Gestaltungskraft. 13

Während ich weiter den philosophischen Weg suchte, lernte ich 1912 in Göttingen, im Hause meines Schwagers Jensen, Professors der Physiologie, Edmund Husserl kennen, der mit diesem Ehepaar nahe befreundet war. Gleichzeitig hörte idi von andern Seiten dessen Ruhm verkünden und studierte seine „Logischen Untersuchungen". Ich war Psychiater in der Berliner Anstalt Wittenau, wohin audi Kronfeld aus Heidelberg kam. Im Gegensatz zur mechanistischen Psychologie ohne Seele hatten wir Interesse für Freuds Analyse, die doch wirklich seelische Vorgänge beobachtete, wenn sie sie auch - nidit mechanistisch, aber doch - nach Analogie der Mechanik deutete und die vagsten Analogien als bewiesene Tatsachen lehrte. Nun kam das Ehepaar Abraham von Bleuler her aus Zürich zu Besuch, und verkündete enthusiastisch die neue Theorie. Abraham war vorher, wie ich damals noch in Wittenau, Schüler von Liepmann gewesen, diesem Gehirnphysiologen von Weltruf, der auch philosophisch gebildet war, zugleich, wenn auch sehr kritisch, für alles Neue offen. Dann erschien die „Psychopathologie" von Jaspers, die, obwohl exakt-empirische Methode, doch die sozusagen offizielle Psychologie, die programmatisch nur Anwendung der mechanistischen Gehirn-Physiologie sein wollte, ironisch als Gehirn-Mythologie abtat und statt ihrer die phaenomenologische Methode einzuführen bemüht war. Das war zwar nicht Husserls Philosophie, die apriorische Wesensschau, sondern die empirische Beschreibung der psychischen Phaenomene (also Külpe entsprechend), aber es wurde mit großer Hochachtung vom „eminent schwierigen" Husserl gesprochen. So empfand ich doch den philosophischen Geist dieser Psychiatrie als Befreiung vom medianistischen Zeitgeist, der sich als unmittelbare Erkenntnis der Wirklichkeit auftat und doch auf einer einseitigen, schon von Piaton widerlegten, metaphysischen These beruhte, die zwar als Maxime für die Erforschung des toten Geschehens zweckmäßig war, aber nichts zum Verständnis des lebendigen Geschehens beitrug und zum seelischen Erleben überhaupt keine Beziehung hatte. In Psychologie und Philosophie war seitdem der Mechanismus überwunden: man wurde sidi des Prinzips der Ganzheit bewußt, das ja von je in aller echten Philosophie gewaltet hat. Auch die Zoologie, die ihren Medianismus mit dem Namen Monismus (Monistenbund) verschleiert hatte, machte damals den Sdiritt zur echten Ganzheitslehre. Driesch, der Schüler Haeckels, bewies, daß die Zoologie, die Entwicklung der Keimzellen mit dem Aristotelischen Begriff der Entelechie interpretiert werden müsse. Der Atomismus erklärte kein Leben, der Individualismus keine Gemeinschaft. Man begriff den Satz des Aristoteles: das Ganze ist mehr als die Summe der Teile. J a die Ganzheitsmethode ist in den folgenden Jahrzehnten beinahe Modebegriff geworden. Das Wesentliche davon war uns damals als Ursprung gemäß: Die schöpferische Kraft als Gestaltungskraft, ihre Darstellung in den Gestalten, die selbst solche Einheiten waren - metaphysisch als Mikrokosmos und Kosmos. Husserl lehrte zugleich Platonische Wesenssdiau und tieferes Verständnis der überlieferten Philosophie. Wie weit auch Georges dichterische Gestalten, Bergsons intuitiver Strom, Husserls strenge Analyse des apriori zu Findenden 14

verschieden waren, so fand man doch bei ihnen eine Verwandtschaft in ihrem Widerstand gegen den vom 19. Jahrhundert her fortwuchernden Zeitgeist: sie repräsentierten das ursprünglich Gegebene gegen die begrifflichen Konstruktionen, gegen den Glauben an eingefahrene Schlagworte, gegen Stoffgläubigkeit und spezialisiertes Analysieren. Bei meinem Ungenügen an Kants Kritizismus gab mir ein früher Aufsatz von Max Scheler einen wichtigen Fingerzeig. (Darüber später.) Aber immer noch fehlte mir ein Anstoß aus der Gegenwelt, der mir half, dem eigenen philosophischen Denken die Gestalt zu geben, denn ohne solchen aktuellen Anlaß zum zeitlichen Einhaken können wohl nur im hohen Sinn schöpferische Geister schaffen. Der kam 1911, als ich in München an einem psychiatrischen Ferienkurs Kraepelins, des damals führenden Psychiaters teilnahm. Der damals noch junge Assistent Rüdin führte uns in die moderne Erblichkeitsforschung, in Mendels Lehre ein. Er berief sich dafür auf Kants Satz, daß so viel Wissenschaft in einer Lehre sei, als sie Mathematik enthalte. Für die Psychiatrie war dabei der Begriff Entartung, der damals in der Epoche der naturalistischen Romane (Zola) und Spezialkritik eine so große Rolle spielte, das wesentliche Problem im Gebiete der Erblichkeitsforschung. Methodisch sah man damals als „ N o r m " , als Art, Spezies, von der aus die Entartung bemessen wurde, im positivistischen Geist (oder Ungeist) des 19. Jahrhunderts den rein statistischen Begriff des Durchschnittes an. „Leider" fand man den in der psychologischen Untersuchung praktisch noch nidit anwendbar. Rüdin legte statt dessen, vom Darwinismus ausgehend, den Begriff „Angepaßtheit" zugrunde. Das ist ein Verzicht auf das schöpferische Prinzip, das den Mechanisten als unwissenschaftlich, irrational, ja (horribile dictu) geradezu „mystisch" erschien. „Angepaßtheit" beschränkt das ganze Werden der morphologischen Gestaltenwelt auf bloße Reaktionen auf ä u ß e r e Anforderungen - aktive Produktion bleibt außer Betracht. Auf meine Frage, ob nicht die Sandkörner am Meeresstrand, die runden Kiesel im strömenden Bach so gut angepaßt wären wie eine Eintagsfliege im Sturm, erhielt ich keine Antwort. So verdankte ich diesem Colloqium den Gedanken, ich müsse einen Aufsatz über den NormBegriff schreiben, der die Verbindung zur schöpferischen Lehre vom Leben herstelle. Aber alsbald wurde mir klar, daß diese lebensmäßige Norm-Lehre, diese Annahme einer schöpferischen Kraft (damals) aus dem Metaphysischen begründet werden müsse. Dies Denken entsprach meinem ursprünglichen Verlangen. Um den Menschen war es uns immer zu tun - hier galt die Frage der Anthropologie, die in derWediselwirkung mit der Metaphysik ihre eigene Norm begründen mußte. Was half es, sich bei dem Dualismus von Rationalismus und Irrationalismus, von Geist und Natur, beim ewig unlöslichen Problem von Leib und Seele zu beruhigen. Im Menschen selbst, dem leibhaft gestalteten, war die bildhafte Norm, die Norm-Idee zu schauen. Was half uns eine Transzendenz außerhalb der menschlichen Natur, unsrer Erkenntnis unerreichbar. War denn das nicht Gipfel der christlichen Religion, daß Gott leiblicher Mensdi geworden war? 15

Sarx egeneto. Indem ich damals die Anregungen der geistigen Umwelt, Schulwissen und dichterische Sichten zusammenzog, glaubte ich plötzlich in einem methodischen Schema, einer klaren denkenden Schau die Lösung gefunden zu haben: die fünf Schichten, die Fünfdimensionalität aller lebendigen Gestalten. Ich ging aus von der Erkenntnisanalyse Kants, nidit von seiner „Kritik" als solcher, sondern vom analytischen Aufbau, der sich an Locke schließt. Aber schon wenn er neben den dreidimensionalen Raum die eindimensionale Zeit stellt, äußert sich eine Schwäche: ein Mangel der Ganzheitssdiau. Ohne mich in die höhere Mathematik einzulassen, ließ ich mir durch Minkowskis vierdimensionales Kontinuum den Weg weisen: die vierdimensionale Raum-Zeit - ein vierdimensionales Koordinatensystem für alles medianische Geschehen. Dies System überschreitet zwar die uns apriori gegebene rein-räumliche Anschauung, aber als genau berechenbare Vorstellung der mechanischen Vorgänge in der Zeit ist auch diese vierdimensionale Anschauungsmöglichkeit des reinkörperlichen Geschehens, bestätigt durch die genaueste Berechnung der Physik, apriori gegeben. Wiederholen wir den analogen Schritt in die Fünfdimensionalität, um die Erkenntnis auch im Reiche des Lebendigen zwar nicht rationalberechenbar, doch natürlich anschaubar zu verdeutlichen. Auch diese überrationale, dem schöpferischen Strom nachgehende Erkenntnis ist uns apriori gegeben: Der Säugling erkennt das lebendige Geschöpf. Damit wird die exakte mechanistische Wissenschaft unverkürzt in unsere Erkenntnis aufgenommen. Ihre mathematischen Gesetze gelten zwar unbedingt, aber sie „beherrschen" das Geschehen nicht. Das scheint mir eine Tatsache, die im Prinzipienstreit der Wissenschaft dauernd durch Mißverständnisse verborgen wird: Man glaubt, nur das Vorausberechenbare sei echte Wissenschaft und durch Kenntnis der Gesetze sei alles voraus zu berechnen. Das ist die Leugnung des schöpferischen Geschehens. Aber in Wahrheit öffnet jede höhere Dimension eine höhere Möglichkeit, auch schon in der Mathematik. In der Geometrie (in der zweidimensionalen Fläche) kann man auf einer Geraden in einem Punkt nicht mehr als ein Lot errichten. Das erkennt man apriori als Gesetz. In der dreidimensionalen Stereometrie ist dies Gesetz (im Hegeischen Sinne) „aufgehoben", man kann unendlich viele Lote errichten. Und ein körperlicher Punkt kann im Raum sich nur an einer Stelle befinden, aber in der Raumzeitlidikeit kann er eine Kurve beschreiben. Das versteht jeder Betrachter apriori. Aber im analogen Weiterschreiten könnten sich an jeden mechanisch deutbaren Vorgang, der apriori berechnet werden kann, unendlich viele Vorgänge des Lebens anschließen. Wenn sie sich auch nie berechnen lassen, so geschehen sie doch in einer fünfdimensionalen Raumzeit in Anschauungsformen, die uns, nach der Husserlschen Phaenomenologie, apriori als möglich vorgegeben sind. Das lebendige Geschehen ist produktiv, weil es Unvorhersehbares schafft, und es kann im hohen Sinn schöpferisch sein, weil es noch nicht Dagewesenes schafft. Die Analyse dieser Dimensionen, ihre Unterscheidung ist Erkenntnisgrundlage, aber wichtiger ist das ganzheitliche Zusammenhalten: das schichtenweise Deuten des Menschen 16

und des Dings. Der Mensch, in dem allein wir das Dasein in seiner Tiefe verstehen als fünfdimensional und die Welt der toten Dinge, an der wir die Eigenschaften, die in die fünfte Dimension reichen, nicht wahrnehmen. Ich enthielt mich jeder Spekulation, ob alle Materie potentiell in die fünfte Dimension reiche: genug, wir erkennen eine vierdimensionale mechanische Welt mit (mindestens) fünfdimensionalen Lebewesen. Ich nehme vorweg: Als ich kürzlich einem jüngeren Kollegen dies Schema erklärte, erwiderte er: „Das ist ja Hartmanns Schichtentheorie." Aber erstens hat Nicolai Hartmann seine Theorie erst weit später entwickelt, 1935 erschien seine Grundlegung der Ontologie. Als Neukantianer der Marburger Schule stand er der mechanistischen Weltdeutung sehr nahe, wenn auch mit idealistischen Vorbehalten. Und zweitens ist der Sinn der Kategorialanalyse, die er später seiner Ontologie zugrunde legte, meiner Ganzheitsbetrachtung entgegengesetzt. Ich wollte die Einheit des Mensdien bewahren und dazu mit meinem Schema das auf jenem analytischen Wege unlösbare Leib-Seele-Problem, diesen absoluten Dualismus, ausschalten (darüber unten). Auch Rothackers Schichtentheorie, der meine viel näher steht, erschien erst 1938. Meine Konzeption stammt dagegen, wie gesagt, von 1911, war 1917 druckfertig in „Norm und Entartung", aber erst 1920 veröffentlicht. Der Sinn dieser mathematischen Analogie war also, den Descartes-Spinozistischen Dualismus, das unlösbare „Leib-Seele-Problem" zu umgehen durch die Bewahrung der ursprünglichen Ganzheit: somit der Schritt von der mechanistischen Welt in die lebendige, organische. Gewiß ist das keine Wesenserkenntnis der schöpferischen Wirklichkeit - diese ist nicht zu erklären durch Aufteilung in weitere apriori gegebene Kategorien, sie ist empirisch im Sinne Schellings. Aber zwei weitere Schritte sind doch ohne willkürliche Spekulation noch faßbar. Das fünfdimensionale Dasein ist zuerst ohne Bewußtsein, rein-vegetativ. Das sechsdimensionale ist das animalische, zum einfachen anschauenden Bewußtsein aufsteigend, mit Lust und Schmerz, also seelisch. Daß Descartes die Tiere für Maschinen (also bloß „vierdimensional") erklärte, finde ich empörend. (Spinoza konnte mindestens dem Psychophysischen Parallelismus, der damals noch die Wissenschaft beherrschte und doch meist nur ein gemilderter Mechanismus war, als Grundlage dienen.) Wirklichkeit ist nicht Stoff, sondern ein produktives Geschehen. Dualistisch zwei Prinzipien, eine dreidimensionale Körperlichkeit und eine eindimensionale körperlose Seele nebeneinander zu stellen, das war also der Grundfehler der damals herrschenden Wissenschaft. Nein, die Seele selbst, die fünfdimensionale, die beseelte Leiblichkeit, ist die Wirklichkeit, das produktive Geschehen. Im Gefühl, das potentiell auch Wille und Bewußtsein, Ratio, enthält, ist diese produktive Einheit angelegt. Der Fehler der modernen Analyse ist es, Gefühl, Denken, Wollen möglichst klar zu sondern, während sie im wirklichen Geschehen untrennbar zusammenwirken. So ist zwar jedes am ehesten in einem Lebewesen zu verbildlichen, aber nur in ihrer Harmonie ist volle Wirklichkeit gegeben. (Piaton braucht für jeden dieser drei „Seelenteile" ein animalisches

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Symbol: Hirt - Herde - Bestien). Trennt man Herrschen, Denken und Wollen und fügt sie auch künstlich aneinander, so verdorrt das Gefühl und wird das Leben rationalisiert, entseelt. Mag das heute in der Forschung nicht neu erscheinen: die Spezialisierung der Wissenschaft, die Technisierung des Lebens rollen den entgegengesetzten Weg. Fehlt im Element das schöpferische Prinzip, so versandet dessen Gestaltungskraft. Damit glaubte idi den philosophischen Boden der Anthropologie gewonnen zu haben - und wieder der fundamentale Zirkel: diese Anthropologie gehört zum Grund der Philosophie. Dem Triebe, von da aus ein „System" zu entwickeln, glaubte ich -"nach dem „Zusammenbruch des Idealismus", nach dem Durchbruch der Kritik Nietzsches - nicht folgen zu sollen. Auf das Handeln, auf das geistige Aufbauen kam es an. Die historische und naturwissenschaftliche Kritik war nur Grundlage für das Wirken in die Zukunft, aber ganz aus der Kraft der Gegenwart. Wissenschaftliche Kritik galt unbedingt - weil ohne sie die Basis für diesen Bau nicht gesichert ist. Die Forschung mit ihrer immanenten Kritik muß frei sein - aber in philosophischer Besinnung auf den höchsten Zweck war sie nur Mittel. Diese Selbstbegrenzung der reinen Ratio schien mir das große Verdienst Kants. Dies Verdienst habe ich bis heute niemals bezweifelt, habe es mir von neuem angeeignet - aber ich verschloß midi nicht der Einsicht, daß die R e i n e Vernunft eine Beschränkung auf den Rationalismus, einen Verzicht auf die Wirklichkeit, das schöpferische Erlebnis bedeutet. Und auch dies vorwegzunehmen: Ludwig Landgrebe schrieb 1952 (Philosophie der Gegenwart) von einer „Auferstehung der Metaphysik" in der Zeit nach dem ersten Weltkriege, die er aus der Überwindung der Anthroposophie und des Historismus (Rationalismus), aus der Ausscheidung von Materialismus und Positivismus erklärt. Die Grundlage dafür wurde durch Dilthey, Bergson, Husserl gegeben. Ehe idi noch bewußt von ihnen lernte, war ich geistig vorbereitet, diesen metaphysischen Weg zu gehen. In den letzten Jahren vor dem Kriege fühlte man die große Gefahr eines abendländischen Umsturzes, einer menschlichen Katastrophe. Das war nichts Neues - wie war ein großer Teil des Schrifttums, der naturalistischen Romane, der populären Medizin beherrscht von den Ideen der Entartung. Für mich als Arzt und Naturwissenschaftler konnte das nur heißen, im Rahmen jener philosophischen Sicht im Gebiet der Biologie zu fragen: ist das eine physische und erbliche Entartung der menschlichen Natur - oder ist es ein Sinken und Steigen infolge der Erziehung, der geistigen Umwelt, der staatlichen Gemeinschaftsbildungen? Die Entscheidung mußte aus Kenntnis der Erblichkeitsgesetze gesucht werden. Weismanns Lehre, daß nur das Ererbte vererbt werde, nicht das Erworbene - widersprechend der Darwinistischen Lehre, daß auch Erworbenes, alles einem Lebewesen Angehörige vererbt werde war uns schon im Hörsaal eingeprägt (Orth, Schüler Virchows). Inzwischen aber hatte die bisher durch Darwins Dogma unterdrückte Forschung des Jesuitenpaters Mendel einen großen, die Zoologie durchdringenden Aufschwung genommen, die mir, wie gesagt, durch Rüdin bekannt wurde. Dadurch wurde 18

auch die Bedeutung der latenten Vererbung herausgehoben. Gilt dies mathematische Gesetz der Vererbung, dann ist „physische Entartung" unheilbar und nur durch „natürliche Zuchtwahl" auszumerzen. Der staatliche „Verfall" aber kann ein ganzes Volk betreffen, doch durdi eine geistige Bewegung des Volkes, durch schöpferische Ideen, durch Aufschwung des seelischen Lebens der Gemeinschaft geheilt werden. Die „Eugenik", zuerst die Erblehre, studierte ich nun in Übungen bei Prof. Poll und vier Jahre besonders im „Archiv für Rassenhygiene". Es könnte ein Widerspruch scheinen, daß ich zur Lehre vom schöpferischen Leben nun auch die mathematische Lehre vom Erbgeschehen, die so mechanistisdi schien, eifrig aufnahm. Aber gerade wenn dieser alltägliche, millionenhaft nachgezählte Erbgang „mechanisch" verlief, so war bewiesen: die Entwicklung von der Amöbe zum Menschen, die Neuentstehung der Arten konnte nur durch ein ganz anderes, eben schöpferisches Lebensprinzip erklärt werden. Die beobachteten Mutationen waren mechanistisch verständlich, es waren Minus-Mutationen, welche nur die Entartung erklärten - die Artentwicklung konnte nur durch schöpferische erbliche Abwandlungen erklärt werden. Man kann sich heute kaum vorstellen, wie unklar bei Ungelehrten und Gelehrten diese Vorstellungen durcheinander gingen, wie willkürlich zufällige Einfälle, Analogien als Tatsachen hingestellt wurden. Ich kam zur Folgerung: die physische Entartung ist nicht groß und wird durch die natürliche Ausmerze leicht unterdrückt. Aber die Sinnerfüllung unseres Lebens hängt ab von der Erziehung, von der geistigen Bewegung, von der schöpferischen Kraft. Und außerdem: die möglichste Einschränkung der physischen Entartung, die Pflege der Volksgesundheit kann ja nur auf Grund des Geistes, des Gemeinschaftswillens, durch Erziehung geschehen. Während dieses Studien- und Forschungsganges hatte ich 1912 Piatons Symposion übersetzt und interpretiert. Und da es mir um das Verstehen des Vorganges in der Freundesgemeinschaft zu tun war, um eine Erzählung ( = „Mythos") unter Gestalten, die für immer das Bild von Sokrates und Piaton geprägt und uns damit einen „Mythos" geschaffen hat, so freute es mich, daß Gundolf und Wolfskehl fanden, dies sei die erste Interpretation des Gastmahls als eines Kunstwerkes — was mir bei der langen Arbeit gar nicht als Ziel bewußt gewesen war. — Seit Jahren fühlte sich das deutsche Volk eingekreist und vom Kriege bedroht, der nun wirklich ausbrach. Im Felde war ich wegen einer Otitis media nicht zu verwenden und meldete mich daher sogleich freiwillig zum ärztlichen Dienst, wenn möglich nahe der französischen Grenze. So kam ich am ersten September nach Saarbrücken. Nach der hohen Erregung der Bedrohung lernte ich auf der Reise das Volk in der Hochstimmung nach ersten Siegen, in der nationalen Hoffnung kennen. Das Gebäude des Saarbrücker Korps-Lazaretts war überfüllt mit entsetzlich Verwundeten. Da aber danach die Schlachten sich in größere Fernen gezogen hatten, erhielt ich zunehmend und dann oft wechselnd bei meinem Wachdienst Zeit, die eigene Arbeit weiterzuführen. Was steht nun zwischen der Metaphysik des schöpferischen Geschehens und der medizi-

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nischen Erkenntnis der Entartung, die gemäß des positivistischen Dogmas als statistischer Durchschnitt berechnet werden sollte - ohne daß man zuvor nach dem Wesen der Entartung fragte. Grundsätzlich mußte es der gesunde Mensch, der leistungsfähige in bezug auf die kosmische Schöpferkraft sein. Norm ist nicht Dezimalbruch, sondern Bild des vollkommenen Menschen, des fühlenden, erkennenden, handelnden. In dieser Norm-Idee wirken die sinnliche Empirie und die subjektiv wirkenden, gestaltenden und wertenden Kräfte zusammen. Wie überflüssig die Feststellung, ob wir jemals einen absolut vollkommenen Kreis finden, wenn uns bei unvollständigen Kreisen die Idee des Vollkommenen aufgeht, nicht als abstrakter Begriff, sondern als Bild. Ein Kind braucht nur Einen Elefanten zu sehen, so hat es für immer die Art-Idee des Elefanten. Wie falsch die logische Schulthese, daß aus sehr vielen Erscheinungen schließlich der Begriff abstrahiert werde. Richtiger: er wird zu einem konkreten Bilde verdichtet. Leibliche Wirklichkeit, bildhaftes, konkretes Denken! Ein Arzt braucht nie ein Gebiß von 32 gesunden Zähnen gesehen zu haben: aus einer Reihe von defekten Gebissen erkennt er das vollkommene, normale - obwohl die Durchschnittszahl, die empirisch exakt festgestellte, weit darunter liegt. Oder mögen in einem Volk die Kurzsichtigen auch überwiegen: der Optiker sieht, welches Auge normal ist. 1916 beendete ich das Manuskript: „Norm und Entartung des Menschen." Veit Sc Thesing wollten es drucken, doch scheiterte der Verlag selbst beim großen Zusammenbruch. 1920 erschien es (da es noch nicht gelungen war, sich mit einem Verleger über die „Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst" zu einigen) in dem neuen „Sibyllenverlag". Weil das Thema „Norm und Entartung des Menschen" überschritten war, wurde die Arbeit in zwei analoge Bücher zerlegt. Nur das erste behielt diesen Titel, das zweite wurde „Norm und Verfall des Staates" genannt. (Später faßte ich beide Bände wieder in einen zusammen: - Norm Entartung Verfall Bezogen auf den Einzelnen, die Rasse, den Staat. I V . Auflage 1939 bei W. Kohlhammer.) Der erste Band behandelt nur die „biologische", die „physische" Entartung, die die Einzelnen dauernd, also auch die Erblinie und insofern in der großen Summierung das Volk betrifft. Das ist, wenn es das Wesen, nicht nur Einzelorgane betrifft, die erbliche Psychopathie. Das Biologische schließt also das Psychologische nicht nur ein, es enthält dies gerade als das Wesentliche. Die psychische Wirklichkeit ist im Wesen produktive Kraft. Die Norm des Menschen ist, daß er selbst an der schöpferischen Kraft teil hat. Der Mensch paßt sich nicht irgendwelchen Zwecken an (Arbeitsleistung, Mechanisierung der Menschheit), sondern vor allem ist er Selbst-Zweck und wenn er am Schöpferischen teil hat, vermag er Zwecke zu setzen. Im zweiten Band ging ich von der Idee des Staates, der organisierten Gemeinschaft des Volkes aus, von den gemeinsamen Wertungen, die in der Philosophie zu begründen sind und ihrerseits den Staat begründen. Die leitende Norm-Idee ist wieder der schöpferische Mensch, und als methodische Grundlage wurde dafür und für die vorangegangene Psychologie die Philosophie der 20

Fünfdimensionalität skizziert: die konkret-gestaltende Schöpferkraft im Gegensatz zu Abstraktion und Mechanismus. Von da wurde der Staat als schöpferisches Werk verstanden und Religion, Dichtung, Kunst, Wissenschaft als Gehalt der sozialen Gemeinschaft interpretiert. Das heile Leben im Staate ist Heraklitischer Kreislauf - der Verfall, seine Umkehrung, seine Stockung führt zur Auflösung. Beide Bände stehen in Analogie: der erste im biologisch-psychologisdien Gebiet, der andere im metaphysisch-soziologischen. Durch diese Analogie sollte gerade die damals so übliche Vermischung der Begriffe, diese Willkür, die falschen Analogieschlüsse, wenn einmal die exakte Berechnung nicht möglich war, vermieden werden. Wie unverantwortlich wurden gerade die psychiatrischen Begriffe angewandt, wo Neues geschah, so auf Richard Wagner, auf Nietzsche (längst vor seiner Paralyse)! Wie wurde die geistige Schöpfung an mechanischem Fortschritt gemessen! Ich glaubte nicht, eine neue Metaphysik zu begründen, aber doch ein wertvolles Schema gefunden zu haben, um jenseits des fruchtlosen Jahrhundert-Streites zwischen „Mechanismus und Vitalismus" einen fruchtbaren Weg zu finden, die immer sich erweiternde Kluft zwischen „Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft" (eine begriffliche Entgegensetzung, die ich nicht anerkannte und nicht anerkenne) philosophisch zu überbrücken. Von der Hypothese des psychophysischen Parallelismus, die damals noch in der Wissenschaft herrschte, wenn man sich mit dem groben Materialismus nicht kompromittieren wollte, konnte ich (wie die schwedische Königin Christine von ihrer Krone) sagen: „sie genügt mir nicht und ich brauche sie nicht." Denn wenn man (wie es Spinoza vielleicht nicht meinte) die körperliche Linie als notwendig verlaufend, als mechanistisch begriff, so wurde die seelische oder geistige zum sinnlosen Epiphänomen. Soweit wir also in dem erkannten Geschehen körperlich und geistig oder seelisch unterscheiden, so stehen diese offensichtlich (gegen Descartes) in Wechselwirkung. Im ursprünglichen Vorstellen erscheint unser Leben als Hauch, als Atmung: diese ist ein bewußtes und (bis zu gewissen Grenzen) willkürlich zu regelndes seelisch-körperliches Geschehen, geschieht aber meist unbewußt, reflektorisch, noch in tiefer Bewußtlosigkeit. Solche uns vor aller Wissenschaft, aber auch vor der klaren Bewußtheit gegebene Ganzheit, Einheit, die sich zu gliederndem Bewußtsein und unter höherer Kultur zu wissenschaftlichen Begriffen entfalten kann, müssen wir uns bewahren als Mittelpunkt unseres Horizontes und nur in ihrer Bewahrung eine vier- und mehrdimensionale analysierende und gestaltende Wissenschaft aufbauen. Das schien mir auch im Einklang mit Husserls Theorie. So einfach diese Prinzipien scheinen, so fordert die methodische Anwendung doch Aufmerksamkeit und den Willen, sich zuerst einige nicht geläufige Begriffe, neue „Vokabeln" einzuprägen. Das liegt nun gerade den „geistigen" Menschen, den Historikern, Philologen, Künstlern meistens nicht: sie verachten oft Mathematik, aber überhaupt Denken in klaren Vorstellungen. Dennoch konnte ich mit dem Erfolge sehr zufrieden sein, gerade in den Fachkrei21

sen der Universität fand meine Arbeit viel Anerkennung. Es war die Zeit, in der Spenglers „Untergang des Abendlandes" eine gewaltige Wirkung hatte. Fritz Lenz, der Herausgeber des „Archiv für Rassenhygiene" schrieb in einer Besprechung, daß ich „turmhoch über Spengler" stünde. Damit schoß er aus doktrinärer Bestimmtheit weit über das Ziel, denn Spengler war mittels eines genialen Weitblickes zu einer universalen neuen Theorie der Weltgeschichte gelangt, der ich allerdings in metaphysischer und biologischer Sicht widersprach - aber gerade die Gedanken, die für mich Grundlage und höchster Zweck waren, lehnte Lenz leichthin ab: Die Theorie der Fünfdimensionalität sei Hokuspokus. Ihm blieb der Materialismus die selbstverständliche Weltsidit, denn man könne doch von vornherein gar nicht wissen, welche Möglichkeiten in der Materie stecken. Wer das zugibt und voraussetzt, der hat allerdings den Schritt vom Medianismus zum Monadismus vorgegeben. Nur in einem sehr beschränkten Sinn hatte der Vergleich mit Spengler Sinn. Während viele Fachmänner von Rang Spengler unerwartete geistige Anregungen dankten, fanden die meisten doch, daß er je in ihrem besonderen Fach allerdings von falschen Voraussetzungen ausging, aber von da aufs weltgeschichtliche Zentrum drang und in ihm Widerhall fand. Dagegen meinten führende Forscher, daß meine Arbeit gerade in ihren besonderen Fächern gut fundiert sei. Ich glaube keiner Selbsttäuschung zu verfallen, wenn ich sage, daß im allgemeinen meine Arbeiten um so günstiger beurteilt wurden, je höher das N i veau des Beurteilers war. Sehr freundlich schrieb mir Husserl. Ich sah aus seinem Brief, was bedeutungsvoll scheint, daß er seine so streng wissenschaftliche Forschung als eine „Bewegung" ansah, zu der er auch mich rechnete. Zwar verkannte er die Verschiedenheit der Mittel nicht, aber er stellte fest: „Sie haben das Ideenauge." Von Heidegger konnte ich damals noch nichts wissen, doch hörte ich später durch Gadamer, daß er meine Bücher mit Zustimmung gelesen habe. Der Philosoph (und frühere Arzt) Dessoir, besonders in der Ästhetik tätig, fand meine Arbeit philosophisch und naturwissenschaftlich gut fundiert. Bei den Medizinern fand die „Norm-Idee" Beifall und wurde als neu anerkannt. George war anfangs von der naturwissenschaftlichen Methode befremdet, war dann aber mit dem Sinn des Buches, dem Kampf gegen Mechanismus, zugleich aber gegen romantische Phantasien und literarische Willkür und vor allem: gegen die Verpöbelung des Volkes durchaus einverstanden. Friedrich Gundolf war, ich darf sagen: sogleich begeistert. Wolters stimmte ganz zu. Ernst Gundolf erkannte besonders die psychologischen Einsichten an. Aber natürlich blieben auch Mißdeutungen nicht aus. Jaspers hatte das Manuskript schon 1917 für einen Verlag gelesen und es weder abgelehnt noch befürwortet. Nun hatte ich mich auf die ausgezeichnete Untersuchung von Bumke gestützt, der nachgewiesen hatte, daß die physische Entartung von Trunksucht-EpilepsieGeisteskrankheit, die in dep Zeit-Romanen so entsetzlich wütete, tatsächlich gar keine Tendenz zum Fortschreiten hatte. Das war mir eine wichtige Stütze, aber innerhalb des gesamten Themas doch nur ein begrenztes Gebiet. So hatte

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ich sie als „Vorarbeit" dankend erwähnt. Daß ich, ein gewöhnlicher Irrenarzt an einer städtischen Irrenanstalt, den Privatdozenten an der Heidelberger Universitätsklinik nur so teilhaft erwähnte, fand Jaspers anmaßend. Allerdings konnte er den philosophischen Zusammenhang nicht durchschauen — da mir meine These so wichtig schien, hatte ich vorsichtshalber dem Verlag nur den ersten Teil anvertraut, allerdings in diesem klar auf die philosophische Ergänzung im II. Teil hingewiesen. Meinen Begriff der „Norm-Idee", der von Anfang an das erregende Moment der Arbeit war, übernahm Jaspers in die zweite Auflage seiner „Psychopathologie", ohne Namensnennung. Es hätte mich nur gefreut, einen solchen Forscher überzeugt zu haben, aber da diese II. Auflage früher als meine Arbeit erschien, so hielt man mir vor, ich hätte diesen Begriff von Jaspers übernommen.* Ungleich schlimmer als diese kleine Nachlässigkeit, ja schicksalhaft, war von ganz anderer Seite die Verleumdung, meine Arbeit sei antisemitisch, weil sie auf die eugenische, also rassenhygienische Lehre Bezug nahm. Vor solcher Gesinnung war ich schon durch die nahe Freundschaft mit Vallentin und Gundolf zeitlebens gesichert, und gerade wegen der Waffengemeinschaft des Volkes im Kriege glaubte ich nicht an die Möglichkeit solcher Bewegung. Auch im „Archiv der Rassenhygiene" wurde mit Nachdruck und grundsätzlich gelehrt: indogermanisch ist ein sprachlicher, kein rassicher Begriff. Es war einmal sinnvoll gewesen, daß die weiße Rasse, die Arier, in Indien sich gegen das Untergehen in farbiger Bevölkerung wehrte, aber sinnlos war es im neunzehnten Jahrhundert, diesen Gegensatz auf die Völker innerhalb der weißen Rasse, zu der doch die Semiten gehören, zu übertragen. Die Philologen, die mit Recht von der Sprache ausgingen, trennten nun innerhalb der weißen Rasse die Arier von den Semiten. Sie mochten nicht glauben, daß Kadmos wirklich ein Semit war und postulierten, daß er von ausgewanderten Hellenen abstamme. Aber aus Liebe zum Sanskrit mochte man nicht glauben, daß die Semiten zur Mittelmeer-Kultur, zum Abendland gehören. -

II. V O N K A N T U N D NIETZSCHE ZU PLATON Man wird mich fragen, warum denn dies Schema der fünf Dimensionen in der philosophischen Literatur so wenig Wirkung hatte, wenn es damals durchaus Anklang fand? Dazu mag mein eigenes Verhalten Anlaß gewesen sein. Es stand nun in einem zur Biologie gehörigen Werk, wo es ein Philosoph nicht suchte. Und vor allem: ich habe den philosophischen Gedanken öffentlich nicht weiter ausgeführt. Ich gehörte nicht zur Zunft und neben dem Doppelberuf, der Psychiatrie und der geistigen Forschung und Schriftstellerei, die sich zwischen Psychiatrie und Geistesgeschichte teilte, fand ich kaum Zeit, mich an 23

Kongressen zu beteiligen und die Personenkenntnis zu pflegen, wenn idi nicht in den Fragen der Psychopathologie zu Vorträgen geladen wurde. Als ich 1917 das Manuskript abschloß, glaubte ich den philosophischen Grund für eigene Forschung fest genug gefügt zu haben. Auf ein neues begriffliches System war ich, von Nietzsches Skepsis bestimmt, nicht bedacht. Wenn die schöpferische Gestaltungskraft die höchste normative Wirklichkeit war, und wenn ich selbst zu einem solchen Werk nicht selbst berufen war, dann wollte ich meine Arbeit in den Dienst dieses Geschehens stellen durdi geistesgesdiichtliche Forschung. Große geschichtliche Übersichten hätten wohl meinem Geschmack entsprochen, aber was ich durch Stoff- und Gedankensammeln gewinnen konnte, war alles das schon Gedachte, Gesammelte, Formulierte - nicht was ich für unmittelbare Erkenntnis hielt. Lebendige Ganzheit konnte ich nur fassen, wenn ich einzelne Gestalten faßte, und das hatte nur Sinn, wenn es große, maßgebende, führende Gestalten waren. Mit dreien hatte ich mich schon immer beschäftigt: Goethe, Nietzsche, Piaton. Nun hatte mich George gelegentlich, als er neu veröffentlichte Briefe Nietzsches an Wagner las, gefragt, ob das nicht ein Thema für mich sei? Als mein Manuskript beendet war, glaubte ich, philosophisch für dies seit Jahren zurückgedrängte Thema vorbereitet zu sein, aber natürlich war der Sinn nicht, mit einem „künstlerischen Essay" in die Literatur einzugehen. In der Schulzeit hatte ich mich auch für Wagners Opern „begeistert" und seit der gleichen Zeit Nietzsche studiert, von dessen Gedanken über Eugenik und Menschenzüchtung ich, trotz mancher Kritik, bei meiner Arbeit über „Norm und Entartung" wesentlich angeregt wurde. Nun aber las ich wieder, wohl auf ein Spezialthema hin, doch mit dem Bewußtsein, daß dies für die Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts und die Geistige Bewegung, in der wir wirkten, symbolisch und wohl auch maßgebend sein müsse, Wagners und Nietzsches sämtliche Werke, Briefe und Biographie. Wagners Kompositionen zu beurteilen, lag außerhalb meines Könnens, aber höchst wichtig neben seinen Texten war seine Philosophie der Kunst, über das Verhältnis von Dichtung und Musik, seine Beteiligung an der Revolution 1848 und - so wenig bekannt - seine hohe Begeisterung für Hellas und die attische Tragödie: Im „Ring" wollte er mit Aischylos wetteifern. Die Tragödie als Gottesfeier des Volkes! Sein und Nietzsches Lebensgang war in Triebschen mehrere Jahre lang eng verwoben. Im Kampf gegen das 19. Jahrhundert und im Dionysiertum waren beide verbunden. Aber als Wagner dann in Bayreuth sein großes Theater gründete und mit dem Parsifal eine buddhistische Religionsgemeinde zu gründen unternahm, entschied Nietzsche sich im Gegensatz zu Schopenhauers und Wagners Weltverneinung zur heroisch-tragischen Weltbejahung und führte den Kampf gegen das neunzehnte Jahrhundert allein. Ich wollte einer solchen Darstellung eine kurze biographische Orientierung vorausschicken. Aber es ergab sich etwas Nicht-Geplantes, was sich auch bei späteren Darstellungen wie von selbst wiederholte: die ganze geistige Entwicklung der Werke ging ein in die Lebensentwicklung, und die Lebensdarstellung beschränkte sich auf das, was in den Werken Ausdruck fand oder doch 24

wesenhaft auf sie hinwies. Und das gleiche geschieht mir eben jetzt, wo idi eine Einleitung in die Grundsätze der Philosophie schreibe. Das kommt wohl daher, daß ich, für die Philosophie-Geschichte und die Problem-Geschichte, bei dem mir angeborenen Streben nach einer universalen systematischen Übersdiau auf eine unabsehbare Sekundärliteratur angewiesen, immer skeptischer gegen die Tragfähigkeit der überkommenen Leitbegriffe wurde und nur die ursprünglichen, im geistigen Erleben verwurzelten mit Zuversicht gelten ließ. Niemals wird sich der Geschichtsverlauf allein in Einzelgestalten darstellen und erklären lassen, aber für das Verstehen der lebendigen Vorgänge, der schöpferischen Kräfte sind wir auf die Vermittlung einiger schöpferischer Gestalten angewiesen. Und gerade bei dieser Seite der Geschichtsforschung mag wohl das Mitwirken des Autodidakten, der „Dilettanten", der Liebhaber fruchtbar sein. Auch hier greife ich der grundsätzlichen Klärung noch einmal voraus, indem ich midi auf Axel von Harnacks Aufsatz „Geschichtsschreibung heute" berufe (Universitas. August 1954), der mir aus dem Herzen gesprochen ist. Harnack behandelt die Spannung zwischen der Zunft und der Belletristik, den populären Darstellungen, die es sich leicht machen (z. B. Emil Ludwig). An der reinen Zunft hat Nietzsdie schwere Kritik geübt, aber die „Literatur" hat er verachtet: er verlangte Tieferes, Größeres als die objektivistische Wissenschaft: er wollte Schöpfer von Werten sein. Harnack sieht in der Zunft „den Vorteil systematischer Schulung und fester Tradition", andrerseits auch die Gefahr der „Verengung und Verkapselung". Er rühmt die großen Autodidakten und Dilettanten, zu denen sich auch Goethe und Leibniz zählen. Der Dilettant ist ja der Liebende, der nicht aus beruflicher Gewohnheit, sondern ganz aus innerer Getriebenheit an eine Aufgabe tritt. Aber selbst wenn ihnen schöpferische Leistungen gelingen, madit es ihnen die Zunft schwer: „nur unwillig läßt sie sich Anerkennung oder gar Bewunderung abzwingen. Ihnen gegenüber ist die Kritik besonders geneigt, mit schulmeisterlicher Strenge nach methodischen Fehlern zu fahnden." (So sagt Harnack, selbst Universitätsdozent und Bibliotheksdirektor.) Die wissenschaftliche Forschung bedürfe vieler „meisterhafter Handwerker", aber unter vielen Forschern seien doch nur selten Geschichtsschreiber. Und Harnack zitiert seinen Vater, Adolf von H a r nack: „Wir haben Persönlichkeiten, die Gott in Gnaden zu Forschern, aber in seinem Zorn zu Lehrern gemacht hat." Harnack fürchtet „die unfruchtbare und selbstgerechte Isolierung" der Fachgelehrten und verlangt, daß der Geschiditsschreiber irgendwie mit dem großen Leben der Welt verbunden sein muß. George sagte mir einmal im Zwiegespräch, der Mensch habe seine fruchtbaren Gedanken bis spätestens im 35. Jahre. Deswegen wünsche er seinen mittätigen Freunden, daß sie nicht früher heirateten. Wenn sie solche Gedanken hatten, so könnten sie sie ihr Leben lang ausführen. Piaton (er hatte trotz des südlichen Klimas das Heiratsalter auf das 35. J a h r gesetzt) hatte mit 29 J a h ren sein großes Erlebnis, den Sokrates-Prozeß, und schrieb vermutlich nicht 25

lange danach die APOLOGIE - die Darstellung im P H A I D O N wohl fast zwei Jahrzehnte danach. Mit 39 Jahren hatte er sein ebenso großes Erlebnis, die Begegnung mit Dion, das er wohl nicht lange vor dem sechzigsten Lebensjahre im P H A I D R O S in den Mythos erhob. Und Leibniz, der enthusiastische Erneurer Piatons, entscheidet sidi, als er fünfzehnjährig an die Universität geht, für die „Moderne", für die mechanistische Welterklärung Descartes. Aber bald erkennt er, daß es keine Weltinterpretation ohne die Entelechie des Aristoteles gibt - dreiundzwanzigjährig erklärt er sich als Gegner Descartes, zwei Jahre später erklärt er seinen Monaden-Begriff (noch ohne den Namen). Mit sechsundzwanzig Jahren macht er den grandiosen, damals nicht aussichtslosen Versuch, der europäischen Geschichte eine ganz andere, heilsame Wendung zu geben durch seinen ägyptischen Plan: Ludwig XIV. soll von seiner Raubpolitik im deutschen Reich ablassen und statt dessen der Türkei Ägypten abnehmen. Boineburg, der große Minister des deutschen Erzkanzlers sendet ihn damit nach Paris. Aber gleichzeitig fällt damit die andere Entscheidung: Ludwig wählt den Erbfeind Europas, den Türken als Bundesgenossen gegen Habsburg. Anstelle des Türken wird Frankreich für fast dreihundert Jahre zum Erbfeinde Deutschlands. Leibniz war nicht Professor, sondern genialer Staatsmann. Doch erfindet er in Paris die Rechenmaschine und mit dreißig Jahren die Differentialrechnung. Kant tritt im Bewußtsein seines wissenschaftlichen Genies mit zweiundzwanzig Jahren stolz an die Öffentlichkeit, um sich als Schiedsrichter über Descartes und Leibniz die Sporen zu verdienen, doch langt sein Wissen noch nicht aus. Aber mit einunddreißig Jahren veröffentlicht er seine großartige kosmogonische Theorie, Planeten-Entstehung und die Milchstraße überschreitend, das Universum mit dem Orion-Nebel als Zentrum. Mit der Ergänzung durch Laplace blieb sie bis in unsere Zeit die herrschende Theorie. Mit fünfunddreißig Jahren bekennt er sich enthusiastisch zu Leibniz' Weltharmonie. Aber mit fünfzig Jahren ist er auf dem Wege zum Kritizismus und schwört Leibniz unverständlicherweise ab. Mit sechzig Jahren hat er die „Kritik der reinen Vernunft", 1. Auflage, als subjektiven Idealismus hinter sich (auf die später Schopenhauer aufbaut) und verwirft für das Theoretische Erkennen den Idealismus in der grundsätzlichen Umarbeitung der II. Auflage. Der deutsche „Idealismus" gründet auf der Kritik der praktischen Vernunft, auf dem kategorischen Sittengesetz. Aber danach nähert Kant sich wieder zunehmend Leibniz. (Vgl. Hildebrandt. Kant und Leibniz. Meisenheim. 1955) Bei diesen späten wiederholten „Umkippungen" wird nur der Zweifel bestärkt, ob nicht so grundsätzliche Wendungen nach dem fünfunddreißigsten Jahre der Größe und dem Charakter einer Person abträglich sind. Herders Verehrung galt dem vorkritischen Kant, und der kritizistisdie Kant hat kein Verständnis für Herders und Goethes Verjüngungsbewegung. Daß Goethe mit dem fünfundzwanzigsten Jahre schon unvergängliche, nicht mythologische, sondern unmittelbar mythische Werke geschrieben hatte, bedarf nicht der Er26

wähnung. Mit dem fünfunddreißigsten Jahre hatte er die Dichtung der Harzreise, Grenzen der Menschheit, die Harfner- und Mignonlieder und mit der Forschung nach dem Zwischenkieferknochen die große rausdihafte Schau der pantheistischen Metamorphose hinter sich. Schiller dichtete mit sechsundzwanzig Jahren, noch ganz in Leibniz' glanzvollem Weltbild glühend, das „Lied an die Freude", Vorspiel und Leitbild der deutschen dionysischen Bewegung - Hölderlin, Beethoven, Wagner und Nietzsche. Mit fünfunddreißig Jahren gewann er Goethe für den mythischen Freundschaftsbund und begann die zweite Fassung der „Briefe über die ästhetische Erziehung". Hölderlin dichtete mit dreiundzwanzig das ThaliaFragment des Hyperion und mit zweiunddreißig „Patmos". George war zweiundzwanzig Jahre alt, als er die H Y M N E N , siebenundzwanzig, als er das Gedicht des V O R S P I E L S , die Erscheinung des Engels, des Boten vom Schönen Leben veröffentlichte, vierunddreißig bei der Begegnung mit Maximin. Der größere Teil des VII. Ringes war gedichtet. Es hat also seinen guten Sinn, wenn Harnack fordert: „Im dritten Lebensjahrzehnt, in welchem sich die Aufnahmefähigkeit am kraftvollsten entfaltet, soll er (der Geschichtsschreiber) die eigene Zeit so willig und so umfassend in sich aufnehmen, daß seine Erfahrungen in einem späteren Lebensabschnitt der Reife der Erforschung und der Darstellung der Vergangenheit zugute kommen, sie widerspiegeln und sie bereichern." Es würde aber eine sinnwidrige Anwendung dieses Lebensgesetzes sein, wenn man schließen würde, die größten Werke müßten vor dem fünfunddreißigsten Lebensjahr gelungen sein. Wie lange die großen Gedanken, vielleicht unbewußt, im Innern wachsen, um ausgereift an den Tag zu treten, ist eine ganz andere Frage. Vielleicht schufen Piaton und Goethe als Greise ihr Höchstes. Als Goethe in den letzten Lebensjahren an Faust II dichtet, gelingen ihm Verse, die des Urfaust würdig sind und er meint, die Alten würden dies einer Art Wahnsinn (Mania im P H A I D R O S ) zugeschrieben haben. Aber gewöhnlich ist seine Altersstufe eine sehr andere, doch nicht geringere. Vielleicht mag man in der dauernden Offenheit für immer neue Dimensionen der Wandlung den Ausdruck der schöpferischen Kraft sehen - hier ist nur vom schicksalhaften Gange der geistigen Werker die Rede. Für die aufbauende Werktätigkeit eines produktiven Menschen ist es eine Gefährdung, wenn er nicht spätestens mit fünfunddreißig Jahren, also vermutlich in der Mitte seiner Bahn, auf festem Baugrund steht, sondern in jugendlicher ungewisser Sehnsucht den Boden noch einmal umwühlt. Ohne Selbstbewertung muß ich bei der Rückbesinnung auf meinen Weg diesen auch auf dies Lebensgesetz beziehen und die schicksalmäßige Gunst des chronologischen Ganges nicht ganz übergehen. Mit achtundzwanzig Jahren sah ich anfangs durch Wolters geführt die sinnvolle Lebensaufgabe im Geistigen Reich Georges, und im fünfunddreißigsten Lebensjahr schloß ich jenes Manuskript über „ N o r m und Entartung" ab, mit dem ich einen festen Boden in der Philosophie-Geschichte, mehr noch in der Anthropologie erworben hatte. Nun aber brannte ich darauf, Neues aufzu27

nehmen und fühlte midi bald gefesselt durch Wagners Leben und großes geistiges Schrifttum, - Stoff für die nächsten drei Jahre. Nach dem Zusammensturz im November 1918 kehrte ich nach Wittenau zurück. Welche Aufgabe sollte ich wählen? Ich glaubte mit jener metaphysischen Formel der fünf und mehr Dimensionen, der Philosophie als NormLehre, der Psychologie als Ausdruck eines produktiven Geschehens mich für den akademischen Beruf genügend ausgewiesen zu haben. Aber würde die Arbeit gedruckt? Und dann: eine solche Ausnahme-Leistung war es doch wieder nicht, daß man daraufhin einen Autodidakten und Außenseiter berufen würde. Ich hatte einen großen Respekt vor der Universitätswissenschaft, wenn ich auch etwas skeptischer geworden war, nachdem ich in der ärztlichen Betätigung hinter die Kulissen sehen konnte. Aber es schien mir durchaus sinngemäß, daß ich zuerst die Promotion in der philosophischen Fakultät nachholen müsse. Die erste und unbedingte Pflicht war — in der Inflation — für meine Frau und vier Kinder zu sorgen, das heißt, ich mußte den ärztlichen Dienst in Wittenau, der Irrenanstalt Berlins, weiter versehen. Wenn ich gefürchtet hatte, daß meine zwar audi in der Psychiatrie gründende, aber doch wesentlich philosophische und unbedingt gegen die noch herrschende positivistische Methode gerichtete Forschung mir bei den Vorgesetzten, dem Direktor und der Magistratsbehörde Mißtrauen erwecken würde, so wurde ich aufs Angenehmste enttäuscht. Sobald die kommunistischen Stürme überwunden waren, zeigte sich an den städtischen Anstalten das Bedürfnis, mit der Universitätswissenschaft in Beziehung zu kommen, und man kam daher meinen nicht auf die Psychiatrie beschränkten Forschungen freundlich entgegen. Nach den Universitätsbestimmungen wurden die vier Semester vor dem Physikum als Studium in der philosophischen Fakultät angerechnet und ich brauchte für die Doktorprüfung nur zwei Semester als Hospitant nachzuholen. Das eine ließ sich bei dem Entgegenkommen der Kollegen mit den psychiatrischen Berufspflichten vereinen, für das zweite erhielt ich durch das Entgegenkommen des Magistrats drei Monate Urlaub. Als Hauptfach wählte ich Philosophie, als Nebenfächer - um das Geistige abzurunden Psychologie und Kunstgeschichte. Es sind besonders drei Professoren, deren ich in Dankbarkeit gedenke. Vorbildlich war Carl Stumpf durch seine Übersicht über die Philosophie-Geschichte neben seiner Experimentalpsychologie. Er war wie Husserl Schüler von Brentano, Vertreter einer beschreibenden und zugleich streng experimentellen Psychologie, die er aber einer echten, nicht „psychologistischen" Philosophie einordnete, wobei er sich keineswegs Kants Kritizismus fügte. Stumpf bedauerte, daß die moderne Philosophie (1919) die Psychologie nicht mehr als Philosophie, nur noch als Disziplin der Naturwissenschaft, der Erfahrungswissenschaft anerkennen wolle. Warum sie denn gerade ihre am besten entwickelte, ihre lebensfähigste Tochter aus ihrem Hause verstoße? Bei meinem eignen Suchen schien es mir allerdings ganz unmöglich, in Einem Semester sinnvoll eine Ubersicht über die ganze Philosophie-Geschichte zu geben (ich selbst habe es niemals versucht, weil ich erst 28

die Elemente für eine neue Fassung suchte), aber Stumpf verstand es, Wesentliches und Bedeutendes ohne alles Verlieren in Probleme, in Meinungen, in persönliche Tendenzen, in spezialistische Einzelfragen in einfachen konkreten Vorgängen, Gestalten und Formulierungen zu geben, so daß die Tatsachen bildhaft dastanden, ohne jede individuelle Stellungnahme, daß mandies in seiner knappen Formulierung für immer im Gedächtnis blieb — ein gestalteter Gedanke, der später noch seinen Sinn weiter entfalten, der ein positives oder negatives Gewicht annehmen könnte (s. u.). Als er Piatons Werk behandelte, erwähnte er — wie eine private Anmerkung — daß er in seiner Dissertation nachgewiesen habe: Im T I M A I O S sei die Idee des Guten übergegangen in die Gestalt des Schöpfergottes, des Demiurgen. Eine klare Erkenntnis, die mir für immer über die konventionelle Verkennung der sog. „Ideen-Lehre" fast aller Darstellungen, der Annahme einer hohen Ideenwelt und einer wertlosen leibhaften Welt schnell hinweghalf. Der T I M A I O S , im Mittelalter hoch verehrt und fruchtbar wirkend, scheint bisher wenig bekannt und noch weniger genutzt. Der leibhafte Kosmos ist bei Piaton keine wertlose E r scheinungswelt, sondern zweithöchster Gott. Weltbejahung wie bei Nietzsche, aber höhere panentheistische Gottes-Vorstellung. — Troeltsch, vorher freisinniger Theologe in Heidelberg, war in die philosophische Fakultät übergewechselt. Auch war er demokratischer Politiker und ehrenamtlich Ministerialrat. In der Fakultät hatte er als Preisaufgabe vorgeschlagen: Die Weltanschauung des Georgeschen Kreises. Der immer noch mächtige Wilamowitz fuhr dazwischen: „mit solchem Mist geben wir uns hier nicht ab." - Troeltsch las nun über systematisdie Philosophie. Das erste Kapitel, das über Erkenntnistheorie, begann er humoristisch mit der Erinnerung, daß ein Freund ihn bei der Vorbereitung für dies Thema antraf und mitleidig fragte: „Was! So tief bist du gesunken?!" Man spürte, daß Troeltsch mit diesem Skeptiker sympathisierte, als er sidi notgedrungen diesem Problem des Ding an sich zuwandte. Ich besprach mit ihm audi ein Dissertationsthema, und er war sehr einverstanden mit einer Untersuchung über den Begriff des Gewissens bei Piaton. Aber dann riet mir doch mein Schwiegervater Karl Reinhardt (der Vater!), früher in Frankfurt Gründer des ersten Reformgymnasiums, Ministerialrat unter Althoff, später wissenschaftlicher Leiter des Landerziehungsheimes in Salem) dringend, das Examen nicht in Berlin, im Machtbereich von Wilamowitz abzulegen. Ich hatte diesen 1910 heftig angegriffen. Zwar hatte ich schon als Schüler eine hohe Meinung von seiner Wissenschaft und geistigen Person - aber seine Übersetzungen der attischen Tragiker(nicht etwa in gutes Journalisten-Deutsch, das hätte ein Verdienst sein können, sondern) in triviales Zeitungsdeutsch, später audi die Kenntnis seiner Angriffe auf Nietzsche, hatten mich in einen fröhlichen Zorn versetzt. Wilamowitz empfand ich als eine Person von geistigem Range, mit der ich lieber in freundlichem Austausch als im schweren Kampf gelebt hätte, aber er blieb nun einmal Repräsentant des neunzehnten Jahrhunderts. Inzwischen erschien, 1919, sein 1214 Seiten umfassendes Platon-Werk, dem ich stofflidi sehr viel verdanke. Obwohl er

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die Spitze aller Kultur im „historisch-kritischen Gelehrten" sah, dem alle Werke der Philosophie und Dichtung als wehrlose Beute zur Zergliederung vorgeworfen werden, war er kein pedantischer Spezialist: man dankt ihm ein interessantes Allgemeinwissen von großem Umfange, belebende Einblicke in das Dasein der Hellenen. (Ohne viel Hemmung warf er kühn Hypothesen auf, die er ebenso bedenkenlos widerrief). Aber bei seiner positivistischen und relativistischen Forschungsmethode erkannte er die klassische Norm, die Grundlage der Ehrfurcht nicht an. Dennoch finde ich in seinem Buch, von mir damals angestrichen, einen Satz, der mit der Deutung des TIMAIOS von Carl Stumpf zusammengeht und der mir doch erst später aus weiterer Übersicht ganz zu Bewußtsein kam: „Wenn die deutsche Platon-Erklärung nicht solange im Bann der aristotelischen Mißdeutung gestanden hätte, wäre der Timaios nicht so völlig in den Hintergrund gedrängt und geradezu ein ungelesenes Buch geworden." (I 597) Veranlaßt durch jene Übersetzungen hatte ich 1909 den Aufsatz „Hellas und Wilamowitz" geschrieben, der im J A H R B U C H FÜR D I E G E I S T I G E BEWEGUNG I, 1910, erschien, (ausführlicher Auszug in den „Grenzboten") und damals eine bescheidene Sensation erregte. Heute noch haben mir viele Philologen diesen Angriff nicht verziehen, obwohl er doch gerade den philologischen Ruhm des Gelehrten nicht antastete und man später die viel stärker den Sinn der klassischen Philologie betreffende Kritik Karl Reinhardts — wenn auch nicht gern - hinnehmen mußte. Doch waren damals gerade die Kreise, die Wilamowitz kannte, also besonders die Dozenten in Berlin, keineswegs unempfänglich. Wilamowitz, der philosophisch vorgab, den Ruhm zu verachten, bekämpfte doch rücksichtslos seine Kritiker und machte sich manche Feinde. Sein unbedingter Gegner Hans Delbrück, aber auch Simmel, Dessoir, Erich Schmidt und sogar sein Freund Roethe stimmten mir zu. Der Graezist in München, Otto Crusius, zum Teil Erbe Erwin Rohdes, schrieb mit „sehr erfreut". Nun aber machte ich auch die Erfahrung vom Geist der Zunft, für den ich durchaus Verständnis hatte: als ich Crusius mitteilte, daß ich ein junger Arzt, kein Philologe wäre, wurde er merklich kühler. Friedrich Gundolf, der unmittelbar vor seiner Habilitation an vielen Universitäten Kontakt hatte, formulierte die Lage spinozistisch exakt: Nemo contra professorem nisi professor. Als Vertreter der Philosophie war Natorp in Marburg der Gegner des „Plato" von Wilamowitz. Ich hatte früher sein streng logisch-methodisches Buch „Piatos Ideenlehre" zusammen mit Wilhelm Andreae mit Achtung, zwar ohne allzugroßen Gewinn studiert. Ihn fragte ich jetzt, ob er midi promovieren wolle, und er verstand durchaus, daß ich dies nicht im Wirkungsfelde von Wilamowitz tun konnte. Der Brief des Fünfundsechzigjährigen ist ergreifend. Er schrieb, daß er seine sämtlichen Vorlesungen von Grund aus umarbeiten müsse. Audi bat er mich, ihm meine - damals nicht greifbare - Gastmahl-Einleitung zu leihen. Natorp war von Friedemanns „Plato. Seine Gestalt" bedeutend beeindruckt. Da eine Umarbeitung seines „Piatos Ideenlehre" nicht genügt hätte, druckte er sie 1922 unverändert aber

