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German Pages 147 [159] Year 1999
Enno Rudolph (Hg.)
Cassirers Weg zur Philosophie der Politik
Meiner
CASSIR ER-FORSCHUNGEN
CASSIR ER-FORSCHUNGEN
Band 5
FELIX MEINER VER LAG HAMBURG
Enno Rudolph (Hg.)
Cassirers Weg zur Philosophie der Politik
FELIX MEINER VER LAG HAMBURG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1456-0 ISBN eBook: 978-3-7873-2357-9
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 1999. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. www.meiner.de
Vorwort
Es ist das letzte Werk Ernst Cassirers- The Myth of the State -, das die Hypothese legitimiert, Cassirers Philosophie der Kultur enthalte eine Theorie der Politik, die er selbst erst spät zu entfalten begann. Wie eine Philosophie der Kultur, die sich selbst als "Kritik der Kultur" vorstellt, zu denken wäre, die nicht auch die politischen Bedingungen der Kultur mit in die kritische Analyse einbezöge, ist ohnehin schwer zu sehen. Cassirers später Text scheint aber nicht nur die Antwort auf diese Frage gleichsam nachzureichen. Der Text scheint darüber hinaus mit Selbstverständlichkeit zu belegen, daß die im Rahmen seiner "Philosophie der symbolischen Formen" entwickelte "Kritik der Kultur" den Rahmen für eine Theorie des Politischen absteckt und dazu nötigt, auf anthropologischer Ebene die Einheit von "animal symbolicum" und "zoon politikon" zu denken. Die Versuche, Cassirer unter dieser methodologischen und werkbiographischen Retrospektive neu zu lesen, mehren sich. Sie gehen höchst unterschiedliche Wege und kommen zu unterschiedlichen Resultaten. Einige spüren das Verhältnis von Kultur und Politik in Cassirers Werk immanent im Rahmen der im engeren Sinne kulturphilosophischen Schriften auf. Andere gehen am Leitfaden früherer durchaus politikbezogener Texte vor- etwa anband der Rede zur Verfassungsfeier an der Universität Harnburg im Jahre 1928 oder der rechtsphilosophischen Abhandlung "Vom Wesen und Werden des Naturrechts" aus dem Jahre 1932 - und finden Indizien einer frühen, aber kontinuierlich durchgehaltenen teilweise impliziten, teilweise expliziten politischen Philosophie Ernst Cassirers (cf. die Beiträge von B. Henry, M. Ferrari oder R. Mehring in diesem Band). Die hier vorgestellten Arbeiten verdanken sich dabei nur zum Teil einem Diskurs, der ausdrücklich dieser Fragestellung verpflichtet war. Andere - vornehmlich die im zweiten Teil versammelten ( siehe Beiträge S. Poggi, G. Cacciatore und P. Rossi)- entstammen einem Arbeitszusammenhang, der sich um die Rekonstruktion der Bedeutung des Kulturparadigmas des Renaissance-Humanismus für Cassirers Kulturkritik bemühte. Beide Diskurse fanden an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, gleichwohl aber in Orientierung an der genannten gemeinsamen Fragestellung statt: der eine im Warburg-Haus Harnburg vom 30. April bis 2. Mai 1996, der andere im lstituto Nazianale di Studi sul Rinascimento in Florenz vom 25. bis 27. April1997. Die gemeinsame Fragestellung wurde in die Formulierung gebracht: "Die Renaissanceeine erste Aufklärung?"
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Vorwort
Ein Teil der auf der Florentiner Tagung vorgelegten Beiträge wurde zusammen mit anderen desselben Projektes in der dreibändigen Serie "Die Renaissance als erste Aufklärung" im Verlag Mohr (Siebeck) Tübingen vor kurzem veröffentlicht. Autoren und Herausgeber haben sich darauf verständigt, diejenigen Projektergebnisse, die sich zur Diskussion dieser Frage ausschließlich auf das Werk Cassirers und nicht auf die Philosophie der Renaissance im Lichte der Cassirerischen Interpretation konzentrieren, gesondert in diesem Band zu versammeln. Eine besondere Rolle in der Verbindung der systematischen Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Politik in Cassirers Philosophie und derjenigen nach der Bedeutung des Renaissance-Humanismus für seine Kulturkritik spielt dabei die in "The Myth of the State" vorgetragene Machiavelli-Interpretation. Auf sie mußte deshalb in mehreren Diskussionszusammenhängen Bezug genommen werden, und sie verbindet die dreibändige Serie mit dem vorliegenden Band. Auf die Beiträge von Wolfgang Kersting und Giuliano Procacci zum Thema "Machiavelli" (Band III der Serie "Die Renaissance als erste Aufklärung: Die Renaissance und ihr Bild in der Geschichte") sei deshalb besonders hingewiesen.
Dank Zu danken ist der ALFRIED KRUPP VON BOHLEN UND HALBACH-STIFTUNG IN ESSEN für die großzügige Unterstützung der Durchführung des gesamten Tagungs- und Forschungsvorhabens "Die Renaissance als erste Aufklärung. Die Aktualität der Philosophie der europäischen Renaissance nach Ernst Cassirer". Zu danken ist ferner der Frankfurter Stiftung für deutsch-italienische Studien für die freundliche Mitbeteiligung an den Herstellungs- und Übersetzungskosten für die Publikation der Serie. Dem Wissenschaftlichen Kuratorium der FEST gebührt Dank für kompetente und kritische Begleitung des Projekts, insbesondere den Herren Proff. Pierre Aubenque, Gottfried Boehm, Albrecht Dihle und Gottfried Schramm. Zu danken ist den Direktoren des "Istituto Nazianale di Studi sul Rinascimento" (Florenz), Prof. Micheie Ciliberto und des Warburg-Hauses (Hamburg), Prof Dr. Martin Warnke für die großzügige Einladung, jeweils einmal in den Räumen ihrer Institutionen ein Forschungskolloquium durchführen zu dürfen. Für die Bearbeitung der Manuskripte hat Herr Redaktionsassistent Thomas Meyer M.A. (München) gesorgt. Die technische Herstellung der Druckvorlagen besorgte Frau Eveline Busch-Ratsch (Heidelberg).
Vorwort
VII
Beiden gebührt großer Dank für kompetente, unermüdliche und verläßliche Arbeit, ohne die die Fertigstellung des Bandes nicht möglich gewesen wäre. Heidelberg, im Juni 1999
Enno Rudolph
Inhalt Barbara Henry Der Ort der Politik im Werk Cassirers
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Donald Phillip Verene Cassirer's Politial Philosophy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Massimo Ferrari Zur politischen Philosophie im Frühwerk Ernst Cassirers . . . . . . .
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Reinhard Mehring Pathos der >>ZusammenschauUrphänomenUrphänomens< unter Bezugnahme auf Goethes Morphologie benutztB, und auf dieses Paradigma verweist Cassirer auch, wenn er seinen Begriff des Symbols auf die historisch-politische Dimension menschlicher Erfahrung ausdehnt. Ich denke an das Beispiel der Kanonade von Valmy, das in der bereits erwähnten Festrede, der Idee der republikanischen Verfassung, angeführt wird. 9 In diesem Fall bezieht sich Cassirer ausdrücklich auf die eigene Theorie des Symbols, wenn er behauptet, daß das Symbol die Synthese zwischen dem Besonderen (dem anschaulichen Zeichen) und dem Allgemeinen (der nicht-anschaulichen Bedeutung) in der Einheit der Lebensäußerungen herstellt. Wichtig ist E. Cassirer (1985), 1-38. Dieser Text ist kürzlich in Deutschland (E. Cassirer [1995] 13-30), wieder publiziert worden, 66 Jahre nach dem ersten Erscheinen (Hamburg 1929). 8
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Henry · Der Ort der Politik im Werk Cassirers
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auch Cassirers Zusatz in diesem Zusammenhang, daß nämlich etwas Analoges in den entscheidenden Momenten der Geschichte geschieht, wenn ein Ereignis mit einer ethischen Bedeutung in Verbindung gebracht wird, die es kraftder eigenen symbolischen Prägnanz in sich trägt.IO Dies meint, daß das betreffende Ereignis als »prägnanter Punkt« im historischen Geschehen einen so offenkundigen Bedeutungsgehalt besitzt, daß es sowohl von den Zeitgenossen als auch von den späteren Generationen in gleicher Weise erkannt werden kann. Ad 2: Betrachten wir nun die zweite Beziehung, also diejenige zwischen Mythos und Technik, so kann man sagen, daß der Mythos als eine in erster Linie magisch-rituelle Technik ein Urphänomen sowohl der politischen als auch der symbolischen Sphäre ist. Die wesentlichen theoretischen Aspekte der Beziehung zwischen Mythos und Technik sind dabei: der genetisch-evolutive Charakter der symbolischen Form; die Rolle des Mythos als Ursprung und Unterbau dieser Entwicklung; schließlich der Bezug auf Ernst Kapps Begriff der >Organprojektion< und damit auf einen großen Teil der Philosophie der Technik der Weimarer Zeit. Im Zuge der Vertiefung seiner Analyse dieser drei Aspekte und ihrer inneren Affinitäten kommt Cassirer letztlich dazu, den Ritus und besonders das rituelle Opfer als ursprüngliche technische Form der Vermittlung zu verstehen, oder anders gesagt, als expressive Transfiguration des unmittelbaren Gefühls der Angst vor dem Tode. Die Magie als Technik würde damit im weitesten Sinne nach dem Kappsehen Modell der Organprojektion wirksam sein, indem sie in zweckdienlicher Funktion, nämlich zur Verteidigung und zum Schutz der bedrohten Gemeinschaft, symbolisch zwischen den ursprünglichen Formen der Wahrnehmung und den physiologischen Ausdrucksformen der Emotionen vermittelt. Die erste menschliche Technik, der magische Ritus, hätte demnach eine sozial und politisch emanzipative Funktion, zumindest im Vergleich mit historisch früheren Lebensformen. Diese Einsicht wird Cassirer möglich, indem er die Analyse der ursprünglichen >operativen< Merkmale des Mythos im Hinblick auf die äußerste Drohung des Todes vorantreibt. Mit anderen Worten, der Mythos entfaltet seine Wirksamkeit in der Welt, indem er die Kohäsion und den Zusammenhalt der Gemeinschaft befördert, und dies vollbringt er mittels ritueller Instrumente und Verfahren zur Vermittlung von Emotionen. Damit komme ich zur dritten Beziehung, der Verbindung zwischen Mythos und politischer Theodizee. Ad 3: Wie ich andernorts ausgeführt habe 11 , interessierte sich Cassirer über einen längeren Zeitraum hinweg für die kollektive Dimension des 10
Ebd., 24.
II Vgl. dazu B. Henry (1996), 1-45; außerdem: B. Henry (1986).
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symbolischen Handelns. So hatte er sich schon vor der Machtergreifung Hitlers mit politischen Themen beschäftigt, und zwar unter Akzentsetzungen und Blickwinkeln, die sich auch in seinen reiferen politischen Schriften identifizieren lassen. So kann man in verschiedenen Arbeiten seit 1916 die Themen der Freiheit als Selbstgesetzgebung und der Verantwortlichkeit wiederfinden, weiterhin die Frage nach den historischen Verflechtungen zwischen philosophischen Ideen, kulturellen Objektivationen und politischer Freiheit.12 Trotz der ersten Überlegungen zu diesen Themen in Freiheit und Form, Idee und Gestalt und der Abhandlung über die Idee der republikanischen Verfassung wird das Problem der Theodizee als Form der Legitimation politischer Gemeinwesen, wie angedeutet, ausführlich erst im Aufsatz über Rousseau aus dem Jahre 1932 behandelt. In dieser Arbeit liefert Cassirer auch das Kriterium, um diejenigen Fälle, in denen das politische Konzept der Theodizee mit den Prinzipien der Vernunft übereinstimmt und daher >positive< Effekte entfaltet, von solchen zu unterscheiden, in denen dies nicht so ist und deswegen mit negativen Folgen für ein freiheitliches und rechtsstaatliches Gemeinwesen gerechnet werden muß. Im Kern kann man darin schon grundlegende Bausteine für die spätere Kritik am totalitären Mythos des 20. Jahrhunderts finden, den Cassirer als eine Art >falsche< Theodizee begreift. Damit will ich nicht behaupten, daß Cassirer schon im Bewußtsein der kommenden Ereignisse und namentlich der Machtergreifung Hitlers schrieb, was zu unterstellen in der Tat abwegig wäre, sondern nur, daß der Philosoph schon vor Hitlers Herrschaft eine klare Vorstellung davon hatte, wie eine in seinen Augen richtige und überzeugende Form der Legitimation politischer Macht beschaffen sein müsse, und damit (implizit) auch, welche Kennzeichen eine >falsche< Form charakterisieren. Cassirer wendet sich daher zum ersten Mal unter Bezugnahme auf die Lösung Rousseaus, die für den Neukantianer einen vorbildlichen Rang hat, dem Thema zu, wie man dem Übel, mit dem die Menschheit seit jeher zu schaffen hat, nämlich dem individuellen Tod und dem drohenden Ende eines Gemeinwesens, begegnen kann. Das Spezifische der von Rousseau erkannten und von Cassirer ausgeführten Lösung, besteht in der Hervorhebung der irdischen, unablässig rettenden Aspekte der auf einem gemeinsamen Willen basierenden politischen Gemeinschaft. Der von Cassirer gesetzte Akzent verweist bereits auf die in den nachkommenden Interpretationen der moralischen und politischen Werke Rousseaus bemerkenswert erfolgreiche Aufgabe, wie sie auch in einem kürzlich erschienenen Buch resümiert wird: >>Die 12E. Cassirer(1916), 3 ff., 36-45, 57f., 145-155, 303-360; E. Cassirer(1995), 1623, 24 f.
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Frage, was eigentlich das Böse sei und wo es seinen Ursprung hat, begleitet die gesamte westliche Philosophie und erfährt in der Sicht Cassirers erst seit Rousseau eine den eigentlichen Sin~ grundsätzlich betreffende Wandlung. Erst hier ist die Verantwortlichkeit für das Böse eigens thematisiert und wurde dort verortet, wo es nie gesucht worden war; nämlich nicht im einzelnen Menschen, sondern in der Gesellschaft.«13 Von dieser Deutung ausgehend liegen folgende Schlüsse nahe: - daß das geschichtlich wirksame Böse, zumindest in Cassirers Lesart Rousseaus, eliminiert werden kann, wenn an genau den gesellschaftlichen Bedingungen gearbeitet wird, die es ermöglichen; - wird der Politik die Aufgabe überantwortet mit tiefenscharfer Anstrengung an dieser Befreiung der Menschheit zu arbeiten. Doch befürwortet Cassirer keine konstruktivistische Lektüre des Rousseauschen Projektes; weder verfolgt er die Konstruktion eines neuen Menschen, noch die Errichtung eines perfekten, irdischen Gemeinwesens. Vielmehr beschränkt er sich darauf, die Motive und Elemente der Gemeinschaft zu isolieren, die das Leid und den Tod der Individuen erträglich und gerechtfertigt erscheinen lassen. Das wichtigste Element ist das von kollektiven Willen gesetzte Ziel. Das gemeinsame Ziel, das in der Lage ist, den unvermeidbaren Tod des Einzelnen zu rechtfertigen oder zumindest erträglich zu machen, wird von Rousseau als umfassender Respekt gegenüber dem Gesetz bestimmt. Es muß so formuliert und angewendet werden, daß es jedem die gleiche juristische und politische Freheit garantiert. Cassirer stimmt dem nicht nur zu, er betrachtet Rousseau sogar als Vorläufer der Kamischen Auffassung von Gesetz. Sagt er dies, so beabsichtigt er darüberhinaus den Genfer von der Beschuldigung freizusprechen, die jakobinische Diktatur ante literam theoretisch begründet zu haben.14 Mir scheint jedoch, daß Cassirer Rousseau im Rahmen seiner Verteidigungsstrategie Schwerpunkte zuschreibt, die sich ganz eindeutig nur in der Hegelschen Auffassung von einer bürgerlichen Gesellschaft finden. Plausibel wird diese- um nichts weniger kühne- Anlehnung, sobald man berücksichtigt, daß Cassirer sich bereits 1916 in einer grundlegenden Untersuchung dem Begriff der Form gewidmet hatte. Dort sah er Form mit dem Gesetz oder der allgemeingültigen Regel der objektiven Kulturwelten verbunden. Somit ist bei Cassirer Form in der Hegelschen Bedeutung zu verstehen. So in § 181 der Rechtsphilosophie Hegel, die Form als gleichsam unterirdische, aber mächtige Verbindung definiert, die die einzelnen Individuen einer bürgerlichen Gesellschaft zusamment3 R. Gatti (1996). 14
E. Cassirer (1932), 177-213 und 479-513. Siehe besonders 194, 196 ff. und
488 ff.
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hält und so als Gemeinschaft von Menschen ausweist, die mit administrativen und zwanghaften Strukturen ausgestattet ist. Die Form, von der bei Hegel die Rede ist, repräsentiert eine nicht unmittelbar sichtbare, doch um nichts weniger konstitutive Allgemeingültigkeit. Ist sie für Hegel nur grundlegend für die soziale und juristische Verbindung, so ist sie für Cassirer auch politisch besetzt. Andere Passagen des gleichen Werkes, Freiheit und Form, dürften Anlaß geben, die eben vorgetragene Deutung zurückzuweisen. Es sind die Seiten, auf denen Cassirer sich ausdrücklich von Hegels Staatstheorie distanziert und die dabei Tenor und Argumente der später in Myth of the State ausgführten Hegel-Kritik vorwegnehmen. Solche auf einer soliden Textbasis beruhenden Einwände können jedoch nicht die Einflüsse Hegels tilgen, die sich als ziemlich präzise bestimmbare theoretische Aspekte in Cassirers Begriff der Fom verborgen haben, überdies kritisiert Cassirer nie die allgemeine Struktur der darüber hinaus aus Kant hervorgehenden bürgerlichen Gesellschaft Hegels. Auch wenn Cassirers Urteil über die Stellung Hegels in der westlichen politischen Philosophie alles andere als positiv ausfällt, ist die Rolle, die Hegel im Teil von Myth of the State spielt, ebenso groß wie grundsätzlich. Der von Cassirer übrigens nicht in die Nachfolge Rousseaus gestellte Hegel, gerät zu einem mit schweren Beschuldigungen belasteten Objekt der Anklage; und das hilft einmal mehr, Rousseau zu entlasten. Cassirer beschuldigt Hegel, den totalitären Staat theoretisch vorbereitet zu haben. In seiner Analyse der vermeintlichen Verantwortlichkeit Hegels rückt Cassirer den Begriff der Theodizee ins Zentrum, wechselt aber in diesem Fall die Optik und gelangt zu einer ganz anderen, kritischen Perspektive, die sich überdies konträr zur eigenen, noch in den dreißiger Jahren vertretenen Sicht verhält. Hatte unter einem ganz spezifischen Aspekt Cassirer vielleicht im Lauf der Jahre auch seine Bewertung von Rosseau geändert? Das läßt sich schwer in drei Sätzen sagen. Sobald man allerdings an dem Kriterium festhält, daß der Rosseau Cassirers eine gute Form der Theodizee befürwortet, läßt sich die Frage beantworten. Er unterscheidet diese positive Form, die auf der Autonomie der Individuen und der bedingungslosen Macht des Gesetzes gründet, von einer negativen Form, die auf der Vorherrschaft der politischen Totalität gegenüber den Individuen basiert. Überdies erschließt sich mir nirgends, daß Cassirer seine Interpretation des politischen Rousseaus in der letzten Phase seines eigenen Lebens modifiziert hätte. Blickt man auf die bisherigen Ausführungen zurück, so läßt sich festhalten: die emanzipative und erlösende Rolle der mythisch-magischen Ritualität sowie die politische Theodizee bilden in den 30er Jahren die Bruchstücke oder Komponenten einer Konzeption, der Cassirer erst in den 40er Jahren präzise Umrisse und ein klares Ziel verleiht. Dieses Ziel
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ist das methodische Studium der kulturellen Phänomene, ohne dabei jedoch den Kontakt mit der moralischen und politischen Realität der Gegenwart zu verlieren. Wie sich zeigen läßt, sind weitere Ausweitungen des Bedeutungsspektrums der oben behandelten Konzepte eine Folge davon, daß sich Cassirer aufgefordert sieht, auf die Herausforderungen der damaligen historisch-politischen Situation zu reagieren. Ich komme zum dritten Teil meiner Überlegungen.
