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German Pages 268 Year 2018
Felix Reinhardt Interkulturelles Lernen im Geographieunterricht
Pädagogik
Felix Reinhardt (Dr. rer. nat.), geb. 1985, lebt als Lehrer in Potsdam. Er promovierte am Lehrstuhl für Geographie und ihre Didaktik an der Friedrich-SchillerUniversität.
Felix Reinhardt
Interkulturelles Lernen im Geographieunterricht Zur Konzeptionalisierung eines begegnungsorientierten Ansatzes
Dissertation, Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2017
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Inhalt
1. Einleitung | 7
1.1 1.2 1.3 1.4
Problemhinführung | 7 Der Fall aus dem Unterrichtsalltag | 8 Fragestellung | 9 Vorgehen | 11
2.
Bisherige Konzepte des interkulturellen Lernens in der Geographiedidaktik | 15
2.1 Das Fremde in der Geographie und in der Geographiedidaktik | 15 2.2 Konzepte des interkulturellen Lernens in der Geographiedidaktik | 36 2.3 Konzepte des interkulturellen Lernens in der Pädagogik | 57 2.4 Das interkulturelle Lernen vermitteln | 64 3.
Begegnungsorientierung – eine neue Konzeptionalisierung interkulturellen Lernens | 67
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Die Begegnung | 69 Die kulturelle Begegnung | 89 Die kulturelle Begegnung reflektieren | 120 Über kulturelle Begegnungen in Begegnung kommen | 129 Grundpfeiler eines begegnungsorientierten Konzepts des interkulturellen Lernens | 136
4.
Umsetzungsmöglichkeiten eines begegnungsorientierten Konzepts des interkulturellen Lernens im Geographieunterricht | 141
4.1 Die medial vermittelte Begegnung | 142 4.2 Die originale Begegnung | 205 5.
Begegnungsorientiertes interkulturelles Lernen lernen und lehren | 231
5.1 Interkulturelles Lernen lernen | 231 5.2 Interkulturelles Lernen lehren | 235
6.
Zusammenfassung und Fazit | 239
7.
Literatur | 247
1. Einleitung
PROBLEMHINFÜHRUNG Interkulturelles Lernen ist ein „Unterrichtsprinzip“, das längst auch den Geographieunterricht erreicht hat (RINSCHEDE 2007: 204). Fachpolitisch wird es sogar als „besonders wichtige[s] Anliegen des Geographieunterrichts“ gewichtet (DGfG 2006: 7). Interkulturelles Lernen zielt darauf ab, die Schüler1 auf ein Zusammenleben in einer kulturell pluralistischen Gesellschaft vorzubereiten. Seit der Einwanderungsbewegung nach Deutschland durch die Arbeitsmigration der 60er und 70er Jahre gilt es im Geographieunterricht, nicht nur Ursachen und Bewegungsmuster von Migration nachzuvollziehen. Zusätzlich braucht es auch Unterrichtssettings, die die Folgen von Migration thematisieren (COBURN-STAEGE 1995: 13-14). Geographieunterricht soll heute dazu beitragen, ein „ausschließlich friedliches gesellschaftliches Zusammenleben“ zu ermöglichen (BUDKE 2008: 9). Das Konzept ist dabei stark normativ aufgeladen. Nachdem sie Interkulturalität gelernt haben, sollen Schüler tolerant, friedlich und emphatisch sein. Sie sollen sich solidarisch, sensibel und verständnisvoll zeigen (SCHRÜFER 2009: 156). Die Schüler dürfen keine Vorurteile haben und sollten sich für die Gleichheit aller einsetzen. Sie sollen ihre eigene2 Perspektive als wahlweise ethno- oder eurozentristischen Blick erkennen (ebd.: 157).
1
Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form gemeint.
2
Die Begriffe „fremd“ und „eigen“ sind zentrale Bezeichnungen in dieser Arbeit, die ich deshalb kursiv hervorhebe.
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Wie sich diese Ziele in der Unterrichtsgestaltung umsetzen lassen, habe ich während eines Praktikums an einem Thüringer Gymnasium erlebt. Einige Eindrücke werde ich im Folgenden schildern.
DER FALL AUS DEM UNTERRICHTSALLTAG Ich begleitete während eines Praktikums eine siebte Klasse im Geographieunterricht. Ich saß in den Unterrichtsstunden im hinteren Teil des Klassenraums und beobachtete. In der folgenden Stunde achtete ich besonders auf die Teilaspekte „inhaltliche Beteiligung der Schüler“ und „Lehrerverhalten im Unterricht“ (TOPSCH 2002: 97ff.). Der zum damaligen Zeitpunkt gültige Lehrplan sah die Behandlung des Kulturerdteils „Orient“ vor (THÜRINGER KULTUSMINISTERIUM 1999: 31). Neben dem Kennenlernen des Kulturerdteils zielte die Lehrperson auch darauf ab, den Sinn von Kulturerdteilen als Ordnungsstruktur der Welt im Kontext moderner Migrationsbewegungen zu diskutieren. Um die Verräumlichungsmöglichkeiten der in dem Konzept zentralen Kategorie der Religion in den Blick zu bekommen, wählte die Lehrperson einen exemplarischen Einstieg. Bezugnehmend auf die Aussage des Bundespräsidenten a. D. Christian Wulff sollte in einer Gruppendiskussion erörtert werden, ob der Islam – eigentlich Kriterium des Kulturerdteils Orient – mittlerweile auch zu dem Kulturerdteil Europa, konkret zu Deutschland, gehört. Das Lernziel der Lehrperson bestand darin, dass die Lernenden erkennen mögen, dass Muslime ihren berechtigten Platz in Deutschland haben. Die Lehrperson las zum Anfang der Stunde das Zitat des Bundespräsidenten, der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland, vor. Dazu legte sie eine Folie auf, die die Kriterien des Kulturerdteils Europa zeigte. Unter der vorherrschenden Religion war das Christentum angegeben. Die Lehrperson fragte, ob man die Kriterien des Kulturerdteils verändern muss. Lange wollte sich niemand zu Wort melden. Schließlich äußerte sich die Schülerin Maria und erzählte, dass „Araber“ auf sie „anders“ wirken. Sie könne das nicht erklären, aber das sei so. Darum gehören „die“ für sie nicht „wirklich“ zu Deutschland. Sofort merke sie, ob jemand fremd sei und dann habe sie gleich ein „anderes“ Gefühl. Sie erntete wissendes Nicken in ihrer Mädchenrunde. Nico erzählte danach von seiner Mutter, die „Hartz IV ist“.
Einleitung | 9
Er sprach mit bedrückter Stimme. Der Schüler wolle nicht, dass ihm Ausländer später einen Arbeitsplatz wegnehmen. Ein weiterer Diskutant geriet darauf in Rage. Er habe einen Freund aus Russland in der Stadt und er lehne es ab, wie andere Mitschüler über „Ausländer“ reden. Andere Schüler berichteten von einem Berlinbesuch, bei dem ihnen der Stadtteil „Neukölln“ ganz fremd vorkam. Sie erzählten von neuen Gerüchen, von laut sprechenden Menschen, dem Treiben auf der Straße, von Kopftüchern und „Dönerbuden“. Sie hätten sich nicht mehr „heimisch“ gefühlt an diesem Ort. Manche kommentierten das mit der Aussage, dass sie nicht wollten, dass ihre Stadt auch bald so aussehe. Die Lehrperson wirkte in der Diskussion zunehmend engagiert. Sie entgegnete Nico, dass mehr junge Migranten gebraucht würden für den Arbeitsmarkt, weil die Gesellschaft immer stärker altere. Sie beteiligte sich und sprach einzelne Schüler an. Die Lehrperson argumentierte mit Statistiken zur Migration und las ein Gedicht vor, in dem die Gemeinsamkeit aller Menschen betont wurde. Insgesamt verstand sich die Lehrperson nach meiner Interpretation als jemand, der die Schüler gerade dann überzeugen wollte, wenn die Diskussion in eine unerwünschte Richtung abzudriften drohte. Was mich aufmerken ließ, war, wie sehr die Schüler durch verunsichernde Erlebnisse im Miteinander bewegt waren. Die Schüler äußerten ihr Erleben auf emotionale Weise. Sie berichteten nicht von Gesprächen oder kommunikativen Missverständnissen, sondern allein vom Erleben der Situationen. Der eigentliche Einstiegsimpuls für den Unterricht, nämlich die Diskussion der Kriterien der Kulturerdteillehre, trat in den Hintergrund. Die Schüler interessierten sich nicht so sehr für Strukturmodelle. Sie gingen von dem aus, was sie in ihrer Welt umgibt. Zudem war interessant, dass die Thematisierung von Orten eine wichtige Rolle spielte. Das Vor-Ort-sein ermöglichte ihnen einen Fundus an Erlebnissen.
FRAGESTELLUNG Diese Unterrichtsstunde zeigt sehr wertvolle Momente, die vermuten lassen, dass die Lehrperson und die Klasse in einem guten Verhältnis zueinander standen. Denn manche Schüler trauten sich, etwas von sich zu offenbaren. Knüpft man an das an, was „Schüler in dem Moment wirklich bewegt“ (UHLENWINKEL 1999: 152-153), so fallen zwei Aspekte auf. Sie berichten
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von ihren Erlebnissen aus Begegnungen3 mit Menschen und ihren Erlebnissen aus Begegnungen mit Orten. Diese Begegnungen haben jeweils ein irritierendes Potential. Hierbei handelt es sich um grundlegende menschliche Empfindungen. Wohl ein jeder hat sich schon einmal in irgendeiner Form fremd gefühlt. Vielleicht eröffnete sich in einer bestimmten sozialen Gruppe. Das Fremdeln kennt man schon von kleinen Kindern, die sich scheu hinter den Beinen der Mutter oder des Vaters verstecken, wenn ein Unbekannter mit ihnen Kontakt aufnehmen will. Auch gibt es die Erlebnisse, die sich im Kontakt mit bestimmten Orten eröffnen, die man als fremd erlebt. Am offensichtlichsten ist es, wenn einem die Orientierungsfähigkeit an einem Ort fehlt oder man eine fremde Sprache auf Schildern nicht identifizieren kann. Doch es geht darüber hinaus. Es stelle sich an Orten ein Unbehagen oder eine Faszination ein, dass/ die sich nur schwer fassen lässt. Diese „Momente“ im Unterrichtsgeschehen können aufgegriffen und didaktisch genutzt werden. Die Frage dieser Arbeit ist daher, wie sich interkulturelles Lernen für den Geographieunterricht von der (verunsichernden) Begegnung aus konzeptualisieren lässt. Mit der Fragestellung verfolge ich bestimmte Ziele. Durch diese Arbeit soll(en) • eine begegnungsorientierte Perspektive zum interkulturellen Lernen ein-
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gebracht werden, um zur konzeptionellen Vielfalt des interkulturellen Lernens für den Geographieunterricht beizutragen; der geographiedidaktische Beitrag zum fachübergreifenden Prinzip des interkulturellen Lernens gestärkt werden, indem seine theoretische Fundierung aus geographischer Perspektive erfolgt; die Theorie-Praxis-Verzahnung des interkulturellen Lernens im Geographieunterricht gestärkt werden, indem aus einer theoriegeleiteten Analyse konkrete Vorschläge zu Zielen, Inhalten und Methoden formuliert werden; die hier vorgeschlagene Perspektive des interkulturellen Lernens durch die Aufarbeitung von Unterrichtsmaterial anschaulich werden; das Lernpotential des interkulturellen Lernens, das von der Begegnung ausgeht, herausgestellt werden;
Das Alltagsverständnis des Begriffs „Begegnung“ wird im Kapitel 3 wissenschaftlich geschärft, es reicht bis dahin aber zum Nachvollziehen der Argumentation aus.
Einleitung | 11
• neue Ansatzpunkte zur Vermittlung des interkulturellen Lernens entwi-
ckelt werden.
VORGEHEN Ich werde die Forschungsfrage nach einer Konzeptionalisierung des interkulturellen Lernens im Geographieunterricht, dass die Begegnung berücksichtigt, in drei Schritten beantworten. Im ersten Schritt setze ich mich in Kapitel 2 mit dem Forschungsstand zu den Konzepten des interkulturellen Lernens auseinander. Zunächst werde ich in einem historischen Abriss zeigen, dass Geographie immer schon das Fremde thematisierte, doch dabei die Begegnung aussparte. Stattdessen ist der Versuch zu erkennen, dass die Einlassung auf Fremdes vermieden werden sollte. Dieses Problem setzt sich bis heute im interkulturellen Lernen fort. Um diesen Befund zu bestärken, untersuche ich die Konzepte von BUDKE (2004) und SCHRÜFER (2009), welches die beiden differenziertesten sind, die bis heute vorliegen. Auch eine Schulbuchanalyse in der Geographiedidaktik von MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE (2007) ziehe ich mit heran. Danach prüfe ich, ob in der breiter angelegten Debatte der interkulturellen Pädagogik ein begegnungsorientiertes Konzept existiert und es möglicherweise adaptiert werden kann. Am Ende des Kapitels unterstreiche ich mit einer Studie von ADAMS (2004) zur Einstellung von Lehrern zum interkulturellen Lernen, dass auch von Seiten der Vermittler eine Verunsicherung mit dem Konzept einhergeht. Der zweite Schritt besteht in Kapitel 3 in der Ausarbeitung eines neuen Konzepts des interkulturellen Lernens für den Geographieunterricht. Dafür berücksichtige ich, dass ein fachdidaktisches Konzept bestimmten Anforderungen genügen muss. Es muss seine wissenschaftliche Fundierung, seine wissenschaftliche Bedeutsamkeit und seine gesellschaftliche Relevanz nachweisen (BÖHM in RHODE-JÜCHTERN 2004: 67). Ein Konzept braucht dabei eine konkrete Ziel- und eine Inhaltsdimension. Zudem verkörpert es ein bestimmtes Lernverständnis. Die Zieldimension betrifft die Frage des „Wozu?“ (RINSCHEDE 2007: 149). Ziele stecken ab, welcher Lernerfolg letztlich erreicht werden soll. Der Inhalt betrifft den Gegenstand, der zu vermitteln ist. Die Leitfrage ist das „Was?“ der Vermittlung. Sowohl der Inhalt, wie die
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Zieldimension, als auch das Lernverständnis eines Konzepts müssen theoretisch fundiert werden (HEMMER 2012: 15). Für den neuen Ansatz bedarf es der Klärung des theoretischen Verständnisses der interkulturellen Begegnung an Orten (Inhalt), um daraus Ziele und Methoden für den Geographieunterricht nachvollziehbar abzuleiten. Hinzu kommt die begründete Auswahl von passendem Unterrichtsmaterial. Ich beginne damit, das verunsichernde Potential einer Begegnung darzustellen (Kapitel 3.1). Der leitende Gedanke dabei ist, dass in der Begegnung Eigenes und Fremdes über die Fremderfahrung in Kontakt kommt und doch getrennt bleibt. Dazu beziehe ich mich auf den Phänomenologen Bernhard WALDENFELS. Mit ihm lässt sich das Fremde in der Begegnung als das deuten, was sich im Zeigen zugleich wieder entzieht. Gerade in dieser fehlenden Fassbarkeit liegt die Verunsicherung. Danach konkretisiere ich den interkulturellen Charakter einer Begegnung (Kapitel 3.2). Ich gehe von der Annahme aus, dass Begegnungen in unserer Alltagswelt stattfinden. Diese bestimmte „Lebenswelt“ will ich mit dem Sozialphilosophen Alfred SCHÜTZ genauer fassen. Schließlich lässt sich mit der Unterscheidung der Lebenswelt in „Heimwelt“ und „Fremdwelt“ nach WALDENFELS konkretisieren, wie es zur interkulturellen Begegnung kommt. Ich will das „Inter-“ des interkulturellen Lernens ernst nehmen. „Inter-“ meint in dieser Arbeit nicht „Multi-“ – im Sinne eines Nebeneinanders – oder „Trans-“ – im Sinne eines Jenseitigen –, sondern einen offenen Zwischenbereich, der durch die Begegnung entsteht. Ich werde verdeutlichen, wie dieser Zwischenbereich zu verstehen ist. Danach untersuche ich das Potential einer interkulturellen Begegnung mit Orten (Kapitel 3.3). Ich ziehe Überlegungen des Geographen Jürgen HASSE heran, um deutlich zu machen, dass sich das Verunsichernde einer Begegnung mit und an Orten über Atmosphären verstehen lässt. Darauf folgend stelle ich dar, dass es den Dialog braucht, um sich über kulturelle Begegnungen auseinandersetzen zu können (Kapitel 3.4). Verunsichernde Begegnungen kann man nicht mit sich selbst ausmachen. Es braucht dazu das Gespräch mit einem Gegenüber. Nach jedem der Kapitel 3.1 bis 3.4 ziehe ich Schlussfolgerungen für Ziele, Inhalte und Methoden der Konzeptionalisierung. In Kapitel 3.5 führe ich diese Schlussfolgerungen in Grundpfeilern eines begegnungsorientierten Ansatzes zusammen, die ich über sechs leitende didaktische Prinzipien ausdrücke. Schritt drei umfasst die Konkretisierung eines Konzeptes des begegnungsorientierten interkulturellen Lernens in den Kapiteln 4 und 5. Für die
Einleitung | 13
Darstellung der Umsetzungsmöglichkeiten unterscheide ich im Kapitel 4 zwischen einer medial vermittelten Begegnung und einer originalen Begegnung. Durch die Auswahl verschiedener Materialien wird deutlich, wie vielfältig interkulturelle Begegnungen thematisiert werden können. Dennoch kann die medial vermittelte Begegnung die originale Begegnung nicht ersetzen. Durch die Methode der Exkursion stelle ich dar, wie Schüler im Rahmen eines Unterrichtssettings selbst Erfahrungen über die Begegnungen sammeln und gemeinsam mit dem Lehrer auswerten können. Schließlich wird in Kapitel 5 erläutert, wie sich der Prozess eines begegnungsorientierten interkulturellen Lernens vollzieht. Zuletzt differenziere ich Anforderungen, die der begegnungsorientierte Ansatz an die Rolle des Lehrers stellt. Zunächst gehe ich nun auf bisherige Konzepte des interkulturellen Lernens ein.
2. Bisherige Konzepte des interkulturellen Lernens in der Geographiedidaktik
In diesem Kapitel wird überprüft, inwieweit sich die Notwendigkeit der Konzeptionalisierung eines begegnungsorientierten Ansatzes des interkulturellen Lernens aus dem aktuellen Forschungsstand ableiten lässt. Zwar ist das Konzept des interkulturellen Lernens mit seiner Etablierung in den 1990er Jahren vergleichsweise jung, doch geht die Thematisierung von kultureller Fremdheit auf eine lange Tradition im Geographieunterricht zurück. Daher gehe ich zunächst einer historischen Spur nach und stelle dar, inwieweit sich die Thematisierung des Fremden im Geographieunterricht seit den Anfängen des Fachs nachweisen lässt. Sodann erläutere ich, welche Verbindungslinien es von den frühen Anfängen zu vergleichsweise modernen Konzepten wie den Kulturerdteilen gibt. Danach gehe ich auf aktuelle Konzepte des interkulturellen Lernens ein. Schließlich werde ich darstellen, inwieweit die interkulturelle Pädagogik Ansätze bietet, um von dort einen begegnungsorientierten Zugriff für den Geographieunterricht zu adaptieren.
DAS FREMDE IN DER GEOGRAPHIE UND IN DER GEOGRAPHIEDIDAKTIK In diesem Kapitel werfe ich Schlaglichter auf die Entwicklung von Eigenem und Fremdem in der Geographie und im Geographieunterricht. Es soll untersucht werden, wie sich das Verhältnis dargestellt hat und inwieweit die Thematisierung von Begegnung eine Rolle spielte. Es ist dabei keine umfassende historische Analyse wie sie von HAAS (1998) vorliegt. Mit RATZEL und RITTER gehe ich zunächst auf die geistigen Urväter des Fachs Geographie ein,
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um die darauffolgende Illustration des Fremden in Schulbüchern in den Zeitgeist einordnen zu können. Die „Völkerschauen“ Hagenbecks in Deutschland und die Begegnung mit dem Fremden Um die Wende zum 20. Jh. hatte sich Geographie als selbstständiges Fach an der Schule etabliert (HAUBRICH et al. 1997: 114). Geographieunterricht fand in verschiedenen Schulformen statt. Es herrschte in Deutschland eine Zeit des allgemeinen Aufbruchs. Durch den technischen Fortschritt konnten Distanzen immer schneller überwunden werden. Die Veränderungen führten zu einem „raum-zeitlichen Schrumpfungsprozess“ (WERLEN 2003: 23). Das Reisen hatte noch nicht die heutige Verbreitung. Doch es wuchs das Interesse am Kennenlernen von Menschen aus anderen Erdteilen. Sinnbildlich dafür stand das Aufkommen der ersten „Völkerschauen“ in Deutschland. Mit dem abnehmenden Interesse an exotischen Tieren stellte die Präsentation von Fremden ein lukratives neues Angebot dar. Der Unternehmer HAGENBECK organisierte die Präsentationen der „Wilden“ oft zusammen mit Tieren in Zoologischen Gärten oder auf großen Plätzen in Städten des Kaiserreises am Ende des 19. Jahrhunderts (Abbildung 1). Die Abbildung zeigt die Inszenierungstechnik. HAGENBECK hat die Menschen und die Zebras genau zueinander angeordnet. Abbildung 1: Photo einer durch den Unternehmer Hagenbeck organisierten „Völkerschau“
Quelle: Sammlung Peter Weiß in Heise 2009: o. S.
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HAGENBECK erläutert den Erfolg seiner Ausstellungen in seinem Buch „Von Tieren und Menschen“ (1909). „Vom ersten Tag an war das Publikum geradezu enthusiasmiert [...]. Schon am frühen Morgen des Eröffnungstages begann das Zuströmen des Publikums, und trotz des großen Raumes, der zur Verfügung stand, nahm das Gedränge nahezu beängstigende Formen an.“ (HAGENBECK 1909: 85)
HAGENBECK inszeniert die Begegnung als ein exotisches Fest. Er verfeinert seine Präsentationsformen, um noch mehr Aufmerksamkeit für seine Ausstellungen zu erzeugen. „In Breslau zum Beispiel kam ich auf die Idee, meine Nubier1, alle in pompösem Schmuck ihrer Waffen, Federn und Felle, in den vornehmsten Equipagen, die man in Breslau haben konnte, durch die Stadt spazieren fahren zu lassen.“ (HAGENBECK 1909: 86)
Es wird deutlich, wie wichtig die Darstellung der Fremden für den Erfolg der Ausstellungen war und auf welche Weise HAGENBECK die Fremden auf den Völkerschauen inszenierte. Er spielte mit einer Faszination, die von den „Wilden“ dieser Ausstellungen bei der Begegnung mit den „Europäern“ ausging. „Ein junger, riesenhafter hamraner Jäger, der trotz seines ‚zarten‘ Alters von neunzehn Jahren über sechs Fuß maß, richtete wahre Verheerungen in den Herzen europäischer Damen an [...].“ (Ebd.)
Der Deutung des Fremden als Exot und Verführer stehen abwertende Beschreibungen der „Wilden“ gegenüber, die auf das Äußere abzielen. „Ihre Hautfarbe ist ein schmutziges gelb, der runde Schädel ist mit straffen schwarzen Haar bewachsen, die Augen stehen ein wenig schief, die Nase ist klein und platt.“ (Ebd.: 84)
1
Nubien ist ein Gebiet am Nil.
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Die Untersuchung des Fremden in der Wissenschaft In der Wissenschaft wurde die Erkundung der Fremden in der Ferne immer weiter vorangetrieben. Beispielsweise stellte der deutsche Arzt Rudolf VIRCHOW (1882) vor der Preußischen Wissenschaftsakademie aus Reisen seine gesammelten Erkenntnisse über die Einstellung des „Wedda“-Stammes zur Natur, zur Praxis des Wohnens, des Jagens, des Essens, usw. vor. Im Mittelpunkt stand hier nicht die Beschreibung der Begegnung selbst, sondern die Erforschung der Fremden durch den Versuch einer möglichst objektiven Erfassung. Von der Erforschung der „Urbevölkerung“ berichtet VIRCHOW folgendermaßen: „In dem bunten Gemisch von Völkerstämmen, welche die Insel Ceylon [heute Sri Lanka, F.R.] bewohnen, ist in der Betrachtung der Ethnographen schon seit langer Zeit ein Stamm besonders hervorgetreten, der der Weddas, weil er durch den niederen Stand seiner geistigen Entwickelung und durch die Mängel seiner körperlichen Bildung am meisten der Vermutung Raum bot, dass in ihm ein Rest der Urbevölkerung sich erhalten habe.“ (VIRCHOW 1882: 2)
Auffallend ist in VIRCHOWS Beschreibungen die trockene, auf Exaktheit ausgelegte Darlegung der „wilden“ Menschen, denen er sogar die Schädel vermisst. VIRCHOW legt großen Wert auf die Feststellung, dass seine Ausführungen auf „Thatsachen“ basieren. Die Untersuchung des Fremden sollte möglichst ‚objektiv‘ erfolgen. Teil der Forschungsarbeit war dabei auch die Missionierung, um die „Wilden“ aus ihrer niedrigen Zivilisationsstufe zu befreien und in das Eigene einzugemeinden. Wenn auch, wie VIRCHOW beklagt, mit wenig Erfolg. „Thatsache ist vielmehr, dass alle Versuche, die Weddas zur Sesshaftigkeit und zu einer höheren Cultur zu bringen, in noch höherem Maße gescheitert sind, als die Versuche, den Australiern eine eigentliche Civilisation beizubringen. Regierungsbeamte und Missionare sind unter ihnen thätig gewesen, viele Jahre lang, aber ihre Erfolge waren ganz äußerliche. […] ‚Es ist ein Haufen Freigeister’, sagte Wolf, ‚die dem Antrieb ihres bösen und wilden Naturels folgen’.“ (VIRCHOW 1882: 12f.)
In der Forschung etablierte sich bei der Untersuchung der „Wilden“ das Denken in Kultur- bzw. Zivilisationsstufen. Da die „Wilden“ dem damaligen Verständnis nach auf der untersten Zivilisationsstufe standen, symbolisierte
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ihre Erforschung auch die Erforschung der eigenen Ur-Kultur, aus der der Forscher selbst hervorgegangen war. Dieses Denken geht bis auf die Aufklärung zurück. Das folgende Zitat aus SCHILLERS Antrittsvorlesung an der Universität Jena zeigt die Doppelbewegung, das Fremde als „verächtlich“ auszugrenzen und gleichzeitig als Vorform der eigenen Zivilisation zu verstehen. SCHILLER bindet an die Degradierung des und an die Abgrenzung zu den Fremden die eigene „außerordentliche Anstrengung“. Der Begriff „Kultur“ braucht die Abgrenzung zum Unkultivierten. „Die Entdeckungen, welche unsere europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein ebenso lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist. Eine weise Hand scheint uns diese rohen Völkerstämme bis auf den Zeitpunkt aufgespart zu haben, wo wir in unserer eignen Kultur weit genug würden fortgeschritten sein, um von dieser Entdeckung eine nützliche Anwendung auf uns selbst zu machen und den verlorenen Anfang unsers Geschlechts aus diesem Spiegel wiederherzustellen. Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben und doch ist es nicht einmal die erste Stufe mehr, auf der wir sie erblicken. Der Mensch fing noch verächtlicher an. Wir finden jene doch schon als Völker, als politische Körper: aber der Mensch mußte sich erst durch eine außerordentliche Anstrengung zur politischen Gesellschaft erheben.“ (SCHILLER 1996 [1789]: 114)
Die Differenzierung des Fremden über Kulturstufen in der Geographie An dieses Denken schließt auch die Geographie an. Für RITTER wird Geographie durch die Abgrenzung zum Fremden überhaupt erst konstituiert. Er unterscheidet die „ungebildeteren, roher gebliebenen Völker“, die nur Kenntnisse über ihre Heimat haben, von der eigenen Zivilisation, die „Kunde“ von der gesamten Erde besitzt (RITTER 1861: 3f.). Diese hierarchische Unterscheidung konkretisiert RATZEL später durch Kulturstufen. „Der einfache Mensch auf niedriger Stufe der Kultur geht leichten Schrittes seine Wege über die Erde, während wir, volkreicher und eifriger und kenntnisreicher geworden [sind], […].“ (RATZEL 1874: 10)
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Der „einfache Mensch“ (RATZEL) war für die Geographen interessant, weil sich der Wissenschaftler ganz im Sinne der Aufklärung durch dessen Beforschung Erkenntnisse über die Vorstufen der eigenen Zivilisation erhoffte. „Denn je weiter der forschende Blick in die Tiefen der vorgeschichtlichen und der außergeschichtlichen Völker dringt, umso mehr wird er in allen Kulturkreisen und auf allen Kulturstufen wesentlich derselben einzigen Kultur begegnen, die sich vor langer Zeit, als die Bedingungen zur Entwicklung zahlreicher besonderer Kulturzentren noch nicht gegeben waren, von Volk zu Volk über die Erde hin mitteilte; […].“ (RATZEL 1894: 4f.)