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mit einem großen „Metaphysischen Anhang: Logos - Psyche - Eros" wieder ab. Er drückte mir auch die Zustimmung zu „Norm und Entartung", „Norm und Verfall" aus. Auf eine Arbeit die durdi den äußeren akademischen Zweck eingeschränkt ist, wollte idi nicht viel Zeit verwenden. Für das Thema „Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Plato" hatte ich alles Material und einige leitende Gedanken zusammen, so daß ich sie in zwei Monaten vollenden konnte, obwohl ich sonst langsam arbeite. Nietzsches Angriffe auf den angeblichen Logiker Sokrates und den angeblichen Moralisten Piaton waren bekannt aber wußte man, daß er in seiner Abiturienten-Vita das Symposion als seine Lieblingsdichtung genannt hatte, daß er beim Unterricht am Basler Gymnasium den Primanern empfahl, viel von Piaton, audi in Ubersetzungen zu lesen? Leider hatte er in der „Geburt der Tragödie" die wirklich verhängnisvolle Legende erfunden, Sokrates sei der reine Logiker, der Vorläufer der alexandrinisdien Theoretiker gewesen, um damit einen bildhaften Gegensatz zu den heroisdien Tragikern zu schaffen, was Wagner mit Recht bedauerte. Aber schon im gleichen Buch stehen herrliche Sätze vom Mythos Sokrates und Piaton. „ D e r s t e r b e n d e S o k r a t e s wurde das neue, noch nie sonst geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend: Vor allem hat sich der typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrünstigen Hingebung seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde niedergeworfen." Ich hatte während dieser Arbeit keinen Zweifel mehr, daß Piaton der große Mensdi schlechthin sei und Nietzsche der im Wettkampf unterlegene. Natorp war über diese Auffassung und Darstellung erfreut. 1922 erschien auch diese kleine Abhandlung im Sibyllenverlag, im selben Jahr zwei Auflagen. Im Kreise der Philologen habe ich bis heute keine Wirkung bemerkt: Der Beweis, durch viele Zitate ausgeführt, bewirkt nichts gegen die einmal gestanzte Schablone: Nietzsche bleibt unbedingt Feind von Sokrates und Piaton. Als Nietzsche sich von der Weltverneinung Wagners und Schopenhauers abwandte, wandte er sich Sokrates in der kynischen Sicht Xenophons zu. Gerade dabei bewährt sich seine existentielle Betrachtungsweise. Obwohl nicht das Wesentlichste treffend, machte mir doch ein Aphorismus im WANDERER U N D SEIN SCHATTEN (Nr. 6) starken Eindruck: „Priester und Lehrer, und die sublime Herrschsucht der Idealisten jeder Art, der gröberen und feineren, reden schon dem Kinde ein, es komme auf etwas ganz anderes an: auf das Heil der Seele, den Staatsdienst, die Förderung der Wissenschaft, oder auf Ansehen und Besitz, als die Mittel, der ganzen Menschheit Dienste zu erweisen, während die Bedürfnisse des einzelnen, seine große und kleine Not innerhalb der vierundzwanzig Tagesstunden etwas Verächtliches oder Gleichgültiges sei — Sokrates sdion wehrte sich mit allen Kräften gegen diese hochmütige Vernachlässigung des Menschlichen zugunsten des Menschen und liebte es, mit einem Worte Homers an den wirklichen Umkreis und Inbegriff alles Sorgens und Nachdenkens zu mahnen: ,Das ist es und nur das', sagte er, ,was mir zu Hause an Gutem und Schlimmem begegnet'". Das könnte man einen editen, vitalen Positivismus, wie ihn Goethe pflegt, nennen, während der 31

Positivismus der Jahrhundertwende eigentlich ein Negativismus ist, der sich dem Materialismus nähert. So bereitet sich bei Nietzsche die Lehre des Zarathustra von der „großen Vernunft", der „des Leibes" vor. Es sollte noch eine Reihe von Jahren dauern, bis mir durch Heidegger „die Methode des Existenzialismus" als solche bekannt wurde, aber ohne Umfärbung durch den Rückblick darf ich sagen, daß mir seit der Erweckung durch Nietzsches „Geburt der Tragödie" etwas Wesentliches auf diesem Wege aufgegangen war. Jenes obengenannte Wort, das zum Mitstreit der Dionysischen Bewegung aufrief, trieb zur existentiellen Bewegung im Gegensatz zur logischen Systembildung. Bei Nietzsdie verband sich das bisweilen mit Ungerechtigkeit gegen Apollon, den ordnenden staatlichen Gott der Harmonie. Kierkegaard, den Ankläger mit querulatorischen Zügen, brauchte ich nicht. W a r unser Verzicht auf die Romantik, unser Kampf im „ J A H R B U C H F Ü R D I E G E I S T I G E B E W E G U N G " nicht selbst ein existentielles Wollen? George verlangte, daß die Dichtung unbedingt wirklich, echt sei und Wolters forderte Rücksichtnahme auf die „Realitäten". Die« Thema „Romantik" hatte mich von je interessiert, und auch heute scheint es mir noch ziemlich vernebelt zu sein. Schon 1901 hörte ich in München den sehr jungen Privatdozenten Friedrich v. d. Leyen, der dann später durch Friedrich Andreae mit unserem Kreise in Schönhausen in Verbindung stand. Damals gründete er seine Lehre von der R o mantik ganz auf das bezügliche Werk von Ricarda Huch. Mich hat diese Auffassung nie ganz befriedigt. In Berlin hielt ich in unserem Referierabend, der unter Breysigs Aegide stand und den wir kühn „Academia urbana" benannten, einen Vortrag über das Romantische. Der Germanist Hugo Biber bemerkte, nicht unfreundlich, mein Vortrag sei Dichtung, nicht Wissenschaft. Ich glaube dagegen, er war phaenomenologisch und philosophisch, aber nicht empirische Literaturwissenschaft. Wie kann man aber Literaturgeschichte über Romantik treiben, ohne sich auch denkend über das Wesen der Romantik klar zu werden? Als einer der beiden Brennpunkte der neuen Literaturgeschichte galt jenen Germanisten die frühere Schule der romantischen Bewegung - aber sind denn wirklich die beiden Schlegels, die Gräkomanen, die philologischen Forscher, ihrem Wesen und Tun nach echte Romantiker? Und der Begriff Romantik ist doch weit älter als diese romantische Schule. Ein Buch wäre nötig, diese Fragen zu entwirren. Ich kannte die Schlagworte klassisch und romantisch damals auch bei den naturwissenschaftlichen und medizinischen Denkern, in der Propaganda des Monistenbundes in der prinzipiellen Unterscheidung von klassischer und romantischer Naturwissenschaft, wo man mit Bedenken eine romantische Phase nahen fühlte. J a Ostwald, der Monistenführer neben Haeckel, der große Chemiker, rechnete sich selbst zur romantischen Naturphilosophie. Die klassische Phase galt als rein exakt, rationalistisch — die romantische läßt einen Einschlag von theoretischer Phantasie des Erfinders zu. Immerhin fand ich bei Ostwald etwas von einer Einsicht, die meiner Theorie entsprach: Er unterschied nicht Stoff und Kraft, nicht Raum und Zeit, sondern legte als Substanz einen Strom der Energie zu32

gründe, ja er hielt sogar das Gestaltungsprinzip der Atomistik für eine naive Fiktion. Seine Energie ist also ein vierdimensionales Sein. N u r das meßbare Q u a n t u m der Energie interessiert. Auch das Kamel ist nur eine besondere Form der Energie, zwar eine eigenartige - aber die Wissenschaft interessiert nur das Quantum, nicht Qualität, nicht Gestalt. In etwas besteht eine Analogie zu Bergson: nur der Strom ist Wirklichkeit, die Gestaltung nebensächlich. Der Mechanismus gilt nach dem „Zusammenbruch des Idealismus" als klassische Wissenschaft - alles, was darüber hinausgeht, zumal was ans Metaphysische streift, ist Romantik. Dann wäre Goethe als der große Klassiker der Dichtung auch der größte Romantiker und zugleich der Klassizist als Vertreter der antiken Klassik. Die Skandinavier nennen unsere deutsche klassische Bewegung oft die „Romantische" (Steffens), wie es überhaupt zweckmäßig wäre, die „Deutsche Bewegung" ohne Sonderung als „Klassisch-romantisch" zu bezeichnen. U n d nun wurde mir klar: auch Ricarda Huch war von jenen zeitbedingten Schlagworten abhängig. Denn alle echte ganzheitliche Philosophie, Piatonismus, Pantheismus, Monadismus - alles galt unbesehen als Zeichen der Romantik, da es doch nicht rationalistische Wissenschaft sei. Aber gibt es denn Romantik erst als Gegensdilag zur Aufklärung — oder gar seit den Schlegels und Novalis? Wieland, Enthusiast für Piaton, Leibnizianer wie das achtzehnte Jahrhundert vor dem Sieg des Kritizismus, war Aufklärer und Lehrer des aufgeklärten Despotismus. Aber in der unterhaltenden Dichtung, im Oberon war er Romantiker, wie man auch hellenistische Romane romantisch nennen kann. Mit der wesenhaft romantischen Bewegung, die in Novalis ihren Gipfel hat, war etwas ganz anderes aufgekommen: jetzt wollte man im Gegensatz zur rationalistischen Aufklärung aus irrationalen, ja antirationalen Kräften die Religion, die Gemeinschaft der Menschen erneuern. Neben der Graecomanie erwachte das katholische Mittelalter. Aber diese gesuchte Einheit brachte die Gefahr, alle Gestalten, alle Mythen durcheinandergleiten zu lassen, wie es zuletzt in den Plänen zum „Ofterdingen" geschah. Schließlich wußte man kaum noch, ob nicht Judas ein wahrer Heiliger sei. Gerade die Romantik, die sich so ernst nahm, war eine Gefahr für alle echte Verantwortung. Ich versuchte einen Ausweg, indem ich wie Nietzsche von der biologischen Sicht ausging und eine schwache Romantik, blutleer, zu sehr ins Irreale, nur-Seelische oder nur-Geistige abgleitend, (Tieck, Novalis, Hoffmann u. a.) der starken Romantik (Piaton, Goethe, Hölderlin, Nietzsche, George) entgegensetzte. Als ich 1909 diese Abhandlung George vorlegte, war er im wesentlichen einverstanden - nur nicht mit der Namengebung. Er wollte seine Dichtung jetzt als durchaus unromantisch aufgefaßt wissen. Dem war leicht abzuhelfen - gerade aus Nietzsches Wertung des Lebens. Das was im reinen Gegensatz: Aufklärung gegen Romantik als phantastisch, irrational, also romantisch gedeutet wurde, entsprach im schöpferischen Werden großer Kunst dem Dionysischen. N u n aber war vom Dionysischen, der berauschenden Lebenskraft, die romantische Bewegung zu scheiden als das

3 H i l d e b r a n d t , Philosophie

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Abschwächende, nicht wahrhaft Aufbauende und Fruchtbare. Die verwischende Unterscheidung von schwacher und starker Romantik fiel fort. Ich nannte die Abhandlung: Romantisch und Dionysisch. Wie sehr wurde damals, viel stärker aber in der Zügellosigkeit nach dem Ende des ersten Weltkrieges schon nicht mehr das Wort, sondern wirklich die elementare Kraft des Dionysischen mißbraucht. Orgiastische Tänze, auch Männer oft stark entkleidet, J a z z musik . . . Literarische Gebildete beriefen sich darauf, das sei doch das von Nietzsche gepriesene Dionysische. Ganz recht — es war das Barbarisch-Dionysische, der thrakische Hexenkessel, den Nietzsche mit Grausen und Abscheu betrachtete. Er verehrt das Dionysische, das in der Bändigung durch das Apollinische die höchste Kunst, die Tragödie gebiert. Vorbild war uns Nietzsche, weil er nach Maß und Mitte trachtet, weil er den Sinn der Dichtung in der Gestaltung der großen Leidenschaften, nicht ihrer Verkümmerung sucht. Zähmung starker Kräfte, Z u c h t ist Mittel der Züchtung des Menschen, ist Wesen der Erziehung. Also die leibhafte Ganzheit von Körper, Seele, Geist war das Moment des Verstehens. Ich hatte die Irrleitung durch überkommene Schlagworte, durch systematisierte und dogmatische Begriffe erkannt und hielt es allein für fruchtbar, von repräsentierenden und führenden Gestalten auszugehen als den Erscheinungen der wesenhaften Kräfte. So stellte ich im I. Teil Piaton dar, mehr den Staatsmann, den geistigen Staatsgründer als den Gelehrten eines Ideensystems, im I I . Goethe, als Mittelpunkt eines geistigen Reiches, im I I I . die Gruppe der Romantiker, die Novalis zum Gegenkaiser gegen Goethe erheben wollten. Wegen Raummangel erschien der I I I . Teil erst im I I I . J A H R B U C H für 1912 und zu weiteren Teilen kam es nicht mehr. In dieser Zeit dachte ich das Schema der fünf Dimensionen aus. Die Idee, die unser J A H R B U C H zusammenhielt, war die des ganzen, des leibhaften Menschen anstelle einer bloßen Summe „Menschheit", aber auch im Gegensatz zur einseitig betonten Seele. Aber wie mißverständlich sind diese Begriffe, da es uns doch vor allem um das Seelische im Menschen ging. Mißtrauisch waren wir gegen die leiblose Seele, die ewige, im Jenseits, in eine ewige Dauer gerückt, aber getrennt von den drei körperlichen Dimensionen, also gleichsam auf die vierte und fünfte Dimension abstrahiert - oder noch schlimmer: die rein-geistig abstrakte. Das war nicht die Anschauung des Urchristentums, das gerade die Einheit von menschlicher und göttlicher Natur verehrte, aber in Aberglaube, Religion und Philosophie geisterten vielfach solche Uberzeugungen und Spekulationen. Jede Sonderung der Dimensionen hielt ich für Abstraktion, für Verkennung der Wirklichkeit. Das tiefsinnige Märchen „Undine" des Romantikers Fouque ist ein schöner Ausdruck des Lebens, das sich durch solche Vorstellungen irreführen läßt. Undine ist ein „Naturwesen", im Wesen liebevoll und von Herzen gut - aber eine „Seele" besitzt sie nicht: sie sehnt sich vergebens nach ihr. Ihre Gegenspielerin besitzt eine Seele - aber sie ist selbstsüchtig und böse. Mir galt alle lebendige Substanz als (mindestens) fünfdimensional. Christus ist leiblich, mit seinen Wundmalen auferstan34

den. Mag mandies für den Glauben an körperlose Seelen, die bald nach dem Tode nodi mit lebenden Menschen umgehen, sprechen - unser wirkendes schaffendes Leben kennen wir nur in der fünfdimensionalen Welt der leibhaften Entelechien oder Monaden. Ich vermute, daß die beiden Kapitel „die Abstraktionen" und „Die Wirklichkeit'' (S. 3 1 5 - 3 8 4 in N O R M E N T A R T U N G V E R F A L L ) auch heute noch brauchbare Anregungen enthalten. Im Bereich des Lebendigen ist alles Abstraktion, was nicht die fünf Dimensionen zusammenhält. Ich unterscheide hier: sublimierende, reduzierende, relative und absolute, formalistische, fragmentarische, psychologische Abstraktionen, um manche Entartungen in der Umgangssprache und der wissenschaftlichen Fachsprache aufzuweisen und zu berichtigen. Auf S. 372 schloß ich das eine Kapitel: „Uns gelten die dreidimensionalen Körper und die auf die vierte oder fünfte Dimension beschränkte Seele als unwirkliche Abstraktionen. Wir glauben nur an den Leib, den lebendigen, die Vernunft in sich tragenden, fünfdimensionalen, der Körper und Seele umfaßt." Diese Methode kann vielleicht heute noch - nicht durch große Entdeckung oder geistreiche Spekulation, aber durch klare Formulierung des Denkens viele ebenso grundsätzliche wie unfruchtbare Begriffsstreitigkeiten aus dem Wege räumen. Dies also waren die Mittel, mit denen ich seit 1917 an die Wagner-Nietzsche-Forschung heranging. Wolters, der Historiker wurde bald nach dem Krieg nach Marburg berufen. In seinem Hause wohnte ich zwei Wochen zur Ablegung der Doktor-Prüfung. Doch hatte ich inzwischen die Nebenfächer gewechselt: die vierdimensionale und doch aufs Metaphysische bezogene Disziplin, die Chemie - und die fünfdimensionale (die Anthropologie mitbegründende) Zoologie. Der Rektor teilte mir mit, daß eine solche Zusammenstellung von „Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft" noch nicht vorgekommen sei. Wolters hatte an meiner Dissertation keine große Freude, da er in Nietzsches Aussprüchen nur die Widersprüche, nicht den (existentiellen) Zusammenhang der geistigen Entwicklung fand. Aber ich plante schon einen dritten Teil im Sinne des J A H R B U C H E S , nicht für die offizielle Dissertation bestimmt. In ihm stellte ich den Sieg Piatons in dem Sinne dar, daß Nietzsche Vorläufer sei und Piaton auch heute noch Leitbild sei für den neuen Geist, für das Ziel in Dichtung und Philosophie. Mit dieser Abhandlung war George sehr einverstanden und er fügte sie mit Ernst Gundolfs (dem ich die Dissertation gewidmet hatte) Abhandlung „Nietzsche als Richter" zusammen, zur Veröffentlichung in der Bücherreihe bei Ferdinand Hirt („Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst" 1923). Ernst Gundolf stellte dar, wie Nietzsche unsere Verfallszeit mit Recht verurteile, aber doch nur aus der Negation, daß er also nicht im Positiven Schöpfer der neuen Zeit sei. So wurde Nietzsche gewissermaßen auch selbst gerichtet. E. Gundolf, der platonische Dialoge gemeinsam mit George im Urtext gelesen hatte, besaß ein umfassendes klares Wissen und ein unbestechliches Urteil, so daß die Fülle seiner neuen Gedanken für die meisten Leser etwas schwer zu fassen sind. Auch heute noch finde ich Neues in ihnen. Aber sein Ton ist sach-

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lieh, nüchtern, nicht enthusiastisch, nicht werbend. Von der glänzenden Beredsamkeit Bertrams, die auf dichterischem Grunde steht, hat er nichts. Mir dachte er die hohe Aufgabe zu, wie Schopenhauer die Philosophie in klassischem Deutsch darzustellen. Nun fehlte zwar auch mir dieser rhetorisch-dichterische Impetus durchaus, aber ich war überzeugt, daß auch die deutschen Forscher nach einem einfach-klaren, vorbildlichen Stil streben müßten. Sie standen ja darin jetzt nicht nur weit hinter den westlichen Nationen zurück, bei denen maßgebende wissenschaftliche und philosophische Werke in schöner volkstümlicher Sprache geschrieben waren, sondern sie betrachteten geradezu den schönen Stil verächtlich und bemühten sich um einen wissenschaftlich verkauzten Jargon. Schöner Stil galt als literarisch, als Belletristik und das Wort Dichtung wurde, wenn es sich nicht auf längst Vergangenes bezog, meist mit ironischem Zungenschlag gesprochen. Das unanfechtbare Ideal blieb die exakt-bewiesene, die positivistische Wissenschaft. Zwar schrieben auch große Gelehrte, sozusagen mit der linken Hand, „populäre" Bücher, als verzeihliche Halbwissenschaft. Wir aber waren der Uberzeugung: „Populäre" Schriften sollten höheren Ranges sein als rein spezialistisdie Literatur und darum im Stil möglichst nicht hinter der besten Journalistik zurückstehen. Das war auch das Ziel Hofmannsthals. Wie E. Gundolf wollte ich lernen, erkennen, belehren. Aber während er nüchtern, ja asketisch nur die Ergebnisse hinstellte, wollte ich, wo es fruchtbar schien, auch den lebendigen Weg dahin spüren lassen. Ist doch, nach Goethe, höheres Erkennen ein Tun. Ich war ergriffen und wollte ergreifen. Ich wollte das Philosophische im Biographischen wurzeln lassen, sachlich darstellen, um seelisch zu überzeugen. Nur weil ich Nietzsche liebte, stellte ich ihn dar, und weil ich in seinem Werk gelebt hatte, empfand ich die Q u a l seiner Glaubenslosigkeit (wie sie schon Bertram dargestellt hatte), die Unerfülltheit seines Geschickes. Er selbst erkannte, daß er nicht wie Piaton sein geistiges Ziel erreichte und sagt: „In summa, aller philosophische Idealismus war bisher etwas wie Krankheit, wo er nicht, wie im Falle Piatos, die Vorsicht einer überreichen und gefährlichen Gesundheit, die Furcht vor ü b e r m ä c h t i g e n Sinnen, die Klugheit eines klugen Sokratikers war. - Vielleicht sind wir Modernen nur nicht gesund genug, um Piatos Idealismus n ö t i g z u h a b e n ? und fürchten die Sinne nicht, weil So fragmentarisch steht dieser Gedanke nicht irgendwo im Nachlaß, sondern im V. Buch der „Fröhlichen Wissenschaft, dem wahrhaft existentiell sich selbst erforschenden Teil, der erst nach dem „Jenseits von Gut und Böse", der großen anthropologischen Interpretation geschrieben ist. Jenes Buch schloß mit dem Nachgesang „Aus hohen Bergen". Der Freunde harr ich, Tag und Nacht bereit. Und da seine Sehnsucht ungestillt bleibt, so deutet er gewaltsam seinen Zarathustra-Mythos als Zeugung des Freundes durch Selbstspaltung. Um Mittag war's, da wurde Eins und Z w e i . . . 36

Freund Z a r a t h u s t r a kam, der Gast der Gäste! Es ist bekannt, welcher Weltekel aus manchen der verzweifelten DionysosDithyramben spricht. In Piaton sah ich ein Symbol für das, was w i r n a c h Nietzsche als Erfüllung suchten, und ergänzte in diesem Sinne E. Gundolfs Schrift, ohne sie schon zu kennen, aus gleicher Sicht. Dessen Schrift erhielt nun den Titel „Nietzsche als Richter: Sein A m t " , meine den Titel: „Nietzsche als Richter: Sein Schicksal". Der Weg für den Abschluß der langen Arbeit, der „Dyographie" von Wagner und Nietzsche, war nach diesen Vorarbeiten frei. Nicht die ästhetische Wertung der Musikdramen, sondern der große Wille dahinter, die Revolution, die Reform des Lebens, die versuchte Religionsgründung Wagners gingen mich an. E r wurde 1848 Feind der kapitalistischen Gesellschaft, des bürokratischen Staates und hoffte anfangs auf ein Volkskönigtum. Enthusiastisch verehrte er die attische Tragödie, die völkische Gottesfeier und glaubte in seinem „Ring" ein Gegenstück zum Mythos des Aischylos zu schaffen. Entscheidend in historischer Sicht aber war, daß er aus der noch vernebelnden Romantik 1849 den Sprung in die politische T a t wagte: er läutete in Dresden die Sturmglocke! 1864 geschah endlich „das Wunder": der junge Ludwig II., ein Vorbild für Georges „Algabal", nahm den politischen Flüchtling, den auch finanziell schwer Verschuldeten, in seinen Schutz. Während seiner vielleicht glücklichsten Jahre, in reiner Ruhe des Schaffens in Triebschen am Vierwaldstätter See, an der Seite Cosimas von Bülow, besuchte ihn 1869 der eben fünfundzwanzigjährig zum Professor berufene Nietzsche. Drei Jahre der glücklichen Freundschaft zwischen Meister und Jünger, im Enthusiasmus für Hellas! Das begriff ich als ihr Bündnis gegen das neunzehnte Jahrhundert. Dann aber verließ Wagner diese „Insel der Glückseligen", um in Bayreuth sein Theater zu gründen, dem er seine hellenischen Träume opferte. Was ging Nietzsche das moderne Theater an! Er war Gottsucher und ahnte in Dionysos seinen Gott. Heraklit war sein Prophet. Nur auf Wagners dringenden Wunsch, zur eigenen Beschwer, hatte er nachträglich in „Die Geburt der Tragödie" noch Wagners musikalisches Werk eingefügt, als ob dies nun schon die Dionysische Erfüllung sei. Später urteilte er, er habe sich dadurch sein Werk verdorben, er sei damit der Romantik verfallen. Aber er konnte seinem Meister nicht länger die Treue halten, als dieser sich ganz dem Theater, der Schauspielkunst verschrieb und aus der Weltverneinung, einem buddhistischen Christentum, eine neue Religion mit dem Parsifal als Weihespiel zu gründen versuchte. Im Durchbruch zu sich selbst, in der Wendung zur Lebensbejahung schien Nietzsche bisweilen den Positivisten beizupflichten, die er danach doch bald mit Hohn und Verachtung abstieß. Viele Angriffe in seinen Schriften auf Wagner wurden übersehen. Im letzten Schaffensjahr 1888, fünf Jahre nach Wagners Tode, persiflierte er witzig dessen Werk in „Der Fall Wagner". Diesen Abfall hatte Bertram in seinem Buch im Kapitel „Judas" verurteilt. Ich empfand es nicht so: Nietzsches Weg war notwendig. Auch George und E. Gundolf lehnten Wagners Dramen als Dichtungen durchaus ab und waren mit meiner 37

Darstellung sehr einverstanden - aber es war mir deutlich, daß George eine andere Lösung wünschte. Daß Nietzsche dreißigjährig von seinem „religione quadam" verehrten Meister abfiel, in diesem Alter d e m seinen Dienst aufsagte, der ihn bisher geformt hatte, schien ihm, der seine eigene Aufgabe in der Gründung eines geistigen Reiches aus dem Dasein der Kunst sah, die Verletzung seines Lebensgesetzes. Als höchst gefährlich hatte ich es auch dargestellt. Daß er nun nach Wagners Tode den sarkastischen Angriff schrieb, schien mir als Mittel, die besten Wagnerianer zur Besinnung zu bringen und für sich zu gewinnen, verständlich. Heute würde ich doch sagen, daß zwar Abfall von Wagner und Kampf gegen den Wagnerismus zu Nietzsches Lebensgesetz und Schicksal gehören, aber die sarkastische Persiflage nach dem Tode des Meisters, der ihm die Selbstdeutung als Ubermensch vorgelebt hatte, ein Fehlgriff in den Mitteln des Kampfes war. (Audi die Verwendung der damals gelesensten Brahmsbiographie, die ihn - im Gegensatz zu dem heroischen Wagner - mit breitem Pinsel als Vollbürger dargestellt, hätte ich heute nicht wiederholt, denn die Musik von ihm hat auch mich oft ergriffen, und seine Mängel darzustellen, ist nicht mein Amt.) Eine breitere Wirkung meines Buches habe ich nicht gespürt, obwohl es auf die verschiedensten Leser, die von irgendeiner Seite einen seelischen Bezug zur Sache hatten, einen tiefen Eindruck machte. F. Gundolf schrieb mir, daß er es die Nacht durch „mit fieberhafter Erregung" gelesen habe. Aber die Mehrzahl der Leser wollte klare sachliche Ergebnisse haben und hatte nicht die Muße, die Wertung aus der Tiefe der Existenz mit zu vollziehen. „Zu hohes Niveau". „Zu schwer". Übrigens war eigentlich die Arbeit nur halbvollendet. Ich hatte dargestellt, 1. wie Nietzsche sich mit Wagner im Kampf gegen das neunzehnte Jahrhunden verbündet, 2. wie er dann, als Wagner mit diesem Frieden schließt, um sein Theater zum Siege zu führen, allein jenen Kampf - und 3. diesen dann auch gegen Wagner weiterführt. Dazu aber plante ich den zweiten Band: Nietzsche und das X X . Jahrhundert. Wenn Nietzsche hinter Piaton zurückgeblieben war, war dann nicht die künstlerische und geistige Bewegung der Gegenwart zur Erfüllung, zur positiven Schöpfung imstande? Welche Kritik war nötig? Darüber hatte ich viel mit George gesprochen. Aber nun drängte es mich nach dem bisherigen Ergebnis, ein Buch über Piaton zu schreiben, da ich doch in ihm den höheren Rang der lebendigen Erkenntnis, des Seins fand. George stimmte dem zu, da ich das Wichtigste schon gesagt hätte. Der existentielle Werdegang war gedeutet, es wäre auf Urteile und Meinungen angekommen - und diese hatte E. Gundolf kurz und überzeugend in seiner Abhandlung gegeben. Aber als Psychiater fühlte ich mich beinahe verpflichtet, die Streitfrage über Nietzsches Krankheit zu erklären, da doch das ganze Material von mir durchforscht war. 1902 hatte der bedeutende Nervenarzt Möbius in „Über das Pathologische bei Nietzsche" behauptet, Nietzsches Wiederkunfts-Hypothese sei schwachsinnig. D a diese in der „Fröhlichen Wissenschaft" verkündet wird, wäre also Nietzsche schon 1882 durch die Paralyse verblödet gewesen. 38

Der „Zarathustra" war für diesen Rationalisten Ausdruck der paralytischen Euphorie. Wie erstaunte Möbius dann aber, als er in den folgenden Schriften, ten, „Jenseits" und „Genealogie der Moral" eine Philosophie entwickelt fand, mit der er ganz einverstanden war. Weder aus seiner Praxis noch aus der Literatur sei ihm solcher Verlauf der Paralyse bekannt, aber der klaren Einsicht, daß sich im Werke die Paralyse erst Ende 1888 zeigt, gibt er nicht Raum, sondern greift lieber zur unglücklichen Hypothese, die metaluetische Erkrankung habe jahrelang Nietzsches Genie noch gesteigert! (Und auf diesen haltlosen, sonst wohl nirgends angenommenen Einfall hat dann Thomas Mann seinen Doktor Faustus aufgebaut!) Gegen mein Gutachten habe ich keinen psychiatrischen Widerspruch gehört, wohl aber gegen den Geist, in dem es geschrieben ist. Man warf mir vor, ich hätte aus dem Fall Nietzsche einen Fall Möbius gemacht. Daß ich dem Genius Nietzsches Gerechtigkeit verschaffte, bedeutete wenig, aber daß ich den Irrtum des Zunftgenossen und sein mangelhaftes Verantwortungsgefühl nachwies, galt als unkollegial. Doch hat George zu meiner Verwunderung dies notgedrungen schwerfällige medizinische Gegengutachten erfreut: hier war ja bewiesen, daß Nietzsches Wunde durch seinen Bruch mit Wagner niemals geheilt ist, und in den Jahren 1873 bis 1887 wohl die wichtigste Ursache seines „Nervenleidens" war. Jaspers hat in seinem Nietzschebuch mein „Wagner und Nietzsche" nicht erwähnt. Aus dem Titel konnte er vermuten, daß es sich um eine Spezialfrage der Biographie, nicht um eine wesenhafte Deutung von Nietzsches Existenz und Werk handle. Sein Nietzschebuch ist keins seiner stärksten Werke: Er legt breit dar, was geschehen sollte, nicht was er Neues erkannt hat, so als ob ein Tennismeister raten wollte, Anatomie und Physiologie des Armes, der Beine zu studieren, statt zu sagen: Immer auf den Ball blicken. Aus Literaturblättern sah ich, daß Schlechtas Thesen als Angriff auf die Nietzsche-Auffassung des Georgekreises aufzufassen sind. Ich habe mich schon im „WagnerNietzsche" dagegen gewehrt, daß man im „Willen zur Macht", dieser Sammlung von Notizen, Nietzsches Hauptwerk sah, was gerade nach dem Zusammenbruch 1918 unter der Jugend mit besonderem Nachdruck geschah. Schon im erkenntniskritischen Teil überwogen „die zerstörenden und umkehrenden Kräfte", der Nihilismus. Entscheidend ist vielmehr die nur auf ein Viertel der Länge dieses theoretischen Werkes geplante „Umwertung aller Werte", geschrieben im imperatorischen Stil. Sie ist zum Teil vollendet, „Ecce homo" und „Götzendämmerung" sind seine Vorspiele - so könnte man kritisch beurteilen, was aus dem „Willen zur Macht" geblieben, was alles gestrichen worden wäre. Diesen Standpunkt habe ich danach in Vorlesung und Seminar noch entschiedener begründet. Von nun an galt meine Forschung überwiegend Piaton. Sein Werk als Ausdruck der Wissenschaft, einer dialektischen Philosophie war die notwendige Grundmauer des Baues, aber wesentlich ging es mir doch um das Schöpferische, um das Lebendig-Seelische dieses Geschehens. Schon 1911, als ich das Gastmahl übersetzte, war der junge Philosoph Hermann Schmalenbach für 39

einige Jahre in unseren Kreis getreten. Er hatte eine sehr freundschaftliche Neigung für mein Streben und sprach eine Probe dieser Übersetzung mit mir durch. Aber trotz seiner großen Piaton-Verehrung spürte ich bald, daß er mich auf einen andern Weg locken wollte. Seine Doktor-Dissertation über die Vorsokratiker hatte auf mich einen großen Eindruck gemacht, da sie in ganz ungewohnter Weise das Methaphysische in der Sprache des Urmythos verdeutlichte. Aber danach hatte er mehr den Weg der reinen Begrifflichkeit eingeschlagen. So interessierte ihn selbst im Gastmahl die Unruhe des Gesprächs, aus der sich neue Begriffe ins Bewußtsein drängten, während ich mich unbewußt der bildhaften Vorstellung des platonischen Ereignisses dieser Gestalten hingab. In der Einleitung f ü r die Übersetzung hieß das eine Drittel „Der Mythos". Ernst Morwitz schrieb mir zu diesem Buche: „Von jetzt ab weiß ich f ü r immer, was der Mythos ist." In der Tat war ohne mein Wissen dadurch ein Leitbild für meine fortdauernde Arbeit gegeben, ich könnte auch sagen, eine letzte geistige Dimension für mein gegenständliches Denken aufgebrochen. Ich war zur Vorstellung gelangt, daß dies Gastmahl mit Sokrates in wichtigen Zügen so stattgefunden hatte, keine reine Erfindung war, daß es aber durch die Tiefe des geistigen Erlebens, durch die Seinshöhe des Dichters auf die Ebene gelangt war, auf der es einen ewigen Gehalt bildhaft, ereignishaft darstellte. Neben den Mythen der Urzeit, religiösen Vorgängen, die für uns noch dichterische Wirklichkeit haben, kann es auch im geschichtlichen, vielleicht im gegenwärtigen Geschehen mythische Wirklichkeit geben. So hatte ich danach im Wagner-Nietzsche-Buch mit aller Ehrfurcht vor der historischen Wahrheit gestrebt, im geschichtlichen Geschehen vor allem den einmaligen Vorgang von dauernd-mythischer Bedeutung zu erfassen. Damals (1911) schrieb Schmalenbach für unser „Jahrbuch für die geistige Bewegung" einen Aufsatz „Gebilde des Begriffes". George nahm ihn nicht an, weil er schon im Thema einen Widerspruch sah: Begriffe galten ihm als abstrakt, Gebilde als konkret. So kam es, daß Schmalenbach auf seinem begrifflichen Wege sich von uns sonderte. Er meinte zwar, daß im Gefolge von Kant sich nur eine dünne ethische und religiöse Anschauung entwickeln lasse und daß ein schöpferischer Weg von ihm kaum möglich sei - dennoch ging er immer entschiedener diesen Weg. Nach dem Kriege, 1921, gab er mir sein großes Leibniz-Buch. Im Stil der Sprache, der Begriffszergliederung und -bildung war es mir durchaus fremd, jedes Gespräch darüber fruchtlos. Wenn ich Philosophie aus dem ganzheitlichen, dem leibhaften Leben bis zum Blick auf das schöpferische Urgeschehen treiben wollte, sah ich dieses im Raum des Mythischen, das zugleich Dichtung, Kunst überhaupt, Religion, Philosophie in sich birgt. Deutung der Dichtung ist oft Philosophie, und da anschauliches Denken mir als höchste Erkenntnis galt, so pflegte ich auch das Genießen und Deuten der bildenden Kunst, (auch das der Musik). Schon vor der Jahrbuchzeit, seit 1906 führte mich der Umgang mit meinem Schwager Paul Thiersch besonders von der Baukunst her ins Hellenische ein. Sein Urgroßvater war der berühmte Philhellene Friedrich v. Thiersch. Gemeinsam 40

mit Schelling bewirkte jener die Reform der philologischen Erziehung in Bayern, übersetzte Pindar, rekonstruierte Tempel und diente der griechischen Erhebung, so daß bei der Königswahl an ihn selbst gedacht wurde. Paul Thierschs Vater August war Architekt und Erforscher der Proportionsgesetze der griechischen Tempel, worüber er das Kapitel in Jacob Burckhardts Kunstgeschichte geschrieben hat. Mit Paul Thiersch traf ich mich im Interesse für die attischen Vasenbilder, um die ich mich schon 1908 bei meinem Erstlingsvortrag „Über den Eros", der durch Schopenhauer angeregt war, bemüht hatte. Daher stammen auch die Titelbilder zu meinen Platon-Übertragungen, über die mich Furtwänglers und Buschors Publikationen, dann auch Buschors persönlicher R a t belehrt hat. Sonst gingen Thierschs und meine Forschungen einen verschiedenen Weg zum Hellenischen: Er, der bildende Künstler, vor allem der Baumeister, ging vom Tempelbau, dann von frühen Vasenbildern des geometrischen Stiles aus, ich von Dichtung und Philosophie. So suchten wir beide das Ursprüngliche auf verschiedenen Wegen. Wenn schon der Titel „Blätter f ü r die Kunst" auf die Ganzheit des künstlerischen Lebens gewiesen hatte, so deutete sich doch jetzt im Kreise etwas wie spezialistische Sonderung an: die expressionistische Bewegung der Malerei: Thormaehlen war mit Heckel, Paul Thiersch mit Schmitt-Rottluff befreundet, Wolfskehl verkehrte mit Kandinski und Franz Marc, der so offensichtlich aus religiöser Gesinnung wirkte. Aber was bedeutete es, daß dieser gegen den Piatonismus, gegen die „Idee" protestierte? Im Ganzen war der Bruch mit der Tradition entschieden, schien der reine Individualismus verkündet, im Unbewußten der Einzelseele wurde das Heil gesucht. Darin trat eine glühende Erregung um das U r sprüngliche zu tage, aber der Individualismus führte dazu, die Kunst Lechters, die bis dahin nahe mit dem Mythos Georges, andererseits allerdings mit einer „religiösen" Mystik verbunden war, zu befehden. „Spezialistisch" wurde die Malerei insofern, als sie meist sich ganz auf den rein optischen Ausdruck beschränken wollte, die geistigen Beziehungen auf einen umfassenden Mythos einschränkte oder verbot. Als ich von meinem Erlebnis der Schönheit auf Botticellis Bildern, zu dem auch der Engel-Mythos gehört, sprach, wurde idi belehrt: Botticelli sei Dichter, nicht Maler. Die „Idee" wurde verworfen. Suchte man schließlich doch auch das Urspüngliche, indem man etwa Neger mit übergroßen Beinen und verkleinerten Köpfen erfand. Bei solcher Übersteigerung trennte sich der Weg des bildhaften Geistes und des rein optischen Individualismus. Für die geistige Verjüngung schien mir nicht der vollständige Bruch mit jeder Tradition fruchtbar, sondern die Erhaltung aufbauender, noch unverbrauchter Kräfte: das Schöpferische, das was im mythischen Raum Erscheinung wird. Das fand ich strahlend in Platons„Timaios", im Schöpfungsmythos, der so wenig bekannt, noch seltener verstanden schien. Ich hob ihn in einer Übersetzung aus dem großen Dialog heraus, und Paul Thiersch ließ ihn 1925 gern in den von ihm gegründeten Werkstätten „Burg Giebischenstein" der Stadt Halle in der Handpresse, in großem Format drucken. (1942 er41

schien der ganze Timaios und Kritias bei Reciam). Wie hatte man den gewaltigen Mythos vergessen können, der bis zur Renaissance einer der Grundsteine des christlichen Kosmos war, bei den Mystikern in St. Victor, in Chartres, in Dantes Weltbild! Und nachdem in der Renaissance andere Dialoge in den Mittelpunkt rückten, wurde für Galilei und Kepler das astronomische Weltbild des T I M A I O S (sie nannten ihn, Piatons Mythos gläubig, das „Pythagoreische W e r k " ) zum Leitfaden. Die Anschauung der von Gott unmittelbar geschaffenen Seelenkeime wurden in Aristoteles Entelechien, dann in Leibniz von Gott ausgeblitzten Monaden im Gegensatz gegen eine mechanistische „Naturwissenschaft" klarer entwickelt. Im Unterschied auch von manchen Freunden sah ich im „ T I M A I O S " das große Vorbild dafür, in die Deutung des geschaffenen Kosmos gleichsam das mathematische Gerüst der „Naturwissenschaft", die Lehre von Materie, von Atom und Molekül, unverkürzt einzubauen. Wenn früher einige Sätze von Piaton weltflüchtig im Orphischen Sinne klangen, so sind im T I M A I O S diese Spuren getilgt, wenn audi die schulmäßige Lehre bis heute eher das Gegenteil behauptet, nämlich Trennung einer ewigen herrlichen Ideenwelt vom trügerischen Schein oder unbedingter Verderbnis einer irdischen Welt. Schon im G A S T M A H L hob sich eine Idee über alle andern: die Idee des Guten, der schöpferischen Kraft, der lebenstrahlenden Sonne zu vergleichen. Aber als zweithöchstes nächst dieser Idee besteht nicht eine andere Idee, sondern die physische Sonne. Im T I M A I O S gehört die Schöpferkraft, der Demiurg, nicht zu den Ideen, sondern er selbst ist diese höchste Wirklichkeit, der Gründer, der auf die Tafel der ewigen Ideen schaut und sie als physische Welt verwirklicht. Dieser leibliche, beseelte Kosmos ist nicht bloß phänomenal, auch nicht verderbt, sondern er ist der zweithöchste Gott. So schließt Timaios, daß dies Weltgefüge, sterbliche und unsterbliche Geschöpfe enthaltend „sichtbares Geschöpf, die sichtbaren befassend wahrnehmbarer Gott, Abbild des denkbaren der größte und beste, schönste und vollkommenste dieser eine Himmel, der einzig wurde und ist." Von diesem hymnischen Schluß, der auch auf den Johanneischen Sohn und ewigen Logos vorausweist, gehe ich aus in meiner Platon-Deutung und ich wundere mich, daß man an diesem großen Lobgesang, der den Weltmythos beschließt, so gern vorbeigeht. In seiner Unterscheidung von physischen Notwendigkeits-Ursachen und göttlich-schöpferischen Ursachen sehe ich auch das Schema der Dimensionen bestätigt: die vierdimensionale physikalische Welt und die mehrdimensionale schöpferische. Aber auch den Gegensatz gegen das unbefriedigende Schema der rationalistischen Philosophie, die unbedingte Trennung von Moral und Ästhetik (von Kant verfestigt, von Kierkegaard erneuert) fand ich im T I M A I O S als ewige metaphysische Formel: „Es kann der Beste nur das Schönste schaffen" (poiein 42

= dichten). Wenn wir nicht allein eine Jenseitswelt werten - welch andern Sinn und Wert kann dann die leibhafte Welt und unser Tun haben, als das Schöne Leben zu wahren und zu fördern, und ist dann nicht die Hypothese beinahe notwendig, daß die weltschaffende Kraft das schöne Leben „gewollt" hat, wenn wir Menschen uns auch von der Art, dem Wesen dieses Wollens keine begründete Vorstellung machen können - wie wir auch vom Wesen unserer unbewußten Triebe, solange sie nicht in den bewußten Willen übertreten, keine Vorstellung haben (trotz Freud)? Gern benutze ich als Beispiel für dies Verhältnis die Erinnerung, daß im lebendigen Geschehen das vierdimensionale vollständig enthalten ist wie das Knochengerüst im lebendigen Leibe, und daß der schöne Tanz, trotzdem er in die mechanischen Gesetze der Knochen und Gelenke streng gebannt bleibt, sich zum freiesten Geschehen entfaltet - nicht t r o t z dieses festen Mechanismus, sondern durch ihn erst ermöglicht. Ja, rückblickend ist die Entstehung dieses starren Gerüstes erst denkbar durch diesen Zweck: die freie Beweglichkeit des Leibes. Für den weltbejahenden Denker ist das der Grundsatz der Philosophie als wirklicher Weltweisheit, während die Trennung von Moral und Ästhetik zur Entleerung der Moral oder zur Entleerung der Kunst durch begriffliche Zersetzung der ganzheitlichen Anschauung führt. Somit stand ich im Systematischen auf festem Boden, was allerdings bedeutete, daß die mathematisch-exakte Wissenschaft nur für die unteren vier Dimensionen gilt, diese aber auch philosophisch in ihrem Gebiet weiter unbedingt gelten, (obwohl diese Unbedingtheit durch die Relativitätslehre fragwürdig erscheint).

III. ÜBERGANG ZUM P H I L O S O P H I S C H E N AMT Diese Studien stärkten meinen Wunsch, vom ärztlichen Beruf in den philosophischen überzuwechseln, doch sah ich ein, daß mir dies ohne persönliche Bemühungen um eine Habilitation kaum gelingen werde. Auf Grund meiner Ganzheitsphilosophie war es sinnvoll, daß ich mich mehr an den Menschen als an den Spezialgelehrten wandte, und der Weg in die akademische Berufung ging durch die Einordnung in die Zunft. Doch bei meinem Doppelberuf mangelte mir die Zeit, auf Kongressen persönliche Kontakte herzustellen. Troeltsch, der mir ebenso wie sein Freund Professor C. H. Becker, Kultusminister im sozialistischen Ministerium Braun, gerade wegen meines philosophisch fundierten „Norm und Entartung" wohlgesinnt war, war inzwischen gestorben. Mein Schwager Karl Reinhardt, durchaus künstlerischer Mensch und in der Forschung ganz auf die strenge griechische Philologie gestellt, für das Fach der neueren systematischen Philosophie wenig interessiert, stellte, als er von meinem Wunsch hörte, spontan sogleich die freundschaft43

liehe Beziehung zu Wechsler, dem Romanisten her. Spranger kam mir ebenso wohlwollend entgegen, da er ausdrücklich einen Vertreter der Georgeschen Bewegung an der Universität wünschte und riet mir, ohne neue HabilitationsArbeit meine früheren Arbeiten vorzulegen. Aber da Heinrich Maier, der erste Referent, eine solche wünschte, und da es mich auch selbst reizte, eine ganz den akademischen Regeln entsprechende Arbeit vorzuweisen, erklärte ich midi damit einverstanden. Der Minister, Professor Becker, Ordinarius f ü r Geschichte, meinte allerdings, mit meiner vorliegenden Arbeit „ N o r m und Entartung" könne man doch „einen Ordinarius alimentieren". Mit Dessoir, der ebenfalls warm für mich eintrat, besprach ich die Wahl eines Themas. Nietzsche? Noch nicht kathederreif. Kant? Sehr bedenklich, da jeder Kantforscher seine eigene Kant-Auffassung vertritt. Also wählte ich, was mir am H e r z e n lag: Piaton. Die Darlegung seiner Weltbejahung in seinem Gesamtwerk. Das war unvorsichtig. Wilamowitz, zwar emeritiert, setzte seinen noch großen Einfluß gegen mich ein. Jäger, obwohl geistig auf ganz anderem Wege, war mit Wilamowitz doch darin einig, daß Piaton Sache der Philologen bliebe und man den Georgianern den Wind aus den Segeln nehmen müsse. Spranger erzählte mir, daß er in Leipzig gern über Piaton gelesen habe - in Berlin dürfe er sich das nicht erlauben. Außerdem sei durch meine Arbeit hindurch zu spüren, daß ich etwas w o l l e - das sei bei den Spezialisten nicht gern gesehen. Heinrich Maier wollte sich nicht gern in Widerspruch zu den berühmten Graezisten setzen. Mit den Hauptgedanken der beiden ersten Teile der Arbeit war er einverstanden, aber den dritten Teil f a n d er verfehlt. In diesem hatte ich auf Husserls Spuren den großen Unterschied zwischen Piatons und Kants Apriori gezeigt. Bei Kant bleibt es im „Formalen", bei Piaton erkennt es auch die geschichtlichen Vorgänge - es steht also der weltspiegelnden Monade nahe. (Man hätte auf diesen Teil, eigentlich ein bloßer Anhang, auch verzichten können.) Trotz dieser persönlich und im Spezialgebiet so gewichtigen Gegner stimmten zwei Drittel der Fakultät für midi — aber drei Viertel wären nötig gewesen. Der Minister, der die Motive durchschaute, beauftragte midi mit Vorlesungen - nicht wie üblich f ü r ein engbegrenztes Fachgebiet, sondern mit voller Freiheit wie einen Ordinarius. Ich konnte mit Vorlesungen und Übungen beginnen und las 1928 über die Vorsokratiker, ein Gebiet, mit dem ich mich schon früh als Schüler beschäftigt hatte, f ü r das mir aber Karl Reinhardts „Parmenides" neue Einsichten eröffnet hatte. Die übliche Auffassung der Lehrbücher, aber auch Nietzsches „Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" waren unvereinbar gewesen mit Piatons Ehrfurcht vor Parmenides „dem Großen" - Reinhardts Buch brachte die beglückende Klärung. Wie immer bemühte ich mich, die Ergebnisse der Fachwissenschaft sachgemäß auszuwerten, aber nicht die Probleme auszubreiten, sondern das in der Gegenwart noch Geltende, die Leitbegriffe unserer eigenen Forschung und Erkenntnis herauszuheben, interpretierend gleichsam unsere eignen Probleme in geschichtlich-mythischen Gestalten zu schauen. Ebenso erfreuend wie diese Forschung selbst war bei späteren 44

Wiederholungen die spürbare Wirkung. Von einigen Hörern erfuhr idi, daß sie sich daraufhin entschlossen, Griechisch zu lernen. Im zweiten Semester las ich Nietzsche. Der mittlere Hörsaal faßte nicht die Hälfte der Hörer und wir füllten das alte Auditorium maximum. Danach las ich Schellings Naturphilosophie. Ich bedaure es, später nicht mehr dazu gekommen zu sein, auch seine Lehre, sein Wesen in einem Buche zu entwickeln, aber der Umweg über den medizinischen Beruf verhinderte, alle Pläne zu erfüllen. Seitdem ging ich in den Vorlesungen zum Thema über, das mir seit zwei Jahrzehnten philosophie-geschichtlich die wichtigste Aufgabe schien: Piaton. Und 1930 begann ich ein Buch über ihn zu schreiben, dessen fertiges Manuskript ich 1932 George vorlas. Aber nicht um der Philosophie-Geschichte als solcher, auch nicht um des „Systemes", der „Ideenlehre" willen studierte ich immer wieder die Dialoge: es ging mir um den Weisen, den großen Menschen, um das Maß seiner Seinshöhe. Ich konnte nun einmal das Wesen nur erfassen in der Einheit von seelischer Entwicklung und Lehre, existentiell hier besonders im Willen des großen Staatsmannes. Der Leitfaden bleibt mir durchaus Piatons kurze Selbstbiographie im siebenten Brief. Aus welchem Geist ich den Zugang suchte, geht aus dem Romantik-Aufsatz ( J A H R B U C H 1911), aus dem über das G A S T M A H L und den T I M A I O S Gesagten hervor. Für ein unbefangenes Verständnis waren aber die Zeitumstände des Erscheinens ungünstig. Das Manuskript war im Herbst 1932 druckfertig, das Buch erschien Anfang 1933, in der wissenschaftlichen Reihe der „Blätter für die Kunst", bei Bondi, wie vorher Gundolf, Kantorowicz, Wolters. Piatons Ringen um die politische Macht hatte schon der junge Nietzsche in seinen Vorlesungen fast blitzartig beleuchtet. Ich hatte seinen Wirklichkeitssinn und -willen im Aufsatz 1911 nach zwei Fronten hin abgegrenzt: gegen die abstrakte Begrifflichkeit der Denker und gegen die idealistische Romantik. Auch Nietzsche war es um Verwirklichung, nicht um bloße Erforschung der Wirklichkeit zu tun. Seit Deutschlands Zusammenbruch 1918 verstärkte sich unser Realismus weiter als nationale Gesinnung, und an dieser Gesinnung habe ich festgehalten: sie war abendländisch und national, aber niemals war sie nationalistisch - sie war sozial, aber nie sozialistisch. Wie vorbildlich wurde Piaton, wenn man den existentiellen Sinn seines Tuns, nicht die gängigen Begriffe zugrunde legt. Piaton wirbt nicht für das attische SeeReich, sondern für die Polis, aber er meint damit zugleich den weiten nationalen Bund aller hellenischen Poleis - Athen und Sparta, Italien, Sizilien, Kreta, Makedonien, Kleinasien. Das ist ein Analogon unserer abendländischen Einigung. Aber begreiflicher Weise mochten die Forscher 1933 nicht gern von diesem Staatsmann Piaton hören und suchten wieder den Gelehrten, den Logiker, allenfalls den Pädagogen. (Als ich das Buch schrieb, hatte ich mich um die aktuelle Parteipolitik fast nicht gekümmert, Davon habe ich an anderer Stelle berichtet: hier beschränke ich mich auf den philosophischen Sektor und die Piatondeutung.) 45

Ich hatte keinerlei Neigung, Piatons Werk auf Grund moderner Einsichten und Ansichten zu kritisieren: aus unserer Gegenwart heraus suchte ich in ihm, was uns fehlte, was unsere schmerzhafte Unsicherheit heilen könnte. Wie gesagt, waren die meisten Freunde der geistigen Dichtung der modernen (mechanistisdien) Naturwissenschaft und der rationalistischen Philosophie abgeneigt. Die Spaltung der Wissenschaft in Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft hatte dahin geführt, daß man gegenseitig die Sprache des andern nicht mehr verstand. Ich konnte diese Spaltung nicht anerkennen, da sie unphilosophisch ist, und ich brauchte sie nicht anzuerkennen, da Kant in seiner Kritik die Grenzen der exakten Wissenschaft, des Verstandes bewiesen, sogar übersteigert hatte. In der Tat ist die vom Vorbild der Mathematik geleitete Wissenschaft das Vorbild der „Wissenschaft" überhaupt durch apriorische Gewißheit, Beweisbarkeit und exakte Methode. Wie seltsam, daß dies auch philosophisch gebildete Forscher oft nicht einsehen, obwohl, wie gesagt, bis heute noch bisweilen unter scientia im strengen Sinn Mathematik und Naturwissenschaft, nicht das auf Zeugenberichten und Urkunden beruhende Geschichtswissen verstanden wird. Darum wiederhole ich: für diese vorbildliche Exaktheit zahlt die scientia einen gewaltigen Preis: sie verzichtet auf die Kenntnis des Lebendigen, des seelischen und geistigen Daseins. Die Exaktheit im Wesen der Erkenntnis bleibt auf die vier unteren Dimensionen beschränkt, das heißt auf das tote, mechanische Geschehen. Andererseits muß die Erkenntnis des Lebendigen auch die vier unteren Dimensionen in sich schließen: wir kennen wissenschaftlich kein auf die höheren Dimensionen, reine Seele, reinen Geist, beschränktes Sein. Das wäre wohl klar und überzeugend, wenn nicht - und eben durch das Ideal der exakten Wissenschaft verursacht - der Begriff „Natur" in einer kaum noch glaublichen Weise entartet wäre. Auch Kant versteht unter Natur vorzugsweise das Getriebe der toten Stoffe, Newtons Uhrwerk. Die Wissenschaft verdrängt den „natürlichen" Begriff der Natur, der doch in unserer lebendigen Sprache weiter besteht. Natur ist das schöpferische Weltall, Gott als weltschaffende Kraft und als geschaffene Welt. Und wenn es sinnvoll ist, den schaffenden Geist der Weltkraft und des tätigen Menschen (dessen Werk man dann „künstlich" nennt) von der geschaffenen „Natur" zu unterscheiden, so wird es doch sinnwidrig, den Begriff Natur danach noch weiter einzuengen. Welt und Natur sind das gleiche. Zwar ist jederlei Kraft ein metaphysisches Wesen, denn indem wir sie auch unmittelbar wahrzunehmen vermeinen, schließen wir doch nur aus Wirkungen auf sie. Da wir ihr Wesen nicht kennen, so steht es uns frei, sie als Natur oder als Ursache der Natur zu benennen . . . Kants Trennung zweier Welten, des mundus sensibilis und mundus intelligibilis stammt zwar zuletzt von Piaton, ist aber in der Ausführung unplatonisch. Doch mit seiner Unterscheidung des transzendentalen Erkennens, das all unser Erkennen durchdringt und der transzendenten Begriffe, die es unbedingt überschreiten, war er wieder auf dem rechten Wege. Die übliche Deutung der Ideenlehre führt dahin, daß Piaton der leibhaften Welt, der wir 46

angehören, ihr Gewicht nehme und die Ideen nur als abstrakte Begriffe gelten lasse. Wie falsch! D a ß diese Weltflucht, diese Jenseitsverehrung in einigen Stellen berührt wird, ist wahr, aber der Zusammenhang der Lehre, die Verehrung des zweiten Gottes im T I M A I O S , sind wahrhaft wesentlich und sie verweisen diese wenigen transzendenten Gedanken an den Rand. Gewiß vollendet sich Piatons Weltbild erst durch solche Vision, die wir transzendent nennen. Aber wahre Gottheiten sind nicht die Ideen, sondern der Schöpfer, der Demiurg, der aus dem Eros zum Schönen die Materie beseelt, indem er ihre Harmonie mit den Ideen herstellt - und zweite Gottheit ist dies beseelte harmonische All! Der Geist dieser T I M A I O S - L e h r e leuchtet schon aus dem P H A I D R O S . Ich glaubte damit das Hauptmoment des Mißverstehens einer systematischen „Ideenlehre" aufzudecken. Piaton hebt die Ideen als Erkenntnis des Ewigen ab von der Wahrnehmung der vergänglichen Erscheinungen, aber nicht, wie meist gedeutet, von den sinnlichen „Qualitäten" überhaupt. Darauf waren die Analytiker der Erkenntnis immer wieder aus: abstrakte oder sinnliche Komponenten, intelligible oder sensible. Erst Husserl hat uns ganz verdeutlicht: auch die sinnlidien Qualitäten sind zeitlos, empirisdi und apriori zugleich. Dies leuchtende Rot hier ist ewige Qualität, auch sie gehört ins Ideenreich. Nur daß diese Blume hier dies Rot trägt, ist morgen vielleicht nicht mehr wahr. Die Idee „Pferd" ist nicht abstrakter Artbegriff, sondern das ewige Wesen des Pferdes, weiß oder schwarz, stehend oder springend, wiehernd oder still, fügsam oder störrisch. Die Idee ist viel eher eine Kontraktion der sinnlichen Qualitäten, der wechselnden Erscheinung in einer geistig geschauten Gestalt, als einer aller Anschaulichkeit entsagenden Abstraktion. Schönheit ist die magische Idee des Schönen in sinnlicher Erscheinung. So scheint mir ein Satz im P H A I D R O S , mit dem die Denker in ihren begrifflichen Geleisen wenig anfangen konnten, besonders bedeutungsvoll und klärend: „Denn die irdischen Nachbilder der Gerechtigkeit und Besonnenheit und was sonst der Seele kostbar ist, haben keine Leuchtkraft, und wenn wir mit unsern schwachen Sinnen an die Abbilder herantreten, erblicken nur wenige mit Mühe die Art des Urbildes. Die Schönheit aber war damals leuchtend zu schauen, als wir mit dem glücklichen Chore das selige Gesicht und Schauspiel e r b l i c k t e n . . . " (250 B). Im Anblick der leiblichen Schönheit aber wird der Liebende unmittelbar in den Rausch der Gottesschau versetzt (249). Ich las von einem bedeutenden Philologen, einem Interpreten der Dichtung, Philosoph und Dichter seien Feinde, wenn sie sich nur recht verstehen. Nein, Piatons Mythen sagen uns, daß auf höchster Ebene beide nahe verwandt oder eins sind (245. 248 D). Das war der unverlierbare Gewinn: die Vereinigung der Sinnenschönheit mit der Idee des Guten oder der schöpferischen Kraft, der Glut des Diesseits, umfassend auch, was wir sonst mit dem Begriff „Transzendenz" zu fassen suchen. Für diese überrationale Sicht diente mir der Begriff des Mythos, wie ich später in der Einleitung zur Übertragung des P H A I D R O S ausführte, die 1943 zur Ausgabe bereit lag. (Aber die ganze Auflage verbrannte im Kriege bis auf mein Probeexemplar. Erst zehn Jahre

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später erschien sie wieder in Kiel bei E. Engelke. Jetzt auch bei Reclam, mit kurzer Einleitung.) Audi in jenen Jahren der politischen Irrungen war uns Piaton Leitstern: der Norm-Staat der Gerechtigkeit gegen den nationalistischen der Ungerechtigkeit aus sacro egoismo, die gesetzlichen Könige gegen den Tyrannen. Die Aufhebung des Rechtsstaates war mir von je zutiefst widerlich. D a waren Nietzsches übersteigerte Formulierungen, sein „Immoralismus" bedenklich. Im Grunde meint er ja ein höheres, das schöpferische Ethos, setzte eine bürgerliche Moral als selbstverständlich voraus, soweit sie nicht heuchlerisch war, doch stellte er Piatons „Gerechtigkeit" durch seine Formulierung in Frage. D a zu kam, daß er in der „Geburt der Tragödie" schon die irrtümliche Legende von Sokrates als dem reinen Logiker schriftstellerisch ausgeführt hatte, zur Freude aller moral- oder philosophiefeindlichen Schriftsteller. Die Vertreter der Partei- Diktatur übertrieben diese These ins Geschmacklose, obwohl sie gleichzeitig Kants unbedingtes Moralgesetz anpriesen - war es doch nützliches Werkzeug f ü r den unbedingten Partei-Gehorsam. Dagegen richtete ich die Übersetzung von Apologie, Kriton und Menexenos, unter dem Titel „Piatons vaterländische Reden" (bei Meiner 1936). Es war ein Schlag ins Wasser. Denn die Anhänger der politischen Gewalt interessierten sich nicht f ü r Piatons Philosophie, und ihre Gegner mochten damals das einst bei Hölderlin so heilige Wort „Vaterland" nicht mehr hören. Zuletzt als die längst schwelende Krise des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes, des unantastbaren „Ideales der Wissenschaft" durch die furchtbare Weltgefahr der Atombomben plötzlich zur quälenden Gewissensbelastung der so unvorstellbar erfolgreichen Forscher geführt hatte, stieg das Problem „Gewissen und Wissenschaft" auf — in der modernen Wissenschaft bisher kaum bekannt, aber in Piatons G O R G I A S schon aufwühlend dargestellt. (Ich habe den G O R G I A S bei Reclam in diesem Sinne eingeleitet.) Schon mitten in meinen Piatonstudien, 1929, hatte ich Gelegenheit, mit Husserl im engsten Familienkreise zu reden. Er hatte unter gewaltigem Zulaufe einen streng wissenschaftlichen Vortrag in der Universität gehalten vielleicht das Merkmal f ü r Gipfel (und Ebbe?) seines p o p u l ä r e n Erfolges. So wichtig mir seine Lehre war, so konnte mich als dauerndes Ziel die Ausklammerung des Wirklichen nicht befriedigen, suchte ich ja doch die Beziehung zum schöpferischen Geschehen der Gegenwart. Er war enttäuscht, daß ich meine Arbeit auf Schellings Philosophie richtete, von der Naturphilosophie wesentlich zur Erneuung des Mythos schritt. Schellings „negative" Philosophie ließ er allenfalls gelten. Aber seine „positive" (mythologische) - nein! H u s serl war gewöhnt, mehr zu docieren als zu discutieren und mein dringendes Fragen mochte er als naiv-zudringlich empfinden — doch er ließ sich drängen, auszusprechen, was er noch geheim halten wollte: er suchte die metaphysische Lösung in einer Sicht, die Leibniz Monadologie verwandt war. Das bestärkte mich noch auf meinem Wege zu Leibniz. Wozu die subtilen Analysen 48

der Phaenomenologie ins einzelne zu verfolgen? Fruchtbar schien mir von Piaton, Leibniz, Goethe, Hölderlin, Sdielling ein ursprüngliches, vom Herkommen unabhängiges Bild zu erwerben, möglichst aus ihrer ganzen Person, ihrer Existenz, nicht nur aus ihrer formulierten Lehre. (Heideggers Werk war mir damals noch nicht bekannt. 'Doch spürte ich, als ich Husserl nach diesem Hauptsdiüler fragte, daß ihre Wege sich zu trennen begonnen hatten). Als Jüngling mag man sich einen himmelhohen Leitstern setzen, um keine seiner Möglichkeiten voreilig zu opfern — als Mann erkennt man seine Grenzen und sucht die den eigenen Kräften angemessene Aufgabe, die ein Mitwirken am sinnvollen Geschehen der Zeit ermöglicht. Aber wie kann man an ihm als Forscher teilnehmen, wenn man zu schöpferischer Tätigkeit im höchsten Sinne nicht befugt ist? Das hat Schiller, als er im Freundschaftsbund mit Goethe seine höchste Aufgabe für die Bildung des Deutschtums gefunden hatte und sie kriegerisch in den Xenien sicherte, 1796 in einem Distichon verkündet: n r i - i r •• • j P f l i c h t tur jeden. Jeder strebe zum Ganzen und kannst du selber kein Ganzes Werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an! Niemand hört das skeptischer als der Deutsche - und ist er heute, nach heilloser Diktatur, mit diesem unbedingten Zweifel nicht auf dem rechten Wege? Ist politisch schon die Freiheit nur ein winziger Bruchteil sinngemäßer Selbstbestimmung, so will man doch im Geistigen unbedingt selbständig sein und jeden Gedanken einer Führerschaft, vielleicht die eigene ausgenommen, hochmütig abweisen: lieber Narr sein auf eigene Faust - wie Goethe immer wieder klagt. Unbewußt verschreibt man sich dem geistigen Chaos, wenn man von jeder aufbauenden, Gemeinschaft-schaffenden Geistestätigkeit absieht. Gerade in Dichtung und Kunst scheint das verantwortungslose Genießen die wahre Freiheit. Jenes Distichon war mein Leitspruch - und damit diese „Deutsche Bewegung" (Dilthey) ein zentrales Arbeitsgebiet, nicht als bloßes Kapitel der Literatur-Geschichte, sondern als hohes geistiges Ereignis, dessen Europa zu seiner Erneuung nicht entbehren kann. Für den mythischdichterischen Gehalt schien mir Goethe der Erfüller, Hölderlin aber mit diesem Erbe der Ahn einer Erneuung, Verwirklichung, in der Ganzheitsbetrachtung aber Leibniz der Vorläufer, der philosophische Sinnerheller dieser gesamten Bewegung. Der Literaturforscher fragt, wo ist Leibniz genannt, was hat der Dichter von ihm gelesen? Der philosophische Forscher fragt nach den großen, die Menschen beherrschenden Anschauungen, den Geistesmächten. So zeigt Dilthey in einer schönen Abhandlung, daß das achtzehnte Jahrhundert beherrscht war von Leibniz, von „dieser unbeschreiblich genialen Natur". Wie aber war es möglich, daß Leibniz hinter Kant zurückgetreten ist? Das ist historisch und metaphysisch das Grundproblem dieser Bewegung. Allerdings darf man nie vergessen, daß Leibniz' Lehre durch Verquickung mit der Wolfschen rationalistischen Schulphilosophie lange Zeit, ja bis heute, weithin entwertet wurde.