I! I. Methodologie, politische Philosophie und Totalitarismus
Alle bislang erwähnten Arbeiten führten Cassirer nicht zuletzt zu Überlegungen zur Methodologie und Epistemologie der Kulturwissenschaften, wie sie vor allem in den fünf im Jahre 1942 veröffentlichten, aber schon 1940 in Schweden fertiggestellten Aufsätzen Zur Logik der Kulturwissenschaften und zuvor bereits in der Schrift Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie15 Ausdruck finden. Ich werde mich nicht allzu sehr mit den Ergebnissen der durch Cassirer angestrebten logisch-methodologischen Systematisierung der Kulturwissenschaften befassen. Meine wenigen Bemerkungen stützen sich auf allseits bekannte Rekonstruktionen dieses Versuchs. Danach hat Cassirer insbesondere in der Logik eine Methode der Analyse des symbolischen Bewußtseins und seiner Objektivationen begründet, die sich aus vier Schritten zusammensetzt: der sogenannten Werden-Analyse, der WerkAnalyse, der Form-Analyse und der Akt-Analyse. Mit Giulio Raios16 kann man festhalten, daß (a) die Werden-Analyse die Geschichte der symbolischen Formen, also die Geschichte des Mythos, der Sprache, der Kunst und der Wissenschaft umfaßt. Man kann keine Wissenschaft der Sprache, der Kunst etc. entwickeln, ohne sich auf die Resultate der Sprachgeschichte, der Kunstgeschichte etc. zu stützen; (b) die Werk-Analyse ist eine hermeneutische Tätigkeit, die danach trachtet, die Bedeutung jedes einzelnen Kulturprodukts zu erhellen; (c) die Form-Analyse entspricht der Philosophie der symbolischen Formen, d.h. der Suche nach den wesentlichen Charakteristika des Mythos, der Sprache, der Kunst und der Wissenschaft; (d) die Akt-Analyse ist die Phänomenologie des symbolischen Bewußtseins. Hier stehen nicht die Werke der Kultur in Frage und auch nicht die allgemeinen Formen, in denen diese sich dem Betrachter dar15
E. Cassirer (1939).
16 G. Raios (1993).
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stellen, sondern die subjektiven Bewußtseinsprozesse, von denen konkrete einzelne Werke und generelle Formen ihren Ausgang nehmen. Klammert man die Werden-Analyse einmal aus, interpretiert Cassirer die eigene Morphologie als Studium der Formen in dreierlei Sinn. Formen gelten ihm erstens als Werke oder kulturelle Produkte, zweitens als generelle Formen, in denen diese Werke sich uns präsentieren, d.h. Sprache, Mythos, Kunst, Wissenschaft und ihre systematische Ordnung, drittens schließlich als subjektive Bewußtseinsvorgänge, die die Kulturprodukte und ihre Offenbarungsweisen hervorbringen. Die allgemeinen symbolischen Formen- Mythos, Sprache, Kunst, Wissenschaft- sind, mit anderen Worten, die Bereiche der symbolischen Objektivierung und entsprechen spiegelbildlich den subjektiven Prozessen, die sich im symbolischen Bewußtsein entfalten. Darüber hinaus hat die Morphologie beziehungsweise Kulturphänomenologie bei Cassirer eine noch ausgedehntere Reichweite. Durch die Verbindung der Form-Analyse mit der Akt-Analyse verweist Cassirers Phänomenologie nämlich auch auf drei prinzipielle Modi, in denen das symbolische Bewußtsein Symbole produziert. Dabei handelt es sich um die Ausdrucksfunktion, die Darstellungsfunktion und die Bedeutungsfunktion. Die verschiedenen Funktionen gehen dabei alle von Sinneswahrnehmungen aus, sie fassen und prägen diese jedoch von Anfang an auf jeweils eigene Art und verarbeiten sie sodann auf wiederum spezifische Weise. Dies gilt im Hinblick auf alle allgemeinen Formen, in denen das symbolische Bewußtsein operiert, also für Mythos, Sprache, Kunst und Wissenschaft. Cassirer geht davon aus, daß den oben genannten drei Funktionen die allgemeinen Formen entsprechend der in ihnen vorherrschenden Richtungen zugeordnet werden können. Der Mythos und die ersten Stufen der Sprache operieren im expressiven Modus. Diese Funktion ist als Wahrnehmung und Verstehen von Empfindungen und Gefühlen wie Angst, Freude, Verlangen usw. charakterisiert. Das heißt, der Mythos versteht alle Phänomene so, als wären sie Ausdruck gewisser kosmischer Kräfte, welche ihre Emotionen und Gefühlsregungen äußern. Die zweite Funktion, nämlich die der Darstellung oder Repräsentation, kennzeichnet vor allem die Sprache in ihren beschreibenden und objektivierenden Aspekten, aber auch die Kunst. Die Bedeutungsfunktion schließlich bringt Cassirer mit der Wissenschaft in Zusammenhang, insofern diese die weitestgehende Dematerialisation des anschaulichen Substrats des jeweiligen Symbols vollzieht. Dies geschieht zugunsten des Hervortretens der >reinen< Bedeutung. Für Cassirers Analyse des politischen Mythos ist natürlich vor allem die Ausdrucksfunktion von Interesse. Halten wir zunächst fest, daß die Kulturphänomenologie Cassirers in den 40er Jahren zum Baustein einer gene-
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rellen Philosophie des Menschen wird, insofern sie der Anthropologie über die Kriterien der Form-Analyse hinaus nun auch das historische Material und die Kriterien für eine an den skizzierten Funktionen orientierte Interpretation kultureller und politischer Phänomene liefert. Die Leistung einer methodologischen Systematisierung der Kulturwissenschaften ist meiner Meinung nach, wie ich noch anmerken möchte, das Resultat einer erneuten Überprüfung von Cassirers eigener Philosophie der symbolischen Formen und der Schriften über Technik und Symbol, wobei die neukantianische Perspektive verbindlich bleibt. Cassirer kann zeitlebens kein Thema angehen, ohne nach den Gründen und den methodologischen Strukturen zu fragen, die es zum Objekt einer Wissenschaft machen. Darüber hinaus - und damit erweist er sich als direkter Erbe des politischen Kant - glaubt Cassirer, daß das, was theoretisch wahr ist, auch für die Praxis gilt und taugen muß, und daß es daher notwendig sei, die eigene Theorie zu ändern, wenn es sich als offenbar unmöglich erweist, sie in Praxis umzusetzen. Gerade die politischen Analysen Cassirers zeigen, daß dessen Werk keineswegs bruchlos im Anspruch auf systematische Ordnung aufgeht. Cassirer sieht sich bekanntlich durch die geschichtlichen Bewegungen in den 30er und 40er Jahren gezwungen, Teile seines eigenen Ansatzes mit kritischen Augen zu sehen. Speziell der Nationalsozialismus veranlaßte ihn dazu, die theoretische Konstruktion einer wohlgeordneten Entwicklung symbolischer Formen zu problematisieren. Der Mythos ist nicht nur Ursprung und Unterbau höherer Symbolisierungsleistungen, sondern kann unter Umständen zu jeder Zeit zur bestimmenden Kraft in der Kultur, Gesellschaft und Politik der westlichen Zivilisation werden. Ein deutliches Zeichen für die Notwendigkeit einer Revision von Cassirers Theorie ist auch dessen zunehmende Aufwertung der Geschichte, die, angefangen von der Logik der Kulturwissenschaften über den Essay on Man bis hin zum Myth of the State, seit dem genannten Essay ihre Eigenständigkeit neben Mythos, Sprache, Kunst und Wissenschaft erlangt. Im Zeitraum von 1940-1944 hat sich Cassirer gleichzeitig mit der Kulturphänomenologie, der philosophischen Anthropologie und der politischen Philosophie beschäftigt und dabei nicht zuletzt das politische Thema der Theodizee im Lichte der ersten beiden Disziplinen, d.h. in der Perspektive einer mythischen Form der Welterfassung, neu gedeutetY 17 Hält man sich an die von Verene vorgeschlagene Periodisierung, stammen die im angesprochenen Zusammenhang relevanten Arbeiten aus der Zeit der schwedischen und amerikanischen Periode. Zur Logik der Kulturwissenschaften fällt in die erste der beiden Perioden, während An Essay on Man und The Myth of the State zur zweiten Periode gehören. Im Licht ihres Zusammentreffens müssen auch die von Verene posthum im Sammelband Symbol, Myth and Culture
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Was nun die moralischen und politischen Umstände seiner Zeit betrifft, bildet also der totalitäre Staat und sein Sieg über die Demokratien, den der Totalitarismus nach Cassirer gerade dem Einsatz mythischer Elemente verdankt, jene Herausforderung, auf welche der neukantianische Philosoph antwortet. Die mythischen Elemente, die Cassirer in diesem Zusammenhang identifiziert und behandelt, sind: das Thema des Schicksals und des totalen Feindes, die Dämonisierung des Gegners, ferner die Berufung und Inthronisation des homo magus an Stelle des moralischen Politikers kantianischer Prägung oder, wenn man so möchte, auch des Webersehen Verantwortungsethikers, und schließlich die obsessive Praxis kollektiver Rituale, die in den Individuen die Fähigkeit, selbständig zu denken, abstumpfen läßt. Die mythischen Umwälzungen im Denken und Handeln der Bürger entwickelter Gesellschaften implizieren unter anderem die Ablehnung der Aufklärung mit ihrem Motto sapere aude sowie der ersten Maxime des Gemeinsinns in der Kritik der Urteilskraft, die dem neukantianischen Philosophen so teuer ist. Die besagte Herausforderung für Cassirer ist um so stärker, als gerade er es war, der in den 20er und 30er Jahren den mythischen Unterbau des Symbols und die werkzeugartige, technisch-instrumentelle Funktion der Magie hervorgehoben und aufgewertet hatte. Cassirers Konfrontation mit einer Politik, die für ihn eine unerwartete Inthronisierung des Mythos mit verheerenden Folgen verkörperte, änderte dessen Einschätzung dieser symbolischen Form in bestimmten Punkten beträchtlich. Einige wesentliche Resultate von Cassirers politisch-anthropologischer Analyse aus der besagten Zeit lassen sich wie folgt skizzieren. Cassirer begreift die Situation des zeitgenössischen Menschen als Krisensituation, die durch den Verlust des Selbst-Bewußtseins und des individuellen Verantwortungsgefühls der Bürger in den entwickelten herausgegebenen politischen Schriften interpretiert werden; dies gilt ebenso für den größten Teil der unveröffentlichten Manuskripte aus der Zeit der amerikanischen Periode, die seit 1964 in der Universität von Yale in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library aufbewahrt werden und bei Felix Meiner in Harnburg in Druck gehen werden. Ein Beispiel für Cassirers interdisziplinäre Arbeiten, die alle auf die Analyse politischer Phänomene hinauslaufen, speziell des Totalitarismus, bieten etwa die Entwürfe zum Myth of the State. Diese sind in der Zeitschrift Fortune im Jahr 1944 erschienen, dem Jahr der Veröffentlichung des Essay on Man. Ferner mag auch die Schrift Erwähnung finden, in der Cassirer die Parallelität zwischen dem nationalsozialistischen Antisemitismus und der Dämonisierung des Gegners skizziert und in der er diese letztere Einstellung als typisch für den primitiven politischen Mythos ansieht. Diese Arbeit trägt den Titel ]udaism and the Modern Political Myths und ist erstmals im gleichen Jahr, 1944, in der Zeitschrift Contemporary Jewish Record publiziert worden, bevor sie im posthum erschienenen Sammelband Symbol, Myth and Culture wiederabgedruckt wurde.
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Gesellschaften ausgelöst wurde. Speziell dieser Verlust, so Cassirer, hätte in den demokratischen Gesellschaften die Wiederbelebung der volitiven und emotionalen Energien des Mythos begünstigt, von Kräften also, die ansonsten im wesentlichen der kulturellen Vergangenheit der Menschheit angehörten. Diese Energien des mythischen Bewußtseins, das als erste Form des Weltverständnisses am Beginn der menschlichen Zivilisation steht, haben prärationalen Charakter und müssen insofern als primitiv angesehen werden. Dennoch können sie sich in den geschickten Händen von Ideologen und Propagandisten des Totalitarismus zutiefst verwandeln. Die beschwörende Kraft des primitiven Mythos, welche Gemeinschaften dazu verhalf, in Situationen der Todesgefahr mittels der übernatürlichen Macht der Magier und Zauberer ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, wird in den Demokratien des 20. Jahrhunderts in eine gezielte Manipulation der Einstellungen der Massen durch Techniker der Überredungskunst umgewandelt. Der beunruhigendste Aspekt in den Gesellschaften des 20. Jahrhunderts ist für Cassirer also die Rückkehr des Mythos und des kollektiven magischen Ritus' sowie ihr politischer Sieg über die theoretischen Konzepte und die praktischen Standpunkte, die sich an Rationalität und Einsicht orientieren. Der zeitgenössische Mythos benutzt die moderne Technik zum Zweck der irrationalistischen Indoktrinierung der Massen, eine Indoktrinierung, die ihre Inhalte und ihre Vorgehensweisen zum Teil ganz offenkundig von den magischen Riten der ersten menschlichen Gemeinschaften übernommen hat. Das Bedürfnis und der Ruf nach einer Art Magier, der die bedrohte Gemeinschaft kraft seines Zugangs zu den Geheimnissen des Kosmos retten kann, sind Komponenten des >Führerprinzips< im Faschismus und Nationalsozialismus. Die freilich bestehenden Unterschiede zwischen der modernen und den sogenannten >primitiven< Gesellschaften werden etwa deutlich, wenn man die Art des Vertrauens in die magische Ritualität des Verhaltens untersucht. In der einfachen Gesellschaft ist der Glaube an die Magie spontan, während er bei den modernen Menschen, obschon auch diese empfänglich für seinen Zauber geblieben sind, erst mit künstlichen Mitteln geweckt, installiert und erhalten werden muß. Hierzu dienen die Techniken zur Manipulation der Massen, von denen der Totalitarismus Gebrauch macht. Der moderne Mensch benötigt also eine Art sozialer Rechtfertigung für den Rückgriff auf die Irrationalität, wobei dies natürlich gewissermaßen >implizit< bleiben muß. Die Techniken zur Erreichung dieses Ziels sind, wie wir wissen, alles andere als >primitivFührer< übernimmt vielmehr diese Funktionen gleichsam >>pars pro toto«, und der Mythos leistet hierbei seine Dienste, indem er, wie allgemein bekannt, etwa einen dämonischen Feind ausmalt, eine Kraft des Bösen, die von den Kräften des Gutenrücksichtslos bekämpft werden muß und so weiter und so fort. Die Rolle des radikal Bösen verkörperte in der nationalsozialistischen Wiederbelebung des Mythos das jüdische Volk, worauf Cassirer in seinen posthum veröffentlichten Schriften zu sprechen kommt. 19 Cassirer war der Auffassung, daß der Mythos am Beginn der Evolution der menschlichen Gattung steht und zugleich, da er auch eine universale Form und Funktion des symbolischen Bewußtseins ist, überdauert und seine Wesenszüge gleichsam >unterhalb< der entwickelteren symbolischen Formen und Funktionen erhält. Er bleibt als Unterbau erhalten und wirksam. Die Menschheit geht in dieser Sicht also von einer intuitiven, expressiven und emotionalen Form aus, um immer mehr analysierende und objektivierende Formen zu entwickeln - ohne daß diese Evolution jedoch die Rückkehr des Mythos völlig ausschließen könnte. Diese letzte Einschränkung, durch die Cassirer von der lange gehegten Annahme der Irreversibilität der gattungsgeschichtlichen Entwicklung abrückt, ist ein Novum in Cassirers Denken, das wesentlich mit seiner Analyse des politischen Mythos zu tun hat, zu der er sichangesichtsder geschichtlichen Ereignisse und Entwicklung veranlaßt sah. Cassirers 18 Siehe E. Rudolph (1995), 143-158, besonders 152 ff. 19 Vgl. FN 15.
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frühere Unterstellung einer linearen Abfolge von der mythischen Vision, nach der die Natur von aktiv tätigen Gottheiten bewohnt ist, die ihren Launen Ausdruck verleihen, über die Darstellung der Dinge durch den Gebrauch von Namen in der Sprache und durch die Bilder der Kunst, hin zur Verwendung der reinen, logisch-mathematischen Symbole der exakten Wissenschaften, wurde durch die geschichtliche Erfahrung jäh durchkreuzt. Zwar hatte Cassirer, wie gesagt, immer angenommen, daß die gattungsgeschichtlich früheren Formen und Funktionen in den späteren >aufgehoben< und durch diese nur überlagert, nicht aber völlig zum Verschwinden gebracht werden können. Er hatte aber sicherlich mit einer Machtergreifung des politischen Mythos in einer wissenschaftlich und technologisch weit fortgeschrittenen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts nicht gerechnet, wie er sie dann selbst diagnostizieren mußte. Dieses Ereignis, das für Cassirer eine radikale Umkehr des Zivilisationsprozesses verkörperte, betrachtete er keineswegs nur als bloß es Intermezzo oder als bedauerlichen Unfall. In seiner neukantianischen Sicht der Kultur - Kultur galt ihm als exklusiver (symbolischer) Bereich des Menschlichen - führt dies zu einer tiefen Krise der Selbstauffassung des westlichen Menschen. Bacons Motto natura non vincitur nisi parendo, das Cassirer am Ende von Mythus des Staates zitiert, legt er als eine Einladung zur unablässigen Wachsamkeit und aktiven Kritik des eigenen Zeitalters aus, um in ihm jene kulturellen Elemente zu erhalten und zu stärken, welche diejenigen Formen des Zusammenlebens begünstigen, die im wesentlichen den aufklärerischen Idealen entsprechen. Diese Mahnung findet sich auch in allen posthum publizierten Schriften, die in die amerikanische Periode und damit in die gleiche Zeit wie An Essay on Man fallen. Bekanntlich ist dies die erste Schrift, in der Cassirer der Geschichte ein eigenes Kapitel widmet. Das gehört zu seinem Versuch, die eingetretene kulturelle Inversion in ihrem Verlauf zu erklären. Wie seinerzeit Hermann Lübbe anmerkte, besteht die Bedeutung der politischen Geschichtsschreibung in ihrer Fähigkeit, aufzuzeigen- ich würde sagen: in zutiefst kantianischem Sinn -, daß die Geschichte der menschlichen Zivilisation eine Geschichte des Fortschritts ist, aber ohne die Garantie der Irreversibilität. 20 In jedem Fall ist die Geschichte, die der Neukantianer vor allem als politische Geschichtsschreibung versteht, ein tragendes Element in der Kulturphänomenologie, Anthropologie und politischen Philosophie beim späten Cassirer. Die Geschichtsschreibung nimmt am Ende in der Tat eine bedeutende methodologische Position ein, da sie entweder als Moment der Analyse, 20
Siehe H. Lübbe (1975), 7.
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nämlich als Werden-Analyse, innerhalb der Logik der Kulturwissenschaften eine Rolle spielt, oder aber, was wohl noch wichtiger ist, als eine Art experimentum crucis für die beiden anderen theoretischen Forschungsrichtungen, also die philosophische Anthropologie und die politische Philosophie. Für Cassirer gilt das, was in der Theorie wahr ist, auch in der Praxis, und daher ist es notwendig, die eigene Theorie zu modifizieren, wenn sie sich als offensichtlich unfähig erweist, in der Praxis zu bestehen. Dieses Diktum Kants, das Wiedererstarken des Mythos in modernen Demokratien sowie die in den 40er Jahren entwickelten, neuen methodologischen Prinzipien der Kulturphänomenologie haben Cassirer dazu gebracht, Teile seiner früheren Theorie und Grundauffassung der Kultur und der Kulturwissenschaften ex novo zu hinterfragen. Cassirers Bereitschaft, eigene Fehler offen einzugestehen, kann nur denjenigen tragisch oder vergeblich erscheinen, welche denken, daß heute ohnehin alle Versuche einer rationalen Kritik der kulturellen und politischen Ereignisse bar jeder »praktischen Realität>Cassirer once told how in 1917, just as he entered a street car to ride home, the conception of the symbolic forms flashed before him; a few minutes later, when he reached his home, the whole plan of his new voluminous work was ready in his mind, in essentially the form in which it was carried out in the course of the subsequent ten years.>getting it right.>human culture taken as a whole may be described as the process of man's progressive self-liberationthe Olympianline-drawing>symbolic acttonality< implies that the symbol can strike a range of related sounds or >chordsthe critique of reason becomes the critique of culture.>inner form«. Politics arises from the power of the symbol to give the object particular meanings in the activity of the knower, that have a different >tonality< than are given in, say, art or religion or purely scientific thought. We can imagine and, in fact, find a large amount of evidence in various studies of politics, that there is a political space and time, and a distinctively political understanding of causality, subjectivity, and objectivity, of the relation of whole to part, etc. We can imagine a chapter in An Essay on Man titled Politics, in which Cassirer, beginning from Hegels formulation of the interlocking forms and subforms of social and politicallife in the Philosophy of Right, moves back toward his treatment of such forms in the earlier Phenomenology of Spirit as activities of the self-formation of consciousness. Then using the Kantian vectors of space, time, and causality as guides, Cassirer might construct an account of the inner form of politics as part of human culture. Such an account would undoubtedly be of great intrerest and value. But would such an account- even developed not simply as a chapter, but 26 PSF, I, 83 f. 27
PSF, IV, Appendix.
28 Ibid. 29 R. G. Collingwood (1924).
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as a whole book - constitute Cassirer's possible contribution to political philosophy? The answer is, no.
Relation of Philosophy to Politics In The Myth of the State, Cassirer makes it clear that philosophy has a different relation to man's cultural and sociallife than simply to understand the epistemological structure of political thought. The philosophical understanding of science or art may exert some influence on these as actual activities, but philosophy dos not have a duty to be a force in their natures. The case of man's politicallife is different. Cassirer finds hirnself caught between Hege! and Plato. He says: >>Üur modern philosophers seem long ago to have given up all hope of influencing the course of political and social events. Hege! had the highest opinion of the worth and dignity of philosophy. Nevertheless, it was Hege! hirnself who declared that philosophy comes always too late for the reform of the world.« 30 Cassirer has in mind Hegel's famous dieturn in the Philosophy of Right, that every philosopher is a child of his own time, and the image that the owl of Minerva takes flight only at the falling of the dusk. The image of the wisdom philosophy seeks would be that open to the >>pure spectators«, taken literally, in the original characterization given of the philosophos by Pythagoras. The philosopher can observe and draw together events only after they have happened. Cassirer would see this passive attitude as false to the true spirit of philosophy. As he continues: >>In this case philosophy would be nothing but a sort of speculative idleness.«3t Cassirer says that Plato is enough to refute this passivity as proper to the philosophical spirit. He is probably thinking of the Republic as an ideal state (in Laws 739, Plato says the Republic is a state for the gods or the children of gods). Cassirer may also have in mind here Plato's own attempts to influence political rule in his trips to Sicily. But Cassirer is also aware of the fact that Hege! wrote a number of shorter works on actual political problems. Cassirer is really touching on the ancient notion, found in both Plato and Aristotle, that there is a natural connection between wisdom in general and practical wisdom or phronesis. Philosophy cannot stand to the polis, to civil life, simply as an activity of theoretical thought. Philosophy is to teach us how to live. Cassirer endorses this Socratic ideal in the first sentence of
30 E. Cassirer (1946), 295. Hereinafter cited as MS. 31 Ibid.
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An Essay on Man: >>That self-knowledge is the highest aim of philosophical inquiry appears tobe generally acknowledged.«32 Cassirer cites and endorses Plato's procedure in the Republic, that the nature of the soul must be understood as it is writ !arge in the form of the state, or in Cassirer's terms, in the system of the forms of human culture. Cassirer appeals to Kants endorsement of Plato's Republic as a valuable Statement of an ideal rather than an unreal utopia, and he sees Kant as making a powerful connection between the ability of theoretical thought to form ideals of knowledge that pass beyond the simple grasp of facts and our corresponding ability to form ideals of conduct against the prevailing state of affairs. Cassirer says: >>Kants observation that for the human understanding it is both necessary and indispensible to distinguish between the reality and possibility of things expresses not only a general characteristic of theoretical reason but a truth about practical reason as well.«33 Cassirer has not lost the dedication to the conceptus cosmicus of philosophy that he proclaimed a decade earlier. He states, finally, in The Myth of the State: >> The great thinkers of the past were not >only their own times apprehended in thought>complete decisivenessPhilosophy is 32 EM, 1. 33 Ibid., 60. 34 MS, 296. 35
PEC, 855-880.