RATZEL vollzieht dabei wie auch SCHILLER die Doppelbewegung, das Fremde als Variation des Eigenen darzustellen und es durch kulturelle Degradierung gleichzeitig als Abgrenzungsfolie zu nutzen, um die eigene Entwicklung zu charakterisieren. „Wir sind aus dem Dunkel der Wälder heraus auf die geschichtlichen Schauplätze gezogen und haben in Krieg und Frieden unseren Namen zu einem der geehrtesten und gefürchtesten unter den Völkern gemacht.“ (RATZEL 1894: 4)
Diese Doppelbewegung von RATZEL erinnert an das Kind-Erwachsenen-Bild bei SCHILLER. Das Kind wird verstanden als eine junge Variante des Eigenen (des Erwachsenen), dass dabei gleichzeitig weniger kultiviert ist (als der Erwachsene). Es war bei Geographen eine beliebte Differenzierung, das Eigene und das Fremde über das sogenannte naturdeterministische Denken zu unterscheiden. Menschliches Sein wird dabei in einen kausalen Zusammenhang mit den physisch-geographischen Gegebenheiten gebracht (HARD 1982: 104). Geofaktoren dienen als Bestimmungsgrößen für die Charakterisierung der Menschen. Zu den in der geographischen Fachgeschichte bekannten geodeterministischen Theorien gehört die Klimatheorie von HERDER. In seinem Hauptwerk „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (17841792) greift er den Gedanken einer „Urkultur“ auf und bezieht sich für die Erklärung der Verschiedenheit der Menschen auf die klimatischen Bedingungen. Alle Menschen verbindet das Einende der „Urkultur“. Fremdheits-
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variationen umgeben diesen Kern aufgrund der unterschiedlichen klimatischen Verhältnisse auf der Erde. Das Fremde sind Verformungen um den Kern des Menschen, der bei allen gleich ist. „Nicht Hitze und Kälte ists allein, was aus der Luft auf uns wirket; vielmehr ist es nach den neuen Bemerkungen ein großes Vorratshaus andrer Kräfte, die schädlich und günstig sich mit uns verbinden.“ (HERDER 1966 [1784-1792]: 185)
Wie sehr allerdings auch bei HERDER das geodeterministische Denken in einer abwertenden Beschreibung der Fremden mündet, machen diese, mit deutlich abwertendem Duktus erzählten, Beispiele deutlich: „Die alten Perser waren ein hässliches Volk von den Gebirgen, wie noch ihre Reste, die Gauren, zeigen.“ (Ebd.: 161) oder „Jenseits des Senegas also fangen erst die dicken Lippen und platten Nasen der Negergestalt an, die sich mit noch ungezählten Varitäten kleiner Völkerschaften über Guniea, Loango, Kongo, [...] tief hinab verbreiten“. (Ebd.: 165) Die Beschreibungen des Fremden im Geographieschulbuch Der deterministische Ansatz, das Fremde kausallogisch mit den Geofaktoren erklären zu wollen, führte durch die Übernahme in Schulbüchern dazu, dass das Fremde in bestimmte Typen aufgelöst wurde. Die Darstellung der „Wilden“ war zunächst an eine bildhafte Sprache gebunden. Das Medium hierfür waren verschiedene Reiseberichte. Ein Teil des „länderkundlichen Durchgangs“ bestand in der Differenzierung der Menschen verschiedener Herkunft nach äußeren Merkmalen. Thematisiert wurden die „Ureinwohner“ der verschiedenen Kontinente. Exemplarisch wird das an Textstellen aus dem damals verbreiteten Geographieschulbuch von TISCHENDORF „Präparationen für den geographischen Unterricht an Volksschulen“ deutlich (TISCHENDORF 1905). Das Schulbuch thematisiert beispielsweise „Eskimos“, „Neger“ und die „Eingeborenen“ Australiens. Wiederum sind detaillierte Beschreibungen auffällig. „Die Eskimos haben schwarzes, straffes Haar und braune Hautfarbe. Ihr Kopf ist rund, das Gesicht breit und platt, die Nase eingedrückt. Von Gestalt sind sie klein. (Meist nur 1 ½ m.) Die Kleidung besteht aus Seehundsfell.“ (TISCHENDORF 1905: 85)
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Typisierende Beschreibungen spielten nicht nur eine wichtige Rolle in der Unterscheidung zwischen „wilden“ und „zivilisierten“ Menschen, sondern auch in der Differenzierung zwischen Kulturen auf einer ähnlichen Kulturstufe. Auf den ersten Blick fällt bei TISCHENDORF dafür eine Reihe von Beispielen auf. Dabei gehen die Beschreibungen mit einer Beurteilung des Beschriebenen einher. „Das äußere Aussehen der Chinesen erscheint uns nicht schön. Die Chinesen haben ein viereckiges Gesicht, kleine, langgeschlitzte Augen, vorstehende Backenknochen, schwarze straffe Haare, dünnen Bart an Kinn und Oberlippe und gelbe Gesichtsfarbe. […] Ein ‚schöner Mann‘ ist nach chinesischen Begriffen ein solcher, der einen dicken Bauch, lange Nägel und kleine Füße besitzt. – Uns Europäer finden die Chinesen hässlich. Sie nennen uns ‚rotborstige Teufel‘.“ (TISCHENDORF 1905: 145)
Zum einen fällt auf, wie hier ein Bild gezeichnet wird, dass in Teilen bis heute Aktualität besitzt. Die „langeschlitzte[n] Augen“ sind heute noch als „Schlitzaugen“ eine abwertende Beschreibung (DUDEN 2017: o. S.). Zum anderen deutet der Text an, dass es eine kontextabhängige Perspektive in der Beschreibung gibt. Der Autor notiert nicht, dass der Chinese nicht schön ist, sondern „uns“ nicht schön „erscheint“. Er verweist damit darauf, dass die Zuschreibung auch Resultat der eigenen Sehgewohnheiten ist. Zum anderen betreibt er einen Perspektivwechsel und gibt an, dass die Abwertung der Äußerlichkeit auf Gegenseitigkeit beruht. Der Autor weist damit implizit auf Probleme beim Beschreiben hin. An anderen Stellen ist er allerdings nicht so zurückhaltend. Er beschreibt den faulen Mexikaner („Die Bewohner neigen zu Trägheit.“ [ebd.: 16]), die ausbeuterischen Spanier („sich mit unersättlicher Habgier und Grausamkeit an den edlen Metallen [Südamerikas] bereichert“ [ebd.: 90]), den fleißigen Nordamerikaner („den Boden bebaut und nutzbar gemacht“ [ebd.]) und den Japanern als den besseren Chinesen („zeichnen sich vor ihren Nachbarn durch Reinlichkeit, Kunstsinn und durch das Streben aus, fremde Vorzüge bei sich einzubürgern“ [ebd.: 156, eigene Hervor.]). GRUBE nutzt in dem Lehrbuch „Geographische Charakterbilder“ Reiseberichte, um Menschen in anderen Ländern Europas typisiert zu beschreiben (GRUBE 1891). Seine Reportagen stellen die extravagante Pariserin dar („eine schreiende Karikatur des weiblichen Geschlechts“ [ebd.: 412]), die Menschen im mediterranen Marseille („Die Menschen sehen in Marseille
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ganz anders aus als in der Gascogne; so hässlich das Volk dort ist, so schön ist es hier. […] Unter den Frauen der höheren Stände sahen wir sogar viele blendend weiße Blondinen mit goldenen Locken und schwarzen Augen […].“ [ebd.: 423]), die temperamentvolle Art des Neapolitaners („Schon wenn zwei auf der Straße ein Gespräch führen, klingt dies wie ein wütender Streit, und die Hausierer, Marktleute und Scharlatane gestikulieren zu ihren schreienden Verhandlungen […].“ [ebd.: 461]) und der Heldenhaftigkeit der Engländer („[…] es ist ein echtes Heldenvolk, insofern das wahre Heldentum seine Lorbeeren keineswegs bloß auf dem Schlachtfelde pflückt, vielmehr überall, wo sich dem Willen Hindernisse in den Weg stellen.“ [ebd.: 332]). Auch in diesen Berichten spielen die Äußerlichkeit und der vermeintlich prototypische Charakter der Menschen eine zentrale Rolle. Zudem vermitteln die Reiseberichte, welche Stimmung an den Orten herrscht. Die Eigenschaften der Menschen und die Stimmung ergaben eine eigene Gemengelage. Der Gestus des Neapolitaners wird ergänzt durch die Beschreibung einer engen Gassen rund um den Marktplatz oder einer schwungvollen Kutschfahrt. Die Schulbücher bildeten im 19. Jh. vermutlich wegen des schwierigen Druckverfahrens dazu kaum Bilder ab. Dennoch stieg die Beliebtheit von Bildern als Unterrichtsmedium später an. Zum Einsatz kamen Wandbilder, die bis in den Unterricht der Bundesrepublik hinein als Anschauungsmittel genutzt wurden (STACH 2000: 202). Zur Anschauung wurde der Fremde auch in speziellen Bildbänden gebracht, die „Völkertypen“ abbildeten (MARCUSE 1930). Das Buch von MARCUSE umfasst eine Sammlung von photographierten Plastiken, die jeweils das typische Aussehen von Menschen aus bestimmten Ländern darstellen sollen. Eine Abbildung zeigt beispielsweise den „Neger in Liberia“ (Abbildung 2). Die abgebildete Plastik unterstreicht den Wunsch, den Fremden zu erfassen. Man könnte um die originale Plastik wandeln und den Fremden von allen Seiten möglichst gut beobachten.
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Abbildung 2: „Neger in Liberia“
Quelle: Marcuse 1930: 36
Die Beschreibungen der Deutschen im Geographieschulbuch In den Geographieschulbüchern im Kaiserreich wurde auch die Charakterisierung des eigenen Deutschseins ausführlich dargelegt. Bei TISCHENDORF verdeutlicht die Beschreibung der Leitmotive des Geographieunterrichts eine Vermischung von geodeterministischem, nationalistischem und religiösem Denken, da „der Geographieunterricht dem Zöglinge nicht allein zeig[t], wie er selbst mit seinem gesamten Sein und Streben in dem Boden wurzelt, auf dem er geboren und erzogen war (Vaterlandsliebe!), sondern ihm auch [den Bezug zum Glauben eröffnet, F.R.].“ (TISCHENDORF 1891: 2)
Im Schulbuch von GRUBE wird das Deutschsein in Abgrenzung zu anderen Volksgruppen konkretisiert und begründet. „Der Slawe liebt das Zusammensein, die Gemeinschaft; der Germane das Isoliertsein. […] Zäh und ein Freund der harten Arbeit, empfand und empfindet der Deutsche gar keinen Widerwillen gegen die abgeschlossene Lebensweise; sein Acker und seine Familie genügen ihm vollkommen.“ (GRUBE 1891: 395)
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DANIEL beschreibt in dem Geographiebuch „Geographische Charakterbilder aus Deutschland“ ausführlich die Physische Geographie Deutschlands, geht dann aber auch auf den „Volkscharakter und [die] Sprache“ der Deutschen ein (DANIEL 1885: 18ff.). Der Autor unterscheidet zwischen einem gesamtdeutschen Charakter und regionalen Unterschieden. Dem Deutschen sagt er allgemein eine starke Heimatverbundenheit nach. „Es gibt kein Volk, dem das Haus und die Familie ein größeres Heiligtum wäre. Heimweh ist ein deutsches Wort und ein vor allem deutsches Gefühl. Das echte innige Heimatsgefühl ist von niemand mit so warmen herzbewegenden Farben geschildert, als von den deutschen Dichtern alter und neuer Zeit, von Otfried an bis auf Jean Paul.“ (DANIEL 1885: 18)
Der Autor beschreibt das Deutsche Kaiserreich als ein Land der Dichter und Denker. Er verweist auf Werte, wie Ehre und Tapferkeit, stellt aber andererseits auch „eine gewisse zähe Langsamkeit und Umständlichkeit“ beim Deutschen fest. Für eine regionale Differenzierung orientiert sich DANIEL an den gemeinsamen Dialekten. Von Thüringen weiß der Autor vor allem Gutes zu berichten. „Man rühmt die Thüringer als offen an Verstand und Gemüt, regsam zu allem wackern Thun, treuherzig in Handel und Wandel. Der Grundzug des Thüringers, auch in den beschränktesten Verhältnissen, ist Biederkeit, Frohsinn und Gastfreundschaft.“ (DANIEL
1885: 26)
Der Autor hat eine fehlende deutsche Identität („Nationalstolz“) als ein Problem identifiziert und führt es auf eine übermäßige Verehrung des Fremden zurück. „Näher auf unseren Grundschaden führt eine über das Maß getriebene Verehrung des Fremden, [...] ‚ein Nachäffen sowohl fremder Kleider als Wortflicken‘, eine Verachtung gegen alles, was nicht weit her ist.“ (DANIEL 1885: 20, eigene Hervor.)
Daniel versteht Identität als etwas fest verortetes Eigenes, das herauszustellen und stärker von fremden Einflüssen abzugrenzen ist. Später greifen HAUSHOFER & ROEFELER (1939) mit ihrem proklamierten Ziel der „Volkswerdung“ dieses Denken auf.
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Die Problematisierung der objektiven Darstellung des Fremden Allerdings kamen bereits um 1900 Zweifel daran auf, ob sich das Fremde durch deterministische Typisierungen tatsächlich fassen lässt. Mit der Darstellung der Volkstypen wird deutlich, dass die Autoren Kausalerklärungen zur Entstehung der Unterschiede kaum weiter ausführten. Wie genau die Verbindung von natürlichen Gegebenheiten und der Beschreibung der Äußerlichkeiten oder der Eigenschaften der Menschen zu verstehen ist, blieb an den konkreten Beispielen meist offen. Gleichwohl lag das Ziel des Geographieunterrichts in der Vermittlung des „gemütvollen Verständnis[ses] für die Wechselwirkungen, welche zwischen den einzelnen geographischen Elementen (insbes. zwischen Boden und Bodenbewohnern) bestehen“ (TISCHENDORF 1891: 1). Möglicherweise ist der Grund für die zurückhaltenden Erklärungen darin zu finden, dass der „strikte Geodeterminismus als allgemeines Erklärungsmodell wegen offensichtlicher Absurdität innerhalb wie außerhalb der Geographie äußerst selten war und ist und möglicherweise sogar niemals als allgemeine Doktrin vertreten wurde“ (HARD 1982: 104 [Hervor. i. O.]). Ob es die „allgemeine Doktrin“ (ebd.) als grundlegendes Denken gab, lässt sich im Kontext dieser Arbeit nicht prüfen. Aber zumindest zeigt sich, dass das Erklärungsmodell, wie bisher dargelegt, von manchen Autoren einerseits herangezogen und andererseits auch von kritischen Stimmen begleitet wurde. Es fiel den Lehrbuchautoren auf, dass es nicht leicht ist, den Geodeterminismus im Schulbuch anzuwenden, um das Fremde zu erklären. „Da meine ‚Charakterbilder‘ einen gründlichen geographischen Unterricht fordern und methodisch gewandte Lehrer voraussetzen, so brauche ich wohl kaum bemerklich zu machen, dass nicht mit den komplizierten Kulturverständnissen Europas der Anfang gemacht werden darf, sondern mit den einfachsten einer Polarzone, einer Wüstennatur, einer Steppe, wo das Wechselverhältnis zwischen Boden, Pflanze, Tier und Mensch leicht in die Augen springt.“ (GRUBE 1891: IV)
Die Antwort auf das Problem der Erfassung des Fremden war bei GRUBE die exotisierende Darstellung. Auf die Unterscheidung von „wild“ und „zivilisiert“ wurde Bezug genommen, weil sich das geodeterministische Denken daran am eindrücklichsten nachzeichnen ließ. Wie GRUBE verdeutlicht, kommt man mit darüber hinausreichenden Erklärungen schnell in Schwie-
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rigkeiten. Es war also auch in der „geodeterministischen Phase“ (HEINEMANN 2007: 22) keineswegs so, dass die Beschreibung von Eigenem und Fremdem unreflektiert blieb. So dachte beispielsweise HERDER darüber nach, wie es überhaupt möglich ist, über das Fremde zu schreiben. „Billig müssen wir, wenn wir zum Lande der Schwarzen übergehen, unsre stolzen Vorurteile verleugnen und die Organisation ihres Erdstrichs so unparteiisch betrachten, als ob sie die einzige in der Welt wäre.“ (HERDER 1966 [1784-1792]: 164)
Auch Schulbuchautoren zeigten sich offen gegenüber einer kritischen Auseinandersetzung mit der Unterscheidung von Eigenem und Fremdem und thematisierten dabei das Problem einer „objektiven“ Beschreibung. „Vergegenwärtigen wir uns endlich, abgesehen von anderen Schwierigkeiten, noch die uns durch die Sprache entgegentretenden Hemmnisse, so werden wir uns nicht wundern, dass uns der Charakter der wilden Rasse von den vielen Reisenden gar häufig in widersprechender Weise geschildert wird. Wie schwer es ist, einen einzelnen Menschen richtig zu beurteilen, geschweige denn ein ganzes Volk. Ja, in der Tat, die von einem Reisenden ausgesprochene lobende oder tadelnde Bemerkung hängt ebenso sehr von dem Charakter des Schreibenden als von dem des Volkes ab.“ (LUBBOCK
1875: 328f.)
LUBBOCK setzt sich mit pauschalen Zuschreibungen auseinander. Er zeigt, dass Reiseberichte widersprüchlich sind. Das scheinbar eindeutige Bild vom Fremden wird komplizierter, wenn man weitere Berichte hinzuzieht. Zudem muss angemerkt werden, dass die damalige Unterscheidung des Eigenen und des Fremden auch in einen universalistischen Kontext gerückt wurde. Beispielhaft steht dafür GRUBE, der sich von einer rein nationalistischen Auslegung der Leitziele des Geographieunterrichts abwendet. „Wie der eigentliche Wert und die Bedeutung der als Wissenschaft wiedergeborenen Geographie darin besteht, dass sie die Erde als ein Organ des Menschenlebens kennen lehrt, das die menschliche Wirksamkeit ebenso bedingt, wie es von dieser bedingt wird: so steht der eigentliche geistige Gewinn, den unsere Schüler aus dem geographischen Unterrichte ziehen sollen, darin, dass sie einen Blick bekommen für die Wechselwirkungen des Erd- und Menschenlebens und in dieser Anschauung ihr eigenes Weltbewusstsein entwickeln.“ (GRUBE 1891: III, eigene Hervor.)
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Der Begriff des „Weltbewusstseins“ erinnert an eine globale Perspektive, die auch in modernen didaktischen Ansätzen wie dem „Globalen Lernen“ aufgegriffen wird (SCHEUNPFLUG 2000). Schon HERDER rekurriert in der Klimatheorie auf eine humanistische Idee, die das Gemeinsame aller Menschen betont. „Die schwarze Farbe der Neger ist nicht wunderbarer in ihrer Art als die weiße, braune, gelbe, rötliche andrer Nationen. Weder das Blut, noch das Gehirn, noch der Samen der Neger ist schwarz, sondern das Netz unter der Oberhaut, das wir alle haben, und das auch bei uns, wenigstens an einigen Teilen und unter manchen Umständen, mehr oder minder gefärbt ist. Camper hat dies erwiesen und nach ihm haben wir alle die Anlage, Neger zu werden. […] Es kommt also nur auf die Ursache an, die ihn hier entwickeln konnte, und da zeigt die Analogie sogleich abermals, dass Luft und Sonne einen großen Anteil daran haben müssen. Denn was macht uns braun?“ (HERDER 1966 [1784-1792]: 166f.)
Für RATZEL ist die Unterscheidung in Kulturstufen nicht nur die Lösung, um das Fremde zu fassen. Zusätzlich relativierte er das Sprechen vom Fremden, indem er Eigenes und Fremdes in der Menschheit als „ein Ganzes“ einklammerte. „Durch die ganze Völkerbeurteilung geht die unzweifelhafte Grundtatsache des Gefühls individueller Überhebung, dass man lieber ungünstig als günstig über seine Nebenmenschen denkt. Wir wollen wenigstens streben, gerecht zu sein und dazu mag uns die Völkerkunde verhelfen, die, indem sie uns von Volk zu Volk, Stufe auf Stufe abführt, den wichtigen Grundsatz einprägt, bei allen Handlungen der Menschen und der Völker frei von jeglicher Beurteilung zu erwägen, dass alles, was von ihnen gedacht, gefühlt, getan werden kann, einen wesentlichen abgestuften Charakter hat. Alles kann in verschiedenen Grade geschehe; nicht Klüfte, sondern Gradunterschiede trennen die Teile der Menschheit. […] die Menschheit ist ein Ganzes, wenn auch von mannigfaltiger Bildung.“ (RATZEL 1894: 4)
Die Kulturerdteile als moderne Darstellung des Fremden Es lässt sich auf die historische Betrachtung einwenden, dass die Erzeugung vereinfachter Typisierungen aus dem länderkundlichen Durchgang der damaligen Zeit resultierte. Die Verflechtung der Geofaktoren wird durch das
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sogenannte „Hettnersche Schema“ (SCHULTZ 2013: 393) strukturiert, um typisierende Aussagen über den „innere[n] Zusammenhang von Landschaften“ (ebd.: 4) zu treffen. Dazu zählen auch die Kultur und die Eigenart der Menschen (s. o.). Doch muss konstatiert werden, dass in den 1980er Jahren eine Gruppe von Didaktikern um NEWIG der typisierenden Darstellung von Kulturen mit Erfolg wieder Leben eingehaucht hat. Der Ansatz von NEWIG besteht darin, den „länderkundlichen Durchgang“ mit der „Allgemeinen Geographie“ zu verbinden. Er entwickelte das Konzept der „Allgemeinen Geographie am regionalen Faden“ (NEWIG et al. 1983). Das Konzept umfasst eine exemplarisch ausgerichtete Länderkunde mit Anleihen an der „Allgemeinen Geographie“. Die Allgemeine Geographie wollte man „angemessen berücksichtigten[en]“, indem von ihr Kategorien entnommen wurden (ebd.: 38). Ein wesentliches Element der „Allgemeinen Geographie am regionalen Faden“ sind die Kulturerdteile. NEWIG führte die Kulturerdteile in Rückbezug auf KOLB in die Debatte ein. Er suchte nach einem Weg, um die „Komplexität der Welt“ mittels „vereinfachter Modellvorstellungen“ fassbar zu machen (NEWIG 1986: 262). Im Gegensatz zu einem „evolutionistischen Kulturverständnis“ (STÖBER & KREUTZMANN 2013: 382) betont NEWIG mit seinem Konzept die Gleichwertigkeit aller Kulturen. Er lehnt eine Unterscheidung von Regionen nach dem Entwicklungsstand ab, um der „Gefahr der Diskriminierung“ Einhalt zu gebieten (NEWIG 1986: 262). Mit dem Ziel, Bewertungen zu verhindern, bestimmt NEWIG Kulturerdteile nach „qualitativen Kriterien“ wie „Religion“, „Sprache“, „Schrift“, „Recht“, „Hautfarbe“, „Wirtschaft“ und „Lagesituation“ (ebd.: 264). Ein Kulturerdteil wird nach KOLB als „ein Raum subkontinentalen Ausmaßes verstanden, dessen Einheit auf dem individuellen Ursprung der Kultur, auf der besonderen einmaligen Verbindung der landschaftsgestaltenden Natur- und Kulturelemente, auf der eigenständigen, geistigen und gesellschaftlichen Ordnung und dem Zusammenhang des historischen Ablaufes beruht.“ (KOLB in NEWIG 1986: 264)
Kulturerdteile sind miteinander intensiv verflochten (NEWIG 1986: 265). Im Lehrplan ist bei der Strukturierung auf das Prinzip vom „Nahen zum Fernen“ zu achten (ebd.). So erweiterte sich der Radius von der Heimat über Deutschland und Europa sukzessive zu Regionen mit geringer „Dauer und Intensität der historischen Verflechtungen“ (ebd.: 266). Ziel dieses Strukturmodells ist
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es, dazu beizutragen, „Kulturerdteile ‚aus sich heraus‘ zu verstehen“ und damit den „Eurozentrismus“ abzuschwächen (ebd.: 267). Ein erster Blick in das Schulbuch „TERRA Geographie“ (BRODENGEIER et al. 2001: 18-19) für die siebte und achte Klasse zeigt, welche Schwierigkeiten entstehen, wenn die Welt, nach Kulturerdteilen zergliedert, vermittelt wird. Bei der Bebilderung des Übersichtsteils zu den Kulturerdteilen gibt es Darstellungen des Fremden als „Wilden“, die an die Inszenierungstechniken von HAGENBECK aus dem 19. Jh. erinnern. Es ist auffällig, dass das Modell der Kulturerdteile im Schulbuch genauso auf Typisierungen angewiesen ist, wie Lehrmaterialien vor 100 Jahren. Die Problematik der Rede über den Fremden lässt sich symptomatisch in dem Textauszug „Bei den Nakamuras“ belegen. Er beinhaltet die Vorstellung einer Familie aus dem Kulturerdteil „Japan – Ostasien“. „Sicher gibt es sie nicht, die typische japanische Familie. Aber so wie Familie Nakamura, in deren Wohnzimmer wir nun sitzen – bei Gebäck und grünem Tee und ohne Schuhe natürlich –, so leben hier in Japan viele. Herr Nakamura ist Ingenieur in der Entwicklungsabteilung von Toyota, einer großen Autofirma. [...] Mit drei Kindern sind die Nakamuras eine für japanische Verhältnisse recht große Familie [...].“ (BRODENGEIER et
al. 2001: 108)
In dem Text wird einerseits reflektiert, dass eine Typisierung problematisch ist („Sicher gibt es sie nicht, die typische japanische Familie“). Andererseits folgt danach genau eine solche Typenbildung. Die Rede über das Fremde führt zu einer Objektivierung. Es lässt sich fragen, wie mit diesem Problem im Unterricht umzugehen ist. Welche alternativen Umgangsmöglichkeiten gibt es? Für die Beantwortung dieser Frage werde ich die Kritiker des Kulturerdteilkonzepts zu Wort kommen lassen und ihre Lösungsmöglichkeiten darstellen. Die Debatte um die Kulturerdteile Als einer der ersten Kritiker nimmt HAUBRICH zu dem Vorschlag von NEWIG Stellung und unterstellt ihm in einem Beitrag eine fehlende zeitgemäße wissenschaftliche Fundierung des Konzepts (HAUBRICH 1983: 272). HAUBRICHS Vermutung, dass „der fachlichen und politischen Konzeptlosigkeit kein Erfolg beschieden sein [wird]“, bestätigte sich allerdings nicht (ebd.). Nach der
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Wiedervereinigung hielten die Kulturerteile gerade in den Lehrplänen der neuen Bundesländer breiten Einzug (STÖBER & KREUTZMANN 2013: 384). DÜRR entwickelt verschiedene Kritikpunkte an dem Konzept der Kulturerdteile unter der Berücksichtigung der „metatheoretischen, wissenschaftlichen und fachtheoretischen Ebene“ (DÜRR 1987: 229). DÜRR wirft NEWIG vor, unreflektiert mit Begriffen vorzugehen und Kulturerdteile als die „eine Wirklichkeit“ über Welt zu vermitteln, statt auf eine Vielzahl von Gliederungen von Welt aufmerksam zu machen (ebd.: 229). Zudem ist nach seiner Meinung der Kulturbegriff unpräzise bzw. durch „diffuse Variablen“ bestimmt (ebd.: 230). Kultur entpuppt sich als ein „Catch-All-Begriff“ (ebd.). Aktuelle Forschung zu Kultur, die auf der Mikroebene ansetzen und mit dem Begriff der Lebenswelt arbeiten, werden ignoriert. Zudem fehlen neben dem „Verständnis für fremde Kulturen“ konkrete Unterrichtsziele (ebd.: 231). Die Auswahl der richtigen Länder als ein Exempel für einen Kulturkreis ist problematisch und verstellt außerdem den differenzierten Blick auf regionale Konflikte (ebd.). DÜRR sieht die Alternative in einer „mutige[n], konfliktorientierte[n] Sicht auf die vor unseren Augen ablaufenden (kultur-räumlichen) Entwicklungsprobleme [...]“ (ebd.: 232). Hierbei ordnet er die kulturelle Dimension der politischen und ökonomischen unter. „Halten wir daran fest, die Bedeutung kulturgeographischer Merkmale für den Lauf der Welt zu betonen. Aber dringen wir auf theoretisch gut abgesicherte Einbettung räumlicher Phänomene in andere, oft wichtigere – (politisch, ökonomische) Zusammenhänge.“ (Ebd. [Hervor. i. O.])
ENGELHARD schließt sich der Kritik an der Unverbindlichkeit der Lernziele an und kritisiert zudem die fehlenden Möglichkeiten zum „exemplarischen Lernen“ (ENGELHARD 1996 [1987]: 159-160). Kulturerdteile verleiten zur Vermittlung von Überblickswissen. Auch SCHRANDT kritisiert die fehlende Konkretisierung von Lernzielen bzw. den Mangel an „exemplarischen Lernmöglichkeiten“ (SCHRANDT 1996 [1989]: 163-165). Der Autor schlägt als Alternative die „Beschaffung und Auswertung möglichst umfassender regionaler Informationen“ vor, um „Beziehungefüge auf[zu]decken“ (ebd.: 167). EHLERS vergleicht das Konzept der Kulturerdteile mit dem damals stark rezipierten Modell des „Clash of Civilizations“ von Samuel Huntington und erkennt einige ideengeschichtliche Gemeinsamkeiten (EHLERS 1996: 338).
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Er kritisiert an beiden Modellen, dass die Kriterien zur Abgrenzung der Regionen unklar sind. Zudem muss die Dynamik kultureller Entwicklung stärker berücksichtigt, ein genauere Differenzierung gefördert und vermehrt auf vielfältige Interessenlagen von Menschen eingegangen werden (ebd.: 341344). Ansonsten kann man „kaum den realen Vielfältigkeiten und Selbstverständnissen gerecht werden“ (ebd.: 342). Wie schon zuvor DÜRR, spricht sich auch EHLERS dafür aus, Disziplingrenzen zu überschreiten. Ihm schwebt vor, regionalwissenschaftlich orientierte Studiengänge zu etablieren, die den Schwerpunkt auf regionale Diversität legen. EHLERS führt als ein Beispiel ein interdisziplinäres Forschungsprojekt an, bei dem geographische, ethnologische und agrarwissenschaftliche Beiträge über autochthone Bevölkerungen in der Sahelzone zeigen, dass sie spezifische Wissensvorräte besitzen, um einen eigenen Umgang mit Hungersnöten zu finden (ebd.: 343). „Durch Wiederentdeckung indigener Wissens- und Normsysteme“ kann die „Aneignung fremder Kulturen“ besser gelingen (ebd., eigene Hervor.). Zentral ist für den Autor außerdem die „Analyse von gegenwärtigen oder zukünftigen Konflikten“ (ebd.: 344). Aus der Schulbuchforschung kommend, setzt sich auch STÖBER (1996) kritisch mit den Kulturerdteilen und deren Umsetzung im Schulbuch auseinander. Er kann den Vorwurf der Beliebigkeit der Kriterien zur Bestimmung der Kulturerdteile durch eine Analyse der Umsetzung des Konzepts in verschiedenen Schulbüchern erhärten. Den Begriff „Kultur“ sieht der Autor als „obskure Restkategorie“ missverstanden, „mit der alles Unerklärliche erklärbar gemacht werden kann“ (STÖBER 1996: 191). STÖBER schlägt als alternativen Ansatz vor: „Schülern nicht bei[zu]bringen, es gäbe 10 Kulturerdteile, sondern darauf hinzuweisen, dass die Menschen sich aufgrund von körperlichen Merkmalen, ihrer Sprache, ihrer Religion, ihrer Wirtschaftsweise usw. unterscheiden. So ergeben sich zwar keine ‚Kulturen‘, auch keine ‚Raumeinheiten‘, das Ergebnis wäre aber mit Sicherheit nachvollziehbarer als jeder Versuch, in nebulöser Begrifflichkeit holistische Gebilde zu konstruieren und zu vermitteln.“ (Ebd.: 190-191)
Nach STÖBER gilt es, die „Vielschichtigkeit von kulturellen Zusammenhängen auf das Alltagsleben im konkreten Handlungszusammenhang [zu] thematisieren“ (ebd.: 198). Dafür schlägt er die Arbeit mit Fallstudien vor, die aber nicht exemplarisch für Kulturerdteile, sondern für sich selbst stehen
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(ebd.: 199). Immer wieder nutzt der Autor zur Abgrenzung den Begriff der „Lebenswirklichkeit“. So will er „nicht den Islam darstellen als monolithische Doktrin, sondern den Bezug zur Lebenswirklichkeit“ (ebd.). Für die Sekundarstufe II schwebt dem Autor zudem vor, das Kulturverständnis zu hinterfragen und die „politisch-soziale Instrumentalisierung von Kultur [zu] problematisieren“ (ebd.: 198). Zu den Kritikern des Kulturerdteilkonzepts zählt auch SCHRAMKE. Für ihn produziert das Konzept vereinfachte Bilder in einer „unübersichtlichen Welt“ (SCHRAMKE 1999: 131). In seinem Beitrag betont er, dass es zu Schwierigkeiten kommen kann, wenn man das Konzept der Kulturerdteile als die „eine Gliederung“ von Welt missversteht (ebd.: 132). Die Kriterien zur Bestimmung der Kulturerdteile sind nicht nur willkürlich, sie untergraben SCHRAMKE zufolge auch das Verständnis von Kultur als etwas Lebendiges und Veränderliches. Indem Kulturen als Kennzeichen von Menschengruppen verstanden werden, entsteht eine Differenzierung, die zu Stereotypen und zur Abgrenzung des Anderen führt. SCHRAMKE leitet daraus unter Bezug auf SÖKEFELD ab: „Kultur erklärt nichts mehr.“ (Ebd.: 133) Stattdessen will der Autor mit Schülern alternative Weltbilder „lesen, befragen und deuten“. Dafür bietet sich die Arbeit mit verschiedenen Kartierungen an. Als Beispiel nennt SCHRAMKE die Darstellung von No-Go-Areas. Somit gelangen die Schüler zu der Einsicht, dass die „Bilder der Welt [...] politisch, wirtschaftlich, sozial und ökologisch konstruiert“ werden (ebd.: 134). Da sich die Auswahl von Ländern nicht für das „exemplarische Lernen“ eignet, geht es bei der Fallarbeit dem Autor zufolge um die Thematisierung von „persönlichen Lebensumständen, Familien, Gleichaltrigen, Alltagsproblemen“ (ebd.: 139). Ansonsten verkommt der Begriff „Kultur“ zu einem rein abstrakten Gebilde. Nach SCHRAMKE muss es darum gehen, an der Mikroebene anzusetzen. RHODE-JÜCHTERN fasst unter dem Schlagwort „Geographie der Unterscheidung“ seinen alternativen Ansatz zu dem Kulturkreiskonzept zusammen (RHODE-JÜCHTERN 2004: 63). Allerdings ist bei RHODE-JÜCHTERN das Schlagwort der „Geographie der Unterscheidung“ auf den ersten Blick ein wenig irreführend, weil auch das Kulturkreiskonzept mit kriteriengeleiteten Unterscheidungen arbeitet. Für RHODE-JÜCHTERN bedeutet es, die „Sache selbst“ nach verschiedenen Aspekten und Perspektiven differenziert zu betrachten. Die „Geographie der Unterscheidung“ spielt auf eine Vielzahl von Differenzierungen an. Es geht RHODE-JÜCHTERN zufolge nicht darum, den
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Begriff „Kultur“ als „Catch-All-Begriff“ zu verwenden, sondern Kultur durch das „Lernen über Differenz“ besser zu verstehen. Dazu schlägt der Autor verschiedene Entgegenstellungen vor, wie „Homogenisierung – Fragmentierung; Zentralisierung – Dezentralisierung; Globalisierung – Lokalisierung“ (ebd.: 70). So lassen sich Differenzierungen nicht nur zwischen Kulturkreisen, sondern auch innerhalb von Kulturkreisen finden, denn beispielsweise „zwischen Japan und China gibt es mindestens so viele Unterschiede wie Gemeinsamkeiten“ (ebd.: 71). Auch RHODE-JÜCHTERN spricht sich für die Fallarbeit am konkreten Beispiel aus. Lehrpersonen sind nach seiner Meinung mit der Aufgabe konfrontiert, in einem Thema unterschiedliche Perspektiven zu eröffnen. „Wenn das Schulbuch vier Fotos über afrikanische Landwirtschaft zeigt, sollen Lehrer und Schüler sich über vier komplementäre Bilder aus afrikanischen Städten bemühen und diese im Detail durchleuchten.“ (Ebd.: 78) Insgesamt ist die Debatte um das Kulturerdteilkonzept durch eine auffällige Gegensätzlichkeit geprägt. Während den Kulturkreisanhängern eine gestrige und wissenschaftlich simplifizierende Haltung unterstellt wird, nehmen die Kritiker ein modernes und wissenschaftlich fundiertes Denken für sich in Anspruch. Während Anhänger des makroperspektivisch ausgelegten Kulturerdteilkonzepts dessen Orientierungshilfe betonen, wollen die Kritiker an der Mikroperspektive ansetzen, um den Einzelfall besser zu verstehen. Anstelle von „Kreisen“ sprechen Kritiker von „Regionen“. Den mehr oder weniger eindeutigen Kriterien zur Bestimmung der Kulturkreise und der Herstellung von Kausalbeziehungen wird Vielschichtigkeit und Vielperspektivität entgegengesetzt. Der Aufwertung des Begriffs „Kultur“ zum Verstehen von Welt im Kulturerdteilkonzept steht eine Abwertung des Begriffs gegenüber – bis hin zu der Haltung, „Kultur erklärt nichts mehr“ (SCHRAMKE 1999). Stattdessen müssen Konflikte auf verschiedenen Dimensionen (politisch, sozial, ökonomisch) verstanden werden. Anstelle eines „breiten“ Kulturbegriffs wird auf der anderen Seite von einem „engen“ Kulturbegriff gesprochen und dabei auf den „Alltag“ oder die „Lebenswelt“ abgezielt. Auch um das „wahre“ Schülerinteresse wird gestritten. NEWIG et al. halten das „kindliche Verständnis“ nach einer eingängigen räumlichen Gliederung von Unterrichtsinhalten den „theoretisch entwickelten Lernzielkonstrukten“ entgegen (1983: 38). Andererseits argumentiert SCHRAMKE, dass sich das Interesse von Schülern gerade nicht auf Ordnungssysteme richtet, sondern auf die „konkreten Lebensumstände von Menschen“ (SCHRAMKE 1997: 139).