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Ich weiß, wenn ich in Leibniz den größten, in Kant den zweitgrößten Philosophen der neuen Zeit sehe, so behaupten die Kantianer, ich sei ein Schwarz-Weiß-Maler, der nur Leibniz schätzt und Kant mißachtet. Ich muß das hinnehmen, selbst wenn idi hoffte, auch Kants Gestalt größer gesehen zu haben als mancher seiner konventionellen Preiser. Nicht auf seine Biographie kommt es mir an, sondern auf sein Werk, die Ergebnisse, aber ich glaube allerdings, das Tiefste seines Werkes verstehen wir aus dem geistigen Geschehen, aus dem Kräftespiel, das im dynamischen Kampf am sichtbarsten wird. Nicht Geschichte um ihrer selbst willen, sondern Ereignisse, die uns das Dauernde verdeutlichen. In diesem Geschehen und Ringen schien mir ein Vorgang, ein „petit fait" besonders bezeichnend für den notwendigen Geisterkampf im Abendland, für die verhängnisvolle Niederlage echter Metaphysik gegen die exakte „Naturwissenschaft". Der Weifenkurfürst von Hannover ist König von England geworden. Leibniz, dessen Aussichten in der Kaiserstadt Wien unsicher sind, weil er die Konvertierung verweigert, möchte wenigstens von der Königstadt London aus wirken. Der König, stolz darauf, die beiden größten Genies der Zeit in seinen beiden Ländern als Untertanen zu haben, wagt doch nicht Leibniz' Wunsch zu erfüllen, um nicht dessen rachsüchtigen Gegner Newton zu kränken, auf den die englische Nation mit Recht stolz ist. Aber seine Schwiegertochter Caroline, Prinzessin von Wales, Schülerin und echte Erbin der philosophischen Königin Preußens, die begeisterte Leserin der Theodicee, hofft Leibniz und Newton zu versöhnen und will Clarke, den Theologen und philosophischen Forscher, gewinnen, die Theodicee ins Englische zu übersetzen. Aber dieser versteht nicht, welche wundervolle Chance ihm das Schicksal bietet, Philosophie und Spezialwissenschaft des Abendlandes zu versöhnen: Er setzt nur seinen Namen unter die Briefe, die ihm sein Freund Newton vorschreibt. Der sachliche Gehalt des Briefwechsels ist nun besonders die Kontroverse um das Wesen des Raumes: Ist der Raum ein absoluter realer Gegenstand oder ist er nur ein ideelles Ordnungsprinzip für die gleichzeitig bestehenden materiellen Dinge. Bekanntlich hat sich dieser Streit über das letzte Prinzip der materiellen Welt, der Streit um diesen Briefwechsel bis in unsere Zeit fortgesetzt, obwohl Kant, der Newton-Verehrer, seinen kritischen Idealismus auf Leibniz' Lehre aufbaute. Heute scheint durch Einstein der Sieg von Leibniz entschieden. Am Starrsinn Newtons scheitert die Vermittlung der ebenso geistreichen wie anmutigen Prinzessin, die als Laie freilich nicht ganz durchschauen kann, warum die großen Gegner dies abstrakte Problem so wichtig nehmen. Sie schreibt an Leibniz: „Ich bin verzweifelt zu sehen, daß Personen von so großem Wissen wie Sie und Newton nicht zu versöhnen sind. Die Gemeinschaft (le public) würde unendlich gewinnen, wenn man es bewirken könnte, aber die großen Männer gleichen darin den Frauen, die niemals ohne äußersten Kummer und tödlichen Zorn ihre Liebhaber aufgeben. Das ist der Rang, der Ihnen

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zukommt, meine Herren, für Ihren Streit um Meinungen." (Klopp. X I , 91. - Vgl. meine Darstellung in „Leibniz" 1953. S. 156-199). "Wie weise in ihrem weiblichen Instinkt, aber worum es in diesem Männerwerk und -streit, in diesem Ringen um den Geist des Abendlandes ging, konnte sie nicht sehen. Leibniz hatte, fast noch Knabe, den Geist der exakten mathematischen Physik besonders in Descartes Methode verstanden und geglaubt, daß die Welt mechanistisch-kausal erklärt werden könne. Descartes, der in den Tieren bloße Maschinen sah, im Menschen eine freie Lenkung der Körper-Maschine allein durch Vermittlung der Zirbeldrüse annahm, und die körperlidien Gegenstände als stofflose Ausdehnung zu begreifen vorgab - wie konnte er einem echten Philosophen genügen! Nach wenigen Jahren erkannte der junge Leibniz: „Als ich aber den letzten Gründen des Mechanismus und der Gesetze der Bewegung selbst nachforschte, war ich ganz überrascht zu sehen, daß es unmöglich war, sie in der Mathematik zu finden und daß ich zu diesem Zweck zur Metaphysik zurückkehren mußte. Das führte midi zu den Entelechien, d. h. vom Stofflichen zum Förmlichen zurück und brachte m i c h . . . zu der Erkenntnis, daß die Monaden oder die einfachen Substanzen die einzigen wahrhaften Substanzen sind, während die materiellen Dinge nidits als Erscheinungen sind, die allerdings wohl begründet und untereinander verknüpft sind." Damit war ihm seine Metaphysik, seine große Monadensdiau offenbar geworden. Nichts vom unseligen Prioritätsstreit, der allzusehr im Persönlich-Zeitlichen sich festfährt, aber vom Wesenskampf in der Geistesgeschichte: die Schau des Kosmos stand am Beginn der Philosophie, der Weltweisheit - sie wird exakte Anschauung und abstrakte Rechnung, Astronomie auf Grund der rein-physikalischen Disziplin. Diese Beschränkung auf die Vierdimensionalität bedeutet (ich wiederhole) den großen Gewinn der exakten Beweisbarkeit, der echten „Wissenschaft" aber - nichts wird uns ohne Preis geschenkt - den Verzicht auf die Erkennung des Lebendigen, Schöpferischen, auf Philosophie. Das Unheil bricht herein, wenn der Geist diese vierdimensionale Wissenschaft als Philosophie, gar als einzige Philosophie gelten lassen will. So liegt es heute noch nahe, daß man mit den Augen des beschränkten Aufklärers Voltaire (zum Spott Goethes) Newtons Lehre als Tatsache schlechthin bewertet. Aber nicht, wie man seither glaubt, besteht dieser Dualismus zwischen den Denkern Leibniz und Newton, sondern er spaltet diese wirkliche Person, den leidenschaftlichen Denker Newton, der im Gegensatz zur eigentlichen „Verstandes-Aufklärung" tief erschüttert ist von der Kleinheit unseres Wissens gegenüber dem ungeheuren Geheimnis. Leibniz und Newton wurzeln in einer panentheistischen Vorstellung. Aber Leibniz findet Versöhnung von Wissenschaft, Religion, Metaphysik in der prästabilierten Harmonie der Monaden, Newton begründet gegen den eigenen Wunsch den unversöhnlichen Gegensatz von Spezialistentum und umfassender Metaphysik. Er verknüpft das einmal Gespaltene durch eine sehr kühne Hypothese: der leere, unendliche, absolute Raum - im Grunde die apriorische Mathematik, die anschauliche

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Stereometrie - ist selber das göttliche Sensorium! Ungeschickt wie Descartes den Mechanismus des körperlichen Menschen mit der sittlichen Freiheit durch die Zirbeldrüse, verknüpft Newton den mechanisierten Kosmos mit dem Göttlidien durch die dreidimensionale Raumvorstellung. Das scheint dem modernen Denken als eine bloße spekulative Phrase, um sich mit Anstand der metaphysisch-theologischen Fragestellung zu entziehen — aber im Gegenteil: Newton ist stark beeinflußt von Jacob Böhme und dem englischen Mystiker More, und wie dieser durch die jüdische Mystik, die Kabbala. N u r in seinem H a n d w e r k , der Naturforsdiung, schaltet er diese Sicht aus und gründet seine Disziplin auf die Mathematik, die anschauliche Geometrie, durch die er die Ordnung des leblosen, des unschöpferischen Geschehens logisch-mechanisch ordnet. Die apriori gegebenen Prinzipien dieser reinen Physik bezeichnet er als Philosophia naturalis. Aber die religiöse Überzeugung bleibt bei ihm elementar, ja abergläubisch, denn er schreibt ein Buch über Daniels Weissagungen, die er als echte Voraussagen interpretiert. Aber der euklidische Raum bleibt das göttliche Sensorium. Es entspricht jenem methodischen Verzicht, daß er um der exakten Beweisbarkeit willen nur das Quantitativ-Meßbare gelten läßt und alles Qualitative nach Möglichkeit, das Lebendige und Schöpferische grundsätzlich ausschaltet. Diese vierdimensionale Körper- und Strahlenwelt ist gleichsam das eingewachsene Skelett der wirklichen Welt, die ein geschehendes Fließen ist, seit Urbeginn potentiell in ihr angelegt. Aber was würde man zum A r z t sagen, der nur das gewordene Skelett als wirklich ansieht, die Psychologie nur gelten läßt, soweit sie den mechanistischen Gesetzen entspricht, u n d alles seelische Gesdiehen f ü r eine belanglose Nebenerscheinung, ein bloßes Epiphänomen erklärt? Zwar hatten sich um die Jahrhundertwende überall anti-mechanistische Kräfte geregt. Zur Diesseitigkeit, zum leibhaften Menschentum hatte allerdings schon vorher Ludwig Feuerbach aufgerufen, aber Richard Wagner hatte in der Glutzeit seines Kommunismus dieser Philosophie als unerträglich trivial entsagt, als er Schopenhauers Werk kennen lernte. Später hatte Ostwald Kants ungeschickte Spaltung des Weltkontinuums in dreidimensionalen R a u m und eindimensionale Zeit überwunden. Durch die Gleichsetzung der Energie mit der Substanz, ging er wie gesagt so weit, die Atomlehre als inferiore Fiktion zu deuten. Allerdings nahm er an, daß sich in der belebten Welt die Energie „veredele", ohne zu bedenken, daß diese neue Kategorie des Edlen eine Wertphilosophie voraussetze. Im Grunde blieb der monistische Sonntagsprediger Mechanist. Zwar wagte er sich bei der Formulierung der energetischen Ethik in die dichterische Sphäre - doch bemerkten die meisten Leser gar nicht den Reim: , . Vergeude keine hnergie Sondern verwerte sie. Damals lachte man über eine theologische Fakultät, die Ostwald den Ehrendoktor verlieh. Im Grunde war das nicht so unsinnig: auf dem Wege zur 52

Überwindung des groben Materialismus war die Energetik ein Schritt vorwärts - zu Leibniz. Ich fand mein Schema bewährt: an Stelle der beiden Prinzipien des gröbsten Mechanismus: Erhaltung von Stoff (räumlich - dreidimensional) und Kraft (zeitlich — eine Dimension) stand die vierdimensionale Energie. Für die wirkliche Gestaltung, ja für die Morphologie als solche war Ostwalds Lehre leer. Vom Löwen und vom Kamel wußte er nur zu sagen, das sie beide bloße Formen der Energie seien - unterschieden nur dadurch, daß sie eben beide „merkwürdige" Formen waren. Ostwald spielte als Vorsitzender und Propagator des Monistenbundes eine bedeutende Rolle. Selbst Kurt Breysig, der über Geist und Kunst "Wesentliches zu sagen wußte und im „Stufenbau der Weltgeschichte" das Seelische und Schöpferische früher und lebendiger als Spengler erkannt hatte, bekannte sich (ohne viel von Naturwissenschaft zu verstehen) zu diesem Monistenbund-Monismus. Ich schrieb daher eine Abhandlung gegen Ostwald für das J A H R B U C H F Ü R D I E G E I S T I G E B E W E G U N G . Sie wurde angenommen, (wenn auch Gundolf fragte, ob Ostwald „Nicht etwas zu sehr geschlachtet" sei?) aber das J A H R B U C H für 1913 wurde nicht gedruckt. Ich trauerte der Abhandlung nicht nach, (weiß auch nicht, ob sie noch existiert), denn ich sah, daß die meisten geistigen Menschen überhaupt kein ernstes Interesse für die moderne Naturwissenschaft hatten, an diesem Problem also nicht litten. Für ein Gespräch mit der exakten Naturforschung war es zu früh. Neue Bewegung in die „Naturphilosophie" kam unmittelbar aus Haeckels Schule: Im neunzehnten Jahrhundert hatte es zum guten Ton der exakten Wissenschaft gehört, den Mechanismus zu „beweisen", den Vitalismus zu schmähen. Nun aber zeigte der Zoologe Driesch an der embryonalen Entwicklung des Furchungskerns, daß die Entwicklung aus einer Ganzheit zur vollendeten Gestalt unmöglich mechanisch, maschinell vor sich gehen konnte. Er zog wie Leibniz die Aristotelische Entelechie heran und gründete den Neovitalismus. Die weiteren Experimente waren schlagend - die Mechanisten wollten vergeblich den Rückschritt zu einer angeblich „romantischen" Naturphilosophie daxin sehen. Diese höhere und echte Naturphilosophie ist die monadistische von Leibniz, Goethe, Schelling, die nur als Gegensatz zur atomistischen und rein rationalistischen unter das Schlagwort Romantik geriet. (Nebenbei: Goethe und Schelling lehnten, was weithin auch Fachleuten unbekannt ist, den „Vitalismus" ab, weil dieser den Dualismus zwischen organischer und unorganischer Natur begründet. Sie empfanden die Welt pantheistisch oder panentheistisch, man kann sagen „panvitalistisch"). Auch sie sind Leibnizianer, die Welt besteht nur aus (potentiell-)lebendigen Monaden. Dieser monadische Monismus ist der polare Gegensatz zu Haeckels mechanistischem Monismus. Darwin bewahrte einen dürftigen Rest des Vitalismus: das mechanische Entstehen der Urzelle erkannte er als unmöglich. Aber seine Denkart war mechanistisch (Briefwechsel mit Haeckel) und allein dadurch verhalf er im letzten Drittel des Jahrhunderts der Abstammungslehre zum Siege gegen die positivistischen Verächter der deutschen Naturphilosophie, 53

gegen jene Anhänger des Notwendigkeitsgesetzes der klassischen Physik und der reinen Empirie. Hört man nun heute, der Darwinismus sei überwunden, so wird das meist mißverstanden. Überwunden ist, wo die Forscher überhaupt nach Philosophie fragen, der mechanistische Darwinimus, aber mit Recht gilt meist die Abstammungslehre, aus Ganzheitsbetrachtung, oft aus pantheistischer Sicht. Die mechanische Erkenntnis ist nur das Mittel innerhalb des zielstrebigen Lebens, (vierdimensional innerhalb des fünfdimensionalen). Diese „genetische" Sicht (Anaximander, Empedokles) erwadit wieder bei Leibniz und Goethe, wobei problematisch bleibt, wann sie mehr ideelle Verwandtschaft auf Grund der Analogie, wann sie konkret die bluthafte Abstammung meint. Darwin sagt (wenn ich nicht irre in der Einleitung zum „Ursprung der Arten . . . " ) er habe gehört, daß Goethe schon die Deszendenz vertreten habe. Anscheinend hielt er es nicht der Mühe für wert, sich darum zu kümmern, was Goethe, gar was Leibniz über das Problem sagten - was gingen den Spezialisten diese beiden Metaphysiker höchstens Ranges, also bloße Dilettanten an. Ich habe diese Frage 1930 in einer Abhandlung ausgeführt: „Goethe und Darwin" eine Jahrhundertbetrachtung zum Siege der Naturwissenschaft' über die Philosophie". (Archiv für Geschichte der Philosophie X L I (letzter Band) 57-79. Ich stehe heute noch zu dieser Schrift und halte sie für lesenswert. Aber darin waren damals die Philologen mit den exakten Naturwissenschaftlern einig: Goethes Naturerkenntnis nicht wichtig zu nehmen, als laienhaft zu verkennen). Ich schloß mit Nietzsches Versen:

, „ ... . Dieser braven tngelander Mittelmäßige Verständer Nehmt ihr als „Philosophie"? Darwin neben Goethe setzen Heißt: Die Majestät verletzen Majestatem genii!

So spricht Nietzsche, der eben seine positivistische Epoche durchgemacht hatte, in der Zarathustra-Zeit. Man weiß, daß sein geniales Tempo der überströmenden großen Gedanken, später sein imperatorischer Stil zu vielen Übersteigerungen und Widersprüchen drängt, aber daß die englische Philosophie sich seit Bacon meist zum unmittelbar Praktischen, Nützlichen, zur nüchternen „Verstandesaufklärung" wendet, ist richtig. Und es ist wichtig für das Nietzscheverständnis, daß er dies bisweilen mit Widerwillen ablehnt, obwohl er ganz Realist, im Gegensatz gegen Idealismus und Romantik zu sein versucht. Versucht er doch 1885-87 alle Grundlagen des überlieferten Denkens zu vernichten. Nicht den Atheismus, sondern die Banalität der Denker greift er an. Im „Jenseits" lobt er an den Deutschen die erbliche Kunst des Befehlens und Gehorchens, vermißt aber die „Geistigkeit" bei der Führung und fährt N r . 252 fort: „Das ist keine philosophische Rasse — diese Engländer: Bacon bedeutet einen A n g r i f f auf den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes, Hume und Loche eine Erniedrigung und Wert-Minderung des Be54

griffes .Philosoph' für mehr als ein Jahrhundert. G e g e n Hume erhob und hob sich Kant; Locke war es, von dem Schelling sagen d u r f t e : J e méprise Locke'; im Kampfe mit der englisch-mechanistischen Welt-Vertölpelung waren Hegel und Schopenhauer (mit Goethe) einmütig . . W o h e r weiß Nietzsche den Schelling-Ausspruch, da er doch leider Schelling so wenig kennt? Aus dem Schiller-Goethe-Briefwechsel. Schiller befürchtet (30. XI. 1802), daß sie gegen Frau v. Stael in Weimar ihrer französischen Phrasen wegen einen schweren Stand haben würden. „Wir würden nicht so leicht damit fertig werden wie Schelling mit Camille Jordan (Der bekannte Staatsmann, der auch Werke von Klopstock und Schiller übersetzte), der ihm mit Locke angezogen kam - Je méprise Locke, sagte Schelling und so verstummte denn freilich der Gegner." Deutlich ist Schillers Freude an dieser Abfertigung dieses wissenschaftlich bedeutenden, doch etwas oberflächlichen Empirismus, Sensualismus, Psychologismus - giltig für viele Gelehrten, denen die Philosophie von Platon Leibniz Kant unzugänglich bleibt. Diese heitere Erwähnung bei Schiller und Nietzsche bleibt bezeichnend für den ewigen Gegensatz von Positivismus und Philosophie - seit Antisthenes und Piaton, seit Nominalismus und Realismus, voll ausgereift im neunzehnten Jahrhundert. Man wird Schillers und Nietzsches Abneigung verstehen, wenn man Lockes methodischen Grundsatz hört: sein Werk sei nicht für Männer „mit weitem Blick und schneller Fassungskraft, sondern für Leser von geringer Bildung und Begabung" geschrieben. Locke ist der Gründer des Liberalismus, aber es wetterleuchtet auch die Herrschaft des Kleinbürgertums, des hochmütigen „Gesunden Menschenverstandes". Kant läßt sich selbst durch Robespierres Terror nicht in seiner Begeisterung f ü r die große Revolution irremachen. - Leibniz wäre gern mit den englischen Philosophen ins Gespräch gekommen, doch würdigt Locke ihn keiner Antwort. Auf sein epochales Werk Essay concerning human understanding, Bekenntnis des sensualistischen Positivismus, bedeutende Grundlage der Erkenntnisanalyse, antwortet Leibniz mit seiner für den deutschen Idealismus grundlegenden Schrift nouveaux essais sur l'entendement humain. Aber sie blieb damals Manuskript, denn da Locke 1704 starb, mochte sie Leibniz nicht mehr veröffentlichen. Das Werk wurde erst 60 Jahre später veröffentlicht und wirkte entscheidend ein auf Lessing, Kant, Herder - und dadurch mittelbar auf Goethe. Leibniz Art des persönlichen Schreibens - wie vieles in Briefen, wie vieles aber auch in grundlegenden Schriften ist im Umgang mit großen Personen, Gelehrten und Fürsten entstanden, nicht nachträglich gewidmet, so mit der preußischen Königin, mit Prinz Eugen - das ist bis heute für die Wirkung in der Gelehrtenrepublik ungünstig. Er, der wie kein andrer den Blick aufs Ewige richten konnte, ebenso begabt zur Systematisierung, schrieb kein imponierendes System wie Spinoza. Er schaltete sich unmittelbar in den Strom der Gegenwart ein, wirkte auf die, die er zu führen berufen war. Er war kein Professor und die Professoren bemängelten die Größe seines Tuns, weil es ihn von der professoralen Arbeit abzog. Aber Dilthey sah, daß er das achtzehnte Jahrhundert geistig 55

geformt hat. O b solche unmittelbare Wirkung auf bedeutende Menschen nicht vornehmer sein kann als die rationale Systematisierung in umfangreichen Schulbüchern? Jene Auseinandersetzung mit Locke ist vielleicht die vornehmste und souveränste Polemik unsers Schrifttums. Im Bewußtsein eigner Größe hat Leibniz nicht das leiseste Bedürfnis, die Leistung des Gegners herabzusetzen oder aber, zu verhehlen, wie vorteilhaft es f ü r sein eignes Werk sei, ihm jene Ergebnisse einer empirisch-psychologischen Analyse einzuverleiben. Er denkt und spricht mit dem großen Atem eines sicheren Herzens, der an die Musik Bachs und Händeis erinnern kann. Seine Arbeit dient dem kosmischen Bau der Philosophie, kaum dem persönlichen Ruhm, gar nicht der individuellen Eitelkeit: er ist der Baumeister, der den Gehilfen, jedem Kärrner dankbar ist. So geht er paragraphenweis Lockes Werk durch und dankt f ü r alles richtig Ausgeführte, um dann kurz (wie Piaton) die „Kleinigkeit" zu bemerken, die noch fehlt: nichts weiter als die philosophische Einsicht. Die kürzeste Formel, in die er diese Erkenntnis faßt, ist bekannt: Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu. Das ist das bis heute verehrte sensualistische Axiom von Locke. Leibniz fügt nur hinzu „nisi intellectus ipse" - das Axiom für den Idealrealismus von Piaton bis heute. Ich greife biographisch wieder auf die Vorkriegszeit zurück: vor dem ersten großen Weltkriege, von 1911 an, hatte ich f ü r „Norm und Entartung" das anthropologische Weltbild nach dem Schema der fünf, der sieben Dimensionen entworfen. Nach Piaton ist zuvor in der dialektischen Methode zu prüfen, ob wir im Gespräch von gleichen Grundbegriffen ausgehen. Wir leiden ja alle unter ungeklärten Schlagworten der Umgangssprache und den schief-definierten der wissenschaftlichen Disziplinen, oder vielmehr, unsere klare Erkenntnis leidet, denn die Denker fühlen sich oft wohl in herkömmlichen Schlagworten. Deswegen ist eine kurze Besinnung auf den Begriff N a t u r , der in der Umgangssprache, weit mehr noch in der Wissenschaft, zumal in „Naturwissenschaft" und „Philosophie" mißhandelt und entartet ist. Der reine Dualismus von N a t u r und Geist beruht auf metaphysischer Fiktion, durch Descartes in begrifflicher Analyse radikalisiert. N a t u r , Physis, ist die Welt überhaupt als Gebären, als schöpferisches Geschehen. (Im Lateinischen entartet dieser schöpferische Begriff im juristischen Geist auf die Gesetze der „objektiven" Außenwelt bezogen — natura rerum). Die mittelalterliche Scholastik beginnt mit der Spannung innerhalb der All-Natur selbst: natura creatrix = Gott, natura creata = geschaffene Welt. Diese neuplatonisch-pantheistische Lehre des Johannes Scotus Eriugena machte der Dogmatik viel zu schaffen. In diesem Begriff liegt die Weltschau von Leibniz (wenn er auch Kompromisse mit der kirchlichen Dogmatik schließt), von Herder, Goethe, Hölderlin, Schelling (Spinozas ähnlicher Begriff natura naturans und natura naturata nähert sich bisweilen dem Determinismus, dem Mechanismus). Welche Verwirrung schon: weil diese Allwelt überall ihre körperliche Dimensionen hat, wird sie von den Dualisten als materialistisch mißverstanden, 56

als „Naturalismus" bezeichnet. Dann wäre auch das Evangelium „naturalistisch", denn Christus aufersteht im Leibe, mit seinen Wundmalen. Gegen diese erhabene Sicht Gottes, die Gottnatur, könnte man sprachlich einwenden: wenn das Wort Natur schlechthin alles Seiende umfaßt, zu allgemein wird, verliert das Göttliche seine höchste Würde - insofern ist es sinnvoll, die Schöpferische „ N a t u r " als die Gotteskraft zu sondern von der Natur als der geschaffenen Welt. Aber sobald man diese begriffliche Spaltung noch weitertreibt, sobald man, dem Geist der exakten, der rechnenden Wissenschaft unterwürfig, nur noch das mechanistische Atomgetriebe als eigentliches Gebiet der „Naturwissenschaft" anerkennt, ist der letzte Begriff der lebendigen, der schöpferischen Natur vernichtet, als exakte Wissenschaft nur noch anerkannt, was eindeutig sichere Voraussagen nach dem Kausalitätsgesetz erlaubt. Kant hat gegen seinen Willen diesen Begriff gefördert, weil sein Wissenschafts-Ideal Newtons mechanistisch-mathematische Forschung war. Er erkannte, daß diese Einengung nicht erlaubt sei, er postulierte um der Moral willen auch die seelische Kausalität, die Willensfreiheit, aber sie blieb doch nur moralisches Postulat: im Gebiet der wirklichen, der theoretischen Erkenntnis hatte die Freiheit keinen Platz. So glaubte ihm auch Schiller: Natur als totes Uhrwerk - göttliches Wesen nur im Reich des Glaubens und der Poesie. Fühllos selbst für ihres Künstlers Ehre, Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere, Die entgötterte Natur. (Die Götter Griechenlands, II. Fassung.) Aber gerade diese mechanistische Deutung der rationalen, der errechenbaren Natur führte zum Gegenschlag. Um den doktrinären Folgerungen dieser „Naturwissenschaft" zu entkommen, hatte man sich gerettet in den radikalen Dualismus Descartes: Natur ist mechanisch - Geist ist die ganz andere Substanz. So vergleicht man sich im gegenseitigen Verzicht sehr unphilosophisch und trennt sauber und tolerant die Naturwissenschaft, die echte exakte „Wissenschaft", scientia im alten, im eigentlichen Sinn, von allem anderen: Geist, Seele, Leben, Geschichte, Theologie - als Geisteswissenschaft. Die echte Philosophie verschwindet im Abgrund und beide Seiten sind froh, die lästigen Probleme los zu sein. Aber wo es denn doch um den Menschen selbst geht, da verhöhnen die Naturwissenschaftler die Geisteswissenschaftler, die wiederum jene geringschätzen. Der Philosophie folgte die Psychologie. Wir sahen mit unglaublicher Fremdheit eine mechanistische „Seelenkunde ohne Seele", anknüpfend an Humes Lehre von den Associationen. Seit der Jahrhundertwende setzte sich gegen diese tote Wissenschaft, die auf Grund eines unmöglichen metaphysischen Dogmas die mechanistische Methode auch auf das Seelische übertrug und von Jaspers als „Gehirnmythologie" verspottet wurde, in weitem Umfange eine vorurteilsfreie lebendige Beobachtung der Bewußtseinsphänomene durch, ausgehend von Franz Brentano, von Drieschs Ganzheits-Biologie, siegreich durch Husserls Phänomenologie. In 57

„Norm Entartung Verfall" baute ich die Weltdeutung pantheistisch, also monistisch auf, ohne doch metaphysisch zu fragen, ob zuletzt die Welt dualistisch oder monistisch zu deuten sei, denn ich dachte an Georges Spruch: „Denk nicht zuviel von dem was keiner weiß!" Dasein und Werden der Welt, zumal der lebenden Geschöpfe, ist Ausdruck einer schöpferischen Kraft - das ist die einzige metaphysische These an der Schwelle von unmittelbarer Erfahrung zur Metaphysik. Sonst wollte ich auf jede metaphysische Hypothese verzichten. Also unbedingter Kampf gegen den mechanistischen Monismus, für den Haeckel so sinnwidrig Goethes Pantheismus in Anspruch nahm, sonst keine Entscheidung ob Monismus oder Dualismus. Schöpferische Kraft ist auch der menschliche Geist in seiner höchsten Essenz. Auf diese Norm kam es mir an, nicht auf den analytischen Beweis, wie dies Geschehen „möglich" ist. Dieser Beweis ist unmöglich - aber auch überflüssig, wenn wir die Wirkung dieser Kraft aufweisen. Dies Geschehen ist die höchste Freiheit des Menschen, die Antwort auf Zarathustras Frage an den jungen Menschen: „Wozu" bist du frei, nicht „wovon". Wir erleben die Freiheit und brauchen sie nicht zu beweisen - der Beweis, sie sei nur Täuschung, fällt dem Gegner zur Last. Die Mechanisten berufen sich auf das Axiom, das alles was geschieht, beherrscht wird von „Naturgesetzen" der Notwendigkeit. Aber dies „Beherrschen" ist eine unabsichtliche oder absichtliche Zweideutigkeit. Ich glaube ihr überzeugend mit dem Bilde des Schachspieles zu begegnen: Die Spielgesetze herrschen unbedingt, die ungesetzlichen Züge sind nicht nur unerlaubt, sondern sie sind unbedingt ungültig, nichtig. Die Gesetze gehören notwendig zum Wesen des Spieles, wie das Skelett zur Grundlage des freien Tanzes. Aber für das Wesen des Spieles, des geistig-bedingten Geschehens sind sie doch nur eine banale Vorbedingung. Diese starren Gesetze sind unantastbar, sie grenzen das Geschehen ein, aber sie „beherrschen" es nicht, gestalten es nicht, nur ausnahmsweise lassen sie bei einem Zuge dem Spieler keine Freiheit. Das Spiel geschieht nur durch den freien Willen, die Lust, zu gewinnen, die Phantasie des Planens, die Spannung zwischen Vorsicht und Wagemut. Die Behauptung, dies Geschehen sei durch Atomgetriebe im Gehirn mechanisch bestimmt, ist eine ebenso unbefriedigende wie unwahrscheinliche Hypothese. Uber den damals notwendigen Kampf gegen den „psychophysisdien Parallelismus" gehe ich nach den früheren Andeutungen hinweg, weil er heute philosophisch kaum noch debattiert wird. Doch muß man wissen, daß er im Gespräch zwischen „Naturwissenschaftler" und „Philosoph" oft mehr oder weniger bewußt zugrunde liegt. Er birgt in falsch definierten Fachbegriffen die Tendenz, allein der exakten Wissenschaft - Mathematik, Physik, Chemie die Ehre zu geben, das heißt schon durch die Terminologie dem Mechanismus die Herrschaft zu sichern - so schon mit der Wortbildung „psychophysisch". In der animalischen Natur, mindestens der höheren Tiere, ist das Bewußte, das Unbewußt-Psychische, das körperliche Geschehen als Einheit, als natürlich, physisch gegeben — als mindestens sechsdimensionales Geschehen. Aber „physisch" wird es dann so leicht als „physikalisch", rein körperhaft, 58

nicht natürlich-lebendig mißverstanden. Doch ist zu bedenken: der unbeseelte menschliche Körper ist kein Mensch, sondern ein Leichnam. Von einer Seele ohne Leib wollen wir im Umfange unserer Wissenschaft absehen. Wozu dann dies unfruchtbare Leib-Körper- oder Leib-Seele-Problem, das in der philosophischen Lehre immer noch großgeschrieben wird, wenn wir den geistfähigen Menschen als siebendimensionale Einheit betrachten. Eine sehr wichtige Einsicht erweckten Schelers Arbeiten 1912 über das Ressentiment, 1913 über Kants formalistische und über die echte „materiale Ethik". Was ich wohl längst gefühlt hatte, wurde mir nun phänomenologisch geklärt: Kants Philosophie ist ohne Sympathiegefühl, ohne Liebe und weil sie keinen Weg zur Liebe findet, findet sie auch keinen zum Schöpferischen mindestens in seiner wirklich kritizistischen Lehre nicht. Ich fand mich in meiner Ansicht bestätigt, daß sie uns für die Region des höheren, des schöpferischen Lebens nicht genügen werde. — Als Ende 1918 die Franzosen bis zur Saar einrückten, mußte ich gleichzeitig Altsaarbrücken, unter vorläufiger Hinterlassung meiner Familie verlassen. 1919 nahm ich dann, wie gesagt, neben dem ärztlichen Beruf das Philosophie-Studium an der Berliner Universität auf. Dort wurde damals eine entscheidende geistige Schlacht geschlagen: zwischen positivistischer „Naturwissenschaft" und „Philosophie". Zwei Größen, in Freundschaft verbunden, im Werk sich gegenseitig stützend, standen mit Recht im Mittelpunkt des Interesses: P l a n c k und E i n s t e i n . Die „Quantentheorie" - wer etwas von Leibliiz wußte, sah hier im Gebiet der Physik die Sehart Leibniz' weitergeführt, denn nadi Ostwalds rein quantitativer Methode wurde hier wieder das korpuskuläre Prinzip geltend gemacht. Für die Betrachtung der körperlichen Welt hatte Leibniz sein von Kant geschätztes Kontinuitätsprinzip eingeführt, aber die wahrhaft wirkliche Welt, die Substanzen sind die diskreten, individuellen Monaden. Weit revolutionärer, alle Begriffe und Vorstellungen der sogenannten Erkenntnistheorie umstürzend, war Einstein aufgetreten. Ich hörte ihn bei größtem Andrang in der alten Aula. Aussehen und Haltung waren mehr die eines Musikers als eines grübelnden Gelehrten und ich erfuhr später, er sei ein hervorragender Violinist. Auch Planck war zugleich Musiker, im übrigen der ernste und schlechthin fromme Mensch. Die Quantentheorie, die Entdeckung einer neuen Naturkonstante, wie sie - gleichsam Scheitelpunkt des Winkels zwischen Essenz und Existenz, oder vielleicht zwischen Theorie und Erfahrung - für die Forscher besonders beglückend ist, schien sich ohne revolutionäre Absicht natürlich aus dem Gegebenen entwickelt zu haben. Anfang des zweiten Weltkrieges hielt der Ehrwürdige, über Achtzigjährige uns einen Vortrag an der Kieler Universität. E r sprach auch von der Religion und niemand entzog sich dem starken Eindruck, als er den weisesten R a t für alle Forscher, Goethes metaphysischen Spruch wiederholte: „Das schönste Glück für den denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren." Aber wie unmöglich scheint es dem Geist der Forschung, sich eine Grenze zu setzen, und wie unentbehr-

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lieh ist ihm aus diesem Grunde die metaphysische Besinnung. Planck schien mir gesinnungsmäßig eigentlich nodi zum Ende der klassischen Physik zu gehören.* Ähnlich wie er war später Heisenberg van Verehrung für Goethe geleitet, doch bezog sie sich bei ihm noch bestimmter auf Goethes Naturphilosophie. (Darüber später). Auch Carl S t u m p f ( s . o . ) , der wie bekannt, die strenge Experimental-Psychologie ausübte, der den Ton der menschlichen Stimme genau analysiert und ihn nun wieder experimentell synthetisch zusammensetzt, berichtete uns nach seiner Emeritierung in seinem Publikum über moderne Richtungen der Philosophie von den neuen Entdeckungen, daß man theoretisch aus Spaltung der Materie ungeheure Energien entwickeln könne. Aber Atome wirklich spalten zu lernen - das schien uns damals ein Wahn. Von der Als-Ob-Philosophie Vaihingers, die damals großen Einfluß ausübte, sprach er nur spöttisch: Warum nicht eine Philosophie des „Wennschon" oder des „So-wie-so"? 'Die Psychologie wollte er durchaus als philosophische Disziplin aufgefaßt wissen und in seiner großen Übersicht über die Philosophiegeschichte (s. o.) hatte er verstanden großzügig die markanten Aussprüche, meist ohne kritische Stellungnahme, konkret und anschaulich sich einprägend herauszuheben. Bei der Psychologie des neunzehnten Jahrhunderts stellte er dem Nativismus von Helmholtz, der Kants Apriorismus nahesteht, den Empirismus der Materialisten gegenüber - ohne zu werten. Ich fragte ihn nach dem Schluß dieser Vorlesung, ob denn die Empiristen, wenn sie nach seiner Darstellung die Entwicklung des Raumbewußtseins aus der Augenbewegung der Kinder beim fixierenden Blicken erklärten, doch nicht apriori eine Raumvorstellung vor dieser geradlinigen Bewegung voraussetzen müßten? Er antwortete: „Ich bin ganz Ihrer Meinung" - und besprach den geschichtlichen Vorgang. Am Beginn der nächsten Vorlesung kam er auf dies Gespräch zurück. Am Schluß des Semesters bekannte er sich doch zu einer Tendenz: den Fortschritt der strengen Wissenschaft aufzuzeigen. Metaphysisch folgte er, der Brentano-Schüler wie Husserl, der Descartes-Kant-Methodik nicht: es blieb wohl ein Gegensatz von Leib und Seele, aber er setzte die von Descartes geleugnete Wechselwirkung voraus — das schien mir, wenn man die fünfdimensionale Leib-Seele-Einheit nicht voraussetzte, immerhin der beste Ausweg. Das sogenannte Wahrheits-Problem streifte Stumpf in seinem Übersichtskolleg nur ganz kurz, aber gerade weil ich seinen Satz damals noch nicht ganz ermessen konnte, hallt er bis heute in mir nach — er meinte, die beste Definition scheine ihm: „Wahr ist, was evident ist." Das war gewiß weder rationalistisch in der Linie von Descartes-Kant noch sensualistisch, sondern phänomenologisch im Sinne Brentanos. Aber damals klang es mir überraschend geheimnisvoll, aufschließend. (Vielleicht knüpft es mittelbar an Schell ings „intellektuelle Anschauung" an.) Für mich bedeutete Einsteins Entdeckung und „Theorie" einen Aufruf zur Prüfung, ob mein geistiges Koordinaten-System, das sich ja an die klassischeuklidische Mathematik anlehnt, auch weiter haltbar bliebe. (Ich hüte mich, über die unbedingte Wahrheit der Lehre Einsteins und der nicht mehr „klas-

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sischen" Physik ein Urteil abzugeben, abgesehen davon, daß man dem modernen Spezialismus-Geist sich nicht dadurch lächerlich macht, daß man sich irrt, sondern nur dadurch, daß man die Kompetenz seines Faches überschreitet. Manchmal scheint der Ruhm der Zunft mehr zu gelten als die Wahrheit.) Unverkennbar ist durch Einstein eine Krise in der Wissenschaftstheorie, vielleicht eine weltgeschichtliche der „Geistesgeschichte" bewirkt: Piatons und Kants Apriorismus wurde in Frage gestellt und teilweise widerlegt. Es wurden daraus sehr verschiedene metaphysische Schlüsse gezogen: z. B. aus einem kreisförmigen Verlauf der Zeit auf Nietzsches Ewige Wiederkehr geschlossen. Einstein nahm wohl eine Revolution der bisherigen Prinzipien für seine Entdekkungen in Anspruch, m. W. aber, ohne zu den sehr verschiedenen Folgerungen Stellung zu nehmen. So viel war deutlich: Philosoph und Physiker kamen nicht in ein echtes Gespräch — Einsteins philosophisches Interesse schien damals nicht stark. Mir ging es weniger um die Physik als um das Raum-Zeit-Kontinuum, das vierdimensionale, als untere Stufe des Schichtbaues für die Erfassung des Lebens, des Geistes, der Schöpfung. Nun fügte es das Glück, das gerade als ich diese Blätter zu schreiben begann, eine Arbeit von Dr. Max Jammer, Leiter des physikalischen Institutes an der Universität in Israel über „Das Problem des Raumes" erschien (Wissenschaft!. Buchgesellschaft. Darmstadt. 1960). Zur „ersten amerikanischen Auflage" 1953 hatte Einstein selbst ein Vorwort, und zwar in deutscher Sprache vor den englischen (oder heißt es heute „amerikanischen"?) Text gesetzt. Diese interessante Untersuchung empfängt großes Gewicht dadurch, daß Einstein mit dem Verfasser viele diesbezügliche Gespräche in seinem amerikanischen Institut hatte und danach überzeugt ist, daß Jammer neben seinen physikalischen Kenntnissen zugleich - was selten sei — durch seine philologisch-historischen Kenntnisse die Entstehung der Grundbegriffe in ihrer Bedeutung für die Wissenschaft als Ganzes zu überschauen vermöge. Er stimmt ihm also, mindestens im Wesentlichen, zu. Darüber hinaus ist dies Vorwort ein höchst bedeutsames Dokument der Wissenschaftsgeschichte. Es bestätigt meinen früheren Eindruck, daß Einstein wie die meisten Physiker keine tiefe Beziehung zur Philosophie hat. Er bekennt von sich: Der nicht in erster Linie historisch eingestellte und ausgebildete Forscher der Gegenwart ist n i c h t f ä h i g und auch n i c h t w i l l e n s , sich seine Ansichten über die Entstehung der fundamentalen Begriffe auf solche Weise zu bilden. Er ist eher geneigt, auf Grund seines rudimentären Wissens über die Leistungen der Wissenschaft in den verschiedenen Epochen sich intuitiv eine Meinung darüber zu bilden, wie sich die Bildung der relevanten Begriffe ereignet haben könnte." Doch dankt Einstein dem Historiker, der ihm seine Ansichten in dieser Beziehung berichtige. (S. X I I . ) Unbestreitbar hat der Physiker das Recht, sich ganz auf seine Disziplinen Mathematik und Physik (auch Chemie) zu beschränken. Bedeutet aber die neue Physik eine Revolution der klassischen Grundbegriffe, und besonders des Raum- und Zeitproblems, also einen Eingriff in die Metaphysik, so möchte 61

man doch wünschen, Einstein hätte die Besinnung auf die Philosophie und ihre geschichtliche Entwicklung etwas ernster genommen, da die physikalischen und kosmologischen unanschaulichen „Anschauungen" noch problematisch und logisch schwer zu fassen sind. Man durfte vermuten, daß Einstein als Mathematiker ausgehen würde von der Apriori-Lehre Piatons, Descartes, Kants, da doch die Mathematik seit Pythagoras und Demokrit das Glanzstück der apriorischen Erkenntnis ist. Wir stoßen aber auf ein seltsames Verhältnis von Philosophie und Physik, eine Paradoxie, die eigentlich offen zu Tage liegt - doch ist mir eine klare Feststellung nicht bekannt. Um sich von der Philosophie unabhängig zu machen, bekennt sich der Physiker, auch der mathematische, als unbedingter Empirist. (Daher die umstürzende Wirkung, als Husserl, von der Mathematik ausgehend, dem Apriori eine weltweite Bedeutung sicherte.) Man denkt also, die Physiker beziehen sich im Sinne Kants ganz auf die sinnlichen Erscheinungen, auf Experimente. Diese sind wohl das notwendige Beweismaterial, aber gerade das Wesentliche der Betrachtung sind sie nicht: die Physiker machen sich mit einer bisher unerhörten Energie von den sinnlichen Erscheinungen wieder los, seit Einstein aber auch von der Euklidischen anschaulichen Mathematik und erforschen mit einem ungeheuren Erfolge Kants unanschauliches „Ding an sich". Es gibt also drei Stufen der Naturerkenntnis: 1) die sensuelle, ursprüngliche Erfassung, primäre Anschauung der Umwelt, die auch mit ursprünglich-mythischen Anschauungen oder Deutungen verbunden sein kann (Frühzeit). 2) Die auf apriorischer Mathematik, auf euklidischer A n s c h a u u n g , mechanischer Deutung und beweisender Messung und Rechnung beruhende Erkenntnis ( K l a s s i k . ) Diese Erkenntnis vollzieht sich nicht in unmittelbar-sinnlicher Anschauung, aber dennoch anschaulich auf Grund der apriorischen Geometrie, der unmittelbaren Intuition, nicht grundsätzlich der discursiven Rechnung. 3) Die unanschauliche aber berechenbare Weltdeutung. ( M o d e r n e ) Also 1) Sonne und Sterne kreisen am Himmel. 2) Unsere Erde kreist um sich und die Sonne. Das ist eine anschauliche, ja noch einfachere Anschauung, aber nicht unmittelbar sinnlich, sondern in der Anschauung des geistigen Auges. 3) Die Gültigkeit dieser Anschauung wird verneint, man kommt weiter mit höchst komplizierten, ganz unanschaulichen Rechnungen. Manche Forscher (Heisenberg) nehmen auch diese „Theorien" als vorläufige Arbeitshypothesen, die immer wieder überholt werden. Doch die Physiker haben diesen Relativismus nicht nötig, denn ihre erderschütternden technischen Erfolge beweisen, daß sie dem „Ding an sich" näher gekommen sind als Sensualisten und Mechanisten, näher aber auch als Kant. Aber ein anderes Problem zwischen Philosophie und Physik muß bereinigt werden. Im berechtigten Stolz auf ihre umstürzenden Entdeckungen empfindet die Zunft der Physiker große Genugtuung darüber, daß sie von allen Anschauungen, nicht nur des natürlichen Menschen sondern auch der pythagoreischen Geometrie loskommt auf Grund der gänzlich abstrakten, unanschaulichen Rechenkünste. (Wie gesagt, haben gerade die Exaktesten und zugleich 62

Besten - Planck, Heisenberg, Weizsäcker - die Grenzen der Exaktheit erkannt und Goethe die Ehre gegeben). Aber es ist menschlich, daß die meisten Physiker, wenn sie sich überhaupt mit der Philosophie auseinandersetzen, ihr nur die Begriffe entnehmen, die der unbedingten Geltung ihrer speziellen Zunft als einziger echter Wirklichkeitserkenntnis, ihrem Totalitäts-Anspruch, ein erkenntniskritisches Mäntelchen umhängen. Dem Philosophen ist die Einseitigkeit des Spezialisten nicht erlaubt: er darf den Ergebnissen der Physik nicht widersprechen und der Ganzheitsphilosoph muß ihre Grundsätze einbauen in sein Weltbild - jenes vierdimensionale in sein Fünfdimensionales. Daß die Lichtstrahlen als höchstmögliche Geschwindigkeit in die Weltformeln eingehen, eröffnet hohe kosmische Einsichten, dodi unterliegen sie der Kompetenz der Physiker, ebenso die Feststellung, daß die Lichtstrahlen durch die Schwerefelder der Planeten abgelenkt werden. Aber die Frage, ob dies physikalische Faktum beweist, daß der Raum nicht euklidischen Gesetzen unterliegt, tangiert die Kompetenz der Erkenntniskritik, der Metaphysik. Newton ging von der Vorstellung aus, der Raum sei ein leerer Bdiälter, in dem die Sternwelt untergebracht sei. Gott könne, wenn er wolle, die Welt auch in eine andere Ecke dieser Schachtel setzen. Diese naheliegende Vorstellung bestritt Leibniz in seinen (an Clarke gerichteten) Antworten. Der Raum ist nichts als ein Ordnungsprinzip der materiellen Welt. Eine sich ausdehnende Welt findet keinen Widerstand - er ist ja ein Nichts, also unsere Vorstellung muß den leeren Raum als unendlich annehmen. Das heißt: Gott kann die Welt nicht an einen andern Ort setzen - nicht, weil der Raum dem einen Widerstand entgegensetzte, sondern die Vorstellung davon ist sinnlos, „gegenstandslos". Diese Auffassung von Leibniz steht 1781 am Eingang von Kants „Kritik der reinen (theoretischen) Vernunft", des transzendentalen Idealismus und ist vermutlich dessen Ausgangspunkt. Der Raum ist „nur" ideell, insofern subjektiv - aber da er für die äußeren Erscheinungen gilt, ist er „empirisch objektiv", das unbedingt Objektive - während wir von den „Dingen an sich" nichts erkennen. (Das sittliche Postulat gehört nicht in die „theoretische" Erkenntnis.) Diese beiden Auffassungen nennt Einstein in seinem Vorwort zu Jammer (XIII.). Er und fast alle Physiker heute geben nach einem Streit von hundertfünfzig Jahren Leibniz recht, dem Philosophen gegen den Physiker. Dennoch paßt es nicht in ihr Forschungsprinzip, diese Lehre, die euklidische Raumvorstellung, als apriori, apodiktisch anzuerkennen. So grundsätzlich sich die Neupositivisten der Mathematik bedienten: ihre Apriorität leugneten sie oft sie schraubten die philosophische Entwicklung auf Locke und Hume zurück. Durch dessen Skeptizismus war Kant zum Kritizismus erweckt, aber er hatte ihn überwunden durch die Erkenntnis, daß die Erfahrung Raum-, Zeit-, Kausalprinzip voraussetzt. Nun aber sollte wieder gelten: was apriori scheint, quillt allein aus sinnlicher Erfahrung, aus Gewohnheit und ist leicht abzuwandeln. So sagt Einstein hier im Vorwort ( X I I I ) über beide Prinzipien, das 63

von Newton und das von Leibniz-Kant: „Beide Raumbegriffe sind freie Schöpfungen der menschlichen Phantasie, Mittel, ersonnen zum leichteren Verstehen unserer sinnlichen Erlebnisse."* Mag man die metaphysische Frage Apriorismus oder reiner Empirismus in der Schwebe lassen, so kommt dieser, das positivistische Ideal, zu seltsamen Formulierungen. Einstein gibt zu, daß Leibniz recht habe gegen Newton, aber er findet, daß jener dennoch primitiver denke und Newton der viel Höhere sei und seine Leistung die einzig fruchtbare: der Raum als selbständiges neben den körperlichen Objekten, von absoluter Geltung im kausalen Gefüge. Es sei danach die moderne Leistung, diese Newtonsche Theorie wieder zu zerstören — ohne Leibniz und Kant zu danken. Einstein beachtet nicht, daß diese Vorstellung vom realen leeren Raum als Prinzip neben den Atomen von Demokrit stammt und daß Leibniz und 'Huygens viel weiter, bis zum Rand unseres Denkens, gelangen als Newton. Besonders seltsam ist weiter, daß bei Einstein und Jammer der Raum dann doch notgedrungen als bloßes Ordnungsprinzip, bloß ideell, real als nichts anerkannt wird, dann doch sogleich wie ein reales Gefüge erscheint, dessen „Struktur" man physikalisch feststellen will und die auf die materiellen Vorgänge einwirken soll. Wie gesagt, schon als Tertianer glaubte ich begeistert an das mechanistische Naturgesetz (im Sinne vonHelmholtz etwa), an die Erhaltung der Energie, und im medizinischen Studium standen nicht nur die Vorlesungen von Röntgen in München sondern das Studium im Ganzen unter diesem Gesetz der exakten Notwendigkeit. Da ich aber gegenüber der modernen Physik bescheidener Laie bin, gehe ich (ohne wahre Überzeugung) von der Annahme aus, auch im Raumbegriff als solchem sei die Physik im Klaren und habe sie Piaton, Leibniz, Kant widerlegt. Dann ist immer noch zu beachten: nicht allein mit der Mathematik, auch mit der Psychologie, der Phänomenologie muß die Metaphysik im Verständnis bleiben. Wenn die Physiker mit Genugtuung die apriori gegebene Raumvorstellung abwarfen, sollten sie überlegen, was sie damit preisgaben. Der in der Mathematikstunde erweckte Tertianer entfaltet in sich die Euklidische Ebenen- und Raumvorstellung (Piatons Menon) mit klarer Einsidit: dies gilt apodiktisch, für unendlich viele Fälle, während alle Erfahrungen aposteriori vielleicht schon durch die nächste Erfahrung in ihrer Geltung aufs engste eingeschränkt werden. Aber um dies Euklidische Apriori zu widerlegen, kehren wie gesagt viele Physiker zum Sensualismus Lockes zurück. Sie leugnen das Vorzugsrecht der Mathematik, das bis dahin auch viele Empiristen anerkannten. Für den Erkennenden ist es außerordentlich befriedigend, das Bauhandwerk, die Technik, die kosmische Wissenschaft mit seiner naturgegebenen Anschauung im Einklang zu finden, wie der Zwiespalt zwischen ihnen unbefriedigend ist. Und es gehört zu den schönsten Erkenntnissen Kants, daß er den Vorrang dieser anschaulichen Erkenntnis vor der Logik (der Analytik) entdeckt: Logisch-begrifflich können wir den rechten Handschuh nicht vom linken unterscheiden — das kann nur die räumliche Anschauung." Schopenhauer hat diesen Platonischen Vorrang der Anschauung noch schöner heraus64

gearbeitet. Die radikalen Empiristen und Positivisten drehen also das R a d zurück: die Euklidische Raum Vorstellung ist eine bloße Folge der sinnlichen Erfahrungen - wenn die Menschen mit der Relativitätstheorie aufwachsen, so werden sie sich ein anderes Apriori angewöhnen. Wie denn? Sollen die Zimmerleute so oft den Merkurdurchgang bei totaler Sonnenfinsternis beobachten, bis ihnen die Euklidische Raumvorstellung ausgetrieben ist - und werden sie dann richtiger bauen? Mir scheint, d i e s e Physiker wollen den Unterschied nicht sehen zwischen echter sinnlicher u n d geometrischer Anschauung von bloß begrifflich gelernten oder berechneten Meinungen. Wer dies bedenkt, wird der Tendenz des großen Mathematikers Hilbert, an Stelle der Anschauung wieder die Logik zu setzen, nicht leicht zustimmen*.