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only able to point out the conflict: it cannot claim any ultimate way out of the difficulty. For the deeper it penetrates the more does philosophic reflection reveal a dialectical structure within our consciousness of culture. «36 In this dialectic the individual ego finds its own reality smothered in the multiplicity of cultural achievements. Cassirer does not wish to deny the profound tensions that exist within culture, and we need go no further than the aesthetic process to understand the tension between the creator and tradition. But Cassirer holds that >>Spirit has accomplished what was denied to >lifeideal< world.«38 This view of culture and the concrete forms upon which cultural work depends is highly Goethean. It is Goethe that Cassirer quotes agairrst Heidegger at Davos, in defending his view of culture as Iiberation agairrst Heideggers conception of the human situation as bound up in Geworfenheit.3 9 Later, in The Myth of the State andin his lectures during his American period, Cassirer connects Heideggers conception of human existence with Spenglers conception of history, in which history is no Ionger seen as a process of human liberty, but rather as a framework in which we can only divine the nature of our place.40 Cassirer says that Spengler has reduced the philosophy of history to the art of divination. This way of looking at things, at the individual in terms of his throwness or Geworfenheit, and at the historical period in terms of the divination of 36 E. Cassirer (1960), 184-185. A new translation by Steve Lofts of this work is forthcoming from Yale University Press. 37 Ibid., 215. 38 EM, 228. 39 Carl H. Harnburg (1964), 208-222. 40 SMC, 228 f.
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conditions, is of a piece with the mentality of the modern politician. Cassirer says: »Üur modern politicallife has abruptly returned to forms which seemed to have been entirely forgotten. To be sure, we no Ionger have the primitive kind of sortilege, the divination by Iot; we no Ionger observe the flight of birds nor do we inspect the entrails of slain animals. Wehave developed a much more refined and elaborate method of divination- a method that claimstobe scientific and philosophical.«41 As Heidegger put his case for Geworfenheit at Davos, human freedom is not something that can be a project of Geist, an activity, a Werk; freedom depends upon the phenomenon of a >breakthrough>can no Ionger do its duty.« When freedom is made a matter of contingency, history and culture are no Ionger understood as activities of self-knowledge. The Socratic ideal is given up and man is robbed of the basis for his self-respect. Cassirer is of course speaking only of Heidegger's views expressed at Davos and as developed in Being and Time. What he might have thought of Heidegger's later critique of technology can never be known. But he would have had no sympathy for Heidegger's notorious Statement, in his An Introduction to Metaphysics of 1935, and retained in his corrected text of 1953, concerning >>The works that are being peddled about nowadays as the philosophy of National Socialism but have nothing whatever to do with the inner truth and greatness of this movement (namely the encounter between global technology and modern man) - have all been written by men fishing in the troubled waters of >values< and >totalities>meditative thinking« of Being. To think in terms of ideals becomes an activity of human delusion, of fishing in the troubled waters of >values< and >totalitiesCritical Idealism as a Philosophy of Culture«44. Cassirer always understood his philosophy as a development of philosophical idealism and its transformation of certain ideas from eighteenth-century thought. The one item among Cassirer's papers at the Beinecke Library at Yale that is not his own work is an extensive essay on Thomas Jefferson which he had clipped from a newspaper. Human freedom, for Cassirer, is tied to the realization of form in human experience, the two terms that he joins in his 1917 Freiheit und Form . This conception of the nature and importance of form goes back, in his mind, to Kant's conception of the >schematism>an art concealed in the depths of the human soul« (>>eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele«) (KdrV A141; B180-81). Cassirer's aim is to expose the various shapes of this art through his conception of the phenomenon of the symbol. Cassirer's further insight is to see a connection between the sensuous intellectual form of the schematism and Kant's attempt to show the nature of a >>particular universal« in the third Critique, based in the powers of the >>reflective judgment« (reflektierende Urteilskraft). Cassirer sees this organic sense of form as having roots in the philosophical tradition in Plotinus's metaphysics. 46 It is the sense of form that dominates Goethe's understanding of nature, Hegel's sense of the whole, and Schiller's conception of aesthetic education. It is this sense of the interconnectedness of things in human culture understood as a totality with which Cassirer concludes An Essay on Man, by employing Heraclitus's image of the bow and the lyre. He says that each one of man's cultural activities, >>opens a new horizon and shows us a new aspect of humanity. The dissonant is in harmony with itself; the Contraries are not mutually exclusive, but interdependent: >harmony in contrariety, as in the case of the bow and the lyrefelt< and it Jives in a world of immediacy. This expressive function of consciousness is formed in the mythic symbol. The knower is not separate from the object but is bound up in its immediate reality. The world is an alter ego, and there is no genuine distance from the 44 SMC, 64-91. 45 See D. P. Verene (1985), 105-111. 46
E. Cassirer (1981), chap. 6.
47 EM, 228.
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immediate reality of the object. lt is a world of benign and malignant forces, of the sacred and the profane, of the demonie and the divine. At this Ievel no ethical consciousness is conceivable because nothing is ideal, all is real and true in the way that any perception is by its nature true, just because it is what is >therehere< and >now>the first science to be learned should be mythology.«53 Thus when Cassirer, as philosophical watchman, applies his intelligence to the modern political state, he has at his disposal his complete philosophy of mythical thought of the second volume of The Philosophy of Symbolic Forms . This allows him, unlike other thinkers, to understand two things, neither of which
53 G. Vico (1988), 51.
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has been adequately appreciated by those in political science and political philosophy: he can understand why Hitler persecuted the Jews, and he can understand thesensein which the Third Reich is the first formulation of the forces that shape contemporary political and sociallife- although as forces in the hands of the Third Reich they appear in their most malignant form.
judaism: The Ethical and the Mythical Injudaism and the Modern Political Myths (1944), Cassirer asks why it is that Hitler, in his address marking the eleventh anniversary of the National-Socialist regime (when, as Cassirer says, >>no Jew could any longer speak or even breathe or live in Germany«), he directs his remarks not to the victory of Germany but to the menace of the Jews. Cassirer writes: >>Does he think of the defeat of his armies, of the destruction of German cities? Nothingof the kind. His whole attention is still fixed on one point. He is obsessed and hypnotized by one thing alone. He speaks of- the Jews. If I am defeated- he says- Jewry could celebrate a second triumphant Purim festival. What worries him is not the future destiny of Germany, but the >triumph< of the Jews.Üur science, our poetry, our art, and our religion are only the upper layer of a much older stratum that reaches down to great depth. We must always be prepared for violent concussions that may shake our cultural world and our social order to its very foundations.«S6 For Cassirer, political philosophy is ultimately normative, not descriptive. lt is normative in two senses: political philosophy, being grounded in a total philosophy of culture, holds up to actual political life the ideal of a harmony of all symbolic forms, a sense of proportion among all the activities of Geist that political organization makes possible. And it is normative in the sense of sounding the alarm when this sense of justice in spiritual order begins to collapse into its origins in myth. Cassirer says: >>As long as these forces, intellectual, ethical, and artistic, are in full strength, myth is tamed and subdued. But once they begin to 56
MS, 297.
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lose their strength chaos is come again. Mythical thought then starts to rise anew and to pervade the whole of man's cultural and sociallife.«57 If Cassirer's approach is correct, the greatest threat to modern politicallife is the collapse of sociallife into a primitive life-world. If Cassirer is correct, then no political philosophy that does not ground itself in a philosophy of culture, and especially in a philosophy of mythical thought, can do its duty of informing us when things go wrong, and telling us how they do so. In conclusion, I have attempted to present a picture of Cassirer's political philosophy and the sense in which it is a genuine part of his thought. In so doing I have not attempted to criticize it. This is not to say that it is without problems, but these are beyond my current aim. This is also not to claim that Cassirer's political philosophy has given a view on all the various problems that traditionally form part of political philosophy. Cassirer's approach is in a sense very untraditional, because he largely focuses on the modern condition and on the role philosophy can play in relation to it. He focuses only indirectly on what an ideal state should be: one governed by a harmony among the symbolic forms. In this Cassirer's view is very like that of Plato's in the Republic, put into cultural terms: the aim of our politicallife must be justice, in the sense of an order of the soul that is also an order of the state, and it is myth when not properly directed that contains the abiding threat to the just state.
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Massimo Ferrari (Mailand) Zur politischen Philosophie im Frühwerk Ernst Cassirers'
In ihrem Erinnerungsbuch erzählt Toni Cassirer, daß der Ausbruch des ersten Weltkrieges den Philosophen Ernst Cassirer »zum erstenmal unvermittelt in eine vollkommen veränderte Welt« versetzt habe.2 Wie es sich auch aus der von Dimitri Gawronsky verfaßten kurzen Biographie Cassirers ergibt\ bildet tatsächlich der Krieg ein epochemachendes Ereignis im Leben des Verfassers der monumentalen Werke über Leibniz, über das Erkenntnisproblem, über den Funktionsbegriff in der modernen Naturwissenschaft- ein Ereignis, das zur Folge hatte, daß Cassirer sein 1916 publiziertes Buch Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte auch als eine Antwort auf die plötzliche Zerstörung -um Stefan Zweig zu zitieren- der Welt von Gestern verstand.4 »Trotz seiner Überlastung im Dienste>abstraktes philosophisches Thema« bilde, sondern wesentlich darauf hinziele, >>mitten in den schwersten Kämpfen um das politisch-materielle Dasein des deutschen Volkes die Frage nach seiner geistigen Der Text wurde von Thomas Meyer für die Veröffentlichung überarbeitet. Cassirer (1981), 116: >>Unter Künstlern und Wissenschaftslern aufgewachsen, hatten wir bis dahin nur diejenigen Grenzen anerkannt, die unsere Überzeugungen verlangten. Plötzlich, von heute auf morgen, schienen sich neue Blickpunkte gebildet zu haben. Alles Französische z.B. war verdächtig; folglich wurde auch die französische Kunst, die man bisher angebetet hatte, >unerwünschtÜber jede spezifischnationale Bedingtheit und Schranke>Ideen von 1914>Aufruf an die Kulturwelt>ohne den deutschen Militarismus [... ] längst vom Erdboden getilgt (wäre).Nicht weil der Begriff der Freiheit, E. Cassirer (1916), XI. Ebd., XVI. 8 Eine umfangsreichere Interpretation der von Cassirer in Freiheit und Form vertretenen Thesen findet sich in meinem Buch F. Ferrari (1996), 45-84. Generell zu Cassirers Studien über die deutsche Geistesgeschichte siehe K. Reichardt (1949), 661-688; D. R. Lipton (1978), 35-69; G. Gigliotti (1980), 88-109; ders. ebd.: 99-113; L. Lugarini (1983), 97-101; H. Paetzoldt (1995), 31-35. Von Interesse sind auch die folgende Besprechungen von Freiheit und Form: H. Bahr (1917), 1483-1499; E. Troeltsch (1925), 696-698 (wo die ursprünglich in: Theologische Literatur-Zeitung 18/19 [1917], Sp. 368-371 erschienene Rezension abgedruckt ist). Siehe auch E. Troeltsch (1925), 232. 9 Siehe dazu K. Böhme (1975), 47-49. Siehe außerdem L. Canfora (1979), 5-75, wo die Ideen von 1914 ausführlich dargestellt und kritisch erörtert werden. Zu diesem Thema siehe H. Lübbe (1974), 171-235. 6
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weil der Gedanke der >Autonomie< ein spezifisch deutscher Begriff ist, erkennen wir in der Kantischen Ethik einen philosophischen Höhepunkt der deutschen Geistesbildung; - sondern weil er eine schlechthin allgemeingültige, alle nationalen Schranken übergreifende Idee darstellt, lieben und verehren wir das Volk, das in seinen größten nationalen Geistern diesen Gehalt zu fortschreitender Klarheit und zur bewußten Aussprache gebracht hat.« Ia >>Über alle nationalen Schranken«: Dies ist aber auch die Thematik und gleichsam die Devise, die in die geistesgeschichtlichen Studien zu Freiheit und Form einführt. Dort wird das Zeitalter der Renaissance als der entscheidende Wendepunkt hervorgehoben, der >>den europäischen Völkern eine neue, über alle nationalen Schranken hinausgreifende Einheit geschaffen« und ein neues >Bildungsideal< überhaupt genährt habe.! I Cassirer will damit ein kosmopolitisches Bild der modernen europäischen Kultur vorlegen, das im wesentlichen von den politischen Idealen der italienischen Renaissance, die schon Dante und Petrarca vorweggenommen hatten, sowie von Michel de Montaigne und seiner Entdeckung einer neuen >Lebensform< bzw. eines neuen Persönlichkeitsbegriffs und der französischen Renaissance, schließlich aber auch von der religiösen Bewegung der Lutheranischen Reform in Deutschland geprägt ist.12 Es handelt sich somit um eine Verflechtung vom Weltbürgertum und nationalem Charakter der jeweiligen europäischen Kulturen, die einen lehrreichen Vergleich mit der Hauptthese des berühmten, auch in Freiheit und Form zitierten Buches von Friedrich Meinecke ermöglichen könnte.13 Dieser Kosmopolitismus der Geistesgeschichte bildet auf jedem Fall ein Thema, das Cassirer auch später immer wieder in den Vordergrund rückt. Die Renaissance als Wurzel des europäischen modernen Geistes, als Brennpunkt der Einheit der neuzeitlichen Natur- und Geisteswissenschaften steht paradigmatisch im Zentrum von Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, in dem Cassirer besonders Cusanus als Vermittler zwischen Italien und Deutschland in Betracht zieht.14 Aber E. Cassirer (1991), 81. Siehe dazu auch die gut dokumentierte Einleitung ebendavon U. Sieg, (1991), 59-71. Zum »Fall Bauchslnternationes< erschienenen Aufsatzes Cassirers könnte als stillschweigender Untertitel der Studien zu Freiheit und Form gelten. 16 Dies ist auch so zu verstehen, daß Cassirer während des ersten Weltkrieges sowie später am Ende der Weimarer Republik eine kulturgeschichtliche und kulturphilosophische These vertrat, die eine mittelbare politische Deutung zur Folge hatte. Die politische Tragweite der in Freiheit und Form vorgelegten Interpretation der deutschen Geistesgeschichte läßt sich auch dadurch belegen, daß die Stellungnahme Cassirers eine bewußte Abgrenzung von seinen früheren Lehrern Hermann Cohen und Paul Natorp miteinbezieht. Seit dem fatalen August 1914 hatten sich die beiden Begründer der Marburger Schule für das Deutschtum heftig engagiert. Cohen war bemüht, >>das Eigentümliche des deutschen Geistes« mit dem jüdischen Messianismus in Einklang zu bringen und war davon überzeugt, daß die Zukunft des Geistes und der Humanitätsidee im Sinne des klassischen Zeitalters von dem militärischen Sieg Deutschlands abhingeY Natorp hatte seinerseits in seinem zweibändigen Werk über den Deutschen Weltberuf versucht, die Richtlinien einer Geschichtsphilosophie zu entwickeln, die mit dem Geist des Kamischen Kritizismus recht wenig zu tun hatte, aber mit Spenglers Kulturprognose verglichen werden könnte.18 Natorps Hauptanliegen war tatsächlich, die Bestimmung der deutschen Seele - nicht zufällig spielt hierin Meister Eckhart eine maßgebende Rolle - sowie das >faustische< Wesen des deutschen Volkes emphatisch zu rühmen, denn nur der deutschen >KulturZivilisation< Frankreichs und Großbritanniens, sei es gestattet, die letzte Einheit des Geistigen zu erreichen und zu begründen.19 Siehe E. Cassirer (1932), 12, 141. 16 Siehe E. Cassirer (1993), 218-232. 17 Siehe H. Cohen (1928), 568. Siehe auch den Vortrag ders.: (1924), 237-301 (bes. 257-264 ). 18 Siehe P. Natorp (1918), 21, 26. 19 Siehe P. Natorp (1918a), bes. 22-27, 46 sowie 59-83 zu Eckhart und die »deutsche Seele«. Zu Natorps Kriegsphilosophie siehe H. Lübbe (1974), 186 ff. und vor allem U. Sieg (1994), 424-437. Die ausführlichste Darstellung findet sich aber bei N. Jegelka (1992), 111-142, der freilich aufgrund eines umfangreiches, zum Teil unveröffentlichten Materials im Gegensatz zu Lübbe und Sieg eine Art 15
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Ganz anders aber Cassirer.20 Betont Cassirer zwar die Eigenart der deutschen Geistesgeschichte, die ihren Höhepunkt mit den zwei >Grundpotenzen< von Kant und Goethe erreicht, so weist er allerdings immer wieder darauf hin, daß ein deutsches >Wesen< als metaphysische Seele oder als vorhandene Größe überhaupt nicht existiere bzw. nicht existieren könne, denn es gehe lediglich darum, das Deutschtum als unendliche Aufgabe zu bestimmen. 21 Es handelt sich dementsprechend nach der Auslegung Cassirers ausschließlich um geistige Energien, die für die Gegenwart und in der Gegenwart zwar als unentbehrlich zu betrachten seien, ohne aber dabei die Kriegsideologie oder die Rhetorik des Deutschtums als Schicksal des Abendlandes teilen zu wollen. Und diese kulturkritische, quasi >politische< Interpretation der deutschen Geistesgeschichte wird am besten im letzten, der Freiheitsidee und der Staatsidee gewidmeten, Kapitel von Freiheit und Form entwickelt. Im Gegensatz zu der Meinung, Cassirer habe die Richtlinien seiner politischen Philosophie erst am Ende der Weimarer Republik bzw. hauptsächlich im Lauf des späten, amerikanischen Exils entworfen, läßt sich indessen sagen, daß Cassirer sich mit den Problemen des Staates und des Rechtsstaates, der politischen Freiheit, der Verhältnisse zwischen Politik und Ethik bereits in den Jahren des ersten Weltkrieges ausführlich- wenn auch im Sinne einer bloßen Ideengeschichte - beschäftigt habe. Und diese frühe Behandlung bewegt sich in eine Richtung, die später zwar erweitert und systematisch vertieft wird, die aber keine wesentliche Abweichung von dem ursprünglichen Ansatz erfährt. Die erste Phase der Cassirerschen Reflexion über politische Philosophie und politische Theorien kann im übrigen auch als Zeugnis davon gelten, daß Cassirer in der Kriegszeit immerhin dem systematischen Ansatz bzw. der Ideenwelt der Marburger Schule verpflichtet war, obwohl er der Kriegsphilosophie Cohens und Natorps nicht zustimmen konnte. Es wäre natürlich einseitig und unrichtig, Cassirer als Vertreter und Fortsetzer des ethischen Sozialismus der Marburger Schule vorstellen zu wollen; nichtsdestoweniger wäre es ebenso schwierig an Cassirer als Anwalt der Ideale der Humanität, der Gerechtigkeit, der politischen Freiheit und später der republikanischen Verfassung zu denken, ohne dabei die Betonung des Kantischen Reiches der Zwecke als Telos der Rehabilitierung der Natorpschen Kriegsphilosophie bietet, die uns recht fraglich scheint. Zu diesem Thema ist auch den Vergleich zwischen Natorp und Scheler zu erwähnen, der neuerdings analysiert worden ist: K.-H. Lernheck (1997), 220237. 20 Zur Distanzierung Cassires von der Kriegsphilosophie beider Marburger Philosophen siehe M. Pascher (1997), 135-150. 21 E. Cassirer (1916), 304.
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Geschichte und des gesellschaftlichen Lebens vor Augen zu haben, die im Brennpunkt der politischen Philosophie bzw. der Geschichtsphilosophie des Marburger Neukantianismus steht.22 Nicht von ungefähr hatte Cassirer bereits in seinem frühen Buch über Leibniz darauf aufmerksam gemacht, daß die civitas Dei Leibniz' eben im Sinne einer unendlichen, ethischen Aufgabe, d.h. im Sinne des ethischen Inhalts des Rechts auszuwerten wäre.23 Noch unzweideutiger taucht aber dieses Motiv im Vorwort des zweiten, 1906 veröffentlichten Bandes der Cassirerschen Leibniz-Ausgabe auf, wo der Glaube an Gott bei Leibniz als »nichts anderes, als der Glaube an die Möglichkeit der fortschreitenden Verwirklichung des Sittlichen in der Natur und Menschengeschichte« definiert wird. Und Cassirer fügte hinzu: »Indem wir an dem sozialen Fortschritt der Menschheit arbeiten, begründen wir damit erst die echte >societas divinaVernunftwesenLinie< der menschlichen, individuellen Rechte ist schließ22 Zur Politischen Philosophie der Marburger Schule vgl. vor allem die ausgezeichnete, leider wenig bekannte Studie von T.R. Keck (1975), bes. 139-208. Siehe ferner: H. J. Sandkühler -R. de Ia Vega (1970); H. van der Linden (1988), 197-240; H. Holzhey (1994). Eine zusammenfassende Darstellung bieten M. Pascher (1997), 106-134 und mein Buch: M. Ferrari (1997), 140-151. Siehe auch beide Beiträge von H. Holzhey (1994), 136-155 und H. Holzhey (1995), 85-104, bes. 100 zur Bestimmung von Distanzen und Nähe zwischen Cassirer und Cohen. 23 Siehe E. Cassirer (1961), 440-441,457-458. 24 E. Cassirer (1966), 120, 122. Vom »Sozialismus bei Leibniz>daß die Idee der republikanischen Verfassung als solche im Ganzen der deutschen Geistesgeschichte keineswegs ein Fremdling, geschweige ein äußerer Eindringling ist, daß sie vielmehr auf deren eigenem Boden erwachsen und durch ihre ureigensten Kräfte, durch die Kräfte der idealistischen Philosophie, genährt worden ist.auch in der Weite, in der Fülle und Universalität seiner politischen Gedanken nicht seines Gleichen hat.In diesem Sinnebezeichnet der Vertragsgedanke nicht die geschichtliche Vergangenheit, aus der der Staat sich herschreibt und von der er seine Legitimation entnimmt, sondern die 27 E. Cassirer (1916), 312 ff. Zur Konzeption des Naturrechts als »Kritischer Maßstabnicht staatlichen Staatsauffassung>sittlichen Tat>Standpunkt des Ideals>Bestimmung einer intelligiblen Aufgabe>himmelweiten Unterschied zwischen Hegel und Kant« betont, und zwar in dem Sinne, daß der Unterschied von Sein und Sollen dem Unterschied zwischen >>pantheisticher Metaphysik« und >>theoretischem Idealismus entspricht.4D Dementsprechend hebt Cohen in seiner Ethik des reinen Willens hervor, daß der berühmte Spruch Hegels im Kamischen Sinne radikal umgedeutet werden müßte: >>Kant würde nicht sagen: was vernünftig ist, das ist nicht wirklich; sondern: es soll wirklich sein.«4t Seinerseits betont Cassirer in Freiheit und Form, indem er der politischen Philosophie Hegels eine Stellungnahme entgegenhält, die auch später nicht verändert, sondern sogar deutlicher erscheinen wird: daß die Idee des Staates bei Hegel die unendliche Aufgabe des Sollens aufgebe. >>Wenn für ihn die Vernunft kein bloßes Ideal eines Sollens, sondern die >unendliche Macht< bedeutet, die sich in der Welt des Geschehens offenbart und in ihr nichts anderes als sich selbst offenbart- so wird in dieser Bestimmung, so erhaben sie scheint, doch die schlichte Einsicht verdunkelt, daß das Medium, durch das die Verwirklichung sich vollzieht, lediglich in der sittlichen Arbeit liegt, die die Individuen zu vollziehen haben. Die Kraft, die dieser Arbeit innewohnt, aber wird abgestumpft, wenn ihr ein >absolutes< Ergebnis vorgehalten wird, das der >Weltgeist< als solcher in der Geschichte heraufführt.« 42 Mit dieser unzweideutigen Ablehnung der Hegeischen Staatstheorie sowie mit dem Hinweis auf die Aufgabe der Freiheit, die darin bestehe, ganz anders als bei Hegel und eher im Sinne Fichtes, die Wirklichkeit herauszufordern und die existierende staatliche Form zu kritisieren, hat Cassirer eine Ansicht zum Ausdruck gebracht, die auch für seine spätere politische Philosophie maßgebend bleiben sollte. Obwohl Cassirer 1916 38 Siehe E. Cassirer (1916), 337 ff., 357 ff. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Cassirer sogar von »Fichtes Sozialismus« spricht (344) und zugleich auf Fichtes Konzeption des Staates als »Staat der Zukunft>Staat der Freiheit« hinweist (347). 39 H. Cohen (1981), 83. 40 Siehe ebd., 331. 41 Ebd., 331. 42 Ebd., 366.