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Schließlich wird dem gewünschten Fokus auf die eigene geographische Disziplin die Forderung nach der Überschreitung von Disziplingrenzen entgegengebracht. Ich sehe für den Aspekt der Begegnung ein Grundproblem, das jenseits des hier aufgeführten Dualismus liegt. Die bisherige Kritik an dem Kulturerdteilkonzept kann ein Dilemma bei der Thematisierung von Fremdem nicht verhindern. Auch in der differenzierten Rede über das Fremde werden Typisierungen produziert, selbst wenn sie elaborierter daherkommen. Der Vorschlag von RHODE-JÜCHTERN, das Schulbuch um kontrastierende Bilder zu ergänzen, zeigt dies. Aus der Imagination Afrikas als landwirtschaftlich geprägter Kontinent wird durch die Kontrastierung von Bildern aus afrikanischen Städten dann eine Imagination von Afrika als ein von einem Entwicklungsgefälle zwischen Stadt und Land geprägten Kontinent. Hier wird deutlich: Auch jede Mehrperspektivität bleibt am Ende eine Vereinfachung. Kritiker an „einfachen“ Weltbildern müssen sich dann die Frage gefallen lassen, wie viele Perspektiven dargestellt werden müssen, um der Differenziertheit der Welt überhaupt gerecht werden zu können. Hinzu kommt, dass es eine „neutrale“ Perspektive nicht geben kann. Wenn RHODE-JÜCHTERN einen Schulbuchtext „Vielvölkerstaat Nigeria“ durch eine koloniale Perspektive ergänzen will, um das Verständnis von heutigen Prozessen in dem Land zu verbessern, steht dahinter auch eine bestimmte (politische) Haltung des Autors. Selbst in einer vorgeschlagenen Verzahnung von Mikro- und Makroperspektive liegt der didaktische Mehrwert in der kognitiven Dissonanz beim Reden über das Fremde (HENNINGS 1996). Die Vielperspektivität sorgt für verschiedene Sichtweisen auf das Fremde. Sie tangiert aber nicht aber das Verhältnis von Eigenem und Fremdem. Fazit Die Geographie und auch der Geographieunterricht haben schon immer versucht, das Fremde räumlich differenziert darzustellen. Das Faszinierende, das HAGENBECK noch als Geschäftsmodell nutzt, verschwand in „neutralen“ wissenschaftlichen Darstellungen und der eigenen Aufwertung (Kulturstufen, Eltern-Kind-Vergleich). Zwar thematisierten Schulbücher Reiseerzählungen – so wurden über die Erlebnisse, mit dem Schiff an unbekanntes Land anzulegen und neue Menschen zu treffen, berichtet – allerdings dienen die
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Erzählungen nicht dazu, die Schilderungen als persönliche Eindrücke darzulegen, sondern typisierende Aussagen zu treffen. Das Fremde war das Exotische mit einem prototypischen Charakter, in dessen Spiegel sich das Eigene durch Abgrenzung selbst wiedererkannte. Für kritische Stimmen, die es auch in der sogenannten „geodeterministischen Phase“ gibt, liegt die Lösung in der Auflösung des Eigenen und Fremden in der „Menschheit“. Die Welt hatte durch die geographische Brille nichts Beunruhigendes mehr an sich. Die typisierende Darstellung des Fremden wird in der vereinfachten Modellvorstellung der Kulturerdteile übernommen. Doch auch die Kritik an diesem geschlossenen Konzept unterscheidet nur zwischen der Auflösung des Fremden (Kultur erklärt nichts mehr) oder einer differenzierten beschreibenden Festlegung des Fremden (Geographie der Unterscheidung). Es ist stattdessen eine Herangehensweise notwendig, die die Verbindung von Eigenem und Fremdem berücksichtigt und damit die Begegnung in den Mittelpunkt stellt. Die Thematisierung des Fremden kann nicht von der Thematisierung des Eigenen und nicht von der Thematisierung der Verbindung losgelöst werden. Nichtdestotrotz gibt es auf Seiten der Kritiker Aspekte, die für die Begegnung im Geographieunterricht fruchtbar sind. Begegnung kann auf die Lebenswelt Bezug nehmen. Ebenso folge ich STÖBER und sehe ein Potential, wenn man das „Alltagsleben“ und die Lebenswirklichkeit berücksichtigt. Mit SCHRAMKE werde ich Kultur als etwas Lebendiges und Dynamisches verstehen. Nur markiert die Aufzählung der Wörter „Lebenswelt“, Lebenswirklichkeit“ und „Alltagsleben“ nicht das Ende, sondern den Anfang, um über Begegnung nachzudenken. Kritiker monieren nicht zu Unrecht, dass es bei lebensweltlichen Ansätzen an pragmatischen didaktischen Entwürfen fehlt (FRANK 1999A: 119).
KONZEPTE DES INTERKULTURELLEN LERNENS IN DER GEOGRAPHIEDIDAKTIK In der Geographiedidaktik wurde die Implementierung des interkulturellen Lernens Mitte der 1990er Jahre stärker vorangetrieben, da das Konzept auch
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bildungspolitisch an Wichtigkeit gewann (vgl. KMK 2013 [1996])2. Die breit rezipierten einführenden Artikel von ROHWER (1996) und ROTHER (1995) zeugten von einer gesteigerten innerfachlichen Wahrnehmung. Wichtige Auseinandersetzungen über das Konzept fanden auf dem zweiten deutschniederländischen Symposium zur internationalen Erziehung statt (KROß & VAN WESTRHENEN 1992). Die Veröffentlichungen weiterer Einführungsartikel zeigen, dass sich die Debatte kontinuierlich verstetigt (SCHRÜFER 1999, KROß 2000, KROß 2001, BUDKE 2008, BUDKE 2013, MÖNTER 2013). Diskutiert wurde anfangs, welchem Leitthema man das interkulturelle Lernen zuordnen konnte. In den 1990er Jahren stand beispielsweise im Raum, es anzuknüpfen an die Leitidee „Die Erde bewahren“ (FLATH & FUCHS 1993). Das Konzept wird heute dem „Globalen Lernen“ zugeordnet. Kulturelle Pluralität ist aus der Perspektive des Globalen Lernens ein Aspekt eines neu verstandenen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Intensität der weltweiten Vernetzung verändert auch den „Umgang mit Vertrautheit und Fremdheit“ bzw. allgemein den „Umgang mit Unsicherheit“ (GROBBAUER & THALER 2010: 127). Interkulturelles Lernen markiert dabei einen Perspektivwechsel. Ging es beim „internationalen Lernen“ noch um die „Außenperspektive“ und die kulturelle Vielfalt auf der Welt, so zielt interkulturelles Lernen auf die „Innenperspektive“ ab (KROß 2000: 414). Die Konzepte des „internationalen Lernens“ bezogen sich klassischerweise auf den kulturellen Blick auf andere Länder und das Kennenlernen von Menschen und Völkern in der „Ferne“. Das interkulturelle Lernen aber ist als pädagogische Reaktion auf die zunehmende Multikulturalität und das Zusammenleben innerhalb Deutschlands zu verstehen. Das Verhältnis von Fremdem und Eigenem wandelt sich. Das Fremde ist nun nahe. So führt ROTHER (1995: 4, eigene Hervor.) aus: „[Das interkulturelle Lernen] befasst sich mit dem Fremden und Andersartigen im Alltag unserer multikulturellen Gesellschaft.“ Der Wandel hin zu einer multikulturellen Gesellschaft führt dazu, dass es zu immer mehr Begegnungssituationen kommt. „Längst müssen auch Geographielehrer nicht mehr ‚abstrakt‘ über die ferne Welt sprechen. Sie ist ‚leibhaftig‘ zu uns gekommen.
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Vereinzelt gab es schon deutlich frühere Beiträge. Der älteste Artikel ist meines Wissens nach eine Unterrichtsreihe zu „Gastarbeiterkinder in einer deutschen Großstadt“ von BIRKENFELD et al. (1978). Allerdings fehlte hier noch die Bezeichnung „interkulturelles Lernen“.
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Das Zusammentreffen mit Fremden ist für Schüler zur alltäglichen Erfahrung geworden.“ (Ebd.) Die Lernenden bewegen sich in ihrer „Lebenswelt“ (ebd.: 5) und suchen aus dieser heraus Antworten. Um die Schüler auf ein Zusammenleben in einer kulturell pluralistischen Gesellschaft vorzubereiten, will Geographieunterricht das Miteinander durch die Einsicht in die kulturgebundene Wahrnehmung und das kulturgebundene Denken der Menschen fördern und zur Reflexion anregen (ebd.). Die Schüler sollen auf diese Weise Dialogfähigkeit erlernen und Kulturen als gleichwertig verstehen (ebd.: 7). Zudem zielt das Konzept darauf ab, sich gegen Diskriminierung und Rassismus einzusetzen. In Kapitel 2.1 konnte gezeigt werden, dass Kultur bis dato durch das Sprechen über das Fremde aufgegriffen wurde. Da interkulturelles Lernen das Zusammenleben im Fokus hat, liegt es nahe, die Begegnung zu thematisieren. Zu prüfen ist, ob und ggf. in welcher Form Konzepte an Begegnungen ansetzen. Dafür stelle ich die zwei bisher elaboriertesten Ansätze aus der Geographiedidaktik vor. Zunächst lege ich dar, wie SCHRÜFER (2009) „Fremdverstehen“ ermöglichen will. Danach ist deutlich zu machen, welchen Umgang BUDKE (2004) beim Umgang mit „Stereotypen“ vorschlägt. Für beide Ansätze unterscheide ich die Darlegung der Lernziele und des Kulturverständnisses. Ich ergänze jeweils eine Kritik, in der die Anschlussmöglichkeit an einen begegnungsorientierten Ansatz geprüft wird. Schließlich wird auch eine Schulbuchanalyse von MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE (2007) vorgestellt, weil sich die dargelegte antirassistische Perspektive auch konzeptionell für den hier angestrebten Ansatz weiterdenken lässt. 2.2.1 Fremdverstehen durch interkulturelle Kompetenz SCHRÜFER hat für die Geographiedidaktik ein Konzept vorgelegt, dass die Übersetzung der Ziele des interkulturellen Lernens in ein schrittweises Vorgehen leistet (SCHRÜFER 2004, 2007, 2009, 2010). Damit soll der Lehrperson eine Hilfestellung für die Umsetzung des interkulturellen Lernens an die Hand gegeben werden (SCHRÜFER 2009: 158). Lernziel Für eine genaue Fassung der Ziele und der Förderung einer klaren Begrifflichkeit zieht es die Autorin vor, von „interkultureller Kompetenz“ zu sprechen. Darunter ist die Fähigkeit zu verstehen, „in interkulturellen Situationen
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effektiv und angemessen interagieren zu können [...]“ (ebd.: 153). An anderer Stelle spricht SCHRÜFER auch von „erfolgreicher“ Interaktion (ebd.: 154). Das beinhaltet den „konstruktive[n] Umgang mit kultureller Vielfalt und unterschiedlichen Wertehaltungen“ (ebd.: 153). Inhaltlicher Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Differenzerfahrungen mit dem kulturell Fremden oft in Vorurteilen münden. „Sie [Die Vorurteile] beruhen meist auf unzureichenden Kenntnissen oder Erfahrungen und werden nicht in Frage gestellt“ (ebd.: 154). Erklärt wird die Bildung von Vorurteilen mit der Orientierungsfunktion. Sie ergibt sich, wenn vereinfachte Vorstellungen der Fremd- und Eigengruppen mental gebildet werden. Interkulturelle Kompetenz besteht im Wesentlichen darin, sich der kulturellen Verwobenheit bewusst zu sein. Daraus leitet SCHRÜFER zwei Lernziele ab. Um Vorurteile zu überwinden, muss es erstens zur Betonung von Gemeinsamkeiten kommen. Zweitens gilt es, die kulturelle Verwobenheit des eigenen und fremden Denkens und Handelns zu verstehen und damit Unterschiede herauszuarbeiten. Erst mit dem zweiten Schritt kann sich nach SCHRÜFER tatsächlich eine interkulturelle Kompetenz herausbilden. Für die Verbindung beider Zugriffe bezieht sich SCHRÜFER auf das Lernstufenmodell nach BENNETT (1993). Mit diesem Modell werden die verschiedenen Ziele des interkulturellen Lernens strukturiert. Zunächst ist die Einsicht zu fördern, dass alle Menschen etwas Gemeinsames teilen. Im zweiten Schritt sieht das Lernstufenmodell die Anerkennung von kulturell bedingten Unterschieden vor. Damit kann drittens eine interkulturelle Kompetenz im Sinne eines zielgerichteten Handelns erreicht werden. Der Lernbegriff wird lernpsychologisch grundiert. Mit Bezug auf die Entwicklungspsychologen PIAGET und KOHLBERG lässt sich Lernen als eine sukzessive und einem bestimmten Muster folgende Entwicklung kognitiver Strukturen verstehen. BENNETT geht auf der Basis von Beobachtungen in verschiedenen Fortbildungsseminaren und Workshops zum interkulturellen Lernen davon aus, dass sich bestimmte kognitive Abläufe auch im Erlernen des Umgangs mit kultureller Vielfalt nachweisen lassen. Es wird zunächst bei den Lernenden ein Ethnozentrismus und dann ein Ethnorelativismus deutlich (SCHRÜFER 2009: 159). Die ethnozentristische Phase drückt sich in einer starken Überhöhung der Eigengruppe aus. Jedes Verhalten wird unter der Perspektive der eigenen Normen beurteilt und eine Abweichung von dem eigenen Normalitätsverständnis abgelehnt. In der ethnorelativistischen Phase sind die Lernenden dann in der Lage, sich aus der kulturell bedingten eigenen
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Wertehaltung zu lösen und die andere Gruppe anzunehmen (Akzeptanz, Anpassung), um schließlich in der höchsten Phase selbst zu entscheiden, welche der verschiedenen kulturbedingten Werte man für sich annehmen will (Integration) (ebd.: 163). Kulturverständnis Kultur wird als eine übergeordnete kollektive Denk- und Wertegrundlage verstanden, aus der heraus der Einzelne handelt. Ein konstruktivistisches Verständnis von Kultur zeigt sich dadurch, dass Kultur einerseits zwar als Ordnungsraster verstanden wird, andererseits aber die Strukturelemente variabel sind (ebd.: 159). Zwar gibt es kulturell bedingte Einflüsse auf das Verhalten des Einzelnen, diese sind aber nicht festgelegt, sondern veränderbar und damit ein Konstrukt. Veränderung lässt sich als Wandel der Bezugsebene denken (Ethnie, Nationalität, Geschlecht, Alter), aber auch als Wandel innerhalb einer Bezugsebene. Es soll vermieden werden, dass Jugendliche Kultur als etwas Essentialistisches verstehen (ebd.: 172). In der Konsequenz betont SCHRÜFER, dass der Abbau von Vorurteilen zwar ein wichtiges Ziel des Geographieunterrichts ist, aber für den Erwerb einer interkulturellen Kompetenz nicht ausreicht (ebd.: 165). Darüber hinaus sollen Schüler erlernen, die eigenen kulturell bedingten Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster zu reflektieren. Um diesen Schritt zu erreichen, überträgt SCHRÜFER die Erkenntnisse eines stufenhaften Lernfortschritts auf die Auswahl von Unterrichtsinhalten. In diesem Sinne werden untere Jahrgangsstufen zunächst mit dem Fremden bekannt gemacht, um Interesse zu wecken (Wie leben Kinder in anderen Ländern?), danach ist auf Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen einzugehen (Was haben wir Kinder an gemeinsamen Sorgen und Interessen?) und schließlich ist in höheren Jahrgangsstufen der kulturelle Perspektivenwechsel einzuüben (Warum verhalten sich Jugendliche in anderen kulturellen Kontexten anders? Wie ist das Verhalten aus deren Sicht zu verstehen? Wie wird mein Verhalten kulturell geprägt?)3. Kritik – Verunsichernde Erfahrung wird ausgeblendet Eine wesentliche Erfahrungsquelle der Schüler in der multikulturellen Gesellschaft ist die Begegnung mit (kultureller) Fremdheit. In dem Lernstufenmodell aber ist der Kontakt erst in der letzten Phase des interkulturellen 3
In Anlehnung an diesen Dreischritt liegt auch ein Unterrichtsbeispiel von KRAUSE (2011) vor.
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Kompetenzerwerbs „sinnvoll“ (ebd.: 173). So resümiert SCHRÜFER: „Wenn Schüler beispielsweise noch nicht zum Perspektivenwechsel fähig sind, kann der Kontakt mit Fremden dazu führen, dass Vorurteile bestätigt sowie die Polarisierung in ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ verbunden mit Bewertungen (gut und schlecht) verfestigt werden.“ (SCHRÜFER 2009: 173) Doch wie lässt sich das Lernstufenmodell in einer Gesellschaft umsetzen, die längst kulturell pluralistisch ist? Hieße das in letzter Konsequenz, die Lernenden vor dem kulturell Fremden zu ‚beschützen‘, bevor sie eine bestimmte interkulturelle Kompetenzstufe erreicht haben? Diese rhetorische Frage soll deutlich machen, wie wichtig es ist, die verunsichernden Erfahrungen der Schüler zu berücksichtigen. Über Begegnungen werden immer neue Menschen und Orte erlebt, die ganz anders sind, als das, was bisher Teil des Alltags der Schüler war. Es zeigt sich, dass sich das Leben nicht mit der idealtypischen Abfolge eines Lernmodells synchronisieren lässt (ähnliche Kritik bei BAUER 2006: 110). Die interkulturelle Kompetenz beinhaltet Konsequenzen für das Lernen, die innerhalb des Lernmodells einer Logik folgen, aber von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgehoben sind. Es lässt sich also vermuten, dass das Modell für die Planung des Geographieunterrichts eine Sicherheit suggeriert, die weltfremd wirkt. Auch wenn Unterricht als ‚Schonraum‘ verstand wird, kann er nicht außerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse gedacht werden. Kritik – Essentialisierung von Kultur Kultur wird als eine Struktur verstanden, die den Menschen bestimmte Denkweisen nahelegt. In der Begegnung aber kommt man zunächst in den Kontakt mit Menschen und Dingen und nicht mit den Denkweisen, Werten und Normen. Das zweite Problem des strukturellen Kulturbegriffs ist der damit einhergehende Quasi-Essentialismus. SCHRÜFER betont mehrmals, dass Kultur nicht essentialistisch zu verstehen ist (ebd.: 156, 158, 172)4. Doch was SCHLOTTMANN (2013) für den Begriff des „Raumes“ zeigen konnte, gilt nach
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Im Kontext der interkulturellen Kompetenzausbildung muss auf die „Grenzen des Konzepts der Kulturerdteil“ (SCHRÜFER 2009: 172) eingegangen werden. Dieser Hinweis überrascht insofern, als dass die Autorin noch 1999 in einem Lexikonartikel die Ansicht von TRÖGER wiedergibt, interkulturelles Lernen sei die „Voraussetzung für die erfolgreiche Realisierung des Kulturerdteilkonzepts“ (SCHRÜFER 1999:
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meiner Ansicht auch für „Kultur“. Wenn Kultur als Struktur verstanden wird, muss sie eine „ontologische Objektivität“ (SCHLOTTMANN 2013: 198) besitzen, weil einem sonst schlicht die Sprache fehlen würde, etwas über „Kultur“ zu sagen. Gleichwohl kann der Begriff epistemologisch ein Konstrukt sein. Es zeigt sich das Problem, dass das Verstehen des Fremden über die Reflexion der kulturellen Eingebundenheit an ein quasi-essentialistisches Kulturverständnis gebunden ist. Doch das essentialistische Denken soll eigentlich gerade vermieden werden. Sicherlich muss sich der Kulturbegriff nicht zwangsläufig auf die Nationalität beziehen, aber es braucht eine Kategorie zur Beschreibung der Ordnung, der man eine Wirkweise unterstellt. Damit liegt die Gefahr nahe, neue Vorurteile zu produzieren. So spricht SCHRÜFER davon, dass „Händchenhalten“ in „vielen Ländern“ als homosexuelle Geste, in „anderen Ländern“ aber als Zeichen der Freundschaft zu verstehen ist (2004: 203). Doch durch das Erklären von Fremdheit über kulturelle Strukturen geht die Bedeutung der Begegnung verloren, in der den Schülern auch Verunsicherung zugemutet wird. Die Essentialisierung erzeugt bei SCHRÜFER eine normalisierte Form des Fremdverstehens. Vielleicht würde sich in einem Gespräch mit händchenhaltenden Männern in den „anderen Ländern“ (ebd.) herausstellen, dass sie doch homosexuell sind. Es ist beispielsweise nach der islamischen Pflichtenlehre zwar verboten, Geschlechtsverkehr mit anderen Männern zu haben, nicht aber, sich in Seinesgleichen zu verlieben (BAUER 2011: 286). In der islamischen Literatur gibt es beispielsweise viele homoerotische Gedichte (ebd.). Oder es könnte in der Begegnung thematisiert werden, was den Männern Freundschaft bedeutet und inwiefern sich Freundschaft im „Händchenhalten“ (SCHRÜFER 2004: 203) ausdrückt. Dem quasi-essentialistischen Kulturbegriff steht bei SCHRÜFER im gleichen Modell ein individualisierter Kulturbegriff entgegen, der aber auch seine Probleme mit sich bringt. In der höchsten Kompetenzstufe – der „Integration“ – sind die Schüler in der Lage, sich aufgrund der vorangegangenen Reflexionsschritte von kultureller Zugehörigkeit abzulösen und sich eine eigene kulturelle Identität aufzubauen. SCHRÜFER selbst benennt Einwände gegen diesen Schritt. Die „Integration“ lässt sich als ein überzeichnetes „Idealmodell von Persönlichkeitsentwicklung“ zurückweisen (GROSCH & LEENEN in SCHRÜFER 2009: 163). Interessant ist nach meiner Auffassung dabei nicht so sehr der Aspekt, ob es „realistisch“ ist, die Schüler bis in die letzte Phase
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des Kompetenzmodells führen zu können. Ich frage mich vielmehr, wie erklärt werden kann, dass dieser Schritt überhaupt möglich ist. Anders gefragt, warum sollten Schüler über die Reflexion kultureller Eingebundenheiten in der Lage sein, diese zu verlassen? Für diese Position müsste es einen Ort jenseits der Eingebundenheit in eine als kulturell verstandene Ordnung geben. Müsste man dann nicht konsequenterweise von Trans- statt von Interkulturalität sprechen? Am Ende des Kompetenzstufenmodells lösen sich Eigenes und Fremdes in einem situativen Geschehen auf, in dem sich die Schüler ihre kulturelle Identität zusammenstellen können wie ihre Kleidung. Kritik – Instrumentalisierung von Empathie Kritisch in den Blick zu nehmen ist auch das Ziel des Unterrichts. Unter der interkulturellen Kompetenz ist die Fähigkeit zu verstehen, „in interkulturellen Situationen effektiv und angemessen interagieren zu können [...]“ (SCHRÜFER 2009: 153). Offen ist, was als „effektiv“, „angemessen“ oder auch „erfolgreich“ verstanden werden kann. Welches Verhalten sollen die Schüler zeigen? Wann ist eine Interaktion „angemessen“? Welches Verständnis von Zusammenleben zwischen Menschen steht hinter dem Ziel der Effektivität? Die Wortwahl suggeriert, man könne „objektiv“ erfassen, wann eine Interaktion wirksam ist und wann nicht. Irritierend ist auch, wenn SCHRÜFER mit Rückgriff auf BENNETT vorschlägt: „Der bewusste Gebrauch von Empathie ist hierbei der Schlüssel zur Entwicklung interkultureller Kompetenz. Empathie hilft uns, Erfahrungen zu verstehen, die für uns in unserer eigenen Kultur unpassend sind.“ (Ebd.: 159) Wie sehr lässt sich von Mitgefühl sprechen, wenn es für ein bestimmtes Ziel instrumentalisiert wird? Ich sehe auch die Gefahr, dass die Forderung nach Empathie letztlich Verunsicherungen einebnen will. Im größeren Kontext gesehen, stellt sich die Frage, inwieweit die Ziele des interkulturellen Lernens, beispielsweise Mitgefühl, durch den Kompetenzbegriff als etwas Standardisierbares gefasst werden können. Es liegt die Vermutung nahe, dass der Gegenstand durch den kognitionspsychologischen Zugriff BENNETTS so gedeutet wird, dass die Begegnung rational verstehbar und damit für Lernprozess messbar gemacht wird. Das Problem ist dabei, dass die Verunsicherung in der Begegnung unter dem Deckmantel des Strebens nach Effektivität in Beziehungen beseitigt wird.