IV. L E I B N I Z . U N I V E R S I T Ä T K I E L Berechtigte Einwände von Positivismus und Pragmatismus gegen einen bloß spekulativen Idealismus; der relativierende Historismus gegen eine normative Geschichtsschreibung; ungeheure Entdeckungen und Erfindungen ohne wahre menschliche Bildung; das Erleben des schöpferischen Stromes gegen den erstarrenden Mechanismus: nur wer durch so verschiedene Anstöße in den ersten Zeiten des Jahrhunderts in Zweifel und Unruhe versetzt war, kann nachfühlen, welches Glück eine gründliche Beschäftigung mit Leibniz bedeuten konnte - nidit bloß ein Kapitel der Philosophiegeschichte, nein, eine kosmisch-menschliche Schau, der Grundstein eines neuen Baus. Und wo können wir als geistige Gewächse, als Menschen, nicht bloße Diener der Forschung, Wurzeln schlagen? Was gibt außer der universalen Verpflichtung zur Humanität unserm Dasein die bestimmte Aufgabe für unser Tun, für die Ausprägung der Persönlichkeit? Uns als Deutschen und Europäern sind es zwei Bereiche. Erstens das Abendland im weiten Umfang, germanischer und biblischer Glaube, römische Reichsgründung und als Erbe des schöpferischen Ursprungs besonders das Griechentum. Und als Region unserer Muttersprache, als reiches Gebiet ihrer Ausgestaltungen in Dichtung und Gedankenwerken besonders die Bewegung, die Dilthey „die Deutsche" genannt hat. Dies Erbe der antiken Kultur und die Verantwortung für die deutsche Sprache wird heute um der internationalen Gleichheit, um der globalen Zivilisation willen oft nicht mehr ernst genommen. Jene „Deutsche Bewegung" ist ein durchaus Europäisches Ereignis und wenn einer, so ist Leibniz als philosophischer Ursprung ihr Exponent. Er gewann in Paris, in London, in Rom für das verwüstete Deutschland neue Mittel, hohe Antriebe, und keiner wurzelte wie er zugleich im Enthusiasmus und im klaren Verständnis Piatons, worin er Großes vom Erbe des hohen Mittelalters be-

5 Hildebrandt,

Philosophie

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wahrt hat. Es ist Der Piaton, der seine Lehre mit den Eleusinisdien Mysterien vergleicht. Der Franzose Remond von Montmort, Beamter auf höchster Ebene, hat diese geistige Wachstums-Achse von Piaton bis Leibniz erkannt. Er schreibt, ohne persönliche Beziehung, an Leibniz drei Jahre vor dessen T o d : „Seit ich Ihren Versuch einer Theodicee gelesen habe, danke ich Gott unablässig dafür, daß er mich in einem Jahrhundert geboren werden ließ, das von einem Geist wie dem Ihren erleuchtet wird." Vordem habe er schon auf die andern Bücher verzichtet und nur noch Piaton gelesen - jetzt staune er, daß er Piaton noch einmal um eines Modernen willen verlasse. Leibniz fehlt es gewiß nicht an Selbstbewußtsein und er zweifelt nicht, das größte philosophische Genie seiner Zeit zu sein, aber daß er über Piaton gestellt wird, nimmt er nicht hin: „Haben Sie keine Furcht, mich zu verderben - und allzu eitel zu machen, wenn Sie mir einen Brief schreiben, dessen Ausdrücke zu meinen Gunsten alles übersteigen, was idi jemals erwarten konnte?" Dann preist er, was er Piaton verdanke und klagt über die Nachfolger, die keinen guten Gebrauch von seinen Erkenntnissen machten. Lockes Spott über den Enthusiasmus rügt er, denn Enthusiasmus bedeute, daß eine Gottheit in uns ist. E r sei, wie Sokrates behaupte, ein g ö t t l i c h e r I n s t i n k t . So glüht der angebliche Rationalist. (Vgl. mein Buch „Leibniz" 1953. In den Haag. S. 2 5 8 - 2 6 4 . ) Gewiß hat man in der Wissenschaftsgeschichte die Bedeutung von Leibniz als Logiker, Logistiger, Mathematiker, als Forscher auf vielen Gebieten nicht verkannt, aber der Größe des Metaphysikers, des Mannes, wurde man nicht oft gerecht. Von seinem Enthusiasmus sieht man verzeihend ab, um seine rationale Wissenschaft herauszustellen — als ob er sich seiner Liebe zu den Mystikern schämen müsse. Immer wieder hörte ich von Geistesforschern und Philosophen klagen über den Betrieb der Wissenschaft und meist wunderte ich mich, daß man dann nicht auf Leibniz und seine großen Sichten hinwies aber meist umgeht man ihn, als ob er nach den Fortschritten der analytischen Wissenschaften doch überholt, nur noch „historisch" sei. In der problemgeschichtlichen Entwicklung wird seine Größe als Metaphysiker durch die Verschmelzung mit Wolff, durch Kants Kritik, die positivistische Wissenschaft meist verdeckt. Wollen wir ihn wahrhaft existentiell verstehen, dann genügt auch nicht die Forschung in Briefen, im Nachlaß, dann müssen wir auch seine mittelbare und unmittelbare Auswirkung in jener „Deutschen Bewegung" verstehen. Dann aber finden wir, was für unser eigenes Dasein noch wichtiger ist als sein „System". Wenn echte Philosophie sich in der verstehenden Teilnahme am schöpferischen Geschehen vollzieht, dann ist der Weg offen, Leibniz in Gemeinschaft mit den großen Dichtern zu erforschen. Ich stellte in diesen Zusammenhang (nach meiner Leibniz-Vorlesung) in Büchern zuerst Hölderlin, dann Goethe, dann erst Leibniz dar. Auch in diesen Büchern wollte ich planmäßig den philosophischen Gehalt erhellen, aber es ergab sich von selbst, daß ich dies Gebiet nicht als Ergänzung der schon vorhandenen Darstellungen beschreiben konnte: ich mußte von der Existenz, von Biographie und Werk im Zusammenhang, ausgehen und die Philosophie als

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notwendigen lebendigen Anteil finden. Zu Goethe kam die anfangs ausgesparte „Naturerkenntnis" als Ergänzungsband. Wenn auch seine Metaphysik im wesentlichen „Naturphilosophie" ist, so wollte ich den Hauptband doch nicht mit weiteren Ausführungen des „Naturwissenschaftlichen" belasten. Zur philosophischen Darstellung Goethes und Hölderlins gehörten aber audi umfassende Bezüge, außer zu Leibniz, die zu Hamann, Herder, Kant, Schiller, Hegel und vor allem Schelling. Das Wesentliche für diese ins Persönliche dringende Betrachtung war nicht bloße Summierung des Einzel-Wissens, sondern mehr das gemeinsame geistige Feuer. Im Streit zwischen Metaphysik und exakter Naturwissenschaft ist Leibniz, wohl das größte mathematische Genie trotz Newton, durchaus Metaphysiker. Schon in früher Jugend hatte er in sich selbst diesen Streit gekämpft. Durch Descartes Lehre angezogen, glaubte er, wie gesagt, das Weltgeschehen mechanistisch erklären zu können, aber sehr bald erkannte er: es geht nicht ohne die Aristotelische Entelechie. Er gab zu, daß die Korpuskel, die Atome, eine fruchtbare Hypothese für die körperliche Forschung seien — aber wahre Substanzen sind allein die Monaden. Die monadistische Betrachtung gegen die atomistische - diese wahre Erkenntnis ist auch Goethe eingeboren. Gerade diese Schau ist es, die durch mein Schema formal verdeutlicht wird: Atome vierdimensional, Monaden fünfdimensional. Doch muß ich zugeben, daß die Formulierung bei Leibniz schwankt. Das Gleichnis von Leibniz, auf das sich auch Kant kritisch bezieht, ist ein ganz andres, Descartes und Spinoza näheres: Das seelische und da« körperliche Geschehen verhalten sich zueinander wie zwei gleichgehende Uhren, die vom Uhrmacher so genau gleich geschaffen sind. Das ist der psychophysische Parallelismus, wie er, besonders von Fechner ausgeführt, als wissenschaftlich bequeme Aushilfe bis tief in unser Jahrhundert hinein verwendet wurde. Konnte der Metaphysiker jemals ein so billiges Gleichnis für richtig halten? Er, der doch seine Monadenlehre bewußt als Gegensatz zu Spinoza geschaffen hat?! Aber schon im „Neuen Systeme" (1695) hatte er ein weit besseres Gleichnis angewandt. Gott hat den Leib so geschaffen, daß er den mechanischen Gesetzen folgend doch immer gerade so handelt, wie es dem Fühlen und Wollen der Zentralmonade entspricht, also wie einen „Automaten", ein Uhrwerk. (Ist dies Gleichnis nicht am besten mit der Formel zu fassen: die Monade ist fünfdimensional, der Körper im mechanischen Ablauf vierdimensional?). Aber das entsprach nicht Descartes Dualismus und die Fachgelehrten der Physik waren fast alle Cartesianer, also der ganzheitlichen Metaphysik nicht zugänglich. So fragte Foucher damals, ob nicht das Zwei-Uhren-Gleichnis von Geulinx passender sei. In welchem Sinne nun Leibniz damit einverstanden war, lehrt uns sein Briefwechsel mit Bernoulli. Leibniz antwortet diesem 16. XI. 1698: „Ich billige durchaus Ihren Rat, daß wir, wenn wir es mit den Cartesianern und ihresgleichen (fast allen Physikern) zu tun haben, von der Erwähnung der ersten Materie und der substantiellen Form ganz absehen und lediglich von der an sich passiven Masse und der Entelechie oder der ursprünglichen Tätigkeit der Seele und dem Lebensprin-

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zip sprechen wollen." Das heißt: den Physikern überläßt man das mechanische Geschehen und ist befriedigt, wenn sie anerkennen, daß es d a n e b e n ein seelisches Geschehen gibt. D a ß die Metaphysik diesen Dualismus aufheben muß und kann, das will er den Physikern nicht sagen, denn das führt zu fruchtlosen Diskussionen. (Mein Buch „Leibniz", 323-333). Selbstverständlich ist über das Wesen des seelischen Geschehens nicht das Mindeste gesagt, wenn wir es als eine parallele Linie zum mechanisch-körperlichen betrachten. Aber auch der größte Philosoph muß sich hüten, mit der exakt beweisenden Naturwissenschaft in Widerspruch zu geraten, auch Kant ist dem vorsichtig ausgewichen, und wie schwer hat Goethe darunter gelitten! Hier sind einige Sätze über meinen Berufswechsel einzuschalten. 1932 hatte ich in meiner ärztlichen Laufbahn eine angenehme Lebensstellung als Direktor der Berliner Irrenanstalt Herzberge erreicht, aber der politische Wechsel gab mir bald danach Anlaß, eifriger dem alten Wunsch nach der akademischen Laufbahn nachzugehen. Mein Piatonbuch, das Anfang 1933 erschienen war, bot d a f ü r die Handhabe. Wenn meine Habilitation in Berlin mißglückt war, so bestand im Kultusministerium doch der Wunsch, mich als George-Kenner an die Universität Kiel zu bringen, w o nach Wolters und dann nach Landmanns Tode noch Professor Carl Petersen, der Historiker, lehrte. Damit traf es glücklich zusammen, daß der Rektor Lothar Wolf, der Vertreter der physikalischen Chemie, (er warnte schon damals vor der Erforschung der Atomspaltung!) eine Naturphilosophie im Geiste Piatons und Goethes erstrebte. Er förderte meine Berufung und überwand meine Bedenken. Er w a r ein Verehrer Keplers, ein Gegner Newtons, und wenn er anfangs noch Einwände gegen Leibniz hatte, so fand er doch bald den Weg zu ihm, als er in Sennert, dessen Werke er wieder entdeckte, Leibniz' Vorgänger erkannte. Er wünschte, d a ß ich auf dem Wege von Piaton und Leibniz eine Art Brückenprofessur zwischen Philosophie und Naturforschung aufbaue. Dieser Plan scheiterte am Spezialistengeist, der so leicht positivistische Formen annimmt. Z w a r waren durch Driesch und J. v. Uexküll befreiende philosophische Tendenzen in die Biologie eingedrungen, und jetzt hatten gerade die exaktesten Forscher, Planck, Heisenberg, auch Einstein die Grenzen der Physik erkannt, aber es waren besonders die Biologen, die Driesch und Uexküll verehrt hatten, die nun eine Erweichung der notwendigen Methode zu befürchten schienen und sich wieder mehr zur mechanistischen Methode zurückwandten. Manche Dozenten waren schon verstimmt, wenn nur der N a m e Piaton fiel. Auch bei verschiedenen philologischen Fächern nahm eine positivistische, antiphilosophische H a l t u n g zu*. Von entgegengesetzter Richtung waren die Theologen meist eingenommen gegen die „panentheistische" Weltschau Piatons, Leibniz', Schellings. Also die Philosophie besaß nur als Spezialfach Geltung - aber als Spezialfach ist sie keine echte „Philosophie" mehr. Ich w a r f ü r meine eigene Arbeit darob nicht böse - ich wandte mich zu meinem besonderen Thema: zum Durchbruch Nietzsches, zu Piaton, zu Leibniz auch K a n t und vor allem der Geistesgeschichte der „Deutschen Bewegung". — 68

W a r u m beglückte mich die anscheinend nur noch „historische" Größe Leibniz'? Seine Hauptgedanken konnte doch jeder Prüfling dem dürftigsten Kompendium entnehmen. (Aber die Unwissenheit war maßlos). Doch selbst wenn man vom Metaphysiker mehr erfährt als vom Logiker, Mathematiker, Logistiker . . . macht seine paragraphenmäßig vorgetragene Lehre meist keinen tiefen Eindruck, weil sie nicht den Denkwegen der Gegenwart, den Begriffen der modernen Problematik (schon seit Kant) angemessen ist. Nicht im Gange der Geschichte, sondern unbefriedigt von der gegenwärtigen Lage muß man Zugang zu ihm suchen. Nachdem ich bei meinem Habilitationsversuch menschliche Beziehung zu Spranger gefunden hatte, schickte mir dieser einen Sonderabzug, der wenn ich nicht irre, besonders von Kants Apriori handelte. Dabei gingen mir die doch seit Jahrzehnten vertrauten Gedanken durch geistige Betonung gefühlsmäßig in neuem Licht auf. Dies Wunder: jeder Mensch kann in sich mathematische Einsichten entfalten, die in ganz verschiedenen Personen immer wieder exakt die gleichen Anschauungen sind! U n d wenn auch nicht apriori, nicht genau gleich, doch bei denkender Betrachtung des Sternhimmels auch großenteils gleiche astronomische Vorstellungen. Dieses unsäglichen Wunders werden sich oft gerade seine Verwalter, die mathematischen Physiker, so wenig bewußt, daß sie es - aus ihrer modernen subjektiven Forschungsmaxime heraus - r e i n empiristisch erklären wollen. Zugegeben, daß Leibniz in der sogenannten „Monadologie" nicht überall den klarsten Ausdruck gefunden hat, zeitlich mitbedingt, aber nicht zeitgebunden, das heißt nicht der gewohnten Ausdrucksweise folgend, sondern in der N o t des Durchbruches, des deutlich sich Absetzens. So sehen nicht nur die Positivisten oft in den Monaden eine ganz unbegründete 'Hypothese, sondern auch Zunftgenossen behaupten: Leibniz habe willkürlich anstelle der Substanz die vorstellende Kraft gesetzt. N u n besteht die gelassene Größe, ich möchte sagen die bewundernswerte Vornehmheit von Leibniz gerade darin, d a ß er dem Leser nicht zumutet, sich f ü r seine Hypothesen zu interessieren, so wenig, daß ihm auch kaum daran liegt, fremde Hypothesen zu widerlegen. Er selbst gibt zu: die Monade ist eine Hypothese, aber nur diese eine, die natürlichste, naturnächste muß man ihm zugeben, um alles andere unmittelbar Erfahrene, Erlebte als den einen geordneten Kosmos zu erblicken. Ich werde begreiflicherweise oft gefragt: wie hat Leibniz das und jenes gemeint, erklärt? Gewiß ist das nicht gleichgiltig, aber es ist doch nicht das Wesentliche, ist nicht das aus Leibniz' Geist Gefragte. In seinem Sinn ist zu fragen: „Ist meine Behauptung unmittelbar überzeugend? Wenn sie über das Bewiesene hinausgeht, ist sie dann notwendig als einzige unser Wissen umgreifende Deutung? Oder kannst Du eine bessere, überzeugendere vorschlagen?" Mir wenigstens geht es so: Ich kann mir schwer vorstellen, daß ein denkender Mensch gänzlich auf metaphysische Ergänzung verzichtet, aber kaum leichter, daß er eine bessere Metaphysik als die Monaden-Vorstellung findet. Metaphysik ist Interpretation des Weltgeschehens, nicht logisches System. Allerdings: so weltumfassend und so einfach diese Lehre erscheint - im 69

einzelnen stößt man immer wieder auf Schwierigkeiten in ihrer Anwendung, (z. B. Zellteilung und Zellverschmelzung bei der Zeugung). Doch sdieint mir, daß wer sie im ganzen mit andern Theorien zu widerlegen und zu übertreffen meint, die ganze Tiefe des Problems noch nicht erkannt hat. Ich glaube, daß wir keinen besseren Wegweiser als Leibniz finden und brauchen, so sehr auch der Weg zu berichtigen und zu bessern ist. Denn wenn es Leibniz auf eine Hypothese ankam, um Mensch und Kosmos groß und herrlich zu sdiauen und wenn der Leser bestrebt ist, dieser einfadien Größe gerecht zu werden, so bleibt sowohl in den naturwissenschaftlichen wie in den theologischen Deutungen viel Hypothetisches, das wir als solches stehen lassen. Leibniz war nicht Professor, sondern tätiger Staatsmann, der das Abendland gegen Ludwigs Türkenbündnis und gegen die doktrinären Religionskriege verteidigte. Schon am Anfang der „Monadologie" (§ 7) findet sich der verhängnisvolle Satz von der Fensterlosigkeit der Monaden: „Les Monades n'ont point de fenetres par lesquelles quelque chose y puisse entrer ou sortir." Wie unterscheidet sich dann die Monade vom toten Atom? Ich habe diesen Satz oft in diesem Zusammenhang gelesen, aber ich erinnere midi nicht, ihn bei Leibniz anderswo gelesen zu haben. Aber wie oft liest man ihn immer von neuem in der philosophischen Literatur, als ob er die Grundlage der Leibnizschen Metaphysik sei. U n d doch befinden sich die Monaden in dauernder Wandlung, denn ihrem Streben gemäß wechseln sie dauernd ihre Perceptionen, die ihnen Kunde von der Umwelt geben. Aber jene Definition gibt immer wieder Anlaß zum Mitleid mit diesen einsamen, frierenden Monaden. Zweifellos wollte Leibniz seine Monaden-Vorstellung in Piatons Metaphysik verwurzeln. Der Seele, dem göttlichen Keim, wird vor der Geburt der Sternenkosmos, das Weltgesetz gezeigt. Das mathematische Apriori des Menon ist nur der phänomenologisch leicht nachweisbare (aber oft unbegriffene) Anteil dieser Wiedererinnerung: denn bei den richtig empfangenen sinnlichen Anstößen der Umwelt vermag sie im Innern das ganze Bild des Universums zu entwickeln. Dann zeigt das Gastmahl, daß es ein eigentliches „Belehren", ein Überfließen des Wissens in den Lehrling nicht geben kann: es gibt nur Erweckung. Das ist noch mehr als das erweiterte Apriori der Husserlschen Wesensschau, es meint die faktische Erkenntnis des Weltgeschehens überhaupt. Also das Universum wird in der Monade repräsentiert - es ist in ihr potentiell - gegeben. Wäre es nicht potentiell in der Monade, so würde diese auch nichts erkennen. Diese Beziehung zur Vollkommenheit, zur Idee des G u ten, der Schöpfermacht macht diese scheinbar in sidi beruhenden Seelen nicht einsam, sondern sie ist der Urgrund des wirklichen Erkennens, auch des geistigen Eros und der Gemeinschaft. Diese metaphysische Vorstellung Piatons bedarf kaum eines weiteren Schrittes zur mittelalterlichen Vorstellung des Mikro-Kosmos als Spiegel des Universums. U n d wenn nun nach Leibniz die Welt nur aus Monaden besteht, wenn diese die Substanzen des Kosmos sind, so ist die Vorstellung von Mikrokosmos und Makrokosmos zugrunde gelegt: 70

die Monaden sind nicht nur vorstellende, sondern auch schaffende Spiegel. Das Weltall besteht nur aus Monaden, es gibt nichts außer ihnen. Wie dürftig ist demgegenüber das Mißverständnis, sie seien nichts als vorstellende Kräfte. Vielleicht mag ein Kritiker hier noch barocke Ausdrücke finden und das einzelne nüchterner, rationaler benennen: aber wer fände, das Ganze, das All zusammenfassend ein so befriedigendes großes Bild: Philosophie als wahre Interpretation der gegebenen Wirklichkeit? Wie mißverständlich dies eine Bild der Fensterlosigkeit ist, besagt § 52. „Und daher kommt es, daß zwischen den Geschöpfen das Tun und Leiden wechselseitig ist." Das klingt geradezu wie ein Widerspruch zur Fensterlosigkeit. Aber im vorigen Paragraphen ist die Aufhebung des Widerspruches bereits begründet: ein „physischer" Einfluß zwischen den Monaden sei nicht möglich, die Veranlagung geschehe „ideal", wir können sagen: im metaphysischen Gebiet, im Augenblick der Schöpfung (§ 51). Ich gehe hier den unerschöpflichen Schwierigkeiten nicht nach, die Leibniz in vollem Maße erkennt und zu überwinden versucht. Er erkennt für die Naturforschung ein gewisses Recht der psychophysischen Parallele an, aber nur in dem Sinn, daß die körperliche Reihe von Gott ganz in den Dienst der seelischen gestellt wird, gleichsam wie ein Automat in den Dienst eines beseelten Menschen. (Und diese Metapher des Automaten für den Körper hält man oft für mechanistische Metaphysik!) Aber beide Reihen gehören ins Gebiet des eigentlichen „Physikers", Naturforschers und Psychologen (im aristotelischen Sinn), während erst die mathematischen „Physiker" im modernen Sinn sich ganz auf die körperliche Reihe beschränken. So faßt es Leibniz bis zum § 6 der „Principes de le nature et de la gräce" zusammen. Bis dahin genügte mir also meine Formel des fünfdimensionalen Lebens, die ja sehr vereinfacht die Überlegenheit der ganzen seelisch-lebendigen Natur über die bloß körperliche-mechanische Reihe ausdrückt. Aber sie war doch eben nur das Schema für den Aufbau von unten her: das Wesentliche, das Ziel war mir immer die Interpretation des Geschehens von der schöpferischen Mitte aus gewesen, deren Gestaltungskraft erst dies Schema sinnvoll erfüllt. Bei Leibniz fand ich (im Anschluß an Piaton) den Hinweis auf diese Mitte, die schöpferische Sonne, eingegliedert in sein metaphysisches Denksystem. Dort („Prinzipes") fährt er in § 7 fort: „Bisher haben wir nur gesprochen als einfache N a t u r f o r s c h e r (physiciens): jetzt ist es notwendig, sich zur M e t a p h y s i k zu erheben, indem wir uns des g r o ß e n P r i n z i p e bedienen, wenig angewandt im allgemeinen, welches besagt daß N i c h t s g e s c h i e h t o h n e z u r e i c h e n d e n G r u n d . " Dieser metaphysische Teil, der in der Monadologie erst mit § 32 beginnt, hat ein starkes Übergewicht über den naturwissenschaftlichen. Über dieser körperlich-psychischen, also leiblichen (nicht mechanistischen) Welt steht nun das Gottesreich, das aber kein jenseitiges ist, sondern das gleiche leibliche, das diesseitige Reich umfängt. Daß die leibliche Welt in der Raison wurzelt, bedeutet nicht logische Ableitung, sondern existentielle Herkunft aus dem Schöpfergott: Er, die Monade der 71

Monaden blitzt die weltlichen Monaden aus sich heraus. Gott baut die "Welt auf im Reich der Zweckursachen, das Spinoza leugnet. Dieser Gegensatz ist unüberbrückbar. Die Schöpfung kann nur teleologisch interpretiert werden. Das mechanistische Denken ging dahin, aus dem Ideal exakter Beweisbarkeit und Voraussage des notwendig Geschehenden nur die materiellen Vorgänge als wirklich anzuerkennen. Der Marxismus ging auf diesem Wege weiter: die seelisch-geistige Parallele ist ein bloßer ideologischer Überbau über dem materiellen Vorgang, dem keine Philosophie wirklichen Sinn verleihen kann. D a ß Leibniz die Substanz fünfdimensional, lebendig sieht, hilft noch nicht weiter. Wenn die Welt aus Monaden besteht, die potentiell vorstellende und wollende Individuen sind, so bliebe sicher doch ein Chaos, ein Aggregat wie das bloße Atomgetriebe. Wie sollte die noch so komplizierte und durchprobte Weltformel der mathematischen Physiker zu einem Sinn des Lebens, ja nur zu körperlich geordnetem Kosmos führen? Es gibt keinen Kosmos ohne Teleologie, ohne eine sinnvoll wirkende schöpferische Kraft - mögen wir sie mit Leibniz Gott nennen oder uns vor diesem N a m e n scheuen. Wie schon Timaios unterscheidet: physische Notwendigkeits-Ursachen und göttliche, schöpferische Ursachen, so muß Leibniz gegen das mechanisch Notwendige ein anderes Geschehen setzen: er nennt es das Kontingente. Dies mit Zufälligkeit zu übersetzen, muß zu Mißverständnissen führen: es ist das Teleologische, das Planmäßige, das Schöpferische. U n d weil es nicht mechanisch-notwendig erklärbar ist, erkennen wir in ihm die Auswirkung Gottes. Damit ist das Beglückende, die von der Innigkeit der Liebe zur Königin Sophie Charlotte gefärbte Weltschau noch nicht gegeben. Jedem unbefangenen Blick wird sichtbar, daß zur wirklichen N a t u r neben der mechanischen Reihe auch die seelische gehört und daß sich in ihrer Wechselwirkung ein schöpferischer Vorgang nicht leugnen läßt, selbst wenn man diesen in die analytische „Wissenschaft" nicht einbeziehen könnte. Dies alles ist N a t u r , aber noch nicht das Reich der Gnade. Gott-Schöpfer ist gleichsam der Baumeister dieses lebendigen Kosmos. Aber im Dasein der Menschen offenbart er sich auf noch höherer Stufe. D a ist er Monarch seines Reiches, wir sind Untertanen in seinem Staat, ja wir sind seine Kinder. Gibt es ein glücklicheres Bild f ü r diese maßvolle Norm? Dies evangelische Bild wurde selbst von kirchlicher Seite, nicht nur von mechanistischer Dogmatik verschüttet. Wie gegenüber dem mechanistischen Gesetz empfand sich der Theologe auch gegenüber der Allmacht Gottes, seiner willkürlichen Prädestination, dem furchtbaren Rätsel der Gnadenwahl und Verdammung als unfrei. Dagegen wieder erhob sich die philosophische Hybris des Ich-Idealismus, in dem der Mensch sich selbst als H e r r scher setzt. Wie erzieherisch und doch beglückend ist die echtere Wahrheit, zur Teilhabe am Schöpferwerk berufen zu sein, in Gottes Sinne zu schaffen. Das eben ist das wirkliche Reich der Gnade - und der dichterische Geist der „Deutschen Bewegung". So vollendet sich, was aus Leibniz' Entscheidung f ü r die Entelechie gegen den Mechanismus seiner Zeit folgt: die Bewahrung des Platonisch-Aristoteli72

sehen, des Gotischen Erbes gegen die nur quantitativ-exakte „Naturerklärung" seines Zeitalters. Bei der modernen Entartung des Begriffes „Natur" ist zu beachten, Natur ist Ganzes, körperlich-seelisches Geschehen, aber sie ist auch nicht Gegensatz zum Reich der Gnade, sondern sie ist das Stufenreich, das bis zu diesem aufsteigt, denn der natürliche Mensch ist das Abbild Gottes. Das Reich der Gnade ist die höchste Ebene des gottgeschaffenen Reiches der Natur, die bewußt von Gottes Geist durchdrungene. Gnade heißt, bewußt am schöpferischen Werk mitwirken. Dafür hat Thomas von Aquino, der Künder der Platonisch-Aristotelischen Weisheit, den Ausdruck gefunden: Gratia non sustulit naturam sed perficit. Leibniz sagt genau das gleiche: „Die Natur führt zur Gnade und die Gnade vollendet die Natur, indem sie sich ihrer bedient." (Principes. § 15). Auch für Gott ist die Natur nicht bloßer Stoff, sondern ein Wesen, das stufenweis zu ihm aufstrebt. In der Deutschen Bewegung setzt Leibniz weniger den römischen Strom fort, als daß ex den griechischen Geist wieder entzündet. E r empfindet die Religion nicht stoisch, entsagend, sondern platonisch, enthusiastisch. Gott beschenkt uns mit Freuden und in ihnen glauben wir mit wahrer Zuversicht und Ruhe, nicht durch gewaltsame Entsagung wie die Stoiker. (§ 18). Unser Glück ist die Liebe zu Gott, dem Spender unserer Freuden, auch der sinnlichen. Dieses höchste Glück vollzieht sich im Geist, aber nicht im logischen, begrifflich vermittelten, discursiven, sondern im anschauenden: das ist die visio beatifica, die Gottesschau. Mit welcher Glut Leibniz dies schöpferische Amt des Menschen empfindet, in ihm die Norm des Menschen erkennt, sagt er in § 83 der „Monadologie": Die Menschen als Abbild der Gottheit „sind fähig, das System des Universums zu erkennen und manches daraus nachzubilden durch baukünstlerische Proben, denn jeder Geist ist wie eine kleine Gottheit in seinem Bereich." Diesen Paragraphen wird Goethe gekannt haben, als er im Faust-Vorspiel den Nihilisten Mephisto über „den kleinen Gott der Welt" spotten ließ. Und freilich liegt es den kalten Rationalisten nahe, über die Optimisten zu spotten und auf das Leben zu schelten. Des Blutes beraubte platonistische und christliche Hypothesen, die schon diesseits ausgewogenen Lohn für alles gut Getane versprechen, sind tausendfach widerlegt. Willkürlich schien daher die Hypothese, Gott könne nur die beste der möglichen Welten gewählt haben. D a ß Kant als Kritizist sich ganz gegen Leibniz gewandt hat, mag noch dadurch an Gewicht gewinnen, daß er in der früheren Zeit sich so „optimistisch" (in seinem Versuch über den Optimismus) zu ihm bekannt hat. „Heil uns wir sind!" rief er allem Geschöpfe zu, „und der Schöpfer hat an uns Wohlgefallen." Er schloß: „ d a ß d a s G a n z e d a s B e s t e s e i , und alles um des G a n z e n w i l l e n g u t s e i . " Wie anders schließen, in der Enttäuschung über Swedenborgs Werke, die in der Monadenlehre gründen, die „Träume eines Geistersehers". „So schließe ich mit demjenigen, was Voltaire seinen ehrlichen Candide nach so viel unnützen Schulstreitigkeiten zum Beschlüsse sagen läßt: ,Laßt uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen und arbeiten!' Wie tief resigniert nach dem hohen Stolz des jugendlichen K a n t ! Eben 73

an Leibniz' Glauben, an die beste aller Welten, hatte Voltaire, der ironische Positivist, satirisch angeknüpft, aber er war doch wohl zu klug, dies für eine metaphysische Gegenthese anzusehen: es war die journalistische Verwendung der aktuellen These eines weltberühmten Genies in einer bitter-heiteren und ziemlich rohen Satire. Haben wir das Recht, das vorangehende Bekenntnis zum Vorbilde Leibniz' als rhetorische Phrasen eines selbstgefälligen Jünglings, seinen unbedingten Widerspruch als metaphysische Einsicht des gereiften philosophischen Mannes zu bewerten? - Beim glücklichen Bekenntnis in der weiten Weltschau stand Kant im fünfunddreißigsten Jahre: es war die letzte Zeit für die Reifung. Beim skeptischen, für einen Philosophen kynischen Widerruf war er zweiundvierzig Jahre. Das ist eher ein Bruch als eine Reifung. Sollten Piaton und Leibniz so durch Glücksumstände getäuscht sein, daß sie das Unglück nicht ernst nahmen, sollten Voltaire und Kant das Menschenleid tiefer erkannt haben? Aber Piaton erlebte in der Jugend die furchtbare Katastrophe Athens und dann die Hinriditung des Meisters, in Sizilien mehrmals die Bedrohung am Leben. Leibniz sah die Folgen des Dreißigjährigen Krieges, die Raubkriege Ludwigs, die Türkengefahr. Beide erlebten in sich die Hoffnung, durch die schöpferische Kraft der Harmonie ihr Volkstum, ihren Kulturkreis zu retten: Piaton wollte sämtliche Hellenische Kleinstaaten durch ein nationales Bündnis, Leibniz das Abendland durch die Versöhnung der kultivierten Völker, durch Versöhnung der Konfessionen, die Reunion, die Union, durch die Harmonie der Kräfte retten. Die sdiöpferische Harmonie war also Erlebnis, war Kraft der Ganz-Großen - aber darf sie darum, metaphysisch, als herrschende Weltkraft gedeutet werden? - Piaton und Leibniz haben ja selbst nicht erreicht, was sie schauten und wollten! Beide erfuhren die Widerlegung ihres „Optimismus". Das hat Leibniz wohl gewußt, niemals die Welt schönredend als überall herrlich gepriesen. Wenn aber er selbst glühend das Beste erreichen wollte, wie sollte nicht Gott dasselbe wollen? So wenig wie Timaios' Gott konnte er anderes als das Schönste schaffen. Man mußte die Erde, die Weltgeschichte als Ganzes sehen, dann würde man erkennen, daß im ganzen das Leiden vom Glück überwogen werde. Oder doch nicht? Dann müßte auf einem andern Stern der Ausgleich hergestellt werden. Das ist nicht beweisbar, aber ein unvermeidbares Postulat aus jenem Willenserlebnis, das über das Erlebnis der Epikureer und Stoiker hinausgeht. Das ist das religiöse Postulat, dem oft in Wirklichkeit der äußere Erfolg widerspricht. Und dennoch gibt es, mit leichter Modifikation, dafür ein metaphysisches Recht: wenn alle Monaden, ohne irgend harmonische Abstimmung ihren Weg gingen, gäbe es überhaupt keine Gestaltenwelt, keine eigentliche „Welt", sondern allein ein unbedingtes Chaos. Gäbe es aber eine aufbauende und eine zerstörende Weltkraft von gleicher Stärke, so bliebe die Welt immer noch ein Chaos. Erblickt man unbefangen das Dauernde, Gestaltende, das in ungeheuren geologischen Epochen sich zu lebendigen Gestalten erhebt und schließlich im Menschen sich dieses schöpferischen Geschehens bewußt wird, 74

sich bewußt fortsetzt, so kann man nicht zweifeln am Übergewicht der sdiöpferisdien Kraft und es ist sinnvoll, sie als die göttliche, die positive zu bezeichnen. Dies aber wird von Parmenides, Augustin und Leibniz erkannt: die negative Weltkraft, dargestellt im bloßen trägen Widerstand der ungeistigen Masse kann als bloßes Ermangeln des Positiven, Schöpferischen erscheinen oder als aktive entgegengesetzt wirkende Kraft. In solchen Deutungen stehen sich nicht nur die Denker gegenüber, sondern im Denker selbst können beide Auffassungen bewußt oder unbewußt in Spannung nebeneinander stehen. Ohne diese schöpferische Macht, deren Wirken Leibniz als „prästabilierte Harmonie" auffaßt, gäbe es nicht die leibliche Welt, in der wir leben. Allerdings ist der „Optimismus" dadurch nicht gesichert: man erkennt das Positive, Schöpferische - muß man darum seinen Wert bejahen? Das bleibt Sache des individuellen Erlebens, des gefühlsmäßigen Werturteils, rational nicht beweisbar, nicht widerlegbar. Empfindet man Leid und Mitleid als niemals ausgeglidien durdi Freude und Mitfreude, so folgt Lebensverneinung, Weltflucht. Dann sucht man das Jenseits oder das Nirvana. Aber auch ein solcher Mensch kann an affektloser „interesseloser" Betrachtung des diesseitigen Lebens, in der Apatheia der Stoiker, der frommen Askese, im Glück des Schauens, in mystischer Ekstase seine Befriedigung finden. Unser Zeitalter lernte vom jungen Nietzsche diese Weltverneinung seiner beiden Erwecker Schopenhauer und Wagner, vom späteren Nietzsche den Umbruch in die Dionysische Weltbejahung. Aber wir vermißten in dieser die beglückende Harmonie: diese Bejahung wirkte oft krampfhaft, gequält, weil sie nicht mit der aufbauenden Gemeinsdiaft im Einklang stand. Dieser Glaubenslosigkeit gegenüber leuchtet die sichere Lebensfreude, die Schaffenskraft Leibniz': er selbst braucht keinen Jenseitstrost, aber er bestätigt den weniger erfüllten Mitmenschen auf Grund seiner Monadentheorie die Möglichkeit des ewigen Weiterlebens denn die Monaden sind Substanzen, ewig, wenn auch durdi die Verbindung mit der Umwelt im Gehalt der Vorstellungen und - oft übersehen - des Strebens sich wandelnd. Er sieht die politischen Gefahren und Niederlagen, aber er wirkt froh dagegen als bedeutender Staatsmann im Bewußtsein, daß das Volk sich wehren kann. Da wird es deutlich, wie seine Überzeugung im rätselhaften Schulproblem des Determinismus zu verstehen sei: „Gott ist für die, so sich der von ihm gegebenen Vernunft und Mittel bedienen, für die besten Regimenter, für die guten Ratschläge." (Das hat der große Friedrich begriffen.) Leibniz ruft das Volk auf gegen Ludwig, der das Reich bedroht: „ d e n n es ist e i n D o n n e r s c h l a g n ö t i g , d i e D e u t s c h e n m u n t e r z u m a c h e n . " Aber ob er sich nun dem Glück des Forschens, dem Genuß der Sprache, den Verhandlungen der Reunion oder Union hingibt: Immer ist er sich der großen Aufgabe bewußt: die harmonische Wirkung zur Versöhnung Europas im Geistigen Aufbau. Erst um die Jahrhundertwende, nach der Verödung des Mechanismus, schien es wieder möglich, den weitstrahlenden Sinn der Monadenlehre wieder zu fas75

sen. Nicht als Idealist (das waren Piaton und Leibniz auch), sondern als Kritizist w a r einst Kant dahin gelangt, keine Wirklichkeit als solche, theoretisch; anschaulich zu erkennen: alles ist bloße Erscheinung. Das „Ding an sich" scheint vielen „Idealisten" ein Fehlbegriff. Unbefriedigend für den Forscher, vernichtend für den schöpferischen Menschen, der in der Philosophie Halt sucht. (Heinrich v. Kleist!) Wie war Kant in diese Krise geraten? Mir scheint ihre Ursache Kants Gesinnung im Gefolge von Descartes Zweifelsucht: Metaphysisch als wahrhaft wirklich nur das gelten zu lassen, was apriori, apodiktisch gesichert ist - das heißt die „reine Vernunft" nach Ausscheidung alles Empirischen. Wenn nun aber die reine Vernunft uns die Wirklichkeit nicht zu erkennen gibt, warum sollen wir uns dann nicht auch unsrer sinnlichen, unserer seelischen Erfahrung bedienen, um die wahre Metaphysik zu erreichen in dem Umfange, wie sie uns, den Gotteskindern, beschieden ist? Oder richtiger: ist der freiwillige Verzicht auf die überreiche, unerschöpfliche vom Schöpfer gewährte Erfahrungsmöglichkeit nicht ein sinnloser, zerstörender Undank ihm gegenüber? Sah doch diesen Begriff der „reinen" Vernunft niemand klarer als Leibniz, aber bei ihm bedeutet er eher Einseitigkeit, Mangel, als Vollkommenheit bloße Vorstufe der vernehmenden Vernunft. Jene, das logisch-mathematische Apriori, ist das Gesetz der unbedingten Notwendigkeit, leer, formalistisch. Ausfüllung, Erfüllung des kategorialen Schemas ist im bewußten Gegensatz dazu das Kontingente, das positiv-Wirkliche, die tatsächliche Weltschöpfung. Unleugbar nähert sich Kant durch seinen Idealismus des Sittengesetzes, die „reine praktische" Vernunft dieser höheren Region, aber er gibt zu: weil auch diese „rein" bleiben soll, keine Beziehung zum Tatsächlichen, Kontingenten haben kann, so darf sie keinerlei theoretischen Gehalt haben - auch sie gewinnt keinen Zugang zum Schöpferischen, zur wahren Wirklichkeit. (Theoretisch heißt bei Kant anschaulich erkannt. Heute ist es oft entartet zu „abstrakt"). Der Ich-Idealismus und seine methodische Beschränkung auf die reine (chemisch gereinigte, wie Kant selbst einmal vergleicht) Vernunft vollziehen den Bruch mit der großen Weltinterpretation von Leibniz. Das sah auch Schelling ein, als er früh enttäuscht von seinen eigenen Spinoza-Spekulationen, mit vollen Segeln auf den Strom der Leibniz-Metaphysik einkehrte. Die rationale Naturerklärung bewahrt er als negative Philosophie, aber die positive steigt auf den Stufen der höheren Erfahrung, ähnlich den religiösen Mythologien, auf zur Anschauung der schöpferischen Urkraft. (Bei den großen Dichtern bedeutet „rein" nicht das Abstrakte oder Transzendentale, sondern das Ursprüngliche.) Doch sehen wir hier von der Mythologie, da sie der Spekulation nicht entbehren kann, noch ab. Was zum Wesen des Kritizismus gehört, der sich aus dem Ich-Idealismus speist, ist, daß er am Metaphysisch-Wesentlichen, der unmittelbaren Erkenntnis des Du, vorbeigeht. Diese reine Vernunft, die Mathematik, bildet (wie oft unbemerkt oder mißverstanden) neben der reinen Sinnenerfahrung des Positivismus dessen zweite Wurzel, so im Weltbild der Ver76

standesaufklärung, so im Wiener Neupositivismus. Eine Frucht dieser Heirat von Ich-Idealismus und Mathematik ist die Atom-Technik. Nicht der IdiIdealismus schützt vor dem Mechanismus: dies muß man erkannt haben, um in der monadischen Sicht das Heil zu hoffen. Und deren Urerlebnis ist das Lächeln des Säuglings, der Eros zwischen zwei Individuen, die Agape der WirGemeinschaft. - Es ist nicht lange her, wohl auch noch gegenwärtig, daß bedeutende Forscher den Unterschied der Menschen primitiver Stufe vom modernen Menschen darin sahen, daß jene in einem unlogischen Gemisch von magischen, mythischen, mystischen - also „abergläubischen" Vorstellungen, diese im Raum von exaktem Denken, wissenschaftlicher Logik lebten. Als ob exakt-logisches Denken die Eigenschaft aller modernen Menschen, oft nicht allein die Fähigkeit disziplinierter einzelner sei. Als ob nicht viele das Auto steuern, zur Not auch reparieren, ohne von den physikalischen Prinzipien eines Motors etwas zu begreifen. Als ob nicht viele aufgeklärt sind über Unwahrscheinlichkeiten in der Christenlehre und einem absurden Sternenglauben anhängen. Auch der exakteste Mechanist kann kritiklos «ein. Der Logik-gläubige Techniker begreift vielleicht nicht, daß der Säugling in den Eltern und Geschwistern Monaden, die viel verhöhnten „substantiellen Formen" der Scholastik, unmittelbar erkennt, Existenzen, die keine noch so exakte Mathematik dem von Descartes Zweifelsucht und mechanistischer Methode begeisterten „modernen Menschen" beweisen kann. Eben diese Ur-Erkenntnis, daß D u und Wir Wirklichkeit an sich, Substanzen sind, dies vorwissenschaftliche Grunderlebnis, dringt - bei noch so geringer Ausdehnung - tiefer als alle Wissenschaft. Das ist ein wesentliches Moment der Existenz-Philosophie: ganzheitliche Erkenntnis muß sich gründen auf vorwissenschaftliche Einsicht, denn Wissenschaft steigert sich durch Teil-Disziplinen, durch Sektoren des Wissens. Philosophie, mag es ihr noch so sehr glücken, wissenschaftliche Struktur zu erreichen, darf niemals jenes Grunderlebnis preisgeben. Leibniz und Goethe könnten wohl die echtesten Positivisten genannt werden, wenn Positivismus nicht heute gleichbedeutend wäre mit dem Negativismus, der mit Hume alles Metaphysische, alles was über die Wahrnehmung der nach außen gerichteten Sinne hinaussteigt, leugnete. Goethe war in seiner Jugend ergriffen von Spinozas Lehre, der die Welt sub specie aeternitatis, die ewigen Gesetze der Sternbahnen schaut und eine teleologische Betrachtung, die auf den privaten Nutzen der Individuen zielt, verachtet. Aber für Spinoza haben die Individuen keine selbständige Existenz, sind nicht Substanzen. Darum will Leibniz seine Monadenlehre als unbedingten Gegensatz gegen Spinozas System aufgefaßt wissen. Er vertritt die hohe Teleologie: die edelsten Monaden wollen mitschaffen an Gottes Werk, der schönen Welt. Aber da sich an Leibniz vorbei die mechanistische Weltanschauung entwickelte, begann man in Spinoza nur noch den Pantheismus zu sehen. 1780 legte Jacobi Lessing Goethes Prometheus-Hymne vor als Beweis für dessen „Spinozismus". Lessing preist zu seiner Verwunderung die Hymne als Ausdruck des Pantheismus - aber er redet nicht von Spinoza, sondern ausdrücklich von dessen Gegner

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Leibniz. Goethe beschäftigt sich 1784 wieder mit Spinoza, aber sogleich ohne es zu wissen - entscheidet er sich in der Streitfrage für Leibniz. Personen sind Substanzen. „Jedes existierende Ding hat also sein Dasein i n s i c h , und so audi die Ubereinstimmung, in der es existiert." (Dilthey hat dies Excerpt vorbildlich analysiert. Vgl. Hildebrandt: Goethe. 200-214.) Dies aber ist die großartige Konzeption von Leibniz: Monaden sind nicht nur vorstellende Seelen, nicht nur Entelechien als Keime des beseelten Leibes, sondern sie sind Spiegel des Universums, vernehmende und schaffende Urkräfte. „Denn unsere Seele drückt Gott und das Universum und alle Wesenheiten so gut wie alle Existenzen aus", heißt es in der „metaphysischen Abhandlung". Ich behaupte also nicht, daß im Monadenbegriff alle metaphysischen Probleme gelöst erscheinen, denn Leibniz wahrt der mechanischen Physik ihr volles Recht. Gerade daß hier von der Seele die Rede ist, wo die Monade gemeint ist, weist auf eine nicht ganz geklärte Terminologie. Im gewissen Sinne könnte die Seele, im andern die Monade das Umfassendere scheinen. Ich würde gern sagen dürfen: die Monade, pflanzlich, seelisch, geistig, schöpferisch, kosmisch wäre siebendimensional - und wenn sie nur vierdimensional in Ersdieinung tritt, wäre sie nur ein dynamisches Atom. Diese Formulierung kann ich bei Leibniz nidit belegen, denn für ihn sind nur die Monaden wirklich, alle anscheinend toten Stoffe sind Konglomerate von noch nicht gestaltenden, gleichsam schlafenden Monaden. Die toten Atome läßt er nur als fruchtbare Hypothese der Physik gelten. Aber das ist kein Widerspruch: Leibniz führt seine metaphysische Hypothese monistisch durch, während ich die Frage, ob alle Elektronen potentiell den Keim schöpferischer Freiheit, den Weg zu Leben und Geist in sich enthalten, oder ob die große Masse wesentlich nur vierdimensional sei, auf sich beruhen lasse. Unter dieser Voraussetzung läßt Leibniz begreiflicherweise im System Formulierungen stehen, die an den Parallelismus von seelischem und körperlidiem Geschehen anklingen. Allerdings bedeutet die Überordnung der prästabilierten Harmonie, daß dieser Parallelismus das Gegenteil des Mechanismus ist: Indem alle Monaden harmonisch aufeinander gestimmt sind, ist das körperliche Geschehen („teleologisch") darauf eingerichtet, dem freien Willen der geistigen Monaden zu dienen. Ich darf diese Schwierigkeiten hier nicht entwickeln, nur eine Briefstelle (an Volder 20. VI. 1703) soll folgen, um zu begründen, daß ich mein Schema für das einfachste, vielleicht unentbehrliche Mittel halte, das diese scheinbaren Unstimmigkeiten durchaus im Sinne von Leibniz aufhellt: „Ich unterscheide also (1) die ursprüngliche Entelediie oder Seele, (2) die erste Materie oder passive ursprüngliche Kraft, (3) die vollständige Monade aus diesen beiden, (4) die Masse oder zweite Materie oder organisierte Maschine, zu der unzählige Monaden zusammenwirken, (5) das Lebewesen (animal) oder die körperliche Substanz, welche die herrschende Monade zu einer Maschine macht." Ich glaube, es wäre viel geholfen, wenn man sich diese Stelle einprägt und sie überall zu Rate zieht, wo unser durch mechanistische Methoden vergröber78

tes Denken sich der Leibnizschen Gesamtsicht gegenüber leicht verwirren läßt. Das (1) wäre also die Seele, nicht fünfdimensional, sondern auf die fünfte Dimension beschränkt gedacht; das (2) die träge Masse, wohl zeitlich bestehend, aber doch überwiegend als nur dreidimensional gedacht; das (3) die fünfdimensionale Monade, aber doch - da ihr noch der organische Leib fehlt - noch schlafende Monade, vom Element des bewußtlosen Aggregates nicht unterschieden; (4) die aus Monaden zusammengesetzte leibliche Masse; (5) das leiblich-seelisdie Geschöpf, beherrscht von der einen gestaltenden Monade, die sich nun in die höheren und höchsten Dimensionen entfalten kann. So ist die monadische Sicht als Gegensatz der atomistisdien durch das Fünfdimensionenschema, gleichsam ein erweitertes Koordinatensystem, verdeutlicht, vorerst als ein Aufbau von unten her. Bevor wir diese Sicht complementar vom Innern, vom schöpferischen Kern her, mittels einer geistesgeschiditlichen Klärung vollenden, wofür heute auch eine Betrachtung der Dichtung fruchtbar wird, dient uns zur Vorbereitung ein Blick auf das Vermittelnde, auf die Sprache.