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Hegel nicht auf das verbreitete Bild des preußischen Philosophen reduzieren will, scheint es unleugbar, daß seine scharfe Polemik gegen die Hegeische Rechtsphilosophie bereits die bitteren Seiten vorwegnimmt, die man in The Myth of the State lesen kann. Dort heißt es nämlich, daß der Immoralismus von Nietzsche keine Neuheit bilde, denn ein solcher Immoralismus sei schon durch das Hegeische System vorweggenommen. Auch in The Myth of the State betont zwar Cassirer, Hegel dürfe nicht bloß als ein reaktionärer Denker vorgestellt werden; doch ist Cassirer davon überzeugt, daß das tragische Schicksal Hegels durch die historische Tatsache nachgewiesen werden könne, er habe die irrationalen Kräfte des politischen Lebens irgendwie legitimiert. »No other philosophical system has clone so much for the preparation of fascism and imperialism as Hegel's doctrine of the State - this >divine Idea as it exists on the earth>Ethik des Sollens gegen ethischen Staat>einer der großartigsten Versuche systematisch-konstruktiver Weltbetrachtung, der je vom menschlichen Geiste gewagt wurde: die Forderung, >das Ganze im kleinsten zu erblickenGrund- und Urform des Denkens«- wird.49 Wie das spätere Buch über Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance zeigt, gilt eine solche Befreiung aber für Cassirer nicht nur in einem erkenntniskritischen, sondern auch und gewissermaßen vor allem in einem ethischen Sinne: Das astrologische Fatum wird schließlich wirklich aufgehoben, erst wenn der Mensch seine dignitas bzw. seine Würdigkeit geltend machen kann- wie das bei Pico della Mirandola der Fall ist, einem der großen Helden der Cassirerschen Genealogie der Moderne aus dem Zeitalter der Renaissance. so Man kann freilich diese eng miteinander verbundenen Themen der Astrologie, der Selbstbefreiung des Menschen, der Ablehnung einer fatalistischen Konzeption seiner Bestimmung usw. als paradigmatische Zeugnisse der Mitarbeit Cassirers an der Bibliothek Warburg sowie seiner Verwandtschaft mit dem aufklärerischen Kampf Aby Warburgs um den>> Denkraum der Besonnenheit> Begriffsform im mythischen Denken> When I first read Spengler's Untergang des Abendlandes I happenend to be engrossed in studies of the philosophy of the ltalian Renaissance. What struck me most at this time was the close analogy between Spengler's book and some astrological treatises that I had quite recently read. Of course Spengler made no attempt to read the future of civilizations in the stars. But his prognostics are of exactly the same type as the Astrological prognostics [... ] Spengler's book was, as a matter of fact, an astrology of history - the work of a diviner who unfolded his somber apocalyptic visions.Morphologie der GeschichteLogos< gelten könne.55 Zum anderen hebt Cassirer hervor, der Symbolbegriff bei Spengler bilde zwar den >>eigentlichen methodischen Brennpunkt« seiner Philosophie, doch sei diese Symbolfunktion nur im Sinne einer einzigen Funktion aufgefaßt, d.h. - der Terminologie Cassirers zufolge - im Sinne der Ausdrucksfunktion, so daß die höheren Funktionen (nämlich die Darstellungs- und Bedeutungsfunktion) auf die bloße Ausdrucksfunktion herabgesetzt werden.56 Diese Kritik an Spengler läßt sich also als Distanzierung von einem Kultur- und Geschichtsbegriff verstehen, der das ganze Gebiet des menschlichgeschichtlichen Gestaltungsprozesses auf den Bereich des Mythos bzw. der vorrangigen Rolle der Ausdrucksfunktion reduziert. Dies bedeutet aber zugleich, daß der an die Astrologie erinnerende Fatalismus der Spenglersehen Auffassung der Kulturseelen als eine Art politischer Mythos gedeutet werden muß- oder anders formuliert: Die Geschichte unter dem Gesichtspunkt des Mythos bzw. der astrologischen Denkweise zu betrachten, heißt nichts anderes als die Herabsetzung der verschiedenen symbolischen Formen der Kultur auf das Niveau einer einzigen symbolischen Form. Aber Cassirer war 1928 auch auf eine andere, doch verwandte Nivellierung der menschlichen Tätigkeit gestoßen: Denn war nicht etwa die von Martin Heidegger entwickelte Daseinsanalyse eben dadurch charakterisiert, die Welt des geistigen Begreifens auf die Welt des pragmatischen Greifens reduzieren zu wollen? Und genau in diesem Zusammenhang scheint nicht Heidegger auch eine auffallende >Aphasie< zu manifestieren, indem er die Raum- und Zeitangabe mehr in dem Sinne eines pathologischen Bewußtseins als in dem Sinne eines die symbolischen Funktionen beherrschenden Bewußtseins konzipierte?5 7 Es ist notwendig, diesen Hintergrund vor Augen zu haben, wenn man eigentlich verstehen will, inwieweit Cassirer sich im Lauf der berühmten Davoser Debatte mit Heidegger von seinem Gesprächspartner nicht nur philosophisch, sondern auch politisch distanzieren wollte.58 Denn 55 Ebd., 105 f. 56 Ebd., 104 f. 57 Siehe E. Cassirer (1985 ), 113. Zur ironischen Anspielung Cassirers auf Heidegger siehe auch K. Gründer (1988), 297. 58 Zu recht ist diese Konfrontation definiert worden als »Konfrontation zwischen zwei Kulturparadigmen, und zwar zwischen einem fundamentalistichen Dezisionismus auf der einen Seite und einem humanistischen Liberalismus auf
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Heidegger hatte gegenüber dem jüdischen Vertreter der neukantianischen Kulturphilosophie, gegenüber eines im Sinne des ethischen Sozialismus verpflichteten Schülers der Marburger Schule eine ganz einfache These behauptet: »Die Philosophie hat die Aufgabe, aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt, gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen in die Härte seines Schicksals.«s9 Die »Härte des Schicksals«. Solche Worte hatten schon damals, im Frühling 1929, eine befremdliche Bedeutung. Zu dieser Zeit aber konnte Cassirer noch nicht wissen, daß Heidegger dieses Fatum zum Dienste der nationalsozialistischen >Revolution< von 1933 und der Selbstbehauptung der deutschen Universität stellen sollte, und zwar zum Dienst des >>geistigen Auftrags, der das Schicksal des deutschen Volkes in das Gepräge seiner Geschichte zwingt.60 Cassirer wußte freilich sehr gut, daß diese Äußerung Heideggers nicht bloß aus dem Reich der reinen Ideen entsprungen war. Heidegger- so hat Cassirer später, im amerikanischen Exil bemerkt- gehörte vielmehr in das seihe geistigen Milieu, das auch die Spenglersehe Auffassung des Unterganges des Abendlandes genährt hatte: Obwohl ein solches Milieu nicht unmittelbar als Vorwegnahme des Nationalsozialismus zu deuten sei, bleibe es unzweifelhaft, daß eine Philosophie, die sich auf die >Geworfenheit< bzw. auf den unvermeidlichen Verfall der menschlichen Kultur konzentriert, nicht mehr imstande ist, dem Menschen eine ethische Perspektive zu öffnen und eine authentische Entwicklung seiner geistigen Gestaltungsenergien zu gewähren. 61 Was aber Cassirer 1944 diesbezüglich schrieb, war tatsächlich nur die zurückschauende Betrachtung eines Philosophen, der bereits zur Zeit der letzten Phase der Weimarer Republik einen energischen Kampf gegen die Ablösung der Philosophie von jeder ethischen Orientierung sowie von jeder politisch-kulturellen Medialität unternommen hatte. Was wir, wenn auch mit gewissem Vorbehalt, die frühe politische Philosophie Cassirers oder, vielleicht noch besser, die Latenz der politischen Stellungnahme innerhalb seiner Kulturphilosophie nennen wollen, ist auch die Verwirklichung der Leitideen, die 1916 in Freiheit und Form zum erstenmal forder anderen.>ewig Neue« für Cassirer auch die Bedeutung eines stetigen Blicks in die Zukunft, denn die Gegenwart -wie Cassirer in der Rede über die republikanische Verfassung im Einklang mit seinem Leibniz betont - sei immer praegnans futuri. 64 In der Sicht Cassirers war all dies auch so zu verstehen, daß der Mensch sich von jener Auffassung der menschlichen Gemeinschaft befreien muß, die nicht als Willensgemeinschaft- wie es im Technik-Aufsatz heißt- sondern als Schicksalsgemeinschaft (miß)verstanden wird.65 Die deutsche Geschichte nach 1933 hat hinreichend bewiesen, welche Bedeutung eine Schicksalsgemeinschaft haben kann. Ob dann Cassirer vor 1933 so weit gesehen habe, ob seine frühe politische und kulturkritische Philosophie die Gefahren, die im >>Schatten von Morgen« verborgen waren, richtig bewertet habe- dies ist eine Frage, die die Cassirer-Forschung und unsere Diskussion noch beantworten müssen. Aber die deutsche Geschichte vor und nach 1933 sowie, wenn auch indirekterweise, die schwache Rezeption Cassirers in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg66 können die Vermutung nahelegen, daß die hermeutischen Mittel seiner Kulturphilosophie noch zweckmäßig sind, um die großen Katastrophen unseres Jahrhunderts besser zu verstehen.
62 Siehe rer (1932), 63 Siehe 64 Siehe 65 Siehe 66 Siehe
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Reinhard Mehring (Berlin) Pathos der »Zusammenschau«: Annäherungen an Cassirers Philosophiebegriff
Seit einigenJahrenwird Cassirer verstärkt nicht nur als Philosophie- und Wissenschaftshistoriker konsultiert, sondern auch als Philosoph diskutiert. Schon weil die entstehende Ausgabe seines Nachlasses eine neue Quellenbasis bereitet, sind philologisch einlässige ausgreifende Interpretationsversuche wie der folgende aber weiterhin einigermaßen riskant und vorläufig. Mein Anspruch ist es daher nur, eine Annäherung an Cassirers Philosophiebegriff in drei Schritten vorzunehmen und einige pointierte Thesen zu formulieren. Der Zusammenhang der einzelnen Abschnitte ist nur lose. Der erste Abschnitt bietet eine universitätsgeschichtliche Annäherung an die akademische Ausgangssituation des jungen Cassirer. Der zweite skizziert die Entwicklung von Cassirers politikphilosophischem Ansatz im Hinblick auf die Diskussion seines Philosophiebegriffs; er ist keine detaillierte Entwicklungsgeschichte von Cassirers politischem Denken und deutet auch nur die Richtung einer systematischen Diskussion von Cassirers staatsphilosophischer Dependenzthese und kulturphilosophischer Homogenitätsvoraussetzung an. Beide Abschnitte dienen der Vorbereitung des dritten Abschnittes zur Diskussion von Cassirers Philosophiebegriff. Auch hier bietet der Text nur Thesen; er betont den Zusammenhang zwischen Cassirers beiden großen Projektwerken einer Geschichte des Erkenntnisproblems und einer Philosophie der symbolischen Formen. Cassirers leitende Absicht ist die philosophische Rekonstruktion von Lebens- und Weltvertrauen. Angesichts geschichtlich offener, dynamischer Symbolisierungsprozesse erfordert diese Aufgabe über die Grundlegung hinaus auch die Überschau und Zusammenschau der Geschichte der Erkenntnis.
I. Cassirer in Berlin
Cassirer begann 1892 sein Studium in Berlin. In Simmels Kolleg stieß er auf das Werk Hermann Cohens. 1896 wechselte er zu Cohen nach Marburg und wurde dort 1899 mit einer Arbeit über Descartes' Erkenntnistheorie promoviert, die in seine erste Monographie über Leibniz' System einging. Erste Habilitationsvorhaben scheiterten in Berlin, Straßburg, Göttingen und Marburg. Die Hintergründe sind im einzelnen
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Mehring ·Pathos der >>Zusammenschauschwere [... ] Bedenken gegen die Methode des Verfassers.«3 Dennoch befürworteten Riehl und Dilthey die Habilitation. 1906 ist Cassirer habilitiert. 1909 wurde Benno Erdmann Nachfolger Paulsens. 1914 oktroyierte das Ministerium Ernst Troeltsch als Ordinarius für Religionsphilosophie, so daß die Philosophie trotz kriegsbedingt bald stark eingeschränktem Lehrbetrieb zeitweise mit vier Ordinarien besetzt war. Dennoch stieß Erdmann 1917 bei der Fakultät vor, daß >>Cassirer längst ein Ordinariat verdient habe. Nur seine Herkunft und philosoph. Parteistellung« sei ihm hinderlich 4 • Die Fakultät beantragte daraufhin- und darauf wollte Erdmann vermutlich hinaus- am 16.12.1917 ein >>Extraordinariat mit entsprechendem Gehalt.«S Zu einer Entscheidung des Ministeriums kam es wegen Cassirers 1919 erfolgter Berufung nach Harnburg nicht mehr. In den zwanziger Jahren wurden sämtliche Lehrstühle neu besetzt. Dabei war Cassirer, insbesondere durch die ständige Fürsprache Max Dessoirs, mehrfach im Gespräch. So stand er 1921 hinter Heinrich Maier und neben Erich Becher an zweiter Stelle für die Nachfolge Benno Erdmanns. Doch damals bestanden noch Riehls alte Bedenken gegenüber Cassirers >>Mangel an geschieht!. Sinn« fort.6 Maier wurde berufen und nahm an. Später war Cassirer für die Nachfolge Troeltschs im Gespräch. Erst 1930 kam es jedoch zu einer Fakultätsliste, als von seiten des Ministeriums eine Oktroyierung des unerwünschten Heidegger drohte. Am l.März 1930 schrieb die Fakultät dem Ministerium, >>dass von den Männern, die als Kandidaten für die zu besetzende Stelle genannt werden können, nur einer ernsthaft in Betracht kommt. Das ist Ernst Cassirer [.. .]. Von der neukantianischen Befangenheit, die den Wert seiner früheren geschichtlichen Arbeiten beeinträchtigt hatte, hat er sich mit den Jahren immer mehr freigemacht[ .. .]. Hinter Cassirer steht Hartmann [... ] weit zurück. [... ] Vorzuschlagen also vermögen wir allein: Ernst Cassirer.« 7 Als Kompromißkandidat zwischen Ministerium und Fakultät wurde damals Nicolai Hartmann berufen. Widerstände gegen eine Berufung Cassirers gingen also eher vom Ministerium aus. Dabei mögen konfessionelle Motive eine Rolle gespielt haben. Von Schleiermacher und Hegel bis Dilthey, Troeltsch und Spranger war die Berliner Philosophie protestantisch geprägt. Nicht Simmel oder Cassirer, sondern Ernst Troeltsch und Eduard Spranger kamen als Kandidaten von seiten des Ministeriums für die Nachfolge Diltheys in Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Phi!. Fak. 1228, BI. 91. Ebd., Phi!. Fak. 1439, BI. 193. s Ebd., Phi!. Fak. 1439, BI. 189-192. 6 Ebd., Phi!. Fak. 1468, BI. 219. 7 Ebd., Phi!. Fak. 1474, BI. 371-374. 3
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Betracht. 1914 wurde Troeltsch berufen, 1920 folgte Spranger. Troeltsch8 formulierte - 1917 in einer Rezension von Freiheit und Form - direkt seine protestantischen Einwände gegen Cassirers Philosophie.
/1. Von Kant zu Platon? Thesen zur Entwicklung und zum Ansatz von Cassirers politischer Philosophie
Schon in die Berliner Zeit fallen die ersten theoretischen Entscheidungen für die Ausarbeitung einer Philosophie der symbolischen Formen. Später betont Cassirer die Kontinuität seines Werkes, indem er die Entdeckung der Relationsbegriffe in Substanzbegriff und Funktionsbegriff als erstes Ergebnis seiner Philosophie bezeichnet. 9 Cassirers frühe politische Schriften können hier nur thesenhaft knapp behandelt werden, um die Eigenart des »Mythus des Staates" herauszustellen. Diese Schrift ist als Ideologiekritik der Geschichte der Irrationalisierung der Staatstheorie nicht hinreichend erschlossen.to Diese Problemgeschichte der Selbstbehauptung okzidentaler Rationalität fordert implizit, die Staatstheorie wieder an eine umfassende Metaphysik der >Gerechtigkeit< anzuschliessen, wie Platon sie entwickelte. Cassirer fordert jedoch keine Rückkehr zu einem dogmatischen Platonismus, sondern zu Platons Idee der PhiloE. Troeltsch (1925), 696-698. Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen Bd.I, V; Bd. III, V, 554 (im folgenden unter der Sigle PSF). Weitere Siglen: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit = EPW; Freiheit und Form = FF; Kants Leben und Lehre = KLL; Goethe und die geschichtliche Welt= GGW; Die Philosophie der Aufklärung= PA; Logos, Dike, Kosmos in der Entwicklung der griechischen Philosophie= LDK; Versuch über den Mensch= VM; Der Mythus des Staates= MSD; Geist und Leben. Schriften= GL. 10 Pointierte, doch verkürzte Deutung bei H. Lübbe (1989), 275-285. Lübbe liest Cassirers Studie von ihrem Ende her als Kritik des »Totalitarismus in seiner nationalsozialistischen Aktualität.« (279) Dabei fragt er nach dem positiven Sinn von Cassirers geistesgeschichtlichem Vorgehen und betont die Differenzierungen in der Genealogie. Lübbes Fazit lautet: »Das Organisationsprinzip der ausgedehnten Darstellungen zur Genealogie des Mythos des 20. Jahrhunderts in Cassirers politischer Philosophie ist das der Hervorhebung dessen, was geeignet ist, den Versuch zu erschweren, aus dieser Genealogie eine bündige Theorie zu machen[... ] Ich lese Cassirers Auseinandersetzung mit dem Faschismus und Nationalsozialismus als eine Warnung vor der Gefahr der Besetzung eines Feldes mit Theorien, die den Ansprüchen eines anspruchsvollen Theoriebegriffs nicht genügen.« (285) Lübbe liest Cassirers Darstellung also als Ideologiekritik weniger der politischen Mythen des 20. Jahrhunderts denn der Wissenschaftsmythen vom Nationalsozialismus. Eine jüngste Relektüre von J. M. Krois (1997) macht Cassirers Machiavelli-Kritik und deren Bedenken gegen eine staatsphilosophische Anknüpfung an die Renaissance im Zusammenhang der Philosophie der symbolischen Formen deutlich. 8 9
Mehring ·Pathos der >>Zusammenschau>Einheit des Seins« ist ihm in neuer Weise fragwürdig. (vgl. PSF I, 3 ff., 48 f.) Deshalb spricht Cassirer von einer >>Erweiterung des traditionellen geschichtlichen Lehrbegriffs des Idealismus.Zweiweltenlehre< ab und hält nur eine kritische Phänomenologie des Aufbaus der Erkenntnis methodisch für möglich. Das Kambuch beansprucht, von der >Lehrform< des Werkes her die >Lebensform< Kants (KLL 2) darzustellen. Von der Kritik der Urteilskraft ausgehend liest Cassirer die Entwicklung von Kants Werk als Ausdruck des >>subjektiven Ethos>Einstimmung>ästhetischen HumanismusLebensform< eines Individuums, sondern um die Darstellung einer >>geistigen Gesamtkultur>ästhetischen HumanismusFreiheitsidee< Kants aus. Für unser Thema ist wichtig: Cassirer kritisiert Luthers religiösen Freiheitsbegriff im Zusammenhang der >>mittelalterlichen WeltanschauungSpannung< von Freiheit und Form aus. Die in Kants Autonomieprinzip angelegte >>Einheit von >Freiheit< und >Formästhetischen Humanismuseigentlichen< Gedanken der Metamorphose. (FF 345 ff.)12 Für die Staatsidee des >>ästhetischen Humanismus>idealistischen Morphologie« in der theoretischen Biologie erörtert. Cassirer deutet dort >Grenzen< von Goethes Idee und Methode an (vgl. EPW IV, 145-157, 192 f., 206 ff., 210 f., 217 ff.). Ob damit parallel zur Ausarbeitung der Philosophie der symbolischen Formen eine Einschränkung der Orientierung an Goethe vorliegt, müßte eingehender untersucht werden.