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Kritik – Fehlende Reflexion der Rolle der Lehrperson Wenn die Vermittlung nicht nur vom Schüler, sondern auch vom Lehrer aus gedacht wird, zeigt sich bei der Adaption von Lernmodellen für die Unterrichtsplanung noch ein weiteres Manko. Die Rolle des Lehrers wird kaum berücksichtigt. Weil BENNETT die Lernenden und nicht die Lehrenden beobachtet hat, hängt die Konzeption des Lernmodells vom Verhalten der Schüler ab. Dabei ist es naheliegend, dass die Haltung, mit der die Lehrperson auftritt, gerade bei dem Thema der interkulturellen Begegnung bedeutsam ist. Dieser Aspekt wird von SCHRÜFER zwar mitgedacht (ebd.: 170), spielt aber bei den Gedanken zur Unterrichtsplanung und -praxis keine Rolle mehr. Die Autorin fordert, dass in der Lehrerausbildung die interkulturelle Kompetenz der Lehramtsanwärter gefördert werden soll, was auf den ersten Blick auch plausibel ist. Doch wird dabei unterstellt, dass jemand, der interkulturelle Kompetenz besitzt, diese auch vermitteln kann. Es ist also weiterhin zu fragen, welche spezifischen Anforderungen an die Vermittlung des interkulturellen Lernens bestehen. Zu vermuten ist, dass Unterrichtssettings, die sich auf Begegnungen einlassen, selbst von einer gewissen Unsicherheit geprägt sind, die sich durch vorgegebene Strukturmomente nicht vollkommen auflösen lässt. Fazit Den Umgang mit Unsicherheit bei interkulturellen Situationen will SCHRÜFER im Unterricht mit einem Kompetenzmodell in den Griff bekommen. Der Modellcharakter des Lernens, der zunächst die Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und schließlich von Unterschieden vorsieht, erleichtert eine vergleichsweise schnelle Reflexion von Unterrichtssituationen. Die erarbeitete Strukturierung der verschiedenen Ziele des interkulturellen Lernens und die abgeleitete Auswahl von Inhalten in einem Kompetenzmodell gibt konzeptionelle Sicherheit. Zu kritisieren ist aus der hier eingenommenen Perspektive, dass der Begegnung selbst kaum Platz eingeräumt wird. Das Stufenmodell suggeriert, man könne die Unsicherheit im Umgang mit Fremdheit „weglernen“. Der Kulturbegriff hat eine essentialistische Prägung. Die Gefahr besteht darin, dass die effektive Interaktion, die durch die interkulturelle Kompetenz gefördert werden soll, schlicht neue Vorurteile produziert. Auch die Erfahrung aus anderen Unterrichtsreihen zeigt die Notwendigkeit, die Begegnung in den Mittelpunkt zu stellen. So stellt BARTH ein interkulturelles Projekt vor, zu dem auch Interviews mit Migranten gehören. Er resümiert:
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„Das Interesse für die Thematik wurde bei den Schülerinnen erst durch die Gespräche mit den Migranten geweckt. [...] Dies belebte den Unterricht und brachte allen Beteiligten neue Ergebnisse.“ (BARTH 2000: 126) 2.2.2 Dekonstruktion nationaler Stereotype Im Geographieunterricht geht die Konzeptionalisierung der Vorurteilsforschung auf eine längere Tradition zurück (ITTERMANN 1989, WAGNER 1992, WINTER 1993). Ein aktueller Ansatz liegt von BUDKE (2004, 2006) vor. Dem Auftreten von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in der Gesellschaft soll über die Thematisierung nationaler Vorurteile beigekommen werden (BUDKE 2004: 28). Unter Rückgriff auf HAUBRICH (2004) kritisiert BUDKE (2004) den bisherigen Umgang mit Vorurteilen und legt einen eigenen Ansatz vor. Altes Lernziel Das Lernziel der klassischen Ansätze besteht darin, Vorurteile im Geographieunterricht zu korrigieren. Psychologisch werden Vorurteile als kognitive Schemata mit „vereinfachter Repräsentation“ der Umwelt verstanden, die einerseits gebraucht werden, um überhaupt handlungsfähig zu sein und andererseits problematisch sind, wenn sie einen geringen „Realitätsbezug“ haben (BUDKE 2004: 34-35). Es wird zudem angenommen, dass Vorurteile als spezifische kognitive Schemata in unerwünschtes Verhalten münden. Vereinfacht gesagt: wenn jemand davon überzeugt ist, dass alle Österreicher Autodiebe sind, ist zu erwarten, dass er in seinem Urlaub nicht mit seinem Auto nach Österreich fahren wird. Die Funktion nationaler Vorurteile ist, die eigene Gruppe zu stabilisieren, indem sie auf- bzw. die Fremdgruppe abgewertet wird. Nationale Vorurteile sind damit zwar in der einzelnen Person der Gruppe verinnerlicht, aber gleichzeitig immer auch Teil eines „kollektiven Wissensbestand[s]“ (ebd.). Altes Kulturverständnis Der kollektive Wissensbestand ist Teil einer Ordnung, die als „Kultur“ beschrieben wird. Kultur lässt sich als Orientierungsrahmen verstehen, der bestimmte Denk- und Verhaltensweisen den Mitgliedern unhinterfragt näher legt als andere (ebd.: 31). Die Menschen einer (National-)Kultur werden in ihrem Denken durch bestimmte (nationale) Vorurteile beeinflusst, indem sie
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sie als vereinfachte, aber falsche Repräsentation in ihrem kognitiven Schema verinnerlichen und sich entsprechend verhalten. Dazu werden Denkschemata bewusst gemacht und in einem weiteren Schritt mit der Realität verglichen, um „Stereotype der Fremde und den Fremden gegenüber aufzulösen“ (HAUBRICH in BUDKE 2004: 29, eigene Hervor.). Neues Kulturverständnis An dieser Stelle setzt BUDKE mit ihrer Kritik an drei Ebenen an. Einerseits hinterfragt sie das deterministische Verständnis von verinnerlichten nationalen Vorurteilen und dem daraus resultierenden Verhalten. Mit einer eigenen Erhebung mit internationalen Studierenden belegt die Autorin, dass in einer Beobachtungssituation nationale Vorurteile nicht bei allen Studierenden in gleicher Weise zu einem erwartbaren Verhalten führten (ebd.: 35). Die Aushandlung von Gruppenidentitäten ließ sich nicht kausal mit dem Gebrauch nationaler Vorurteile erklären. Stattdessen spielten auch andere Kriterien, wie ähnliche Interessen, Haltungen oder Lebenssituationen in diesen Prozess hinein. Zweitens hinterfragt BUDKE, ob der Realitätsgehalt von nationalen Vorurteilen überhaupt überprüfbar ist (ebd.: 30). Dem nationalen Vorurteil müsste eine Gegenwirklichkeit gegenübergestellt werden, die aber immer auch eine Vereinfachung und genauso wenig objektiv ist. BUDKE zeigt, zu welchen schwierigen Situationen ein solches Unterfangen führen würde, wenn beispielsweise erarbeitet werden soll, worin der „richtige“ „Volkscharakter“ einer Nationalkultur besteht (ebd.)5. Drittens mögen nationale Stereotype zwar Teil eines kollektiven Wissensbestandes sein, dennoch gibt es Grund zur Annahme, dass die kausale Wirkung gekammert gedachter Kulturen auf die Individuen abnimmt. Zum Beleg verweist BUDKE auf die „Weltgesellschaft“ und die individualisierte Gesellschaft als zwei Deutungen aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse, die beide von einer Bedeutungsabnahme der nationalkulturellen Ebene ausgehen. Eine „Weltgesellschaft“ konstituiert sich nach STICHWEH aufgrund
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Ein ähnliches Problem zeigt sich auch in dem Konzept von REUSCHENBACH. Hier soll durch interkulturelles Lernen die Beurteilungskompetenz gefördert werden. Die Beurteilung liegt darin, dass die Schüler „wissen, dass Vorurteile gegenüber Ausländern auf falschen Annahmen beruhen und [sie] bewerten diese Aussagen entsprechen negativ“ (REUSCHENBACH 2008: 16).
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zunehmender Globalisierungsprozesse (BUDKE 2004: ebd.). Im Fokus stehen dabei wirtschaftliche Verflechtungen und die damit einhergehende Schwächung nationalstaatlicher Steuerungsinstanzen (ebd.: 32). Für BUDKE ist Kultur als Orientierungssystem gleichzeitig nicht bedeutungslos geworden. Vielmehr „können natürlich kulturelle Unterschiede und die dem Verhandlungspartner zugeschriebenen Vorstellungen von eigenen kulturellen Prägungen handlungsrelevant werden. Sie müssen es aber nicht.“ (Ebd.: 33, eigene Hervor.) Somit ergibt sich mit der „Weltgesellschaft“ eine neue Ordnung, die die verschiedenen kulturellen Ordnungen rahmt. Zusätzlich gibt es die Tendenz zur Individualisierung innerhalb von Gesellschaften. Mit BECK geht BUDKE davon aus, dass die Individuen immer stärker selbst angehalten sind, sinnkonstituierend Bindungen im Leben aufzubauen (ebd.: 32). Klassische Strukturen wie Familie, Stand oder Herkunft wirken nicht mehr stabilisierend, sondern sind selbst einem Erosionsprozess unterworfen. Damit rückt das Individuum in den Vordergrund und insbesondere auch seine Gestaltungsmöglichkeiten in einer Situation aufweichender Begrenzungen. Diese Deutung macht es plausibel, menschliche Tätigkeiten nicht mehr als strukturell determiniertes Verhalten zu verstehen, sondern als ein aus einer Vielzahl von Optionen motivational abgeleitetes Handeln. Damit wird laut BUDKE deutlich, dass es zu „einfach“ gedacht ist, Konflikte zwischen Menschen als kulturell bestimmt zu deuten und nationalen Vorurteilen per se eine schlechte Wirkung zu unterstellen. Damit steht die Lehrperson vor der Herausforderung, nationale Vorurteile auflösen zu müssen, gleichwohl es die gesellschaftliche Realität als Vergleichsinstanz gar nicht gibt. Für BUDKE liegt die Lösung dieses Dilemmas darin, die Art der Herangehensweise zu ändern. Bisher wurde gefragt, wie realitätsnah nationale Vorurteile sind, also welche Qualität diese Beobachtung der Wirklichkeit hat. Dieses Unterfangen erscheint aber als unmöglich, da es weder eine universelle Erklärung für nationale Vorurteile gibt, noch eine sinnvolle Vergleichsmöglichkeit. In Anlehnung an LUHMANN schlägt BUDKE vor, die Frage nach der „Gegenstandswelt“ zu verlassen und stattdessen eine „Beobachtung der Beobachter“ vorzunehmen (ebd.: 33). In der Sprache LUHMANNS entspricht das einem Wechsel von dem „Operationsbereich“ „erster Ordnung“ in den Bereich der „zweiten Ordnung“ (ebd.). Dieser Vorschlag ist im Kontext des „Cultural Turns“ zu verstehen. Der „Cultural Turn“ beschreibt eine konstruktivistische Wende in den Kulturwissenschaften, die sich auch in der Geographie und der Geographiedidaktik
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unter dem Namen „Neue Kulturgeographie“ etabliert hat. Mit dem Verweis, dass die Verortung des Eigenen und des Fremden immer auch problematisch ist, wird diese Differenz zugunsten von „Vielfalt“ abgelöst (GEBHARDT et al. 2003: 4). Die „Ontologisierung überwiegend prämoderner Kulturgruppen“ soll durch eine „Analyse der Vielfalt räumlich und zeitlich nebeneinander existierender Kulturformen“ ersetzt werden (ebd.: 7). Um zu verhindern, dass mit solchen Analysen das Fremde überhaupt hervorgebracht wird, geht es in der Neuen Kulturgeographie nicht mehr darum, „geographische Wirklichkeit“ zu erfassen (LOSSAU 2003: 109). Schließlich wird die geographische Wirklichkeit „durch die Verhandlung geographischer Repräsentationen durch den Prozess der Verortung erst konstruiert“ (ebd.). Um Ontologisierungen zu vermeiden, spricht man von „geographischen Imaginationen“ (ebd.). Die „Betrachtung der Gegenstände“ spielt damit keine Rolle mehr. Stattdessen gilt es zu analysieren, „auf welche Art und Weise diese Gegenstände – notwendigerweise auch innerhalb des eigenen Arbeitens – betrachtet und damit (re-)produziert werden“ (ebd.: 110). Eine solche „andere Geographie“ (ebd.: 109) ist die folgerichtige Konsequenz aus dem erkenntnistheoretischen Zugriff des Konstruktivismus. Dem Konstruktivismus zufolge gibt es nicht „die Wirklichkeit“, sondern die Menschen konstituieren sie erst. Wenn die Wirklichkeit nicht erfassbar ist, macht es keinen Sinn, sie als Untersuchungsobjekt zu erheben. Vielmehr muss analysiert werden, wie das, was Wirklichkeit genannt wird, durch die Menschen hervorgebracht wird. Dementsprechend zeigt sich auch das Fremde überhaupt erst in der Beobachtung der handelnden Menschen (REICH 2008: 196-197). Neues Lernziel Zu fragen ist dem Ansatz von BUDKE nach damit nicht nach dem Umgang mit nationalen Vorurteilen (Beobachtung erster Ordnung), sondern, wie Menschen unter Zuhilfenahme von nationalen Stereotypen die Welt beobachten (Beobachtung zweiter Ordnung)6. Aus diesem Blickwinkel fällt auf, dass nationale Vorurteile immer in einer bestimmten Handlungssituation
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Anzumerken ist, dass HAUBRICH Fremdbilder nicht nur ‚korrigieren‘, sondern ebenso durch die Schulbucharbeit mit ergänzenden Perspektiven die „Objektivität“ (HAUBRICH 2004: 6) von Darstellungen hinterfragen möchte. Insofern ist sein Ansatz auch konstruktivistisch zu verstehen.
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von Menschen eingesetzt werden, um bestimmte Ziele zu erreichen. Die pädagogische Intervention besteht dann nicht mehr in der Überprüfung des Wahrheitsgehalts von nationalen Vorurteilen, sondern in der Reflexion von spezifischen Situationen, in denen die Vorurteile als Beobachtungsmöglichkeit von Welt genutzt werden. Diese spezifische Situation gibt es einerseits nur, weil sie durch Menschen mit Handlungszielen gebildet wird. Auf der anderen Seite existiert sie nicht losgelöst von Strukturen, die man als Kultur oder Weltgesellschaft verstehen kann. Die Beobachtung der Beobachter ermöglicht ein Verstehen von nationalen Vorurteilen, ohne auf kausale Erklärungsmuster zurückgreifen zu müssen. Dafür werden verschiedene Fragen an die Situation herangetragen. „In welchen typischen Situationen werden nationale Stereotype gebraucht? In welchen Situationen werden sie nicht eingesetzt? Aus welchen Motiven werden nationale Stereotype und Vorurteile verbreitet? Welchen individuellen Gebrauchswert besitzen sie?“ (BUDKE 2004: 37) Die Motive können dabei nicht nur auf der personellen, sondern ebenso auf der sozialen Ebene liegen. So sind Situationen analysierbar, in denen durch Akteure politisches Handeln mit Verweis auf nationale Stereotype legitimiert wird. Beispielsweise zeigte die Griechenlandkrise, wie das nationale Vorurteil des ‚faulen Südeuropäers‘ in der Deutung der Krise Konjunktur hatte7. Ein Motiv kann sein, Konflikte in der Problemanalyse und -lösung komplexer ökonomischer Zusammenhänge zu verschleiern. Schüler sollen nach BUDKE nicht entscheiden können, was richtige oder falsche nationale Vorurteile sind. Stattdessen zielt das neu zu vermittelnde Verständnis darauf ab, dass es sich bei nationalen Stereotypen um eine von vielen möglichen Beobachtungsweisen einer Situation handelt, deren Wahl an Motive gekoppelt ist. Kritik – Ziel der Reflexion BUDKE hat durch den situativen Bezug die Möglichkeit geschaffen, nach dem Gebrauch von nationalen Stereotypen in der Reflexion von Begegnungssituationen zu fragen. Für den Unterricht ist ein Comic denkbar, indem ein Gruppenkonflikt zwischen Jugendlichen visualisiert wird. Mit den Schülern ist
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Beispielsweise formuliert der Eurogruppenchef J. Dijselbloem den Vorwurf, Südeuropäer geben viel Geld für Frauen und Alkohol aus (HOPPE 2017: o. S.).
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herauszuarbeiten, welche Jugendlichen sich mit welchen Motiven auf die Beobachtungsmöglichkeit der religiösen Zugehörigkeit beziehen. Möglicherweise hat ein Beteiligter das Interesse, durch die Abwertung muslimischer Gruppenmitglieder seine Position innerhalb der Gruppe zu verbessern. Offen bleibt allerdings bei BUDKE, welche Ziele damit verbunden sind, wenn Schüler Einsichten darin erlangen, dass nationale Vorurteile nicht ausgetrieben wohl aber in ihrer situativen Nutzung aufgrund ihres Gebrauchswerts verstanden werden können. Zu vermuten wäre, dass die Schüler dadurch in die Lage versetzt werden sollen, sich schrittweise auch den eigenen Gebrauch von nationalen Vorurteilen durch eine imaginäre Beobachterperspektive auf sich selbst bewusst zu machen, um damit das eigene Handeln zu hinterfragen. Reflexion in dem Ansatz von BUDKE bezieht sich dann auf die Auseinandersetzung mit Motiven, die eine kognitive Verarbeitung voraussetzt. Die prinzipiell offenen Erlebnisse aus Begegnungen werden über Beobachtungsperspektiven eingegrenzt. Damit kann eine bestimmte Erklärung angeboten werden. Aber in einer Begegnung passiert ‚mehr‘, als was sich sogleich in Sprache bringen lässt. Ausschlaggebend für die Suche nach einem neuen theoretischen Zugriff, der dieses ‚Mehr‘ zum Thema macht, ist die Beobachtung, dass die Schüler, wie im Kapitel 1.2 dargelegt, von Auffälligkeiten sprachen, für die sie keine rechten Worte hatten. Schon die Präsenz der für sie Fremden hat irritiert. Kritik – Vermeidung von verunsichernder Erfahrung Wie bereits verdeutlicht, hat BUDKE in Bezug auf den Kulturbegriff eine kritische Haltung. Sie hält fest: „‚Kulturen‘ als dauerhafte Charakteristika eingrenzbarer Populationen zu definieren und ihnen Handlungsrelevanz zuzuweisen, scheint zunehmend unmöglich zu werden.“ (Ebd.: 33) Zu der Lösung, die „Gegenstandswelt“ zu verlassen und auf eine Metaebene über den „Operationsbereich der Beobachtung“ (ebd.) zu wechseln, gibt es eine Kehrseite. Im Geographieunterricht gerät die Ordnung der immer komplexer werdenden kulturellen „Gegenstandswelt“ aus dem Blick. Ich interpretiere die Verlagerung auf den „Operationsbereich zweiter Ordnung“ als eine Vermeidung der Auseinandersetzung mit verunsichernden Erfahrungen in Begegnungen selbst.
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Fazit BUDKE (2004) hat den Ansatz von HAUBRICH (2004) zum Umgang mit nationalen Stereotypen dadurch weiterentwickelt, dass Sie die Metaperspektive auf die Herstellungsweisen von Stereotypen betont. Damit hat BUDKE das Ziel der Reflexion im interkulturellen Lernen gestärkt. Aus der Perspektive eines anvisierten begegnungsorientierten Ansatzes ist der situative Bezug von BUDKES Konzeption hervorzuheben. Vorurteile sind eine (psychologische) Deutung, von dem, was sich in der Begegnung vollzieht. Allerdings besteht im Verlassen der unmittelbaren Erlebensebene in einen ‚Operationsbereich zweiter Ordnung‘ die Gefahr, dass gerade die wichtige Rolle der Erfahrungen aus dem Blick gerät. Es muss stattdessen darum gehen, die Erfahrungen aus kultureller Begegnungen mit einer Reflexion zu verbinden. Hinsichtlich einer Konzeptionalisierung interkulturellen Lernens, die den verunsichernden Charakter der Begegnung in den Fokus nimmt, ist nicht an den Vorurteilen anzusetzen, sondern an der Begegnung selbst. 2.2.3 Berücksichtigung der antirassistischen Perspektive Ergänzend zu den beiden bisherigen Ansätzen von BUDKE und SCHRÜFER stelle ich eine Schulbuchanalyse von MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE (2007) vor (ergänzend: MÖNTER & SCHIFFER NASSERIE 2004, MÖNTER 2008). Dabei handelt es sich nicht um einen konzeptionellen Ansatz, da die Autoren aus der Perspektive des antirassistischen Lernens Schulbücher analysieren. Der Zugriff ist hilfreich, weil abseits vom Umgang mit Vorurteilen und dem Verstehen des Fremden ein alternativer Zugriff in die Debatte eingebracht wurde. Ich werde zeigen, dass sich aus der antirassistischen Perspektive Implikationen für einen begegnungsorientierten Ansatz ableiten lassen. Forschungsperspektiven des antirassistischen Lernens Mit einem kritischen Blick auf die deutsche Gesellschaft legen MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE Rassismus als ein weiterhin bestehendes Problem offen. Dieser Ausgangspunkt veranlasst die Autoren, genauer zu prüfen, ob und wie sich die Perspektive des „antirassistischen Lernens“ im Geographieunterricht wiederfindet. Dafür untersuchen sie neben geographiedidaktischen Konzepten auch geographische Schulbücher, um der inhaltlichen Umsetzung im Unterricht näher zu kommen. Als Theoriebezug rekonstruieren MÖNTER &
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SCHIFFER-NASSERIE mit der psychologischen, soziologischen und politökonomischen Perspektive differenzierte Erklärungsangebote für Rassismus (2007: 17ff.). Psychologisch wird Rassismus als Fremdenfeindlichkeit im Zusammenhang mit Persönlichkeitsentwicklungen und mit Gruppenbildungsprozessen untersucht. Das Fremde dient dabei als Distinktionsfolie, um sich seiner selbst oder der eigenen Gruppe zu vergewissern. Die Erklärungslogik zielt auf die Stabilisierung des Eigenen durch Abgrenzung vom Fremden ab. Soziologisch verschiebt sich der Blick auf den Rechtsextremismus und damit auf die politische Einstellung der Menschen (ebd.: 50ff.). Die Einstellung zeigt sich in dem Willen der Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung von als fremd wahrgenommenen Personen. Als Erklärungsansatz dient hier die gesellschaftliche Positionierung, wobei fremdenfeindlich eingestellte Menschen als Verlierer der Modernisierung der Gesellschaft verstanden werden, die sich an den sozialen Rand gedrängt und abgehängt fühlen. Warum allerdings gerade die als fremd wahrgenommenen Menschen als „Sündenbock“ herhalten müssen, kann diese Perspektive nicht erklären. Auf politökonomischer Ebene wird Rassismus mit staatlichem Handeln in Verbindung gebracht (ebd.: 63ff.). Diese an Institutionen ausgerichtete Sichtweise will aufdecken, wie politische Herrschaft mit rassistischen Praktiken einhergeht. Durch die Praktiken werden Menschen aufgrund bestimmter biologischer Merkmale strukturell diskriminiert. Probleme der Schulbuchgestaltung aus antirassistischer Perspektive MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE setzen mit ihrer Kritik an dem Konzept des interkulturellen Lernens auf zwei Ebenen an. Sie stellen einerseits fest, dass der psychologische Ansatz gegenüber des soziologischen und politökonomischen Erklärungsansatzes überproportional stark Berücksichtigung findet. Es wird im interkulturellen Lernen der Fokus auf den einzelnen Menschen und weniger auf strukturelle Defizite gelegt. Lernziele knüpfen an der Förderung von Empathie, Toleranz oder der Befähigung zum Perspektivwechsel an. Die Verantwortung für das Problem des Rassismus wird damit individualisiert. Andererseits gehen mit der didaktischen Umsetzung des psychologischen Erklärungsansatzes einige Probleme einher. MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE entwickeln mehrere Ansatzpunkte, die sie in Geographieschulbüchern nachweisen können (ebd.: 175ff.). Die Probleme des psychologischen Ansatzes
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differenzieren die Autoren über die Schlagworte „Kulturalisierung“, „Utilitarismus“ und „Paternalismus“ (ebd.). Unter „Kulturalisierung“ ist zu verstehen, dass ein komplexer politischer Konflikt durch den „Catch-All-Begriff“ der Kultur überdeckt wird (ebd.: 176f.). In Geographieschulbüchern zeigt sich dieses Problem besonders im Konzept der Kulturerdteile (vgl. Kapitel 2.1). Wenn Menschen als Träger von Kulturen verstanden werden, steht schnell die Schlussfolgerung im Raum, Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen könnten durch die kulturelle Zugehörigkeit erklärt werden. Zudem eröffnet sich die Gefahr, dass politische Grenzen, die auf die Sicherung von Herrschaftsansprüchen zurückgehen, an den Rändern von Kulturerdteilen als quasi natürliche, kulturelle Grenzen missverstanden werden. In Geographieschulbüchern wird dann oft propagiert, Menschen sollten sich kulturell offener zeigen und sich toleranter gegenüber Andersdenkenden verhalten. Die Thematisierung von struktureller Ungleichheit und von problematischen Herrschaftsverhältnissen bleibt unberücksichtigt. Auch das Problem des „Utilitarismus“ (ebd.: 185f.) liegt in Schulbüchern vor. Nicht selten geht die Darstellung von Migranten als Einwanderer mit der Darstellung ihrer Nützlichkeit einher. Die Einteilung in eine In-Group von Deutschen und einer Out-Group von Ausländern wird dabei nicht hinterfragt. Stattdessen wird mithilfe eines monetären Kosten-Nutzen-Kalküls argumentiert, die Aufnahme von Ausländer würde sich lohnen. Der Fremde wird als eine Bereicherung dargestellt. Verwiesen wird auch auf die durch ihn hervorgebrachten kulturellen Einflüsse wie Speisen und Tänze oder der Verweis auf die Besetzung von Nischen auf dem Arbeitsmarkt. Die Argumentation zielt auf die Legitimierung des Daseinsrechts der Ausländer aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit ab. Der Ablehnung von Fremden, die in einer fremdenfeindlichen Haltung zum Ausdruck kommt, steht so die Aufwertung gegenüber. Mönter & SCHIFFER-NASSERIE sprechen dabei mit LISCHKE von einem „affirmativen Rassismus“ (ebd.). Denn die Logik, bestimmte Menschen nach deren Nützlichkeit für die Gesellschaft zu bewerten, wird auch bei der Herausstellung der positiven Seite von Einwanderung nicht verlassen und damit indirekt legitimiert. MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE legen noch ein weiteres Problem offen, dass sie als „Paternalismus“ bezeichnen (ebd.: 184-185). Während Utilitarismus die Darstellung des Fremden als nutzenbringendes Subjekt für die Gemeinschaft meint, spielt Paternalismus auf eine den Fremden zugeschobene
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Opferrolle an. Menschen kultureller Minderheiten werden als Adressaten von Hilfszuwendungen dargestellt. Die Autoren sehen darin die Ausprägung eines „Helfersyndroms“ (ebd.). Die Präsentation der kulturellen Überlegenheit als Relikt des Kolonialismus erlebt eine verdeckte Renaissance, indem durch das Helfer-Opfer-Verhältnis eine machtvolle Beziehung wiederbelebt wird. Wie SCHMIDBAUER (1997: 95ff.) analysiert, ist die Helfer-Beziehung darauf angelegt, die Gleichwertigkeit zu unterlaufen. Es sei denn, es werden Möglichkeiten eröffnet, wie das ‚Opfer‘ seinen Status wieder verlassen kann. MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE schlagen daher den „empowerment“-Ansatz vor, der für die Stärkung zur Selbsthilfe steht (2007: 185). In Schulbüchern zeigt sich Paternalismus zum Beispiel in Aufgabenstellungen wie dieser: „Diskutiert anhand der Materialien, wie den Ausländern bei uns geholfen werden könnte“ (BECKS et al. in MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE 2004: 227). MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE fordern für den Geographieunterricht eine stärkere Berücksichtigung der politökonomischen Perspektive, einhergehend mit einem reflexiven Umgang mit dem Begriff „Kultur“ (2007: 359ff.). Die Autoren haben konsequent herausgearbeitet, welche Probleme bei der Thematisierung von Fremden aus der antirassistischen Perspektive in Geographieschulbüchern sichtbar werden. „Besonders sticht dabei [bei den Analyseergebnissen] die Charakterisierung von Migranten als defizitär hervor. Diese Darstellung ist häufig verbunden mit einer Zuschreibung ihrer sozialen Position in Deutschland und der Reproduktion eines binären Schemas von Ausländern und Deutschen.“ (MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE 2007: 363)
Die von MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE vorgelegten Ergebnisse lassen sich durch weitere Studien untermauern. Bereits 2001 wurde von HÖHNE et al. eine umfangreiche Schulbuchanalyse vorgelegt, die zu ähnlichen Ergebnissen kam. „Die pädagogische Thematisierung von kultureller Differenz vermag sich nicht aus einem Paradox zu lösen: die Darstellung von Fremden ist auf signifikante Zeichen zu ihrer Charakterisierung angewiesen und reproduziert – trotz aller guten Absichten – die (Stereo-)Typen, zu deren Abbau sie angetreten ist. Wir haben bislang keine befriedigende Lösung für die hier nachgezeichneten Darstellungsprobleme gefunden.“ (HÖHNE et al. 2001: 71, eigene Hervor.)
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Auffällig ist die Konstanz dieses Problems. Auch in aktuellen Schulbuchanalysen wird es genannt. „Die Untersuchung zeigt, dass in den analysierten Schulbüchern die Problematisierung von Migration gegenüber der Darstellung von Diversität als Normalfall überwiegt. Migration wird in den Sozialkunde- und Geschichtsschulbüchern, teilweise auch in Geographieschulbüchern primär als konfliktträchtig und krisenhaft dargestellt.“ (BMFI 2015: 67)
In den verschiedenen Schulbuchanalysen wird deutlich, dass im interkulturellen Lernen ein Grundproblem bleibt: Wie kann man das Eigene und das Fremde in Beziehung zueinander thematisieren, statt nur das Fremde auf eine bestimmte (problematische) Weise darzustellen? Kritik – Antirassistisches Lernen oder interkulturelles Lernen? Ein Problem der Schulbuchanalyse ist, dass sie die dichotome Debattenstruktur aus der Auseinandersetzung mit Kulturerdteilen weiterführt. Die antirassistische Perspektive beklagt dann eine vernachlässigte Thematisierung von struktureller Benachteiligung. Die interkulturelle Perspektive hält entgegen, dass Kultur als wirksame Prägung für das Zusammenleben vom antirassistischen Ansatz unterschätzt wird. Dieser Schlagabtausch kann keinen Gewinner haben. Eine Alternative ist, unabhängig von theoretischen Deutungen, in Begegnung zu kommen und Vielfalt zu erleben. Die Problematik bei MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE ist den bisherigen Ansätzen des interkulturellen Lernens ähnlich: Die Theorieperspektive erzeugt eine bestimmte Ordnung. Es gibt Schuldige und Opfer. Die Verunsicherung ist damit aufgelöst. Kritik – Fehlende Umsetzbarkeit des Ansatzes Zweitens sind die Vorschläge für eine verbesserte Schulbuchgestaltung sehr offen formuliert. Bei MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE heißt es zum Beispiel, „im Mut zu klaren Positionen bestünde ein ebenso einfacher wie effektiver Beitrag zu einer besseren Schulbuchgestaltung“ (2007: 363). Zwar könnte entgegnet werden, dass eine detaillierte Neukonzeption von Schulbüchern nicht Ziel einer Schulbuchanalyse ist. Dann bleibt aber grundsätzlich die Frage nach dem Sinn einer „Schulbuchschelte“, die über eine Forderung nach einem reflexiven Umgang mit dem Medium Schulbuch hinausreichen
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will. Da auch Schulbuchforscher Wirklichkeit konstruieren, ergibt sich zunächst das Bild einer Parallelwelt, in der es fehlerhafte Schulbuchgestalter und weise Forscher gibt. Aus dieser Deutung ist nur ein Entkommen möglich, wenn man danach fragt, welche Schwierigkeiten gerade mit der visuellen Darstellung des interkulturellen Lernens verbunden sind. So ist die Reduzierung des Gegenübers über das Label einer bestimmten Kultur eine mit Recht zu kritisierende Praxis. Es suggeriert ein Wissen über den Anderen, dass immer vereinfachte Bilder erzeugt. Doch Schulbuchgestalter müssen etwas abbilden. Das Problem ist also weitreichender als das Fehlen einer Perspektive. Ich will diesen Aspekt an einem Beispiel deutlich machen. Im Fazit ihrer Studie schlagen MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE vor, mit einem „maßvollen Gebrauch von ‚Kultur‘ als Deutungsmuster für Verschiedenheit [...] verzerrende Fremdzuschreibungen“ zu vermieden (ebd.: 364). Allerdings braucht es für diese Forderung eine Festlegung des ‚richtigen‘ Maßes. Nur, woher nimmt man diese Gewissheit, ohne in ein Denken zu verfallen, dass es gerade zu vermeiden gilt? Die in dieser Arbeit zu entwickelnde Alternative ist, daran anzuknüpfen, wie Verschiedenheit in der Begegnung erlebt wird. Fazit Mit MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE war es möglich, eine Sensibilisierung für Probleme, die mit den psychologischen Erklärungsansätzen im interkulturellen Lernen einhergehen, vorzunehmen. Ich habe an dieser Stelle die Analyse von MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE ausführlich besprochen, denn die Autoren machen mit der antirassistischen Perspektive auch für einen begegnungsorientierten Ansatz auf wichtige Punkte aufmerksam, die es zu vermeiden gilt. In der Begegnung kann es ebenso zu Paternalismus, Utilitarismus und Kulturalismus kommen. Sei es, das der Andere auf bestimmte kulturelle Kriterien reduziert oder sich ihm in vermeintlich guter Absicht helfend genähert wird. STÖBER (2003: 43-44) schlägt zur Vermeidung dieser Probleme zum Beispiel vor, ein Thema in einer Gruppenarbeit durch verschiedene Schülerperspektiven zu bearbeiten, anstelle „Migrantenkinder“ aufgrund ihres Status als „Experten“ einzusetzen. Darüberhinausgehend ist herauszuarbeiten, wie eine Begegnung theoretisch verstanden werden kann, die die Kritikpunkte von MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE aufnimmt. Es muss ein Ansatz sein, der nicht über das Fremde spricht, denn dieser Aspekt ist das, was Paternalismus, Utilitarismus und Kulturalismus eint.