V. D E R G I P F E L I N H E R D E R , G O E T H E , H Ö L D E R L I N Das Schema der abendländischen Sprache steht in einer keineswegs einfachen Beziehung zur Erkenntnis und ihrer Logik. Manche glauben, die Erkenntnis sei verdorben, weil sie sidi der Sprachlogik unterwirft, andere, die Sprache sei verdorben durch eine abstrakte, von den gewachsenen Sprachen abgelöste reine oder absolute Logik. Als gemeinsames Gesetz gilt die Satzbildung aus Subjekt und Prädikat, aus Hauptwort (oft durch Personen vertreten) und Tätigkeitswort. Daß man dies als verbum, „Wort" schlechthin, bezeichnet, hat insofern Sinn, als die volle Wirklichkeit ein Geschehen ist. „Alles fließt". Aber wie kann ich dies ewig fließende All erkennend ins Auge fassen? Ich suche zu gliedern: mein Denken sondert ein unveränderlich Beharrendes, die Substanz, von einem zeitlich wechselnden Geschehen. „Dies Wasser fließt." Ich setze das Wasser als den Stoff, der nicht im Fließen sein muß, ich kann absehen von der vierten Dimension, der Zeit. Das Fließen, abgesondert vom Wasser gedacht, ist gewissermaßen auf die vierte Dimension beschränkt. Beides, Substantiv und Verbum sind Abstraktionen, da sie keine vierdimensionale Wirklichkeit fassen. Es ist nun ein Problem, wieweit diese Sonderung in Subjekt und Prädikat durchaus die Wesensform des Erkennens ist oder ob sie auch die wahre Erkenntnis verbiegen kann. Unterlasse ich die ausdrückliche Sonderung und sage: „Ein Fluß", so ist damit die vierdimensionale Wirklichkeit „fließendes Wasser" benannt. Rufe ich „Feuer!" so versteht jeder, daß es jetzt und hier brennt, nicht vor Jahrhunderten die Stadt 79

Magdeburg. Stoff als solcher, das, was geformt werden kann, ist nicht schon Substanz (wenn auch das vergröberte, materialistische Denken beide oft gleichsetzt), denn Stoff ist nicht volle Wirklidikeit. Substanz aber, als Wirklichkeit, entlädt sich in beides: den formbaren Stoff und das formende Prinzip. Feuer, Oxydation, Verschmelzung zweier Stoffe kann als Bild des lebendigen Vorganges, der fünfdimensionalen Wirklichkeit, ja vielleicht Heraklitisch als die sie mitumfassenden Wirklidikeit verstanden werden. Man streitet, was das Wesentliche in der Sprache ist, Substantiv oder Verbum. Für das Verbum spricht, daß es im Besonderen die Wirklichkeit, das Geschehen, die Tätigkeit ausspricht. Aber das Substantiv ist nicht darauf begrenzt, das bloß Zeitlose, das bloß Stoffliche zu bezeichnen: es hat die Fähigkeit, die Bedeutung sämtlicher Dimensionen in sich aufzunehmen - wie die Monade das Universum spiegelt. „Der Mensch" kann schlafen - oder gehen - oder denken. Aus unklarem materialistischen Denken pflegt man nur die Hauptworte, die das dreidimensional-Körperliche betonen, konkret zu nennen, alle andern abstrakt, eine grundsätzliche Unterscheidung, die man schon die A B C -Schützen lehrt, aber sie ist problematisch, ja sinnwidrig. Dieser Sprung, den eben ein Mensch ausführt, die Trauer, die er leidet, sind die abstrakt? Der vierdimensionale Körper ist kein Mensch, sondern ein Leichnam - der wirkliche Mensch ist ein lebendiges Geschehen, zu dem das Denken, das Leiden gehört. Die Bewegung, die Stimmung, die sich in diesem Menschen vollzieht, gehört zu seinem konkreten Dasein. Erst wenn ich sie begrifflich ablöse, gleichsam auf eine Dimension beschränke, sie als Begriff, den ich auf viele andere Menschen übertragen kann, als allgemein verstehe, erst dann sind sie „abstrakt". Solche Unterscheidung ist für die lebendige Sprachkritik wichtiger als man meint. So gab es einen Dichter, der die „heiten" und „keiten" verdammte. Es war nicht ganz sinnlos, vor Abstraktionen zu warnen und auf einfache konkrete Vorgänge zu weisen. Aber sind die Vorgänge und Zustände auf den höheren Ebenen bei solchem Verzicht auszudrücken? Gibt es geistige Gemeinschaft ohne Teilhabe an Platonischen Ideen? Wie schön redet Leibniz in seiner deutschen Prosa von Weisheit, Schönheit, Gerechtigkeit, Herrlichkeit. Gerade die höchsten Worte werden am meisten phrasenhaft mißbraucht, darum soll man sie sehr schonen - um sie zu pflegen, nicht zu vergessen. Ein Schulmann, der in der Bildhaftigkeit auf der Bühne das Ideal sah, drang sogar darauf, alle Wörter auf ung aus der „Dichtung" zu streichen. Aber gerade diese Wortbildungen bezeugen unmittelbar die Fähigkeit der Hauptworte beides zugleich zu bezeichnen: was sich im höchsten Vorgang der Einbildungskraft gestaltet, den Gehalt, und diesen gestaltenden hervorbringenden Akt selbst. „Vorstellung". „Gnade" kann abstrakt sein, „Begnadung" ein konkreter Vorgang. Und kennen wir eine höhere Vorstellung als „Schöpfung": der höchste Akt und das All der Geschöpfe zugleich. (Aber es ist Brauch voreiliger Kritiker geworden, ohne Begründung irgendeine sprachliche Laune 80

als Norm zu setzen und kritisierend das Sprachgefühl der Hörenden, vielleicht auch der Sprechenden zu verwirren.) Es gibt Menschen von hoher dichterischer Empfänglichkeit, die als höchste Form der Dichtung Goethes „Selige Sehnsucht" preisen. In der Liebesnächte Kühlung, Die dich zeugte, wo du zeugtest, Überfällt dich fremde Fühlung, Wenn die stille Kerze leuchtet. Nicht mehr bleibest du umfangen In der Finsternis Beschattung, Und dich reißet neu Verlangen Auf zu höherer Begattung. In acht Reimworten sind vier auf ung. Kühlung ist mehr als Kühle, der wirkliche Vorgang statt der Abstraktion, Fühlung mehr als Gefühl, ein neues Geschehen; ebenso Beschattung dynamischer als Schatten. Begattung, auf höhere Ebene gehoben, wird zum Urbegriff des Schöpferischen. Diese vier Worte sind es, die geheimnisvoll den Klang der glühenden Mitte dieses niemals rational ausdeutbaren Gedichtes geben. (Deuten heißt ach so oft vom Wesentlichen ablenken, wenn es nicht bewußt nur Vorstufe des Verstehens bleibt.) Und so klingt zugleich die Frage auf: Was ist das Vollkommene, die wahre höchste Wirklichkeit? Finden wir es durch Abstraktion, durch Ausschaltung alles Zufälligen, Vereinzelten, Kontingenten, des Ich, in abstrakter Allgemeingültigkeit? Finden wir das Objektive durch Ausschaltung alles Subjektiven? Oder ist vielmehr das Höchste die Einmaligkeit des Erlebnisses? Das menschliche Ziel umschreibt Leibniz in der Gotteskindschaft, in der Teilnahme am Schöpfungsakt. Nicht die Notwendigkeit, sondern die Kontingenz. Daß Leibniz diese Kontingenz einmal auch Zufälligkeit nennt, ist mißverständlich. Den Zufall nennt er eindeutig „hazard". Notwendig ist das gesetzmäßig voraus zu Berechnende, das Mathematisch-Rationale. Dem gegenüber ist das Kontingente die Freiheit der Schöpfung, die niemals voraus zu beredinen ist. Die schöpferische Ursache bleibt Geheimnis, aber ins Bewußtsein tritt sie als Planung. Die schöpferische, die wahrste „Ursache" ist niemals aus exakter N o t wendigkeit erklärbar, wenn sie auch oft durch die N o t hervorgetrieben wird. Die Schöpfung der Welt selbst ist ja nur als „Überfluß", nicht als notwendig zu begreifen. Das ist der Unterschied im Geist der Forschung: Einerseits die vom Mathematiker geforderte Notwendigkeit, mechanische Kausalität, Determinismus, dem vierdimensionalen Weltbau angemessen, andrerseits die Kontingenz, die Teleologie, die schöpferische Freiheit. Aber doch redet auch höheres Denken sinnvoll von Gesetz, von Notwendigkeit. Leibniz bezeichnet sie richtig als die „hypothetische Notwendigkeit". Wenn einmal ein schöpferischer Gedanke zur wirkenden Ursache wird, sich als Planung entfaltet, dann ist von ihr aus ge-

6 Hildebrandt,

Philosophie

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sehen vieles gesetzmäßig, notwendig. So ordnen sich der als Schöpfung begriffenen Welt audi manche „Naturgesetze" als notwendige Mittel ein. Leibniz nennt sie großartig „Gewohnheiten Gottes". Welche für die menschliche N a t u r als unbedingt empfundene Notwendigkeiten ergeben sich für die Mutter aus der Geburt des Kindes, welche Gesetze für den Mann aus der Übernahme eines Amtes? Um einen Lebenssinn zu finden, kann der Mann ein Lebensgesetz frei wählen, das er dann vielleicht nicht mehr abwerfen darf. Anerkannte Notwendigkeiten sind es, die dem Leben der schöpferischen Freiheit erst Möglichkeit verleihen. Goethe erkannte, auf das künstlerische Schaffen bezogen, daß erst das anerkannte Gesetz unserm Schaffen die Freiheit gibt, wie erst das harte Skelett unsern ausgreifenden Bewegungen die Freiheit verleiht. Damit wird auch deutlich, warum die Fortführung des Dimensionenschemas bis in die siebente, ja neunte Dimension zu leicht ins Spekulative verführt, so daß ich besondern Wert nur lege auf den Übergang von der Vier- zur Fünfdimensionalität, der Umgriffenheit des medianischen Geschehens durch das lebendige. Die Betrachtung der Welt von der schöpferischen Mitte aus ist zuletzt höher als die aufsteigende von den Dimensionen her. Über diese scheinbare Antinomie - die Gottheit als den kleinsten Mittelpunkt und als umfassende Kugel hat Dante mystisch nachgedacht. Obwohl ich mich der Vorstellung der Kugelschalen bediene, dient dies Schema doch zuerst der tieferen Erfassung des Aufbaues von unten her. Für das Zusammenwirken zweier antinomischer Betrachtungsweisen ist an eine allbekannte, doch wenig gedeutete Tatsache zu erinnern. Wie einfach läßt es sich rechnen mit dem KoordinatenSchema, der Aufgliederung in Quadrate. Sehen wir aber auf wirkliche Weltordnung, auf Makrokosmos und Mikrokosmos, so erweisen sich Kreis und Kugel als viel „natürlicher", als Bild des wahren ö r d o , als „zweckmäßiger" zugleich für das Planetensystem. Für das unmittelbare Schauen ist Kreis und Kugel näher als Quadrat und Würfel. Und ebenso für die Schöpfung vom Glutkern aus. Wer je die flamme umschritt Bleibe der flamme trabant! Wie er auch wandert und kreist: Wo nodi ihr schein ihn erreicht Irrt er zu weit nie vom ziel. Nur wenn sein blick sie verlor Eigener Schimmer ihn trügt: Fehlt ihm der mitte gesetz Treibt er zerstiebend ins all. Wie einfach ist die Berechnung mittels des Quadratsystems, aber wie ungeheure Mühen haben Kepler und Newton aufwenden müssen, um die Sternbeobaditungen in diese .rationale Rechnung zu übertragen. Und nach lebenslanger opfervoller Arbeit bleibt doch immer ein irrationaler Rest: die Zahl n, ein warnendes Signal vor dem unlösbaren Geheimnis. 82

Schöpfung ist Aufbauen. D a scheint es für den Architekten ein klares Gesetz, das Gebäude erst aufzuführen, nachdem der Keller gebaut ist. (Das wurde in die Dimensionen-Sicht übertragen.) Aber verfährt der künstlerische Baumeister im ursprünglichen Schöpfungsvorgang danach? Das Kunstwerk entsteht aus der ganzheitlichen Idee. Sie ist eine Gestaltung in Außenwänden, Kuppeln, Türmen, aber im vollen Einklang mit Innenräumen, Fluren, Treppenhäusern. Nur gerade der Keller schließt sich in der schöpferischen Planung sekundär an, aus hypothetischer Notwendigkeit. Der Vorgang in schöpferischer Kontingenz und medianischer Notwendigkeit sind grundverschieden. Mit solchen Gedanken über das Schöpferische sind wir in die Pforte zum Geheimnis eingetreten, die rationales Denken nie durchschreitet. Die verbrecherischen Entgleisungen der Menschen, die kein anderes Ziel als Macht- und Lust-Gewinn kennen, führt oft dahin, als hohe sittliche Forderung allein die Ablösung des Menschen von der Natur gelten zu lassen. Die Tierheit gilt als das Teuflische, das der Mensch ganz aus sich ausstoßen muß. Gegen diese auch heute oft wirkende Einseitigkeit wehren sich oft pantheistische Gesinnungen. Nicht die Tierwelt ist der teuflische Gegenpol zur Sittlichkeit, denn zu Zeiten können selbst Massen von Menschen bestialischer sein als Bestien. Aber Leibniz und Goethe priesen die Erkenntnis der wahren Natur, der lebendigen Schöpfung als hohes Glück, als sittliche Steigerung. Sie wandten sich gegen die Spaltung der leibhaften Welt in eine mechanische und eine menschliche, nur durch eine postulierte sittliche Freiheit ausgezeichnete. Vergebens: der Kritizismus begünstigte diese mechanische Sicht von Descartes und Newton. Der Ich-Idealismus, die strenge naturfeindliche Moral Fidites widersetzten sich der Harmonie von Leibniz. Wenn auch jedes Einzel-Ich wie Leibniz' Monade etwas von absoluter Erkenntnis in sich trug, so fehlte jenem doch das volle Erlebnis der Ich-Du-Beziehung, der Begegnung, es fehlte die Liebe, die schöpferische Weltkraft. Hölderlin war es, der 1795 in Jena in diesem Kampf gegen Fichte sein Herzblut hingab, denn es gelang ihm nicht, den verehrten Schiller auf seine Seite zu ziehen, wie aus den Jenenser HyperionFragmenten zu erkennen ist. Hyperion antwortet dem königlichen Weisen, der später Adamas heißen wird, jugendlich-überheblich, „strenge wie ich w a r " mit Fidites Lehre, er habe die Menschen auf seiner Wanderung mehr tierisch als göttlich gefunden. Adamas erweckt ihn zur tieferen, mehr pantheistisdien Einsicht. Wenn der Mensch Geist und Natur trennt, so tötet er die menschliche Empfänglichkeit, macht das Vergangene zum Zerrbild, die Zukunft hoffnungslos, die Gegenwart wüst. Selbst im Ringen mit der Natur dürfen wir auf deren eigene Willigkeit rechnen. Begegnet nicht in allem Was da ist, unserm Geist ein freundlicher Verwandter Geist? Das ist Leibniz' monadisdie Betrachtung. Wir wissen nicht, ob absoluter Geist, selbst nicht ob durchaus toter Stoff existiert, nur die Menge der (fünfdimensionalen) Monaden existiert mit Sicherheit. Sie kommen den höchsten, 6*

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den menschlichen Monaden entgegen und dienen ihnen, sich zu ihren Leibern fügend. Indem Kant und Fichte das Apriori im Ich fanden, konnten sie wohl auch ein absolutes Ich annehmen: Kritizismus, Ich-Idealismus. Aber die Trennung blieb: eine mechanistische Natur und eine nur postulierte Freiheit. Auch bei Fichte mangelte in der moralistischen Schärfe das Du-Erlebnis, die Liebe. Wenn Hölderlin in Jena scheiterte, so gewann er doch Schelling für den Platonischen Ideal-Realismus: das war die Begründung des Idealismus der Identität, dem sich auch Hegel für ein Jahrzehnt anschloß. (Hildebrandt: „Hölderlin". 52-101.) Um noch die Besinnung auf den Begriff „Abstraktion" abzuschließen: Abstrakt ist der Begriff, der der raumzeitlichen Dimensionen entbehrt, Geist ohne Leib, selbst „Wirbeltier" ohne Anschaulichkeit meint, aber nicht abstrakt ist „Begegnung", wenn sie die Begegnung Hölderlins mit Schelling zu bestimmter Zeit, an bestimmtem Ort ist. Jede Person wandelt durch viele Zeiträume, aber die Begegnung ist ein einmaliges Ereignis. Die entscheidenden Wirklichkeiten überhaupt sind einmalige Ereignisse: Offenbarungen - oder Begegnungen. Und sie stellen uns vor die Bewertung: Bejahung oder Verneinung, Folge oder Widerstreit. Der Vollzug der „Begegnung" erfüllt am deutlichsten was die Kontingenz, das Zustoßende, die Tyche, das Schicksal genannt wird — im Unterschied vom bloß mathematisch-Notwendigen das Fruchtbare, die Schöpfung schlechthin. Und wer die schicksalhaften Begegnungen in der Weltgeschichte sieht, bekennt sich wohl zum Leitwort: „Versöhnung zum Leben in Menschlichkeit, Freude, Herrlichkeit." Heute vielleicht verbrauchte „abstrakte Begriffe", aber doch Sinn der Wirklichkeit, unsrer konkreten Aufgabe. Das ist die Vollendung des Idealrealismus in der „Deutschen Bewegung", die im begrifflichen System Schelling vollzog. Aber wesentlicher als dieser Systemkrieg ist das ganzheitliche Geschehen, das in der Dichtung schon vordem, unabhängig von Kritizismus und Ich-Idealismus vor sich ging. Philosophie ist Streben nach Lebensweisheit, nicht Spezial-Wissenschaft, aber wir verstehen hier auch Metaphysik als Erlebnishöhe, als Seinshöhe des Denkers, nicht als logisches Begriffssystem. Der Weg mit Herder und Goethe, Schiller und Hölderlin wird entscheiden, ob wir dazu ein Recht haben. Die Sprache dient in der Wissenschaft lückenlos aufzubauen, in der Dichtung Umfassenderes, zugleich tiefer Dringendes zu offenbaren. Nimmt man diese Namengebung an, so gehören Goethe und Hölderlin zu den größten Metaphysikern, während Kant Gründer der philosophischen Fachwissenschaft ist. Bleiben Herder und Goethe auf Leibniz' Weg, so kehren Hölderlin und Schelling kritisch vom Kritizismus zurück auf Leibniz als ihren neuen Ausgangs-Grund. Die Monade, ein Ganzes, ist auf dem Wege das Allganze zu spiegeln, das Innen und Außen. Vordem, als der junge Herder sich von Kant zur großen Reise verabschiedet, ist dieser noch nicht Kritizist, ist noch Leibnizianer. Wenn aber die Geist-Monaden jener Zeit auf ihrem Wege erstarren in französischer Zivilisation, in spezialistischer Gelehrsamkeit, dann geht der Weg zur wahren Weisheit nur durch die Verjüngung. Mit dieser Idee weckt Herder den jungen 84

Goethe und beide finden ihren Halt in Hamanns Satz: „Alles, was der Mensch zu leisten unternimmt, es werde nun durch Tat oder Wort oder sonst hervorgebracht, muß aus sämtlichen vereinigten Kräften entspringen: alles Vereinzelte ist verwerflich." Der Hahnenschrei der Verjüngungsbewegung. Nur die Sprache, die Dichtung kann diese Ganzheit der elementaren und geistigen Natur umfassen, deshalb ist in der Volkspoesie der Jugendquell zu finden. So heißt der zweite Grundsatz: „Die Poesie ist die Muttersprache der Völker." Das bedeutete auch Nahrung aus Bibel und antiker Dichtung, nicht Rückkehr in einen primitiven Urzustand, denn sie suchten eine Steigerung der dichterischen Dynamik. Im Jünglingsalter fanden sie die höchste Glut, und aus ihr sprühte - Monade und Universum - zugleich der Freundschaftsbund wie die kosmische Schau, jenem Bilde des Planetenkreisens entsprechend. - Goethe schrieb 1771: „Herder, Herder, bleiben Sie mir, was Sie sind. Bin ich bestimmt, Ihr Planet zu sein, so will ich's sein, es gern, es treu sein. Ein freundlicher Mond der Erde. Aber daß - fühlen Sie's ganz - daß ich lieber Merkur sein wollte, der letzte, der kleinste vielmehr unter den sieben, als der erste unter fünfen, die um den Saturn ziehen." "Wenn Herder so in der Jünglingsnatur das Element der Poesie fand, so wollte er ihr doch nicht allein die Leistung überlassen: er verlangte aber, daß der schaffende Mann auch die Jünglingskräfte der Poesie bewahre. Das ist der hohe Rang der Dichtung und Metaphysik: Ursprung aus Ganzheit, Boden der Verjüngung. Als Hölderlin in der Empedokles-Dichtung stockte, bahnte er sich in höchste Metaphysik den Weg durch ein Fragment über den Mythos, das „Uber die Religion" genannt wird. Ich hatte nirgends eine befriedigende Deutung gefunden, vermutlich weil die Leser nicht wußten, daß dies schwierige Fragment nur aus Leibniz' Weltsicht zu deuten ist. Jeder Mensch hat seine eigene WeltSphäre, darum seinen Gott. Aber alle Religionen sind ihrem Wesen nach poetisch, sie leben in der Sphäre des schöpferischen Geistes, in der die gemeinsame Gottheit, der „Gott der Mythe" waltet. Diese Gemeinschaft, „dies harmonische Ganze der Vorstellungsarten", dies Reich der Kontingenz liegt oberhalb des Reiches der bloßen Notwendigkeit oder „Notdurft" im Mechanischen und Sittlichen, wozu für Hölderlin wohl auch Kants Pflichtgebot gehört. Die Region der Freiheit dagegen ist die Vereinigung der dichterischen Vorstellungen, „wo jeder sein höheres Leben und alle ein gemeinschaftliches höheres Leben, die Feier des Lebens mythisch feiern." Welche Offenbarung entwickelt aus der Kosmischen Sicht von Leibniz! Das ist nicht Mystik, die alle Gestaltenwelt auflöst, nicht Magie, die mit Zaubermitteln die Umwelt zwingt: es ist echte Religion des Mythos. Was er danach als Hymnendichter, als mythischer Bote getan hat, soll hier nicht angerührt werden. Wenn aber von der metaphysischen Formel zu reden ist, so bekenne ich, keine höhere gefunden zu haben als die von Goethe, als er sich selbst historisch wurde. Ich scheue mich nicht, sie auch hier zu wiederholen. Wie Hölderlin setzt er voraus, jeder Mensch habe seine eigene Religion, und er malt die seine aus - nicht ohne daß eine kleine Selbstironie erkennen 85

ließe, daß er in Wahrer Ehrfurcht einen gewissen Zweifel an diesem individuellen Recht auch für sich selbst, dem vom Volk anerkannten Dichter spürt. Zwar läßt er Neuplatonismus, Gnostik, Kabbala in dies Bild einfließen, wissend: echter Mythos kann dies aus Literatur und Phantasie gesdiöpfle Bild nicht sein, wenn es nicht eine überindividuelle Kraft offenbart. Wie Hölderlin findet er den mythischen Gott, ein Überindividuelles, Universales, im Einklang von Religionen und Philosophien. Dies, was er zusammengreifend, wenn auch nidit ganz adäquat, vorher als Mythos erzählt hat, spricht er zuletzt ohne Bedenken als erkannte Wahrheit aus: „Die Geschichte aller Religionen und Philosophien lehrt uns, daß diese große, den Menschen unentbehrliche Wahrheit von verschiedenen Nationen in verschiedenen Zeiten auf mancherlei Weise, ja in seltsamen Fabeln und Bildern der Beschränktheit gemäß überliefert worden; genug, wenn nur erkannt wird, daß wir uns in einem Zustand befinden, der, wenn er uns auch niederzuziehen und zu drücken scheint, dennoch Gelegenheit gibt, ja zur Pflicht macht, uns zu erheben und die Absichten der Gottheit dadurch zu erfüllen, daß wir, indem wir von einer Seite uns zu verselbsten genötigt sind, von der andern in regelmäßigen Pulsen uns zu entselbsten nicht versäumen." (Dichtung und Wahrheit V I I I , Schluß.) Goethe baut diesen Schöpfungsmythos auf die beiden Begriffe „Konzentration und Expansion", deren erste die Materie, die zweite das Licht hervorbringen. Zweifellos hat er diese Begriffe Lessings Hinweis an Jacobi im Pantheismusstreit entnommen. „Erinnern Sie sich einer Stelle des Leibniz, wo von Gott gesagt, derselbe befände sich in einer immerwährenden Expansion und Kontraktion: diese wäre die Schöpfung und das Bestehen der Welt?" Die meisten Metaphysiker suchen den einen Begriff, aus dem sie die Welt ableiten möchten - Goethe und Schelling gehen von der Polarität aus, die Goethe hier von Leibniz entnimmt. Aus dieser Spannung ergibt sidi dann das schöpferische Prinzip der Steigerung, das eigentliche Triebrad der irdischen Schöpfung. Wenn durch das Versanden der Schulmetaphysik Leibniz in Vergessenheit geriet, so lebt seine Sidit, dichterisch gesteigert, zwar ohne seinen Namen, für uns Deutsche fort im Faust, in der Geistbeschwörung, die die sehr persönlich von Herder im Schiffbruch erlebten Vorstellungen bewahrt. Den Makrokosmos, die kosmische Harmonie, erblickt Faust mit Entzücken, dann allerdings vermißt er an ihm das Wesentliche der Monaden-Metaphysik: das in Analogie des Erdgeistes im Mikrokosmos, in der eigenen Monade, als das Höchste: die Tätigkeit, das schöpferische Welterleben geschenkt wird.

VI. NICOLAI H A R T M A N N GEGEN LEIBNIZ Die genetische Betrachtung der Umwelt, die Idee der Entstehung der Arten, die mich als Knaben begeistert hatte, war wie der ganze Begriff „Entwicklung" 86

den geistigen Denkern sehr verdächtig geworden, weil sie durch Darwin tendenziös mit der mechanistischen Deutung untrennbar verfilzt schien: aber ich brauchte sie nicht aufzugeben, denn sie ist die schöpferische Betrachtung der Natur, in der pantheistischen Sicht Leibniz', Herders, Goethes als Widerlegung der mechanistischen Deutung lebendig wirksam. Das Schema der fünf Dimensionen hatte mir genügt, Klarheit und Recht der mechanistischen Wissenschaft zu bezeichnen und zugleich (als der bloß vierdimensionalen) abzugrenzen. Seitdem hatte ich mich um das Verstehen des geistig-schöpferischen Geschehens, des Wachstums vom Mittelpunkt her (dem ja jenes Schema von vornherein angepaßt war) zu fördern. Nicolai Hartmanns Ausgang vom „Darwinismus" und vom Neukantianismus, das Ziel, die grundsätzliche Kluft zwischen sogenannter Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft zu schließen, weckten mein starkes Interesse. Ich durfte hoffen, daß sein Schema die vier Schichten: anorganisch (oder physisch) - organisch - seelisch - geistig einen sehr ähnlichen Weg wie mein Schema der fünf Dimensionen (1911-20) bahnen würde. Als ich aber später seine „Metaphysik der Erkenntnis" las, fand ich, daß seine Richtung der meinen entgegengesetzt war. Dazu stimmt es, daß er einer der Leibnizfremdesten Denker ist. Diese beiden Unterschiede zeigen sich mindestens darin, was mir nach meinem Wertgefühl das Wichtigste zu sein scheint, wenn echte Lebensweisheit den Menschen versteht und leitet. Da mich um 1940 herum meine Schüler drängten, meine Philosophie nicht nur in Gestalten der Geistesgeschichte, sondern in eigener systematischer Begründung bekanntzumachen, so unternahm ich, mein Ziel in systematischer Hinsicht zu verdeutlichen und dafür schien mir das Zweckmäßigste, in einer kritischen Abhandlung meinen Gegensatz zu Hartmann darzulegen, dessen scharfsinnige und überaus subtile Analysen damals eine starke Wirkung auf philosophische und manche naturwissenschaftlichen Denker gewannen. Diese Abhandlung wurde auch gegen Ende des Krieges gedruckt — aber leider nur auf Korrekturbögen. Ich erwartete sie im nächsten Heft der Kantstudien, aber in diesem fehlte sie und dann stellten die „Studien" für eine Reihe von Jahren ihr Erscheinen ein. (Die Vorgänge sind mir unbekannt, und ich besitze nur das Manuskript von 61 Seiten.) Schichtenbau, Kategorialanalyse, Ontologie gehören in Hartmanns Werk nahe zusammen. Mich interessierte damals besonders „Der Aufbau der realen Welt". Wenn er nun voraussetzt, daß auf jeder Stufe ein Novum entsteht, daß aus den niederen Stufen nicht zu erklären ist, daß etwa organisches Leben etwas Höheres ist als der mechanische Verlauf, Seele etwas Höheres ist als vegetabiles Leben, so fühlte ich mich mit dieser klaren Ablehnung des Mechanismus im Einklang. Aber die Kluft, ein unüberbrückbarer „Hiatus" zwischen manchen Schichten, widersprach dem Sinn meines Schemas der schöpferischen Natur. Hartmann verfuhr durchaus nicht in Beschränkung auf die medianische Schicht, aber im Grunde behandelte er doch jede der vier Schichten für sich ähnlich wie ein mechanistischer Denker, analysierend. War die Schöpfung so zerlegt, so schwand die Möglichkeit, sie wieder zum Ganzen zu fügen. 87

Hartmann hält es nicht für ganz unmöglich, daß sich aus der anorganischen Schicht organisches Leben entwickelt, aber den Hiatus zwischen vegetativem und seelischem Leben hielt er für unübersteigbar. J a gerade diesen Hiatus rühmte er als sein Standardbeispiel, denn das seelische Leben verlaufe nur in der zeitlichen Dimension und entbehre der räumlichen. Er sieht die Kategorien bisweilen durch mehrere Schichten aufsteigen und dann abbrechen oder modifiziert werden. Aber gerade deswegen vermied ich den Ausdruck Schichten und führte analogisch den Begriff der mathematischen Dimensionen weiter, solange er sich bewährte, das Gefüge in Gedanken festzuhalten. Ein mathematischer Körper besteht nicht innerhalb der dritten Dimension, sondern im dreidimensionalen Kontinuum, der physische Körper, stofflich dauernd, im vierdimensionalen. - Trotz starker Kritik an Kant behält Hartmann gerade dessen irreführende Trennung in dreidimensionalen Raum und eindimensionale Zeit bei. Gibt man die ganzheitliche Auffassung nicht preis, stellt sich alles Lebendige als fünfdimensionale Verleiblichung, das beseelte Tier und der geistige Mensch als sechs- und siebendimensional dar. Aber selbst wenn ich von dieser so natürlichen Auffassung absehe, daß das seelisdie und geistige Erlebnis Akte der Leib-Seele-Einheit sind, sondern sie phänomenologisch für sich betrachte, so kann ich wohl sagen: im Bewußtsein, im Unterbewußtsein mag die Zeit wesentlicher sein als die drei räumlichen Dimensionen - aber fehlen diese darum wirklich? Der Ton, die Sprache ist etwas, was den Raum erfüllt, von ihm Kunde gibt. Es gibt keine Zeit-Vorstellung, wenn ich mir keinerlei Räumliches vorstelle: Zeit ist mir nur im vierdimensionalen Kontinuum gegeben. Nach Leibniz besteht die Welt nur aus (fünfdimensionalen) Monaden, die potentiellen Spiegel des Universums, deren Bewußtsein sich zum Bild eines Makrokosmos ausweiten kann. Und dies Bewußtsein kann weit über die Erde wirken. (Daß ein großer Teil der Materie aus vierdimensionalen Korpuskeln bestehe, könnte dieser Hypothese ohne ihr Gefüge zu stören, beigefügt werden.) Metaphysik ist Weltinterpretation. Welches Mittel dieser Erkenntnis bleibt uns, wenn die höchste uns bekannte Erscheinung der Monaden, der Mensch, diese Monade, die wir auch Innen als Ganzes erleben können, vom Philosophen mitten entzweigeschnitten wird in einen mechanischen Körper und eine unkörperliche Seele, vielleicht auch einen seelenlosen Geist? Nur aus Furcht vor dem Anthropomorphismus? Gewiß sind bloße Analogien nur vorsichtig zu verwenden, und der Kosmos nicht als Makranthropos zu deuten. Aber wenn wir die weltschaffende Kraft im Symbol zu fassen versuchen, dann ist der gestaltende Mensch und seine eigene Gestalt immer noch das höchste Symbol. Schlimmer ist mein Schema nicht mißzuverstehen als in der Vergleichung mit Hartmanns vier von einander getrennten Schichten. Ein ganzheitlicher Kosmos kommt bei diesem nicht zustande, die Beziehung der vier Schichten, abgesehen von ihrer Rangordnung, bleibt unklar. Jede höhere Schicht liegt auf der niederen, ohne organische Verbindung, vielleicht mit e i n e r durchlaufenden Kategorie. Die Gebilde der höheren Schicht sind schwä88

eher als die der niederen - vermutlich, weil ein Stein ein Gehirn zertrümmern kann. Aber ist der beseelte vernünftige Mensch, der einen Acker bebaut, ein Haus aus Steinen aufbaut, schwächer als solch ein Stein? Und der Mensch im Besitz der Atombombe? Diese Art der Schichttrennung mag einem kategorialanalytischen Schema dienen, manche logischen Abstraktionen erleichtern, aber schwerlich die Erkenntnis der Existenz fördern*. Idi glaubte, ein tieferes Ernstnehmen von Leibniz, ein kosmisches Umgreifen unserer Erfahrungen, könne auch manche philosophischen Quellen wieder öffnen. Mit hoher Spannung griff ich 1946, beim Leibniz-Jubiläum, zum Abdruck des Vortrages, den gerade Nicolai Hartmann in Göttingen über „Leibniz als Metaphysiker" hielt. Da mußte mein Anliegen erklärt werden. - Mein Wunsch nach Klarheit der Auseinandersetzung wenigstens wurde nicht enttäuscht. Hartmann fand, Leibniz' Metaphysik sei unserer Zeit „ganz fremd geworden". (Trotz Dilthey?!) Wesentlich Neues sei darüber auch nicht mehr zu erwarten. Diese Einleitung bekennt, daß Hartmann im Grunde nur als Gelehrter das Gegebene analysieren, aber keinen lebendigen Impuls wekken wollte. Seine persönliche Absicht enthüllen die drei letzten Seiten. Er vergleicht Leibniz' Lehre mit zwei Schächten, die im Innern des Gebirges nicht ganz zu einem Tunnel zusammentreffen: der eine als Methode der einfachen Allgemeinbegriffe (Universalien), der andere als die der Individuen, Monaden. Unsere Aufgabe aber, beide Schächte zu verbinden oder doch diese Möglichkeit zu erforschen, (ich glaubte in meiner Leibniz-Darstellung - schon 1939 im Kolleg, in Hölderlin- und Goethe-Monographie - diesen Weg gebahnt zu haben) lag ganz außerhalb Hartmanns Plan. Er glaubte vielmehr mit seiner Kategorialanalyse, auf Grund seiner „Neuen Ontologie" zu beweisen, daß jener zweite Schacht überflüssig, ja schädlich sei. „Aber zu ihr hatte er sich den Weg verbaut - mit seinem Begriff der Monade" (27). Also diesen Schacht läßt er verfallen, aber den andern, den der Logik und Ontologie glaubt er auf dem Wege von Wolff bis zum Ende, zum Licht durchbrochen zu haben (13). Und auf diesem Wege beleuchtet er nicht die großartige Weltsicht, die Interpretation des Weltgeschehens, sondern zählt uns sogleich neun unheilbare Widersprüche darin auf (7f). Also zurück zur dünnen Aufklärer-Logik ohne Monade, d. h. ohne Leibniz. In dieser geschichtlichen Ableitung des Mitte-Gedankens, der Persönlichkeit, glaubte ich Hartmann überlegen zu sein durch ein unbefangenes Studium von Piaton, Goethe, Nietzsche... Hartmann findet das Problem der Individualität überflüssig, weil die Individuation von einer gewissen Höhe derBesonderung „ganz von selbst zustande" komme (26). „Alles Reale ist individuell", Dinge, Personen, Ereignisse... ephemere Augenblickzustände. Genug daß diese Momente alle einmalig und einzig sind, aber falsch von Leibniz, daß er noch „Substanz" von ihnen verlangt. Also diese zwei Maschinen sind wie diese zwei Menschen individuell, weil sie nicht ganz genau übereinstimmen können? Aber dies Urgeheimnis, daß dieser eine Mensch mein Ich, ein anderer dein Ich ist, das geht als selbstverständlich mit. Daß ich in diesem andern Menschen ein Du erkenne; das auch mich als Du erkennt, 89

als ein anderes Ich, darüber staunt der Denker nicht? Bin ich nach siebzig Jahren noch der Gleiche? Nein, die Kongruenz, aber auch das Einmalige und Einzige des „ephemeren Augenblicks" reicht nicht aus zur Identität. Wie ungleich kann der Verhaftete mit dem einstigen Mörder vor vierzig Jahren sein. Identisch, nicht kongrunt, nicht ähnlich (Treffend nennt die Polizei ihn mit jenem einst Gesuchten „persongleich"). Diese Identität von Geburt bis zum Tode weist auf eine (mindestens relative) „Substanz" gegenüber den ephemeren Augenblicken. Alle Einzelzüge, auch „die Freuden und Leiden" sollen nach Hartmann an sich nicht individuell, sondern real-allgemein sein - erst die „komplizierte Zusammensetzung" die Individualität ergeben. (Daß dies zu Nietzsches Wiederkehr führt, schließt Hartmann nur dadurch aus, daß sie „viel zu kompliziert" sind.) Das gleicht dem Chaos von Einzelzügen bei Mach, einem anarchischen Atomismus aufs Seelische übertragen. Wenig besagt es, wenn Hartmann dem menschlichen Zweckwillen, der Freiheit dann doch auf der vierten Schicht eine Kategorie einräumt, da diese keinerlei Sinn im Zusammenhang des Kosmos hat. Metaphysik, Interpretation des Innen und Außen im Mikrokosmos und Makrokosmos, ist anderes als begriffliche Analyse, anderes als willkürliche, hypothetische Ergänzung - mag man es weniger oder mehr nennen. Auch das Kleinstkind erfaßt nicht analytische Empfindungspunkte, sondern sechs- und siebendimensionale Gestalten. Welche Verirrung, daß es erst auf Grund eines Analogieschlusses, einer Vergleichung des eigenen und des fremden Leibes auf eine Beseelung schlösse! Solchem Gedanken-Spuk hatte die Phänomenologie ein Ende gemacht - wo das noch nötig war. Hartmanns Methode war nicht die ganzheitliche, nach dem Symbol der konzentrischen Kugeln, sondern die Summierung der Probleme, die Beobachtung der „Problemlage" ist sein Grundsatz, die Feststellung der Lücken im Problem-Wall, die in der aktuell gegebenen Situation auszufüllen sind. Die Situation ist so gegeben, nach dem Sinn zu fragen, hat keinen Sinn: das würde Teleologie voraussetzen. D a wurde ich mir meines Vorteiles bewußt, daß ich mich seit vielen Jahren nicht um Probleme, sondern um Gestalten, um Goethe und Nietzsche, um Piaton und nun auch um Leibniz immer von neuem bemüht hatte. Auch da hatten sich Probleme gelöst, aber von einer gemeinsamen Sinnbetrachtung her, nicht aus zufälligen Situationen. Mag der Begriff der Monade, den Hartmann ausmerzen will, nicht vollkommen sein — wie nahe steht doch die Monaden-Idee der metaphysischen Erkenntnis des kosmischen Geschehens! Hartmann bemerkt als gebildeter Kantianer, daß Leibniz unsere Mathematik apriori zu einer Welterkenntnis apriori erweitert, aber er erinnert sich nicht, daß dies schon die Lehre im M E N O N ist und daß im T I M A I O S der Funke, der göttliche Urkeim des Individuums, beheimatet jeder auf seinem Stern, eine substantielle Mcmade ist, wie Aristoteles mit etwas anderen Voraussetzungen diese Substanz als Entelechie begreift. Und dies alles, nachdem Piaton im T I M A I O S die atomistische Physik noch zur molekularen ver90

feinen hat - in der Erkenntnis aber, daß diese Wissenschaft nur die physische Notwendigkeit, niemals aber die schöpferische Freiheit erkläre. Allerdings ist Hartmann nicht repräsentativ für die neuen Gedanken der Philosophie. Unmittelbar aus den mikroskopischen Beobachtungen an den befruchteten Eizellen - wie nahe auf diesem Sektor dem denkenden Sdiauen Leibniz (Infusorien und Spermatozoen) - erkannte Driesch die Wirksamkeit der Entelediie. Auch die Psychologie wurde neu geschaffen durch die Ganzheitsbetrachtung. Die großen Physiker erkannten die Grenzen der mathematischen Analyse, so auch die Freiheitsgrade der Elektronen. Aristoteles, Thomas, Duns Scotus verdrängten die einseitigen mechanistischen Spekulationen, und die Wesenschau, die Platonische Idee, erwachte wieder in der Phänomenologie. Dodi war Hartmann ein Repräsentant des säculären Übergangs, ein führender Kopf der Universitäts-Philosophie. Gegenüber dem Ich-Idealismus und anderen Spekulationen war er offen für alle realen Wissenschaftsgebiete, für den Realismus, für den notwendigen Beitrag des Positivismus, ohne Unterwerfung unter Pragmatismus und Relativismus. Begreiflicherweise wirkte er auf die Naturforscher, die sich auf die philosophischen Grundlagen besannen. Durfte man nicht gerade von ihm die notwendige Überbrückung der Kluft zwischen „Geist- und Naturwissenschaft" hoffen? Philosophisch war sein Anspruch, die Probleme aller Spezialfächer einzuordnen - unphilosophisch sein Verzicht auf ein ganzheitliches Prinzip, seine Bescheidung, bloß die Summe der zutage liegenden Probleme in vier Gruppen, Schichten, logisch einzuordnen. Also nidit Spezialist, weil er alle Probleme sichten wollte, und doch bloß Repräsentant aller Spezialistenproblematik. Die Teleologie sah er nicht als Problem, sondern als grundsätzlichen Irrtum, soweit sie die psychologische Kategorie des Menschen überschritt. Aber kann man leugnen, daß die Organe der Organismen, Herz, Flügel, Auge (der Sonne korrespondierend) zweckmäßig sind? Für das organische Leben alle Teleologie ausschalten und auf nicht nur zweckunbewußte, sondern nicht zweckgerichtete Selektionen zurückgreifen, das führt leicht in die Nähe des Vulgärmaterialismus oder zersetzt durch die Kategorialanalyse jeden genetischen Zusammenhang im irdischen Leben, im Kosmos ohnehin.* Gewiß kann sich der Philosoph von dieser weltschaffenden, gestaltenden Kraft, diesem Analogon des menschlichen Geistes, keine Vorstellung machen. Aber noch weniger kann er das Postulat leugnen, daß alles nicht rein Mechanische, wenn nicht die Welt überhaupt, in allem, was sinnvoll erscheint, von einer Urkraft „erstrebt" sein muß. In diesem Streben mußten Idiheit und Vernunft irgenwie mindestens potentiell enthalten gewesen sein. Ich glaube nicht, daß man irgendwie zurückhaltender und doch tiefer darüber urteilen kann als Hölderlin, der im Frühling 1801 darüber schreibt: „Es ist nur ein Streit in der Welt, was nämlich mehr sei, das Ganze oder das einzelne... A Deo principium. Wer dies versteht und hält, ja bei dem Leben des Lebens! der ist frei und kräftig und freudig, und alles Umgekehrte ist Chimäre und zergeht insofern in Nichts. Und so sei denn auch unter uns . . . a Deo principium . . . alles unend91

liehe Einigkeit, aber in diesem Allem ein vorzüglich Einiges und Einigendes, das an sich kein Ich ist, und dieses sei unter uns Gott!" Man sage nicht, Hölderlin rede als Dichter, H a r t m a n n als Philosoph, sondern H a r t m a n n redet als Kategorialanalytiker, Hölderlin als Metaphysiker. O b dies prineipium eine Person sei, läßt der Philosoph hier unerörtert, obwohl man vermuten könnte, nur aus einem Ich könne Persönliches entspringen. Aber ob dies Ich eine Person ist, der sich der Priester oder sogar jeder Durchschnittsmensch auf Du und D u nahen kann, bleibt der Religion überlassen. Dies ist die Spitze, in der Philosophie und Theologie sich trennen. Die rationale Betrachtung, methodisch in Descartes analytischer Geometrie und rechtwinkligem Koordinatensystem, entspricht Schellings „negativer Philosophie". Der lebendig-schöpferischen Welt nähern wir uns zuletzt durch das Schema konzentrischer Kugeln mit dem zeugenden Mittelpunkt, der paradox, wie es Dante empfand, der weitesten Kugelschale korrespondiert. Man denkt weiter an die mathematischen Gleichnisse des Nikolas von Kues, der unendlichen Kugel, deren Mittelpunkt überall ist. Es gibt hier eine großartige Denk- und Schau-Art der größten Denker, die allerdings vielen bedeutenden Denkern fremd bleibt: die Analogie zwischen Minimum und Maximum, zwischen Monade und Gott und ihren unendlich vielen Zwischengraden. (Eine Unendlichkeitsmethode, die tatsächlich die Gefahr in sich trägt, die Gestaltenschau zu verwischen und die irdische Welt um das rechte Gewicht zu betrügen. Sie kann nur den Rahmen wirklicher Gestaltung abgeben.) So trägt auch H ö l derlins Hyperion den Leitspruch: „ N o n coerceri maximo, contineri minimo, divinum est." Goethe, dessen Jubel über die Entdeckung des menschlichen Zwischenkiefers ganz vom Bewußtsein der pantheistischen Analogie getragen wurde, hat später in den Gedichten „Gott und Welt" und im „Diwan" diese Schau ausgesprochen, um nicht zu sagen gejubelt: „Klein das Große, groß das Kleine, Alles nach der eignen Art." „Ist nicht der Kern der N a t u r Menschen im Herzen?" „Soweit das Ohr, soweit das Auge reicht, Du findest nur Bekanntes, das ihm gleicht, Und deines Geistes höchster Feuerflug H a t schon am Gleichnis, hat am Bild genug; Es zieht dich an, es reißt dich heiter fort, U n d wo du wandelst, schmückt sich Weg und O r t . D u zählst nicht mehr, berechnest keine Zeit, U n d jeder Schritt ist Unermeßlichkeit." Wie es der Fluch der radikalen Analyse ist, kein Ich und Du zu finden, so findet sie keine Gegenwart, denn ihre Gegenwart ist nur Grenze, nur Null zwischen Vergangenheit und Zukunft. Erkenntnis der Wirklichkeit heißt darum, im rationalen Raumzeitkontinuum das substantielle Ich, das Wir und unsre Gegenwart zu konstituieren. Die erlebte Zeit setzt sich aus Augenblicken von 92

merklicher Dauer zusammen. Zwei schnell aufeinander folgende Striche werden vom Auge als bewegter Strich erfaßt, eine rhythmische Folge von Luftschwingungen wird als Ton gehört: so könnte man eine Kurzdauer der Gegenwart bis ins Physiologische verfolgen. In der Dauer des Augenblicks ist uns keine eindimensionale Zeit, wohl aber der Raum und in ihm, oder richtiger ihn mit umfassend eine vierdimensionale gegeben ( - wie könnten wir sie erfahren, wenn sie nicht apriori vorstellbar wäre?). Aber auch eine ganze Melodie hat eine Gegenwart, ist nicht als bloße Vergangenheit gegeben. Eine Sinfonie, die Homerischen Gesänge - gestalten sie nicht eine Gegenwart im Verlaufe von Stunden, von Wochen? Um die Welt, außen und innen, zu erfassen, brauchen wir wechselnde Mittel des Schauens und Denkens, die sich in glücklichen Augenblicken dem Gefühl und der Vision einmal gestalthaft fügen. Man rechnet da mit begreiflichen Gegensätzen vom leiblichen und seelischen, oder vom körperlichen und geistigen, oder gar natürlichen und geistigen Geschehen, die - an sich völlig unvergleichbar - sich gegenseitig umfassend dann auch gar nodh parallel verlaufen sollen. Mit einem siebendimensionalen Kontinuum haben wir die Entgegensetzungen dieser schiefen Begriffspaare überwunden und können dem Umfassenden immer wieder Raum geben. Aber ganz befriedigend, exakt, geklärt wird dadurch nur das mechanische Geschehen im vierdimensionalen Kontinuum, denn sobald im Fünfdimensionalen auch das Lebendige wahrnehmbar wird, wird etwas rational nicht Meßbares erkennbar. Nicht in einer zweiten Schicht, auch nicht in einer fünften Dimension, sondern nur in fünfdimensionaler Ganzheit ist schöpferisches Geschehen beschreibbar. Aber je höher es sich entfaltet, um so weniger genügt dies Koordinaten-System, den schöpferischen Willen ganz zu durchleuchten. N u n aber hilft uns auch die kritische, die ichidealistische Einsicht, daß die Wahrnehmungen mir nur als Erscheinungen in meinem Bewußtsein gegeben sind, deren Beziehungen zu Dingen an sich grundsätzlich meine Denkmöglichkeiten überschreiten, auch nicht weiter - wenn sie nicht schon zu weit geht. Die „erkenntnis-theoretische" Hypochondrie, IchIdealismus, Phänomenalismus zu überwinden, ist die erste metaphysische Aufgabe. Der Mensch, der ein Du als ein Ich erkennt, erkennt mehr als eine bloße Erscheinung - er erkennt ein „Ding an sich", eine (mindestens relative) Substanz in ihrer hohen Form: eine Geist-Monade. Dies grundsätzlich zu bezweifeln, ist meist unfruchtbare Spekulation - wenn wir im einzelnen auch noch so vielen Fremdheiten und Täuschungen ausgesetzt sind. Diese metaphysische Grundlage, von Descartes verfehlt, hat uns Leibniz gesichert. Half uns das Dimensionen-Schema aus dem Exakten, dem fast nur Quantitativen den Schritt ins Qualitative, aus bloßer Erscheinung in die Existenz zu vollziehen, dann muß es als bloßer Rahmen bleiben, und das lebendige Geschehen fordert noch jene andere Formel: das Wesentliche in den sich mehrenden Dimensionen ist die fruchtbare, ihnen gemeinsame Mitte, der lebendige, der glühende Kern, der in die Umwelt ausstrahlt, der eine wechselseitige Beziehung zu den Monaden seines Feldes aktiviert, die umgebenden Monaden für einen gemein93

samen Organismus erweckt und gewinnt. Das ist der Schritt in die Metaphysik (oder welchen Namen man heute dafür wählen mag), den zu verbauen Kant sich so selbstlos bemüht hat. W i r wissen, daß seit Galilei die rationale, mathematische Betrachtung als wissenschaftliche Methode sich durchsetzte, wie aber auch in „Romantik", und im modernen „Irrationalismus" gegen diese rationale Wissenschaft gekämpft wurde. Was soll das Schwanken zwischen beiden Tendenzen helfen? Ziemt uns nicht zu bewundern, mit welchem großen Sinn Piaton, Leibniz und Goethe die rationale, kausale Naturforschung in ihre ganzheitliche eingebaut haben? Auch ist es ungeschickt, gegen den Rationalismus einen Irrationalismus zu setzen und gegen Kausalität und Zweckmäßigkeit ein akausales und zweckloses Leben oder doch Erkennen zu preisen. Das wirkliche Leben hat als ein Mittel des Erkennens das rationale Denken, das nur das Skelett des Lebens erfassen kann. Ratio ist Rechnung, aber wir nennen rationales Denken auch die Ordnung der Erfahrung nach rationalen Grundsätzen. Doch alles mit der R a tio Geordnete - Kräfte, Triebe, Wille, Gefühle in sich bergendes Leben sollte weder rational noch irrational genannt werden. Erkenntnis, die über rationales Denken hinausgreift, ist überrational, wie Leibniz sagt, positiv, wie Schelling sagt. Aber was bleibt von menschlicher Erkenntnis, wenn man Ursächlichkeit und Zweckhaftigkeit ausschließt? Ursächlichkeit deshalb, weil bisweilen die genau berechenbare Ursächlichkeit versagt und eine bloße „statistische" R a tionalität an die Stelle tritt? Der exakte Kant sah klarer: er nannte auch unseren Willen eine Kausalität. Wenn wir allerdings das Wesen, nicht den zeitlichen Verlauf betrachten, dann zeigt auch die Ursache ihre wesenhafte Bedeutung: Ursache, die nicht im Zeitverlauf wirkt, sondern das Wesen selbst ist, das in zeitlicher Erscheinung sichtbar wird. Und diese Erscheinung, diese „Ur-Sache" kann den Sinn der Welt zeigen als ihren Zweck. So schrieb Goethe im Rausch seiner Erweckung an Herder: „was Tätiges an mir ist, lebt auf, da ich Adel fühle und Zweck kenne." Was soll da noch das Preisen des Irrationalismus, der Zweifel am Bewußtem, an Ursache, die Verachtung des Zwekkes. Aus der Wahrnehmung der Gegenwart, dem Bewußtwerden des Selbst, dem Willen zum höheren Selbst, das sich aus dem Vertrauen auf Adel, eigene Kraft und Schönheit, abhebt, erwächst die sinnvolle Lebensaufgabe, der Selbst-Zweck. Alles wäre wieder sinnlos, wenn wir nichts „verursachen" könnten. Um verursachend im Zeitverlauf wirken zu können, müssen wir auch das Notwendige, das mechanische Geschehen erkannt haben, nun aber finden wir im Ich und Du was über die bloßen zeitlichen Erscheinungen hinausgeht, wir finden, daß wir selbst in der Gegenwart, in dieser Gegebenheit etwas Neues »anfangen" können und lieben die Umgebung nicht, mit der wir „nichts anfangen" können. Schaffend im Ursprung sein ist die Gnade. Sieht man aber - mit philosophischem Vorbehalt - von den kausalen Gesetzen des zeitlichen Verlaufes ab, um sich phänomenologisch auf das ewige Wesen zu beschränken, dann gelangt man zur reinen, nicht mehr auf ihre Wirkung hin betrachteten „Ur-Sache", zu der Pindar uns ruft: „Werde der du

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bist", was Nietzsche ihm nachspricht. Dies ist der Sinn der Monade im Zeitgeschehen: ihr Selbst, ihr Wesen in der leibhaften Welt, als Erscheinung auszudrücken — und in ihr zugleich den Sinn des Alls zu spiegeln.* Und doch: ist das Selbst, die Selbstsucht, nicht auch Ursprung alles Bösen? Ist nicht seit Comte der Grundsatz aller rationalen Moral der Altruismus, das Leben für den anderen in reiner Selbstlosigkeit? Selbst wenn man Kants Rigorismus, die Moral von aller Liebe, jeder Neigung für den andern zu reinigen, nicht annahm, so wurde es doch seit Comte Grundsatz der offiziellen Moral, daß die leiseste Trübung durch Egoismus zu verdammen sei. Daran übten wir schon als Schüler unsere Dialektik: Gibt es denn einen sinnvollen Wert im Leben, wenn immer nur der andere, niemals einer Selbst Wert hat? Gewiß verstieg sich Nietzsche, wenn er seine gesteigerte Lebensethik „Immoral" nannte, in die verkehrte Formel, aber seine Steigerung des Lebens wertes ist echte Ethik. Der Denker, der aus der Erde den unsagbar kunstvollen Leib des Geschöpfes, des denkenden Menschen hervorgehen sieht, kann nur das Analogon des menschlichen Verstandes als Ursache denken. Wenn der Positivist die Berechtigung dazu leugnet, weil wir die Ursache nicht auf der Goldwaage wiegen, unter dem Mikroskop nicht sehen können, so liegt ihm die Last der Widerlegung ob - wenn er nicht das Prinzip der Kausalität überhaupt verneinen kann. Immer wieder stieß ich auf drei große Entdeckungen der Philosophie, die einen wissenschaftlichen Zugang zu ihr gewähren und ohne die sie verschlossen bleibt. Piatons Nachweis des Pythagoreischen Lehrsatzes im Menon: es gibt Erkenntnis apriori, notwendige Einsicht ohne eigene oder Belehrung aus fremder sinnlicher Erfahrung. Dann Sokrates Beweis vom freien Willen im P H A I D O N : nicht die Mechanik der Muskeln oder Knochen entscheidet, ob Sokrates sidbt nach Megara rettet, sondern seine Vorstellung, daß es „schöner und gerechter" ist, die Strafe zu erdulden. Der Mensch hat ein Gewissen und handelt aus freier Wahl. In meinem Buch P L A T O N (2. Aufl. S. 176) sage ich dazu: „Seit diesem Argument und dieser heroischen Geste des Sokrates gibt es keine materialistische Philosophie mehr, sondern nur noch einen materialistischen Verzicht auf wahre Philosophie." Diese Wertung fand ich dann bei Leibniz glühend bestätigt. E r rühmt Piatons Preisung im P H A I D O N im Discour de la métaphysique (20) als wunderbar, er hat sie auch übersetzt und hatte im discour Raum gelassen, um die Übersetzung hier einzurücken. Und er gibt diesem phänomenologischen Beweis der Freiheit, dieser Stütze der Teleologie und seines höchsten metaphysischen Satzes vom Zureichenden Grunde, eine selbständige, erkenntniswissenschaftliche Form: Wenn man sich das Gehirn so vergrößert denke, daß man in seinem Maschinenwerk herumgehen könne wie in einer Mühle und den Mechanismus vollkommen durchschaue, so sei man der Erklärung, wie aus körperlichem Geschehen ein Gedanke entstehen könne, um keinen Schritt näher gekommen. Nun gibt es heute exakte Forscher, die notgedrungen zugeben, daß man Bewußtseinsvorgänge noch nicht ganz befriedigend „erklärt" habe,

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dies sei aber als eine kleine Lücke der Naturwissenschaft anzusehen, deren Ausfüllung jeden Tag zu erwarten sei. Mit solchen ist ein philosophisches Gespräch nicht möglich. Folgerichtiger, ja im Grunde ein wenig Leibniz-näher nennen die Neopositivisten diese Fragen „Scheinprobleme", denn als Probleme sind sie unlösbar: nehmen wir sie als Axiome. Wer aber jene drei Axiome anerkennt, hat wenigstens die metaphysische Ebene erreicht. Verstehen wir die Welt der Geschöpfe als die Frucht einer verborgenen schöpferischen Weltkraft, dann ist deren erlebbares Ereignis der Eros im weiten Sinne, wie ihn Piaton im S Y M P O S I O N darstellt: Eros als schöpferische Weltkraft, als „Ursache", wirksam in Zeugung, Geburt, Erziehung. Das unbedingte Selbst ist die Mitte dieser genetischen Welt, wohl sich selbst gegenübertretend als Liebender und Geliebte, als Ich und Du, aber sich sehnend nach Einheit. Auch das Tier, das sich aus Liebe für die Jungen opfert, ist vom Eros getrieben. Der größte Idealist besteht nicht auf der Trennung von N a tur und Mensch. Diesen Eros erstickt ein einseitiger Altruismus in seiner Asche, die sdiöpferische Kraft erlischt, wenn das Selbst sich aufgibt und statt sein Selbst zu steigern nur die moralische Nächstenliebe als ethisch gelten läßt. Gewiß überwiegt im elementaren Leben der Egoismus so sehr, daß die offizielle Moral fast nur den Altruismus in ihrer Morallehre zu fördern brauchte, aber ein geistig-seelisches Leben, das um dieser moralisierenden Ideologen willen alles Sdiöpferische unterdrückt, aufrichtig oder heuchlerisch, hat Nietzsches Ekel erregt. Nur im Doppelselbst der Geschlechtsliebe dauert das elementare Leben, nur im geistigen Eros das geistige Leben fort. Die elementare Glut wird wie die geistige durch die sinnlich-seelische Schönheit des Menschen entzündet, in der Glut für das schöne Bild erfüllt sich der Sinn der Erde: diese elementare in der Mitte gewährte Einheit soll durch konzentrische Siebendimensionalität symbolisiert werden. Dieser Erdsinn wird bedroht durch die Moral der Selbstlosigkeit, der idealisierten Leere. Die Denkenden kamen im neunzehnten Jahrhundert so weit, nur noch in der reinen Wissenschaft um ihrer selbst willen, die sich ganz auf den Geist beschränkte (also gleichsam nur der siebenten Dimension angehören wollte) als Lebenswert anzuerkennen. Und als Ergebnis der Wissenschaft schien nur das Exakt-Meßbare, der tote Stoff oder doch die nur auf ihn bezogene rein quantitative Energie Bestand zu haben.