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Zum Rekurs auf Fichte und der verschärften Kritik an Hegels Staatsphilosophie (bei gleichzeitiger systematischer Orientierung an Hegels Phänomenologie und seiner Philosophie des »subjektiven Geistes«) kommt in der Weimarer Republik der positive Rekurs auf das neuzeitlich-profane, philosophische Naturrecht (auch in völkerrechtlicher Perspektive: Grotius) hinzu. Cassirers ideengeschichtliche Herleitung der Idee der republikanischen Verfassung13 ist dabei zwar als Nationsdiskurs nicht unproblematisch, dient aber ideenpolitisch der Replik der Ideen von 1914 und der Betonung der fundamentalen Bedeutung der (damals verfassungsrechtlich umstrittenen) liberalen Grundrechte für den demokratischen Verfassungsstaat. Gegen Georg Jellineks These von der religiösen Herkunft betont Cassirer den genuin philosophischen Ursprung und Charakter der Grundrechte. Nach Ausarbeitung seiner Philosophie der symbolischen Formen rekurriert er nicht mehr basal auf Kants Autonomieprinzip, sondern erörtert das Freiheitsproblem mehr vom Formkonzept her und spricht von einem Prozeß der >BefreiungMenschheit< in einem >>symbolischen Universum« ist das utopische Telos (vgl. VM 91, 99 f.) dieses Prozesses. >>Im Ganzen dieser Tätigkeiten erst konstituiert sich die >Menschheit< ihrem ideellen Begriff und ihrem konkreten geschichtlichen Dasein nach.« (PSF II, 18, vgl. VM 105) Freiheit vollzieht sich nach Cassirer im Medium symbolischer Formen als Energie der Befreiung. Der Prozeß der Selbstbefreiung meint zunächst einen Prozeß der Differenzierung von Formen. Darüber hinaus meint er ein komplexes Verhältnis verschiedener symbolischer Formen zueinander: den Übergang und die >Aufhebung< im Sinne partieller Funktionsübernahmen im >Aufbau< der Erkenntnis. Cassirer zeigt dies beispielsweise im zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen an der >>Dialektik des mythischen Bewusstseins«, seiner Selbstaufhebung in höhere Formen von Religion, auf. Die Annahme einer dynamischen Entwicklung symbolischer Formen leitet aber noch den Versuch über den Menschen. Nach Cassirer ist es die >> kulturphilosophische Bestimmung des Menschen«, nicht nur die Möglichkeiten einzelner symbolischer Formen zu entwickeln, sondern diese insgesamt als Möglichkeitsraum der Selbstbefreiung durch immer komplexere Ausdrucksformen hindurch zu realisieren. Cassirer begreift die Aneignung und schöpferische Weiterent13 Die Idee der republikanischen Verfassung; Deutschland und Westeuropa im Spiegel der Geistesgeschichte, in: GL; Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geschichte; Vom Wesen und Wandel des Naturrechts; PA 313 ff.; zu Cassirers universitätspolitischer Wirksamkeit in Harnburg vgl. B. Vogel (1997).
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wiekJung der Kulturformen einer Epoche als einen dynamische Prozeß der Befreiung, weil er das >Urphänomen< des Ausdrucks im Lebensprozeß auch als ein Vermögen der Distanzierung und Objektivierung faßt. Im Bildungsprozeß14 distanzieren sich die Individuen von ihren vitalen, leibnahen Ausdrucksformen und integrieren diese in abstraktere Formen. Dies steigert nicht nur die Formen und Nuancen des Ausdrucks, sondern auch die Verfügungsmacht der Individuen über ihren Ausdruck. Mit der Differenzierung der Ausdrucksformen steigen die Möglichkeiten des individuellen Ausdrucks und persönlichen Stils, zugleich aber auch die Gefahren einer Regression auf Mythen. Der Versuch über den Menschen tönt das geschichtsphilosophische Fortschrittsmodell einer >Befreiungsgeschichte< der Menschheit deshalb skeptisch ein. Die Persistenz des Mythos schließt eine einseitig optimistische Sicht der >>Kultur als dem Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen>Variationen über ein gemeinsames ThemaMenschheit< ist, sagt er 1944 nicht eindeutig. Neben dem Begriff vom Mythos als regressiver Macht hält Cassirer jedoch eine positive Funktion des Mythos als Macht des Lebens- und Weltvertrauens (VM 129 ff.) fest. Der Mythos stiftet ein sympathetisches Denken und Lebensgefühl von der >Einheit< und >>Identität des LebensIdentität des Lebens« (MSD 53 ff.; vgl. VM 129 ff) die individuelle Erfahrung des Todes (MSD 63 f.). In der Anerkennung des individuellen Todes konstitutiert sich Religion gegen den Mythos.16 Weil es in der Politik um Leben und Tod geht, ist die Gefahr einer Rückkehr von Mythen dort besonders virulent.
14 Dazu vgl. Goethes Idee der Bildung und Erziehung; Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über Latte in Weimar, beides in: GL, 94-122 u. 123-165. 15 Die >>Tragödie der KulturIsolierung< der Staatslehre (namentlich von den moralischen Ressourcen) aus dem Gesamtzusammenhang einer Kultur und die Verengung auf eine rein technische Lehre von der Politik (Machiavelli); schließlich (MSD 330 ff.) die Entmächtigung der Individuen als politische Subjekte gegenüber imperialen »Agenten des Weltgeistes«. Weil Cassirer den Nationalsozialismus primär als Führermythos auffaßt, betont er die Rolle von Hegels Geschichtsphilosophie und deren -von Carlyle (MSD 246 ff.) umformulierte- Lehre von den »welthistorischen Heroen« für die >Heldenverehrung< seit dem 19. Jahrhundert. Die Auflösung der Formtypik des Rechts- und Verfassungsstaates durch den Führerstaat beschreibt er nicht genau, sondern konzentriert sich auf den Freiheitsverlust durch Sprachzerstörung im Nationalsozialismus. Er kritisiert den Nationalsozialismus nicht detailliert als Staatsform und betont deshalb mehr die moralischen als die politischen Folgen. Die Zerstörung der Formstruktur des neuzeitlichen Verfassungsstaates durch den Führermythos (etwa nach dem Motto: Gesetz ist »Wille des Führers«) ist schon den ersten Analysen des Nationalsozialismus -unter dem Stichwort vom Doppelstaat (E. Fraenkel) und Behemoth (Fr. Neumann)- aufgefallen und selbst den nationalsozialistischen Rechtswissenschaftlern nicht ganz entgangen. Sucht man den Gesamtzusammenhang der Problemgeschichte des Mythus des Staates weiter zu pointieren, so markiert Cassirer nicht drei geschichtliche Einbrüche mythischer Vorstellungen und Mächte, sondern drei Etappen des Einbruchs eines Mythos: des christlichen Mythos von der Unmittelbarkeit der Seele zu Gott, in seiner geschichtlichen Entfaltung dargestellt als Entwicklung von der augustinischen Idee unmittelba-
Doch auch hier betont Cassirer die Indifferenz des mythischen Lebensgefühls gegenüber dem >>scharfen Schnitt« des Todes. (vgl. PSF II, 49 f., 63 f., 190 ff.)
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rer >Erleuchtung< der Seele bis hin zum Säkularisat des Führermythos. Cassirer lehnt diese religiöse Idee der Persönlichkeit philosophisch abY Gegen die geschichtliche Entwicklung des Einbruchs eines religiösen Persönlichkeitsmythos in die Staatstheorie bietet er systematisch keinen Gegenentwurf auf. Es wäre jedoch falsch, seine Studie nur als Ideologiekritik lesen zu wollen. Sie endet mit der programmatischen Forderung, die Theorie der Politik zu einer >positiven< und >exakten< Wissenschaft zu erheben. (MSD 386 f.) Verknüpft Cassirer die Forderung nach >positiver< Erforschung der »Gesetze der sozialen Welt« dabei mit Comtes Programm einerneuen Sozialwissenschaft, so kann er mit der Rede von einer >exakten< Sicherung der >Fundamente< nur den skizzierten Anschluß an die klassisch-platonische Metaphysik der Gerechtigkeit meinen. Man kann seiner geschichtlichen Untersuchung somit auch entnehmen, daß die Staatstheorie an eine metaphysische Theorie des Gerechtigkeitsstaates wieder anzuknüpfen habe, wie sie durch Platon erarbeitet und seit dem Stoizismus (MSD 134 ff., 218 ff.) um eine naturrechtliche Lehre von der Gleichheit der Individuen erweitert wurde. Zwar rekurriert Cassirer abschließend gegen Spengler und Heidegger erneut auf Kants Begriff der Autonomie (MSD 373 ff.) als Ausgangspunkt jeder freiheitlichen Staatstheorie - also auf die in Freiheit und Form vorgenommene Grundlegung; dennoch sollten beide Problemstudien nicht miteinander harmonisiert werden: Von der ausgearbeiteten Philosophie der symbolischen Formen her stellt sich auch die Freiheitsidee neu dar. Cassirer scheint die Staatstheorie nun eher an Platon orientieren 17 Cassirer erörtert das Christentum zusammen mit anderen Weltreligionen als hochstufige Leistung und »Dialektik des mythischen BewusstseinsSinn< und >Bild>technischen Realisation« nachhinkt. Cassirers staatsphilosophische Dependenzthese basiert auf einer kulturphilosophischen Homogenitätsvoraussetzung. Sie arbeitet mit der Annahme einer Einheit von Epochen und Kulturen. Diese starke These ist 18
Siehe E. Forsthoff (1971).
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zunächst ein methodologisches Darstellungsprinzip. Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich Kulturphilosophie im Sinne sachhaltiger Generalaussagen über eine >Kultur< oder >Gesellschaft< treiben. Cassirers Musterwerk ist die Philosophie der Aufklärung; sie schlägt ein >>geschichtsphilosophisches Thema« (PA VI) an und beschreibt die Epoche der Aufklärung als eine >Gesamtbewegung< und >>Phänomenologie des philosophischen Geistes«. Cassirer charakterisiert dafür zunächst die>> Denkform des Zeitalters der Aufklärung« und sucht die Gesamtbewegung der Aufklärung dann in der weiteren Gliederung des Werkes abzubilden. Derart löst er seinen Anspruch ein, nicht nur einen >Lehrbestand< der Epoche festgestellt, sondern darüber hinaus auch einen Prozeß der Selbstbefreiung des Geistes exemplarisch vorgeführt zu haben. Die Einheitsperspektive der Dependenzthese ist im einzelnen fragwürdig, und die Ganzheitsperspektive der Homogenitätsvoraussetzung überfordert den einzelnen Forscher. Man muß schon ein Cassirer sein, um die Darstellung der Ganzheit und Einheit einer Kultur zu meistern. Es ist dabei gerade die- jetzt von Schwemmer betonte- offene, dynamische Konzeption der Philosophie der symbolischen Formen, die die Einheitsbetrachtung um die geschichtliche Perspektive einer vorläufigen Ganzheits- oder Totalitätsbetrachtung erweitert. Cassirers Konzept dynamischer Symbolisierung führt zur Kulturphilosophie. Die Historik wird zum >>Organon der Selbsterkenntnis« (VM 314) der Menschheit.
//1. Der >Kosmos< symbolischer Formen: philosophische Rekonstruktion des Lebens- und Weltvertrauens Was Cassirer mit der - am Mythus des Staates aufgezeigten - Orientierung seines >>philosophischen Idealismus« an Platon meint, läßt sich eindringlich der Schrift Logos, Dike, Kosmos in der Entwicklung der griechischen Philosophie19, der Keimzelle des Mythus des Staates, ablesen. >Kosmos< meint ihm die Idee philosophischer >Zusammenschau< eines >Bandes< in der Vielfalt der Symbolisierungsprozesse. Nach Cassirer kommen alle griechischen Philosophen in der Aufgabe überein, die »Macht des Mythos« (LDK 5) zu brechen. Cassirers >Zusammenschau< der antiken Philosophiegeschichte zielt auf den Nachweis, daß Logos und Dike geschichtlich in der Weise miteinander ver19 Vgl. Cassirer (1925); Cassirers Sicht der Aufnahme des platonischen Erkenntnisanspruchs in die mathematische Naturwissenschaft der Neuzeit und der Konsequenzen für den philosophischen Wahrheitsbegriff dokumentiert die Textedition Philosophie und exakte Wissenschaft (Cassirer 1969).
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Mehring · Pathos der »Zusammenschau>Band zwischen Wahrheit und Recht.« Dieses Band zu erkennen, sei Ethos und Leistung des philosophischen Idealismus seit Platon und Kant (LDK 23 ff., bes. 31). Die Suche nach einer solchen Harmonie bestimmt Cassirers gesamtes Werk . Anders als die Renaissance kann Cassirer diese Suche nicht mehr nur auf die Mathematik und die neuzeitliche mathematische Naturwissenschaft stützen, weil er auch diese Wissenschaften als geschichtliche Formen erkannt hat. Deshalb tritt zur Orientierung an Platon die geschichtliche Betrachtung und die Orientierung an Goethes Idee der >Metamorphose< hinzu. Obwohl die Idee einer Einheit des Kosmos symbolischer Formen damit problematisch wird, bleibt die Idee einer philosophischen Zusammenschau leitend, ist aber auf die Historik als Organon verwiesen. Cassirer bezeichnet seine Philosophie als >>philosophischen IdealismusBandes< der Welt. Die Philosophie heilt die Wunde, die sie selbst schlug. Denn der Aufbau der wissenschaftlichen Erkenntnis und der philosophischen Metaphysik bringt eine >Erschütterung< (PSF III, 330) des mythischen >>Vertrauen zur Wirklichkeit der Dinge>Grundformen des >Verstehens< der Welt>Phänomenologie der sprachlichen Form>innere Formsinnlichenanschaulichen< und des >begrifflichen< Ausdrucks. Diese Einteilung kehrt im dritten, systematisch entscheidenden Band Phänomenologie der Erkenntnis wieder. Die Sprachphilosophie ist damit in eine Phänomenologie des >Aufbaus< der >theoretischen< Weisen des Weltverstehens zurückgestellt. Den Übergang zur Phänomenologie der Erkenntnis macht ein Band zum >>mythischen DenkenLebensform< zu begründen. Die funktionale Reflexion der Sprache zielt auf die Darstellung der >>Grundformen des >Verstehens< der Welt«. Cassirer unterscheidet Anschauung, Darstellung und Bedeutung (vgl. nur PSF III, 118, 332, 525) als Weisen des Weltverstehens. Er begreift sie als stete anthropologische Möglichkeiten. So ist das mythische Denken nicht ein für allemal durch den «Aufbau der wissenschaftlichen Erkenntnis« überholt, sondern als Ausdrucksphänomen im >Korrelat< (PSF III, 93) der Ausdruckswahrnehmung noch in den höchsten Formen wissenschaftlicher Erkenntnis präsent. (vgl. PSF III, 395 f.) Cassirer begreift die Phänomenologie der Erkenntnis als eine Erweiterung der kritischen Erkenntnislehre. (PSF III, 11 ff., vgl. 226 f.) Kant habe sich auf die Möglichkeit der >>Erfahrung als Wissenschaft« konzentriert und darüber den Aufbau der anschaulichen Welt vernachlässigt. Nach seiner Phänomenologie des Mythos sichert Cassirer im ersten Teil des dritten Bandes - den systematischen Zugang zum Aufbau der anschaulichen Welt über die Begründung des >Urphänomens< (PSF III, 116, 526) des Ausdrucks auf eine Leib-Seele->Korrelation< (PSF III, 230). Er klammert dabei ontologische Fragen weitgehend aus20 und hält durch seine phänomenologische Fragestellung den kritischen Ansatz fest. >>Symbolische Prägnanz« meint ihm eine Dynamik des >Aufbaus< der Erkenntnis, der Symbolisierung durch Relationierung und >Reihenbildung< von Wahrnehmungen und Begriffen. (PSF III, 235 ff.) In seiner >>Theorie des Begriffs« (PSF III, 329 ff., 385 ff.) führt er den >>Fortgang von den Dingbegriffen zu den Relationsbegriffen« (PSF III, 554) aus. Ontologische Fragen klammert er bewußt aus (PSF III, 230 f., 367ff). Das Kapitel >>Symbolische Prägnanz« steht als erstes Fazit am Übergang zur >>Pathologie des Symbolbegriffs« und zum >>Aufbau der wissenschaftlichen Erkenntnis«. Cassirer unterscheidet scharf zwischen dem Aufbau des >>natürlichen Weltbegriffs« aus der Darstellungsfunktion und dem Aufbau der >>wissenschaftlichen Erkenntnis« aus der Bedeutungsfunktion der Sprache. Wie Platon und Kant am >>Paradigma der mathematischen und der mathematisch-physikalischen Begriffe« (PSF III, 346) orientiert, beschreibt er als Aufbau der wissenschaftlichen Erkenntnis nur den Gegenstand der Mathematik und die Grundlagen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Er vertritt diese Einschränkung, weil die Entwicklung der theoretischen Physik >>von der klassischen 20 Er erörtert sie aber als Geschichtlichkeit des Wahrheitsbegriffs: dazu vgl. Formen und Formwandlungen des philosophische Wahrheitsbegriffs, in: GL, 193-217.
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Mechanik zur allgemeinen Relativitätstheorie« die >>neue VisierlinieZusammenschau< ist Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dieses andere unvollendete Lebenswerk ist nicht nur eine ideengeschichtliche Vorarbeit zu den systematischen Schriften Substanzbegriff und Funktionsbegriff und Philosophie der symbolischen Formen . Geht die Grundlegungsaufgabe dahin, die symbolischen Formen als Funktionen des menschlichen Geistes zu erweisen, so zielt der weitergehende Anspruch darauf, eine Ganzheit der Formgestaltungen und Kulturleistungen als Funktion eines Kulturprozesses darzustellen. Cassirer sucht Konvergenzen21 der einzelnen Wissenschaften auf gemeinsame paradigmatische Grundbegriffe zu entdecken. So zeigt er für die theoretische Physik die Tendenz auf den Formbegriff auf (EPW IV, 120 ff.), in der theoretischen Biologie die Tendenz auf den Begriff der Ganzheit (EPW IV, 218 ff.) und in den historischen Wissenschaften die Tendenz auf eine kulturwissenschaftliche Totalitätsperspektive. (EPW IV, 327 f.)22 Das weiteste Erkenntnisziel Cassirers ist es, durch Überschau und >Zusammenschau< Konvergenzen in den Grundlagendiskussionen der Wissenschaften festzustellen, um die Einheit des Geistes auch in der Ganzheit seiner Leistungen, soweit möglich, festzustellen. Durch dieses weite Erkenntnisziel ist die Geschichte des Erkenntnisproblems mit dem Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen verknüpft und die Idee philosophischer Zusammenschau eines >Kosmos< leitend. Die Philosophie der symbolischen Formen begreift die Unmöglichkeit eines absoluten Wissens im Sinne eines Selbstbegriffs des menschlichen Geistes von der Totalität seiner Ausdrucksmöglichkeiten; sie begreift jedoch auch den Grund der Annahme eines >KosmosVernunftglauben< (Kant) des deutschen Idealismus. Nach Cassirer besteht das Ethos philosophischer Forschung darin, diese Spannung von mythischem Vertrauen und wissenschaftlicher Erkenntnis auszutragen. Hat die 21 Ein Hörer Cassirers, Kurt Lewin, hat dieses Anliegen unter dem Titel einer >>vergleichenden WissenschaftslehreRelationsbegriffKosmos< zu erweisen. Die >naive< Lebens- und Weltanschauung des mythischen Denkens motiviert die Idee einer philosophischen Rekonstruktion des Lebens- und Weltvertrauens. Das Ethos des Philosophen ist es, sein Pathos, seine Einheitsund Ganzheitsanmutung, zu berechtigen. Philosophie kann diese Aufgabe niemals voll erfüllen. Daß Cassirer der Philosophie jedoch solch hohe, systematische Aufgaben stellte, macht einen Teil seiner Attraktivität für die heutige Diskussion aus.
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Enno Rudolph (Heidelberg) Cassirers Machiavelli
I. Das Ethos der Kulturkritik zwischen Humanismus und Realismus Cassirer schrieb keine Ethik. Es gibt Cassirerinterpreten, die diesen Befund als Mangel bewerten. Diese Kritik erinnert an die Frage, die ein namentlich nicht genannter Gesprächspartner an Martin Heidegger gerichtet haben soll: »Wann schreiben Sie eine Ethik?«. Heidegger berichtet von diesem Vorgang in seinem Humanismus-Brief, der eine >Destruktion< des traditionellen Humanismus-Verständnisses und der Anthropologie des animal rationale enthält. Die Frage jenes Unbekannten beantwortet Heidegger im Anschluß an einen eigentümlichen Rekurs auf Heraklit wie folgt: Ethik komme von ethos, was so viel bedeute, wie >Aufenthalt< oder »ursprüngliche Seinsart« des Menschen. Demzufolge sei dasjenige Denken, »das die Wahrheit des Seins als das anfängliche Element des Menschen als eines eksistierenden denkt, in sich schon die ursprüngliche Ethik.«! Heidegger verweist den Fragesteller damit anband eines Umweges über Heraklit auf jene Ontologie, die Sein als Ek-sistenz denkt. Es ist dies freilich Heideggers eigene Existenzialontologie, auf die er sich bezieht, und damit auf jenen Geschick-lichkeitsfatalismus, den er bereits 1929 im Streit um den Begriff der Freiheit gegen Cassirer ins Feld führte: Ethik als Lehre von der verständigen Fügung in das Geschick von Angst und Tod.2 Formal gesehen verhält es sich mit der Frage nach der Ethik bei Cassirer scheinbar analog. Auch bei ihm hätten wir allenfalls nach einer impliziten, allerdings explizierbaren Ethik zu suchen. Cassirer hätte einen vergleichbaren Fragesteller ebenfalls auf bereits Geleistetes, in seinem Falle auf die Morphologie der Kultur in der Philosophie der symbolischen Formen zurückverweisen können. Wenn diese Beobachtung zutrifft, wäre zu klären, in welchem Sinne Cassirers Kulturmorphologie eine Ethik vertritt, in welchem Maße sie etwa normative Orientierungen entwickelte, auch wenn diese nicht ausdrücklich kodifiziert sind. Die Antwort auf diese Frage findet sich in Cassirers Werk zwar nur indirekt, aber dennoch entschieden deutlich.3 Cassirer kritisiert die Interaktion der von ihm unterschiedenen Kulturformen nämlich dann, wenn diese 1 M. Heidegger (1996), 356. 2 Siehe die Davoser Disputation
zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger, in: M. Heidegger (1991), 274 ff. 3 Siehe dazu B. Recki (1997), 58 ff.