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Kritisch wurde von mir bei der Schulbuchanalyse auf die Problematik der Gegenüberstellung von antirassistischer und kulturalistischer Perspektive hingewiesen. Die Kritik an staatlichem Handeln im Geographieunterricht macht die Thematisierung von Verunsicherung in der konkreten Begegnung nicht obsolet. Die Reflexion kultureller Eingebundenheit (SCHRÜFER 2009), der situativen Nutzung von Vorurteilen (BUDKE 2004) und von staatlichen Diskriminierungspraktiken (MÖNTER & SCHIFFER-NASSERIE 2007) haben ihre Berechtigung im interkulturellen Lernen. Ich plädiere in dieser Arbeit allerdings dafür, in einem Konzept des interkulturellen Lernens mit der Situation zu beginnen, die die Schüler unmittelbar betrifft und die nach meiner Analyse bisher unzureichend Berücksichtigung findet. Das sind die eigenen (verunsichernden) Erfahrungen aus kulturellen Begegnungen. Damit folge ich THIERER mit seiner Feststellung: „[Die] Begegnung mit Fremdheiten [darf] nicht auf kognitive Aspekte reduziert werden, während emotionale und affektive Bedürfnisse der Menschen in den Hintergrund treten.“ (THIERER 2008: 146) Es braucht einen begegnungsorientieren Ansatz, der Verunsicherung in der Beziehung von Eigenem und Fremdem zulässt, ohne sie vorschnell einfangen zu wollen.
KONZEPTE DES INTERKULTURELLEN LERNENS IN DER PÄDAGOGIK Nachdem gezeigt werden konnte, dass es in der Geographiedidaktik an einem begegnungsorientierten Ansatz fehlt, der von der verunsichernden Erfahrung ausgeht, soll nun untersucht werden, ob im Feld der interkulturellen Pädagogik konzeptionelle Ansätze zu finden sind, die die Begegnung aufgreifen. Da es sich bei dieser Arbeit um einen geographiedidaktischen Zugriff handelt, werde ich mich im Bereich der interkulturellen Pädagogik auf die Standardwerke von GOGOLIN & KRÜGER-POTRATZ (2006) sowie AUERNHEIMER (2005) beziehen, um einen wichtigen Bereich des Diskussionsstands abzudecken. In der Pädagogik gibt es eine deutlich umfangreichere und länger zurückreichende Entwicklung des interkulturellen Lernens. Pädagogik interessiert sich dabei nicht nur für Unterricht, sondern auch für die Institution Schule im Allgemeinen und andere Bereiche gesellschaftlichen Lebens, in denen
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pädagogisches Handeln vollzogen wird. Da sich all diese Bereiche durch die Entwicklung hin zu einer multikulturellen Gesellschaft verändern, verwundert es nicht, dass in der Pädagogik eine ausführliche Debatte geführt wird. In der Pädagogik war und ist zu klären, wie Schule auf eine Gesellschaft reagiert, die durch Migrationsbewegungen kulturell vielfältiger wird. Migrationsbewegungen hat es schon immer gegeben, doch mit der systematischen Anwerbung von ‚Gastarbeitern‘ seit den 1960er-Jahren hat sich das Ausmaß erheblich vergrößert. Spätestens mit der gescheiterten Politik der Rückführung von Migranten und der generationenübergreifenden Niederlassung in Deutschland verändert sich das gesellschaftliche Bild. Ausdruck der Deutung der neuen Gesellschaftsform ist der Begriff des Multikulturalismus. Dieser entstammt einer wissenschaftlichen und politischen Debatte der 1980er Jahre (NEUBERT et al. 2008: 9). Multikulturalismus ist eine neue Deutung der Vielfältigkeit in der Zusammensetzung der Bevölkerung der deutschen Gesellschaft. Die Differenzierung gesellschaftlicher Gruppen wird über den Kulturbegriff vorgenommen. Schule musste darauf auf mindestens zwei Ebenen reagieren. Zunächst galt es, gerade auch im Zuge der Familienzuführungen, die jungen Migranten zu beschulen und dabei auf ihre spezifische Situation einzugehen. Zu Beginn wurde dabei der Fokus auf die Sprachförderung in eigens angelegten Klassen gelegt, später förderte man die Eingliederung in den normalen Schulbetrieb. Zum anderen wurde unübersehbar, dass sich in Teilen der Mehrheitsgesellschaft eine ablehnende Haltung gegenüber Migranten etablierte. Auf diese Entwicklung sollte in der Schule reagiert werden, indem neue Unterrichtskonzepte entworfen wurden. Interkulturelles Lernen ist als ein solches pädagogisches Konzept zu verstehen (GOGOLIN & KRÜGER-POTRATZ 2006: 111). Es interessiert in dieser Arbeit dabei vor allem, welche theoretischen Grundlagen für die Konzepte in der interkulturellen Pädagogik herangezogen wurden. GOGOLIN & KRÜGER-POTRATZ (2006: 109ff.) unterscheiden die Konzepte über den Begriff der „Kultur“. Für eine Erklärung beziehen sich die Autorinnen auf den Ethnologen GEERTZ, der Kultur als „Geflecht von Bedeutungen [versteht], in denen die Menschen ihre Erfahrung interpretieren und nach denen sie ihr Handeln ausrichten“ (GEERTZ in GOGOLIN & KRÜGER-POTRATZ 2006: 119). In der Definition von GEERTZ wird eine Ordnungsfunktion angesprochen, deren Wirksamkeit nicht offensichtlich ist. Kultur ermöglicht unhinterfragte Routinen. Gleichzeitig ist Kultur nichts Festgeschriebenes sondern ein Konstrukt. Denn das „Geflecht von Bedeutungen“
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könnte sich ändern (ebd.). Sie sehen dieses Verständnis als Grundlage für alle modernen Theorien in der interkulturellen Pädagogik. Um auf die Rolle der Begegnung in den Theorien einzugehen, hilft es, die von den Autorinnen bei HOHMANN entnommene Trennung zwischen „begegnungsorientierten“ und „konfliktorientierten“ Ansätzen zu nutzen (HOHMANN in NIEKE 2008: 34-35). Während es in der Konfliktpädagogik um die Vermeidung einer ablehnenden Haltung wie Ausländerfeindlichkeit und Ethnozentrismus geht, will die Pädagogik der Begegnung zur Realisierung eines friedlichen Zusammenlebens beitragen (ebd.). GOGOLIN & KRÜGER-POTRATZ (2006: 119) verbinden den begegnungsorientierten Ansatz mit einer kulturanthropologischen Theoriebildung. Für den konfliktorientierten Ansatz ziehen sie eine gesellschaftstheoretische Theoriebildung heran. Begegnungsorientierte Ansätze bei GOGOLIN & KRÜGER-P OTRATZ Kulturanthropologie fragt nach dem Einenden aller Menschen. Das Einende wird in Universalien zusammengefasst, die, so die Theorie, sich in den Erfahrungen und Wahrnehmungen aller Menschen wiederfinden (ebd.: 120). Der Mensch wird als grundsätzlich vernunftbegabtes Wesen verstanden, das dazu fähig ist, den Anderen als Seinesgleichen anzuerkennen. Als wichtigster Vertreter aus der Pädagogik für die Strömung gilt ROTH. Für die interkulturelle Pädagogik wurde aus der Kulturanthropologie das zentrale Ziel der Anerkennung des Anderen abgeleitet. Kulturen besitzen weiterhin eine Ordnungsfunktion für die Deutung der eigenen Erfahrung und des Handelns, aber es überlagert nicht die einenden Erfahrungen aller Menschen. Das zweite wichtige Ziel der interkulturellen Pädagogik ist die Anerkennung von Verschiedenheit. Sie wird möglich, indem einerseits davon ausgegangen wird, dass es kulturbedingte Differenzen gibt und andererseits, das der Mensch dazu fähig ist, „durch das ‚Andere‘ auch ‚Sich selbst‘ zu kennen und zu verstehen“ (BORRELLI in GOGOLIN & KRÜGER-POTRATZ 2006: 121). In der Begegnung bzw. noch konkreter durch den Dialog wird es laut dieses Ansatzes möglich, den anderen und sich selbst zu verstehen. „Stets liegt der Ausgangspunkt im Gegenüber zweier gleichberechtigter Subjekte, die sich nicht als ,es‘, sondern als ‚Du‘ begegnen und deren Kontakt und Auseinandersetzung dialogisch vermittelt wird.“ (ROTH in GOGOLIN & KRÜGERPOTRATZ 2006: 121) Durch das dialogische Miteinander wird schließlich
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auch kultureller Wandel möglich. Kritisiert wird an dem begegnungsorientierten Ansatz, dass die Möglichkeiten des dialogischen Prinzips überhöht werden (ebd.: 122). Gesellschaft ist immer auch von Macht- und Herrschaftsstrukturen durchzogen, die hier aber keine Berücksichtigung finden. An eine Begegnungsorientierung in der Geographiedidaktik ist die Kulturanthropologie anknüpfbar, da sie an der Mikroebene, also den Menschen und deren Interaktionsweisen, ansetzt. Es zeigte sich die Wichtigkeit, mit der Erfahrung aus Begegnungen zu arbeiten. Damit lässt sich das dialogische Prinzip für Lernumgebungen im Geographieunterricht nutzen. Andererseits werden Befremdungserfahrungen nicht berücksichtigt. In der Theorie fehlt der Aspekt, dass im Selbst und im Anderen auch etwas Unverfügbares steckt, was die Begegnung erschweren kann. Die Befremdung verschwindet in der Vorstellung einer Weltgesellschaft. Eine Alternative ist, den Wert der Begegnung darin zu sehen, dass das dialogische Prinzip gerade aufgrund der potentiellen Fremdheit des Anderen seine verbindende Kraft hat. Andererseits ist es offenkundig, dass eine Befremdungserfahrung auch trennend wirkt. Zu verstehen ist, wie die Begegnung immer wieder auf eine neue Art eingegangen werden kann, obwohl und weil der Andere immer ein Fremder bleibt. Diesen Punkt greift die „postmoderne Philosophie“ auf, die die begegnungsorientierten Ansätze erweitert (GOGOLIN & KRÜGER-POTRATZ 2006: 125). In dieser Strömung wird hinterfragt, was das universell verbindende aller Menschen ist und welche Lebensformen heute prägend sind. Zudem plädiert die postmoderne Philosophie für eine Anwendung der Theorie in der empirischen Forschung. In der Erforschung von Bildungsprozessen wird dann „Differenzerfahrung als generelle Grunderfahrung der Mitglieder von heterogenen Gesellschaften verstanden“ (ebd.). Allerdings droht damit auch, dass Fremdheit zu einer beliebigen Kategorie wird. In jedem Fall wird deutlich, dass sich philosophische Zugriffe anbieten, um die Verbindung von Begegnung und Verunsicherung besser zu verstehen. Konfliktorientierte Ansätze bei GOGOLIN & KRÜGER-POTRATZ In „konfliktorientierten Ansätzen“ wird mit dem konstruktivistischen Verständnis nicht danach gefragt, was Kultur ist. Von Interesse aus gesellschaftstheoretischer Perspektive ist stattdessen, wie in einer von Ungleichheiten geprägten Gesellschaft der Begriff „Kultur“ als Legitimierung von Machtverhältnissen herangezogen und damit eine Gleichberechtigung von
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Kulturen verhindert wird. Beispielhaft dafür steht die Bezeichnung „deutsche Leitkultur“. In diesem Begriff manifestiert sich der Widerspruch zwischen einer qua Verfassung festgeschriebenen pluralistischen Gesellschaft, die eine Vielfalt von Lebensformen ermöglichen will, und der Bevorzugung von bestimmten als kulturell leitend verstandenen Praktiken und Strukturen. Interkulturelle Pädagogik will aus dieser gesellschaftstheoretischen Perspektive dazu beitragen, gesellschaftliche Ungleichheiten abzubauen (ebd.: 123). Das Ziel bezieht sich nicht nur auf die Anerkennung des Anderen als Menschen, sondern auf die Förderung der Einsicht, dass in einer Gesellschaft unabhängig von der Kultur die gleichen Teilhabemöglichkeiten gewährleistet sein müssen. Es wird davon ausgegangen, dass der Kulturbegriff interessengebunden instrumentalisiert wird, um soziale Missstände zu verdecken. Vertiefend lässt sich der gesellschaftstheoretische Ansatz in strukturtheoretische und kultursoziologische Denkweisen differenzieren. In Ansätzen, die strukturtheoretisch arbeiten, zeigt pädagogische Forschung in der Schule auf, wie Kinder mit Migrationshintergrund durch die schulische Struktur darin benachteiligt werden, an dem Erwerb von Bildungszertifikaten zu partizipieren. Argumentiert wird, dass ihnen strukturell ein sozialer Aufstieg verwehrt bleibt. Im angloamerikanischen Raum gibt es eine längere Tradition, strukturelle Benachteiligungen im Unterricht zu thematisieren. Als antirassistische Erziehung hat sich dort aus der Gesellschaftstheorie ein Ansatz entwickelt, der die Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe oder bestimmter ethnischer Zugehörigkeiten durch staatliches Handeln aufgreift (vgl. Kapitel 2.2). In kultursoziologischen Ansätze wird als Kultur ein spezifischer Distinktionsmechanismus verstanden, der Abgrenzungen zwischen den Positionen der Menschen in einer Gesellschaft ermöglicht. Damit rückt der Einzelne in dieser Theorie stärker in den Mittelpunkt, gleichwohl gesellschaftliche Strukturen weiterhin mitgedacht werden. Ähnlich wie in den strukturtheoretischen Bezügen liegt der Analysefokus darauf, wie in einer Gesellschaft bestimmte kollektivierte Weltdeutungen als kulturell verstanden und zur Legitimierung von Machtansprüchen herangezogen werden. Allerdings wird dem Menschen insofern mehr zugetraut, als dass er sich situativ zwischen verschiedenen als kulturell verstandenen und die Gesellschaft durchlaufenen Differenzlinien selbst verorten kann. Die Verortungspraxis ist zweckgebunden. Der gleiche Fliesenleger, der beim Schauen eines Länderspiels in sei-
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nem Stammlokal über die ‚blöden Polen‘ schimpft, kann sich auf der Baustelle mit seinen polnischen Kollegen als Gruppe in Abgrenzung von den Heizungsmonteuren verstehen. Ausschlaggebend dafür ist, welche Handlungsweisen dem Fliesenleger in den jeweiligen Situationen unhinterfragt als ‚normal‘ erscheinen (vgl. Kapitel 2.2). Die intuitive Wahrnehmung wiederum hängt auch von der sozio-kulturellen Lage des Fliesenlegers ab. Die hier angedeutete Verbindung von Struktur und Handlung fließt in dem HabitusKonzept von BOURDIEU zusammen (ebd.: 130). Die interkulturelle Pädagogik untersucht mit diesem Theoriehintergrund auf Basis historischer Analysen, wie in der Schule „Normalitätskonzepte“ aus der Vergangenheit wirken (ebd.: 132). Beispielsweise kann untersucht werden, wie die lang etablierte Vorstellung eines homogenen Nationalstaats noch heute die Entscheidungen von Akteuren in der Schule beeinflusst. Interessant für die Forschung ist auch, wie Jugendliche kulturelle Selbst- oder Fremdverortungen aushandeln und sich Formen der Zugehörigkeit neu formieren. Zudem wird untersucht, wie sich die Teilhabechancen von Menschen in der Gesellschaft verändern, wenn sie sich auf verschiedene kulturelle Praktiken beziehen und damit durch ihr Handeln hybride Kulturen bilden, die die klassischen Distinktionslinien durchkreuzen. Unterrichtskonzepte, die sich auf diese Theorie beziehen, wollen vermitteln, dass es möglich ist, „sich vom Eingesperrtsein in vermeintlich reine ‚kulturelle Identitäten‘ befreien“ zu können (ebd.: 134). Mit dem Theoriehintergrund des „konfliktorientierten Ansatzes“ wird deutlich, dass er auf den ersten Blick nicht anknüpfungsfähig für eine begegnungsorientierte Unterrichtskonzeption ist. Indem nicht gefragt wird, was Kultur ist, sondern welche Funktion sie in bestimmten Kontexten hat, spielt die Frage nach der Erfahrung der Schüler mit Befremdung keine Rolle. Die Theorieperspektiven mahnen dennoch, die persönliche Erfahrung kritisch zu betrachten. Aus kultursoziologischer Perspektive lässt sich hinterfragen, ob sich in den Aussagen der Schüler tatsächlich ihre Erfahrung ausdrückt oder sie ein erwünschtes Verhalten zeigen. Begegnungsorientierte Ansätze bei AUERNHEIMER Vergleicht man die Theoriebezüge von GOGOLIN & KRÜGER-POTRATZ (2006) mit AUERNHEIMER (2005) fällt auf, dass sich die anthropologisch-philosophischen Theorien aus den begegnungsorientierten Ansätzen hier ebenso wiederfinden lassen wie die gesellschaftstheoretischen Theorien aus den konfliktorientierten Ansätzen. Im Unterschied zu GOGOLIN & KRÜGER-
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POTRATZ (2006) thematisiert AUERNHEIMER bei den philosophischen Theorien zum Verstehen des Anderen stärker die Grenzen dieses Unterfangens und denkt dabei die Befremdung explizit mit. AUERNHEIMER resümiert diesbezüglich: „Auch und gerade eine von naivem Realismus freie Pädagogik muss also das Phänomen der Fremdheit in menschlichen Beziehungen anerkennen, was als erstes die Forderung an die Pädagog(inn)en zur Konsequenz hat, sich Befremden einzugestehen, Differenzen zu akzeptieren, um sich auf sie einlassen zu können, anstatt sich des Anderen verstehend zu bemächtigen.“ (2005: 106-107)
Eine zentrale Bezugstheorie für dieses Denken ist die Hermeneutik, die die potentielle Offenheit von Deutungen betont und nach verschiedenen Möglichkeiten des Auslegens fragt (ebd.: 103). Die „Einsicht in die Verstehensgrenzen“ (ebd.) untergräbt das Sicherheitsbedürfnis der Menschen. Aus gesellschaftlicher Perspektive ist es sogar von Nöten, davon auszugehen, dass Menschen Situationen ähnlich verstehen, weil ansonsten ein Zusammenleben gar nicht möglich wäre. Dennoch gerät das Verstehen an Grenzen und zwar denn, wenn die üblichen Deutungen nicht mehr weiterhelfen und eine Irritation auslösen. Dieser Aspekt ist mit Blick auf den Fall in Kapitel 1.2 relevant. Die durch die Schüler geäußerten Befremdungen verweisen auf ein Nichtverstehen, da bisherige Deutungsmechanismen gestört wurden. Anders als in der vorurteilsbezogenen Forschung (Kapitel 2.2.2) gehört Befremdung in der philosophischen Deutung zur Erfahrung, da Verstehen immer auch an Grenzen stößt. Mit dem begegnungsorientierten Ansatz verliert Verunsicherung seinen negativen Anklang. Perspektivisch kann so der Weg freigemacht werden, nach einem vertieften theoretischen Verständnis von und nach Umgangsformen mit Fremderfahrungen zu fragen. Fazit In der Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen der interkulturellen Pädagogik wurde erkennbar, dass sich mit philosophischen Theorien in den begegnungsorientierten Ansätzen die Erfahrungen der Schüler aufgreifen lassen. Mit Gogolin & Krüger-Potratz zeigte sich die Bedeutung des Dialogs für das Verstehen des Anderen. Befremdung wird als Grunderfahrung des Menschen gedacht. Diese Deutung darf nicht nur als Floskel in den Raum
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gestellt werden, sondern muss für eine Implementierung in den Geographieunterricht genauer geprüft werden. Auernheimer lässt sich als Bestärkung für dieses Unterfangen lesen, denn er fragt danach, wie das „Phänomen der Fremdheit“ genauer zu verstehen ist. Im weiteren Verlauf wird die Umsetzung eines solchen Ansatzes vorgestellt. Zunächst möchte ich dafür mit einem weiteren Aspekt belegen, dass es gerade die Verunsicherung ist, die interkulturelles Lernen prägt. Dafür zeige ich, welche Schwierigkeiten sich aus der Perspektive der Lehrer offenbaren.
DAS INTERKULTURELLE LERNEN VERMITTELN Eine Studie von ADAMS (2004) verdeutlicht die Perspektive von Geographielehrenden auf das interkulturelle Lernen. Der Autor fragt danach, inwieweit beim Thema ‚Migration‘ für Lehrer auch Facetten des interkulturellen Lernens eine Rolle spielen. Der Autor stellt zunächst fest, dass in Lehrplänen (aus Nordrhein-Westfalen) schon seit Mitte der 1990er Jahre neben den klassischen „raumstrukturellen Aspekten“ von Migration die Thematisierung des gemeinsamen Zusammenlebens Einzug gehalten hat (ebd.: 232). Die quantitative Befragung unterrichtender Lehrern zeigte allerdings ein anderes Bild. Demnach verzichtete die Hälfte der 56 Teilnehmer an der Studie komplett auf eine Umsetzung der „innovativen“ Inhalte. Nur zehn Lehrer gaben an, thematische Aspekte zur Migration, wie „Ausländer bei uns“, „Arbeitsmigration“ und „Zuwanderung nach Europa“ im vollen Umfang zu berücksichtigen (ebd.). Resümierend stellt ADAMS (2004: 243) fest: „Trotz dieser langen Zeitspanne [seit 1993] lässt die Umsetzung zu wünschen übrig“. Obwohl er der Realisierung des interkulturellen Lernens eine wichtige Bedeutung einräumt, wird von ihm bezweifelt, „ob die Geographiedidaktik die notwendige Bewusstseinsänderung herbeiführen will und kann“ (ebd.: 244). Zur Diskussion nach Ursachen für diesen Befund kommt der Autor neben strukturellen Argumenten (Berücksichtigung der verspäteten Neuausrichtung in Lehrwerken und schulinternen Curricula) auch auf die Lehrperson selbst zu sprechen. Für ihn hat die Befragung deutlich gemacht, dass Ziele und Inhalte des interkulturellen Lernens eine erhebliche Verunsicherung bei Lehrkräften auslösen. „Das größte Hindernis dürfte also in dem Konfliktpotential des Themas liegen – weniger im politischen als im pädagogischen Sinne. Die Lehrer wollen vermeiden, Probleme zu thematisieren, für die sie
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möglicherweise in ihrer Klasse keine befriedigende Lösung anbieten können.“ (Ebd.: 245) Hier ist dem Autor zu Folge die Fachdidaktik gefordert. Sie muss die Lücke zwischen der pädagogischen Notwendigkeit und der unterrichtlichen Umsetzbarkeit schließen. Geographielehrer brauchen nach ADAMS mehr Hilfe dabei, mit dem affektiv besetzten Thema umzugehen. Interkulturelles Lernen ist also durchaus ein anspruchsvolles Unterfangen für Lehrer. Interessanterweise wird eine Thematisierung vermieden, obwohl die bisherigen Konzepte des interkulturellen Lernens bereits stark kognitiv ausgerichtet sind (vgl. Kapitel 2.2). BUDKE (2004) oder SCHRÜFER (2009) bieten beispielsweise konzeptionelle Lösungsmöglichkeiten an. Meine Idee für ein alternatives Konzept ist es daher, im Unterricht bewusst die affektive Ebene stärker aufzugreifen. Ich werde ein Lehr-Lern-Arrangement vorstellen und begründen, mit dem Unsicherheit als normal thematisiert und die Perspektive der Schüler eingebunden wird. Eine andere Ursache für ADAMS Befund kann sein, dass interkulturelles Lernen bereits in der Fachdidaktik einen schweren Stand hat. Aus fachdidaktischer Sicht wird „interkulturelles Lernen“ zwar als „besonders wichtige[s] Anliegen des Geographieunterrichts“ (DGfG 2007: 7) eingeordnet, wohlgemerkt aber nur dann, wenn man die „fachübergreifenden und fächerverbindenden Bildungsaufgaben“ (ebd.) betrachtet. Der diffuse Eindruck, dass interkulturelles Lernen im Geographieunterricht einerseits gewollt ist, dass aber die Implementierung andererseits mit einer gewissen Distanz einhergeht, zeigt sich auch beim genauen Lesen einschlägiger Literatur. So resümiert KROß (2000: 424) in einem Einführungsartikel zum interkulturellen Lernen im Geographieunterricht, „dass im Geographieunterricht als einem Fachunterricht nur ein Beitrag zur interkulturellen Erziehung geleistet werden kann, denn seine eigentlichen Ziele und Aufgaben sind breiter angelegt“. Damit knüpft KROß an die bildungspolitischen Vorgaben der Kultusministerkonferenz an, interkulturelles Lernen als „Querschnittsaufgabe von Schule“ (KMK 2013: 2) zu verstehen. Doch zeigt der Verweis auf die Fachlichkeit und die „eigentlichen Ziele und Aufgaben“ bei KROß (2000: 424), dass interkulturelles Lernen den Geographieunterricht an einem sensiblen Punkt trifft. Es provoziert zu der Frage, was noch ‚alles‘ Geographie sein soll. Ich werde daher in dem in dieser Arbeit zu entwickelnden Konzept deutlich machen, was ein geographischer Beitrag zum Erlernen des Zusammenlebens in einer kulturell pluralistischen Gesellschaft sein kann.
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Schließlich zeigt die Debatte um das interkulturelle Lernen noch eine weitere Auffälligkeit. Es werden immer wieder neue Theorieangebote in die Diskussion zu Konzepten des interkulturellen Lernens eingebracht. Doch die Konkretisierungen der Angebote in ausdifferenzierte Konzepte mit Lernzielen, Inhalten und Methoden fehlen manchmal. Allerdings ist genau das der Anspruch, dem sich die Didaktik stellen muss (HEMMER 2012: 15). Exemplarisch sei hier auf die Theorie der „Transkulturalität“ des Philosophen WELSCH verwiesen. ROHWER (1996: 7) bringt dieses Konzept, dass Kulturen jenseits einer klaren Verräumlichung denken will, 1996 in die Debatte, um damit das klassische Kulturverständnis in der Geographie zu hinterfragen. 17 Jahre später greift BUDKE (2013: 159) diese Theorie für einen Einführungsartikel auf, ohne dass der Ansatz für den Geographieunterricht wesentlich weitergeführt wurde. Damit wird ein Transfer des interkulturellen Lernens in die Unterrichtspraxis erschwert, weil die (anspruchsvolle) Aufgabe, aus Theorieansätzen unterrichtspraktische Konsequenzen abzuleiten, an den Lehrern hängen bleibt. Um dies zu vermeiden, werde ich mein Konzept des interkulturellen Lernens nicht nur theoretisch herleiten, sondern auch konkrete Umsetzungsmöglichkeiten vorstellen (vgl. Kapitel 4).
3. Begegnungsorientierung – eine neue Konzeptionalisierung interkulturellen Lernens
Im Forschungsstand wurde herausgearbeitet, dass in der Geographiedidaktik ein Ansatz des interkulturellen Lernens fehlt, der unmittelbar an der Begegnung anknüpft. Ich greife die Befunde in diesem Kapitel auf und frage danach, wie eine interkulturelle Begegnung verstanden werden kann. Indem dieser Frage nachgegangen wird, soll außerdem herausgearbeitet werden, wie sich interkulturelle Begegnung fördern lässt. Ich folge damit der Annahme, dass das Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft durch pädagogische Maßnahmen flankierend unterstützt werden kann, die an den Erfahrungen der Schüler aus erlebten Begegnungen anknüpfen. Verunsichernde Erfahrungen, die die interkulturelle Begegnung grundieren, werde ich anhand der Darlegungen des Philosophen Bernhard WALDENFELS genauer erläutern. Mit ihm verstehe ich diese Erfahrungen als Fremderfahrungen. WALDENFELS geht es um die Erfassung der Fremderfahrung und zwar in der Form, wie sie dem Betrachter erscheinen bzw. durch ihn wahrnehmbar sind. WALDENFELS forschte und lehrte von 1976 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1999 an der Universität Bochum. Er hat in der Philosophie eine erste umfassende Fremdheitsstudie vorgelegt. Grundlage seines Denkens sind seine frühen Arbeiten und dabei insbesondere seine zentralen Werke „Ordnung im Zwielicht“ (1987) und „Antwortregister“ (1994), in denen WALDENFELS seine Idee der „responsiven Rationalität“ entwickelt. Explizit buchstabiert er seine Analyse zum Fremden dann in „Der Stachel des Fremden“ (1990) und „Topographie des Fremden“ (1997) aus. Diese beiden Abhandlungen sind daher hauptsächlich für die vorliegende Arbeit herangezogen worden.
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WALDENFELS Denken hat eine ganze Reihe von Didaktikern und Pädagogen beeinflusst. Unter anderem liegen Arbeiten aus der Religionsdidaktik (KASPARI 2010), der Allgemeinen Pädagogik (LIPPITZ 2007, MEYER-DRAWE 2012, BRINKMANN 2015), der Kunstpädagogik (SABISCH 2007), der Theaterpädagogik (WESTPHAL 2015) und auch der Geographiedidaktik (DICKEL 2011) vor. Es ist nicht das Ziel dieser Arbeit, das Denken des Phänomenologen detailliert zu rekonstruieren (vgl. HUTH 2008). Stattdessen soll WALDENFELS’ Verständnis von Fremderfahrung auf die Begegnungssituation angewandt werden, um aus dem Denken Ableitungen für die Konzeptionalisierung eines begegnungsorientierten Ansatzes des interkulturellen Lernens im Geographieunterricht zu ziehen. Für dieses Vorhaben gehe ich in vier Schritten vor. In Kapitel 3.1 erläutere ich, was sich unter einer Fremderfahrung verstehen lässt und leite daraus Einsichten für das Verständnis von Begegnung ab. Kapitel 3.2 fragt danach, wo kulturelle Begegnungen stattfinden. Ich führe den Begriff der „Lebenswelt“ nach SCHÜTZ & LUCKMANN (2003 [1975]) ein, um zu verdeutlichen, dass Kultur als vertrauter Bereich erscheint, der über Fremderfahrungen in Begegnungen als solcher überhaupt erst wahrnehmbar wird. Schließlich konkretisiere ich mit HASSE mein Verständnis von interkultureller Begegnung, das das Räumliche mit einbezieht. Der Begriff der „Atmosphäre“ kann nutzbar gemacht werden, um zu verdeutlichen, wie sich die Umwelt in der interkulturellen Begegnung mit erfahren lässt. Im Kapitel 3.3 lege ich dar, wie die kulturelle Begegnung reflexiv nutzbar gemacht werden kann. Schließlich untersuche ich im Kapitel 3.4 Möglichkeiten, über die kulturelle Begegnung ins Gespräch zu kommen. Am Ende der Kapitel 3.1 bis 3.4 leite ich Konsequenzen für die Legitimierung eines Konzepts des interkulturellen Lernens ab, in der die Begegnung im Mittelpunkt steht. Die Legitimierung bezieht sich auf die didaktische Frage des „Wozu?“, also der Zieldimension, und der Frage des „Was?“, als der Inhaltsdimension des Konzepts. Ich konkretisiere die Legitimierung im Kapitel 3.5 über den Bezug auf didaktische Prinzipien. Sie bilden die Grundpfeiler des Konzepts und stellen Leitlinien für die Umsetzung dar. Mit ihnen können im Kapitel 4 verschiedene Umsetzungsmöglichkeiten begründet werden.