V I I . D E R D I C H T E R ALS P R I E S T E R Ganzheitliche Erkenntnis ist Philosophie, Positivismus ist spezialistische Wissenschaft. Die Ablösung der exakten „Naturwissenschaft" von der Philosophie beginnt mit Demokrit. Wie mehrmals berührt wurde, setzt mit der

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letzten Jahrhundertwende der Widerstand der Geistigen und der „Geisteswissenschaften" gegen die „Naturwissenschaft" und ihre exakten Methoden ein, nachdem diese jahrzehntelang nur sie als edite Wissenschaft hatte gelten lassen. Jene sahen nun Demokrit, Kopernikus, Galilei, Kepler als die Schuldigen an der Mechanisierung der Wissenschaft an. Diese geistesgeschichtliche Kritik scheint mir wenig berechtigt. Die mathematisch-exakte, die quantitative Methode ist zwar nidit die Wahrhaft-Wesentliche, aber sie ist doch die fruchtbare, soweit der Gegenstand nicht als lebendig betrachtet werden kann. Sie ist zuständig für die irdischen Stoffe, sie ist die bisher allein zuständige für die Welt der Gestirne, die den Kosmos umfassende. Dieser kosmologische Geist muß nicht der empirische einer nie endenden Bruchrechnung sein, denn der Pythagoreische Sinn gründet in einfachen ganzzahligen Proportionen, in H a r monie, in Sphärenmusik. In dieser echten Naturwissenschaft der Astronomie und zugleich in Piatons T I M A I O S , dem beseelt-planetarischen Weltsystem, beruht Dantes Weltbild. Aber auf dieser Platonischen Naturphilosophie, die er selbst einen Mythos nennt, bauen bewußt Galilei und Kepler mit ihren Methoden auf. Begreiflicherweise nennen sie dies Weltbild Pythagoreisch, da Piaton seinen T I M A I O S eine pythagoreische Schrift genannt hat. Nicht Gesetzmäßigkeit, Geometrie, Exaktheit ist die Krankheit unseres Denkens: Auch der Cusaner, Leibniz, ja selbst Goethe schätzen die Mathematik (denn dieser haßt die rechnende Analyse nur, wenn sie die Phänomene, die doch schon an der Grenze des Ideenreiches stehen, in bloße, rein zufällige, komplizierte Zahlen auflöst.) Selbst Newton versucht noch, die Farbenskala auf die harmonische Skala der Töne zurückzuführen. Wie gesagt: die geometrischen und zahlenmäßigen harmonischen Proportionen, nicht die endlosen Zahlenbrüche sind die Principien der Welt. Nicht die Geometer und großen Astronomen sind die Zerstörer des harmonischen Weltbildes, sondern Descartes, der die anschauliche Geometrie zahlenmäßig analysiert, der die Welt spaltet in bloße Ausdehnung, also leeren R a u m - und bloßes Bewußtsein, also dualistisch in Körper und Denken, ohne Leib, ohne beseeltes Tun, der in den Tieren und im menschlichen Leibe bloß Maschinen sieht. D a s ist der Frevel an der Gott-Natur, aus der die Spaltung in „Naturwissenschaft" und „Geisteswissenschaft" folgen muß. (Darum schätzen Goethe und Schelling Kepler hoch und sind Descartes abgeneigt. Denn durch Mathematik findet Kepler im Kosmos das Wunder, Descartes im Lebendigen die Mechanik). Diese Analytik ergab die für den Fortschritt der Wissenschaft so unentbehrliche Spezialisierung, in der Gegenwart ergiebig - aber auch gefährlich — in einem bis hierher unvorstellbaren Maße. War für die frühen griechischen Denker die „Physis", die wachsende, die schöpferische Welt, für die christlichen Pantheisten Gott selbst die schöpferische N a t u r , so wurde für die neuzeitliche Scientia die „Physik" neben der Chemie ein bloßer Teil der anorganischen Wissenschaft - und maßte sich dann im 19. Jahrhundert an, die „ N a turwissenschaft", die Wissenschaft selbst zu sein. Diese Fiktion forderte den Gegenbegriff der „Geisteswissenschaften" heraus: Historie, Philologie, Litera-

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Philosophie

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turwissensdiaft. Für Philosophie als solche (Weltweisheit, Ganzheitserkenntnis) blieb in diesem Gehäuse kein Raum: man ließ nur Spezialfächer wie Logik, Logistik, Philosophiegeschichte gelten. Aber wie unglücklich sind die Folgen dieser Unbedingtheit einer Methode. (Midi ließ man etwa als „Kulturphilosophen" gelten, ohne zu berücksichtigen, daß idi auch die Grundsätze einer mathematisch-exakten Methode unverkürzt in die Philosophie einzubauen strebte.) "Wie schief sind die Formeln der im neunzehnten Jahrhundert fast allein anerkannten „erkenntnistheoretischen" und neukantianischen Methode: Naturwissenschaft und Geschichte, nomothetisch und idiographisch, Sein und Gelten . . . Denn alles Geschehen ist Geschichte und was wüßten wir von einem „unnatürlichen" Geschehen. Geschichte geschieht seit dem Ursprung der Welt, der Begriff „vorgeschichtlich" ist sinnwidrig. Wo Mißverständnisse möglich sind, sollte man die Kunde der Menschheitsgeschichte vom Zeitpunkt an, seitdem die Erinnerung, also besonders die schriftliche Aufzeichnung auf sie einwirkt, Historie nennen. Dann darf man auch von einer vorhistorischen Zeit sprechen. Aber die mathematisch-strengen „Naturgesetze", die einen notwendigen Verlauf garantieren könnten, genügen niemals, auch nur die anorganische „Natur" zu erklären: wie könnte sonst der Sternhimmel und die „physische" Erdoberfläche (vor menschlicher Einwirkung) unregelmäßig, „kontingent" sein? Und welches Notwendigkeits-Gesetz könnte je die Entstehung des Lebens gar des Bewußtseins erklären?* Ich rede von diesen Wissenschaftsbegriffen wegen ihrer verhängnisvollen Folgen. J e intensiver sich die fortschrittliche Spezialisierung auswirkt, um so notwendiger wird ebenfalls als Gegenhalt das zusammenfassende philosophische Denken.** Wie gesagt, erfuhr ich am Anfang des Jahrhunderts auch an geistigen, dichterisch bewegten Freunden eine Abneigung gegen die Philosophie, einen anfangs romantischen Widerspruch gegen deren rationale Mittel. Es war damals die „schöne Literatur" und deren historische und kritische Wissenschaft, die sich froh ihrer Freiheit bewußt war, daß sie alles Philosophische von sich stoßen durfte - ohne zu fragen, was sie dadurch verlor. Was ich damals gefühlsmäßig vertrat, das habe ich nicht nur in weiterer Forschung klarer eingesehen, sondern im Laufe eines halben Jahrhunderts in einem erstaunlichen Maße sich tatsächlich vollziehen sehen, daß ich kaum begreifen kann, wie „man" es auch heute vielerorts noch nicht zu sehen scheint. Ich sagte damals, daß die „Literatur" um so gründlicher verflachen werde, je länger sie sich von aller philosophischen Besinnung (nicht nur von Schulsystemen) ablösen werde. Eine Zeitlang werde es gehen, da wir noch von Vätern und Großvätern an geistigem Erbe - Lessing, Herder, Goethe, Schiller, der von Leibniz erwerkten Generation - teilhätten. Wenn aber eine „schöne Literatur" ohne Streben nach Weisheit, ohne genügenden Halt durch eine wertforschende Literatur-Wissenschaft und -Kritik, alle Tradition verachten werde, drohe ihr in gänzlicher Verantwortungslosigkeit und Haltlosigkeit ein anarchisches Chaos und der von Nietzsche vorausgesagte Nihilismus. Ein kleines Beispiel: Ein Zeitgenosse, Literaturforscher hohen Ranges, we98

sentlich gerade für die Gemeinschaft des europäischen Geistes, bekannte, daß ihm beim Philosophie-Unterricht ein Mühlrad im Kopf herumgegangen sei (im Faust die Folge des logischen Pedantismus der Schullogik). Er sdirieb im Abstand von zwanzig Jahren zwei Abhandlungen über Ortega y Gasset und pries ihn als den Erfinder des Perspektivismus, indem er überzeugend darlegte, daß der Perspektivismus gerade in Spanien entstehen mußte. Indessen ist dieser Perspektivismus, der auch schon während des I.Weltkrieges ein öffentliches Interesse erregt hatte, bekanntlich ein Grundgedanke von Leibniz und eine unmittelbare Folgerung aus der Monadenlehre.* Wenn ich mit dem geringsten Behagen der Krittelei diese Entgleisung mitteilte, so wäre ich selbst dem Spezialistengeist hörig, gegen dessen Übersteigerung ich kämpfe. Ich halte eher den Lehrbetrieb in der Philosophie für schuldig, einen solchen Forscher nicht angelockt zu haben. Es ist Sache der Philosophie um den Geist, für den Geist zu werben. Aber daß die gewaltsame Abspaltung der Geisteswissenschaft von der Philosophie ein europäisches und besonders deutsches Unglück ist, möchte ich nachdrücklich behaupten. Ich meine: echte Philosophie als Suchen nach Weisheit, nicht positivistische Systematik oder doktrinären Kantianismus, die für die Literaturforscher mehr Last als Gewinn bedeuten mögen. Nur wenn Philosophie und Literatur im gleichen lebendigen Geist wurzeln, wenn die Philosophen von großen Dichtern, die Dichter von Piaton und Leibniz lernen, wenn der Geist sich in die Region des Mythischen und Religiösen erhebt, gibt es große Philosophie und große Dichtung. Man täte mir Unrecht, dies als abschätzige Kritik zu verstehen, Literaturkritik ist nicht mein Amt, wenn ich mich ihr auch nicht gänzlich entziehen kann. Das Durchschnitts-Niveau des handwerklichen Könnens heute, der Stil der Schreibenden, scheint mir hoch und anspruchsvoll. Die unechte Literatenmache und -macht, wie sie bis zum ersten Weltkrieg herrschte, die „kitschige" Spielerei, oder die gedunsene Übersteigerung, die anmaßende Phrase, davon kann sich die jüngere Generation kaum noch eine Vorstellung machen. Die späteren Erlebnisse des Entsetzens, die grauenhaften Sichten in die Zukunft, fanden angemessene Darstellungen, deren Überdauern zu vermuten ist. Aber wessen man danach bedurfte: den großherzigen Stil, den langen Atem, die zuversichtliche Gelassenheit - kurz, ich möchte sagen, den Leibniz-Stil fand man kaum. Strebende Jugend und Denker von Weltruf wenden gegen Dichtungen von diesem Stil ein: wie kann die Harmonie heute, in der häßlichen, unharmonischen Welt echt sein? Wie denn? Ist nicht in unharmonischer Zeit der Denker und Künstler, der Harmonie um sich verbreitet, am allernotwendigsten? Hat der große Stil der Leibniz-Zeit sich nicht gerade nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges entwickelt? Und beweisen heute die Laienchöre nicht den ernsten Willen zum großen Stil der Harmonie und Freude? Und ist die Empfänglichkeit des Volkes nicht echt und groß? Daß heute gerade die Jugend mit Widerwillen das leiseste falsche Pathos abwehrt, zeigt, daß der Boden für einen neuen Aufbau bereit ist. Aber ist es deswegen zu billigen, daß literarische Kritiker es als höchste Qualität der mittelmäßigen Schriftsteller betrachten,

daß sie garantiert „pathoslos" sind? Und beweist der Bach-Enthusiasmus großer Volksschichten nicht, daß die Sehnsucht nach einem gewaltigen Pathos des Triumphes und der Freude, in Herbigkeit und Süße, in seelischer Macht, im Wachsen ist? Wer darf sich anmaßen, diese Kraft der Dichtung abzusprechen?* Bach und Händel, beide neununddreißig Jahre nach Leibniz geboren, Bach aber, der große Organist, dessen Wirkung als Komponist doch erst im neunzehnten Jahrhundert langsam und mächtig anwächst - er lockt heute nicht die Konzert-Genießer, die - nach Piatons Ausdruck - ihre Ohren vermietet zu haben scheinen, auch nicht die anspruchsvollen und eitlen „Kenner", er bewegt unvergleichlidi tiefer als die Neutöner die Laienchöre und das vornehme Volk, das seelische Erfüllung, geistigen Halt, Religion sucht. Das Verständnis für den Schöpfer der Passionen ist heute breiter, aber wohl auch tiefer als je. Zum Verständnis dieses Vorganges hat mir, dem Laien, Albert Schweitzer durch seine Bachmonographie geholfen. Bach brauchte im antiken, im Platonischen Sinne zur Musik die Dichtung. J a der Theologe Schweitzer behauptet, er habe die Evangelien gewählt, weil es damals keine große Dichtung gab. So versteht er unter großer Dichtung also das Mysterien-Spiel. Und dies ist es, wessen das Volk im Grunde bedarf. Attische Tragödie wie Bachsches Oratorium sind nicht weltflüditig, nicht rein-transzendent, nicht Trauerspiel, sondern Mysterien, höchstes Feierspiel. Besonders die Trilogien des Aischylos erfüllen sich in Lysis, in Versöhnung. Mysterien sind nicht im strengeren Sinne „mystische", sondern mythische Spiele, nicht (wie oft gedeutet) Menschenopfer für die Götter, sondern Spiele auf der Ebene, auf der Menschen, Heroen, Götter miteinander verkehren. (Mystik ist Auflösung aller Gestaltung, unmittelbare Einung mit der ungestaltigen Gottheit.) Aber im Mysterium schaut der Eingeweihte auch mit geschlossenen Augen noch Gestalten - darum vergleicht Piaton seine Philosophie mit den Eleusinien. Göttliche, halbgöttlidie Menschen, menschliche Gestalten — das trifft auch für Bachs Mysterien zu. Was ist nun das Wesentliche: Arie, Chor oder Choral? Im Sinne des musikalischen Genies gewiß Arie und polyphoner Chor, da sidi der harmonische Choral wieder dem Unisono des Gemeindegesanges nähert, und andererseits die Melodien oft dem weltlichen, volkstümlichen Gesang entnommen sind. So könnte es dem Sinn der Mysterienfeier entsprechen, wenn in dieser Spannung empfängliche Laien zutiefst von den Chorälen ergriffen sind. Da ist es ein Wunder, wenn in dieser Musik selbst der Tod wie in einem pathetischen Jubel gefeiert wird, ein Bewußtsein der Ruhe nach der Marterung: „Ruhe sanfte, sanfte Ruh!" Audi die Paradoxien, die Aufnahme eigner weltlicher Kompositionen ins heilige Oratorium bewähren die urgegebene freudige Versöhnung von Transzendenz und Erdenlust. Der Sinn der Mysterienfeier wird in einem Terzett des Weihnachtsoratoriums deutlich verkündet: zwei Stimmen sehnen sich nach Christus, alsdann deutet der Alt (der auch Mariens Stimme singt): Christus ist schon gegenwärtig. Der Wille der Feier: Vergegenwärtigung und Epiphanie Gottes. Zwar 100

vollzieht sie sich selten, aber die kultische Feier erhebt doch die Geweihten bis zur hohen Empfänglichkeit in ernster Freude, die ihre Sehnsucht stillt. - Auch Hölderlin findet im Chorgesang des Festtags, in dem sich zur Ehre Gottes das Volks vereint, das Bild höchster Diditung. (Archipelagus) Was Stefan Georges Werk im ganzen mir bedeutet, führe ich hier nicht aus, weil ich dessen Interpretation einen starken Band gewidmet habe. (Hauswedell, Hamburg 1960. - Ein Band Erinnerungen ist druckfertig). Aber zur Ausführung der oben angeregten Gedanken über Gegenwart und über ihre Substanz der Persönlichkeit ist eine Erinnerung an den Dichter, der von 1868 bis 1933 lebte, sinngemäß. Viele glaubten sich in jenen Jahren befähigt, den Zeitgenossen zu sagen, was die Vernunft für unser Heil fordere. Einzelne hätten auch in unsern Zeiten gern als Bußprediger gedonnert wie einst Jeremias aber wo hätten sie die Autorität zu solchem Pathos hernehmen sollen? Sie mußten sidi mit dem Ton des doktrinären Gelehrten oder sozialistischen Parteiführers begnügen. Und doch erkannten viele, daß nur ein gründlicher Wandel der Gesinnung retten konnte. Weltverbesserungspläne waren immer billig, aber schon Nietzsche hatte den Wandel der Seele im Zarathustra gefordert, die einstigen Freunde angefleht: „Nur wer sich wandelt bleibt mit mir verwandt." Ein literarisches Zeitalter war nicht imstande, das zu verstehen als den einmaligen Wandel der Seele, auf den ein neues geistiges Reich sich aufbaue: man glaubte, man solle sich jedes Jahr willkürlich wandeln, verantwortungslos sich ausleben. Nach dem Jahrhundertwechsel begannen die ernsten Versuche zur Verjüngung, nach der ersten Niederlage der verantwortliche Ernst auch im Volke, nach der zweiten die Angst und Verzweiflung. Die Weltverbesserungshoffnungen hatten sich schon längst an sozialistische Pläne geknüpft, aber wie sollte man die Massen gewinnen für das revolutionäre Opfer ohne romantische Verheißungen, doch mit Umkehrung der ideologischen Ziele? Aus dem Traum des goldenen Zeitalters, des Paradieses wurde durch Umkehrung des Lebensgefühles im Klassenhaß die Idee des irdischen Paradieses im Fortschritts-Idealismus, immer wieder Fortschritt bis ins Bodenlose. Das waren die „modernen Ideale", die Jacob Burckhardt und Nietzsche verachteten. Auch Nietzsche weckte die Sehnsucht nach unserem „Kinderland", aber das meinte die baldige Erfüllung durch die von uns erzogenen Menschen, Kind und Enkel, aber nicht unbekannte Geschlechter, geschweige denn einen Fortschritt, der niemals Erfüllung verhieß, eine ruhelose Flucht vor eigener Leere. Der „Naturalismus" zog seine Kräfte weniger aus elementarer oder geistiger „Natur" als aus Propagandaideen populärer Aufklärungsliteratur: H y giene, Alkohol-Abstinenz, Zuchtwahl, Verbreitung, Verbreiterung, Verflachung der Halbbildung. Auch Stefan George betrachtete diese moderne Fortschrittlichkeit der halbgebildeten Kleinbürger in ihrer Massierung, das Parteiengetriebe mit tiefer Skepsis. Aber wie konnte man in dieser Zeit erzieherische Autorität erlangen, wenn nicht als Führer in den Parlamenten, durch politisches Machtstreben, eben durch diese so zweifelhaften Propaganda-Ideale und Ideologien? 1892 begründete er „DIE BLÄTTER FÜR D I E KUNST", um 101

schon mit diesem Namen zu sagen, daß er „der kunst besonders der dichtung und dem Schrifttum dienen wolle, alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend." Mit dieser Negation sperrte er das „naturalistische" Schrifttum ab und gründete, vierundzwanzigjährig, die Bewegung der geistigen Kunst. Wie Piaton seine politische Bewegung auf philosophische Dialoge, so gründete George seine geistige Autorität auf seine reine und strenge Dichtkunst. Mit dem „ T O D D E S T I Z I A N " , diesem Schönheitsrausch, war Hofmannsthal im ersten Beginn neben ihn getreten und im stetigen Siege setzte sich in vier Jahrzehnten die Neue Dichtung im gebildeten Volke durdi. Das scharfe Absetzen gegen den „Naturalismus" und seine Fortschritts-Ideale bedingte nur anfangs eine Verwandtschaft mit der l'art pour l'art-Bewegung, mit dem Symbolismus, aber sehr bald erkannten George und sein edler Freund, der Pole Rolicz-Lieder, daß dieser Ästhetismus, der die Schönheit heilig sprach, doch nicht vor der Gefahr eines reinen Literatentums des „Elfenbeinturms" sicherte. Die priesterliche Würde des Dichters und Sehers, des vates konnte sich nur im heiligen Gehalt der höchsten Dichtung ganz erfüllen. In der Horazischen Strophe fanden sich George und Hofmannsthal: Carmina non prius Audita musarum sacerdos Virginibus puerisque canto. Aber die hohe Aufgabe mußte und konnte aus der reinen Dichtung wachsen. Nichts von äußerlicher Berufung aus politischem Amt, aus wissenschaftlicher oder sonst intellektueller Leistung, aus kirchlicher Würde, aus journalistischer Geltung oder woher immer durfte im Sinne der Autorität gesucht werden: George wollte seine Autorität allein auf seine Leistung in der Dichtung des Schönen gründen, denn das schöne Gedicht konnte nicht auf Grund der ästhetischen Lehre entstehen, sondern nur aus dem schön-gewachsenen Gedicht konnte man auch ästhetische Lehren ableiten. Damit aber waren die Lehren des Schönen Lebens verbunden: denn die Kunst selbst ist als schöpferisches Ereignis die höchste Form des Lebens, nicht nur - wie es die damaligen Denker zugaben - neben Wissenschaft, Politik, Wirtschaft eine bestenfalls gleichberechtigte Funktion im Leben. Nach H Y M N E N , A L G A B A L , S A G E N U N D S Ä N G E war für die ästhetischen Kenner Georges Ruhm als größter Dichter der Zeit gesichert. 1896, im „Seelen-Jahr" begann er ein Blätterheft: „Mit ernst und heiligkeit der kunst nahen: das war dem ganzen vorausgehenden dichtergeschlecht unbekannt . . . " In dieser künstlerischen Bewegung gegen den sinkenden „Naturalismus" (der aus unbekannten Gründen das Häßliche für „wirklicher" hielt als das Schöne) betonten die Forscher mit Recht die schöne „Form". Aber auch „Form" gehört heute zu den entarteten Begriffen. Simmel und Breysig sahen in der neuen Dichtung allein die „Form", verachteten den „Stoff" und stellten diese Formkunst in Gegensatz zur „Wirklichkeitskunst", während George bei den 102

„Naturalisten" gerade den „falschen Wirklichkeitsbegriff" erkannte. So konnten jene nicht begreifen, daß George, statt im Elfenbeinturm zu existieren, den Anspruch stellte, die echte Wirklichkeit zu gestalten. Ebenfalls in der III. Folge sagt dieser: „Einfach liegt, was wir teils erstrebten, teils verewigten: eine Kunst frei von jedem dienst: über dem leben, nachdem sie das leben durchdrungen h a t . . . " Und schon betrat, mit vollem Bewußtsein, der Dichter, nun sichtbar als vates die steile höhereStufe: er dichtete das VORSPIEL zum T E P P I C H DES LEBENS, den Mythos vom Engel als Boten des Schönen Lebens. Jetzt konnte niemand mehr ihn auf „Ästhetik" beschränken: die Sendung war die Verwandlung der Seelen, die geistige Verjüngung. Er bestreitet in der VII. Folge eine im gewissen Sinn dem Spezialistentum verwandte Richtung in der auch von ihm geschätzten „Eindruckskunst". Durch eine Kuh sei nicht so viel auszudrücken wie mit dem menschlichen Körper, durch einen Spargel nicht so viel wie durch eine Landschaft. „Höchster ausdruck ist aber dort erreicht, wo nach unsern menschlichen maaßen am meisten ,seelenstoff zusammenschießen' kann." In diesem Bilde der Kristallisation findet er das Wesen des Dichterischen, dies Künstlerischen überhaupt definiert. „Das erklärt weshalb ein ding das n u r der gegen wart angehört für diese undichterisch ist." Nur das Gegenwärtige ist wirklich, aber dies gehört zum Wesen des Menschen, daß er sich als der Gegenwärtige auch auf Zukunft und Vergangenheit in der Seele bezieht. Ginge er ganz im Erkennen der Vergangenheit, der Historie um ihrer selbst willen auf, so wäre er bloßer Gelehrter. Sähe er nur auf Weltverbesserungspläne in ihm nicht erlebbare Zukunft, sei es politisch oder technisch, so verlöre er ebenfalls das lebendige Erlebnis. Beides wird ohne Erlebnis-Wissen, ohne Gnade der inneren Erfüllung, zum toten „positivistischen" Stoffwissen. Aber persönliche Gegenwart, als schöpferische Wirklichkeit, kann aus ihrem Wollen heraus in die Jahrtausende zurückgreifen, befeuernde Vorbilder (Nietzsche „monumentale Historie") finden und erwecken, unausgeschöpfte in ihnen bewahrt finden. Und in dieser Entdeckung kann sie zukunftsträchtige Kräfte finden, werkhaft, tathaft an der nächsten Zukunft formen, selbst Jahrtausende fortleben. Das ist Leibniz' Schau: die Monade ist geformt, gefüllt von Vergangenheit, trächtig von Zukunft. Diese unbedingte Gegenwart beruht also in der Monade, im Ich, denn nicht der Allgemeinbegriff Menschheit ist unmittelbar wirklich, sondern wir Individuen. Weil die Folge davon jener Perspektivismus ist, so haftet jeder Welterkenntnis eine individuelle Differenz an, die (unzweckmäßig) „subjektiv" genannt - als ob nicht jede Erkenntnis als solche subjektiv wäre. Diese Begriffsverschiebung hat mindestens geholfen, dem Materialismus einen Schein von Recht zu geben: Da die echte Erkenntnis jene individuellen Abweichungen ausschalten muß, stürzt sie sich ins Unbedingte, schaltet alles Subjektive überhaupt aus und beschränkt sich auf die untern vier oder fünf Dimensionen, während jedes Kind weiß, daß Mensch und höhere Tiere ein Inneres, ein Subjektives haben. Sie verfährt wie die Köchin, die das Obst durch Sterilisieren konserviert - totsicher bleibt nur der tote Stoff, das bloße „Mittel" zu103

rück. Man scheint dabei Augustin und Descartes zu vergessen, die im Gedanken übereinstimmen: Wenn alle Welt-Wahrnehmung Traum und Trug sein könnte, so bleibe doch eins o b j e k t i v sicher: das r e i n - S u b j e k t i v e , das Ich. Descartes Zweifel-Methode konnte zum Ich-Idealismus führen. (Diesen Weg der Einseitigkeit hat Leibniz gekannt und vermieden: ebenso sicher wie die Vorstellung des einen Ich war ihm die Vorstellung der mannigfachen Außenwelt). Weder das reine Ich noch der reine Stoff ist (wie Goethe erkannte) das Prinzip des Verstehens, der Welt- und Lebens-Interpretation, sondern die Begegnung, die Kontingenz, das Ich und Du. Nicht Kants reiner Pflichtbegriff, sondern die zeugende und empfangende Liebe, als Spannung der schöpferischen Urkraft, gründet die Gestaltenwelt. Kants Imperativ hat das Prinzip der Moral erleuchtet, das Gesetz, daß kein Mensch als bloßes Mittel mißbraucht werden darf, daß man in jedem den Selbstzweck ehren muß: Wie verhängnisvoll haben wir die verbrecherische Verachtung dieses Grundgesetzes erlebt. Aus dem reinen Ich war diese Maxime nicht zu entwickeln, denn sie setzt den Blick auf die Menschheit voraus. Aber doch gibt diese „formale" Moral noch keine echte Ethik, wie wir sahen. Ohne Eros zwischen Ich und Du, ohne Agape in einer schöpferischen Gruppe, gibt es keine sinnvolle Ethik. Der Nutzen möglichst vieler, die „Liebe" zu einer abstrakten Menschheit, der Altruismus der „Selbstlosigkeit" geben kaum mehr als blutlose Abstraktionen. Wer wahrhaft „selbstlos" wäre, würde auch unfähig zu großen Aufgaben sein und weder lieben noch Liebe erwecken. N u r zwischen zwei „Egoitäten", die beide dodi der Hingabe fähig sind, gibt es schöpferischen Vollzug. Wie Vergangenheit und Zukunft nur in der Gegenwart wirklich sind, so die menschliche Gemeinschaft nur im Du und Ich. Im Diwan wird das Mysterium vom zeugenden Eros immer von Neuem bewundert, so auch der größte Ausdruck vom Sinn der dauernden Persönlichkeit in „Volk und Knecht und Überwinder". (Doch fand idi anderwärts diese Interpretation nicht.)"' So entfaltet der Eros die Lebensglut, wenn die Liebenden im Doppel-Ich gegenseitig ihr Glück mitleben. Eros ist nadi Parmenides der erste der Götter, damit nach Hölderlin zugleich Urbild des Menschen. D a s Symposion erweitert den Mythos kosmisch ins Elementare. So unbedingt ethisch Eros und Sexus zu trennen sind, so sprießen doch beide aus gleicher elementarer Wurzel, aus dem tekein, das Zeugen und Gebären heißt. D a s Gebären offenbart ganzheitlich die elementar-kosmische Einheit, das Zeugen stärker die schöpferische Freiheit. Das erste reicht kaum in die Dimension der geistigen Kraft, das zweite tauscht dafür die große Gefahr der Ablösung vom elementaren Kern, von der lebendigen Ganzheit und verliert sich dann in den abgelösten Dimensionen der bloßen geistigen Abstraktion, der leiblosen, seelenlosen Ratio. Breysig hatte uns gelehrt: Der Mann trachtet nach dem Weibe und dem Werke, die Frau nach dem Mann und dem Kinde. Aber beide sind wesenhaft Menschen, einig in der Feier des schönen Lebens. Als vitalen Grund der elementaren Ganzheit sah ich die Koinzidenz von Pflicht und Lust, als Grund der menschlichen Entartung ihren Auseinanderfall an und als Ur104

sadie des staatlidien Verfalls die Ablösung des Geistes von der elementaren Ganzheit. („Norm und Entartung des Menschen"). Breysig selbst diente mit Leidenschaft dem geistigen Werke geschichtlicher Erkenntnis, aber er zog audi gern Frauen und Mädchen zur Teilnahme an den geistigen Festen heran. Weil Piaton und George diese Wirklichkeit erkannten, anerkannten, waren sie ihren Zeitgenossen fast unverständlich. Man hielt sie für reine Idealisten, Utopisten, Ideologen, Ästhetizisten. Man trachtete nach Nutzen, Geld, Lust und wenn es nötig schien, die Moral zu preisen, so sah man diese wesentlich in stoisch-asketischer Verneinung, in bloßer altruistischer Hingabe: es waren blutlose Schlagworte, konventionelle Wertungen, welche die Ethik ersetzen sollten und - so viele gute Einzelkräfte im Leben stehen mochten - in der öffentlichen Lehre, in der unterhaltenden Literatur allzuleicht zur Heuchelei, zum Nihilismus, zur Aushöhlung von allen schöpferischen Ideen zu führen drohten. Der Dichter, der Horazische vates, erfüllt vom Uberfluß der geistigen Geschichte, der seinem Wesen nach auch eine seelische Heimat und ein geistiges Reich aufzubauen strebt, muß sich Jünger, Helfer und durch sie einen weiteren Kreis von Verstehenden als Träger seines Geistes suchen. Wie könnte in einer Zeit der Vermassung, des Verlustes einer höheren Aufgabe, ein Mann das Heil bringen, der selbstlos, nur altruistisch, im Dienen aufgehen will? Nur ein Schaffender, der unerschütterlich in seiner Substanz, des Wertes seines Selbst bewußt, konnte, von Liebe zu Mitmenschen entzündet, diesen die fruchtbare neue Aufgabe spenden. Für seine Helfer mußte er eine strenge Auswahl treffen. Was man beim Baumeister, dem Führer einer Bauhütte, beim Professor im Seminar, beim Verleger, beim Regisseur als notwendige Tugend betrachtet: die strenge Auswahl der Mitarbeiter, das schien beim Dichter, den man als Literaten betrachtete, den Literaten als empörende Anmaßung - denn der Literat mußte doch jeden Literaten herzlich aufnehmen, der vielleicht sein Werk günstig besprechen würde. So erfand man das gröbste der Vulgärpsychologie angemessene Klichee, die dem halbgebildeten Vielleser angemessene Legende vom despotischen Dichter, der keine widersprechende Meinung hören konnte und die Freundschaft mit jedem Jünger brach, dessen selbständigen Willen er nicht brechen konnte. Daß im Geistigen jeder Zwang sinnlos sei, wußte George wie Piaton. Wer nicht aus selbständigem Wollen und Denken am Bau mitwirkte, der war als Mitarbeiter unbrauchbar, mochte er anderswo tüchtig und „anständig" arbeiten. Als nach dem Bruch mit Klages, der kaum verhüllt gegen Georges Werk kämpfte, sich der große Dichter Derleth ganz George zur Verfügung stellte und einen geheimen politischen Plan vermutete, mußte dieser ihm antworten: „Wer nicht von sich aus weiß, was er freiwillig für mich tun kann, dem kann ich es nicht sagen. Wenn ich erst befehlen müßte, tue ich es lieber selbst." Nach diesem Vorgang muß man sich Wolters „Herrschaft und Dienst", die Deutung des geistigen Staates erhellen. Die freie Persönlichkeit war Vorbedingung, aber im gemeinsamen Werk war der Dichter selbst ein Dienender und bemaß die Mitarbeiter als Die105

nende, die - im gemeinsamen Werk - ihren Individualismus, ihre „Icherei", unterdrücken mußten. Ihr setzte George kein privates Ich gegenüber, aber das Bauwerk als Ganzes mußte vom persönlichen Selbst des Schöpfers durchdrungen sein. Seltsamerweise übersteigerte gerade der „Naturalismus" den Begriff des individualistischen, des willkürlichen „Genies", während George scherzte, ein Grieche hätte sich geschämt, ein „Genie" zu sein. Hielt er eine ihm vorgelesene oder übergebene Arbeit f ü r geeignet, so hatte er selten kritische Einwendungen, wohl aber gab er positive Winke, die uns einen Schritt ins Neue erlaubten, gleichsam eine neue Dimension öffneten. Um dieser beglückenden Freiheit willen arbeitete man so gern f ü r ihn. Zuverlässig „logisch" sind seine Werke, weil sie der wahrhaftige Ausdruck seines Erlebens und Schauens sind, aber niemals sind sie auf Grund logischer Pläne aufgebaut. Also sind Plan und Schaffen höchst folgerichtig, grundsätzlich, verantwortlich - aber fern vom logischen, begrifflichen System - insofern auch frei vom „Prinzipiellen". Dies mißverstanden viele Kritiker, als ob des Dichters individuelle Willkür herrsche. Der große Leitbegriff Freiheit besagt meist zuviel - oder zuwenig. Für den politischen Willen zur Macht scheint nur der Diktator frei zu sein - aber gerade er opfert oft seine freie Menschlichkeit. Der Moralist fragt nach der Willensfreiheit des Verbrechers, um die Bestrafung zu rechtfertigen. Der schaffende Mensch aber bedarf der existentiellen Freiheit, um Raum f ü r sein Werk zu haben, während es für sein Bewußtsein fraglich sein kann, ob er frei oder unter göttlichem Zwange handele. (Nietzsches Inspirationsbegriff). Denn als Gewächs aus dem Unbewußten steigt das Kunstwerk auf, nie der Logik widersprechend, nie aus ihr zu erklären. Um dieses Geheimnisses willen bedarf das leidit verletzliche Gewächs der schützenden Hülle, der Sicherung vor der neugierigen, verantwortungslosen Gesellschaft, deswegen schloß sich der Dichter immer enger im Kreise der Vertrauten ab, denen er sagen durfte, was noch ein Tasten ins Neue, bisweilen noch paradoxes Spiel sein konnte und ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war.* Dies also w a r der Raum, in dem Persönlichkeiten sich frei entfalten konnten, weil sie ohne jede Rücksicht auf äußeren Nutzen und öffentliche Meinung im Sinn der notwendigen schöpferischen Aufgabe wirkend sich selbst entfalten konnten - unabhängig von literarischer Mode. Wie der Dichter, der vates, f ü r das Werk befreiende Winke gab, aber nie einengende Kritik, so gab er für das private, doch das Werk begründende Leben, nur ganz ausnahmsweise und mit größter Behutsamkeit Ratschläge.* Wo die letzten Grundlagen es nötig scheinen ließen, drohte der tragische Konflikt. Die notwendige Abwehr gegen den bürgerlichen Moralismus, gegen selbstgerechtes „Moralisieren" mit der Pflege von Schuld, Reue, Buße konnte dazu verführen, mit der starren Moral auch die Ethik, das freie, ja schöpferische Wachstum der Seelen zu verwerfen. So lag es nahe, in George, dem Mailarmée-Verehrer, einen reinen Ästheten und „Formenkünstler" zu sehen. Dagegen überliefert Boehringer den Spruch Georges: „Mit der Ethik kommt man ganz weit, ganz weit." Zur echten Weisheitskunde gehört als Höchstes, von der 106

Gotteskunde abgesehen, die Ethik. Piatonismus ist es, das Gute und das Schöne fast als Eins zu sehen. Ich wiederhole: im T I M A I O S heißt es vom Schöpfergott: „Es kann der Beste nur das Schönste schaffen." Und welches höhere Ziel könne es im Diesseits geben als ein schönes Leben zu wecken?"' Dieser Platonische Eudaimonismus hat (trotz Kant) nichts mit dem Hedonismus zu tun, denn dieser strebt bewußt zum „Lustgewinn", der Eudaimonismus zur Schönheit des Lebens, zum Glück einer Gemeinschaft, zur Versöhung mit vielen strebenden Kräften, im instinktiven Gefühl, selbst in dies Glück einbegriffen zu sein, auch die gar nicht im Zweck einbegriffene Lust zu ernten. Das Heil, die Norm-Idee ist die lustvolle Koinzidenz zwischen Instinkt und bewußter Ethik.*"" Eine unvorhergesehene Erweiterung (richtiger die klare Überschreitung von seinem kritizistischen Plan) hat Kant in der sogenannten „Kritik der Urteilskraft", zweifellos in ernster Auseinandersetzung mit Herder (Leibniz) und Goethe, vollzogen. Auf Grund der englischen Psychologie des „Geschmackes" begründete er tiefe phänomenologische Einsichten, aber er blieb doch im psychologischen Gebiet der bloßen Geschmacksempfänglichkeit, also des Passiven, des Einseitigen, also, wenn er auch die individuelle Einschränkung überwand, doch im subjektiven Ich. D a ist eine kleine Rezension des jungen Goethe, 1772, ein geschichtlich wie auch philosophisch sehr bedeutsames Dokument. Sulzer, ein WolfTschüler und Blüte der populären Aufklärung, der wie Wolff selbst, von Leibniz' Feuergeist wenig mehr spürt, hatte auf 75 Seiten „Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung" veröffentlicht. Man muß eine solche Schrift kennen, damit uns das widersinnige Programm mancher modernen Künstler, nichts Schönes zu wollen, allenfalls verständlich wird als nachwirkende Reaktion gegen eine verblasene Ästhetik der populären Aufklärung. Aber unvergleichlich dynamischer, aufwühlender, hatte Goethe schon dagegen protestiert. Der von Herder begeisterte Jüngling greift den führenden Fachmann an - aber er fühlt sich selbst als Fachmann aus der Ganzheitssicht und behauptet, jener schreibe höchstens für ganz leichte Mode-Dilettanten. Sulzer verneint die N a c h a h m u n g der Dinge, (die man später schlecht als „Naturalismus" bezeichnete) und findet nivellierendharmonisch, die Natur wirke überall angenehm, mache die Gemüter sanft, empfindsam. Goethe donnert dazwischen: „Gehört denn, was unangenehme Eindrücke auf uns macht, nicht so gut zum Plan der Natur als ihr Lieblichstes? Sind die wütenden Stürme, Wasserfluten, Feuerregen, unterirdische Glut und Tod nicht ebenso wahre Zeugen ihres ewigen Lebens als die herrlich aufgehende Sonne über volle Weinberge und duftende Orangenhaine?" (Fünfundzwanzig Jahre voraus ein Vorklang des „Prolog im Himmel"). Und wenn er darum auch den Philosophen einen Hieb versetzt, so sind natürlich jene populären Rationalisten gemeint, denn Kants Kritizismus trat noch nicht an den Tag und von Leibniz nährt sich Herder selbst. Goethe nennt den glücklichsten Menschen den stärksten, den die Natur gerade zur Selbstbehauptung erzogen habe. „Das ist nun einem großen Teil der Menschen zu beschwerlich, ja unmöglich; daher retirieren und retranschieren sich die meisten, sonderlich 107

die Philosophen; deswegen sie ü b e r h a u p t so adäquat disputieren." Was wendet denn der Dichter gegen diese wäßrige „Philosophie" ein, die wohl Schüler und „Kennerchens" anziehe und doch selbst die Könige nicht davor rette, „daß bald Hunger und Ekel, die beiden feindlichen Triebe, sich vereinen, so daß der Ennui sie zu Tode frißt."? Goethe macht den tiefen, existentiellen Einwand, der auch die späte Geschmackslehre von Kant mittrifft: auch diese Kennerschaft des Genießenden mache ihn noch nicht mitwirkend. Wie weise! Auch Kant wird, obwohl er den Individualismus überschreitet, die reine Passivität beim Genießen des bloßen ungebildeten oder des kennerischen Publikums zugrunde legen. Aber Goethe ist es nicht um den bloß Empfangenden, das Publikum, sondern um den Schöpfer, den Künstler zu tun. Das ist ganz Leibniz: die Gotteskinder als Mitwirkende an der Schöpfung. Und Goethe, mehr polemisch als harmonisierend: „Denn um den Künstler allein ist's zu tun, daß der keine Seligkeit des Lebens fühlt als in seiner K u n s t . . . Am gaffenden Publikum, ob das, wenn's ausgegafft hat, sich Rediensdiaft geben kann, warum's gaffte, oder nidit, was liegt daran?" Das ist kein Weg zum Ich-Idealismus. Weiß er denn schon, ob Herder, ob er selbst dieser Künstler sein wird? Dem Ich-Du-Erleben entquillt auch diese Philosophie. „Das einzige wahre Publikum des Künstlers" ist der Liebhaber des Kunstwerkes, der immer zum Geist des Künstlers erhoben, gleichsam in sein Werk eingehen soll. „ G o t t . . . gebe jedem Anfänger einen rechten Meister!" So daß zuletzt der Künstler sich zum mächtigen Besitz aufschwingt und als Sieger „die benachbarten Künste, ja die ganze Natur zum Tribut nötigt". Diese Idee des „Meisters", fordernd, darum meist unbeliebt, entwickelt Goethe bis zu seinem Ende. Wenn diese jugendliche Denkerhöhe sein Leben lang den Faust durchstrahlt, 60 weist sie auf die metaphysische Vollendung im „Naturhymnus". (Goethes Autorschaft ist schwerlich zu bezweifeln.) Wie bei Leibniz hört man den Jubel der Vollkommenheit in der Vielheit der Individuen, in der Gesamtheit der Geschöpfe. (Dies zweite noch stärker bei Hölderlin.) Aber diese Freude ruht auf dem Grunde einer verschwiegenen Tragik: die Natur ist eine hartherzige Mutter, die sich um das Schicksal der vielen Individuen nicht kümmert, „tausend Keime zertreten, jeden Augenblick tausend geboren . . . " Der sechsjährige Knabe hat vom Erdbeben von Lissabon gehört, auf das er in jener Rezension zweifellos hinweist. Er hat recht: nur heroische Charaktere werden sidi dieser Weltanschauung ohne Schwächung bewußt. Idi würde mich nicht in geschichtliche Rückblicke verlieren, wenn nicht diese Frage der „Ästhetik", dieses große Problem F o r m und I n h a l t noch immer, auch in den meisten Fachwerken, in der gleichen Verworrenheit fortbestünde: keine bloße Frage der Terminologie, sondern grundlegend für die Kunst. Darüber diskutierten wir schon als Primaner. Wohl gibt man heute allgemein zu, daß man Form und Inhalt nicht theoretisch unbedingt sondern darf, aber eine Klarheit wie bei Aristoteles und Leibniz findet man selten.* Da die „Naturalisten" den Inhalt besonders als soziale und hygienische Tendenz

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oder positivistische Aufklärung hervorkehrten und demgemäß oft die Form gering schätzten, war der Gegenschlag „natürlich", daß man die „reine" Form vertrat und den Inhalt für gleichgültig erklärte. Deshalb ist die Rüdekehr zu Piaton und Leibniz, zur Schönheit und gestaltenden Kraft der i n n e r e n Form erfreulich und aussichtsreich.

VIII. G A N Z H E I T U N D S P E Z I A L I S T E N T U M Es war zeitgemäß, wenn auch kaum berechtigt, daß idi manche Widerstände spezialistischer Zeitgenossen nur wegen meiner Ganzheitssicht erfuhr. Viele Philologen konnten mir nicht verzeihen, daß ich Wilamowitz (doch eben nicht als Philologen und Historiker, sondern nur seinen Anspruch auf Philosophie, den schlechten Übersetzer der Dichtung) angegriffen hatte. Grundsätzlicher waren später Angriffe von Naturwissenschaftlern. Es bedarf keiner Wiederholung, daß der Fortschritt der Wissenschaft auf der legitimen Arbeit der Spezialisten beruht. Auch manche Philosophen resignierten und beanspruchten für die Philosophie kein reales Gebiet außer ihrer eigenen Gesdiichte, da ja alles unter die Spezialisten aufgeteilt sei. Es bleibe Logik und Erkenntnistheorie, das „Formale". Ich setze dem entgegen, daß alles höhere Leben auf Wechselwirkung, auf Hölderlins „harmonischer Entgegensetzung" beruht.* Darum müssen Fachgelehrte und Philosophen im Gespräch bleiben: ohne das trocknet die Philosophie ein, während allerdings die SpezialWissenschaften lange Zeit sich auf ihre Sondergebiete beschränken dürfen. Wohl fand ich mich mit dem neuen Geist der Ganzheitsforschung im Einklang und, wo ich mich in Vortrag oder Buch deutlich aussprechen konnte, fand ich auch den Beifall der Universitätsdozenten, besonders in Berlin, bisweilen auch im Westen und Süden, in Österreich. Doch schien mir, als ich nach Kiel berufen war, dort der Impuls jener Ganzheits-Idee zu erlahmen und damit die positivistische Gesinnung wieder die Übermacht zu gewinnen.* Die von Nietzsche begonnene geistige Bewegung verebbte. Oft wird der philosophische Forscher, wenn er rechtmäßige neue Erkenntnisse andrer Fachgebiete ins Licht der ganzheitlichen Betrachtung rückt und darum die konventionelle Sprache der fachlichen Routine nicht mitsprechen kann, sondern den adäquaten Ausdrude erst sucht, zu Unrecht der ungenügenden Kenntnis geziehen. Das darf nicht seine Einsicht trüben, daß die größte Versuchung in der Philosophie, in Logik und Dialektik, die Rechthaberei ist! Und zugleich das größte Laster! Denn gerade aus der Ganzheitsbetrachtung soll der Philosoph das Teilhafte verstehen, die verschiedenen Sprechweisen der verschiedenen Disziplinen vermitteln und immer über der Terminologie stehen. Nicht die andern Forscher, sondern nur die von unbedingt spezia109

listischer Gesinnung wehren sich dagegen. Die uralte Vorstellung oder Leitidee von Makrokosmos und Mikrokosmos, vom Allgemein- und Einzelganzen in ihrer Wechselwirkung, ihrer „harmonischen Entgegensetzung" scheint mir auch heute die fruchtbarste, die wahre Weltinterpretation. Aber da wir das Ich so wenig als das Universum jemals ganz erkennen, sdilug idi den Begriff Mesokosmos vor für unsere Umwelt, soweit wir sie erkennen und formen können, (Merkwelt und Wirkwelt nach J . v. Uexküll), besonders den politischen und geistigen Staat, unseren Lebenskreis, in dem wir unsere Aufgabe finden, an dessen Gefüge wir mitwirken sollen, mit dem Ziel der einigen N a tion. Aber geistig durchdringen, seelisdi beleben wir Staat und Nation nur, indem wir sie im Sinne des Kosmischen erweitern auf das Abendland, versöhnt mit der Menschheit. Ob die Schöpferkraft der Welt ein umfassendes Ich ist, mit dem das Einzelich ins Gespräch gelangen kann, überschreitet die wissenschaftlich zu erörternde Philosophie. Mit dem Schema der sieben Dimensionen, das mehr vom wissenschaftlichen Aufbau als vom religiösen Bild des Schöpfergottes ausgeht, wollte ich sagen, daß im Mittelpunkt alles lebendigen Geschehens der fühlende denkende wollende Mensch bleiben muß, der auch als Symbol der göttlichen Macht dienen kann. Aber die Erkenntnis, die sich in rationaler Forschung der Spezialisten darstellt, muß auf diese Ganzheit im All wie im Einzelnen verzichten. Als denkender Mensch muß der Forsdier dennoch das Leitbild bewahren von der Gesamtkuppel, zu deren Mosaik einen kleinen, aber dauernden Stein beizutragen, ihn beglückt. Daß aber zur sinnvollen Zusammensetzung des Gesamtbildes Kräfte nötig sind, die in eine weitere Dimension reichen, als die der mathematischen Physik, weckt den Widerspruch der Positivisten. Auch wenn Einsteins oder Heisenbergs mathematische Weltformel sidi als unbedingt giltig erwiese, so bliebe sie doch nicht nur stumm für die Dimensionen des lebendigen Geschehens, zumal dessen subjektive Seite, denn sie würden bestenfalls nur den folgenden Zustand aus dem vorangehenden erklären, aber, wie gesagt, niemals das unregelmäßige, vielgestaltige Weltall auf eine mathematische Formel zurückführen. Sie bezeichnet nie den Grund, nie den schaffenden Wandel. Und doch werden, sobald man auf die erzieherische, bildende Funktion des Humanismus der Philologie weist, die Positivisten den gleichen Wert für ihr Fach beanspruchen: „naturwissenschaftliche Bildung" neben geistiger. Alle Fächer sollen im wissenschaftlichen Betriebe das gleiche Ideal haben: die Wahrheit. Es ist richtig, daß die wissenschaftliche Forschung nicht auf den unmittelbaren Nutzen sehen darf, weil eine Entdeckung später ganz unerwartete Folgen zeitigen kann. Ebenso richtig ist, daß die objektive Beschreibung eines Kehrichthaufens, auch der ziellosen Serienschnitte durch einen Regenwurm mit chemischer Analyse, analytischer Geometrie, mikroskopischer Akribie gewissenhafteste Wahrheit sein können - ohne den geringsten Wert. Gewiß braudit der Forscher auch die voraussetzungslosen, die wertfreien Methoden - aber ohne wesenhaftes Ziel, ohne Ganzheit, ohne Wert ist das Ergebnis keine echte Wissenschaft. Wahr ist nicht das dritte Wertprinzip neben Gut und Schön, 110

denn selbstredend ist das w a h r e Gut, das w a h r e Schön, vorausgesetzt. „Wahrheit" bedeutet entweder Erweiterung der Merkwelt und Existenzerhellung, oder moralisches Verbot der Lüge. Gewiß auch sehr hohe Werte, aber wenig ohne jene höchsten. An der Unkenntnis hiervon scheiterte Max Webers Theorie. Reine voraussetzungslose Forschung kann in den Bildungswert eingehen, aber nicht sein Wesen bezeichnen. Aber selbst im eigenen Fach, in dem ich das Gespräch mit Fachgenossen wünschen mußte, gelang nicht immer die Verständigung. Wie ich glaube, lag es daran, daß auch in der philosophischen Forschung oft die spezialistische, analytische, kritische Methode überwog. Daß mir die subtilsten Analysen nicht so zentral schienen wie der schöpferische Vorgang, dessen Vergegenwärtigung in der Dichtung deutlicher geschieht - Goethes offenbar Geheimnis wurde mir verdacht - man zitierte mich nicht gern. Nun wäre es lächerlich, sich über „mangelndes Interesse" zu beschweren, wenn man es nicht erwecken kann. Ich erinnere deswegen, wie meine ausführliche Abhandlung gegen Nicolai Hartmanns Leibnizfremde Ontologie beim vorläufigen Ende der Kantstudien im Kriege verschwand. 1953 erschien dann endlich meine Leibnizdarstellung (500 S.) Ich hörte später, daß Hartmann von einem Habilitanden verlangt hatte, aus seiner Arbeit die Erwähnung meines Buches zu streichen. Ich selbst hielt es immer für fruchtbarer, die Gegensätze und Spannungen klar und sachlich auszusprechen, weil solche dynamischen Entgegnungen oft das Wesentliche zur Klärung, zur höheren Entwicklung bringen, was in langwierigen systematischen Werken unlebendig, ungegenwärtig bleibt.51' Philosophie bedarf des Wechsels zwischen echtem geistigen Gespräch und denkender Einsamkeit. Mit Freude und Dankbarkeit nenne ich Dihheys Werke. In ihnen geschah, was bis dahin in der wissenschaftlichen Literatur Deutschlands so selten war und in seinen Ausnahmen Verdacht und Mißgunst der engen Spezialisten weckte: große gründliche Forschungsergebnisse in schön lesbaren Abhandlungen geformt, die man nur im edelsten Wortsinne „populär" nennen konnte, im Stil, der Hofmannthals Begriff vom Ideal des „Journalisten" entsprach. Der bildungsempfängliche Laie kann sie mit Gewinn lesen und der Fachmann wird durch das hohe Niveau gefesselt, weil auch ihm die anschauliche Behandlung neue Durchblicke öffnete: der Sinn für wahrhafte Größe, für geistige Anteilnahme. Das war ein Vorbild. Besonders ging mich der von seinem Freunde Paul Ritter 1926 herausgegebene Band mit „Leibniz und sein Zeitalter" und „Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung" an, diesen schon 1900 in der Deutschen Rundschau erschienenen Abhandlungen. Da stellt er das Zeitalter, anderthalb Jahrhunderte, gruppiert um die beiden großen Persönlichkeiten dar: zwei Monaden, die zahllose andere Monaden um sich wie einen Organismus ordnen. (Hatte er doch geplant, die Geistesgeschichte von Leibniz bis Stefan George zu schreiben.) Mit Recht kann man einwenden, daß damit der „subjektiven" Wahl des Geschichtsschreibers das Tor geöffnet wird. Aber eine rein-objektivistische Beschreibung, die eigentlich alle Atome gleichwertig, 111

oder jedenfalls nur die aus ihnen bestehenden Massen beschreiben wollte, bliebe ein sinnloses Chaos. Ritter berichtet im Vorwort, Dilthey habe das „falsche Ideal einer Kunstgeschichte" abgelehnt, welche die Verbindung zerreißt. Offenbar will 'Dilthey die; Ganzheit der Geschichte bewahren, „in der mit Zuständen große Menschen und mit regelmäßigen Fortschritten der Zivilisation die Machtkämpfe der Nationen verknüpft sind". Kein "Wunder, daß eine solche auf großen Männern gründende Geschichtslehre nur der „schöpferischen Minorität" (Toynbee) zugänglich ist. Der größeren Menge scheint der positivistische Betrieb, die im Kompendienstil zusammengefaßten Tatsächlichkeiten, leicht übertragbarer Wissensstoff für die Examina, besser einzugehen. Bequemer auch insofern, als er leicht vergessen wird, denn nicht der bürokratisch geordnete Sachstil haftet - nur das lebendige Bild schlägt Wurzeln in der Seele. So darf man mich wohl fragen, warum ich nicht in der Folge Diltheys weiter geforscht habe? - Als ich während des Medizin-Studiums (das ich doch sehr ernst nahm), gelegentlich Dilthey hörte, später auch seine Darstellung in der „Kultur der Gegenwart" las, empfand ich noch nicht eine mitreißende philosophische Bewegung, eher eine nüchterne Resignation, weil alles Reale den Spezialfächern zu gehören schien. Gewiß gab er beiden Seiten volles Recht: der exakten (vierdimensionalen) als der „erklärenden" Natur-Wissenschaft und der „verstehenden" (siebendimensionalen) Geisteswissenschaft. Damit erkämpfte er den Geisteswissenschaften ein eignes Gesetz, ein volles Recht neben den Naturwissenschaften. Aber die metaphysische Einheit, deren Raum mein Dimensionenschema bezeichnete, stellte er noch nicht her: es schien ihm vorläufig zweckmäßig, ein neutrales Niemandsland zwischen beiden zu legalisieren. Erst seine Hölderlin-Abhandlung in „Erlebnis und Dichtung" zeigte mir seinen Blick auf das Schöpferische. Wenn nun Hölderlins Dichtung von Heidegger in ihrem tiefen metaphysischen Gehalt erforscht wurde, wenn ich in „Hölderlin" (1939) die Vereinigung von mythischer Dichtung und entscheidenden metaphysischen Einsichten (Einfluß auf Schelling) darstellte, so wurde doch auch dadurch die völlige Gemeinschaftsarbeit mit der philosophischen Zunft nicht hergestellt. Die Hochschätzung der Dichtung blieb, wie bei andern Spezialfächern der Fakultät, ein verdächtiges Symptom. Zwar wurde ich 1950, schon emeritiert, nach Wiederaufbau meines Hauses nach Kiel zurückgekehrt, von den Fach-Vertretern der Philosophie sehr freundlich aufgenommen, doch wurde bei einem Besuch von J . Ebbinghaus in unserm Institut eine gewisse Spannung zwischen Philosophie als strenger Wissenschaft und existentieller Erkenntnis deutlich.* Der Weg des Erkennens führt nicht, wie man oft denkt, durch ein hell beleuchtetes Gebiet inmitten finsterster Gelände, sondern ist oft ein schmaler Pfad zwischen befreundeten und fremden Zeitgenossen. Wenn ich mich mühte, was ich von fruchtbaren Kräften in der Umwelt spürte oder ahnte, in einer nicht logisch konstruierten, aber doch logisch widerspruchsfreien Sicht zusammenzufassen, so bemerkte ich, wie mehrfach berührt, daß die künstlerisch112

schöpferischen Mächte der Zeit als ihren feindlichen Gegensatz die medianistisch-fortschrittlidie Gesinnung der Gegenwart ansahen. Berthold Vallentin, dem ich Wesentliches danke, mochte weder Lessing noch Schiller, noch rationale Philosophie, er suchte den Boden in Mystik, in Romantik, bei Kleist. Und ehe wir ein klares Ziel geistigen Aufbaues gewannen, waren wir alle der Romantik nahe. Klages, der selbst ein begrifflicher Denker, als Widersacher des Geistes doch die N a t u r und anschauliches Denken verstand, besaß damals eine verführende Kraft - ich war gegen sie durch meinen wissenschaftlichen und philosophischen Weg gesichert. D a s alles könnte vom Begriff „Rationalismus" her entwickelt werden - und bedürfte wohl einer mehrbändigen Untersuchung. Jetzt, dem Ende zustrebend, bemühe ich mich, noch andeutungsweise auf das Wesentliche zu zeigen. Nietzsches grundlegender Begriff des Dionysischen und Apollinischen war ein feuriger Hinweis auf Wesensmächte, aber seine zeitweise so dynamisch überwiegende Schätzung des Dionysischen förderte gleichzeitig die Zersetzung. Aus seiner Haßliebe gegen Piaton konnte sich der Irrationalismus eines Klages ableiten. Aber wenn der unbedingte Rationalismus zu einer Verdorrung auch des Geistes selbst führt, so ist der unbedingte Irrationalismus ein Widersinn, der ebenfalls das seelische Leben in seinen Wurzeln bedroht. R a t i o wird wechselnd mit Verstand oder mit Vernunft übersetzt. Sie ist vor allem Rechnung, Mathematik, Logik und ist die Stufe des Erkennens, die nur das Vierdimensionale ganz beherrscht. Sie ist die theoretische Erkenntnis a priori. Verstand ist maßgebendes Mittel, die sinnliche Erkenntnis zu vervollständigen bis zur kosmischen Überschau — Vernunft das Mittel, bis zu einer metaphysischen, übersinnlichen Erkenntnis zu gelangen. Aber in beiden Richtungen ist Ratio eben nur Mittel - und meist ist die Vertauschung von Mittel und Zweck der Grund der Verderbnis. Wird der Verstand von der Ratio beherrscht, so unterwirft er das seelisch-geistige Leben dem Rechnen, dem Geldverdienen, der nur noch kapitalistischen Gesinnung. Geschieht das Gleiche der Vernunft, so erstarrt das lebendige Weltbild zum mathematisch-quantitativen Materialismus. Aber nun den Rationalismus mit einem „Irrationalismus" zu bekämpfen, das hieße, den Menschen ohne Knochengerüst zu züchten, damit er nicht ganz verknöchere. Gegen die Teilhaftigkeit des Rationalismus kann nur die seelisch-geistige Ganzheit des leibhaften Menschen helfen. Irrationalismus ist bloße Verneinung, eine sinnwidrige, oft nihilistische. D a s Bild dieser Ganzheit, die allein am schöpferischen Geschehen teilhaben kann, ist die volle Kugel. Deuten wir aber das lebendige Geschehen, das Wachstum dieser Kugel nach einer S c h i c h t e n t h e o r i e , so müssen wir sorgen, daß sie nicht in eine Gruppe von Hohlkugeln zerfällt, die in naturwidriger Unabhängigkeit sich aus ihrer konzentrischen Lage verschieben. U m diese Schichtung in Hohlkugeln zu vermeiden, interpretiere ich dies anschauliche Kugelgleichnis durch das nicht mehr ganz ansdiauliche, aber durch anschauliche Analogien erfaßbare Gleichnis der sieben (oder mehr) Dimensionen. Es steht dafür, daß diese Kugeln nicht trennbare Hohlkugeln sind, sondern sich

8 B i l d e b r a n d t , Philosophie

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durchdringen: es sind konzentrische aber doch lauter volle Kugeln. (Es ist der Sinn dieser Symbole, auf mehr zu deuten, als sich „rational" mir. ihnen fassen läßt.) Die Weltsubstanz ist - wie Kant andeutet, Schelling und Schopenhauer ausführen: Wille. Der schöpferische Wille braucht Bewußtsein von Zweck und Ziel in der Umwelt und als Grund dafür im Ich das Gefühl, die Scheidung von Lust und Unlust, Gut und Schlecht. Lockert sich aber das Gefüge der Dimensionen, bleibt das Seelisch-Geistige ihm nicht fest einverleibt, so droht Entwertung des Diesseits, Flucht in ein Jenseits. Und löste sich allein die geistige, die siebente Dimension, so entstünde die eigenständige, die nicht mehr in der Mitte, im Gefühl, im Herzen verwurzelte ratio. Eben dies Loslösen von der Mitte, die vom leibhaften Empfinden das Herz genannt wird, ist die lebenschwächende Abstraktion des entartenden Geistes. Es bedarf unsrer dauernden Sorge, daß dies Herz ganz die Kraft der Mitte bewahre, der Selbstbesinnung des Menschen, des animal rationale. Die deutsche Sprache hat dafür einen höchst glücklichen Ausdruck geprägt: „das Herz auf dem rechten Fleck haben." Das Herz im Mittelpunkt muß die volle Kugel davor bewahren, daß ihr natürlidies Gefüge sich v e r r ü c k t . . . Das mythisch-historische Bild dafür verdanken wir Piaton im Kriton. Kriton hat keine hervorragende und bewegliche ratio, er folgt schwerfällig Sokrates' Gedankenfluge. Doch hat er das Herz, unter eigner Gefahr sich für die Flucht des Freundes aus dem Gefängnis einzusetzen. Aber steht bei dieser Bereitschaft sein Herz ganz auf dem rechten Fleck? Sokrates erweckt in ihm die Besinnung, daß die Flucht nicht das Beste ist - er rückt das irrende Herz erst ganz wieder in die Mitte. Dieser menschliche Vorgang, von der SystemPhilosophie kaum gewertet, sagt über die Essenz des Menschen und die Existenz der zwei Freunde mehr als viele dialektische Erörterungen. Keine Begriffsanalyse vertieft dies leibhafte Wissen. Ganz nah bleibt dieser Einheit auf etwas differenzierterer Stufe das Wort „Sinn": der innere Sinn, das Sinnen quillt aus der Einheit des Herzens und die Sinne erschließen die Tore zur Außenwelt und zur sinnhaft erfaßten Mitwelt. Das ist von der Monade, vom Mikrokosmos her durch die Augen, die bis zu den Sternen führen, die Allganzheit. Der Mikrokosmos ahnt den schöpferischen Geist, der da wehet, wo er will - der unsere Steigerung und Erweiterung des Innern Sinns vollzieht. Herz und Sinn bezeichnen die natürliche Spannung, die zum Ausgleich führen soll, während „Herz- und Kopfgedanken" schon auf den drohenden Widerspruch, die Zersetzung hinweisen. In diesem Gefüge ist die Ratio ein bloßes Mittel, ein göttliches, aber höchst gefährliches Geschenk, Instrument und furchtbare Waffe. Man darf nicht sagen, daß die Rationalisierung, die Mechanisierung an sich schon ein Verderb des Lebens sei. Nur durch Mechanisierung der niedern und mittleren Vorgänge steigt das organische Leben zu den hohen und seelischen Stufen auf. Wie könnte der Mensch tätig sein, wenn nicht auch die willkürlichen Vorgänge, um-sich-blicken, gehen, laufen sich mechanisch vollziehen könnten? Wie gäbe es künstliche Musik, wenn das Fingerspiel nicht durch Übung mechanisch verliefe. Aber das Bewußtsein muß 114

festhalten: alle diese Mechanisierung hat nur den einen Sinn, die herrschende Monade zu unterstützen und frei zu machen für das seelische, das schöpferische Leben. Teuflisch wird die Mechanisierung und Rationalisierung, wenn sie zum Selbstzweck wird - der scheinbare Fortschritt rollt ins Sinnwidrige. Das Zeitalter des Rationalismus, der „Verstandesaufklärung", glaubte zuversichtlich, die ratio werde alles erkennen und wirkend durchdringen - der Fortschritt sei unaufhaltsam. Es hat trotzdem auch goldene Früchte getragen und manche bedeutenden Denker sehen in ihm trotz der „romantischen" Gegenbewegung die geistige Höhe. Jene Rationalisten glaubten in Piaton und Leibniz Denker ihres gleichen zu sehen, während diese in Wahrheit die Ganzheitlichen, Überrationalen sind. Piaton gab auch für dies Problem Glaube und Ratio, wenig beachtet, das historisch-menschliche Symbol im unglücklichen Feldherrn Nikias. Dieser war fromm und abergläubisch und im Beginn der Sicilischen Katastrophe verzettelte er die kostbarste Zeit wegen der Mondfinsternis. Das war sein verhängnisvoller Fehler, denn er hätte bis zum letzten Augenblick seine ratio, seine Kriegskunst wirken lassen müssen. Piaton kennt zugleich Recht und enge Grenzen der ratio: niemals sichert sie den wahren Erfolg - der ist Sache der theia moira, des göttlichen Geschicks. Leibniz hat diese Frage in den großen Abhandlungen der Theodicee in seiner unsterblichen Auseinandersetzung mit Bayle gelöst - im Platonischen Sinn. Bayle ist Rationalist und zugleich doch Irrationalist, ohne möglichen Ausgleich. Er sagt, daß die ratio unbedingt dem Christlichen Glauben widerspreche und findet gerade darum (aufrichtig?) den Glauben verdienstvoll. Leibniz antwortet dem berühmten, auch von ihm geschätzten Denker etwas sarkastisch: Dieser möchte die raison zum Schweigen bringen, nachdem er sie zuvor allzu geschwätzig gemacht habe - das nenne er alsdann den Triumph des Glaubens. Er selbst unterscheidet dann erleuchtend die überrationale Erkenntnis von der rationalen. Dies überrationale Wissen kann zwar nicht rational abgeleitet und bewiesen, aber es kann auch nicht rational widerlegt werden. Das ist die echte Überwindung des Rationalismus: ratio gibt nicht das höchste Wissen. Diese Unterscheidung der Prinzipien muß Leibniz schon im Urprinzip, in Gott sehen. In ihm ist die puissance, die wir die Schöpferkraft nennen können. Dann ist in ihm der Verstand, die ratio, die Gesetze der Notwendigkeit, der Mathematik und Logik, denen Gott selbst nicht zuwiderhandeln kann. Er bedeutet die Erkenntnis sämtlicher Möglichkeiten, die der Denknotwendigkeit nicht widersprechen. Aber über dem Verstand steht der Wille, der zugleich die Liebe zum Guten und Schönen ist. Er ruft in die Existenz, was Gott unter den Möglichkeiten auswählt. (Möglich ist, was den rationalen Gesetzen nicht widerspricht.) Wie nah ist das alles dem Platonischen TIMAIOS.* (Theodicee. Vorrede, Ein.1. Abh. 23. I. 79, III, 417.) Wer in der Gegenwart die Ratio für den unbedingten Feind hält, siedelt sich vielleicht lieber in einem romantischen Traumland an. Wer seine Aufgabe im philosophischen Ordnen findet, kann der ratio den ihr gebührenden Platz nicht weigern. Aber nur ausnahmsweise wird dem Denker das Glück, seine 115 8*

Ergebnisse zu einem überzeugenden Ganzen zu runden. Selbst Goethe, der große Metaphysiker, der sich selbst als der große sdiöpferische Mensch historisch und mythisch wurde, kämpfte doch vergeblich für seine Farbenlehre, für die echte Phänomenologie, die durch die Einheit des Subjekts und Objekts metaphysisch in die Tiefe drang. Aber er stieß auf den Widerstand der Spezialisten, die nur die radikale Objektivierung, die Mathematisierung gelten lassen wollten. Goethe hat erklärt, daß er den derzeitigen Schöppenstuhl nicht anerkenne, und hat also Berufung bei der Zukunft eingelegt. Dieser hohe Ton gegen das einseitige Spezialistentum kann die Hoffnung seiner Nachfolger beleben - aber wer ist sonst zu diesem Tone berechtigt? J a auch der Erfolg von Goethes Berufung ist bisher zweifelhaft geblieben.