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Interaktion zu einer exklusiven Alternative zwingt, etwa im Sinne einer alternativen Disjunktion von Religion und Mythos. In diesem Fall bahnt sich eine Kulturverarmung an, der dadurch entgegenzuwirken wäre, daß eine solche Alternative in ein dialogisches Miteinander transformiert würde. Mit wünschenswerter Klarheit legt Cassirer- um bei dem Beispiel von Religion und Mythos zu bleiben - die eigentümliche Ambivalenz des Prozesses der Ablösung des Mythos durch die Religion frei, um dabei eine kulturgeschichtliche Dialektik von Bereicherung und Verarmung herauszuarbeiten. Die Entwicklung vom Polytheismus zum Monotheismus etwa ließe sich als ein Weg zunehmender Entfaltung menschlicher Rationalität und in diesem Sinne auch als ein Weg zunehmender und kulturprägender Emanzipation des animal rationale von zuvor dämonisierten Bedrohungen oder von magischem Ritualismus begreifen und markiert von daher die Frühphase des europäischen Aufklärungsprozesses. Gern wird diese Entwicklung als eine Etappe in der vielfach als Fortschritt bewerteten Kulturentwicklung vom Mythos zum Logos bezeichnet. Zugleich verweist Cassirer aber auch auf den geradezu tragischen Verlust an Reichtum des Redens vom göttlichen Wirken, wie er das mythische Denken auszeichnet. Diesem Verlust entspricht im Vollzug religiöser Rationalisierung der Weltdeutung ein Mangel an Konkretion, an Anschaulichkeit und Erfahrungsnähe. Der Gott, der zu Moses im Dornbusch spricht, wird im biblischen Text zwar noch in den rudimentären Staffagen mythischer Bildersprache präsentiert, Gottes Selbstvorstellung aber symbolisiert den hochraffinierten Abstraktionsund Reflexionsgrad einer monotheistischen Hochreligion in ihrer Blütezeit. >>Ich bin der ich binkritische< 13. Jahrhundert, dadurch aber von wirkungsmächtigerer historischer Validität, als die Version Schmitts. Die Transformation der christologischen Legitimation des Prinzips >>legibus solutus« in eine naturrechtliche war vollzogen: >>Die Gnade«, so resümiert Kantorowicz, >>hatte keinen erkennbaren Platz mehr in diesem Denken« 11 , zumal sich bedenklicherweise ergab, daß die Interpretation von >ratio>ratione alligatus«), tritt an die Stelle scheinbar unangreifbarer Gnadenabhängigkeit. Der Sache nach beschreibt Kantorowicz die historische Herausbildung der Figur absoluter politischer >Souveränität< als den Vorgang eines ambivalenten Aufklärungsprozesses: zwar verdankt sich diese Entwicklung einem aufklärerischen Siegeszug der Vernunft über die Gnade, er entzieht aber den absoluten Monarch jeder Kontrolle und Konkurrenz. An dieser Stelle vollzieht sich gleichsam der Stabwechsel zwischen den Genealogien von Kantorowicz und Cassirer, obwohl ihre Abhandlungen freilich in entgegengesetzter Reihenfolge entstanden waren. Im Schlüsselkapitel vom Mythos des Staates präsentiert Cassirer Machiavelli seinen Siehe ebd., 124. C. Schmitt (1934 ), 49. 11 Siehe E. Kantorowicz (1990), 157.
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Lesern als den politischen Realisten seiner Zeit. Machiavellis Fürst hat alle Eierschalen theologischer Rechtfertigungsbedürftigkeit für politischen Machtgebrauch abgestreift, er ist der ausschließlich nach dem Prinzip des »legibus solutus« waltende Autokrat. Und entscheidender noch: selbst die seine Freiheit zwar nicht einschränkende, aber einer schieren Willkürlichkeit entgegengesetzte Funktion der >ratio< im Sinne Friedrichs II. sieht Cassirer bei Machiavelli fortgeschrieben. Die Begründung für diese Wahrnehmung verschafft sich Cassirer durch eine bis heute ebenso nachhaltig vertretene wie umstrittene Übertragung von lnterpretationsergebnissen der Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio auf den Principe. Mit dem geheimen Republikanismus der Discorsi begründet Cassirer seine These, Machiavelli habe nicht das politische Handbuch zur Ausübung von Willkürherrschaft und Tyrannei geschrieben, sondern Zeitkritik geübt. Als ideologischer Wegbereiter moderner Totalitarismen komme er nicht in Frage: >>Machiavelli war kein Machiavellist.«12 Anders steht es aber, wenn man sich Cassirers These vom nicht-machiavellistischen Machiavelli zueigen macht und allein den Principe auf seine methodische Dialektik zwischen Analyse und Kritik hin befragt. Dafür ist es keineswegs notwendig, nach Art Spinozas an eine verborgene Bedeutung des Principe zu appellieren. Es läßt sich auch unmittelbar aus dem Text erhellen, daß Machiavelli dem Fürsten folgenden Spiegel vorhält: Die Machtausübung ist zwar nur erfolgreich, wenn sie auf einer konsequenten und wenig kompromißfreundlichen Machterhaltungsstrategie beruht. Diese aber ist eine Kunst, zu deren Beherrschung es der virtu bedarf. Virtu ist ein Talent, die notwendigen Mittel zum Zweck der Machterhaltung- gerade auch Grausamkeit und Terror- mit Maß einzusetzen. Das Maß aber richtet sich nicht allein nach dem politischen Ziel der schieren Machterhaltung- koste es so viel Blut, wie es wolle- es richtet sich gehörig nach dem, was dem Wohl des Volkes dient. Machiavellis Meinung ist hier prägnant genug formuliert, um Mißverständnisse auszuschließen: auch Grausamkeiten können >>gut und schlecht angewandt« werden: >>Schlecht angewandt sind diejenigen, die das Prinzip der Machtsicherung des Fürsten dem Wohle des Volkes grundsätzlich überordnen. Hingegen gut angewandt kann man solche nennen - wenn es erlaubt ist, vom Schlechten etwas gutes zu sagen- die man auf einen Schlag ausführt aufgrundder Notwendigkeit, sich zu sichern, und bei denen man dann nicht verharrt, sondern sie - soweit wie möglich - in Wohltaten für die Untertanen verwandelt.« 13 Virtu zeichnet den Souverän aus, sie äußerst sich in drei Fähigkeiten: 12 E. Cassirer (1988), 184. 13
N. Machiavelli (1991) (Reclam), 73; siehe dazu v. E. Rudolph (1994), 68 ff.
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- in derjenigen, zwischen gut und böse unterscheiden zu können, und zwar auf der Grundlage der Einsicht, daß alle Menschen, nicht nur die Despoten, eher schlecht sind als gut, d.h. tendenziell eher egoistisch als sozial verantwortlich handeln, - sodann in derjenigen, das Interesse an Machterhaltung einerseits und die Orientierung am Volkswohl andererseits so ausbalancieren zu können, daß der Fürst nicht zum Sklaven einer Necessita wird, die ihn zwingt, im Interesse der Machterhaltung grausam sein zu müssen; und - schließlich in derjenigen, sich trotz kompromißloser Machterhaltungsstrategien Freunde bzw. Anhänger zu verschaffen, also tatsächlich über >>Freund und Feind« entscheiden zu können. Souverän ist- nach dieser Theorie - derjenige Machtvirtuose, der sich Freunde bewahrt in einer Welt voller Feinde, obwohl er sich in dieser Welt erfolgreich behauptet. Machiavelli scheint- das zeigen seine Beispiele- diejenigen Tyrannen für besonders virtu-begabt zu halten, denen das Volk Treue und Zuneigung bewahrte, obwohl sie gelegentlich hart und grausam waren. Machtausübung drückt dann Souveränität aus, wenn sie nicht in der Anwendung schierer Arbitrarität, sondern in der geschickten Verbindung von Selbsterhaltung und gemeinnütziger Großmütigkeit besteht. Deshalb kann Machiavelli sagen, zur virtu gehöre eine >>Grandezza dello animo«, die den Souverän als >>exelentissimo huominoDiese Worte geschrieben vor etwa 150 Jahren, im Jahre 1801, enthalten das klarste und unbarmherzigste Programm des Faschismus, das jemals durch irgendeinen politischen oder philosophischen Schriftsteller vorgetragen wurde.« Einer der Gründe für dieses konsequente Urteil Cassirers liegt in Hegels Verachtung für das Individuum: >>Er selbst betrachtete die Individuen als Marionetten in dem großen Puppenspiel der Weltgeschichte. Nach ihm ist der Autor und Dramaturg des historischen Dramas die >IdeeWerkzeuge und Mittel des WeltgeistesKind der Mystik< zu betrachten, wenn unter Mystik wesentlich eine >Gefühlsphilosophie< zu verstehen sein soll. Das heißt, Joel fragt sich, was das neue, von Griechenland eingeführte Element im Blick auf den Orient sei, in Anbetracht dessen, daß der Orient- wenngleich >unphilosophischNaturanblickNaturbetrachtungNaturberechnungNaturüberwindung< kennt. >>Die neue, von den Griechen eingeführte Dimension wäre folglich diejenige der >Naturspekulation< und zwar durch eine >NaturphilosophieGefühl< gegründet ist.« Wird also die griechische >NaturphilosophieGeistesschärfe< gilt und so die europäische Wissenschaft begründete, aus der dunklen, unbestimmten Innerlichkeit des >Gefühls< geboren? Wenn die drei klassischen Epochen der >Naturphilosophie< vom Denken der Vorsokratiker, von dem der Renaissance und vom Denken der Romantik repräsentiert werden, so ist es insbesondere in den beiden letzteren dieser Epochen der Fall, daß sich die Naturphilosophie als mit der >Mystik< unmittelbar verbunden zeigt, und dies >>in ihrem auffallenden Zusam7
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Ebd., 316. K. Jod (1905).
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mentreffen mit religiös innerlichen Erhebungen, teils in derselben Zeit, teils sogar in denselben Personen.Form des Geisteslebens« verstanden -ist eine recht tiefe Beziehung, die teils heruntergespielt teils nicht zureichend analysiert und berücksichtigt worden ist. Es ist eine Beziehung, die in jedem Falle nicht nur für das Verständnis der Entstehung und der 15M. Heidegger (1978), 341-353. R. Otto (1917). Über die geplante OttoBesprechung vgl. Th. Kisiel (1993 ), 96 f. 16 Wir folgen den Informationen, die Kisiel diesbezüglich zusammengetragen hat: Th. Kisiel (1993), 108-111; 18; 69; 71-77; 81-84; 88; 108-111; 149; 157; 192; 515 f.
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Problemstellung der Jugendschriften von Relevanz ist, sondern auch für die Gründe und die Formen der in Sein und Zeit und in Kant und das Problem der Metaphysik durchgeführten anti-ontologischen Polemikeine Polemik gegen die traditionelle Ontologie, die sich bei Heidegger mit einer immer entschiedeneren anti-subjektivistischen Einstellung verbindet. Es handelt sich um eine Einstellung, die in demselben Moment offenkundig wird, in dem sich bei Heidegger gewisse Übereinstimmungen mit der Romantik - Übereinstimmungen, die alles andere als sekundär sind, und in denen, zudem gärende Themen der Epoche ihren Widerhall finden - klarer abzeichnen, und d.h. mit einem Stadium der deutschen Geistesgeschichte, in welchem die endgültige Trennung von praktisch-technischem Wissen und philosophischem Wissen zu einem Ende gekommen war, und in welchem aber auch die Vernunft und das Gefühl, die Gemeinschaft und das Individuum, die Notwendigkeit und die Freiheit in eine extreme und gleichzeitig nicht aufgelöste Spannung traten: also bei Novalis - der tatsächlich nicht so oft genannt wird, wie dies eigentlich nötig wäre- und dann vor allem bei Schelling, und zwar insbesondere dem SeheHing der Untersuchungen über das Wesen der menschlichen FreiheitY Wir dürfen aber nicht zu weit vorgreifen und mitten in die dreißiger Jahre springen, in die Jahre der berühmten Vorlesung Heideggers über die genannte Schellingschrift, als die Auseinandersetzung mit Nietzsche bereits bevorstand. Aber gleichwohl sollte betont werden, daß, wollten wir diesen Schritt nach vorne tatsächlich tun, auch in diesem Falle- und folglich nach der Begegnung von Davos - es nicht an Belegen fehlen würde, aufgrundderer sich die Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Cassirer fortführen ließe. In der Tat sollte es genügen, sich retrospektiv die Schriften zu vergegenwärtigen - die Schriften der zwanziger Jahre, die Schriften von Weimar-, in denen Cassirer sich mit deni >>klassischen Idealismus« und mit der Romantik und folglich in erster Linie mit den in Idee und Gestalt versammelten Schriften auseinandersetzte.J8 Dies sind Texte, in denen noch einmal der starke Einfluß Humboldts auf Cassirers Idee von der Geschichte als Menschheitsgeschichte manifest wird, wie sie in besonderer Weise aus der Hölderlin gewidmeten Studie in dieser Sammlung hervorgeht. In dieser Schrift manifestiert sich auch das besondere Interesse Cassirers an SeheHing insbesondere in den Jahren, in denen er begonnen hat, gegen jeden >>Idealismus der schönen Seele« das >chthonische< Element der Romantik zu verteidigen, und zwar in erster Linie das der romantischen N aturphilo17M. Heidegger (1988). 18 E. Cassirer (1973).
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sophie19. Seinem Interesse an SeheHing entspricht die Betonung der fundamentalen Relevanz, die das Nachdenken über die Freiheit und über die Möglichkeit der Konstruktion eines moralphilosophischen Systems, in dem die Individualität Raum findet, für SeheHing und die Romantik selbst hatte. Wir konnten feststellen, wie der junge Heidegger das Mittelalter als das wahre und eigentümliche Paradigma eines philosophischen Denkens betrachtet, das sich dem >Sinn< zuwendet und das nicht anders als er selbst das Modell der mathematischen Naturwissenschaften zurückweist. Heideggers Angriff auf die traditionelle Ontologie und sein unzweideutiger Anti-Individualismus sind allein dann vollkommen verständlich, wenn man diesem background des Denkens Heideggers gebührend Rechnung trägt. Und die Präsenz eines >>mittelalterlichen« Einflusses bei Heidegger stellt gewiß keinen aufbrechenden Widerspruch dar, sondern enthüllt vielmehr eine spezifische Übereinstimmung mit den vielen Themen, die Heidegger in denselben Jahren von Emil Laskund damit von einer philosophischen Richtung übernommen hat, die sehr allgemein als neukantianisch zu klassifizieren ist und in der die Reflexion des Sinnproblems eine zentrale Rolle spielt. Die Ausführungen Lasks weisen tatsächlich eine Fülle von Übereinstimmungen mit den Ansichten Fichtes und von daher mit Ansichten auf, die aufgrund ihrer auf das Absolute sich richtenden Bestrebungen und der daraus folgenden Überwindung der Perspektive einer individuellen anthropologischen Subjektivität nicht frei sind von Aufmerksamkeit gegenüber dem Standpunkt der Mystik.20 Es ist erst wenige Jahre her, daß man die Bedeutung, die den Ideen Lasks für die Entwicklung einiger Grundthesen Heideggers zukommt, in ihrem wahren Ausmaß erkannte, und zwar in erster Linie den Einfluß Lasks auf die anti-psychologistische Polemik in Die Lehre vom Urteil im Psychologismus21, eine Polemik, die sich übrigens auch in die >Daseinsanalyse< selbst fortgesetzt und ein treibendes Motiv gebildet hat. Aber ineins damit muß hervorgehoben werden, daß auch bei Cassirer - und zwar in einem nicht sonderlich verschiedenen Zusammenhang - eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber Lask bemerkbar ist. Dies ist der Fall in der ausführlichen Studie mit dem Titel Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik22, eine Studie, die in das Jahr 1913 fällt und praktisch gleichzeitig mit Heideggers erster Schrift, Die Lehre vom Ur,. teil im Psychologismus von 1914, entstanden ist. Cassirer untersucht dort die Grundlinien der Urteilslehre Lasks und nimmt Stellung zu derart ent19 Als Beispiel gilt die Gesamtdarstellung von H. Knittermeyer (1919). 20 E. Lask (1912). 21 M Heidegger (1978). 22 E. Cassirer (1993 ).
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scheidenden Fragen wie der nach der Wahrheit und der Beziehung zwischen Denken und Sein. Damit bietet sich uns ein Vergleichsfeld und ein Bezugspunkt an, der von größter Wichtigkeit für ein vertieftes Verständnis der Auseinandersetzung zwischen Cassirer und Heidegger ist, und zwar vor allem dann, wenn es darum geht, Licht in einige der relevanteren Voraussetzungen für die Auseinandersetzung der 30iger Jahre über die Interpretation der Kantischen Philosophie zu bringen. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich insbesondere die Bedeutung ab, die die Frage nach dem >Sinn< und folglich nach den Kategorien des reinen Verstandes gewonnen hat. Sie erhob sich auf der Folie eines verbreiteten Interesses an den Einwänden des kritischen Realismus Külpes 23 gegen die Kategorien, und damit an einer philosophischen Konzeption, die stark von der Rücksicht auf die Daten und Methoden der psychologischen Analyse geprägt ist. Auch für Grabmann war dies ein wichtiger Bezugspunkt wie wir sahen, beeilte sich der junge Heidegger, diesem zustimmend mitzuteilen, >>der Wert der scholastischen Erkenntnistheorie gründet gerade darin, daß sie nicht naturwissenschaftlich sondern sinntheoretisch arbeitet.« Und darüber hinaus warf Cassirer mit Bezug auf Lasks Vorgehen bei der Frage nach dem Nexus von Wahrheit und Wirklichkeit die Frage nach der Rolle auf, die der >>fatalen Aktivität des Erlebens«24 beim Urteil zukommen müsse, um sodann die Art und Weise zu erklären, in der Lask die Notwendigkeit einer Revision des Rationalitätsbegriffs dargelegt hatte. Und mehr als fünfzehn Jahre später, in der Philosophie der symbolischen Formen, dürfte es Cassirer nicht versäumt haben, in den Überlegungen, die den Nexus Wahrheit-Sein, Denken-Sein zum Gegenstand haben, weiterhin einige Hinweise auf seine Beschäftigung mit Lask zu geben. 25 5. Es sind offensichtlich diese soeben in Erinnerung gerufenen Verbindungslinien denen man folgen muß, will man die verschiedenen Aspekte der Auseinandersetzung zwischen Cassirer und Heidegger rekonstruieren und analysieren - eine Auseinandersetzung, die auf der Folie der verschiedenen Artikulationsweisen der neukantianischen Problemstellung scharf in den Blick genommen werden kann, wobei übrigens Heidegger dazu neigt, Gewicht auf diejenigen Elemente zu legen, bei denen der subjektive Idealismus Fichtes, und nicht der Idealismus Hegels, am stärksten merklich ist. Und gerade das erneute Interesse, das Cassirer der Philosophie Hegels entgegenbringt, und zwar in erster Linie hinsichtlich der Bildungsthematik in der Philosophie der symbolischen Formen, zeigt 23
O.Külpe (1912).
24 E. Cassirer (1993 ), 14. 25 Vgl. die letzten Seiten der Einleitung zu E. Cassirer (1994 ): Echo auf E. Lask (1911)?
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vor diesem Hintergrund eine jedenfalls tiefgreifende Distanz gegenüber der Position Heideggers an, nämlich hinsichtlich dessen, daß dieser die begrifflichen Mittel, die die logisch-erkenntriistheoretischen Überlegungen des Neukantianismus zur Verfügung stellten, für ungeeignet hielt. Gleichwohl schien er unter der Ägide einer >>Philosophie der Menschheit« auf der Basis Humboldts die Möglichkeit einer Harmonisierung der verschiedenen Linien, an denen entlang sich die idealistische Auseinandersetzung mit der Kantischen Reflexion über die mögliche Begründung einer Sittenlehre entwickelt hatte, zuzugeben. Jedenfalls ist festzuhalten: sowohl Cassirer als auch Heidegger befinden sich in der Situation, zur Kenntnis nehmen zu müssen, daß für die philosophische Diskussion der ersten Jahre des Jahrhunderts das Problem der Grenzen jener traditionellen Denkform dringlich geworden ist, die, indem sie den logischen Standpunkt aufs engste mit dem epistemologischen verknüpft hatte, in eine Krise geraten war, die ihren kategorialen Apparat ebenso betraf wie ihr eigenes Fundament. Die Überzeugung, die sich somit in der philosophischen Debatte durchzusetzen begann, mit der sich auseinanderzusetzen sowohl Cassirer wie Heidegger gezwungen waren, konsolidierte sich in entscheidendem Maße dadurch, daß sie in denselben Jahren abseits der streng logisch-epistemologischen Betrachtungsweise und im wesentlichen auf dem Gebiet der Untersuchungen zur Tradition des abendländischen Denkens als einer Tradition heranreifte, die in ihrer Tiefe von dem Problem der Beziehung des erkennenden Subjekts zur Welt und zur Natur gekennzeichnet war. Und es ist dieser Hintergrund, vor dem sich mit aller Deutlichkeit die Notwendigkeit abzeichnete, sich Rechenschaft über die Linien zu geben, an denen entlang sich eine im eigentlicheren Sinne historiographische Forschung entwickelte, zu deren Protagonisten gewiß Cassirer zu rechnen ist, der aber auch Heidegger nicht fremd gegenüberstand. Und dies gilt nicht nur vorrangig hinsichtlich des zentralen Interesses an der mittelalterlichen Mystik und ihrer Beziehung zur Ontologie des sogenannten scholastischen Rationalismus, sondern hinsichtlich einiger bedeutsamer Werke der deutschen Philosophiegeschichtsschreibung der zwanziger und dreißiger Jahre -Werke, in denen sich teilweise das Echo auf Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften niederschlug. In ihrer Mehrheit weisen sie nichtsdestoweniger in beeindruckender Weise Übereinstimmungen mit der Art und Weise auf, in der Heidegger - und somit sind wir nun bei der Frage nach der Beziehung zwischen Heidegger und Husserl angekommen- die Radikalisierung einer solchen >KriseSinn< bereits Bahn gebrochen hatte. Während also bei Cassirer- gemeint ist der Cassirer des Erkenntnisproblems und von Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance- ein starkes Interesse an der Funktion, die die Mystik bei der Entstehung und Entwicklung der modernen Wissenschaft spielte, vorliegt - und wenn dieses Interesse sich in einem wesentlichen Maße von der Aufmerksamkeit gespeist zeigt, die die Problemstellung seitens einer stark vom >>kritischen Positivismus>mystischen GrunderfahrungDaseins< sah. Für Cassirer war es die Renaissance, in der die Parabel von der Mystik als >Grunderfahrung< - als >>geistige Form>mystischen ErfahrungGefühlsGefühl< beginnt das anthropologische Subjekt, sich des Unterschieds zwischen sich und anderem bewußt zu werden. Gleichzeitig ist es das >GefühlGrund< (>ratioBuddhismus< des >>kritischen Positivismus« Machs ist30- hatte somit zum einen die Thematik einer >>gottlosen Mystik« zentrale Bedeutung gewonnen, zu deren erstem Fürsprecher bezeichnenderweise ein Philosoph wie der auf das Studium der Sprache sich konzentrierende Mauthner wurde3t, und zum anderen war so ganz deutlich geworden, daß die Subjekt-Objekt-Trennung nicht anders denn als akzidentiell und in jedem Falle als eine >deminutio>mystischen Grunderfahrung« scheint so einen Ausweg zu bieten: es ist in der Tat das >>im Außen sein«, das sich in der Ekstase der Mystik verwirklicht, die sich der Möglichkeit vergewissert, dem Fluß der Zeitlichkeit, von dem das Erkenntnissubjekt unbedingt fortgerissen wird, gerecht zu werden. Wenn es mithin nicht unbegründet scheint, bei Heidegger das Echo dieser Themen und Ansichten wiederzuerkennen - wenn auch in abgeschwächter und vielleicht sogar entstellter Form -, so scheint dies hingegen bei Cassirer nicht eigentlich der Fall zu sein. Die Grundvorstellung Cassirers - wir haben uns damit wiederholt beschäftigt- ist tatsächlich in mancherlei Hinsicht eher als hegelianisch zu bezeichnen, wenn wir sie 30 M. Sommer (1987), z.B. 203 ff., im Anschluß in erster Linie an E. Mach (1922). 31 F. Mauthner (1910).