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DIE BEGEGNUNG Die Begegnung hat aus geographiedidaktischer Sicht einen schweren Stand. So argumentiert beispielsweise SCHRÜFER, wenn im schulischen Lehr-LernSetting von der Begegnung ausgegangen werde, würden Stereotype eher noch verstärkt. Ziel sei es aber, Stereotype aufzulösen (SCHRÜFER 2004: 202). Wenn wir davon ausgehen, dass in der Begegnung Eigenes und Fremdes in Beziehung kommt, dann ist mir daran gelegen, das bisherige Denken zu dieser Beziehung mit WALDENFELS zu hinterfragen. Fälschlicherweise wird oft davon ausgegangen, dass Verunsicherung durch Fremdes ein Makel sei. Es wird verstanden wie ein temporärer Zustand, den es zu beseitigen gilt. „Bestenfalls wird der Entfremdung eine vorübergehende Rolle zugedacht als notwendiger Umweg auf dem Weg zu Freiheit und Vernunft.“ (WALDENFELS 1997: 49) Doch das Fremde ist kein Zwischenstand, den man überwinden kann, um zum Allgemeinen vorzudringen (ebd.: 17). Der Grund für das Verständnis vom Fremden als einem Makel liegt darin, von der Vorstellung einer umfassenden Zentrierung auszugehen, sei es die Zentrierung auf das individuell Eigene (Egozentrismus), die Zentrierung auf das kollektive Eigene (Ethnozentrismus) oder die Zentrierung auf eine alles umfassende Logik, ein übergreifendes Allgemeines wie im „Logozentrismus“ (ebd.: 49). Eigenes und Fremdes soll immer wieder zusammenfallen. 3.1.1 Das Fremde in klassischen und modernen Ordnungen Der Erfahrungsprozess WALDENFELS Verständnis nach ist es wichtig, Erfahrung nicht methodisch zu verkürzen. Der Phänomenologe grenzt sich gegen jede Form des Empirismus ab. Er will nicht durch einen künstlich verengten Beobachtungsblick auf die Wirklichkeit etwas wiedererkennen, von dem man vorher schon wusste, auf welche Art es da sein muss. „Empirie meint hier nicht das Vorhandensein von Daten und auch nicht deren Sammlung in Datenbanken, [...].“ (ebd.: 19) Stattdessen meint Erfahrung, dass Dinge dadurch Gestalt annehmen, dass man sich wiederholt mit ihnen auseinandersetzt. Wesentlich ist der Prozesscharakter, sodass man sich Erfahrung als eine sinnhafte Aneignung von etwas vorstellen kann. Erfahrung kann man nicht kaufen – man muss sie selber machen. Allerdings darf „machen“ nicht mit „produzieren“
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gleichgesetzt werden. Stattdessen erinnert WALDENFELS an den Begriff des „Durchmachens“ im Sinne eines erleidenden Prozesses (ebd.). Gerade aus Enttäuschungen lernt man. Erfahrung ist dabei ein Prozess oder „Geschehen“, wie WALDENFELS sagt, „in dem die ‚Sachen selbst‘, von denen jeweils die Rede ist, zutage treten“ (ebd.). Das meint zwei Aspekte: zum einen die Entfaltung der spezifischen Struktur der Sache und zum zweiten die Bildung von Sinn. Erfahrung ist Sinnbildung. Da man immer neue Erfahrungen sammelt, ist dieser Prozess niemals abgeschlossen. Die Welt ist immer eine Welt im Werden und Sinn somit „in statu nascendi“ (ebd.). Die Verbindung zwischen der Entfaltung der Struktur der Sache und der Bildung von Sinn lässt sich mit dem auf BRENTANO zurückgehenden und von HUSSERL aufgegriffenen Begriff der „Intentionalität“ besser verstehen (ebd.). Dieser Begriff charakterisiert die Funktion des Bewusstseins in dem Sinne, dass Bewusstsein immer auf etwas bezogen ist (ebd.). Die Herausforderung ist, dass diese möglichen Zugangsweisen nicht nur mit der Sache verbunden sein müssen, sondern sogar „aus dem Anblick der Sache selbst zu entwickeln sind und nirgendwoher sonst“ (ebd.: 19). Die Erfahrung muss „zur Sprache ihres eigenen Sinnes“ gebracht werden (WALDENFELS 1997: 55). Die Deutung, dass etwas immer als etwas erscheint, als Sinn oder Gestalt oder Struktur, ist eine Grundannahme der Phänomenologie. Daraus lässt sich ableiten: Das Was und das Wie der Erscheinung sind miteinander verbunden. Wenn etwas als ein bestimmter Sachverhalt erscheint, so hängt das auch von der Zugangsart ab (WALDENFELS 1997: 19). Das Wort „als“ markiert, dass etwas in bestimmten Grenzen erscheint, die Phänomenologen explizit mit bedenken wollen (ebd.). Das „Als“ ist das „Nadelöhr der Phänomenologie“ oder die „signifikative Differenz“ schlechthin (WALDENFELS 1990: 15). Ein Sachverhalt verfestigt sich nur dann als bestimmt, wenn er sich in unterschiedlichen Intentionsweisen bestätigt: wenn die Distanz variiert, die Perspektive gewechselt, das unmittelbar Wahrgenommene mit dem Erinnerten verbunden, das Behauptete widerlegt oder bestätigt wird (ebd.: 15). Als ein prominentes Beispiel wird der Tisch angeführt. In der Betrachtung des Tisches (was) erscheint dieser auf unterschiedliche Arten, je nachdem, wie man ihn betrachtet (wie). Der Tisch entwickelt seine Phänomenalität durch die verschiedenen Zugangsweisen. Bei der perspektivischen Betrachtung sind immer nur Teile erkennbar und andere Teile verdeckt („abgeschattet“). An dieser Stelle sei kurz auf die Grundintention der Phänomenologie verwiesen. Dazu lassen wir HUSSERL, den geistigen Vater der Phänomenologie,
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zu Wort kommen. HUSSERL findet seinen Weg in die Philosophie über die Mathematik. Mit seinem Forschungsanliegen will er „mittels einer strengen philosophischen Wissenschaft den Weg zu Gott und zu einem wahrhaften Leben […] finden“ (HUSSERL in SEPP 1988: 131). Hier ist eine Grundlage in HUSSERLS Denken zu erkennen, die ihn begleitete: Die Verbindung einer „strengen“ Wissenschaft mit der Erforschung des Lebens. Doch HUSSERL stellte den Anspruch der bisherigen Philosophie als „strenge Wissenschaft“ von Anfang an radikal infrage. Aus der Perspektive eines in der Mathematik sozialisierten Wissenschaftlers urteilte er, „dass die zeitgenössische Philosophie, die mit ihrer Wissenschaftlichkeit so groß tat, völlig versagte und so der Idee der Philosophie – radikalste redliche Vollendung aller Wissenschaft sein zu sollen – Hohn sprach“ (ebd.: 132). HUSSERL will die Klarheit im Umgang mit Begriffen aus der Mathematik mit einem deskriptiv-psychologischen Vorgehen verbinden, das er bei BRENTANO kennengelernt hat (ebd.: 160). Aus seinem Denken und seiner Schaffenskraft bildet sich am Anfang des 20. Jahrhunderts eine ‚Phänomenologische Bewegung‘ mit eigenen Forschungsgruppen an verschiedenen Universitäten in Deutschland. Damit entwickelten sich natürlich in der Bewegung verschiedene phänomenologische Ansätze. Doch als einendes Ziel verfolgten sie weiterhin, „eine strenge Philosophie aufzubauen, die die Fülle der Phänomene in ihrem Eigenwesen zu erfassen vermag und über ihre Schritte Rechenschaft abzulegen weiß“ (ebd.: 189). Zum Verständnis dessen, was HUSSERL unter einer phänomenologischen Haltung im weiteren Sinne versteht, tragen auch Anekdoten aus seinem Leben bei. Als HUSSERL den greisen BRENTANO 1907 besuchte, habe ihn beeindruckt, „als er [BRENTANO], der nahezu Erblindete, von dem Balkon die unvergessliche Aussicht auf Florenz und die Landschaft erklärte“ (HUSSERL in SEPP 1988: 189). Anscheinend hat sich BRENTANO so intensiv beobachtend und beschreibend mit seiner Umgebung auseinandergesetzt, dass seine Erläuterungen zur Landschaft möglich waren, auch wenn sie für ihn selbst sensorisch kaum noch wahrnehmbar war. Diese Lust an der genauen Beschreibung dessen, was erscheint, prägte nicht nur die Arbeit HUSSERLS, sondern sein ganzes Leben, wie GADAMER in einer Anekdote zu beschreiben weiß. „Im Seminar hat er [HUSSERL] uns einmal geschildert und breit ausgemalt, wie er sich beim Einschlafen verhalte. Da stelle er sich ganz genau und anschaulich einen Araber
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zu Pferde vor, mit buntem Turban, mit krummem Säbel und mit allen prächtigen Einzelheiten der Gewandung. Wenn er das alles ganz klar vor sich sähe, in wahrhafter Erfüllung der Intention, dann sei er auch schon eingeschlafen.“ (GADAMER 1988: 14)
An diesen Beispielen kann man die grundsätzliche Neuausrichtung des phänomenologischen Denkens HUSSERLS gegenüber der positivistischen Anschauung erkennen. Für einen Phänomenologen spielen das eigene Leben und die dabei gemachten Erfahrungen für die wissenschaftliche Arbeit eine wichtige Rolle. Phänomenologie ist in diesem Sinne „lebenswissenschaftlich“ ausgerichtet (SEIFERT 1996: 31). Die persönliche Erfahrung dient als wichtige Erkenntnisquelle zur Lösung wissenschaftlicher Probleme. Der Phänomenologe trennt nicht strikt zwischen „Wissenschaft“ und „Leben“. Denn schließlich kann das Leben der Menschen Gegenstand der Wissenschaft sein, und damit müssen „subjektive“ Erfahrungen eine Rolle spielen können. Die Verbindung von „Wissenschaft“ und „Leben“ kann so verstanden werden, dass es „nicht nur um ein theoretisches Verstehen des Lebens der Menschen [geht]. Sondern: indem wir dieses Leben zum Gegenstand unserer Wissenschaft machen, bewältigen wir es ja auch besser“ (ebd.: 30). Ein Phänomenologe würde zur Erforschung des Phänomens „Liebe“ nicht die Liebenden vermessen, ihren Pulsschlag nehmen und beispielsweise ihre Berührungen zählen, sondern sich seine eigenen Erfahrungen des Verliebtseins vergegenwärtigen. „Der Phänomenologe ist demnach ein Wissenschaftler, der selbst an dieser Lebenswelt durch seine Alltagserfahrungen teilhat und der diese Alltagserfahrungen für seine wissenschaftliche Arbeit auswertet.“ (Ebd.: 41) Ihm ist es wichtig, Alltagserlebnisse als Gegenstand der Wissenschaft ernst zu nehmen (ebd.: 43). Er arbeitet dabei mit exakten Beschreibungen der alltäglichen Erlebnisse, die bei dem Leser einen „Verblüffungseffekt“ erzeugen (ebd.). Nach der Lektüre stellt sich ein „Aha“-Erlebnis ein, weshalb SEIFERT die Phänomenologie die „Ja, so ist es auch“-Methode nennt (ebd.: 44). Der Phänomenologe WALDENFELS macht allerdings darauf aufmerksam, dass der Erfahrungsbegriff seine Tücken hat. Erfahrung entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit Fremdem, und der Erfahrungsprozess mag nie abgeschlossen und leidvoll sein, doch er führt in einen Sinnbildungsprozess, hat also damit einen zumindest temporär abschließenden Charakter. Das Problem daran ist, dass dieses Verständnis von Erfahrung egozentrisch ist.
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So wie der Erfahrungsprozess bisher beschrieben ist, können Parallelen gezogen werden zu dem Bild des Jünglings, der auszieht und Gefahren und Rückschläge auf sich nimmt, um der Welt am Ende doch Sinn abzutrotzen, und der mit der Heimkehr am Ende auch zu sich zurückkommt. Doch so ist es nicht mehr zu haben. Klassische Ordnung Mit WALDENFELS lässt sich dieses Verständnis von Erfahrung hinterfragen, wenn man davon ausgeht, dass Erfahrungen nicht beliebig machbar, sondern an Ordnungen gebunden sind. Dem Begriff der „Ordnung“ widmet er sich ausführlich in seinem Buch „Ordnung im Zwielicht“ (WALDENFELS 1987). WALDENFELS unterscheidet die klassische Ordnung von modernen Ordnungen. Für seine grundsätzlichen Gedanken hält WALDENFELS den Begriff der „Ordnung“ offen. Er definiert Ordnung als „geregelten (das heißt nicht-beliebigen) Zusammenhang von diesem und jenem“ (ebd.: 17). Zur genaueren Bestimmung der klassischen Ordnung werden vier Kriterien herangezogen: „Diese klassische Form der Ordnung zeichnet sich dadurch aus, daß sie dem Menschen (a) vorgegeben, daß sie (b) allumfassend, daß sie (c) mehr oder weniger fest umgrenzt und (d) in ihren Grundzügen repetitiv ist.“ (WALDENFELS 1990: 18)
Dass die klassische Ordnungsform vorgegeben ist (a), meint, wie in den Vorstellungen der griechischen Denker vom Kosmos deutlich wird, dass es nur die eine Ordnung gibt, die immer die Ordnung an sich darstellt (WALDENFELS 2012: 16). Sie ist die „wahre Welt“, die vielfach von Platon und Aristoteles beschrieben wurde (WALDENFELS 1987: 89). Als solche bedarf die klassische Ordnung im Sinne eines Kosmos weder einer Begründung noch ist sie dazu fähig (ebd.: 90). „Die Welt hat ihre natürliche Ordnung, entwickelt nach dem Kriterium der Wichtigkeit. Die Dinge an sich, wie sie existieren, geben das Wichtige vor.“ (Ebd.: 89) Insofern ist die klassische Ordnung allumfassend (b). Sie enthält „alles Licht in sich“ (ebd.). Alles hat seinen angestammten Platz im Rahmen eines allgemeinen Ausgleichs (ebd.: 92). Niedrige Wesen ordnen sich auf natürliche Weise den höheren Wesen je nach „Seinsmächtigkeit“ unter (ebd.: 90). So stehen die Frau unter dem Mann und das Tier unter dem Menschen (ebd.: 91). Wenn etwas in der klassischen Ordnung fremd ist, dann lässt sich nur von relativer Fremdheit bezogen auf einen bestimmten Standort sprechen (WALDENFELS 1997: 16, 2012:
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17). Fremd ist das, was seinem eigentlich angestammten Platz entrückt ist. Eigenes und Fremdes sind beides Teil der klassischen Ordnung (WALDENFELS 1997a: 65). Das Denken ist ein Denken des „Innen“ und insofern ganz bei sich selbst (WALDENFELS 2012: 18). Da die klassische Form der Ordnung mehr oder weniger klar umgrenzt ist (c), hat alles seinen natürlichen Ort und seine natürliche Zeit (WALDENFELS 1987: 91). Im eigentlichen Sinne besitzt der Kosmos gar keine Grenzen bzw. lediglich Binnengrenzen. Eine allumfassende Ordnung ist randlos (ebd.: 90). Nur oben und unten ergeben sich zwei nicht weiter teilbare Einheiten. Dabei handelt es sich nach unten um das Individuum und nach oben um das All (WALDENFELS 2012: 17). Außerhalb der kosmischen Ordnung droht die Ordnungslosigkeit des Chaos (WALDENFELS 1987: 91). Das Chaos macht sich entweder in Form von Beliebigkeit oder in Form von Gewalt bemerkbar (ebd.: 98). Da es innerhalb des Kosmos keine radikale Form der Änderung und Neuerung geben kann, besitzt die klassische Ordnung repetitive Grundzüge (d) (WALDENFELS 1990: 18). Ein Fremdes, das „das Sein als solches und im ganzen unterhöhlt“ und verunsichert, ist in der klassischen Ordnung nicht denkbar (WALDENFELS 1997a: 65). Die Idee der relativen Fremdheit entspringt der klassischen Ordnung. Das Fremde ist vielmehr etwas, von dem man noch nicht alle Seiten kennt. Es ist eine Fremdheit, „die von unserem begrenzten Wissen und Können abhängt“ (WALDENFELS 2007: 361). Eine Fremdsprache mögen wir in diesem Moment nicht verstehen, aber sie lässt sich doch erlernen. Mit der Frage, ob durch das Erlernen aus der Fremdsprache eine Muttersprache werden kann, wird deutlich, das Fremdheit noch komplexer zu denken ist. Erfahrungen, die innerhalb der klassischen Ordnung gemacht werden, bleiben auf bestimmte Art begrenzt. Beispielsweise lässt sich die Rolle von Mann und Frau nicht allumfänglich durch Erfahrungen aus Begegnungen bestimmen. Der Rahmen, das der Mann über der Frau steht, ist vorgegeben. Die Struktur kann lediglich in Begegnungen erfahren werden. Wagt es jemand, aus dieser Ordnung auszubrechen, so erscheint er als ein relativer Fremder, der früher oder später seinen angestammten Platz wieder einnimmt. In einer Ordnung, in der alles bei sich ist, sind Begegnungen nie grundsätzlich irritierend. Die Sinnbildung findet innerhalb dessen statt, was die Ordnung überhaupt als erfahrbar ermöglicht.
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Moderne Ordnung Nach WALDENFELS ändert sich die Situation in der Moderne grundlegend. Die allumfassende Ordnung eines Kosmos vervielfältigt sich in Ordnungen. „Dieser Wahrheitszwang lockert sich, wenn die große allumfassende Ordnung in Ordnungen zerfällt, die ihrerseits (a) wandelbar und (b) beschränkt sind, (c) bewegliche Grenzen aufweisen und (d) grundlegende Innovationen zulassen.“ (WALDENFELS 1990: 19)
Werden Ordnungen als wandelbar (a) verstanden, so muss erklärt werden, wie diese Wandlung möglich ist. WALDENFELS nutzt dafür die Prozesse der Selektion und Exklusion. Aufgrund ihrer Produktion ist eine Ordnung nicht mehr an sich, sondern bringt sich selbst hervor, indem sie Bestimmtes ermöglicht und anderes verunmöglicht. „Das Zwielichtige einer jeden Ordnung besteht darin, dass Ordnung Erfahrungen gleichzeitig ermöglicht und verunmöglicht, dass sie aufbaut und abbaut, dass sie ausgrenzt, indem sie eingrenzt, ausschließt, indem sie auswählt, kurz: dass Licht und Schatten ineinanderspielen. Es bilden sich Übergangszonen, Schwellen, auf denen wir uns aufhalten können, ohne sie hinter uns zu lassen.“ (WALDENFELS 1987: 173)
Da Ordnungen auf eine bestimmte Art hergestellt werden, schließt das mit ein, dass sie potenziell immer auch anders sein könnten. Das Ende der natürlichen Ordnung lässt das „Andersseinkönnen“ einer jeglichen Ordnung hervortreten (Waldenfels 1990: 16). Der „Möglichkeitssinn“ variiert nicht nur innerhalb einer Ordnung, sondern auch das Ordnungsgefüge selbst wird erfasst (ebd.). Einerseits reduzieren Ordnungen per se offene Handlungs- oder Redeweisen in eine festgelegte Form (ebd.: 11). Als Zusammenhang von „diesem und jenem“ kann es Ordnungen im modernen Sinne nur geben, wenn sie bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten ausschließen. Andererseits kann sich die Festlegung dessen, was ein- und ausgeschlossen ist, verändern. Eine Ordnung ist damit nicht mehr das Ganze, wie der Kosmos, sondern zwangsläufig auf eine spezifische Art beschränkt (b). Es gibt nur noch Ordnungen, aber nicht mehr die eine Ordnung (ebd.: 19). DENNOCH versteht Waldenfels die Grenzen nicht als statische Gebilde (c). Ordnungsgrenzen können sich verschieben, wodurch Ordnungen variabel werden. Aber die Grenzen lösen sich nicht auf (ebd.). Außerhalb der Ordnungsgrenzen liegen
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nicht nur andere Ordnungen, sondern das schlichte Anderswo. Es ist das Ausgeschlossene, das keinen Platz innerhalb der Ordnung hat. Nur indem Ordnungen begrenzt sind, lassen sie schließlich Innovationen zu (d). Das Neue kann niemals nur aus der Ordnung heraus geschaffen werden. Es braucht ein Außerhalb, von dem eine Neuerung mit ausgeht. Durch die Vielfalt von Ordnungen, die zwar begrenzt sind und damit nur bestimmte Erfahrungen zulassen, aber immer auch anders sein können, führt WALDENFELS eine neue Form von Fremdheit ein. Es gibt Fremdes, „und zwar in dem präzisen Sinne, dass etwas sich dem Zugriff der Ordnung entzieht“ (ebd.). Damit stößt die Möglichkeit der Sinnproduktion aus Erfahrungen an seine Grenzen. Eine allumfassende Vernunftordnung auf der Welt, die alle Erfahrungspotentiale in sich vereint, existiert nach WALDENFELS nicht mehr. „Mit den Verteidigern einer gebrochenen ‚Moderne‘ teile ich die Auffassung, dass die großen unverbrüchlichen und allumfassenden Ordnungen einem überschwänglichen und gewaltsamen Vernunfttraum entstammen, dem das moderne ‚Subjekt‘ vergebens nachläuft.“ (Ebd.: 10)
Das radikal Fremde Mit WALDENFELS lässt sich betonen, dass das Fremde in der modernen Ordnung eine besondere Virulenz hat. Es ergibt sich eine neue Form von Fremdheit, die er das „radikal Fremde“ nennt. Schon mit dem Wortbestandteil Fremd- macht WALDENFELS deutlich, welche Sprengkraft in diesem Ausdruck liegt. Denn wie bei der Fremdsprache, der Fremdkultur oder der Fremderfahrung wird so getan, als charakterisiere sie die Bedeutung des Stammwortes genauer (WALDENFELS 1997: 9). Dabei gibt er zu bedenken, dass doch eigentlich das Gegenteil der Fall ist. Das Fremde geht mit einer „Rätselhaftigkeit“ einher, mit dem Effekt, „dass das Fremde die Bedeutung jenes Wortes, dem es angeheftet oder aufgepfropft wird, affiziert und infiziert wie ein Virus“ (ebd.: 9, eigene Hervor.). Das Fremde kann nicht bekannt sein, dann wäre es nichts Fremdes mehr. Das Fremde ist nicht unbekannt, dann würde man es nicht kennen. Beides muss auf eigentümliche Art ineinandergreifen (WALDENFELS 1990: 7). Das radikal Fremde hebelt die signifikative Differenz aus, denn die Fremdheit gehört „zur Sache selbst“ und rührt „an die Wurzel der Dinge“ (WALDENFELS 2007: 361). Das radikal Fremde lässt sich nicht definieren, aber in seiner spezifischen Erscheinungsform beschreiben. WALDENFELS fasst unter Rückgriff auf
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HUSSERL die Erscheinungsform in der knappen Bestimmung zusammen: Das Fremde zeige sich in seiner „bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“ (HUSSERL in WALDENFELS 1997: 25). Diese „paradoxe Bestimmung“ ist für WALDENFELS von hohem Wert, sie „verdient alle Aufmerksamkeit“ (ebd.). Was in diese Bestimmung mit hineinspielt, ist neben der Gegebenheits- und Zugangsweise auch eine „Örtlichkeit“ (ebd.: 26). Bloß zeichnet sich die Zugänglichkeit gerade dadurch aus, dass sie sich als „Zugänglichkeit eines Unzugänglichen“ zeigt (ebd.). Durch das Verhältnis von Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit bildet sich das Fremde aus. Um wiederum beim Beispiel der Fremdsprache zu bleiben: Angenommen, in einem Zug unterhalten sich zwei Passagiere. Bei der Fremdsprache verhält es sich so, dass im Hören, da sprechen zwei miteinander, gleichzeitig deutlich wird, dass man es nicht versteht. Die Fremdsprache entzieht sich, indem man sie hört (WALDENFELS 1997: 9). Fremd ist damit etwas, das auf eine Weise zugänglich ist, gleichzeitig aber in der Unzugänglichkeit verhaften bleibt. Aus der phänomenologischen Perspektive ist das radikal Fremde nicht lediglich als eine beschränkte Zugangsweise zu verstehen, sondern sie gehört zur Sache selbst (WALDENFELS 2015: o. S.). Sie bleibt außerhalb der Ordnung. „Fremdes durchdringt uns wie die Luft, die wir atmen, die wir ein- und ausatmen, aber nicht fassen, begreifen, abzählen können; diese Fremdheit wäre die Fremdheit eines Nichts, eines Nicht-Etwas und Nicht-Jemand […].“ (WALDENFELS 2007a: 64, eigene Hervor.)
Dieses Verständnis soll für die verschiedenen Bedeutungen des Wortes fremd konkretisiert werden, die WALDENFELS in einem sprachanalytischen Zugriff unterscheidet. Er stellt heraus, dass fremd zum einen etwas bezeichnet, „was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt“ und sich in diesem Sinne auch personifizieren lässt in der Bezeichnung des „Fremdlings“ (WALDENFELS 1997: 20, eigene Hervor.). Zum zweiten bedeutet fremd, „was einem anderen gehört“, und schließlich drittens, „was von fremder Art“ ist (ebd., eigene Hervor.). WALDENFELS räumt dem Ort dabei eine besondere Bedeutung ein. „Es sind also die drei Aspekte des Ortes, des Besitzes und der Art, die das Fremde gegenüber dem Eigenen auszeichnen. […] Unter den genannten drei Aspekten gibt der Ortsaspekt den Ton an.“ (Ebd.) Gewendet auf das radikal Fremde und unser Anliegen des Verstehens von Begegnung lassen sich die Unterscheidungen so deuten, dass es Orte geben muss, die
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dem Zugriff entzogen bleiben und im vollen Umfang unerreichbar sind. Dass zweitens eine andere Person eine Fremdheit behält, die sich nicht auflösen lässt. Schließlich muss etwas von fremder Art sein, dessen Fremdheit bleibt. 3.1.2 Begegnung als Verflechtung von Eigenem und Fremdem Mit den bisherigen Erläuterungen lässt sich die Begegnung neu verstehen. Sie markiert eine Beziehung, die überhaupt erst existiert, indem das Fremde fremd bleibt und dennoch auf das Eigene bezogen ist. Damit ist nicht gesagt, dass Fremdheit eine Eigenschaft von Dingen oder Personen ist. Mit dieser Zuschreibung würde sich das Fremde gleichsam auflösen in einem Etwas. Vielmehr ist das Fremde „ein Aspekt der Welt, in deren Horizont sie [die Dinge oder Personen] uns so oder so begegnen“ (WALDENFELS 1989: 41). Die besondere Leistung ist, diesen „Aspekt der Welt“ genauer zu beleuchten, ohne ihn zu erhellen. Vonnöten ist ein Modus, in dem in einer „distanzierten Enthaltung […] das Fremde als Fremdes zum Vorschein kommt“ (ebd.: 39). In der Beziehung bleibt Eigenes und Fremdes getrennt, aber perspektivisch aufeinander bezogen. „Fremdheit bestimmt sich, wie HUSSERL sagen würde, okkasionell, bezogen auf das jeweilige Hier und Jetzt, von dem aus jemand spricht, handelt und denkt. Ein standortloses ‚Fremdes überhaupt‘ gliche einem ‚Links überhaupt‘ – ein monströser Gedanke, der Ortsangaben mit begrifflichen Bestimmungen vermengt.“ (Ebd.: 23)
Konkreter lässt sich mit WALDENFELS Begegnung als Verflechtung bzw. nach MERLEAU-PONTY als „Chiasmus“ verstehen (WALDENFELS 1997: 66). „Wenn wir sie auf den Gegensatz von Eigenem und Fremdem anwenden, so besagt Verschränkung zum einen, dass Eigenes und Fremdes mehr oder weniger ineinander verwickelt sind, so wie ein Netz sich verdichten und lockern kann, und es besagt zum anderen, dass zwischen Eigenem und Fremdem immer nur unscharfe Grenzen bestehen, die mehr mit Akzentuierung, Gewichtung und statistischer Häufung zu tun haben als mit säuberlicher Trennung. Die Verschränkung widersetzt sich jeder Form von Reinheit [...].“ (Ebd.: 67, Hervor. i. O.)
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Die Mitte lässt einen Hiatus – einen Spalt – entstehen, der Eigenes und Fremdes einerseits unwiderruflich trennt und andererseits über die Verbindungswege in Beziehung treten lässt. Eigenes und Fremdes bleiben aufeinander bezogen durch lose Verbindungen, die einen Chiasmus, eine Überkreuzung bilden. Sie ist ein Zwischen, das nicht verstanden werden kann als festes Seil, das sich zwischen zwei Enden aufspannt, sondern als lose Verbindungen, die immer wieder Neues entstehen lassen. WALDENFELS verweist darauf, wie wichtig beim Denken des Zwischen ein Denken im Zwischen ist (ebd.: 66). Dafür gibt es durchaus eine philosophische Tradition. Er verweist dabei auf den Ort der Begegnung von Ich und Du bei BUBER, HEIDEGGERS „Holzwege“ und GADAMERS Hermeneutik (ebd.: 85). Für WALDENFELS ist das Zwischen allerdings gerade keine harmonische „Mitte“, sondern der schon angesprochene Hiatus, der Eigenes und Fremdes ohne Aussicht auf Zusammenführung trennt (ebd.: 17). Der Chiasmus bildet nur Verbindungswege, nicht aber eine „Zentralstation“ (ebd.: 85). Die Verbindung lässt sich verstehen als ein „Ineinander“ im Sinne von Verflechtungsgebilden wie „Netzwerke“, „Knotenpunkte“ oder „Querverbindungen“ (ebd.: 140). Die Verbindungswege wiederum bilden ebenso wenig eine „tragfähige Brücke“ (ebd.: 141). Ein fixierender Zugriff auf den zentralen Bereich bleibt verwehrt. Die so verstandene Verbindung bleibt fragil, was sich auch auf das Eigene und das Fremde auswirkt. Klarheit wäre geschaffen in einer Überlagerung oder eindeutigen Trennung von Eigenem und Fremdem. Doch das Denken in einer Verschränkung widersetzt sich diesen Zuständen. Eigenes und Fremdes ist immer „mehr oder weniger“ miteinander verbunden, und selbst in ihrer Abgrenzung voneinander bilden sich lediglich „unscharfe Grenzen“ (ebd.: 67). Der Chiasmus ist kein Zustand, sondern ein Prozess (ebd.: 73). WALDENFELS bietet für den Einstieg zu diesem Denken zwei scheinbar widersprüchliche Deutungen, wenn er zum einen von der „Präferenz des Eigenen“ (ebd.: 74, eigene Hervor.) spricht – Präferenz meint dabei keine Form der Überhöhung, sondern spielt darauf an, dass die Herausbildung des Eigenen durch die Differenzierung vom Fremden in Form eines „Sich-unterscheidens“ geschieht (WALDENFELS 1994: 209). Andererseits billigt WALDENFELS dem Fremden einen „heuristischen Vorsprung“ (WALDENFELS 1997: 145) zu. „Mit dem Eigenen beginnen wir nicht, auf das Eigene kommen wir vom Fremden her zurück, schockartig oder allmählich.“ (Ebd., eigene Hervor.) Beide Erläuterungen lassen sich verbinden, indem es zwar das Eigene ist, das sich unterscheidet (Präferenz), aber in Reaktion auf Fremdes (heuristischer
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Vorsprung). Es gibt damit kein Eigenes aus sich heraus. Es gibt kein UrEigenes. Verflechtung bedeutet damit auch, dass das Fremde im Kern des Eigenen zu finden ist (ebd.: 16). Die Begegnung betont einen Zwischenbereich, der, eben aufgrund der unwiderruflichen Trennung von Eigenem und Fremdem, ein Ort immer neuer Erfahrungen sein kann. Die Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem ist durch den Hiatus prinzipiell offen und nicht zu fassen. Das Fremde in der Begegnung Weiterführend lässt sich fragen, wie sich in der Begegnung die „spezielle Erfahrung des Fremden“ bemerkbar macht (WALDENFELS 1990: 18f.). Wesentlich für die Fremderfahrung ist, dass die Sinnproduktion im Prozess des Erfahrungmachens versagt, denn die Zugänglichkeit zu dem wahrgenommenen Phänomen ist auf eine spezifische Weise erschwert. „Etwas ist zugänglich nicht trotz, sondern in seiner Unzugänglichkeit, genau das besagt Fremdheit. Und als Unverständlichkeit bedeutet Fremdheit nicht, dass uns die Tür zu einer Realität verriegelt ist, sondern dass deren Sinn sich nicht erschließt. Unsere Augen sehen und sehen doch nicht, unsere Ohren hören und hören doch nicht.“ (WALDENFELS 1989: 41)
Die Fremderfahrung kumuliert in einem Fremdwerden der Erfahrung. Der Wortbestandteil „Fremd-“ der Fremderfahrung bestimmt sie nicht als eine bestimmte Erfahrungsart genauer, sondern sagt vielmehr aus, dass es sich um „ein Sich-Fremdwerden dessen, der die Erfahrung macht“, handelt (WALDENFELS 1997: 10). Die Fremderfahrung geht dem Verstehen, Erkennen und auch dem Anerkennen des Fremden voraus (WALDENFELS 2007: 363). Sie als eine „vorprädikative Erfahrung“ zu verstehen, hat erhebliche Konsequenzen für das Verständnis des Fremden (WALDENFELS 1989: 44). Es wird deutlich, dass etwas, das der Sinnproduktion vorgelagert ist, nicht als das nur „Noch-nicht-Bekannte“ verstanden werden kann (WALDENFELS 1997: 141). Wir haben es zu tun mit einer „anfänglichen Ambivalenz des Fremden“, die „diesseits von Gut und Böse gelagert“ ist (WALDENFELS 2015: o. S., eigene Hervor.). „Dem Fremdwerden können wir aufs Ganze gesehen nicht ausweichen.“ (WALDENFELS 1997a: 74) Die Fremderfahrung ist eben nicht als ein Mangel zu verstehen, der sich beheben lässt, oder als ein temporärer Zustand, der verblasst wie eine „vorübergehende Entfremdung“
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(WALDENFELS 2007: 363). In seiner leibhaftigen Abwesenheit ist das Fremde wie die Vergangenheit, die sich nicht mehr, oder die Zukunft, die sich noch nicht erschließen lässt, ohne dass sie jeweils deswegen komplett verschlossen sind (WALDENFELS 2015: o. S.). Die Fremderfahrung, die sich in ihrer „Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“ zeigt, meint eine „Ferne, die nicht bloß vorläufig ist, sondern zur Sache selbst gehört wie ihr eigener Schatten.“ (WALDENFELS 2010: 22, eigene Hervor.) Neben der Charakterisierung durch die leibhaftige Abwesenheit und der Ferne führt WALDENFELS auch das „Anderswo“ an. „Das Fremde ist nicht einfach anderswo, es ist das Anderswo [...].“ (WALDENFELS 1997: 26, Hervor. i. O.) Damit verunmöglicht sich jede fixe Form der Verortung. „Das Fremde steht für das Unmittelbare inmitten aller Vermittlungen. Das Fremde lässt sich weder lokalisieren noch globalisieren, es ist immerzu anderswo.“ (WALDENFELS 2015: o. S., eigene Hervor.) Das Anderswo ist nicht als etwas ganz Anderes, Jenseitiges zu verstehen, sondern Fremdheit zeigt sich, indem „es auf originäre Weise anderswo ist“ (ebd.). Während das relativ Fremde immer bezogen auf einen bestimmten Standort bleibt, bietet sich das radikal Fremde als ein Anderswo dar, das sich jeder „Einordnung“ entzieht (WALDENFELS 1997: 12). Die Fremderfahrung unterhöhlt das „Sein als solches“ (ebd.: 16). Folglich lässt sich auch die Fremderfahrung in der Begegnung nicht auflösen. Der Anspruch des Fremden Mit dem Fremden weicht man ab von „den Bahnen vertrauter Gewohnheiten“ (ebd.: 75). Das Besondere an diesem Verständnis der Fremderfahrung bei WALDENFELS ist die Anknüpfung an ein pathisches Moment. Es zeichnet sich durch eine Verunsicherung aus, die mit einem Anspruch durch das Fremde einhergeht. Die Erfahrung des Fremden beginnt mit einem Staunen oder einem Schreck. Sonst wäre das Anderswo des Fremden „bloße Exotik“ (ebd.: 149). Das Fremde zieht die Aufmerksamkeit auf sich durch eine Beunruhigung, die in der Fremderfahrung erlebbar wird. Damit kommen vertraute Ordnungen an ihre Grenzen. Das Immer-anders-sein-können ist zugleich Verlockung und Verunsicherung, weil Selbstverständlichkeiten verloren gehen. Die Unruhe ist kein initiierter Prozess, sondern hat mehr mit einer Heimsuchung zu tun, die allen Abwehrreaktionen zuvorkommt (ebd.: 42). „Fremdes kommt, wenn es will, nicht wenn ich will“ (WALDENFELS 2015: o.