IX. DIE GESAMTSICHT Mein Vertrauen auf Leibniz hatte meine Studien über Goethe und Hölderlin, auch Herder, Schiller, Schelling umfassend bis in die ersten Rriegsjahre hinein getragen. Doch erst nach dem Schließen der verbrannten Universität im August 1944, bei unserm Umzug auf das Gut Stendorf bei Eutin, in dieser weltweiten seelisch-geistigen Spannung wurde mir die Leibniz-Welt ganz zum Erlebnis. Der Ubergang aus dem fast jede Nacht Überfallenen Kiel, aus dem rauchenden und stinkenden Trümmerhaufen in die prächtige Landschaft, den damals noch wohlgepflegten Park, in das Schlößchen an dem zum Park gehörenden See, in diesem unwahrscheinlich schönen Herbst, dem ein ebenso schöner Winter und Frühling folgte, war ein traumhafter Wechsel des Lebens. Aber die geistige Spannung rückte in dieser äußeren Ruhe nur in eine höhere, unbedingte Ebene. Zweifellos schien der Krieg verloren, und durch die Vernichtung der Widerstandsbewegung schien jede Hoffnung auf einen erträglichen Frieden und damit auf den Wiederaufbau eines noch irgendwie lebenswerten Lebens für uns vernichtet. Wie würde man sein Ende finden im politischen Chaos? Aber beim Vergessen des Persönlichen das reine Erlebnis der davon ungetrübten Natur! Herrliche Sonn- und Mondaufgänge waren von den Wohnräumen frei sichtbar, im See gespiegelt, Vogelschwärme über dem Wasser, Rehe auf dem Rasenplatz. Das Treiben der Bienen - eine die Individuen umgreifende Einheit, überall Beziehungen zum Kosmos. Keine müßigen Spaziergänge: man sammelt Beeren, Pilze, Brennholz, nach der Ernte Ähren auf den Feldern. Dann im Frühjahr die unendlichen Scharen der aufspringenden Knospen, jede eine potentielle Pflanze — war das nicht alles die unmittelbar sichtbare Monadenwelt? Schien das persönliche Erlöschen wünschenswert, so war die Schau des Ewigen, der „unbegreiflich hohen Werke" nur um so erhabener. In diesem Zwiespalt bewährte sich die Leibnizsche Sicht und beför116

derte auch wieder den persönlichen Ausgleich. Das Ehepaar Eberhard Zeller kam zu Besuch, dann in der Katastrophe aus Berlin geflüchtet die Familie Wilhelm Richter. Das gab den Anlaß zu Gesprächen über Piaton, Dante, Leibniz, nodi angeregt durch das Leibniz-Jubiläum 1946. Aber auch andere nahe Freunde, an ihrer Spitze Werner Lemke, kamen zu gemeinsamen Feiern, so an glücklichen Pfingsttagen zum Lesen der großen Dichtungen und Platonischen Dialoge. Anfangs war um uns herum noch Kriegsgefangenenlager, die trostlosen Trümmer der Heeresausrüstung. Erst um die Jahreswende auf 1950 kehrte auch mein Sohn aus langer Gefangenschaft zurück. In solcher Gemeinschaft, bei geistigen Feiern, fand ich, von welcher MitteIdee Leibniz' metaphysisches Gefüge gedeutet werden kann. So berühmt er durch sein rationales Genie ist, das körperliche Geschehen rechnend, mathematisch zu untersuchen und zu ordnen, so versteht er doch unter Natur nie das mechanische Getriebe. Natur ist das Monadenreich, die lebendige - nur lange ihres schöpferischen Geistes nicht bewußte Welt. Wieviel Kraft und Fleiß er auf die rationale Erkenntnis verwendet, so ist die Wesenserkenntnis der kontingenten Welt erst die wahre Weisheit, die wir die „vernehmende Vernunft" nennen dürfen. Der Wissenschaft ist angemessen, die mathematische und logische Leistung Leibniz' zu werten - der Philosoph sucht die übergeordnete, die göttliche Vision. Gott selbst entfaltet sie als Schöpfer, als Architekt der Welt. Jede einfache Seele, von Gott ausgeblitzte Substanz, spiegelt in sich das Universum - woher sonst die unbegreiflichen Lebensinstinkte? Aber die menschliche Geist-Monade spiegelt außerdem die Gottheit selbst, das heißt: sie ist nicht nur ein vorstellender, sondern auch ein schaffender Spiegel, sie hat Teil an Gottes Schöpferkraft. Für Newton und viele Aufklärer war Gott der transzendente Mechaniker, der seinen Mechanismus automatisch abrollen ließ Leibniz sieht im Menschen Gottes freie Kraft fortwirken. Er ist dem Menschen gegenüber nicht der bloße Architekt, sondern der Monarch, ja der Vater, der seine Kinder aufruft zur Mitwirkung an seiner Schöpfung. Das ist der große Gedanke, der auch Goethe befeuert. Dies Mitwirken an der Schöpfung, dies Bürgersein im Gottesreich, ist Gnade, ist Glück, Gottesliebe. Mag man diese Größe nur wenigen Menschen zugestehen, so nehmen mittelbar doch viele Empfängliche an diesem Reich teil, weil ohne sie das Reich nicht wirklich wäre. Auch der Rein-Erkennende, der nur Spiegel, nicht Tätig-Mitschaffender sein will, kann als sich erweiternde Monade, die die sich zur Tat bereitende Umwelt durchschaut, an diesem Reich teilhaben. - Das wird durch die wissenschaftliche Problemgeschichte so oft verdeckt, daß man es kaum dringend genug wieder in die Mitte rücken kann: diese mitschöpferische Gotteskindschaft. Aus einem mißdeuteten Piatonismus, einem einseitigen Christentum versteht man diesen überrationalen Geist als übernatürlich. Eine mißverständliche Benennung. Ist nicht Gott selbst schöpferische Natur? So gesehen ist der Begriff „Naturalismus" ohne Inhalt. So kam auch Thomas von Aquino zur großen Einsicht: „Gratia non tollit naturam sed perficit." Die Gnade hebt die Natur 117

nicht auf, sondern vollendet sie. Und diesen Spruch kann man auch über Leibniz' Werk setzen. Soll damit die Transzendenz Gottes geleugnet sein, ein „reiner Pantheismus" behauptet sein? D a sei Gott davor! In dieser überrationalen Höhe lassen sich die Begriffe nicht so scharf begrenzen, wenn sie die religiöse Grenze überschreiten. Hier aber bleiben wir im metaphysischen Gebiet. Dem überrationalen Geist wird die leibliche Umwelt transparent, er sieht auf ihrem Grunde die schöpferische Kraft, die jeder erblicken kann, dessen geistiges Auge nicht blind ist: er sieht sie immanent wirken. Sie ist dennoch ein Mysterium, auf das man mit dem Begriff Transzendenz deuten kann, ohne es zu erklären.Heute, während ich diese Blätter schreibe, fünfzehn Jahre nach jener Katastrophe und jenen Erlebnissen, regte sich der Verdacht, ich könnte in jener außerordentlichen Weltzeit die mir so notwendige Lehre von Leibniz überschätzt und gefühlsmäßig übersteigert haben. Aber wie ich jetzt Monadologie und Theodicee wiederlese, erweist sich der Zauber noch gereifter, gleich einem Orgelwerk im Einklang mit Bachs Passionen und unvergänglicher Dichtung. Gerade in dieser Weltwende, in der Zeit dumpfer Ängste, geistiger Dünste, heilloser Verworrenheit schien eine klärende Literatur notwendig, in diesem Chaos durch klare Vorbilder das Gefühl für Maß und Mitte zu wekken. Das falsche rhetorische Pathos der späteren Schiller-Epigonen war längst erstorben, die Entlarvung der unbewußten sexuellen Triebe hatte vielfach die Farbe religiöser Sektenbildung angenommen, nun aber war auch der Mut erwacht, aufrichtig dem furchtbaren Grauen, der namenlosen Schuld ins Auge zu sehen. Einige Literaturwerke rückten das Erlittene und Getane in mythische Bilder. Aber vergebens hoffte man nach einigen Jahren der notwendigen Krise und Gärung auf seelische Erneuung. Ein Schöpferisches, ein Neues allein kann die Wiedergeburt einleiten, aber kann es entstehen ohne Erbe und Tradition, aus dem Nichts? Die Jugend schien berechtigt, jede Autorität der vorigen Generation, die als Ganzes verhängnisvoll versagt hatte, zu verwerfen — ohne zu bedenken, daß sie oft genug vor der Wahl gestanden hatte zwischen echter geistiger Führung und dem Führer-Anspruch der unbedingten Zwangsmacht, die ihrer Überheblichkeit, ihrer Widersetzlichkeit gegen ethische und geistige Verantwortung so zielbewußt, so methodisch geschickt zu schmeicheln verstand. Und wieviel zersetzende Kräfte hatten sich schon vorher geregt in Philosophie, Dichtung, Kunst, die das schöpferische Prinzip im völligen Bruch mit jeder Tradition finden wollten. Wenn Europa sich behaupten will gegen reinen Materialismus, gegen Rationalisierung und Mechanisierung, so bedarf es beim Abstoßen alles Verbrauchten und Abgestorbenen doch die Bewahrung eines wesenhaften Erbes, einer Kontinuität, einer seelisch-geistigen Substanz der griechischen und römischen, der semitischen und germanischen, keltischen und slavischen Stämme. Wenn wir eine globale Versöhnung auch mit den farbigen Rassen brauchen, so doch nicht ohne unsern eigenen Ausdruck schöpferischer Freiheit zu verteidigen, deren Atemraum vor allem das Pneuma der nationalen Sprachen der indogermanischen Familie ist. Es ist erstaunlich und 118

besorglich, wie man so weithin bei unklaren Hoffnungen auf eine ganz neue globale Kultur den Geist dieser abendländischen Sprachen als ein Unwesentliches, Uberflüssiges zu vergessen scheint - ohne vom schöpferischen Geist das Mindeste verlauten zu lassen. Allerdings mit dem neuen heroischen Menschenbild, das den Menschen beinahe zum passiven, maschinellen Bestandteil einer Mondrakete herabwürdigt, steht diese Gleichgültigkeit gegen unersetzliches Sprachgut im Einklang. Vom Geist der Dichtung haben solche Ideologen nichts gespürt. Daß Nietzsche, wie einst Rousseau, die Kritik am abendländischen Erbe bisweilen übersteigerte, um aus dem Urgrund neu zu schaffen, fordert eine sorgliche Gegenkritik. Verderblich aber ist es, wenn man diese Ubersteigerung noch einmal übersteigert, die abendländische Heimat, das Griechentum schon als Entartung deutet und nur das vorhistorische Pelasgertum verehrt, ja den Geist selbst als Widersacher bekämpft. So begann schon Jahre vor dem ersten Weltkrieg eine Überhitzung der Sdiöpfergefühle, die oft dahin führte, grundsätzlich jeder Tradition - der Ehrfurcht vor der erkannten Wahrheit und der eigenen Geschichte, ja schließlich jedem Gegenstand, das heißt der uns begegnenden Umwelt abzusagen. Abstraktionismus, das Schlimmste, was man bis dahin der Philosophie vorgeworfen hatte, wurde nun zum Schlachtruf des unbedingt Neuen. Der frühere Impressionismus stand mit der Monadologie im Einklang: der Künstler als Spiegel einer „Augenblick"-haften ganzheitlich in seiner Stimmung erfaßten Umwelt. Und zweifellos barg auch der Expressionismus zumal im Anfang echte Schaffenslust, die eben als solche, im Gegensatz zur passiven Spiegelung, von sich Kunde geben wollte. D a wurde jede Wiederholung schon gebrauchter Formen als unedel empfunden, und etwa das Leben in Tiergestalten mit religiöser Inbrunst beseelt. Trotzdem erreichte auch die weitere expressionistische Bewegung nicht ganz ihr Ziel - wohl wegen ihres „Spezialismus". Ein Gemälde sollte nicht allein rein optisch ein Bild bleiben: es sollte auch streng jeden Anklang an den bestehenden oder entstehenden Mythos der Religion Philosophie Dichtung vermeiden. So widersetzte man sich entschieden der Platonischen Idee und fand darum keinen Zugang zum Platonischen Mythos. Erst die abstrakte Bewegung verwarf mit der unbedingten Abstoßung der Tradition selbst die natürliche Anerkennung der Umwelt, jedes Gegenstandes und vertraute allein dem Anarchisch-Individualistischen. Sie bekundete oft eine Verwandtschaft mit einer Forschungsmethode und Lehre, die allerdings als solche umfassend sein wollte: jener Seelenanalyse, die das Unbewußte zu erkennen glaubte, indem sie es auf den einen Geschlechtstrieb zurückführte und die sich weithin wie eine religiöse Sekte ausbreitete. So fand man eine wesentliche Quelle des Schöpferischen im Unbewußten, aber wie soll der chaotische Individualismus zum neuen Aufbau der menschlichen Gemeinschaft führen? Gerade in dieser bedrohlichen Weltwende ist die Besinnung, die Literatur notwendig, die in der Kontinuität mit überdauernden Kräften das wahre 119

Neue überzeugend ausspricht. Aber wo sich in der „schönen Literatur" Ansätze daxin zeigten, da fühlte sich gerade die Jugend, schon vorher mißtrauisch geworden gegen den Begriff, den Urwert „Schön", wie von einer Lüge abgestoßen: wo gibt es wirklich Harmonie in der Welt, ist nicht das Geschehen häßlich und unmenschlich, die harmonische Dichtung also eitel Lüge? Das H ä ß liche, das Kleine im Menschlichen, die Ziellosigkeit, den Nihilismus anzuerkennen sdiien die verehrungswürdige Wahrheit. Welch widersinnige Folgerung. Nein - allein das harmonische Bauwerk aus vielfach widerstrebenden Kräften ist sinnvoll und heilbringend. Nur die Bejahung eines schönen Lebens und Erlebens, nicht sehr treffend Optimismus genannt, ist eine fruchtbare Grundlage unseres Tuns und je mehr wir in Häßlichkeit verstrickt sind, um so besser erkennen wir die Notwende der heilenden Kraft, des „Guten" darin, im Aufbau des Schönen Lebens mitzuwirken - wie einst das fromme Volk wenigstens Bausteine für die dauernden Kathedralen herbeitrug. Gewiß lag es nahe, Leibniz wegen seines „Optimismus" zu höhnen, wie sogar Kant, als er seine Frontwendung gegen jenen vollzog, sich auf Voltaires „ehrlichen Candide" berief. Als ob nicht gerade Leibniz selbst die furchtbare Wirklichkeit gesehen und miterlebt hätte. Gegen Ende des großen Krieges geboren sah er gerade in den Trümmern die große Aufgabe des schönen Aufbaues, sah er die deutsche Zersplitterung, den Konfessionshaß der Religionskriege, die Raubkriege Ludwigs, den Türkenangriff, den Terror gegen die Hugenotten. Und alles sah er nicht passiv als bloßer Denker, sondern tätig als Staatsmann nach allen Seiten wirkend, im höchsten Gefühl der Mitverantwortung für die Politik Europas. Wie hoffnungslos sind heute die Menschen, welche offen erklären, sie arbeiten allein um Geld zu verdienen, irgendwelche sinnvolle Aufgabe könnten sie sich nicht denken, durch Liebe zu anderen würden sie nicht getrieben. Wie glanzvoll ist dagegen die Monadenlehre für ein Leben- und Wirkenbejahendes Dasein. Wir sind umgeben von Monaden, die wir zu höherem Leben wecken können. Nur ein kleiner Anteil von ihnen erfährt das Glück, ein Geschöpf zu werden, an dem die Sonne Augen hervorruft, daß es das Sonnenlicht wahrnehmen kann. Wir zweifeln nicht, daß Schwalben, die weitgespannte Kurven über das Land schwingen, Lerchen, die jubilierend aufsteigen, Lust empfinden. Aber nur wir zu Menschen Auserwählten, die sich der Wolken und Blumen, der Sternbahnen, der Mitmenschen bewußt werden, sind zu Gotteskindern berufen, um selbst schönes Leben zu erzeugen. Ein unbegreiflich hohes Glück der Erlesenen! Allerdings, weil sie der sinnvollen Aufgabe bedürfen, Neues mitzuwirken, kann ihnen der Trost bloß passiv an diesem Leben teilzuhaben nicht dauernd genügen, aber wie sehr trägt doch diese GanzheitsSicht dazu bei, eine sinnvolle Aufgabe zu finden, das eigene Tun groß zu empfinden. Leibniz' großen Plänen entsprachen große Enttäuschungen, aber wie war er in seinen letzten Jahren dennoch bestätigt und beglückt, daß er dem hohen Freunde Eugen, dem größten Staatsmann und Feldherrn Europas, seine metaphysische Sicht in der Handschrift „Principes de la nature et de la grace" schenken konnte und dieser die reiche Gabe des Genies mit Inbrunst verehrte. 120

(Und solchen Reichtum deutet man als wirkungslose Begleiterscheinung eines medianisch-notwendigen Vorganges! Ich möchte das dumm und widernatürlich nennen - wenn ich es nicht selbst in der Schulzeit für wissenschaftliche Philosophie gehalten hätte.)* Wer die neue Literatur, Lyrik, ausländische Romane und Dramen durchsucht, findet so viel Mißtrauen gegen das Leben und seine Werte, daß er darin einen Beweis für den Nihilismus, für die Hoffnungslosigkeit der wirklichen Lage sehen könnte. Wohl verbindet sich mit einem „Naturalismus", der in Deutschland um die Jahrhundertwende überwunden war, auch ein Optimismus des grauen, unmenschlichen Mechanismus, eines seelenlosen Fortschrittes, die jedes Streben nach Harmonie als Illusion und Lüge verhöhnen. Aber dieser Nihilismus ist mehr Literatur als Wirklichkeit - wie wäre sonst jene volkstümliche Empfänglichkeit etwa für Bachs Mysterienfeiern denkbar? Das ist kein Spezialistentum der abgelösten Instrumentalmusik, gar eines reinen „Formalismus". Heilige Musik, die nur in Wechselwirkung mit heiligem Text bestehen kann. Und das Volk ist nicht nur genießend-empfänglich, es wirkt in der Gemeinde der Laienchöre tätig, als wesentlicher Bestandteil mit. Wie man das Mysterium deute - es vollzieht sich im kosmischen Vorgang, in schöpferischer Polyphonie und in deutscher Sprache - ein Vollzug der Gnade. Nietzsche, der einen so anderen Weg kam, von Schopenhauers weltverneinender Metaphysik, von Wagners dionysischem Musikrausch, so wenig wissend von Leibniz und Schelling, hat dennoch hellsichtig und instinktiv über den großen Gesamtstil das Wesentliche gesagt: als Deutsche der starken Art nennt er Heinrich Schütz, Bach, Händel zusammen mit Leibniz, ein andermal mit Goethe. Dieser große Geist besteht noch als unser Erbgut, mit oder ohne die „Weltliteratur". Um diese kultischen Musikspiele wieder für das Zeitgeschehen, für die Literatur fruchtbar zu machen, bedarf es - und dies hat Nietzsche offenbar gespürt - der religiösen Metaphysik von Leibniz, der metaphysischen Dichtung von Goethe. Wenn es im „wissenschaftlichen", spezialisierenden Betriebe der PhilosophieLehre bisher nicht gelingen konnte, eine gemeinschaftliche, führend das geistige Leben des Volkes befruchtende Bewegung zu begründen, so erweckt doch auch hier der tiefe Ernst, mit dem die Jugend sich um die schwierigen Werke der verantwortungsbewußten Denker bemüht, entschiedene Hoffnung. Was ich selbst einst von Husserl empfing, habe ich angedeutet. Trotz seiner Absicht, sich auf exakte Wissenschaft zu beschränken, beeinflußte er auch den religiösen Geist. Daß er zuletzt metaphysisch Anschluß an Leibniz fand, ist ein wichtiges Symptom. Ich enthalte mich des Urteils über Jaspers, das als voreingenommen gelten könnte. Wie wichtig ihm philosophischer Glaube und Transzendenz ist, ist bekannt.** Wie er zuletzt auch Verteidiger des Mythos wurde, habe ich im Schelling-Aufsatz (Ztschr. f. philos. Forschung, 1961) behandelt. Heidegger, auf Husserl aufbauend, danach von der aprioristischen Methode zur Existenz gewandt, nannte die „Monadologie" unter den drei wichtigsten Büchern für unsere Philosophie. Alle traditionellen Schlagworte verachtend, behandelt er die 121

philosophische Tradition doch mit echter Ehrfurcht. Trotz großer Zurückhaltung im Gebrauch des Wortes Gott, sucht er in aller Erscheinung, ja noch hinter der Metaphysik, das Göttliche, das wie bei Leibniz alle Existenzen durchdringt*. (Otto Pöggeler hob in seiner Abhandlung „Sein als Ereignis" diese Entwicklung Heideggers heraus. Ztschr. f. d. philos. Forschung X I I I . 4. S. 597 bis 622.) Heidegger schloß „Der Satz vom Grunde" mit der Preisung des Dichterischen, Schöpferischen im Gegensatz zum Formalistisch-Logischen. „Es bleibt nur Spiel: das Höchste und Tiefste. Aber dieses ,nur' ist Alles, das Eine, das Einzige." (Das „Spiel" - man denkt an den Phaidros-Mythos, der sich vom Rationalismus lossagt) Und „Der Feldweg" schließt: „Spricht die Seele? Spricht die Welt? Spricht G o t t ? " * * Das führt uns zur vielberedeten „Transzendenz", die hier allein religiös und metaphysisch, nicht bewußtseins-analytisch, psychologisch erwogen werden soll. Ein wahrhaft problematischer Begriff! Wenn die Kirche unzivilisierte Stämme ihrem Reich einordnen, ihre Gewalttätigkeit unterdrücken wollte, so bedurfte sie des Augustinischen Mittels, der Drohung mit den Höllenstrafen im Jenseits. Den Denker kann diese Vorstellung nicht befriedigen. Wohl stimmt es zum Schöpfungswerk, daß der Schöpfer mit der vollendeten Himmelsrose, wie bei Dante, sein Werk beschließt, wenn die vorgesehene Zahl frommer Menschen erreicht ist. Aber die Bestrafung der zum Bösen geschaffenen Menschen empfand auch Dante als unlösbares Rätsel. Verständlich ist es, daß der Gärtner die mißratenen, auch die nur überflüssigen Gewächse rodet, aber der Gärtner, der sie wütend zertrampelt, wäre kein menschliches Vorbild. Sinnvoll wäre also die Deutung, daß die mißratenen Menschen und die, welche nicht zur Schau des Göttlichen gelangten, den ewigen Tod, das Ende der Bewußtheit erlitten. Und daß die Frommen, denen ein elendes und qualvolles Leben auf Erden beschieden war, nach ihrer Auferstehung zu einem ewigen glückseligen Leben berufen werden, erscheint als schöne Vollendung eines irdischen Glaubens. Aber dagegen steht das Bedenken: wird damit nidit unser diesseitiges, leibliches Dasein entwertet? Ist nicht die Erde der Garten, zu dessen Pflege wir bestellt sind? Auch das Christentum war anfällig für die Gefahr der Askese, der Weltverneinung, der Leibverachtung - Treulosigkeit am Sinn der Erde. Dem metaphysischen Triebe, die wahre Welt erst hinter der sinnlich-leiblichen zu suchen, setzte Nietzsche seine Verachtung der „Hinterwelten" entgegen. Aber es ist ein Mißverständnis, in der materialistischen Weltanschauung die echte Immanenz gegenüber jener Transzendenz zu vermuten. Der Mechanismus ist der Idealismus der exakten, der strengen, subjektlosen Wissenschaft, Notwendigkeit, deren Voraussage unausweichlich ist. Auch die Physik ist transzendent, abstrakt, ihre bewiesene Wahrheit ist eine Hinterwelt hinter der uns sinnlich, anschaulich, unmittelbar gegebenen leiblichen Welt. Was der religiöse Glaube oder Mythos ins Transzendente rückt, behält meist die leibhafte Vorstellung, die Siebendimensionalität in einem verklärten Zustande bei. Dantes Seelen unterscheiden sich vom leiblichen Menschen allein dadurch, daß 122

sie keine Schatten werfen. Der Mechanismus dagegen beschränkt sich auf die vierdimensionale Betrachtung des körperlichen Geschehens, um davon auf die reine ratio, die abstrakte Berechenbarkeit überzuspringen. Er beweist die Wirklichkeit seiner rechnenden Hinterwelt, die aber exakt auf das vierdimensionale, das rein-körperliche Geschehen beschränkt ist, durch große Lebenserleichterungen - und mörderische „Atom-Technik". Diese religiösen und physikalischen Transzendenzen machen sichtbar, daß ein anderer sonst gelegentlich gebrauchter Begriff, die „ T r a n s p a r e n z " weit eher dem Wesen adäquat ist. Piatons Dialoge werden gewohnheitsmäßig mißbraucht als Modell der weltentwertenden Transzendenz. Z w a r ist nicht zu leugnen, daß Piatons Denken einige Male den Überschritt ins Übersinnliche, Ewige vollzieht, aber wer die Dialoge unbefangen liest, weiß, daß er mit solchen Augenblicken mystischer Transzendenz die leibhafte Welt nicht entwertet, sondern vollendet. Im T I M A I O S sind alle Zweifel behoben, daß nur der Schöpfergott mit seinen ewigen Gedanken höher steht als unser göttlicher leibhafter Kosmos. Seine Transzendenz ist nur der höchste Augenblick, dauernd bewährt sicii die Wirklichkeit der Substanzen, der Existenzen, der beseelten Gestalten - aber sie sind transparent geworden: durch sie hindurch scheinen uns die oder eine ewige schöpferische Macht. Die lebendige Welt wurde vollkommen. Der Denker und Dichter, glühender Verehrer der Leiblichkeit, schaut auch durch die („pluralistische") Welt hindurch auf das Eine, nicht um jenes Durchschaute zu entweihen und zu entwerten, nicht um sich in eine Ideenwelt zu flüchten, sondern umgekehrt: um jener Gestaltenwelt durch die Idee des Schöpferischen, des Göttlichen ihren höchsten Sinn und Wert zu verleihen. Die Spannung zwischen Vielheit und Einheit, Erscheinung und Wesen, Diesseits und Ewigkeit ist selber die belebende Kraft, die Wechselwirkung, zu der die leibhafte Sinnlichkeit notwendig ist wie zeitweise Askese, aber der Asket muß wissen, daß seine Existenz im leiblich-sinnlichen Dasein wurzelt und der Mensch sinnlicher Erfahrung kann den Sinn seines Daseins nicht ohne Blick auf die Vollendung, die Verklärung finden. Kant f a n d als Kritizist in seinem großen Prinzip des Transzendentalen die Möglichkeit, im wesentlichen in der Immanenz zu bleiben ohne zu transzendieren, doch ein Göttliches zu ahnen. Aber mit einem beschränkten Sinn f ü r das Schöpferische, die Kunst, wies er nidit auf das Heil wie Nietzsche: „Was allein kann uns wiederherstellen? D e r A n b l i c k d e s V o l l k o m m e n e n . " ( X I V . 171). Goethe wie H ö l derlin erlebten das Göttliche, die N o r m in der sinnlichen Erscheinung aber nur im seltenen Augenblick. N u r das sonnenhafte Auge erblickt das Sonnenlicht, nur wer Göttliches in sich besitzt, entzückt sich am Göttlichen. N u r ihm scheint das Göttliche durch die sinnliche Erscheinung hindurch."' Im Kampf gegen mechanistischen Positivismus standen wir anfangs, wie der junge Nietzsche, der Romantik weit näher als dem Rationalismus, der „Verstandesaufklärung", wie er sich bei Christian Wolf durchsetzte. Ich war befriedigt in der Vorstellung, daß die Ratio als Berechnung, quantitative Betrachtung, Mechanik vierdimensional bleibe, also von Leben und Schöpfung nichts 123

umfasse. Bei der „formalen Logik", (die weder formal nodi Logos ist, sondern „formalistisch-leere Analyse) ist die Reduktion auf drei Dimensionen noch deutlicher: das rein analytische Prinzip der Identität: A = A, und des Widerspruches: Non-A nicht = A hat Sinn nur bei Ausschluß des zeitlichen Geschehens. Parmenides, der auf das beharrende Sein blickt, erkennt im zeitlichen Wandel einen Widerspruch, den er von der währenden Substanz ausschließt. Folgerichtig erkennt Heraklit im Werden, in der zeitlichen Vereinung von Sein und Niditsein das wahre Sein und in den unterbewußten Vorgängen der Seele den echten Logos.::" Aber die neuzeitliche mathematische Physik wollte um der Berechenbarkeit willen möglichst den Wandel ausschalten: auch der Energiesatz causa aequat effectum sieht vom echten Werden ab. Mit solchen Überlegungen glaubte ich Leibniz zu verstehen. Ratio sei der vierdimensionale Verstand, der apriori Raum, Zeit, Materie quantitativ erkennt, die Gesetze apriori, an die auch Gott bei der Schöpfung gebunden sei: Mathematik und Logik. Alles Lebendige sei eine rational nie erklärbare Schöpfung. Aber sogleich stieß ich auf eine große Schwierigkeit - schon im Titel: „Principes de la nature et de la grace fondes en raison." Also ratio ist nicht die formalistische Denkform, sondern der schöpferische Weltgrund. Also war Leibniz doch Rationalist, ja Logiker, im Gegensatz zur freien Schöpfung?! Wie wäre ein rationales Streiten darüber bis heute möglich, wenn die Frage rational einfach zu beantworten wäre? Wie bei Piaton führt die höchste Antwort entweder ins Mythische oder ins Mystische. Das Mythische ist gleichnishaft transparent für die ewigen Kräfte, aber es kann sich verwirklichen entweder im geschichtlichen Ereignis oder im Gleichnis der Dichter und Denker, die beide symbolisch das aussprechen, was unbildlich nicht sagbar ist. Leibniz weiß sich im Audienzzimmer Gottes, wenn er auch nicht wie Goethe und Hölderlin das dichterische Gleichnis findet. Im ersten Essai der Theodicie, N r . 7 (auch Monad. 36 u. 90) wird Gott sowohl cause wie raison der Welt genannt, Ursache und Grund. Grund und ratio im Einen, aber Ratio nicht im Sinne der Verstandesaufklärung, der Erkenntnis des mathematischen) Notwendigen, sondern als Erkenntnis des Wesens, als weltumfassende Vernunft und zugleich als Wille, der die Tatsachenfolge, das Weltgeschehen verursacht. Leibniz ist sich der Grenzen seiner Wissenschaft bewußt und weiß, daß er der metaphysischen, ja der mythischen Bildhaftigkeit bedarf. Er sieht die schöpferische Weltkraft wie einen ins Unendliche gesteigerten Menschen. Er unterscheidet in Gott die puissance, die Macht, die Urkraft der Welt. Als zweites den Verstand, Pentendement, die Intelligenz, die Weisheit. In ihr erkennt Gott alle Möglichkeiten von Welten: alles was keinen Widerspruch in sich trägt, ist möglich. Das Dritte ist der Wille, der das Gute erstrebt, die beste Welt unter den möglichen auswählt und durch das Erste, die Macht, diese verwirklicht. Durch den Verstand ist Gott der Begründer der Wesenheiten, der Essenzen, erst durch den Willen die Ursache der Existenz — der Monaden. Leibniz schließt die Theodicee mit der großen, aber wenig beachteten mythischen Parabel. Zeus ist der Schöpfer. Pallas Athene reprä124

sentiert seinen Verstand, der alle möglichen Welten erkennt, la science de la simple intelligence — sie ist wesenhaft also auch der menschliche Verstand. Apollon aber ist der göttliche Seher, der voraussieht, was wirklich geschehen wird, der also nur die Welt sieht, die Zeus erwählt - la science Divine de vision, qui regarde les existences" - die geschaffenen Monaden. Aber erst Zeus vollzieht wirklich deren Schöpfung. So sieht auch Hölderlin in Apollon, dem Sehergeist, seinen Herrn (Nicht wie Nietzsche in Dionysos), der aber einen Gegensatz zur nüchternen Juno bildet. Der Unterschied vom folgenden Ich-Idealismus ist groß, denn Leibniz erkennt die Monaden, das Du, das Wir unmittelbar als wesensgleiche Substanzen, als Persönlichkeiten, nicht als b l o ß e Erscheinungen. Er führt das Bild fort in der „Monadologie". Gott ist Schöpfer und Baumeister der Welt, auch der beseelten. Aber er ist darüber hinaus Monarch des Mensdienreiches, er ist liebender Vater der Menschen. Denn die Menschen sind nicht bloße Gesdiöpfe: sie haben Anteil am Verstände, der die Möglichkeiten erkennt, am Willen, der das Beste und Schönste auswählen und verwirklichen kann. Allein aus diesem Gedanken ist Leibniz' Gedankengefüge und dessen Wirkung in der „Deutschen Bewegung" zu verstehen. Und nur weil er die Idee des Guten und Schönen in sich erkennt, kann und darf der Denker sie Gott zuschreiben und sich rückwendend sie als Grund, als raison der Welt begreifen.* Es läge nahe, die göttliche Vision von der menschlichen Ratio unbedingt zu scheiden. Das tat Kant, der den intellectus archetypus, das schöpferische Anschauen wohl als bloßen Begriff gelten ließ - aber ihn unbedingt dem Menschen absprach. Das ist sein Unterschied von Leibniz und Goethe, die beide nicht nur glauben an diese schöpferische Anschauung sondern bewußt wirkend an ihr teilhaben. (Goethes „Anschauende Urteilskraft".) Für Leibniz ist die Ratio, soweit sie sich auf rechnendes und schließendes Denken beschränkt, also das discursive Denken sekundär (einmal nennt er es „Glauben"!) gegenüber der unmittelbaren (intuitiven) Einsicht, etwa der Sicht des Kopernikus, die sekundär beweisbar sein kann. Daß der Mensch an der göttlichen Vision teilhaben kann, besagt auch der Schluß der „ P r i n c i p e s . . . " : da wird sie das göttlidie Erkennen, la vision beatifique genannt, als höchstes Glück der Menschen bezeichnet, als Vorgeschmack des ewigen Lebens. Leibniz' ratio als Weltgrund hat keine Ähnlichkeit mit dem „Rationalismus" der Aufklärung. Kants reine Vernunft leuchtet in der Erkenntnis des reinen Sittengesetzes über die Tatsachenwelt in die reine Idee hinüber. Auf die empirische Begründung verzichtend, verzichtet er auf das Erkennen des Schöpferischen. Leibniz, wie in seiner Folge Schelling feiern dankbar die empirische Weltschau - die Welt wird für sie transparent, weil der Schöpfergott hindurchscheint. Das ist nicht Kants reine, es ist die schauende und vernehmende Vernunft. Es ist die Krönung des Tatsachenwissens, die sich im Mystischen darstellen kann, ohne die Erfahrung zu opfern. Doch ist Gott nur im dauernden Weiterschreiten, im progrès perpetuel zu erkennen, aber dieser Weg ist kein Fortschritt in eine unendliche Zukunft, sondern der Vollzug der Gottes125

erkenntnis in der Einzelseele, die in der willigen Einfügung in Gottes Willen ihr höchstes Glück findet. So hat Leibniz seinen philosophischen Mythos vollendet - er ist sich dennodi der Grenze bewußt, die er nicht zu transzendieren versucht. Dies ist das seelisch-geistige Geschehnis, das man den historischen Mythos nennen könnte, der sich in seiner Person, in der Begegnung mit der Königin Sophie Charlotte ereignet. Friedrich der Große, der von seinem Großvater, dem Gründer des preußischen Königtums, mit geringer Achtung spricht, weiß dagegen die Freundschaft der Großmutter mit Leibniz aufs Höchste zu würdigen. Er berichtet: „Ihre Wißbegierde suchte den letzten Grund aller Dinge zu erfassen. Leibniz sagte ihr eines Tages, als sie ihn auf diesem Gebiet in die Enge trieb: Es gibt keine Möglichkeit, Madame, Sie zufrieden zu stellen. Sie wollen das Warum des Warum wissen." Leibniz hatte ihr den Grund dieser uns anvertrauten Welt gezeigt, den Gott, von dem die Monaden aussprühen. Aber den Grund, warum ein Gott existiert, der dies schöne Spiel treibt zu deuten, maßt er sich nicht an. Ich weiß, daß viele Leser, zumal literarische Kritiker, dies als billiges „Harmonisieren", ein trügerisches Glätten oder Verschweigen der tragischen Gegensätze mißverstehen werden. (Von Badi ausgehend wäre es vielleicht richtiger von Polyphonie als von Harmonie zu spredien.) Auch der Sinn der Monadenlehre ist, den Gestaltenreichtum nicht in der Einheit Gottes aufgehen zu lassen, sondern die individuelle Verschiedenheit sämtlidier Monaden untereinander deutlich zu machen, in der Allganzheit den größten Reichtum vieler Ganzheiten zu bestätigen. „Bei aller Kraft, je größer sie ist, je mehr zeiget sich dabei. V i e l a u s e i n e m u n d i n e i n e m , indem Eines viele außer sich regieret und in sich vorbildet." Das aber ist nicht zu leugnen, daß auch die Theodicee nicht überzeugend die vollkommene Güte, Weisheit und Macht Gottes beweisen kann. Leibniz selbst verhehlt die Schwierigkeiten nicht. Wie kann Gott alles Furchtbare und Grausame zulassen?! Zwar das Fürchterlichste, was wir erlebten, kann der Gedanke erklären: Gott hat seinen Kindern das Höchste, den freien Willen gewährt und das Schlimmste geschieht aus diesem menschlichen Willen, wenn er die erfinderischen und staatbildenden Kräfte in unbedingter Selbstsucht dem unbedingten Machtwillen unterordnet. Aber abgesehen davon werden Menschen guten Willens durch elementare Katastrophen und tödliche Krankheiten anscheinend sinnlos gequält. Der gläubige Christ, wenn ihm das irdische Leben ein geringes Vorspiel des ewigen scheint, mag sich mit dem Gedanken bloßer Prüfung abfinden, wenn aber die Philosophie den Sinn unseres i r d i s c h e n Lebens deuten will, so findet sie nicht den Gott, der sich um unser i n d i v i d u e l l e s Heil kümmert. Die überrationale, die vernehmende Vernunft der Philosophie kann sich nicht gleichsetzen der kirchlich gebundenen Offenbarungslehre, denn es gibt verschiedene Religionen, die der vergleichend-forschende Geist als Mythen sehen darf, die das unsagbare Geheimnis auf verschiedenen Wegen vermitteln. Und wenn diese Denker nicht gewiß sind, ob jeder Gläubige in ein persön126

lidies Gesprädi mit Gott treten kann - sind sie darum davon ausgeschlossen, als Beter vor der Gottheit zu stehen? Es gibt ein Beten, das nichts für den Betenden selbst erbittet, sondern nur die eigene Seele hinaufstimmt zur Einstimmung in den überpersönlichen Göttlichen Willen. „Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst." Ein solches Gebet kann geschehen, wenn die immanente Gottheit zugleich transzendent als Vorsehung waltet. Ein solcher Glaube kann an der Grenze des immanenten Pantheismus stehen, wie Goethes Gottnatur, die jedem Individuum Eigenschaften schenkt, mit denen es seine Sinnerfüllung finden kann - die aber um dessen Schicksal unbekümmert ist (Naturhymnos). Soweit rückt Leibniz nicht vom Kirchenglauben ab. Alle Wirklichkeit, die wir kennen, nicht bloß die materielle Grundlage, auch nicht bloß die bewußtlos-lebendige Welt ist die Natur. Natur bloß als Mechanik zu verstehen, die mathematische Physik als „Die Naturwissenschaft", als einzige reale Erkenntnis zu deuten, ist das unverzeihliche proton Pseudos. Aber die höchste Vernunft erkennt über dem immanenten schöpferischen Vermögen des Menschen auch die überweltliche göttliche Gnade im wirklichen schöpferischen Vollzuge, in der transzendenten Macht, die der Betende spürt. In diesem Sinne ist von Leibniz jene Thomasische Formel verstanden: „Gratia naturam non tollit sed perficit." Er wendet sie an: „Die Natur führt zur Gnade und die Gnade macht die Natur vollkommen, indem sie sidi ihrer bedient." („Principes" 15). Der schöpferische Wille ist überweltlich als göttliche Vorsehung - er wird immanent, wenn er im Menschen, dem „kleinen Gott der Welt" wirkt. So ist es angemessen, Leibniz und Schelling, wie den späteren Goethe und Hölderlin Pan-en-theisten zu nennen. Goethes Mythos vom Erdgfeist im Urfaust war weit düsterer als später Vorspiel und Ende im Himmel, die getragen sind von der Weltbejahung Dantes und Leibniz'. - Audi die mit rationalen Mitteln aufgebaute Erdgeschichte bestätigt den schöpferischen Vorgang. Mindestens die Entwicklung des Organischen bis zum Menschen ist ein so offenbarer Ausdruck einer zweckmäßigen (wenn auch nicht zweckbewußten) Kraft, daß nur schwer verständlicher Eigensinn die Finalität leugnen kann. Im Menschen vollzieht sich die Gnade, der Triumph des Schöpferischen - wie auch der unbegreiflich tiefe Verfall. So wird gerade in der Geschichte des zivilisierten Menschen der Sinn wieder ganz unklar: aus dem größten Fortschritts-Optimismus der Aufklärung das grausigste Morden. Nach dem Herdenglück des Kronos-Alters führt gerade das schöpferische Zeus-Alter zu unlösbaren Widersprüchen (Piatons Politikos). In der Zivilisation gibt es keinen dauernden „Fortschritt" - eine Feststellung, die vielen ethischen Denkern unerträglich war: ohne Fortschritt gilt die Geschichte - und damit das Dasein sinnlos. Aber es scheint, daß wir uns wie Goethe damit abfinden müssen: in der historischen Geschichte wechseln Gezeiten von Glaubenskräften und fruditbarem Aufbau mit glaubenslosen und zersetzenden. Es ist Schicksal, ob uns Gnade trägt oder wir ins Wellental abgleiten - aber ohne guten Willen, ohne aktives Mitwirken steigt der Mensch nicht auf. Nur Gegenwart ist wirkliche Erfüllung. Greifen wir in die Vergangenheit zurück, so finden wir keine 127

Notwendigkeitsgesetze des Fortschritts, wohl aber große tragende Bilder sdiöner Erfüllung, und wie die Mysterien-Feiern den Geweihten nicht wirklich der Epiphanie des Gottes versichern, so erhöhen sie doch deren Möglichkeit, indem sie die ahnende Stimmung, die Weihe erzeugen. Solche Erlebnisse, wie sie Kräfte der Vergangenheit in uns erwecken, können sie die Hoffnung in uns bestätigen, unsererseits mit an einer die Zukunft überdauernder Tradition zu wirken. Verwirft man diese Gottesvorstellung, die Ur-Monade im Weltzentrum als unbeweisbare Hypothese, so kann doch jeder Gutwillige etwas vom Schöpferischen Geschehen in der Gestaltenwelt wahrnehmen. Eine dualistische Welt, eine gute und eine böse Weltkraft von gleicher Stärke, in ewigem Gegensatz würde nie eine Welt schöner Gestaltung im Wechsel mit zerstörenden Gegenwirkungen durch den Menschen ergeben, sondern ein dauerndes Chaos, ohne Gestaltung. Nicht ganz mit Unrecht sagt Schiller: „Die Natur ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual." Dann ist es sinnvoll zu sagen: Die schöngestaltende Kraft ist die Gottheit, und der Mensch, dem diese Einsicht offensteht, kann davon ablassen, die ihm anvertraute Erde zu verhäßlichen: er erkennt seine Aufgabe, sie als den schönen Garten zu pflegen. Ein Beter in pantheistischer Gesinnung ist auch Piaton, als er den P H A I D R O S beschließt. Er betet, um es zu wiederholen, zu Pan und den Göttern der Landschaft - denen er seine eigene Gestaltung verdankt: „Gebt mir, schön zu werden im Innern, und laßt, was ich außen besitze, dem Innern befreundet sein." Welch harmonisches Zeugnis: mehr ein Bekenntnis seiner Innern Form, die sich (sibi) auch die Umwelt anpassen möchte, weniger eine Bitte. Aber zu dieser Innen-Form wie zum äußeren Besitz, gehört das Du, die selige Erinnerung an die erste Freundschaft mit Dion. Und Dion ist zugleich die Menschengestalt, die das Göttliche in ihm erweckt. Der schöpferische Vollzug, das wirkliche Ereignis in der musischen und religiösen Sphäre überschreitet unsere Aufgabe, das Gebiet der Philosophie, der bloß vernehmenden Vernunft. Doch kann dies Ereignis seinen Sinn nicht erfüllen, wenn es nicht diese Grenze erreicht hat und im geschichtlichen Rückblick, aber aus eignem ahnenden Erlebnis, das Weltgeschehen interpretiert. Weder kultische Feier noch religiöse Spekulation über Symbole der Transzendenz vollzieht die philosophische Forschung - sie muß sich gründen auf die Erfahrung, die äußere und innere. Wenn die Historie der Menschheit uns keinen „Fortschritt" verheißt, so wissen wir doch von Augenblicken glückhafter Gegenwart in der Umwelt der Geschöpfe, vom Ewigen Augenblick der Sinnerfüllung. G e orge hat diesen besungen: VON WELCHEN WUNDERN LACHT DIE MORGEN-ERDE Als wär ihr erster tag? Die Schöpfung schauert wie im stand der gnade.

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Einmal müssen wir solch seliges Erlebnis gehabt haben, das von da an alle unsere Erfahrungen und Pläne durchstrahlt. So beschreibt es Piaton im unsterblichen Seelen-Mythos des Phaidros dichterisch und metaphysisch. Nur einmal muß der Seele ein Blick in den ewigen übersinnlichen Raum gelingen dann ist sie für diesen einen irdischen Lebenslauf gesichert. Nur nach solchem Ereignis hat sie Teil an Weisheit, Schönheit, Dichtung und Eros (348). Dion ist die Menschengestalt, das Wunder, das sein philosophisches Staunen weckt, der Eros zu ihm jenes höchste Ereignis. Der Weg dorthin ist Erlebnis und Philosophie. Nicht vom höchsten Augenblick, mystischer Ekstase, mythischer Sdiau, nur von philosophischen Wegen dorthin, der Erkenntnis dieser höchsten Möglichkeit hatten wir zu sprechen. Wie Platonisch, die rationale „Verstandesaufklärung" überschreitend wie der Phaidros, ist auch Leibniz. Im Vorwort der Theodicée ist die Gottes-Erkenntnis durchleuchtet von der Glut des liebenden Willens. Das wahre Gefühl, die Gottesliebe ist ein amour éclairé, dont l'ardeur soit accompagnée de lumière. Der Eros, aktiv, zeugungsträchtig ist wie vom Blitz erleuchtet, in Glut oder Brand versetzt, als Licht erscheinend. Es ist von Gottesliebe die Rede. Aber durch das enthusiastische Lob, das er hier seiner frühverstorbenen Schülerin, Preußens philosophischer Königin Sophie Charlotte spendet, spürt man, daß wenn auch nicht unverhüllt wie bei den Dichtern Piaton und Dante, Goethe und Hölderlin, doch audi diese Gottesliebe vom irdischen Eros ihre Glut empfing. Vollkommen nennt er sie in ihrer leiblich-geistigen Schönheit. Darauf könnte schon der Ausdruck tendresse, Innigkeit, Zärtlichkeit deuten. Audi klingt es eher irdisch als transzendent: „Denn es gibt nichts so Angenehmes als das zu lieben was der Liebe wert ist." Aber alles ist getragen von der kosmischen Sicht: Gott ist der Ocean, wir sind nur Tropfen aus ihm aber die Tropfen spiegeln das All. Gott schafft die universale Harmonie: alle Schönheit ist eine Ergießung ihrer Strahlen. Malerei und Musik sind Probestücke d a v o n . . . Mir scheint, daß Goethe, Dichter, Seher und zugleich systematischer N a turforscher diesem innerweltlich-metaphysischen Erlebnis (nicht seiner Systematik) den reinsten bewußten Ausdruck zu geben fähig war. Das Streben nach kosmischer Sinnerfüllung spricht er in der Winckelmann-Biographie so aus: „Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines freies Entzücken gewährt: dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eignen Werdens und Wesens bewundern. Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?" Die Ganznatur des Menschen und des Weltalls, der Mikrokosmos des Ich in bezug zum Makrokosmos, das Glück im harmonischen Ausgleich - das

9 Hildebrandt,

Philosophie

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entspricht der Metaphysik Leibniz'. Doch ist dies geistige Erlebnis Goethes nidit die vollendete Metaphysik. Es ist eine Überbetonung des Einen Individuum, das befähigt ist, den Makrokosmos zu repräsentieren, mehr von Seiten des E g o als vom Pluralismus der Gemeinschaft gesehen, das Übermenschentum. Die metaphysische Vollendung ist größer in Goethes höchsten Gedichten, „Grenzen der Menschheit", „ D a s Göttliche", „Weltseele", die Gruppe „Gott und Welt" und manches im „ D i w a n " . Ist nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen? Den Mittelpunkt der konzentrischen Kugeln findet der Seher im menschlichen Herzen, nicht in der Hybris des Übermenschen. Die meisten Denker suchen den herrschenden Begriff, der das Welträtsel lösen soll, indem sie im Gegensatzpaar den einen billigen, den andern mißbilligen. Goethe erkennt die Polarität und läßt, selber bipolar, beide Pole gelten, ohne sie begrifflich-dialektisch aufzuheben. Das dialektische Denken meistert die Widersprüche nicht, als fühlende Mensdien sind wir der Spannung hingegeben, aber das Erlebnis wird transparent, wir ahnen die höchste Einheit. So sieht Goethe am pulsierenden Herzen die Zweiheit, Systole und Diastole, wie auch die Einatmung und Ausatmung der Brust. Beides ist Gnade, über der Polarität steht die schöpferische Steigerung der organischen Wesen. O b man mit inadäquaten Begriffen Monismus, Dualismus, Pluralismus das Unerkennbare benennt, ist zuletzt nicht sehr wichtig, wenn wir nur den Rhythmischen Wechsel erkennen und mitleben. Bekanntlich nennt Heidegger diesen schöpferischen Weltgrund „das Sein selbst" im Unterschied von allen „Seienden", den wirklichen Geschöpfen und Dingen. D a s Sein ist Geschichte des Seins und weiter nichts. Fragt man mich, warum ich denkend mich nicht schlechthin in dies Gedankengefüge einreihe, so könnte ich sagen, daß sich meine öffentliche Arbeit nur durch einen Sektor dieses Kreises bewege. D a s müßte wohl als Verzicht auf das philosophische, das ganzheitliche Denken erscheinen, wenn es nicht möglich wäre, wirklich einen Sektor, das heißt mit dem Ergreifen des Mittelpunktes, zu durchdringen. Heidegger hält sich sehr von religiösen Worten zurück, aber dann wird es doch deutlich, daß er die Weltzeiten nach Gottnähe und Gottferne bemißt, und daß diese Gotteskraft ein unsagbares Geheimnis bleibt. Er sieht das Urteil darin, daß der Mensch, das animal rationale zum Rechenschaft verlangenden, zum rechnenden Lebewesen geworden ist.11 Er fragt, ob diese Raserei des ausschließlich rechnenden Denkens mit seinen riesenhaften Erfolgen weiter den Menschen behext, am „Denkwürdigen" vorbeizudenken? „Es ist die Weltfrage des Denkens. An ihrer Beantwortung entscheidet sich, was aus der Erde wird und was aus dem Dasein des Menschen auf dieser Erde." (Der „Satz vom G r u n d " . Schluß). Bei der großen Schwierigkeit seines neuen Denkweges, f ü r den Heidegger notwendigerweise eine neue Sprache fand, werden nur Philosophen von Fach sein Werk ganz durchdringen/'"' Wenn ich selbst schon seit dem Dimensionen130

Schema (1920) midi stärker auf dem „geistesgeschichtlichen" Sektor bewegt, die Gestalten einiger Dichter und Denker studiert habe, so hat Heideggers Denken mir nachträglich den Sinn dieses Weges beleuchtet, indem er selbst ihn beschritten hatte: die Verse großer Dichter uns darzulegen als unmittelbaren Ausdruck hoher philosophischer Erkenntnis. So verstand idi erst durch ihn den Sinn meines Vorgehens: Wenn ich ein besonderes Thema eines Denkers oder Dichters durchdenken und midi nur einleitungsweise kurz mit seiner Biographie beschäftigen wollte, so fand ich jedesmal gegen den anfänglichen Plan, daß ich das Gewächs aus Lebensgeschichte und Werk nicht trennen konnte: das einmalige geistesgeschichtliche Ereignis, dies zugleich als Ausdruck eines ewigen Wesens, wollte ich erfassen - von überlieferten Tatsachen und Meinungen nur das, woraus sich diese Einheit fügte. Soviel ich auch den Vorgängern zu verdanken hatte, konnte idi dodi die gestaltenden Momente und Stützen selten von ihnen entnehmen. Dieser Weg, wenige geschichtliche Gestalten mit Hingabe denkend und fühlend ins Auge zu fassen, eine Strecke des eignen Lebens mit ihnen zu leben, ohne den Genuß des Kritisierens, bis man die Möglichkeit zu fühlen glaubt, mit ihnen ein Gespräch zu führen, kann offensichtlich nicht der Weg der Einzel Wissenschaften sein: er sichert nicht den stetigen Fortschritt in der Front der gesamten Problemlage - er birgt seinen Sinn nur in sich, wenn man die seltenen Personen höchsten Ranges wählt - nicht als Objekt der Forschungsmethode, sondern als Führer - richtiger vielleicht sich von ihnen wählen läßt. Vielleicht wird man selbst Welle im Strom, in den manche Flüsse münden, Ergebnisse aus andern Gebilden und Disziplinen. Vielleicht heißt es in Umwelt und Geschichte die zündenden Funken zu suchen, die eine neue Glut wecken können. Dieser Funke, von dem Piaton und Ekkehart gesprochen, Dante und George gesungen haben, ist das Rätsel, dessen Deutung kein Schema vollzieht, aber es dient, sein Maß, seine Auswirkung zu verdeutlichen. Die großen Gestalten, die als Dichter und als Denker gleichsam den Raum in Schwingungen versetzen, so daß auch andere Monaden erweckt werden und im gleichen Rhythmus mittönen, erwecken diese auch für das Durchschauen neuer Dimensionen und machen sie empfänglich für das eigene Element, die gesteigerte Dimensionalität, in der die Einheit von Philosophie, Religion und Dichtung: der Mythos sich bewegt und nährt. Zwischen diesen drei mythischen Mächten muß das Gespräch walten, nach Lage der Zeit sparsam oder schwellend. Aber der Dichter darf sich dem Gespräch entziehen, wenn das begriffliche Gewebe für das Gewächs seiner Phantasie sich allzufein und dicht verästelt. Denk nicht zuviel von dem was keiner weiß! Unhebbar ist der lebenbilder sinn — Jenes Schema ist nur Denkhilfe, aber ich vertraue ihr, daß sie die uns notwendige Denkhilfe für die menschliche Interpretation der gesamten Welt ist, daß sie den Stufenbau bedingt, auf dem wir denkend den Aufstieg zu jenem unsagbaren Geheimnis des Schöpferischen nachvollziehen, klären können. Auf der Höhe leuchtet es uns durch das Gelebte und Ersehnte hindurch und vermag

9a H i l d e b r a n d t , Philosophie

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nun wieder die Stufen herabsteigend das Gesdiehen zu durchdringen. Mit seinem Wort ,principium a Deo' wies Hölderlin auf dies Geheimnis der vereinenden, gestaltenden Kraft, die sich in der Versöhnung vollendet. Und den Sinn des Erkenntnisweges deutete er mit seinen großen hymnischen Versen: Immer stehet irgend Eins zwischen Menschen und ihm. Und Treppenweise steiget Der Himmlische nieder. So steht es in der Hymne DER EINZIGE, welche schließt: Die Diditer müssen auch Die geistigen weltlich seyn. Ich darf mit dieser obersten Metapher schließen, denn ich versprach wohl, einen Weg zur Philosophie, also zur ganzheitlichen Selbstbesinnung zu zeigen, aber nidit diesen Weg weiterzugehen bis zur Erkenntnis des Seins.* Hoffen wir nicht das Rätsel des Seins durch Einen Begriff oder durch Annahme Einer Substanz zu lösen, denn es muß Tun und Leiden umfassen. Genügt uns doch audi das aut-aut der Polarität nicht, denn höher reicht die Steigerung im et-et der Versöhnung. Wir dürfen uns stützen auf die Formel des TIMAIOS: es kann der Beste nur das Schönste machen (poiein, dichten). Gestaltung bleibt der höchste Sinn des Weltgeschehens und sie setzt die göttliche Liebe zum Schönen Leben, zur schönen Gestalt voraus. Solche Lehre hat Leibniz dem mechanistischen Zuge, diesem Drachen des P H A I D O N entgegengestellt: Unsere Liebe zur schönen Welt ist unsere Teilhabe an der Gott-Natur. Die Spannung des Eros steht im SYMPOSION am Anfang der Weltentstehung (Parmenides). Vielleicht ist Goethes metaphysische Formel dafür die höchste: In dieser Spannung, dem ewigen Puls von Systole und Diastole ist alles schöpferische Geschehen eingespannt: der Puls zwischen Verdichtung im Selbst und Entselbstung in kosmischer Expansion, der Hingabe ans Göttliche. Unser Wille zum Schönen leitet uns zur Harmonie.'1"''' Das Erlebnis der T r a n s z e n d e n z gefährdet uns, durdi m y s t i s c h e Absonderung in Sorge und Verantwortung für unsere Erde zu erlahmen. Das Erlebnis der T r a n s p a r e n z macht unsere Augen heller für die Schönheit der Welt und die Möglichkeiten der menschlichen Umwelt - sie lehrt uns den schöpferischen Sinn zu fassen in mythischen Urbildern. Sehen wir allenthalben in der lebendigen, zumal der geistigen Natur die schaffende Macht leise durchschimmern oder glühend durchleuchten, so bleibt doch überall das Geheimnis, Piatons Arrheton. Das macht uns bewußt: alle philosophische Besinnung, die das exakt beweisbare Wissen überschreitet, ist Deutung, Interpretation, die Kunst, die auch die Krone der Philologie ist. Das scheinbar lähmende Bekenntnis der Scholastik und von Leibniz (in Gegensatz zur rationalistischen Aufklärung) besagt: daß die göttlichen Lehren nicht aus der Vernunft zu beweisen sind, ihr aber nicht widersprechen dürfen. Auf das frivole credo quia absurdum Tertullians folgte das credo ut intelligam Anselms. Zuerst muß die Seele in den ihr beschiedenen Dimensionen erschüttert, in 132

den ihr möglichen Regungen im größten Umfang geweckt sein — wenn die Vernunft das All vernommen hat, kann sie die Wege gehen, das Weltgeschehen zu verstehen und das Gedankengefüge zu erbauen, das dessen Interpretation am dienlichsten ist. Was anderes könnte unsere Verantwortung wecken als die Schau der Wirklichkeiten und Möglichkeiten des Schönen? Das Erlebnis gnadenvoller Versöhnung fand seinen hohen Ausdruck in jenen Versen: VON WELCHEN WUNDERN LACHT DIE MORGEN-ERDE Als wär ihr erster tag? Erstauntes singen Von neuerwachten weiten trägt der wind Verändert sieht der alten berge form Und wie im kindheit-garten schaukeln blüten Die schöpfung schauert wie im stand der gnade.