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nicht geradezu sogar als von Comte herkommend, einstufen können, wenn nur bedacht wird, daß sie in der Tat die Grundvorstellung von der Unvermeidlbarkeit eines von der Mystik eingeleiteten Umschwungs im Gang der neuzeitlichen Wissenschaft ist, und zwar unabhängig von der Gestalt, die die mystische Erfahrung als solche angenommen hat. An und für sich ist die Mystik für Cassirer nichts anderes als das >>Paradies der reinen Unmittelbarkeit«, des >>reinen NichtsLogik der Philosophie>SinnSinngebung< anerkannten? (Aus dem Italienischen von Michaela Boenke)
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Giuseppe Cacciatore (Neapel)
Dilthey und Cassirer über die Renaissance
Die folgenden Überlegungen stützen sich auf Vorarbeiten 1, in denen es mir um den Aufweis einiger zentraler Gemeinsamkeiten zwischen Dilthey und Cassirer geht. Sie betreffen in erster Linie - zumindest im Interesse einer systematischen Zuordnung- die beide Autoren verbindende Tendenz, das Erbe des kantianischen Kritizismus unter Berücksichtigung des veränderten Kenntnisstandes in Philosophie und Wissenschaft zu revidieren bzw. zu reformulieren. Eine solche Revision nahm Dilthey in seiner Kritik der historischen Vernunft vor, in der er sich um eine Grundlegung der Geisteswissenschaften bemühte, und entsprechend in Cassirers Versuch, ein System einer Kulturphilosophie zu errichten, das auf der Definition einer eigens zu diesem Zweck entwickelten Logik der Kulturwissenschaften basiert. Unübersehbar ist der gemeinsame rote Faden, der den Philosophen aus dem Rheinland mit dem jüngeren aus Breslau verbindet. Cassirers Theorie der symbolischen Formen wie auch diejenige der >Urphänomene< bezieht sich m.E. auf dieselbe Problematik, die auch bei Dilthey dazu führte, die Suche nach Zusammenhängen zwischen den Urformen der Erkenntnis (den »Kategorien des Lebensdurch die Beziehung von Vergangenheit und Zukunft, von Einzeldasein und Menschheit.«3 Der >Bedeutung< und den Formen der Auffassung des Lebens- und, damit auch das, was in Cassirers Sprache später symbolische Form heißen wird-, kommt dadurch eine bestimmte Vermittlungsfunktion zwischen der transzendentalen Dimension des Subjekts und der Geschichte, wie auch zwischen dem Bewußtsein- Erinnerungsvermögen und Erinnerung eingeschlossen - und den kulturellen bzw. geistigen Inhalten zu, die sich in der Zeit offenbaren. Etwa 10 1ahre später schreibt Cassirer: >>1eder geistige Inhalt scheint uns mit der Bewußtseinsform verbunden zu sein und damit mit der Form der Zeit.« Bei Dilthey heißt es entsprechend: >>Das Leben steht zur Erfüllung der Zeit in einem nächsten Verhältnis. Sein ganzer Charakter, das Verhältnis der Korruptibilität in ihm, und daß es doch zugleich einen Zusammenhang bildet und darin eine Einheit hat (das Selbst), ist durch die Zeit bestimmt.«4 Vor dem Hintergrund dieser auffälligen Entsprechungen kann man die Feststellung einer bemerkenswerten Nähe zwischen Diltheys Gründungsprojekt einer Kritik der geschichtlichen Vernunft und Cassirers Projekt,- wie gleich zu Beginn der Philosophie der Symbolischen Formen angekündigt - der Grundlegung einer Philosophie der Kulturwissenschaften, als gesichert betrachten. Dilthey's Projekt war von der Überzeugung geleitet, daß die Logik des erkenntnistheoretischen Kritizismus für das Erfassen der geschichtlichen Welt hinreichend und angemessen sei; für Cassirers Konzept einer Philosophie der Kulturwissenschaften hingegen war eine Morphologie des Geistes notwendig, die in der Lage war, sich an die Form des Begriffs und des wissenschaftlichen Urteils anzupassen. Cassirer (1994), 175. Dilthey (1927c), 233. 4 Ebd., 229.
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»Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, daß daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht. Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur.«s Freilich ist zu verdeutlichen, inwieweit die einander derart verwandten Ansätze Diltheys und Cassirers eine entscheidende Rolle in ihrer allgemeinen Definition einer Methode der historischen Wissenschaft und insbesondere in der historiographischen Rekonstruktion der Renaissance gespielt haben. Dabei sind die Differenzen zwischen beiden Positionen keinesfalls außer acht zu lassen: sie betreffen das Verständnis einer Philosophie des Lebens bei deren Ausführung Dilthey eher zu einer ontologischen Auffassung neigt, als zu einer kritisch-transzendentalen, wie im Falle Cassirers. Die beiden Ansätze bleiben gleichwohl eng miteinander verbunden, und man würde daher wenig von Diltheys und Cassirers Renaissanceinterpretationen verstehen, ginge man nicht von ihrer eigentümlichen Auffassung von der Art des historischen Wissens und von den Methoden der historischen Wissenschaft aus. Bekanntlich kommt Begriffen wie Weltanschauung und Strukturzusammenhang in Diltheys philosophischen und historischen Denken eine zentrierende Funktion zu. Auf der einen Seite ging es darum, durch die Untersuchung der religiösen, künstlerischen und philosophischen Weltanschauungen das Verhältnis zwischen den beständigen Grundformen menschlicher intellektueller Erfahrung und den je aktuellen geschichtlichen Begebenheiten, in denen der Mensch jeweils die Gesamtheit der begrifflichen, willensbestimmenden und sinnlichen Erlebnisse in eine einheitliche Synthese zu versammeln suchte, genauer zu erläutern. Das Verhältnis zur objektiven Welt wird durch einen stetigen lnteraktionsprozeß zwischen den intuitiven Erkenntnissen des Lebens und deren individuellen Objektivierungen aufgebaut, wobei solche Objektivierungen nur mittels der Entwicklung des historischen Wissens und eine entsprechende Methodik des Verstehens möglich ist. »In jedem Moment unseres Daseins besteht ein Verhältnis unseres Eigenlebens zur Welt, die uns als ein anschauliches Ganzes umgibt. Wir fühlen uns, den Lebenswert des einzelnen Moments und die Wirkungswerte der Dinge auf uns, dies aber im Verhältnis zur gegenständlichen Welt.«6 Auf der anderen 5 6
Cassirer (1994b ), 11. Dilthey (1957e), 378.
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Seite, soll mit Hilfe des Begriffs vom Wirkungszusammenhang7 der Widerspruch zwischen der unausweichlichen Subjektivität der Lebenserfahrung einerseits und den objektiven Formen, in denen die historische Wissenschaft sich manifestiert, gelöst werden. Die geschichtliche Welt ist also ein Wirkungszusammenhang, »der in sich selbst zentriert ist, indem jeder einzelne in ihm enthaltene Wirkungszusammenhang durch die Setzung von Werten und die Realisierung von Werten seinen Mittelpunkt in sich selber hat, alle aber strukturell zu einem Ganzen verbunden sind, in welchem aus der Bedeutsamkeit der einzelnen Teile der Sinn des Zusammenhanges der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt entspringt.«S Wie andernorts bemerkt9, befinden sich hier die theoretischen Voraussetzungen der diltheyanischen historischen Rekonstruktion der Philosophie und der Lebensauffassung der Renaissance, d.h. jenes allgemeinen Bildes der Renaissance »in ihrem in sich selbst zentriert sein einer entscheidenden geschichtlichen Phase der modernen Welt.«to Bekanntlich entspricht die Verbindung zwischen den in der Einleitung von 1883 erläuterten Theorien und den von Dilthey in den 90er Jahren angeleiteten historiographischen Forschungen über die philosophische Anthropologie des XV. und XVI. Jh., sodann über das >>natürliche System der Geisteswissenschaften«, über Rationalismus und Pantheismus im XVII. Jh., nicht nur einer allgemeinen Eigenschaft der diltheyanischen Forschungsweise - nämlich einer, die philosophisch-theoretischen und die geschichtlichen Elemente zusammenzuhalten sucht -, sondern auch einem genauen Arbeitsprogramm, das in der Fortsetzung der Einleitung einen gesonderten Band über die Renaissance und die Reformation vorsah. Diltheys Abhandlungen über die Renaissance liefern also gleichzeitig eine Probe aufs Exempel der Anwendung einer >>historischen Methode«, die sich der Untersuchung der Zusammenhänge zwischen den Formen der Lebensintuitions und der Gesamtheit eines aus der Geschichtsepoche entstandenen Wirkungzusammenhangs widmet, und die Dilthey (1927), 152 ff. Ebd., 138. 9 Siehe das Kapitel Dilthey e il Rinascimento in meinem Buch Cacciatore (1985), 57 ff. Ich möchte auf dieses Kapitel verweisen, auch bezüglich der Sekundärliteratur über dieses von mir schon ausführlich behandelte Thema (hinsichtlich der bibliographischen Hinweise über Diltheys Rolle in der Geschichte der Renassanceinterpretationen, vgl. Fußnote 17, 64). Aus diesem Kapitel übernehme ich selbstverständlich die wichtigsten lnterpretationslinien. 10 Wie wir in den folgenden Seiten zeigen werden, haben die Forscher hinsichtlich Cassirers Auffassung der Renaissance der Wichtigkeit seiner These der »Epochenechtheit der Renaissance«, nämlich als philosophische und kulturelle Epoche sui generis (siehe Rudolph [1997], 104 ff.) bestanden. 7 8
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ein historiographisches Forschungsziel verfolgt, nämlich den Focus der Renaissancewelt in jenem entscheidenden Übergangsprozeß -von Dilthey bereits im zweiten Band der Einleitung festgestellt - von der teleogisch-metaphysisch strukturierten Welt des Mittelalters zur geschichtlich-anthropologischen und naturwissenschaftlichen der Moderne. Gerade dieser letzte Aspekt kennzeichnet die Spezifikation von Diltheys Forschungen, die mit Recht als wichtiger Übergang zu einer Auffassung von der Renaissance gilt, die die >ästhetischen< und >individualistischen< Grenzen der Sichtweise Burckhardts überschreitet. Das von Burckhardt präsentierte Bild der Renaissance 11 wurde von Dilthey insbesondere aufgrund seiner Eignung geschätzt, sowohl Rankes Interpretation - die die italienischen Ereignisse in das allgemeine politische Bild Europas im XVI. Jh. einzeichnete -, als auch Voigts Auffassung, die zu sehr das Bild von der Renaissance als Wiederentdeckung des Altertums favorisierte- zu korrigieren. Nach Diltheys Meinung war es Burckhardt gelungen, den im wesentlichen italienischen Charakter des Renaissancephänomens herauszustellen und begreiflich zu machen, daß die Kultur der Renaissance im wesentlichen eine nationale Kultur war. Doch der Kern von Burckhardts Rekonstruktion liegt nach Dilthey in der These von der Entstehung einer echten N euschöpfung, aus deren Wurzeln die wesentlichen Merkmale und die Haupterrungenschaften der Moderne hervorgehen. Dilthey ist allerdings der Meinung, daß die Schlußfolgerungen aus dieser Beobachtung von Burckhardt nicht bis in die letzte Konsequenz gezogen wurden, insbesondere im Blick auf die Hauptaussage, derzufolge sich »im Italien der Renaissance erhebt sich zuerst voll und ganz der moderne Mensch«12, erhebt. Nach Dilthey ist dieses Bild zu erweitern, d.h. man hat von einer allgemeinen Betrachtung der Renaissance zu einer detaillierteren Analyse der politischen Philosophie, also dann zur Staatstheorie und zu deren Verbindungen mit den Wissenschafts-, Kunst- und Lebensformen zu gelangen. »Der moderne Mensch« - so heißt es bei Dilthey im Jahre 1862 -, »erscheint im Italien der Renaissance in der Durchbildung der Individualität, in dem objektiven Verhältnis zu der Gesellschaft und der Natur, in der Allseitigkeit, in der Ausbildung eines gesonderten Privatlebens, in der Entstehung der Gesellschaft als einer neutralen, die Stände ausgleichenden Sphäre, und in der Erhebung des persönlichen Ehrgefühls an die Stelle einer objektiven Sittlichkeit.«13 11 Dilthey rezensierte Die Kultur der Renaissance in Italien in 1882 (siehe Dilthey [1958], 70-76). Im Allgemeinen, über die Beziehung zwischen Dilthey und Burckhardt möchte ich auf meinen Band Cacciatore (1985) hinweisen. 12 Dilthey (1958), 73. 13 Ebd., 73-74.
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In Diltheys wie auch in Cassirers Arbeiten finden wir freilich eine Anerkennung für Burckhardts Modell, die sich insbesondere auf die große Intuition von der Bedeutung des »unabhängigen Wertes« und der »selbstständigen Kraftdas Ergebnis wirtschaftlicher, sozialer und geistiger Bewegungen, und eben in dieser Richtung hatte zuletzt der Humanismus entscheidend gewirkt. Der religiöse Ausdruck hiervon war, daß der Mensch, einsam mit Gott, sich auf seinem eigenen Wege und durch seine eigene Arbeit sein Verhältnis zu dem Unsichtbaren bildete. Dies wurde durch Umstände unterstützt, welche durch eine denkwürdige, geschichtliche Fügung eben zu dieser Zeit in Wirksamkeit gelangten.>grandioses Bild>wahrhafte Universalität nur durch die Vertiefung jeder konkreten Einzelheit, jeder Nuance des historischen Details erreicht werden kann.>konkreten Allgemeinen>in sich selbst zentriert sein>die Arbeit des Gedankens der geistigen Gesamtbewegung und ihren treibenden Kräften nicht als ein Abgesondertes und Absonderliches gegenübersteht[ ... ]. Sie ist nicht nur ein Teil, der sich mit anderen Teilen verbindet, sondern sie stellt das Ganze selbst dar und bringt es zum begrifflich-symbolischen Ausdruck.erfuhr nun eine Umwandlung, welche derjenigen ähnlich ist, die in Griechenland aus der Auflösung der alten Geschlechtsverfassung hervorging. Indem die feudalen Ordnungen, die Gliederung der Christenheit unter Papst und Kaiser sich lösten, entstand die neuere europäische Gesellschaft und inmitten ihrer der moderne Mensch.«16 In diesem Typus von modernen Menschen, dessen erstes Vorbild nach Diltheys Auffassung in Petrarca verkörpert ist, aber auch in dem Menschen aus dem Norden auf seinem Weg zur Aufklärung- hier bezieht er sich auf Erasmus und Luther -, besteht >>unser eigener Herzschlag[ ... ] etwas, was wir mit ihnen teilen und was sie von allem absondert, das früher gewollt, gefühlt oder gedacht wurde.«17 Selbstverständlich beschränkt sich Dilthey nicht nur auf diese allgemeine Betrachtung, sondern wendet im Laufe seiner Rekonstruktion ohne Einschränkung die obengenannte auf dem strukturellen Wirkungszusammenhang basierende Methode an. Indem Dilthey das, was er als >>das klassische Bild« von Burckhardt bezeichnet, selbst verwendet und integriert, stimmt er und über die Funktion der geschichtlichen Erinnerung als >>neue Intellektsynthese«, siehe meinen in FN 1 Beitrag in La lancia di Odino, insbes. 49-52. 16 Dilthey (1957d), 351. 17 Ebd., 352.
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der Annahme zu, daß die Entstehung der »objektiven Behandlung« selbst ein typischer Aspekt der Renaissancekultur ist. >>Was hier als >objektive Behandlung< bezeichnet wird, ist, so behauptet Dilthey, zunächst durch eine eigentümliche Emanzipation einzelner Sphären von der teleologischen Metaphysik bedingt, wie auch bestimmt durch die Befreiung der Wissenschaft von der >>Unterordnung unter das mittelalterliche Schema des religiösen Vorstellens.« Andererseits >>bewirkte die veränderte Lage des Individuums in der äußeren Organisation der Gesellschaft eine Befreiung der individuellen Kräfte18 und des individuellen Selbstgefühls. So entstand eine neue Stellung des erkennenden Subjekts zur Wirklichkeit. Endlich nahm mit dem Wachstum des individuellen Selbstgefühls und der Ausbildung der objektiven Betrachtung eine freie Mannigfaltigkeit der Weltansicht zu.«19 In dem Hinweis auf die sozialen Interdependenzen findet sich ein charakteristisches Element der diltheyschen Interpretation der Renaissance. Sein methodischer Ausgangspunkt besteht nämlich in der Beachtung des >Unterschiedlichkeitsgrades< zwischen den tatsächlichen jeweiligen Zielzusammenhängen einer Gesellschaft und den umfassenden monistischen Schemata der Vergangenheitsbeurteilung. Gerade mit dieser veränderten Blickrichtung auf die Wechselbeziehung zwischen Kultur und Gesellschaft läßt sich der Ursprung des Verbreitungsprozesses sämtlicher >>individueller Kräfte« wie auch die politische und soziale Umwandlung der italienischen Städte in jener Zeit erkennen. Der Verbreitungsprozeß der individuellen Kräfte entwickelt sich im philosophischen und anthropologischen Bereich; die soziale Umwandlung im historischen. Es ist also alles neu in dieser entscheidenden Geschichtsphase. Alles zeigt, wie unbekannt die Folgen waren, die die Entfaltung der menschlichen Kräfte mit sich bringen konnte. Für die Politik ließ sich das Ende des andauernden Kriegszustandes, wie er typisch war für das Mittelalter, feststellen, und dies ermöglichte die Entstehung von >>geordneten Rechtszuständen, Industrie, Handel, Wohlstand der bürgerlichen Klassen.« Die Städte werden immer mehr >>Mittelpunkte spontaner industrieller Tätigkeit und wachsenden Komforts.« >>Die Menschen blicken in eine grenzenlose Zukunft. Europa bildet ein Arbeitsfeld, auf welchem Industrie und Handel 18 Dilthey hatte schon in der Einleitung öffentlich zugegeben, daß er den Begriff von >>geistigen Individuum«, wie dieser in der Renaissance vorkommt, von Burckhardt übernommen hatte. Das Zerbrechen der metaphysischen Einheit des Bewußtseins führt zu jener Trennung zwischen der äußeren und der inneren Seite, die die Voraussetzung nicht nur für die Verbreitung der objektiven Betrachtung in der Realitätsanalyse ist, sondern auch für die Verstärkung der >>subjektiven Empfindungneuen Wissenschaft«, andererseits mit der Spezialisierung der positiven Einzelwissenschaften verbunden sind, geht Dilthey in einer intensiven Synthese die wichtigsten Etappen jenes Selbstbehauptungsprozesses durch, in dem sich aus den anthropologischen und psychologischen Forschungen, sodann aber aus den Ergebnissen der Literatur und der Kunst der Renaissance die Grundzüge dieser neuen Zeit abzeichnen. In der Mitte dieser komplexen Bewegung steht >>die Person, welche das eigene Innere zu erfassen unternahm, um auf diese Ansicht ihre Lebensführung zu gründen. Petrarca und die moralphilosophischen Traktate aus der großen Zeit von Florenz, welche sich an die Stoa anschließen, stehen am Beginn dieser Bewegung. Das neue Wissen um den Menschen vertieft sich dann beständig in Vives, Cardano, Scaliger, Telesio, Montaigne und Giordano Bruno; drei neue Momente führen dann die wissenschaftliche Vollendung dieser Anthropologie herbei: die lnventarisierung und Systematisierung der stoischen Überlieferungen durch die holländische Philologie, die Anwendung der Galileianischen Mechanik auf das Seelenleben und endlich, seit Hugo Grotius, der Aufbau des natürlichen Systems von Recht, Staat und Religion auf die neue anthropologische Wissenschaft.psychophysischen Interpretation der Affekte« basiert, allmählich Gestalt an. Ihre Hauptergebnisse erreicht sie in Hobbes und Spinoza, obwohl Dilthey eher in Brunos Philosophie die überzeugendste Darstellung der Renaissancelebensanschauung sieht. Hier, behauptet Dilthey, findet die neue Auffassung des Menschen neben der neuen Auffassung der Natur ihren Platz, und diese neue Menschenanschauung entsteht aus der Kritik des theologischen Dogmatismus sowie aus einer bewußten Verherrlichung der Vorstellungskraft und des Wertes der Sinneswahrnehmung. In der Theorie des »heroischen Affektes« liegt »der Höhepunkt des philosophischen Bewußtseins [... ],in welchem Bruno das Lebensgefühl der Renaissance größer als irgendein anderer Denker ausgesprochen hat.«26 Aber auch Kunst und Dichtung zeigen ihre bedeutungsvolle Verbindung mit all dem, was die Renaissancezeit über die menschliche Natur, die neuen Anschauungen des Individuums, über das menschliche Verhalten, über die Theorie der Affekte und des Temperaments, sowie über den neuen Sinn der Liebe und der Schönheit zum Ausdruck gebracht hatte.27 Und schließlich ist da der andere bedeutungsvolle Aspekt der gesamten historischen Dynamik der Renaissance: die Bildung des natürlichen Wissenschaftssystems. Diltheys interpretative Hinweise sind zweifellos von besonderer Wichtigkeit, und sie könnten gleichsam als Basis für die Weiterentwicklung der historischen Forschung dienen. Er begreift nämlich, welch wichtige Verbindungen sich zu Beginn der Moderne sich zwischen Wissenschaft und Leben tatsächlich entwickelte. Das neue wissen26 Ebd., 436. Als Beweis für die Ähnlichkeit von Diltheys und Cassirers Renaissanceinterpretationen eignen sich die Seiten von Individuum und Kosmos, in denen Cassirer die entscheidende Rolle, die der Begriff von Kraft in Brunos Philosophie hat, unterstreicht. Für Brunos heroischen Affekt übernimmt Cassirer die warburgianische Ausdruckweise >Pathosformek »Will man die philosophischen Lehren über das Verhältinis von Freiheit und Notwendigkeit, wie sie in der Renaissance vortreten, in ihrer eigentlichen Tiefe fassen, so muß man überall bis zu dieser ihrer letzten Wurzel zurückgehen (Pathosformel).« Cassirer (1977), 79. 27 Für die Abschnitte die Dilthey Leonardo, Dürer, Raffaello, Michelangelo, aber auch Dichtern wie Shakespeare und Racine widmet, siehe Dilthey (1957d), 438 ff.