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S.). Indem Fremdheit als ein Entzug verstanden wird, dessen sinnhafte Aneignung in der Erfahrung leerläuft, grenzt sich dieses Verständnis von einer konstruktivistischen Deutung ab. Eine mit WALDENFELS gedachte Fremderfahrung kann man sich nicht selbst zuschreiben. Die Fremderfahrung ist keine bestimmte Form, wie die Welt erdacht wird, sondern wie etwas auf das Eigene zukommt und der „Eigeninitiative zuvorkommt“ (WALDENFELS 1997: 14). Es zeigt sich in Form eines „Rückstoßes“ (ebd.). „Das Fremde, so können wir sagen, kommt [...] von außen durch die Türe herein als ein ungebetener Gast, der nicht zu uns gehört, aber Gehör fordert.“ (Ebd.: 84, eigene Hervor.) Der ambivalente Charakter des Fremden zeigt sich darin, dass sich das Fremde nicht nur als das Bedrohliche zeigt, sondern dabei zugleich auch ein „Lebenselixier“ sein kann, das sich nicht verordnen lässt (ebd.). Wenn Fremderfahrungen in der Begegnung von Verunsicherung begleitet sind, ist das folglich etwas, das zur Sache dazugehört. Die Anforderung des Fremden Über die Beunruhigung hinaus macht sich das Fremde bemerkbar, indem es Ansprüche erhebt an unser Tun und Sagen (ebd.: 27). „Die Ansprüche, von denen hier die Rede ist, sind Ansprüche besonderer Art. Sie unterscheiden sich von höheren Geltungsansprüchen, die wir erheben, wenn wir etwas behaupten oder verfechten.“ (WALDENFELS 1990: 7)
Der Anspruch ist in einem doppelten Sinne zu verstehen. Er ist zum einen Anmaßung („Prätention“), zum anderen aber auch Appell (WALDENFELS 1997: 142). Der Appell existiert, ohne nach einer Berechtigung zu fragen (ebd.: 118). Insofern stellt die Antwort ein „Doppelereignis“ dar, denn sowohl ich selbst als auch der andere sind daran beteiligt (ebd.: 30). Allerdings steht man sich nicht auf Augenhöhe gegenüber, sondern am Anfang des Antwortgeschehens steht der Anspruch des Fremden. Wenn wir das Fremde von seinem Anspruch her denken, wird deutlich, dass die Charakterisierung des Fremden nicht getrennt werden kann von einer Infragestellung des Eigenen. Es geht nicht nur darum, die Erscheinungsweisen des Fremden zu verstehen, sondern darum, wie die eigene Erfahrung durch das Fremde angestoßen wird. Denn indem das Fremde bisherige Sinnsysteme untergräbt, provoziert es neuen Sinn (ebd.: 52).
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WALDENFELS spricht beim Phänomen des Fremden daher von einem „Hyperphänomen“ (1997: 18). Das Fremde ist der Stachel, „er dringt auch ins eigene Fleisch gleich dem Stachel der Stechfliege, jenem Sinnbild des sokratischen Fragens“ (WALDENFELS 1990: 8, eigene Hervor.). Dabei lässt sich der Stachel des Fremden nicht einfach aus der eigenen Haut ziehen. Die Lokalisierung des Stachels fehlt. Da der Anspruch des Fremden jeder Aneignung zuvorkommt, würde er sich auflösen, sobald er dingfest gemacht wäre. Das Staunen und die Angst würden schlicht verschwinden (ebd.: 44). Der „heuristische Vorsprung“ des Fremden lässt sich durch das pathische Moment verstehen. Es ist das Fremde, das das Eigene anspricht und es mit Ansprüchen konfrontiert. Begegnungen können folglich verunsichern, weil in ihnen die Aufforderung erkennbar wird, etwas anderes zu tun als bisher. Die Erfahrung des Fremden lässt sich nicht auf ein Zur-Kenntnis-nehmen von etwas Unverständlichem verkürzt verstehen. Begegnungen, die von Fremderfahrungen begleitet sind, wühlen auf, weil das eigene Handeln im neuen Licht erscheint, ohne dass Alternativen direkt sichtbar sind. Die falschen Alternativen im Umgang mit dem Fremden Wenn das Fremde als Makel verstanden wird, liegt es in diesem Denken nahe, sich der Anmaßung, die vom Fremden ausgeht, entledigen zu wollen. Nach WALDENFELS gibt es mit der Ausgrenzung und der Aneignung dafür zwei Umsetzungsmodi. Das Fremde kann damit „zu einem gewissen Grade abgewehrt und unterbunden werden“ (WALDENFELS 1998: 43). Die Voraussetzung für die Ausgrenzung des Fremden ist eine Vorstellung vom unhinterfragten Eigenen. Das eigene Sein wird zu einem Dasein um seiner selbst willen. So wird das Fremde als Negation des Eigenen verstanden. WALDENFELS führt für die Plausibilisierung dieser Deutung mit Carl SCHMITT einen klassischen Denker aus der politischen Theorie ein. Bei SCHMITT schwebt über dem Fremden „immer schon das Damokles-Schwert der drohenden Feindschaft“ (WALDENFELS 1997: 47). „Der Fremde ist der potentielle Feind [...].“ (Ebd., Hervor. i. O.) Nicht beleuchtet wird in diesem Denken die Frage, worin die Homogenität des Eigenen besteht. Konstituiert sich das Eigene nicht gerade durch die Bestimmung eines Feindes? Mit Macht wird die Verflechtung von Eigenem und Fremdem mithilfe der Figur des Feindes getrennt. Ist das Fremde immer der potenzielle Feind und das Eigene unhinterfragt, so wird der Relation jegliche Unbestimmtheit genom-
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men, die ihr doch gerade inhärent ist (ebd.: 48). Dennoch lässt sich die Unsicherheit nicht verbannen, denn die Politik des Fremden durchkreuzt „Verstehens- und Verständigungsbemühungen“ (ebd.). Während die Ausgrenzung auch permanente Abwehrkräfte verlangt, ist die Aneignung die „wirksamste Form der Abwehr“ (ebd.: 49). Suggeriert wird bei der Aneignung, dem Fremden gerecht werden zu wollen, ihm einen Platz im Eigenen zuzubilligen. Der Wunsch bleibt, die Beunruhigung durch das Fremde auflösen zu wollen. Nur ist die Ausgrenzung dem „Erkennen“ oder dem „Erlernen“ gewichen (ebd.). Insofern übt WALDENFELS deutliche Kritik an Hermeneutikern wie GADAMER, denen er die Aneignung des Fremden vorwirft (ebd.: 80). Die „Fremdheit des Unverständlichen“ werde missverstanden als das, was nur noch nicht verstanden, aber prinzipiell zu verstehen ist (ebd.: 135). „Der teleologische, dialektische, hermeneutische oder kommunikative Zirkel kennt kein definitives Außen.“ (Ebd.: 82) Verstehen und Erklären ist der scheinbar sichere Versuch, dem Fremden seinen Stachel zu nehmen (ebd.: 107). Allerlei „Sprachformeln“, „Zauberformeln“ und „Rechenformeln“ werden gebraucht, um das Fremde am Ende doch besprechbar und berechenbar zu machen (ebd.: 51). Begegnungen können erst gelebt werden, wenn man dabei die Ansprüche des Fremden zulässt. Das geht mit einer Verunsicherung einher, auf der anderen Seite ist es ja gerade das Staunen, das das Leben bereichert. Monotonie, „Sinnleere“ und „Gleichgültigkeit“ sind nach WALDENFELS (1997: 134) das Produkt einer Antwort, die versucht, das radikal Fremde einzugemeinden. Es ist der Preis, der dafür bezahlt werden muss, die Idee der umfassenden Ordnung zu retten. Gesellschaftlich relevant sind dabei die Prozesse der Normalisierung und der Institutionalisierung (ebd.: 176). Doch es bleibt dabei: Das Fremde nimmt jeder Ordnung, wie fein sie auch immer ausdifferenziert sein mag, die letztgültige Eindeutigkeit. Eine übergeordnete Entscheidungsebene, die den letzten Schiedsspruch abgibt, kann nur noch ein verloren gegangener Wunschtraum sein. „Vielleicht liegt das Beunruhigende gerade darin, dass diese und ähnliche Fragen nicht vorweg zu entscheiden sind, dass Realität also von Derealisierung, Personalität von Depersonalisierung bedroht ist, ohne dass eine feste Ordnung auszumachen wäre, die den Streit ein für allemal schlichten könnte.“ (Ebd.: 43)
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Mit der Auflösung einer kosmischen Ordnung ist auch die eine Vernunft entwurzelt, die es erlaubt, Sinnbezüge über alle Grenzen hinweg herzustellen. Stattdessen stehen neue Anforderungen im Raum, deren Antworten nicht in alten Lösungen liegen. Der Grund, warum Begegnung bisher meist harmonisch gedacht wird, ist, dass in ihr versucht wird, Fremdes geradewegs auszuschließen. Neben der Ausgrenzung – was meist in Begegnungslosigkeit endet – spielt aber vor allem die Aneignung in Begegnungen eine wichtige Rolle, denn sie ist subtiler. Am Ende begegnet man nur noch sich selbst im Anderen. Das Fremde wird zu einer Variation des Eigenen. Der Preis ist eine Begegnung, in der man sich nicht mehr tatsächlich begegnet. Wenn man meint, etwas ‚wie die eigene Westentasche zu kennen‘, mit wem oder was will man da noch wirklich in Beziehung treten? Man kommt überhaupt erst in Begegnung, wenn man das Fremde fremd sein lassen kann. 3.1.3 Begegnung und der Anspruch des Fremden Doch wie lässt sich in Begegnung kommen und dabei mit verunsichernden Fremderfahrungen umgehen? Wie kann man dem Fremden auf eine Art gerecht werden, die das Fremde in seiner Fremdheit belässt und dessen Unzugänglichkeit bewahrt (WALDENFELS 1997: 50, 95)? Diese Frage ist mehr als ein Gedankenspiel, denn sie will auf einen neuen Umgang mit Beunruhigung hinaus. Angeknüpft wird an die mit WALDENFELS eingeführte Präferenz des Eigenen. Das Eigene entwickelt sich aus dem Prozess des Sich-unterscheidens in der Form des Antwortens. Der neue Zugang ist die Umkehr der Perspektive. Es geht nicht darum, etwas vermeintlich mit dem Fremden zu tun, sondern darum, die eigene, „unsere Einstellung zum Fremden“, zu ändern und „die Stellung des Fremden in der Erfahrung“ (ebd.: 51, eigene Hervor.) neu zu verstehen. Dieses neue Verständnis nennt WALDENFELS „responsive Rationalität“ (WALDENFELS 1990: 27). Das Fremde ist sodann nichts mehr, auf das wir zugehen, sondern etwas, was uns anspricht. Jede Reaktion auf den Anspruch, die immer eine Reaktion im zeitlichen Nachzug bleibt, ist eine Antwort durch Reden oder Tun (ebd.). Das Fremde macht auf sich aufmerksam, indem es Antworten provoziert (ebd.). Diese Provokation kann man sich nicht selbst zuschreiben. Sie ist vielmehr etwas, das einem zustößt und widerfährt wie ein Einfall (WALDENFELS 1997: 51).
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„Ein Logos, der Fremdes nicht zum Verstummen und Verschwinden bringt, entpuppt sich als antwortender Logos, der in seiner ‚Responsivität‘ anderswoher kommt und so die vertraute Sphäre von Sinngebung, Sinnauslegung, Regelbefolgung und medialer Darstellung überschreitet. Er verweist auf eine ‚Antwortlichkeit‘, die es erlaubt, in Form eines Polylogs Eigenes in der fremden Sprache und Fremdes in der eigenen zu sagen.“ (WALDENFELS 2004: 1107, eigene Hervor.)
Der Aspekt der Responsivität auf den Anspruch des Fremden hat eine größere Bedeutung, als es möglicherweise auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Er verweist darauf, dass es niemals eine adäquate deckungsgleiche Antwort zum Anspruch des Fremden geben kann (WALDENFELS 1997: 52). Der Anspruch lässt sich nicht in Gänze erschließen. Es bleibt eine „Asymmetrie“ bestehen, die „Anspruch und Antwort nicht auf ein Gemeinsames hin konvergieren“ lässt (ebd.: 122). Einerseits bedeutet das für die Fremderfahrung, dass sie in Teilen immer verschlossen bleibt. Andererseits bietet die Antwort die einzige Möglichkeit überhaupt dafür, zu erkennen, was das Fremde ist (ebd.: 52). Der Hiatus, die Kluft zwischen Anspruch und Antwort, ist nicht zu überwinden (ebd.: 194). Die Antwort bringt etwas Neues hervor, das sich höchstens im Nachhinein als sinngebend in Bezug auf den Anspruch deuten lässt. Schließlich ist der Anspruch ohnehin nicht einzufangen. Dies hängt weniger mit einer Vielfalt von Möglichkeiten zusammen, die von ihm ausgehen, als vielmehr mit dem grundsätzlich Erschütternden, das der Anspruch mittransportiert (ebd.). Ein Wiedersagen käme dem Ausdruck einer neuen, bis dahin noch unbedachten Möglichkeit gleich. Die Kreativität des Sagens hingegen kratzt am Unmöglichen. Antwort und Sagen sind dabei nicht gleichzusetzen. Das Fremde zeigt sich im Geben der Antwort, gleichwohl das Worauf des Antwortgebens dem Anspruch hinterherhinkt. Doch die Beschäftigung mit dem Worauf der Antwort ist die einzige Möglichkeit, sich mit dem Fremden auseinanderzusetzen, ohne es sogleich durch Vorwissen deutend verstehen zu wollen als ein Etwas, das einen Sinn und einen Ort hat (ebd.: 108f.). Wird aber weiterhin gefragt, was das Fremde ist, so lassen sich Stereotype und Vorurteile nicht vermeiden. „Unsere Leitfrage lautet vielmehr: Worauf antworten wir, wenn wir etwas erfahren, sagen und tun?“ (WALDENFELS 1994: 188) „Hinsehen“ ist dann immer ein „antwortendes Hinsehen“ (WALDENFELS 1997: 109). Indem dieses Worauf immer bis zu einem gewis-
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sen Grad verschlossen bleibt, ist es nicht nur unmöglich, das Fremde aufzulösen wie ein Problem, sondern auch das Eigene komplett zu verstehen (ebd.: 65). Es wäre allerdings ein Trugschluss zu denken, man könnte sich dem Anspruch des Fremden schlicht entziehen und damit auch die Verunsicherung vermeiden. „Die Widerständigkeit, die hier zutage tritt, verbindet sich schließlich mit einer besonderen Art von Unausweichlichkeit. Noch die Nichtantwort auf das Fremde ist eine Form der Antwort, so wie das Wegblicken eine Form des Hinblickens, das Verschweigen eine Form der Rede darstellt.“ (Ebd.: 52, Hervor. i. O.)
Mit anderen Worten: Wenn der Anspruch des Fremden jeder Bewältigung zuvorkommt, dann leitet sich daraus unmittelbar die Unausweichlichkeit ab. Schließlich ist die Handlung des Ausweichens ein bewusster Akt, der dem Auszuweichenden zuvorkommt. Ich kann einem Auto ausweichen, wenn ich es rechtzeitig als auf mich zukommend erkenne. Doch verhält es sich beim Fremden wie mit dem Fuchs und dem Igel. Der Anspruch des Fremden ist immer schon dagewesen, ehe ich mich seiner erwehren kann. Jedes Fühlen, Denken und Tun ist bereits eine Antwort auf den fremden Anspruch. An dieser Ableitung wird also noch einmal die Relevanz des Affiziertseins vor jeder Form von Antwort deutlich. Der fremde Anspruch ist mehr als eine normative Vorgabe des Seins oder Sollens (ebd.: 121). WALDENFELS lässt sich damit so interpretieren, dass man die Reflexion der eigenen Antwort stark macht. Zu arbeiten ist mit den eigenen Antworten, sie sind bewusster zu machen. Die Frage ist dabei: Was macht eine Begegnung mit mir? Wie erlebe ich die Begegnung? Mit dieser Selbstoffenbarung wiederum kann man ehrlich mit anderen in Begegnung gehen, statt sich an dem abzuarbeiten, was ohnehin verschlossen bleibt. Die Unausweichlichkeit der eigenen Antwort auf fremde Ansprüche legt es nahe, dass die eigene Antwort nicht trainierbar ist. Der Versuch, im Vorhinein mögliche Antworten auf den Anspruch des Fremden zu suchen, endet in dem Versuch der Aneignung bzw. Vermeidung von Fremdheit.
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3.1.4 Zusammenfassung von Konsequenzen für ein begegnungsorientiertes Konzept Ich arbeite nun heraus, wie sich mit den ausgewählten Gedanken von WALDENFELS die Fokussierung auf ein begegnungsorientiertes Konzept des interkulturellen Lernens begründen lässt. • Mit WALDENFELS lässt sich Begegnung als ein Versuch verstehen, Verbin-
dungslinien zwischen dem Spalt von Eigenem und Fremdem herzustellen, ohne beide damit auflösen zu wollen. Im Geographieunterricht muss Fremdes thematisiert werden. Es sollte nicht missverstanden werden als ein Makel. Verunsichernde Erfahrung gehört in einer durch eine moderne Ordnung gekennzeichnete Welt zum Leben. In einer pluralistischen Gesellschaft gibt es immer auch Verunsicherungen in Begegnungen. Darum müssen sie inhaltlicher Teil des interkulturellen Lernens sein. • Das Fremde entzieht sich im Zeigen.
Für ein begegnungsorientiertes Konzept lässt sich insbesondere die Idee des pathischen Anspruchs des Fremden nutzbar machen. Fremderfahrungen müssen nicht aufgelöst werden. Es gibt Fremdheiten in der Welt, die unzugänglich bleiben. In Begegnungen merkt man, dass sich nicht alles vermessen oder verstehen lässt. Verunsicherung gehört zur Begegnung. • Das Fremde führt zu einem Fremdwerden der eigenen Erfahrung. Bishe-
rige Sinnbildungsprozesse kommen an ihr Ende. Orte, Menschen und Dinge können dabei auf eine Art entzogen bleiben. Das Fremde als das, was prinzipiell nicht fassbar ist, wird in der Begegnung so erlebt, dass die eigene Erfahrung fremd wird. Damit muss man lernen, umzugehen. Ziel eines so verstandenen interkulturellen Lernens ist, dass Schüler in die Lage versetzt werden, sich auf verunsichernde Begegnungen einzulassen. • Das Fremde macht durch einen Anspruch auf sich aufmerksam.
Dieser Ansatz setzt daran an, die Begegnungen zuzulassen und zu reflektieren. Reflexion soll allerdings nicht in „Selbstreflexion“ (RINSCHEDE 2007:
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198) münden. Selbstreflexion ist als falsche Zentrierung auf das Ich zu verwerfen. Stattdessen ist die Verunsicherung oder das Staunen genauer zu verstehen und danach zu fragen, welche Ansprüche und Anforderungen in der Begegnungssituation durch Fremdes an mich gestellt wurden. Darin sehe ich einen wesentlichen Unterschied zu konstruktivistischen Ansätzen wie von BUDKE (2004). Reflexion meint hier immer eine Reflexion in Beziehung zum Fremden. Schüler sollen zu dieser Reflexion überhaupt erst befähigt werden. Denn die Verunsicherungsmomente sind sehr stark. Durch das Fremdwerden der eigenen Erfahrung kann über Differenzierung das Eigene immer wieder neu erfunden werden. • Das Fremde kann nicht aufgelöst werden.
Das Fremde verstehen zu wollen oder sich in Fremdes einfühlen wollen, mögen auf den ersten Blick plausible Ziele des interkulturellen Lernens zu sein. Mit WALDENFELS lassen sich diese Ziele als Versuche identifizieren, sich das Fremde anzueignen. Die Alternative ist, sich die eigenen Antworten auf Fremdes bewusst zu machen und über neue Antwortmöglichkeiten nachzudenken. Ein Geographieunterricht, der die Vielfalt der Welt zeigen will, darf Fremderfahrungen nicht aussparen. Lernsettings müssen so offengehalten werden, dass Verunsicherungen überhaupt erlebt werden können. • Die Fremderfahrung aus der Begegnung ist dabei nichts, was man planend
herbeiführen kann. Sie ist das Unausweichliche in der Begegnung. Das macht die prinzipielle Offenheit einer Begegnung aus. Es ist nicht zielführend, sich auf die „Suche“ nach dem Fremdem zu begeben. Im interkulturellen Lernen muss es um das Einlassen und Offenhalten für Verunsicherung gehen.
DIE KULTURELLE BEGEGNUNG Es liegt nahe, den Begriff ‚Begegnung‘ auf die Begegnung zwischen Menschen zu beziehen. Zu erklären wäre dann, wie man eine menschliche Begegnung versteht. Ich hingegen will gerade im Kontext des Geographieunterrichts einen anderen Aspekt stark machen: Man kann auch mit Orten in Begegnung kommen. Der Begriff Kultur besagt, dass die Orte auf eine bestimmte Art und Weise verfasst sind, nämlich so, dass sie einem vertraut
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vorkommen. Ich verstehe die eigene Kultur als einen Ort, an dem man sich so unhinterfragt bewegt, dass er im Grunde verschwindet. Ich will im Folgenden zunächst erklären, wie es sein kann, dass wir alltäglich Orten begegnet, ohne dass man sich diesem bewusst ist. Unter Rückgriff auf SCHÜTZ & LUCKMANN (2003 [1975])1 beziehe ich mich dafür auf den Begriff der Lebenswelt, der in der Geographiedidaktik bereits eingeführt wurde (vgl. WIESER 2008). Zunächst gehe ich von der Beobachtung aus, dass im alltäglichen Leben die anderen Menschen, die Orte und auch die Dinge in der Regel nicht verunsichern. In der Begegnung erscheinen uns all diese Facetten als unhinterfragt gegeben. Die Fremderfahrung ist kein permanenter Zustand. Sowenig das Leben als andauernde Unterhöhlung des Seins zu verstehen ist. Das Leben wäre gar nicht als Leben zu verstehen, würde es nur aus verunsichernden Begegnungen bestehen. Es ist notwendig, auf aus Erfahrungen geronnene Sinnzusammenhänge zurückgreifen zu können, die eine gewisse Stabilität aufweisen. Diese Sinnzusammenhänge zeigen sich in Bezug auf den Ort auf zwei Arten. Erstens als ein verfügbarer Wissenskanon für diesen Ort. So sind einem die impliziten und expliziten Regeln des Orts geläufig. Zweitens wird dieser Sinnzusammenhang geronnen aus der Atmosphäre, die an einem Ort vorherrscht. Mit HASSE (2015) werde ich den Begriff der Atmosphäre näher erläutern. Kurz gesagt weiß man, wie sich der Ort anfühlt. Sodann nehme ich die Unterscheidung der Lebenswelt von Heim- und Fremdwelt nach WALDENFELS vor, um damit zu erklären, was passiert, wenn wir in Begegnung kommen mit einem fremden Ort und damit mit einer anderen Kultur. Weil sich, wie bereits erläutert, in der Begegnung immer Eigenes und Fremdes verstrickt ohne zueinander zu kommen, muss sich diese Beziehung in der Begegnung mit Orten zeigen. 3.2.1 Kultur als Lebenswelt Der Begriff der „Lebenswelt“ ist für das Verständnis von Begegnung so interessant, weil SCHÜTZ (2003: 29) jene Form der Wirklichkeit in den Blick nimmt, die dem Menschen unmittelbar gegeben ist und die gerade nicht durch die wissenschaftliche Brille zergliedert wird. Wir können mit SCHÜTZ besser verstehen, wie sich Kultur in der Begegnung zeigt. Der Sozialphilosoph SCHÜTZ hat den von HUSSERL in seinen späten Schriften eingeführten
1
Im Folgenden nur SCHÜTZ 2003.
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Begriff der Lebenswelt für empirisch forschende Wissenschaften nutzbar gemacht. SCHÜTZ distanzierte sich von der HUSSERLSCHEN transzendentalphilosophischen Deutung des Lebensweltbegriffs zugunsten des fassbareren Begriffs der „alltäglichen Lebenswelt“ (KIRCHHOFF 2007: 83-84). Das Besondere der alltäglichen Lebenswelt ist, dass sie dem Menschen in seiner „natürlichen Einstellung“ als selbstverständlich erscheint (SCHÜTZ 2003: 29). Die Selbstverständlichkeit der Wirklichkeit ergibt sich daraus, dass sie unhinterfragt bleibt. Man fragt sich nicht jeden Morgen, warum man in einem Bett in einem Haus schläft, wo es doch unzählige andere Möglichkeiten der Nächtigung gibt. Man tut es einfach, – wie selbstverständlich – genau so. In der natürlichen Einstellung erscheint die Wirklichkeit als „selbstverständlich wirklich“ (ebd.: 30). SCHÜTZ zielt mit dem Begriff der alltäglichen Lebenswelt also auf einen bestimmten „Wirklichkeitsbereich“ (ebd.: 29) ab. Sie bezeichnet nicht die Wirklichkeit schlechthin, sondern die „vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit“ (ebd.). SCHÜTZ charakterisiert die Lebenswelt durch zwei gegenständliche Begriffe genauer, denn sie „ist der unbefragte Boden aller Gegebenheiten sowie der fraglose Rahmen, in dem sich mir die Probleme stellen, die ich bewältigen muss“ (ebd.). Die Welt in der natürlichen Einstellung erscheint immer in ihrer Gesamtheit als „zusammenhängende Gliederung wohlumschriebener Objekte“ (ebd.: 30). So wird im Folgenden Kultur verstanden. An einem Ort begegnet man zunächst den wohlumschriebenen Objekten, von den man annimmt, sie seien natürlich gegeben. Nach SCHÜTZ wird unhinterfragt angenommen, dass in der alltäglichen Lebenswelt andere Menschen leben und zwar nicht als leibliche Objekte, sondern ausgestattet mit einem Bewusstsein wie man auch selbst eines besitzt. „So ist meine Lebenswelt von Anfang an nicht meine Privatwelt, sondern intersubjektiv; die Grundstruktur ihrer Wirklichkeit ist uns gemeinsam.“ (Ebd.) Die Alltäglichkeit macht nochmal deutlicher, dass die Lebenswelt einen vertrauten Bereich ausbildet. Man weiß intuitiv ‚wie es läuft‘ in der Lebenswelt. Wir haben also eine Kultur, ohne dass wir sie zunächst als solche wahrnehmen. Dabei ist sie ungemein wichtig, denn die alltägliche Lebenswelt ermöglicht Sinnproduktion. Die Lebenswelt ist damit nichts objektiv Gegebenes, vielmehr zeigt sie sich als „subjektiver Sinnzusammenhang“ durch „Auslegungsakte meines Bewusstseins“ (ebd.). Das ist nicht mit dem Fantasieren einer Traumwelt zu verwechseln. Da das Bewusstsein gerichtet ist auf
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etwas, kann auch Sinngebung nur mit der Auseinandersetzung mit etwas geschehen. Die Lebenswelt ist immer auch widerständig. Sie muss interessengebunden bewältigt werden. Das Zurechtfinden in der Lebenswelt geht immer auch mit Leiden einher (ebd.: 48). Sinn ist dabei das Scharnier, das aus neuen alltäglichen Erlebnissen Erfahrung macht. Erst durch die Auslegung eines Erlebnisses wird es sinnhaft und lässt sich als Erfahrung aneignen (ebd.: 44). Somit ist Sinn keine Eigenschaft von etwas, sondern das Resultat daraus, dass das Erlebte durch die „aktuell gültigen Bezugsschema reflektiv in den Griff genommen“ (ebd.) wird. Dabei vollzieht sich die Sinngebung von vornherein nicht nur aus dem einzelnen Menschen sondern intersubjektiv. „Die alltägliche Lebenswelt [...] ist Sozialwelt“ (ebd.: 45) und als „Ordnungssystem“ auch erlebbar (ebd.: 47). Das Machen von Erfahrung vollzieht sich immer innerhalb dieses Ordnungssystems, weshalb die Lebenswelt auch in der widerständigen Aneignung unterfragt bleibt. Alle Mitglieder einer Lebenswelt verständigen sich auf ähnliche Weise, sprechen eine ähnliche Sprache und lösen alltägliche Probleme auf ähnliche Weise. Sinn bildet sich intersubjektiv innerhalb der Handlungsvollzüge. Mit SCHÜTZ ist die Kultur als Lebenswelt verankert in ein Hier und Jetzt und im Bezug zu anderen Menschen. Die Lebenswelt als der Wirklichkeitsbereich zur Ermöglichung von Erfahrung wird leiblich angenommen. Zur genaueren Bestimmung führt SCHÜTZ den Begriff des Orts ein. „Der Ort, an dem ich mich befinde, mein aktuelles ›Hier‹, ist der Ausgangspunkt für meine Orientierung im Raum, er ist der Nullpunkt des Koordinatensystems, innerhalb dessen die Orientierungsdimensionen, die Distanzen und Perspektiven der Gegenstände in dem mich umgebenden Feld bestimmt werden. Relativ zu meinem Leib gruppiere ich die Elemente meiner Umgebung unter die Kategorien rechts, links, oben, unten, vorn, hinten, nah, fern usw.“ (Ebd.: 71)
Das Machen von Erfahrung ist nicht im beliebigen Umfang möglich, sondern bezieht sich auf eine bestimmte „Reichweite“ (ebd.). Mit der Festsetzung des Leibes als Nullpunkt resultiert aus der Bewegung des Leibes eine Veränderung der aktuellen Reichweite. Die Unterscheidung von Reichweiten ermöglicht die Differenzierung verschiedener „Schichten der Sozialwelt“, die sich auch räumlich manifestieren. So bildet sich Fremdheit und Vertrautheit aus (ebd.: 76). Die Zone der Reichweite, auf die der Mensch durch Handeln unmittelbar Einfluss nehmen kann nennt SCHÜTZ die „Wirkzone“ (ebd.: 77).