133 Sa-

ANMERKUNGEN S. 23. 1913 trat Arthur Kronfeld, von Prof. Nissl, der Heidelberger UniversitätsKlinik kommend, in unsere Ärzteschaft der Wittenauer Heilstätten. Er war eine sprühende und expansive N a t u r und zog einige von uns zu phänomenologischen Krankenuntersuchungen an sich. Wir erwarteten durch ihn von Jaspers zu hören, aber bald teilte er mit, er wolle die Psychiatrie „entjaspern". E r kam von Brentano, Husserl, gehörte aber zur Neufriesischen Sdiule (Nelson). Von Freud wußte er viel, ohne zur Sekte zu gehören. Er lieh mir Brentanos „Psychologie", dessen Bedeutung ich noch nicht überschaute. Das Erfreulichste am deutschen Volk fand er damals den „Militarismus". Den Kriegsausbruch erlebte er patriotisch mit, erhielt im Felde früh das E K I, kehrte aber ganz gewandelt als Pazifist und Marxist zurück. S. 60. Kürzlich erschien (Ztschr. f. philosoph. Forschung X I I I . 1) ein Bericht von Hans Hartmann über Plancks philosophische Stellung, der mich sehr in meiner Oberzeugung bestärkt. Plancks religiös-metaphysische Oberzeugung und seine Fachleistung in Physik sind grundsätzlich getrennte Gebiete, dennoch möchte man sagen: seine tiefe religiöse Ehrfurcht bestimmt auch seine Ehrfurcht vor der Wahrheit in der Physik. Erwähnt ist auch seine Anerkennung für Max von Laue, bei dem hingegen die Fachleistung sich ganz eingliedert in seine philosophische Sicht. Laue hat in seiner Selbstbiographie sein Bekenntnis über den philosophischen Geist der wissenschaftlichen Forschung abgelegt, dem ich aus vollem Herzen zustimme: „Sie (die Philosophie) hat mein Dasein von Grund aus umgestaltet, selbst die Physik scheint mir seitdem ihre eigentliche Würde nur daher zu beziehen, daß sie ein wesentliches Hilfsmittel der Philosophie abgibt. Wie ich denn überhaupt die Auffassung habe, daß sich sämtliche Wissenschaften um die Philosophie als ihr gemeinsames Zentrum herumgruppieren müssen, und daß der Dienst an ihr ihr eigentlicher Zweck ist. So und nur so ist gegenüber der unaufhaltsamen fortschreitenden Spezialisierung der Wissenschaften die Einheit der wissenschaftlichen Kultur zu wahren, jene Einheit, ohne welche diese ganze Kultur dem Zerfall geweiht wäre." Das ist die H a l tung, die mir manche Spezialisten übelnahmen. S. 64. Abneigung gegen echte Philosophie ist bei Mathematikern und Pysikern nicht selten. Selbst Gauss meinte, Geometrie und R a u m hätten eine vom Geist unabhängige Realität. 1844 schreibt er (zitiert bei Jammer 165): „Sehen Sie sich doch nur bei den heutigen Philosophen um, bei Schelling, Hegel, Nees von Esenbeck und Consorten, stehen Ihnen nicht die H a a r e bei ihren Definitionen zu Berge? Lesen Sie in der Geschichte der alten Philosophie, was die damaligen Tagesmänner Plato und andere (Aristoteles will ich ausnehmen) für Erklärungen gegeben haben. Aber selbst mit K a n t steht es oft nicht viel besser; seine Distinktion zwischen analytischen und synthetischen Sätzen ist meines Erachtens eine solche, die entweder nur auf eine Trivialität hinausläuft oder falsch ist." (!) Kant, der ganz Neues brachte, war tatsächlich nicht leicht verständlich. Der nicht eingeweihte Denker setzt „real" und „objektiv" gleich. Die Raumvorstellung ist als solche subjektiv, nicht real, aber für die Erscheinungswelt objektiv. Dieser Gegensatz muß geklärt sein. Soll man darum von den Physikern fordern, daß sie Kants „Kritik der reinen Vernunft" studie134

ren? D a s w ä r e unbillig und überflüssig. Wer aber die R a u m l e h r e und d a m i t d a s „ A p r i o r i " v o n L e i b n i z und K a n t philosophisch verstehen will, braucht nur wenige Seiten a m A n f a n g der K r i t i k d. r. V . zu lesen, um sich gründlich zu klären, wenigstens § 1 und § 2 . D e r S t u d e n t e m p f ä n g t oft den Eindruck, das R a u m p r o b l e m sei im W e s e n t l i d i e n durch die P h y s i k und die niditeuklidische G e o m e t r i e gelöst. D a v o n sind wir, wie Einstein und J a m m e r eingestehen, noch weit entfernt. (S. X I V u. 2 0 7 — 2 2 0 ) . Dessen U n t e r suchung schließt: „ W i e jede Wissenschaft, so muß m a n die Wissenschaft v o m R a u m immer noch als eine ungelöste A u f g a b e bezeichnen. Ist der R a u m hyperbolisch oder sphärisch g e k r ü m m t ? " Leicht v e r f ä l l t der v e r t r a u e n d e S t u d e n t der Fiktion, d a ß der Physiker u n b e f a n gen E r f a h r u n g e n s a m m l e und durch A b s t r a k t i o n die w a h r e Theorie gewinne. A b e r bekanntlich ist diese M e t h o d e B a c o n s ziemlich unfruchtbar. Einen ungeheuren E r f o l g h a t dagegen Galileis M e t h o d e : a n einzelne Beobachtungen a n k n ü p f e n d und mit neuen mathematischen Begriffen begreifliche vorbildliche V o r g ä n g e z u konstruieren und sie a n Experimenten nachzuprüfen, die rein empirischen K o n s t a n t e n zu beredinen: Wechselwirkung v o n I n d u k t i o n und D e d u k t i o n , M a t h e m a t i k und sinnlicher Wahrnehmung. S o versucht Einstein nicht zu verbergen, d a ß er v o r sich ein Ziel sieht, sich durch eine T e n d e n z leiten läßt. Z . B . schließt er d a s V o r w o r t : „ E i n e andere Möglichkeit f ü r die Ü b e r w i n d u n g des Inertialsystems als die über die F e l d theorie h a t bis jetzt niemand g e f u n d e n . " W a r u m diese Ü b e r w i n d u n g n o t w e n d i g ist, e r k l ä r t er hier nicht. A u d i J a m m e r s a g t es nicht: er begnügt sich, a m Schluß mitzuteilen, Einsteins letzte Arbeiten „scheinen d a r a u f hinzudeuten, d a ß er den Verzicht a u f d a s Machsche I n e r t i a l p r i n z i p f ü r aussichtsvoller h a l t e " . S o schließt er kleinlaut, d a ß die Forschungen über die Größeneigenschaften des R a u m e s , so umstritten sie sind, doch letzten E n d e s G e g e n s t a n d wissenschaftlicher Forschung gew o r d e n sind. K a n n m a n bescheidener sein? S. 64. Z u m Handschuh-Beispiel sagt H . W e y l : „ K a n t findet den Schlüssel z u m R ä t sel des L i n k s und Rechts im transzendentalen Idealismus. D e r M a t h e m a t i k e r sieht dabei nur die kombinatorische Tatsache des Unterschiedes v o n g e r a d e n und ungeraden Permutationen. D e r Widerspruch zwischen dem Forschen des Philosophen und des M a t h e m a t i k e r s nach den Wurzeln der Erscheinungen, welche uns die Welt liefert, läßt sich k a u m a u g e n f ä l l i g e r zeigen." ( J a m m e r S. 144.) Weyl versteht a l s o n u r die begriffliche Definition, ich vielleicht n u r die anschauliche E r k l ä r u n g . Weyl f ü h r t K a n t s Anschauung a u f den transzendentalen Idealismus zurück. K a n t h a t jedoch diesen schönen G e d a n k e n 1768 a u s g e f ü h r t , den transzendentalen I d e a lismus aber erst 1781 veröffentlicht und frühestens 1772 konzipiert. Diese C h r o nologie braucht selbstverständlich kein M a t h e m a t i k e r z u kennen, aber W e y l hätte w o h l verstehen können, d a ß jene phänomenologische Beobachtung nicht aus d e m Idealismus abgeleitet werden konnte. S. 65. E s ist eine unter P h y s i k e r n weit verbreitete A n n a h m e , d a ß Einstein durch k l a r e Ergebnisse den euklidischen R a u m widerlegt h a b e und d a m i t K a n t s Lehre v o m A p r i o r i veraltet sei. D a s ist ein I r r t u m . D a s durch Einsteins V o r w o r t gebilligte Buch v o n J a m m e r schließt d a m i t a b : Einstein h a b e 1917 den R a u m als s p h ä risch betrachtet, d. h. als unbegrenzt, aber dem V o l u m e n nach endlich. D i e Lichtstrahlen kehren zu ihrem A u s g a n g s p u n k t zurück. ( D a r a u s w u r d e ohne Widerspruch Einsteins geschlossen, es sei die Zeit, die kreisförmig v e r l a u f e : also Nietzsches ewige Wiederkunft). N a c h Milnes Theorie sei dagegen der dreidimensionale R a u m als hyperbolisch z u betrachten, d a s vierdimensionale R a u m - Z e i t - K o n t i n u u m als euklidisch. In D i r a c s K o s m o l o g i e sei der dreidimensionale R a u m euklidisch (also kein Widerspruch gegen K a n t ) (219). Bei diesen Widersprüchen in den G r u n d l a g e n sollte m a n um so dringender v o n der Tatsache Kenntnis nehmen: zu unserer A n -

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s c h a u u n g der körperlichen Welt gehört unabdingbar apriori die euklidische Raumvorstellung - die rechnerischen Abwandlungen führen ins Unanschauliche. Einstein selbst war kein „Einsteinianer"! Er war nicht doktrinär festgelegt gegen Metaphysik und Religion, denn er sagt (zitiert nach Barnett) „ D a s tiefste und erhabenste Gefühl, dessen wir fähig sind, ist das Erlebnis des Mystischen. ( „ M y stisch" war in der Hoch-Zeit des Positivismus das schlimmste Schimpfwort für einen Gelehrten.) Aus ihm allein keimt wahre Wissenschaft. Wem dies Gefühl fremd ist, wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, der ist seelisch bereits tot." Das erinnert an Newton, doch ist in Einstein die Spannung noch radikaler als bei Newton, bei dem neben der Überzeugung vom kosmischen Uhrwerk der Glaube an Danielsche Weissagungen steht, denn Einstein bekennt von seinen physischen Lehren: „Sie sind um den Preis der Leere an anschaulichem Inhalt erkauft." Wir haben kein Recht, den Ernst des mit solchem Nachdruck verkündeten religiösen Bekenntnisses in Frage zu stellen. Für das Gebiet der Wissenschaft möchte ich aber noch stärker sein Bekenntnis zur Philosophie im Vorwort zu Barnett betonen. Er verlangt, daß „die breite Öffentlichkeit" über die Forschungen sachkundig belehrt werde. Die Bearbeitung „durch wenige Fachleute" genüge nicht. „Die Beschränkung der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf eine kleine Gruppe von Menschen schwächt den philosophischen Geist eines Volkes und führt zu dessen geistiger Verarmung." Diesen Satz über die Philosophie soll man nicht vergessen. Allerdings hat der Verlauf gerade in unseren Jahren gezeigt, daß eine mit der Philosophie verbundene Forschung die Gewissenslast dafür trägt, ob die von Einstein geförderte Spezialforschung nicht längst sich Schranken hätte setzen sollen? S. 68. Ein überraschendes Beispiel der positivistischen Begriffsverwirrung erfuhr ich als Mitherausgeber (für den philosophischen Bezirk) der von K . Lothar Wolf begründeten „Zeitschrift f. d. ges. Naturwissenschaft und Medizin" in den Jahren 1935-37. (Ich verzichtete auf Mitarbeit, als die Ztschr. von einer Parteiorganisation übernommen wurde.) Diese Ztschr. begann mit meiner Abhandlung „Positivismus und N a t u r " , in der ich meine These vertrat: die euklidische Mathematik und der Mechanismus seien das Ideal einer exakten Wissenschaft, genügen aber nur für das Unorganische (vierdimensionale), während nicht nur Geschichte, sondern auch Biologie die Einbeziehung von unwägbaren, seelischen Mächten verlangen. Damit widerlegte ich die Behauptung der neopositivistischen Schule, daß Begriffe wie schöpferische Kraft, Ganzheit, Erleben u. a. nur Modebegriffe einer vorübergehenden Zeitwelle seien. Ein bedeutender Mathematiker hatte gegen das Universitäts-Ideal von Herder, Humboldt, romantische Philosophie Einspruch erhoben: dies Vorbild habe nie existiert, sondern sei „nur die Idee einer bestimmten Bildungsepoche, einer Idee außerdem, deren Verwirklichung, meiner Meinung nach, keineswegs erwünscht ist, weil sie die Macht der bloßen B e s i n n u n g und Sinndeutung im Vergleich zur e i n z e l n e n konstruktiven wiss e n s c h a f t l i c h e n T a t weit überschätzt." Was eine solche T a t im Gegensatz zur Philosophie und zum Geist der Goethezeit ist, verdeutlichte er: er pries sich glücklich, Hilberts „Vorlesung über die Transzendenz von E und N" gehört zu haben. War das mathematisch-positivistische Denken „tathaft"? Ein andrer namhafter Mathematiker wandte gegen die statistischen Untersuchungen der Eugenik ein, man brauche daraus keine Folgerungen für die Volksgesundheit zu ziehen, da man doch für 20 Jahre die Zustände nicht voraussähe. Das schien mir nicht verantwortungsbewußt. Zu meiner Verwunderung fand ich mich in der Einleitung zu einer populären Broschüre eines bedeutenden Atomphysikers denunziert: ich hätte die „gesamte mathematisch-physikalische Forschung diffamiert", auf Mathematik beruhe die Fabrikation von Maschinengewehren, ich sei also wegen Landesverrates zu belangen. Ich, als Platoniker, sollte die Mathematik diffamiert haben! Ich hatte nur jene zwei Mathematiker genannt, weil einer gegen die humanistische Bildung, 136

der andre gegen biologische Forderungen opponiert hatte, (s. u.) Ich teilte jenem Verlag die Tatsache mit, worauf dieser die ganze Einleitung zurückzog. S. 89. Ich brauche wohl nicht vorauszunehmen, daß mein Dimensionen-Sdiema keineswegs gegen die Idee der Schichtentheorie gerichtet ist, die ja in der griechischen Philosophie angelegt und heute etwa besonders von Rothacker durchgeführt ist. Das Bild der Schichten nähert sich mehr dem vegetativen Vorgang des Wachstums als die geometrischen Dimensionen, die nur noch entschiedener die Ganzheit und Einheit bewahren sollen, die von der Kategorialanalyse vernichtet oder doch bedroht werden. Leitend bleibt die Idee der Monade. S. 91. Seit dieser Leibniz-Abhandlung habe ich wenig von N . Hartmann gelesen, doch seine postume Teleologie-Arbeit las ich — ohne großen Gewinn. In Gerhard Lehmanns „Geschichte der Philosophie" fand ich eine treffende Zusammenfassung. Er zitiert: „Es kann überhaupt keine Naturfinalität geben, es sei denn, daß eine Weltvernunft dahinterstehe..." Also: wir sehen überall Naturfinalität, da sie aber eine Weltvernunft zu beweisen scheint, müssen wir sie leugnen. Lehmann nennt diese Ontologie ohne Metaphysik eine Fiktion. (XI 68) S. 95. Wenn dies der Sinn des Positivismus wäre, dann dürfte man wohl Goethe und Schelling Positivisten nennen - aber oft negiert er mit der Metaphysik auch das Ich. So schrieb ein namhafter Arzt eine Selbstbiographie „Jahresringe", in welcher er die Existenz des Selbst leugnete und nebenbei Sebastian Bachs Musik als „Trockenmusik" entwertete. Dies Buch ist in 70 000 Exemplaren verbreitet. S. 98. Kosmogenie, Erdgeschichte, „Das Geschichte" der Geologie sind echte Geschichte. Der Ausbruch des Vesuv, der Übergang der Wanderratten über die Wolga 1727 (die nicht lange danach die Hausratten aus Deutschland vertrieben) sind (natur-)gesdiichtliche Ereignisse, auch wenn man ganz von ihrer Beziehung auf die Kulturmenschen absieht. S. 98. Wenn ich einmal bemerke, daß das eigentlichste „Denken" im gesamten Wissenschaftsbetriebe (ich rede nicht vom mathematisch-technischen Erfinden) nicht sonderlich beliebt sei, so pflegt man das für einen Scherz zu halten. Ich zitiere deswegen, was ich kürzlich bei Albert Schweitzer las: „Darum gibt es bei uns wohl nodi Freiheit der Wissenschaft, aber fast keine denkende Wissenschaft mehr." (In Kulturphilosophie I. S. 45. Dort heißt das erste Kapitel: „Die Schuld der Philosophie an dem Niedergang der Kultur." München 1923). S. 99. Im knapp gefaßten Taschenwörterbuch für Philosophie bei Kröner, herausgegeben von G. Schischkoff, steht in wenigen Zeilen unter „Perspektivismus" genau das, was jener Gelehrte gebraucht hätte, „philos. Auffassung, daß alle Erkenntnis vom persönlichen Standort, von der Perspektive des Erkennenden, bedingt sei, eine standortfreie Allgemeingültigkeit also nicht möglich sei. Leibniz lehrt: Wie ein und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, uns gleichsam perspektivisch vervielfältigt erscheint, so gibt es, vermöge der unendlichen Vielheit der einfachen Substanzen gleichsam ebenso viele Welten, die indes nichts anderes sind, als — gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten - perspektivische Ansichten einer einzigen. - Der P. wird von Nietzsche, Diltey, Ortega y Gasset u. a. vertreten." Jener Gelehrte gibt selbst an, daß Ortega jahrelang Diltey studiert und seine früheren Studien für verlorene Zeit gehalten habe. S. 100. Ich bin nicht „musikalisch", aber da hier weder vom musikalischen Erleben des Fachmannes noch von dem des „Kenners" die Rede ist, darf ich vom eigenen Erlebnis reden. Musik als schöner Genuß war mir in der Schulzeit Händel, Beethoven, Mozart in Sinfonie, Lied, Tanz, doch galt die Jünglingsleidenschaft mehr dem dionysischen Wagner. Als ich damals Bachs Cellosonaten spielte, empfand ich sie nicht als eigentlich „musikalisch", doch die vermeintliche herbe Nüchternheit als 137

wohltuend. Wagner trat nach der Schulzeit bald sehr hinter Beethoven zurück, •während H a y d n , Händel, Bach ganz allmählich wuchsen. 1910 stellte ich in Bemerkungen über die attische Tragödie stufengeschichtlich und wesensmäßig neben sie Bachs Passionen - etwas besorgt, mit diesem Urteil meine Grenzen zu überschreiten (Jahrb. f. d. geist. Bew.) Erst 1954 fand ich in Schweitzers großer BachMonographie die Bestätigung. Bedeutungsvoll w a r mir die Deutung (schon im Vorwort), daß die Passionen nicht als absolute Musik verständlich seien, sondern des Textes bedürften. Viele Fachleute wollen das nicht hören und behaupten, das hänge Schweitzer noch von Wagner an. Das kann wohl nur so scheinen, weil beide philosophisch denken: Wagner ist noch stark von Hegel und Schelling beeinflußt, ehe er sich Schopenhauer hingibt. Schweitzer aber erbaut sich an der Philosophie der Aufklärung und auch der Mystik. Also nur das Plus des Philosophierens ist beiden gegenüber den modernen Musikern gemeinsam, während diese, der spezialistischen Sonderung unterworfen, meist das Philosophieren für überflüssige Belastung halten. S. 104. Herkömmlich zitiert man in direkter Rede: „Höchstes Glück der Menschenkinder ist doch die Persönlichkeit", ohne zu beachten, daß Goethe-Hatem diesen Spruch in Frage stellt. O. Spann übersteigert dagegen: Goethe bestreitet den Individualismus - also verkündet er den „Universalismus". Aber vom Universalismus, von Verneinung der Persönlichkeit ist hier keine Rede. Suleika erinnert, alles Volk sehe in der Persönlichkeit den höchsten Wert, selbst in der bedenklichen Polarität noch: Diktator und Knechte. Hatem bestreitet das so wenig wie Goethe, der im „Daimon" der orphischen Urworte die unwandelbare Persönlichkeit verkündet, die allerdings erst im Eros ihre Erfüllung findet. Eben jetzt als H a t e m ist er der leidenschaftlich Liebende. J e t z t i s t Goethe „auf anderer Spur", in dieser glückseligen Episode, nicht als Philosoph, der Marianne eine neue Erkenntnis mitteilt. („Spur". Eros, der Jäger des Symposion, folgt den Spuren der Geliebten.) Erst die Hingabe einer solchen Persönlichkeit wie Marianne bestätigt ihn ganz seines eigenen Wertes, erst im Eros ist volle Erfüllung, Zugang zum Kosmos, ist Gnade. Er selbst und damit der Kosmos schiene ihm wesenlos, wenn die Geliebte sich ihm versagte. Die letzten beiden Strophen sind, wie auch Rychner deutet, scherzhaft gemeint. Wenn Suleika eine andere Person liebte, würde sich Hatem in diesen verkörpern, um sie weiter zu fesseln. Daß dies Ende einer solchen Episode in Wirklichkeit tragisch ist, der Dichter seine Persönlichkeit unbedingt wahren muß, wird durch diesen Scherz nur notdürftig verdeckt. Die volle Tragik singt der Dichter erst, als Ulrike sich ihm versagt, in der „Trilogie der Leidenschaft". Niemals hat Goethe im Ernst seine Person aufgeben wollen, außer im A u g e n b l i c k mystischer Erhebung. S. 106. Kaum weniger tief als Wolters, aber einfacher, klarer im Sinne des Dichters sprach gleichzeitig, 1909, in den „Blättern f. d. Kunst" Gundolf den Gedanken des Jüngertums aus in „Gefolgschaft und Jüngertum". Der Sinn des Reiches: „Nicht daß das vielspältige wirrsal noch bunter und fleckiger werde, sei der ehrgeiz der Echten heute, sondern daß eine seelenbildende mitte wieder luft und räum finde ein gesteigertes bild der menschheit auszuwirken." Und vom Wesen des Jüngers: „Wer ohne eitelkeit und zwang dient darf auch ohne blindheit dienen: er folgt ja, weil er gesehen hat und glaubt weil er weiß und weiß weil er liebt." S. 106. Auch Albert Schweitzer beklagt heute den Fortschritt in der öffentlichen Mitteilungstechnik: Presse, Rundfunk, Fernsehen. S. 106. Einmal allerdings widersprach George einem Leitprinzip von Wolters. Dieser w a r der Eifrigste im Dienst der Staatsidee und konnte daher die Prinzipien Georges etwas doktrinär übersteigern. So behauptete er, die Jünger müßten zum sacrificium intellectus bereit sein - das ließ George nicht gelten.

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S. 107. Seltsam wie unter der Herrschaft des mißglückten Begriffes der Aufklärung „Ästhetik" der entscheidende Begriff „ F o r m " gründlich entgleist. Man unterscheidet unrechtmäßig Form und Inhalt und streitet unermüdlich, was von beiden wertvoller sei. Aber die sinngemäße Unterscheidung heißt allein: Form und Stoff. Aristoteles, der die Welt biologisch sah, ist den Mechanisten überlegen. Er sieht selbst den Stoff nicht als unbedingten Gegensatz zur Form, da in ihm potentiell die Formen enthalten sind. Indem Leibniz in der Monade die Entelediie des Aristoteles restituiert, führt er diese Potentialität des Stoffes weiter aus: er besteht ja nur aus Monaden und wirkt nur darum als tote amorphe Masse, weil keine der unendlich kleinen Monaden sich als formendes, gestaltendes Zentrum durchsetzt, repräsentiert. Von hier aus konnten Herder, Goethe, Moritz, Schelling eine großartige Lehre vom Schönen, von der Kunst entwickeln: Monade als die substantielle Form, die Seele, ist die innere Form, die sich in der Gestalt, der Morphe des Lebewesens auch äußerlich repräsentiert. Im animalischen Körper ist es die Seele, die Entelediie des Aristoteles, Prinzip der Energeia, des Actus. Als K a n t die Kritik der theoretischen Vernunft begründete, sah er mit Recht die Theorie, d. h. die Anschauung in der Geometrie begründet. Aber es war eine bedenkliche Analogie, wenn er nun „ F o r m " in die höhere Begriffssphäre rückte: Anschauung, Zeit, R a u m nannte er die reine „ F o r m " (z. B. K r . d. r. V. § 3). Diese Terminologie wirkt sich verhängnisvoll aus: das absolut Formlose, der leere Raum, das bloße Anschauungsvermögen, ob man es objektiv als Medium für alle wirklichen Formen oder subjektiv als Mittel der Anschauung versteht, soll die „ F o r m " schlechthin sein und die gesamte Welt der Formen und Gestaltungen wird somit zum bloßen Stoff oder Inhalt degradiert. So verbaut man sich den Zugang zur schöpferischen Welt der Gestaltungskraft. Schiller, der den Begriff des Ästhetischen philosophisch am höchsten steigert, erlebt die großen Spannungen in sich selbst und wird durch Goethes Vorbild im Verständnis für schöpferische Gestaltung gesichert. Trotzdem entsprach es der spezialistischen Begrifflichkeit des 19. Jahrhunderts, daß die Trennung der Ästhetik vom Platonischen Kosmos in den Bahnen von K a n t und Hegel verlief. S. 107. Mir wurde vorgeworfen, eine auf das „Schöne Leben" gerichtete Ethik sei ja bloße „Erfolgsethik". Nein - nicht der erreichte Erfolg, sondern der Wille mit realen Mitteln das Schöne zu verwirklichen, ist eudaimonistische, platonische Ethik. S. 108. In den Blättern für die Kunst wurde anfangs die Form als das Wesentliche der Kunst anerkannt und zum bloß stofflichen Inhalt, zum „Anekdotischen" in Gegensatz gebracht. Simmel vertrat eine reine Formästhetik, bis später George ihn belehrte: alles sei erlebt. Wieweit George und Dilthey in ihren Gesprächen sich wechselseitig beeinflußten, ist mir nicht bekannt. Dilthey veröffentlichte 1906 „ D a s Erlebnis und die Dichtung". (Wenn man heute die elementare Bedeutung des Erlebens bezweifelt, so versteht man darunter vermutlich nur die einfachen „biographischen", nicht die schöpferischen Erlebnisse.) Breysig setzte, ähnlich wie Simmel in reiner Form-Ästhetik, eine „wirklichkeitsferne" Kunst gegen die „wirklichkeitsnahe" und genoß die Gedichte klanglich, ohne das aufbauende Werk zu beachten. Er war fast bis zum Bruch gekränkt, als George in der V I I . Folge seine Begriffe Stoff-Kunst, Phantasie-Kunst und Formale Künstler zurückwies. Hatte George doch vorher im V O R S P I E L zum T E P P I C H X und X V I den Weg gewiesen: Sind auch der dinge formen abertausend Ist dir nur Eine - Meine - sie zu künden. D a s meint auch die formende, die stilbildende Kraft des großen Dichters. Noch entschiedener spricht er die gegenständliche Seite des Dichtens in „ G O E T H E S L E T Z T E R N A C H T . . . " aus: „Zauber des Dings — und des Leibes, der göttlichen norm." Jene Innere Form, das schöpferische Prinzip (bei Leibniz z. B. Theodicie 88) wird von Goethe und

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Moritz analog in die Seele des Kunstwerkes verlegt - das ist der Nerv ihrer „Lehre vom Schönen". K a r l Reinhardt hatte großen Erfolg in der Wiederherstellung des Poseidonios-Werkes, indem er von der aufbauenden „Inneren F o r m " des Denkers ausging. Die Reinigung der verworrenen Begriffe wird sehr erleichtert, wenn man beachtet, daß auch unsere Umgangssprache neben dem entarteten Gebrauch der „Form" als formal, formalistisch, Formalität, Formel, Förmlichkeit, Formblatt etc. auch den echten bewahrt: „In Form sein" bedeutet die vollendete Wirklichkeit, seiner eigenen N o r m entsprechen. „Förmlich" kann im echten Vollzug vollendet, „im verpflichtenden V e r t r a g " , „in aller F o r m " , nicht bloß „äußerlich" etc. bedeuten. So deutet auch causa formalis auf den wirklichen Abschluß. Dies alles ist die Auswirkung der Inneren Form, die Leibniz unterscheidet von der nur von außen abgegrenzten „Figur". S. 109. Eine gewisse Gereiztheit zeigte sich, wenn ich, nicht als offizieller Fachmann von Abstammungs- und Atomlehre sprach, bisweilen darin, daß man sich ehrlich Mühe gab, einzelne Sätze falsch zu verstehen. Ich war, wie gesagt, als Knabe begeistert für das mechanistische Gesetz von der Erhaltung der Kraft und von Darwins Abstammungslehre. Das Interesse an dieser blieb, als ich den Irrtum erkannte, denn bei Goethe lernte ich den Enthusiasmus für eine nicht-mechanistisdbe, sondern pantheistische Mensch-Tier-Verwandtschaft kennen. Aber bei mir wurde ungern geduldet, was jedem jungen Dr. rer. nat. erlaubt war. (Mir fiel ein, daß einst ein Philologe gegen Schellings R u h m gesagt hatte, man müsse ihm doch irgendeinen logischen Schnitzer nachweisen können, wie der Philologe doch jedem Übersetzer bei gutem Willen einen grammatischen Schnitzer nachweisen könne.) Doch war diese Art Kritik erträglich, da sie im Grunde Ausdruck echter Ideale w a r : exakteste Wissenschaft und lebendiger Handwerkstolz. Bedauerlich ist nur, wie sehr die Fruchtbarkeit der gegenseitigen Anregungen dadurch eingeschränkt wird. Allerdings ist heute auf der philosophischen Diskussionsebene der mechanistische Positivismus ausgeschieden und seine früheren Vertreter wollen es niemals so gemeint haben - aber wie oft bleibt das Sache der vorsichtigen Formulierung, ohne geistige Näherung. Die Spezialisten machen oft die Voraussetzung, daß sie von Philosophie nichts wissen und von ihr absehen. Die Positivisten behaupten dagegen, selbst die echte Philosophie zu vertreten und bezeichnen die ihnen unlösbaren Probleme als Scheinprobleme. D i e monadistische Weltinterpretation gilt ihnen als naive Spekulation. - Manchen Theologen war meine N ä h e zum Pantheismus nicht genehm, gerade den protestantischen meist mein Piatonismus fremd. Im Grunde aber improvisiert jeder - bewußt oder unbewußt - eine eigene philosophische Uberzeugung. S. 163. Später konnte ich bei anderer Gelegenheit mit einem namhaften Verehrer Hartmanns diese Frage in der Korrespondenz berühren. E r hätte wohl nicht bestreiten können, daß ich mich weit gründlicher mit der Metaphysik von Leibniz befaßt habe als H . Aber er trat ihm trotzdem bei: ich hätte eben „das Problem" falsch gestellt. Damit ist der Unterschied treffend bezeichnet. Führt das nicht zu neuer Scholastik, in der die „Problemlage" als einzige Diskutierungsgrundlage gegeben ist, während das Ausgehen von unserer Existenz, vom ganzheitlichen Lebensbewußtsein sich technisch nicht der derzeitigen Problemlage anpaßt? D e r gleiche Forscher warf mir vor, daß ich zwei Reihen der Denker in SchwarzWeiß-Manier gegenüberstelle. Man kann mir kaum klarer Unrecht tun. Wenn ich in der Erforschung des geistigen schöpferischen Geschehens die Berggipfel aufsuche, so geschieht es im Streben, Anteil zu gewinnen am aufbauenden Geiste. Erfreulich, wenn man dabei etwas vom hohen Gipfel-Gespräch erlauscht oder die unmittelbare Einwirkung des einen auf den andern erkennt. Ich studiere den, von dem ich Gewinn erwarte und bin glücklich, wenn ich mich ohne K r i t i k befruchten lassen kann. Werde ich teilweise enttäuscht, so kann die K r i t i k doch eine nützliche K l ä -

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rung ergeben. Doch wozu sich mit den Unfruchtbaren beschäftigen — und ist bei diesen eine sinnvolle Reihenbildung möglich? - Aber meine Polemiken? - Audi sie geschehen nur im K a m p f e f ü r etwas, nidht aus bloßer Kritik. Auch Nietzsche war angriffbereit, aber sein weiser Spruch: „Wo man nicht liebt, soll man vorübergehen", hatte sich mir seit Jugend eingeprägt. Nicht mit den Gegnern, sondern mit Gelehrten, die große Arbeiten schrieben, ohne mit dem Herzen dabei zu sein, um einer gleichgiltigen „Wahrheit" willen, hatte ich Mitleid. Und wenn ich wünschte, daß Kants Wissenschaft der Metaphysik Leibniz' eingefügt würde, wenn ich in Kant erst den zweitgrößten deutschen und abendländischen Philosophen sehen wollte, so weiß ich mich frei von jeder Neigung zur Schwarzmalerei. Jene Aufspaltung des Kosmos durch den im Ursprung wohl mechanistisch denkenden Hartmann wurde auch von Denkern beanstandet, die sonst seine große systematische Arbeit anerkennen. So von Aloys Wenzl, der das vital-Teleologische nicht opfern kann. Selbstverständlich kann meine fragmentarische Ausführung eines metaphysischen Schemas gegen das so ausgebaute Bücherwerk Hartmanns nicht ausgespielt werden. Aber erstaunlich ist, daß ihm kaum jemals Leibniz entgegengestellt scheint. (Von Studenten hörte ich: Hartmanns Vorlesungen gehen so ins Abstrakte, daß man sich schämt, einen Leib zu haben.) S I I I . Man fragte mich etwa zu meinen Vorlesungen: Forschungs- oder Ubersichts-Kolleg? Ich konnte das meist nicht beantworten. Übersichten im herkömmlichen Sinn sind wünschenswert, schienen mir aber ohne neue Grundlage unwahrhaftig, und eigene Forschung trug ich erst vor, wenn sie, auf begrenztem Gebiet, zu einem übersichtlichen Ganzen reifte. Oder man fragte bei meinem Hölderlinund Goethebuch: „Untersuchung oder Darstellung?" Diese Frage konnte ich kaum verstehen, ich mußte sie mir an Methoden anderer verdeutlichen. — Gadamer sagte von meiner Vorlesung: „Hildebrandt fordert nicht sehr viel vom Intellekt aber vom Menschen." Damit war ich zufrieden. S. 112. Ebbinghaus glaubte auf Kants Wegen seine Rechtsbegriffe streng logisdi deduziert zu haben und als ich dagegen bei Goethe tiefere metaphysische Einsichten zu finden glaubte, fand er diesen Einwand bloß rhetorisch, auf einen Majoritätsbeschluß hinzielend. Offenbar waren die Kollegen mit meinem Bedenken gegen bloße exakte Logik in Sachen der Gerechtigkeit nicht ganz einverstanden. Ich hielt an Leibniz' Polemik gegen Bayle fest, wonach die höheren Einsichten überrational sind, d. h. der Logik nicht widersprechen dürfen, aber nicht aus ihr abgeleitet werden können. Weiter kann man eine irrige Meinung formallogisch korrekt ausdrücken, wie man trotz richtiger Erkenntnis sich formallogisch fehlerhaft ausdrükken kann. Aber es schien, daß die Gesprächsteilnehmer ganz zu Unrecht darin eine Gefahr, vielleicht einen Angriff auf ihre wissenschaftliche Arbeit vermuteten. Einer von ihnen, überwiegend Kantianer, zugleich aber vorzüglicher Hölderlinforscher und Verehrer - ich konnte nicht verstehen, wie sich diese beiden Gesinnungen vereinigen ließen - stellte in einem Aufsatz über Hölderlin dar, daß dieser seine Gottesvorstellung von K a n t übernommen habe. Mein Buch über Hölderlin hatte er also nicht zur Kenntnis genommen. Doch wahrten wir trotz dieser verschiedenen philosophischen Sicht unter der Voraussetzung, daß er midi nicht für einen Wissenschaftler, ich ihn nicht für einen Philosophen hielt, eine menschlich freundliche Beziehung. S. 115. Allerdings umfaßt bei Leibniz ratio, raison, außer der Verstandes-Ratio auch die gesamte Vernunft. D a er mit vollem Bewußtsein die Metaphysik der Antike und des Mittelalters gegen die moderne Begrifflichkeit bewahrt, so sollte man vor allen bei ihm die Klärung suchen. Raison umfaßt das lumen naturale, das als natürliche Religion auch den Schöpfer, Gott fordert, im Unterschied von der Offenbarung des lumen divinum oder supranaturale, im christlichen Glauben. Die Ver141

nunft erkennt Gründe und Ursache, aber sie erkennt nicht nur Gott, sondern Gott selbst ist Vernunft als Grund (raison) und als Ursache (cause) der Welt. (Theod. I. 7). Das gesamte verworrene Problem Rationalismus und Aufklärung ist hier betroffen. Mir scheint die Verschiebung der Begriffe aus dem Dimensionen-Schema geklärt zu werden. Die Verstandesaufklärung will sich auf das „reine" Gesetz apriori, also Mathematik und Logik gründen. Aber dies „rein" bedeutet bei Leibniz nicht wie bei den Rationalisten den höchsten Wert, da es sich auf Vierdimensionales bezieht, auf die unbedingte Notwendigkeit, an die selbst Gott gebunden ist — die aber nichts über die geschehende Wirklichkeit, über die Schöpfung, die aus Gottes schöpferischem Willen, seiner Wahl, seiner Liebe zu einer schönen Welt hervorgeht. Die „reine" Vernunft ist ratio als bloßer Verstand. Das Höhere ist die Vernunft als Erkenntnis des Faktischen, der Kontingenz, des Geschichtlichen, als Einsicht in den schöpferischen Vollzug. Dies sind die Verhaltungsweisen der Metaphysik: entweder Beschränkung auf das Notwendigste, Exakte, reinen Verstand, reine Vernunft — oder Mitinbegriff der Erfahrungswelt in ihrer Fülle, Vielheit in der Einheit, Erlebniswelt der Tatsachen. Schelling nennt, im Weitergang dieser Lehre von Leibniz, seine Theorie, die objektiver Idealismus genannt wird, auch Empirismus. S. 121. Wie geht Goethes Sicht mit späteren großen Entdeckungen der Biologie zusammen! Die potentielle Ganzheit der Zelle, deren ideelle Verwandtschaft mit der Monade oft erkannt ist. Die Zellteilung, die Wiedervereinigung bei der Befruchtung. Dann der Rhythmus, der „springende Punkt" als erstes Lebenszeichen im Vogelei - die Anlage des pulsierenden Herzens. Schelling ging, unter Zustimmung Goethes, auf das Urphänomen, den Magneten, als Symbol zugleich des Idealrealismus zurück. In der modernsten Atomlehre tauchten Gedanken auf, die an einen Rhythmus von unendlich klein und unendlich groß denken lassen. S. 121. D a ich Jaspers Spätwerk nur teilweise kenne, verweise ich gern auf die Referate im „Philosoph. Lit. Anzeiger", die selbstverständlich sachlich und sehr anerkennend gehalten sind. Aber starke kritische Bedenken beginnen seit seiner Polemik gegen Schelling. (1955). Von mir erschien über die Schelling-Tagung in R a g a z ein Bericht (VIII.8), der ursprünglich als Exkurs zu dem (erst jetzt in der Ztschr. f. philos. Forschung X I I I 1 u. 2 erschienenen) Aufsatz über Schellings Mythologie gemeint war. G. Kahl-Furthmann referiert (Lit. Anz. X . 1) über Jaspers „Schelling. Größe und Verhängnis" zwar ohne ausgesprochene Einwände, aber mit starker Kritik zwischen den Zeilen. H e r m a n n S c h m i t z erhebt grundsätzliche Einwände gegen Jaspers Bewertung und Deutung der großen Philosophen, besonders Piaton und Kant. (XI.5 „Die großen Philosophen" I) Im Referat von Jaspers „Philosophie und Welt" hat G. Kahl-Furthmann Ursache zur Kritik an Jaspers Persönlichkeit. ( X I I . 4 ) Jaspers hat sich nicht allein 1919 geweigert, den Protest der Universität gegen das weltgeschichtlich höchst unheilvolle Versailler Diktat zu unterschreiben, sondern er hat dies 1958 in seiner Autobiographie berichtet, also seinen Irrtum nicht richtig gestellt, sondern seinem Volk „Knechtssinn" vorgeworfen. Gegen Jaspers Arbeit über Descartes erhob die so behutsame und zurückhaltende Beurteilerin den auch sonst oft gehörten Einwand, daß Jaspers mehr an sich als an die dargestellten Philosophen denke. - Aufsehen erregte die heftige, aber zutreffende Kritik von E. R . Curtius an der hochmütig moralisierenden Rede Jaspers über Goethe. S. 122. Was private Erinnerung scheint, kann doch der Deutung des geistigen Geschehens förderlich sein. Als ich nach Abschluß dieses Manuskriptes diese letzten Seiten umgestalten wollte, hemmte midi die Überlegung, wie weit Heidegger ab142

gesehen vom Hinweis auf die „Monadologie" mit Leibniz zusammenstimme. Schon hatte ich sein eben erschienenes großes Werk „Nietzsche" zum Teil gelesen, das recht geeignet ist, in den lebendigen Zusammenhang seiner nicht leicht verständlichen Gedankengänge einzuführen, als mir sein Buch „Der Satz vom G r u n d " einfiel, das ich mir 1957 wohl beschafft, aber von eigner Arbeit ganz beansprucht und in der Annahme, es sei eine Umarbeitung der früheren Abhandlung „Vom Wesen des Grundes" vorläufig beiseite gestellt hatte. Nun unterbrach ich auch das Studium seines „Nietzsche". Denn wenn ich anfangs glaubte, im „Vortrag" über Leibniz, „Der Satz vom Grund" das mir Wichtige zusammengefaßt zu finden, so war ich bald gewiß, daß ich diesen geistigen R a u m nicht verlassen würde, ehe ich nicht auch die dreizehn „Vorlesungen" über diesen Einen Satz studiert hätte allerdings nicht in dem den Studenten zugemuteten Tempo von dreizehn K u r z stunden, sondern wohl im doppelten Zeitraum. Gewiß ist nach Heideggers Auffassung vom Ende der Metaphysik in Leibniz' Satz auch die Möglichkeit des mechanistischen Fortschrittes, also des Kultur-Verfalles enthalten, aber dann (S. 204) deutet sich die Wende a n : Leibniz' grandioses Prinzip „Nichts ist ohne Grund" ist nicht nur das unbewußt längst geltende Prinzip der Logik, des Denkens, ist auch mehr als das Prinzip der herkömmlichen Metaphysik: „Sein heißt Grund - Grund heißt Sein" (205). V o m gegebenen „Seienden", dem mechanistisch analysierten, berechneten, zurückzufinden zum schöpferischen Urgrund scheint mir Heideggers eigentliches Streben zu sein. Was ich oben durch die T r a n s p a r e n z , als Metapher des geistigen Lichtes ausdrückte, erscheint bei Heidegger etwa dem Begriff „Vernunft" entsprechend, als „Sprache". „Dieweilen dem so ist, überhört man im Lärm den Zuspruch, der durch den Satz vom Grund hindurchspricht, am meisten und am hartnäckigsten auch heute noch". 209. S. 122.

Privatdruck.

S. 123. Vgl. W . v. d. Steinen: „Der Kosmos des Mittelalters". Ferner von Rintelen, „Der R a n g des Geistes." S. 124. Beim Abschluß dieser Arbeit begegnete mir der Bericht über G. J a c o b y zu seinem 80. Geburtstag von Freytag-Löringhoff (in der Ztschr. f. Philosoph. F o r schung 1961 X V , 237—250). So darf ich dem Gleichaltrigen einen Gruß hinüberwinken und den Bericht mit einer Anekdote ergänzen. N u r einmal hatte ich eine Begegnung mit ihm, aber diese blieb mir unvergeßlich. V o r etwa zehn Jahren hielt er uns in Kiel einen Vortrag, den ich mit Spannung besuchte, weil ich etwas von seiner Dimensionenlehre wußte. (Wohl war der I I . Bd. seiner „Ontologie" 1925 im Druck begonnen, aber er konnte erst 1955 erscheinen, war mir also unbekannt. Es bestanden Analogien zwischen uns, doch hatte er offenbar keinerlei Anregung durch mein Buch [1920] bedurft.) Ich beteiligte mich an der öffentlichen Diskussion, aber es war deutlich, daß unsere Wege sich gabelten. Nach dem Vortrag waren wir in enger Geselligkeit zusammen, außer dem Gastgeberpaar und uns beiden nur einige Studenten, die ihn wohl kaum persönlich kannten. Ich empfand sogleich, daß ihm die erweckende Berührung mit der Jugend gemäß war, nicht die F o r t setzung der wissenschaftlichen Denkarbeit, und ich gab mich unbelastet dem Fluidum dieser Person hin. Ohne jede Geste des Belehrens weckte er in den Studenten die Lust, unbefangen ihre Zweifel und Meinungen auszusprechen. Dabei ging es nicht um Dogma und Weltkenntnis, sondern eher um schlichtes Gottvertrauen oder glaubenslosen Freisinn. So erzählte er, wie er einem jungen Mann gesagt habe: „Dich wird der liebe Gott noch einmal bei deinen Eselsohren packen." Widerspruch und Zustimmung in reiner Heiterkeit, ohne das leiseste Geltungsbedürfnis. - Auch ohne den Vorgang von Freytag-Löringhoff würde ich ihn als den gütigen, sokratischen Erzieher, den ethischen Philosophen bezeichnet haben.

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Beide waren wir von der Überzeugung ausgegangen, daß im Gegensatz zu Kant keine einlinige fließende Zeit, sondern ein vierdimensionales Raumzeit-Kontinuum gelte. Aber der Schluß, daß nun für Gott audi die Zeit nur eine räumliche Dimension sei, daß das Nacheinander nur Täuschung sei, widersprach (obwohl manche „parapsychologischen" Berichte dafür sprechen) meinem Wege, die apriori verständliche Anschauung festzuhalten, solange sie nicht zwingend widerlegt ist: der körperliche, springende, schauende, wollende Mensch ist substantielle Wirklichkeit. Das unmittelbar Gegebene brauchen wir nicht unbedingt logisch zu beweisen. - Übrigens nimmt auch Jacoby (analogisch) die fünfte Dimension an: Gott waltet im fünfdimensionalen Raum. Dies alles ging mich nahe an, es gehörte durchaus in meinen „Sektor", aber es hätte mich dann auch vom Wesentlichen, vom Mittelpunkt des Kreises weggeführt. Denn in der Hauptsache blieb er im vierdimensionalen Gebiet, im Ringen mit den Physikern, die Relativitätstheorie einzuordnen. Jacoby sieht nämlich die Philosophie als reine Wissenschaft, und die Wissenschaft als „subjektfrei objektiv" an. Auch er scheint mir keine klaren Folgerungen aus dem Unterschied von Individuum (Person, Monade) und subjektiver Seite des Geschehens zu ziehen. Aber seine persönliche Gegenwart stellte das Wesentliche dar, an dem eine subjektfreie Wissenschaft vorbeisieht. Seine religiösen Vorstellungen könnten im gedruckten Werk als bloße spekulative Ergänzung seiner wissenschaftlichen Darlegung erscheinen, in seinem lebendigen Gespräch war der weckende Eifer, die Substanz seines Selbst in Wechselwirkung mit dem Du und Wir das echt Philosophische, die Erweiterung seiner „subjektfreien" Wissenschaft. Das Dasein, das rational nicht zu erklären ist, war unmittelbar gegeben. S. 130. Richard Wagner sagte, im Zeitalter des Kapitalismus sei der Mensch aus der reißenden eine rechnende Bestie geworden. S. 130. Wie gründlich auch Heidegger in seinem Aufbau Kant und Hegel verwandt hat, so ist später eine Wendung zu Leibniz und Schelling unverkennbar, und neben dem großen Interesse für Nietzsche die Abwendung von Kierkegaard sehr energisch ausgesprochen. So besonders „Nietzsche" II 471—480. Bei Hegel Wille als absolutes Wissen, bei Nietzsche als Macht, bei Schelling „als Wille der Liebe". (471) „Die unbedingte Gewißheit des sichwissenden Willens als absolute Wirklichkeit (Geist, Liebe)" (475). Allerdings habe ich Heideggers früheres Werk nicht genügend durchdrungen, glaube aber um so mehr im späteren Werk das uns heute Wesentliche zu finden. »Der Satz vom Grund" aus dem Jahre 1955/56 handelt überwiegend von Leibniz. Aber die beiden Bände „Nietzsche" greifen viel weiter zurück, obwohl sie erst 1961 erschienen. Die Nietzsche-Vorlesung des I. Bandes stammt von 1936-39, der II. Band enthält dagegen Abhandlungen und auch bloße aphoristische Entwürfe von 1940-46. Aus dieser Veröffentlichung darf man schließen, daß diese Entwürfe nicht angeführt werden sollen, aber auch, daß sie neben den späteren Arbeiten ihre Gültigkeit behalten. S. 335-490 betrifft nicht Nietzsche, scheint mir aber philosophisch von besonderem Gewicht. Wie Piaton und Dante hat Heidegger mit seiner Transzendenz einen Zug zum Mystischen Augenblick, der trotzdem erfüllend, nicht weltflüchtig zu verstehen ist. Dennoch möchte ich stärker das Mythische, auf Grund der Transparenz, in die Mitte stellen. Daß ich in der Terminologie mich ihm nicht ganz anschließen kann, ist begreiflich. Nihilismus gilt mir als unbedingte Anarchie oder die Zerstörung aller Werte, weil ich die „Ismen" auf die unbedingten Überzeugungen und Gesinngungen beschränke. Ich meine, der Mensch, der sein Leben als Gegenwärtiges bejaht, braucht als das Staubkorn im Universum auf einen Rest von Leichtfertigkeit und Unbedenklichkeit (die Wurzeln des Humors), nicht zu verzichten. So gestehe ich, daß ich mich mit dem Nichts und dem Tode wenig beschäftigt habe. Gewiß hat Sartre mit seiner Philosophie seinen Widerstandskampf begründet 144

aber hätte jene nidit ebenso Hitlers Diktatur begründen können? Darum halte ich mich an Goethes Noch ist es Tag, da rühre sich der Mann Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Aber ich folge auch Heidegger nidit bis in seine letzten Erwägungen gegen „Platonismus", gegen die »Metaphysik" überhaupt, denn audi er unterscheidet die allgemeine Lehre des „Piatonismus" von dem persönlichen Ereignis Piaton (z. B. »Metaphysik" S. 137. . H o l z w e g e " S. 200.) Auf meine Übertragung des Phaidros, der doch die Plage aller Rationalisten und Positivisten ist, haben Spranger und Heidegger mir erfreut geschrieben, während sie auf meine Arbeit » K a n t und Leibniz" schwiegen. S. 132. In einer Gedenkfeier für Rilke hielt er den Vortrag „Wozu Dichter?". Bei dieser Ehrung Rilkes verschwieg er nidit, daß dessen Dichtung „nach R a n g und Standort hinter Hölderlin zurückbleibt". (Holzwege 254) S. 132. Etwas anderes als die Formel „Piatonismus" in der Problem-Geschichte ist die in Piatons Gesprächen und Briefen enthaltene menschliche Seinshöhe, die dem philosophischen Interpreten auf der mythischen Ebene das Ganze durchleuchtet. (Ich verweise nächst dem Platon-Buch auf Einleitungen einiger Dialoge bei Reclam.) Idi unterscheide fünf Stufen seiner „Idee". 1. D i e reine Phaenomenologie, Wesensschau, die methodische Beschränkung auf die „Essenz". Piaton hat erkannt, daß die causalen I n terpretationen seiner Vorgänger willkürliche Hypothesen sind. Darum verzichtet er vorläufig (deuteros plous) auf die kausale Erklärung der „Existenz". P H A I D O N . 2. Seine Aufgabe aber ist diesseitig, politische Gestaltung der Gemeinschaft. Die höchste Idee, die des Guten, Schöpferisch-Tauglichen ist ewig, göttlich, zugleich aber Vereinigung der Existenz mit der Essenz, die Ursache des Lebens. Sie wirkt sich aus im zeugenden Eros. G A S T M A H L . 3. So sprach er zu den philosophisch-erotischen Freunden. Im politischen Werk, exoterisch, trennt er den Philosophen schärfer von der Menge der Bürger. Wozu Philosophen „in dürftiger Zeit"? Sie allein sind zu Königen berufen. Ihre Autorität wird hergestellt durch den erhabenen Höhlenmythos, die Idee des Guten wird auf den Gipfel gesteigert, die Idee transzendent. Aber sie ist zugleich die schöpferische Kraft wie im irdischen Leben die physische Sonne. Nidit das glühend-anschauliche Leben, aber das damalige politische wird in Frage gestellt. P O L I T E I A . 4. Auf das Leben in der Akademie zurückgezogen, versenkt Piaton sich in die Erinnerung: sein glühendes Erlebnis war vor der Gründung der Akademie der Eros mainomenos zu Dion in Syrakus gewesen, der Rausch als Uberwinder dürftiger Aufklärung. Das w a r keine Allegorie auf die Philosophie, kein bloßes Mittel im politischen Geschehen: es w a r das unmittelbare höchste Ereignis selbst: Eros ist wieder Gott, nicht mehr vermittelnder Daimon, wie im Gastmahl. D i e Idee der Schönheit wird irdische Erscheinung, transparent für die Gottheit. In ihr ist die Erfüllung: Schau und Denken vereinend. In diesem Rausch wird der überhimmlische Raum, in ihm die Ideen sichtbar - aber die irdische Erscheinung wird dennoch nicht entwertet, sondern gesteigert. Das ist der höchste Vollzug der Transparenz, nicht radikale Transzendenz. P H A I D R O S . 5. Die Idee des Guten, der schöpferischen Sonne, bleibt nicht Idee, sie wandelt sich in den Schöpfergott. Die Ideen sind die ewigen Musterbilder, nach denen G o t t die G a t tungen der Lebewesen schafft:. Aber der Zweithöchste G o t t ist der leibliche Kosmos, das herrliche Geschöpf! Neben diesem hymnisch gepriesenen Weltall, dem Einen uranos, gibt es die vielen Götter der Volksreligion und als Gestirne. Die Existenz der sinnlich-leiblichen Welt preist Piaton am Schluß des Timaios überschwenglich. Was er gering schätzt, ist die Vergänglichkeit der Erscheinungen, nicht der Glanz der Leiblichkeit.

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BIBLIOGRAPHIE Ohne die medizinischen Arbeiten und einfadien Besprechungen

Bücher

N o r m und Entartung des Menschen. N o r m und Verfall des Staates. Dresden 1920. I V . Auflage beide vereint. Stuttgart 1939. Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Piaton. Dresden 1922 2 . Wagner und Nietzsche. Ihr K a m p f gegen das neunzehnte Jahrhundert. Leipzig 1924. Gesundheit und Krankheit in Nietzsches Leben und Werk. Berlin 1926. Piaton. Der K a m p f des Geistes um die Macht. Berlin 1933. I I . Auflage 1959 mit Untertitel Logos und Mythos. Nachwort. Hölderlin. Philosophie und Dichtung. Stuttgart 1939*. Goethe. Seine Weltweisheit im Gesamtwerk. Leipzig 1941 3 . Goethes Naturerkenntnis. Hamburg-Bergedorf 1947. Leibniz und das Reich der Gnade. H a a g . 1953. Das Werk Stefan Georges. Hamburg 1960.

Staat und Rasse. Breslau 1928.

Broschüren

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Einleitungen und

Übersetzungen

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