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schaftliehe Wissen- mit Galilei an der Spitze- führte nicht allein zu radikalen Änderungen in der Verwendung solcher Begriffe wie >Substanz< oder >Ursache< - die nun keine metaphysischen Prinzipien mehr sind, sondern >Hilfsbegriffe< für die Analyse und die Erfahrungsmessung -, vielmehr greift es bestimmend in die Veränderung der sozialen Verhältnisse ein, so wie seinerseits die Entstehung neuer Interessen und neuer Gesellschaftsschichten sich in der praktischen Funktion der Wissenschaft reflektiert. So schreibt Dilthey 1883 über die Wissenschaft, >>in demselben Maße, in welchem sie von der Untersuchung der letzten Gründe sich loslöste, empfing sie von den fortschreitenden praktischen Zwecken der Gesellschaft, dem Handel, der Medizin, der Industrie ihre Aufgaben. Der erfindende Geist in dem arbeitsamen, die Handgriffe mit sinnendem Nachdenken vereinigenden Bürgertum schuf der experimentellen und messenden Wissenschaft Hilfsmittel von unberechenbarer Bedeutung.«28 Auf dieser Basis rekonstruiert Dilthey die Bildung des natürlichen Systems der Wissenschaften, das auch die verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens, der Gesellschaft und der Geschichte umfaßt. Der Auflösungsprozeß der substanziellen Einheit der Metaphysik und die Gliederung des Wissens in die verschiedenen Lehren, zusammengenommen mit dem Versuch, die analytische Forschung auf das tägliche Leben zu übertragen, bilden die Grundlagen einer natürlichen Teleologie sowie eines Naturrechts. Selbst die Geschichtsforschung erlebt mit der Entstehung einer >>historischen Kritik« eine tiefe Veränderung, die einerseits auf die Erkenntnis der >>Vieldeutigkeit des geschichtlichen Stoffes« zielt, und die andererseits die Auseinandersetzung mit dem >>teleologischen Prinzip der Geschichtserkenntnis« sucht.29 Es gibt einen letzten Punkt von Diltheys Renaissanceinterpretation, die hier nicht unerwähnt bleiben darf, nicht zuletzt auf Grund seiner Verwandtschaft mit Cassirers Renaissance-Analyse. Dabei beziehe ich mich auf eine bestimmte Kontinuität, die den gesamten Bildungsprozeß der Moderne durchzieht und der die Voraussetzung für den Übergang von den Errungenschaften der Renaissance wie auch für den Beginn der Aufklärung darstellt. Es ist nämlich gerade der >>konstruktive Rationalismus«, der die bedeutende Brücke zwischen den zwei Hauptetappen der Moderne bildet. Das zeigt sich hauptsächlich in der engen Beziehung zwischen der kulturellen Entwicklung und den praktischen Bedürfnissen der Gesellschaft, den Veränderungen der Produktionsformen, der Einführung neuer technischer und wissenschaftlicher Mittel und der Handelsexpansion. >>Nur auf dem Wege des Versuchs«- schreibt Dilthey 28 Dilthey (1957c), 359. 29 Ebd., 374-375.
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1893- >>der Rechnung, der Entdeckung, der Erfindung konnte das Denken den Forderungen des Lebens genügen. Und nun lagen in derselben neuen bürgerlichen Gesellschaft, aus welcher diese modernen Aufgaben entsprangen, auch moderne Mittel ihrer Auflösung. Denn in ihr bildete sich nun im Gegensatz zu der antiken Trennung der arbeitenden Hand von dem wissenschaftlichen Geiste die schöpferische Verbindung der Industriearbeit mit dem wissenschaftlichen Nachdenken. Diese Verbindung der Arbeit mit dem forschenden Geiste im Schoße einer freien bürgerlichen Gesellschaft hat das Zeitalter der Autonomie und Herrschaft der Vernunft heraufgeführt. «30
Wie eingangs bemerkt ist es zur Klärung der Position Cassirers notwendig, auf die enge Verbindung zwischen dem theoretisch-begrifflichen Hintergrund der Kulturphilosophie und dem dazugehörigen Geflecht der symbolischen Formen einerseits mit der historiographischen Praxis andererseits zu achten. Die Forschung ist sich in der Beobachtung einig, daß Cassirer, gerade in der entscheidenden Phase der Erweiterung seines kritisch-gnoseologischen zu einem morphologischen Modell - wie er es im Rahmen seiner Symboltheorie und der ihr entsprechenden Logik der Kulturwissenschaften entwickelte - seine bedeutendsten historiographischen Werke über die Renaissance, über den Neuplatonismus und über die Aufklärung veröffentlichte. Es ging ihm um das Verständnis der genuinen Verbindung zwischen Denken und Geschichtlichkeit, zwischen den Formen des Geistes und dem Leben, zwischen der ursprünglich kreativen Kraft des Symbols und seiner Historisierung in den Ausdrücken und in den Produkten der menschlichen Kultur auf dem konkreten Boden historischer Forschung. Cassirers zahlreiche und umfassende Analysen der wichtigsten Persönlichkeiten und Eigenschaften der Renaissanceepoche können an dieser Stelle nicht ausführlich besprochen werden - zumal darüber bereits eine umfangreiche Literatur existiert. Daher seien hier lediglich die Grundlinien seines Interpretationssystems skizzieren, das an mehreren Stellen eine gewisse Verwandtschaft mit den Ergebnissen der Forschungen Diltheys zeigt. Cassirers Absicht - und dies im Einklang mit seiner >funktionalistischen< und >symbolischen< Auffassung von Geschichte - besteht hauptsächlich darin, die Ideengeschichte im allgemeinen und die Renaissancekultur im besonderen aus jedem abstrakten Schematismus und aus jeder durch eine Geschichtsphilosophie vorgegebene Epochenunterscheidung herauszunehmen. Noch in einer seiner letzten Abhandlungen, in der es 30
Dilthey (1957b), 257-258.
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um das Problem der >Originalität< der Renaissance geht, rief er dazu auf, die Begriffe >Mittelalter< und >Renaissance< nur noch ihrer typologischen Funktion nach zu betrachten und sie nicht als »Mittel für eine starre Einschränkung der historischen Perioden>Der Wille, Verbindungen zu finden, ermöglichte, sie immer, überall und zwischen allem zu finden; die Welt explodierte in einem Wirbel der Verwandtschaften, alles verwies auf alles, alles erklärte sich durch alles [... ]Jede Information wurde wichtig, sobald sie sich mit einer anderen verbinden ließ [... ] Diese Verbindbarkeit veränderte die Perspektive und verführte zu denken, daß jedes Wort nicht das bedeute, was es zu bedeuten schien, sondern von einem Geheimen und Verborgenen sprach.« Kann ich diesen Gedanken mit der so viel rauheren und dichteren SpracheHegels auf den Begriff bringen? >>Wenn der Kreis der Vermittlung in der Zauberei einmal aufgetan ist, so eröffnet sich das ungeheure Tor des Aberglaubens; da werden alle Einzelheiten der Existenz bedeutsam, denn alle Umstände haben Erfolge, Zwecke; jedes ist ein Vermitteltes und Vermittelndes, alles regiert und "_Die Werke Ernst Cassirers werden im Text mit folgenden Siglen zitiert: Philosophie der symbolischen Formen (PsF); Sprache und Mythos (SuM); Individuum und Kosmos (IuK); Keplers Stellung (KSeG); Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung (DwAw).
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wird regiert.verlötet< worden; ein Amalgamationsprozeß, der bis in die Gegenwart reicht. Öffnen wir ein bis heute benutztes Handbuch für Psychiatrie (die Erstausgabe datiert aus dem Jahre 1967) findet sich folgendes: »Das Denken des Schizophrenen ist ein magisches Denken, das sich den Animismus des Primitiven, eine Undurchdringlichkeit gegenüber Erfahrung und die enge Verhaftung mit metaphysischen Werten und archetypischen Symbolen zu eigen gemacht hat.wilden< Form des Geistes habe vielmehr das Begehren und neben dem Begehren die Furcht vor der Akzidentialität, vor den Kräften der Natur geherrscht. Das Geistige sei als eine über der Natur stehende Fähigkeit oder Macht aufgefaßt worden; aber was geistig war, sei noch kein Geist gewesen, weil es der Allgemeinheit entbehrt habe. Das Geistige sei vielmehr das noch vereinzelte, akzidentielle Selbstbewußtsein des Menschen gewesen, der nur einfaches Begehren gewesen se1. Das unvermittelte Selbstbewußtsein, das gewußt habe, daß es jene Macht unter seiner Gewalt habe, hätte zwischen seinem gewohnten Status und dem Status, für das es solche Macht war, unterschieden. Wenn er seinen gewohnten Arbeiten nachgegangen sei, der Jagd oder dem Fischfang beispielsweise, habe sich der Mensch mit einzelnen Gegenständen konfrontiert gesehen, von denen er genau gewußt habe, was er mit ihnen und nur mit ihnen anzufangen hätte. Aber das Bewußtsein dieser gewohnheitsmäßigen Existenz mit den ihr eigenen Impulsen und Aktivitäten sei etwas anderes gewesen als das Bewußtsein des Selbst als einer über der Natur stehenden Macht. Jene, die Magie praktizierten, hätten sich nicht mit diesem Status des Gewohnten identifiziert: sie hätten sich in ein anderes Bewußtsein und ein höheres Stadium verfrachtet. Ein Stadium, das als Gabe besonderer Menschen angesehen worden sei und die sich verwandelt hätten, um jene Macht zu sein, die sie, dank einiger erlernter Fertigkeiten, zur Wirkung hätten bringen können. Es habe eine sorgsam erwählte Menge von Individuen gegeben, die von den Alten eine Doktrin gelernt und eine dunkle Innerlichkeit entdeckt hätten. Die Magie sei- ganz allgemein- eine direkte Macht über die Natur. Sie habe besondere Menschen, das Wissen der Alten und diese dunkle Innerlichkeit angesprochen. Magie sei allein deshalb nicht mit Technik und Anwendung der Werkzeuge zu vergleichen, weil diese eine nur indirekte 4
G. W. F. Hege! (1969), 277.
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Macht über die Natur darstelle. Denn diese Form der indirekten Macht richte sich nicht auf die Natur allgemein, sondern auf die je einzelnen, naturgegebenen Gegenstände. Demnach setzte die Technik etwas voraus, was sich schon gebildet hätte und ursprünglich nicht gegeben sei: Die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Ich und Welt. Technik habe die Welt als ein gesetztes Außen, das Subjekt als gesetztes Innen vorausgesetzt. Sie habe die Autonomie von Subjekt und Objekt, die Autonomie des Ich und der Welt vorausgesetzt. Überdies habe die Technik vorausgesetzt, daß einige Objekte in gewissen Beziehungen zu anderen stünden, daß sie miteinander durch bestimmte und einzeln bestimmbare Relationen verbunden seien. Habe der Mensch die reziproken Beziehungen der Dinge, deren Gesetze gekannt, so habe er auch um deren Schwäche gewußt; er sei mit den Dingen mittels ihrer Schwäche verfahren und habe sich sich so bewaffnet, daß er sie angreifen konnte.s Die Technik als indirekte Macht über die natürliche Welt habe erst dann einen Ort, wenn der Mensch in sich frei sei und zuließe, daß die Welt der natürlichen Gegenstände und aller anderen menschlichen Objekte sich ihm frei gegenüberstelle. Die Magie dagegen sei folgendermaßen bestimmt: sie sei direkte, unmittelbare Macht, in der der Mensch sich der Natur gemäß der ihr eigenen Natürlichkeit und der ihr eigenen Begehren bemächtige. Die Magie sei Ausdruck einer >wilden< oder primitiven Welt. Aber genau in dieser Welt hätten sich jene Schritte des Geistes vollzogen, die zum zivilisierten Menschen führten. In Hegels Text ist die Magie (1) die erste, älteste und >wilde< Form der Religion, wenn wir sie denn Religion nennen wollen (wie Hegel angelegentlich präzisiert); (2) die Welt der Ununterschiedenheit von Subjekt und Objekt oder Ich und Welt; eine Welt, in der sich das Subjekt noch nicht gegen die Welt gestellt hat und wo ihm noch nicht gelingt, sich von ihr zu unterscheiden; (3) die Welt, in der Objektivität noch nicht in Form von einzelnen, begrenzten und klar voneinander unterscheidbaren Objekten geordnet, und (4) eine Welt, die vom Begehren beherrscht war.
3. Cassirers Text
In dem mit Die Herausbildung des Selbstgefühls aus dem mythischen Einheits- und Lebensgefühl überschriebenen Kapitel des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen beruft sich Cassirer auf die Philosophie der Religion von Hegel. (PsF II, 255 f.). Er zitiert drei signifis Ebd., 275-284.
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kante, oben zusammengefaßte Passagen aus dem Text; jene, in denen Hege! über das Selbstbewußtsein spricht, um das man in der Form des Begehrens wisse, und wo die Unterscheidung zwischen der direkten Macht der Magie und der indirekten Macht der Technik berührt wird. Das kurze, höchstens eine halbe Seite einnehmende Zitat bleibt in den gesamten drei Bänden der einzige Bezug auf diesen Text Hegels. Doch ich denke, daß Cassirer Hegel - zumindest in diesem spezifischen Fall mehr verdankt, als sich aus dieser kurzen und isolierten Passage schließen läßt. Vor dem Horizont dieser These möchte ich weitere Seiten des Kapitels über Die Herausbildung des Selbstgefühls zu lesen versuchen; Seiten, auf denen die Philosophie der Religion Hegels- die explizit in den dritten Teil des Mythos als Lebensform eingegangen ist- nur implizit erinnert wird. Die grundlegende Funktion der symbolischen Formen, so schreibt Cassirer hier, bestehe nicht darin, die äußere Welt zu reproduzieren oder auf die äußere Welt eine schon vollendete innere Welt zu projizieren. Vielmehr würden mittels der symbolischen Formen Innen und Außen, Ich und Wirklichkeit überhaupt das erste Mal bestimmt und erhielten zudem ihre reziproke Bestimmung. Das Ich und die Wirklichkeit seien keineswegs zwei bereits verfaßte Hälften, die nur darauf warteten, sich zu verbinden. Außerdem sei die Grenze zwischen Ich und Wirklichkeit nicht ein für alle mal festgeschrieben, sondern jedes dieser Elemente setze diese Grenze in unterschiedlicher Weise. Der von sich selbst ausgehende Mythos forme und konstruiere den Begriff des Ich (oder der Seele) und die Auffassung von der Welt objektiven Geschehens. Für den Mythos sei die Seele kein vollendetes Modell, sondern ein flüssiges und gestaltungsfähiges Element, das aus genau diesem Grund ebenso als Beginn, wie als Ende des mythischen Denkens ausgewiesen werden könne (PsF II, 186 f.). Das Zentrum, das die geistige Organisation der Welt in Gang bringe, sei nicht das bloße Wissen, sondern das Handeln. Und im Handeln >>beginnen sich das erste Mal die Felder des Subjektiven vom Objektiven, beginnt sich die Welt des Ich von der Welt der Dinge zu unterscheiden.« Die Handlung stehe im Zentrum der magischen Sicht der Welt; sie sei ihr Kern und Magie sei von Handlung gesättigt. Mittels seines Wunsches oder Triebes positioniere sich der Mensch das erste Mal als Gegenüber der Dinge und behaupte sich als von ihnen unabhängig. In der magischen Sicht der Welt finde jene unbegrenzte Macht des Ich ihren Ausdruck, für
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die Sigmund Freud den Begriff der >>Allmacht des Gedankens« geprägt habe.6·(PsF II, 188; 253) Dabei zeige sich das Ich gerade beim Versuch, sich die Dinge gefügig zu machen und zu beherrschen, als von den Dingen in Besitz genommen. Die Fähigkeiten des Ich würden nach Außen projiziert. Worte und Sprache stellten sich als dämonischen Substanzen dar. Aus der Intensität der sinnlichen Erfahrung des Ich und der Hypertrophie seines Handeins gehe nur der Schein des Handeins hervor. Weil das Ich zu sich selbst komme, müsse es im darauf folgenden Moment daran gehen, die unbegrenzte Handlungsfähigkeit einzugrenzen, die es sich in der Begegnung mit den Dingen zugeschrieben hätte. Nurkraft der Vermittlung von Objekten und Ich ließe sich ein eigener unabhängiger Wert erlangen. (PsF II, 189) Die Nähe von Cassirers Text zu Positionen aus der Philosophie der Religion Hegels erscheint auf den Seiten, auf denen Hegels Text wörtlich zitiert wird, weitaus evidenter. Wenn der Mensch beginnt, sein Handeln nicht in Form von Bildern oder Sprache, sondern mittels der Werkzeuge auf die Dinge zu richten, bewegt sich seine Handlung (auch jene, die sich im Ionern der magischen Welt vollzieht) auf einen Bruch oder eine Krise zu (PsF II, 256). Der Gebrauch der Werkzeuge sorge dafür, daß das Handeln objektiven Bedingungen untergeordnet würde und die äußere Welt nun ihr bestimmtes Sein erlange. Je mehr Vermittlungsschritte zwischen dem Wunsch und seinem Objekt angesiedelt worden seien, desto mehr hätten sich Subjekt und Objekt voneinander distanziert. Wie in einem festgefügten Kreislauf hätten sich die Objekte nun dem Begehren widersetzt. Das Sein sei in einzelne, miteinander in Beziehung stehende, voneinander aber unabhängige Elemente zerfallen. (PsF II, 258) Genau dies Thema sollte in unveränderter Form in Sprache und Mythos auftauchen. Es erscheint uns überaus selbstverständlich und einsichtig, daß sich für uns die Welt in einzelne Formen und individuelle, räumlich begrenzte Objekte ordnet und damit unserer sinnlichen Wahrnehmung dienlich gemacht worden ist. Alles in dieser Welt resultiert aus der Zusammensetzung klar begrenzter Individualitäten, wo sich das eine nicht mit dem anderen vermengt. >>Wie das sprachliche Bewußtsein, so hat auch das mythische Bewußtsein die Unterschiede der Einzelgestalten nur, indem es diese Unterschiede fortschreitend setzt, indem es sie aus einer ursprünglich indifferenten Einheitsanschauung >ersondert>keine Grenzen für das subjektive Wollen« und >>die Zauberei ist aber im allgemeinen gerade dies, daß der Mensch nach seiner Natürlichkeit, Begierde es in seiner Gewalt hat.>Der Mensch also noch ungeteilt in Rücksicht auf sein Wollen; da ist es Begehren und Wildheit seines Willens, die das Herrschende sind.Das leitende Prinzip der Magie, die Technik auf animistische Weise zu denken, ist die der Allmacht des Gedankens.>kommt deutlich in Zwangsneurosen zum Vorschein.>können von einem begründbaren, sogar bis zum Mord reichenden Schuldgefühl bedrängt werden.>ist dem primitiven Menschen, der glaubt, allein mit seinem Denken die äußere Welt verändern zu können, überaus nah. [... ] Die Praktiken der Primärzwänge der Neurotiker gehören absolut zur magischen Natur.Welterklärungssystemverkleinerten< Form im Vgl. hier Anm. 5. S. Freud (1994, II), 78. 9 G.W.F. Hege! (1969), 280. to Ebd., 277. 7
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Aberglauben überlebt hat. (Freud) Drittens ersetzt die Magie in den Gesetzen der Psychologie die Naturgesetze, vermengt einen Realzusammenhang mit einem Idealzusammenhang, identifiziert den Teil mit dem Ganzen und verschweißt die Bezeichnung unauflösbar mit der Substanz der Dinge. Viertens setzt der Primitive wie ein Kind >>ein immenses Vertrauen in die Macht seiner Begehren.« In der Welt der Magie kennt das Denken keine räumliche oder zeitliche Distanz und behandelt nicht nur das, was ist, sondern auch Vergangenheit und Zukunft als wären sie gegenwärtig. Auf dieser Grundlage sollte die Magie (in uns näher liegenden Jahren) als eine Technik gedeutet werden, die eigens konstruiert wurde, um die Krise der Gegenwart zu dämpfen. Um eine Front gegen die aus der Nichtexistenz herleitbare Angst aufzubauen, seien in der magischen Welt die Individualität der Person und die Beharrlichkeit des Ich als evidente und sichere Daten entworfen worden. In der magischen Welt erschien die Seele als >>eine fragile Existenz, die droht, von der Welt verschluckt und ausgelöscht zu werden.« In unserer Welt werden >>eine Präsenz gegenüber der Welt>eine Welt, die sich präsent macht>genau diese Erfahrung liegt der Magie insofern zugrunde, als die Dualität Gegenwart-Welt ein vorherrschendes und charakteristisches Problem bildet.Natürlichkeit< präsentiert. Das Drama der Magie, das Risiko, nicht zu sein und von diesem Risiko erpreßt zu werden, wird mit der Welt des Schizophrenen verglichen. Die Dissoziation der Person mildert oder unterdrückt die Scheidung von Ich und Welt und die Krise der Objektivität der Welt wird vom Schizophrenen gelöst, indem er die Dehnbarkeit des Wachses nutzt, das die Ränder der Dinge verwischt.11
5. Ein Schützengraben Wie verlief der Übergang von einer Gesellschaft in die andere, wie die Sichtweisen dieser Welt und ihrer Lebensformen, die im Lauf der Geschichte aufeinander folgten? Gibt es in dieser Abfolge und den Weisen, wie diese unterschiedlichen Phasen einer mentalen Entwicklung der Individuen sich artikulierten, eine Gemeinsamkeit? Gibt es gemeinsame Regeln, Formen oder Gesetze dieser oder jener Abläufe? Wenn es Gesetze der Entwicklung gibt, die das gemeinsame Leben der Einzelnen während der kurzen Existenz ihres Lebens regeln und regelten, gibt es dann auch 11 De Martino (1973), 93 f. und 155.
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länger, wenn auch nicht ewig gültige Gesetze der Zivilisation? Hat die Forschung zu einer» Mentalitätsgeschichte des Menschen«, die die >Prinzipien< einer zu Nationen werdenden Welt einschließt, überhaupt Sinn?12 Könnte man, wie Vico es beabsichtigte, von einer Betrachtung des Geistes der >>einzelnen Menschen>eines menschlichen Geistes der NationenResiduen< sogar die Basis für einen >regressiven< Prozeß sein? Eröffnen sie gar die Möglichkeit, eine unschuldige Zeit >wiederzuerobern