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Wie bereits angedeutet verändert sich die Wirkzone durch die Bewegung des Leibes (ebd.: 78). Mit der Einführung der Wirkzone wird deutlich, dass subjektives Erleben immer in einer Form begrenzt sein muss. Gerade in der primären Wirkzone bilden sich diese Grenzen sehr deutlich aus (ebd.: 79). Im Gegensatz zur sekundären Wirkzone, die durch die technische Verfügbarkeit von über Distanz handelnde Medien erreicht wird, bezieht sich die primäre Wirkzone auf das unmittelbare Handeln (ebd.: 80). Die Grenzen in der primären Wirkzone werden alltäglich erlebt und prägen gerade aus diesem Grund das Handeln der Menschen. „Ich kann nicht über meinen Schatten springen, obwohl ich über die Stelle springen kann, über der mein Schatten lag; ich kann nicht mit vollem Mund deutlich sprechen; ich muss in das Automobil steigen, den Motor anwerfen und hunderterlei Bewegungen machen, bevor ich an die Stelle gelange, an die ich in meinen Gedanken vorausgeeilt war; ich muß mich zuerst rasieren, dann die Krawatte umbinden usw.“ (Ebd.: 85)
Lebenswelt ermöglicht Wissensvorrat und Beziehungen Wenn man Kultur als Lebenswelt versteht, wird deutlich, dass der Mensch auf Grundlage der in ihr gemachten Erfahrungen seinen Wissensvorrat ausbildet. Für neue Situationen der Weltauslegung wird schematisch auf den bisherigen Wissensvorrat Bezug genommen und zwar in der Art, „dass mir die Gegenstände und Ereignisse in der Lebenswelt von vornherein in ihrer Typenhaftigkeit entgegentreten, allgemein als Berge und Steine, Bäume und Tiere, spezifischer als Grat, als Eiche, als Vögel, Fische usw.“ (Ebd.: 33). Die Auslegung vollzieht sich in einem Modus, in dem auf etwas typenhaft grundlegendes Vertrautes rekurriert wird. Die Lebenswelt kann nur als fragloser Rahmen für das Handeln fungieren, wenn der Mensch für neue Auslegungen in der unhinterfragten Wirklichkeit auf bereits Ausgelegtes zurückgreifen kann. Dafür wiederum braucht es etwas, dass SCHÜTZ mit HUSSERL als „die Idealität des ›Und-so-weiter‹“ einführt (ebd.: 34). In der natürlichen Einstellung nimmt der Mensch an, dass zum einen die wesentlichen Strukturen der Welt über Dauer Bestand haben und zum anderen die gemachte Erfahrung ihren Wert behält und der Wissensvorrat auch für das Handeln in künftigen Situationen seine Gültigkeit hat (ebd.). Zweitens nimmt man an, dass die Welt, wie sie einem selbst erscheint in etwa der gleichen Weise auch dem Anderen erscheinen muss. Schließlich ist unhinterfragt, das man selbst
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potentiell mit Mitmenschen in Beziehung treten kann. Die Welt sei so kulturell und sozial geprägt, dass man auf einen Beziehung ermöglichenden Deutungsschatz zurückgreifen kann (ebd.: 98). Die Lebenswelt ist eine durch jeden unhinterfragt geteilte Welt (ebd.: 100). Auf dieser Annahmen bildet sich in der natürlichen Einstellung ein „Wir“. Erst die Einsicht, dass der Andere nicht ein zweites Ich ist, löst die Idealisierung auf. SCHÜTZ unterscheidet zwei Umgangsweisen mit dieser Situation (ebd.: 100). Zum einen kann es zu der Erkenntnis kommen, dass Menschen verschieden voneinander sein können, was im Gruppenkontext zur Unterscheidung von Uns und Euch führt. Andererseits bildete sich durch die ethnologische Perspektive auch die Unterscheidung in „normale“ Menschen und „unnormale“ Menschen heraus (ebd.). Um das Erleben des Anderen zu ermöglichen, fallen der Ortsaspekt und die Leiblichkeit zusammen. Der Leib kann erkannt werden und zeigt sich als „auslegbares Ausdrucksfeld“ (ebd.: 101). Durch die leibliche Anwesenheit ist erst eine tatsächliche Beziehung möglich. Die Bewusstseinströme überlagern sich dann nicht, wohl aber laufen sie in Echtzeit parallel. Nur in der Begegnung ist eine „Unmittelbarkeit“ gegeben (ebd.). Diese Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass dem Anderen meine Aufmerksamkeit zuteil wird. In dieser „Du-Einstellung“ nehme ich den Anderen als Person wahr (ebd.: 102). SCHÜTZ nennt den Wahrgenommenen „Mitmenschen“ (ebd.). Aus der Unmittelbarkeit folgt auch, dass die „Du-Einstellung“ sich „prä-prädikativ“ nicht in der Reflektion formiert (ebd.). Der Mensch wird unmittelbar erfasst. Mache ich mir Gedanken über den Anderen, so verlasse ich die Ebene der unmittelbaren Erfahrung und objektivere das Gegenüber. Reflexion bedeutet ein Verlassen der unmittelbaren Situation (ebd.: 104). Richtet sich der Andere mit seiner Aufmerksamkeit auch auf mich, so wird aus der Du-Beziehung eine „Wir-Beziehung“. Für eine Begegnung braucht es immer die Wir-Beziehung (ebd.: 103). SCHÜTZ betont, dass die Unmittelbarkeit der Erfahrung auch in der Wir-Beziehung begrenzt ist durch die notwendige Auslegung des Gesehenen und des Gehörten. Allerdings ist sie „die gleichsam am wenigsten mediatisierte“ (ebd.). Es bildet sich eine Differenzierung in „Erlebnisnähe und Erlebnistiefe“ in der Wir-Beziehung (ebd.: 105). Der Bewusstseinsstrom des Anderen bleibt mir in Gänze unbekannt, wohl aber ist es möglich, sich in diesen „hinein[zu]leben“ (ebd.). Andererseits kann Distanz hergestellt werden, wenn die Kommunikation auf die objektiven Bestandteile des Gesagten reduziert wird. Dem Bewusstseinsstrom des Anderen
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lässt sich durch Hineinleben dann am besten annähern, wenn ein „Maximum an Symptomfülle“ gesucht wird (ebd.: 106). Nur in der Begegnung durch die leibliche Anwesenheit des Anderen ist dies gegeben, denn durch Mimik, Gestik und allgemein der Bewegung sind mehr unmittelbar auslegbare Informationen vorhanden, die ein Rückschluss auf das Bewusstseinsleben zulassen. Daraus folgert SCHÜTZ eine Konsequenz für die Selbstwahrnehmung. Da ich mir nicht unmittelbar selbst als ein lebendiger Mitmensch gegeben bin, fehlt mir das Maximum an Symptomfülle über mich selbst. Schließlich bin ich mir nicht selbst als leiblicher Mitmensch gegeben. In der natürlichen Einstellung ist mir der Mitmensch lebendiger gegeben als ich mir selbst. Erst durch Selbstreflexion kann ich mir meiner Erfahrungen und meines Wissens gewahr werden. Andererseits gilt das für das Gegenüber in der Wir-Beziehung genauso. In der wechselseitigen Bezogenheit kann man durchaus unmittelbar etwas über sich erfahren, aber eben in der Fremderfahrung, „genauer in meinem Erfassen der Erfahrung des Anderen von mir“ (ebd.: 108). Die „wechselseitige Spiegelung“ gehört ganz wesentlich zu einer Wir-Beziehung (ebd.). Wie SCHÜTZ immer wieder betont, ist es also erst die gemeinsam Erfahrung, die die Lebenswelt ausbildet (ebd.: 109). Daher ist die Lebenswelt immer intersubjektiv. Die Lebenswelt darf daher nicht gedacht werden als ein privater Erfahrungsbereich. Erst in der Wir-Beziehung eröffnet sie sich. Weder die Entwicklung einer Wir-Beziehung noch das damit verbundene Machen von Erfahrung darf statisch verstanden werden. Der Aufbau des eigenen Wissensvorrats ist gerade darin begründet, dass Erfahrungen in unterschiedlicher Intensität immer neu erworben werden (ebd.: 107). Wie bereits angesprochen, vermischen sich in einer Situation immer bereits gemachte Erfahrungen mit neuen Erfahrungen und bilden einen spezifischen „Auslegungszusammenhang“ (ebd.). Die Erfahrung des Menschen hat daher einen „Doppelcharakter“ (ebd.: 123). Indem ich durch Wir-Beziehungen einen Wissensvorrat angehäuft habe, ist die Erfahrung eines Menschen immer die „eines typischen Akteurs auf der Bühne der Sozialwelt“, andererseits aber immer auch die Erfahrung einer spezifischen Situation (ebd.). Allerdings stellt SCHÜTZ fest, dass die natürliche Einstellung in der alltäglichen Lebenswelt nur dann möglich ist, wenn in der Auslegung einer Begegnung den bereits gemachten Erfahrungen den Vorrang gegeben wird (ebd.: 111). Denn würde das Situative einer Situation in den Fokus geraten, würde die Verar-
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beitung des Erlebens eine viel intensivere Deutungsleistung erfordern. Stattdessen geht man immer davon aus, dass gemachte Erfahrungen auch in der momentanen Situation noch ihre Gültigkeit haben. „Wir sehen nicht ohne weiteres ein, warum der Mitmensch, mit dem wir sprachen, den wir liebten oder hassten, der so und nicht anders war, plötzlich doch ›anders‹ geworden sein sollte, nur weil er im Augenblick nicht da ist. Wir lieben oder hassen ihn noch immer, und nichts im alltäglichen Lauf der Dinge zwingt uns, zu bemerken, dass sich unsere Erfahrung von ihm in ihrer Struktur wesentlich verändert hat.“ (Ebd.)
Die im Wissensvorrat abgelegten Erfahrungen sind wirkmächtig und ermöglichen Vertrautheit überhaupt erst (ebd.: 112). Problematisch wird es erst dann, wenn die unmittelbare Erfahrung mit der erinnerten Erfahrung einen Widerspruch bildet. Dass jeder Mensch seinen eigenen Bewusstseinsstrom hat, der in der Gerichtetheit auf etwas Erfahrung ermöglicht und einen sich ständig modifizierten Wissensvorrat bildet, zeigt sich in der Konsequenz auch in dem Verständnis von sozialen Beziehungen. Mit SCHÜTZ lassen sich soziale Beziehung als eigentlich dynamische Gebilde verstehen. Dafür unterscheidet er zwischen einer lebendigen Wir-Beziehung und einer Beziehung unter „Zeitgenossen“, die sich in ihrer Erlebnistiefe und Erlebnisnähe unterscheidet (ebd.: 113). Da in der natürlichen Einstellung die Veränderung der Erlebnistiefe und Erlebnisnähe durch das Festhalten an vergangenen unmittelbaren Erfahrungen zurückhaltend wahrgenommen werden, erscheinen soziale Beziehung als kontinuierlich, obwohl sie es eigentlich nicht sind. SCHÜTZ charakterisiert soziale Beziehungen daher als „wiederkehrend[e]“ Beziehungen (ebd.). Die Distanz zum Zeitgenossen spiegelt sich darin wieder, dass er nur als typisiert, wohingegen ein Mitmensch „unmittelbar in seinem Da-sein und So-sein in der sozialen Begegnung konkret erfahre[n]“ wird (ebd.: 116). Die Typisierung ist möglich, indem in der Auslegung neuer Situationen komplett auf den Wissensvorrat zurückgegriffen wird (ebd.: 119). Es lässt sich bei einer Typisierung eigentlich gar nicht von einer Beziehung mit jemanden sprechen, sondern der Andere tritt als Typ im Sinne eines Trägers bestimmter Eigenschaften auf, dem Verhaltensweisen zugeschrieben werden (ebd.: 120). Allerdings ist die Trennung zwischen Mitmensch und Zeitgenosse nicht scharf. Auch in der Wir-Beziehung greife ich in der unmittelbaren Begegnung mit dem Mitmenschen auf Typisierungen zurück, allerdings können sich durch den situativen Charakter des Aufeinandertreffens
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diese auch verändern (ebd.: 121). Je höher die Stufe der Anonymität ist, desto stärker wird der Zeitgenosse objektiviert (ebd.: 124). Die Anonymität steigert sich weiter zu „sozialen Kollektiva“ (ebd.: 127). Da diese im eigentlichen Sinne überhaupt nicht mehr erfahren werden können, sind sie „hochanonym“ (ebd.). In der „lebendigen Wirklichkeit eines Mitmenschen“, können Typisierungen wie ›der Staat‹, ›die Wirtschaft‹, ›die sozialen Klassen‹ usw. nicht greifbar gemacht werden (ebd.: 128) Zwei Aspekte sind wesentlich, die nahe legen, die alltägliche Lebenswelt als „Kultur“ zu verstehen. Zum einen ist die Lebenswelt immer intersubjektiv geteilt. Eine Lebenswelt gibt es niemals nur für eine Person. Zum anderen dient die Lebenswelt dazu, im Alltag Erlebnisse sinnhaft zu deuten und damit Erfahrungen zu machen. Die alltägliche Lebenswelt ist ein Träger von Sinn für die Art der Bewältigung des Lebens. Der Mensch ist dabei kein Zuschauer, sondern nimmt an der Lebenswelt vermittelt durch seinen Leib teil. Seine Erfahrungen hängen von der Reichweite seiner Wirkzone ab. Lebenswelt wird atmosphärisch gespürt Ich gehe über SCHÜTZ Verständnis der Lebenswelt hinaus, indem ich den leiblichen Aspekt erweitere. Über das leibliche Hier und Jetzt bildet sich nicht nur ein Wissensvorrat aus, sondern darüber hinaus ermöglicht die Begegnung, Ort auch auf sich wirken zu lassen. Auch das macht Kultur aus. Für die Suche nach der Antwort, wie das geschehen kann, knüpfe ich an die geisteswissenschaftliche Geographie an. Mit ihr kann der leibliche Charakter in der Geographie Berücksichtigung finden, weil hier Mensch-sein offener verstanden wird: „Dort, wo der Mensch sich als Mensch sucht, begegnet, ausdrückt und entwirft, beginnt in universitärer Tradition der Aufgabenteilung unter den Fakultäten das Gebiet der Geisteswissenschaften.“ (HELBRECHT 2003: 167) Als ein Vertreter einer geisteswissenschaftlichen Geographie werde ich im Folgenden Ausschnitte des Denkens von HASSE vorstellen. HASSE hat die Debatte dadurch bereichert, dass er vorschlug, Orte von ihrer Atmosphäre her zu verstehen. Wie ich zeigen werde, ist die Auseinandersetzung mit Atmosphären nach HASSE für das vertiefte Verstehen von Begegnung an und mit Orten nützlich. Zunächst erläutere ich das Verständnis von Atmosphäre bei HASSE. Nachdem die Auseinandersetzung mit Atmosphären am Beispiel Stadt erklärt wurden, sind die Möglichkeiten darzustellen, wie Atmosphären wahrgenommen und analysiert werden können. Schließlich wird im Fazit die
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Nützlichkeit des Begriffs für das Konzept des interkulturellen Lernens dargelegt. Mit HASSE können wir Raum anders denken, als es bisher in der Geographiedidaktik üblich ist. Als „Common Sense“ zum bisherigen Stand gelten die „Raumkonzepte“, die verschiedene Verständnisweisen von Raum vereinigen. WARDENGA (2002) hat eine Unterscheidung in vier Kategorien vorgenommen. Diese Ausdifferenzierung floss sogar ein in die „Grundsätze und Empfehlungen für die Lehrplanarbeit im Schulfachgeographie“ (CURRICULUM 2000+ 2002). Darin wird unterschieden zwischen dem Raum als Container, dem Raum als System von Lagebeziehungen, dem Raum als Kategorie der Sinneswahrnehmung und schließlich dem Raum in seiner Konstruiertheit. Auf eine differenzierte Darlegung verzichte ich aufgrund der etablierten Stellung des Konzepts im Fach. Es liegen verschiedene Erläuterungen des Konzepts mit Fallbeispielen vor (vgl. NEHRDICH 2010). Um das neue Denken von HASSE für die bisherige geographiedidaktische Debatte um Raum besser zu verdeutlichen, werde ich an dieser Stelle lediglich auf die mit den Raumbegriffen einhergehenden Wissenschaftstheorien aufmerksam machen. Die ersten beiden Raumbegriffe verbinden ein positivistisches Wissenschaftsverständnis (WARDENGA 2002: 49). Durch naturwissenschaftliche Beobachtungen lassen sich die verschiedenen Phänomene auf der Erde regionalisieren und kartographisch abbilden. Die Regionalisierung wird nicht als Herstellung verstanden, sondern als Wiedergabe dessen, was in einem Raumausschnitt (Container) in der „Realität“ zu entdecken ist. Auch bei der Suche nach Raumgesetzen im Verständnis des Raumes als System von Lagebeziehungen wurde das, was erdräumlich vorhanden ist, in Relation zueinander gesetzt. Mit dem Verständnis von Raum als Kategorie der Sinneswahrnehmung fand eine Wende zum Menschen und damit einhergehend der Rückgriff auf den Behaviorismus statt. Untersucht wurde wiederum mit naturwissenschaftlichen Methoden das beobachtbare Verhalten von Menschen im Raum, um dies schließlich erklären zu können (WEICHHART 2008: 149). Es wurde davon ausgegangen, dass Phänomene im Raum nicht mehr neutral erfasst werden können, sondern durch Umweltreize verzerrt wahrgenommen werden. Die letzte Kategorie, der Raum in seiner Konstruiertheit, bezieht sich wissenschaftstheoretisch auf den (sozialen) Konstruktivismus. Raum wird nicht als Entität verstanden, sondern als ein Konstrukt, dass durch soziales Handeln erst hervorgebracht wird. Menschen beziehen die Welt durch
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ihr alltägliches Handeln zum einen auf sich, zum anderen stellen sie Welt darüber auch her (WARDENGA 2002: 51). HASSE unterscheidet zwischen sechs Raumbegriffen: den mathematischen Raum, den symbolischen Raum, den sozialen Raum, den leiblichen Raum, den Situationsraum und den Denkraum (2015: 21ff.). Der Situationsraum und der Denkraum liegen quer zu den anderen Unterscheidungen, sodass die eigentliche Differenzierung die ersten vier Raumbegriffe bilden. Der mathematische Raum ist zu verstehen als eine Verbindung des Raumes als Container und des Raumes als System von Lagebeziehungen. Der mathematische Raum umfasst die „Verortung materieller Dinge an Ort und Stelle“ (ebd.: 22). Es sind Körper, die in spezifischen Relationen zueinander stehen: „Ein lebender Fisch ist im mathematischen Sinne nicht anders räumlich als ein toter.“ (Ebd.) Der mathematische Raum lässt sich abbilden mithilfe der Kartographie. Der symbolische Raum und der soziale Raum lassen Ähnlichkeiten zum Raum in seiner Konstruiertheit erkennen. Im symbolischen Raum spiegelt sich eine „Ordnung der Bedeutungen“ wider, die für die Kommunikation und das Verstehen nötig ist (ebd.: 24). Am Beispiel von „Heimat“ deutet HASSE an, dass der symbolische Raum eine „Komplexe Gemengelage“ von Symbolen bildet, deren Bedeutungen sich entziffern lassen. Im sozialen Raum bildet sich darüber hinaus eine „Ordnung der Menschen und deren Zugehörigkeiten“ (ebd.: 28). Es ist der Raum, indem sich Selbst- und Fremdzuschreibungen vollziehen. Es liegt nahe, den symbolischen und sozialen Raum als durch handelnde Subjekte gebildet zu verstehen. Besonders interessant für den Aspekt der Begegnung ist HASSES Verständnis vom leiblichen Raum. Damit regt er an, Raum anders zu denken. Er geht von der Beobachtung aus, dass Menschen auch eine affektive Beziehung zu Räumen haben. „Sie [Die Räume, F.R.] berühren uns affektiv und deshalb können wir sie nicht in einer rein rationalen Haltung wahrnehmen.“ (Ebd.: 203) Wissenschaftstheoretisch vollzieht HASSE damit eine phänomenologische Ausrichtung. HASSE setzt an den Gegebenheiten bzw. den Phänomenen und untersucht, wie sie uns in Erscheinung treten. Dabei geht er anders als im Konstruktivismus davon aus, dass in der Beziehung von Subjekt und Objekt auch etwas von den Objekten ausgeht. „Die Lebendigkeit eines Wahrnehmungsgeschehens ist folglich nicht nur durch die Lebendigkeit einer Person geprägt, sondern ebenso durch die physiognomisch zum Ausdruck kommende Lebendigkeit der Dinge.“ (Ebd.: 181) Was sich hier andeutet ist ein anderes Verständnis von Mensch-sein bei HASSE. In seinem
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Verständnis ist ein Mensch mehr als ein rational handelnder Akteur. Alles andere würde „jeder Lebenserfahrung widersprechen“. Menschen machen auch Erlebnisse in Räumen und werden dabei von Eindrücken affiziert. Von der Umgebung geht ein „Sog“ aus, der sich als „Strom von Ereignissen“ nicht nur rational fassen und als Resultat zweckmäßigem Handelns verstehen lässt (ebd.: 11). Für dieses Verständnis führt HASSE den Begriff des leiblichen Raums ein. „Menschen erleben ihre Umgebung im Medium der Leiblichkeit. Die Ordnung des leiblichen Raumes differenziert sich nach Gefühlen situativer Betroffenheit innerhalb der Spanne von spürbarer Enge und Weite. Leiblich ist auch der hodologische Raum – der Raum der Bewegung.“ (Ebd.: 31)
Er konkretisiert diesen Raumansatz über den Begriff der „leiblichen Kommunikation“. Diese Kommunikation versteht HASSE dialogisch. Mittels des Leibes wirkt der Mensch ein, aber auch von den Dingen geht eine Wirkung aus, „etwas rückt auf den Leib“ (ebd.). Der leibliche Raum eröffnet ich von einem „absoluten Ort“ aus, der in der Situation über das „leibliche Spüren“ erlebt wird (ebd.: 33). Über den Austausch des Befindens aus dem leiblichen Spüren kann sich über die „Um- und Mitweltverhältnisse“ im Nachhinein auch verständigt werden. (ebd.: 34). HASSE ist so zu verstehen, dass er die größten Defizite bei der Vernachlässigung der leiblichen Perspektive sieht. So attestiert er Geographen „relative Perfektionierung“ bei der rationalen Analyse von Symbolen, „in der Sache pathischen Selbst- und Weltbewusstseins zugleich aber eine Abstumpfung der Sensibilität“ (ebd.: 25). Der phänomenologische Ansatz in der Geographie ist nicht gänzlich neu. Außerhalb der deutschen Debatte sprachen Autoren wie BUTTIMER von einer „humanistischen Geographie“. BUTTIMER wollte mit der humanistischen Geographie an der Bedeutung der Lebenswelt ansetzten (WEICHHART 2008: 140). Von HASSE liegt mit der Konkretisierung über Atmosphären ein aktueller Ansatz vor, der an diesen Denkbewegungen anknüpft und sie weiterführt.
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Verständnis von Atmosphäre Wenn mit HASSE davon auszugehen ist, dass sich leiblich spüren lässt, wie von einer Umgebung etwas ausgeht, muss geklärt werden, wie dieser Zwischenbereich genauer zu verstehen ist. Dafür führt HASSE den Begriff der Atmosphäre eine. „Atmosphären sind spürbare Schnittstellen, an denen Menschen ihr Herum in gefühlsräumlichen Qualitäten erleben.“ (HASSE 2015: 204) Es ist also die Präsenz der Atmosphäre in einer Situation an einem Ort, die leiblich spürbar wird. Als „gefühlsmäßige Wirklichkeit“ lässt sich eine Atmosphäre nicht besitzen, gleichwohl sie ubiquitär ist (ebd.: 205). Sie wird in einer Situation über Gefühle erlebt. Jede menschliche Umgebung hat eine Atmosphäre. Dabei kann sie sich von Ort zu Ort und Situation zu Situation in ihrer „gefühlsräumlichen Qualität“ verändern (ebd.: 204). Ist das Spüren einer Atmosphäre dabei individuell oder gibt es etwas wie kollektiv gespürte Atmosphären? Für HASSE wird die persönliche Situation durch die „individuelle Form der Erlebens“ „gestimmt“ von dem Erleben von gemeinsamen Situationen (ebd.: 207). Im Alltag spielt die Atmosphäre eine eher untergeordnete Rolle, weil sie wie selbstverständlich mit empfunden wird. Dennoch ist sie da und nach HASSE für die „gefühlsbezogenen Bedeutungen“ der „Selbst- und Weltbeziehungen“ konstitutiv. Weil sie die Stimmung beeinflusst, geht von der Atmosphäre eine Macht aus (ebd.: 208). Daher mahnt HASSE an, die Existenz von Atmosphären nicht länger zu ignorieren, und ihnen stattdessen mit einer „Übung leiblicher und hermeneutischer Intelligenz“ nachzuspüren (ebd.: 212). Die Atmosphäre lässt sich nicht vermessen oder wie ein Gegenstand analysieren. Sie wird „mit einem Schlag“ spürbar (ebd.: 185) und stößt uns an die „Grenze der Rationalität“ (ebd.: 11). Sie ist unmittelbar gar nicht zugänglich (ebd.: 12). Unter Rückbezug auf DURCKHEIM macht HASSE dazu deutlich, dass in dem situativen Geschehen, Subjekt und Objekt zusammenfallen. Derjenige, der erlebt, und das Erlebte verbinden sich in einem „vitalistischexistentiellen Sinn“ (ebd.: 182). „Die Dinge werden durch ihren Anmutungscharakter, durch ihr ästhetisches Erscheinen und ihre atmosphärische Präsenz situativ zu etwas vom aktuellen Selbst.“ (Ebd.) Die Atmosphäre ist ein „Umschlagsraum“ in dem Subjekt und Objekt zusammenkommen (ebd.: 207).
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Es sprechen mehrere Aspekte für die Anknüpfung an den Begriff der „Atmosphäre“, um ein Verständnis für Begegnungen mit Orten zu entwickeln. Zum einen lässt sich mit dem Begriff der „Atmosphäre“ die Begegnung mit Orten als etwas schwer Fassbares verstehen. Die Herausforderung besteht darin, etwas zum Ausdruck zu bringen, dass sich gerade entzieht. HASSE bestimmt die Atmosphäre mit BÖHME als „etwas Unbestimmtes, schwer Sagbares“ (ebd.: 206). Mit ihrer „flüchtige[n] und nicht ding-fest zu machende[n] Intensitäten“ hat sie „keine messbare Form“ (ebd.: 205). Zweitens eröffnet sich die Atmosphäre in der Begegnung über ihren pathischen Charakter. Die Atmosphäre ist das, was uns gefühlsmäßig anspricht an einem Ort, erlebbar in der Begegnung, die uns in den Bann zieht oder abstößt. Dem Angesprochen-werden im Erlebnis räumt HASSE bei der Auseinandersetzung mit der „menschlichen Welt“ eine größere Bedeutung ein als der Kognition und Abstraktion (ebd.: 19). Damit wird bei HASSE eine Kritik am bisherigen Subjektverständnis in der Geographie deutlich2. HASSE kritisiert eine „Idealisierung des Individuum[s] zum handelnden Akteur“ (2015: 12). Er geht von einer „Doppelstruktur des Menschen“ aus (ebd.: 13). In einer Situation ist ihm zufolge das Individuum zugleich „Akteur“ und „Patheur“, Akteur im Sinne eines rational handelnden Manschens und Patheur als jemand, der leiblich betroffen ist. „Die Grenze verläuft durch das Individuum.“ (Ebd.: 14) HASSE nutzt den Dualismus von Patheur und Akteur, um sich von dem handlungsorientierten Ansatz nach WERLEN (1997) abzugrenzen. Als Ausgangspunkt steht bei HASSE die Feststellung, dass „Akteure nicht nur rational agierende Subjekte [sind] [...]“ (2006: o. S.). So verweist er auf das Unbewusste, dass menschliches Tun mit leitet. WERLEN bestreitet unter Rückgriff auf die Strukturationstheorie von GIDDENS nicht, dass es nicht auch das Unbewusste als Bewusstseinsform gibt (WERLEN 1997: 153). WERLEN lehnt es allerdings ab, dieser Art „dunkler Kräfte“ einen wesentlichen Einfluss auf das menschliche Handeln einzuräumen (ebd.). Entscheidend für WERLEN ist die Reflexionsfähigkeit des Menschen. „Diskursives
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Nur am Rande sei erwähnt, dass bei WALDENFELS diese Kritik sogar Ausgangspunkt ist, um über das Fremde nachzudenken. Schon in der Einleitung zu „Topographie des Fremden“ macht er deutlich: „Was andererseits die veränderte Rolle des sogenannten Subjekts angeht, so verliert der Menschen, der sich lange als Zentrum der Welt betrachtete, seine beherrschende Stellung. Was wir sind, sind wie nie ganz und gar.“ (Ebd.: 11)
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Bewusstsein und reflexive Steuerung des Handelns werden so zusammengebracht, dass uns das diskursive Bewusstsein erlaubt, über unser Handeln nachzudenken, es zu beschreiben, es bewusst zu steuern und darüber rational Auskunft zu geben.“ (Ebd.: 154) Für das Verständnis der Begegnung mit Orten ist auch der Begriff des „Leibs“ von HASSE gewinnbringend3. Mit diesem will man die Trennung von Körper und Seele umgehen. Während der Körper oft wie eine eigene Verfügungsmaße verstanden wird, verhält es beim Denken des Leibes anders: „Unser Leib erscheint als etwas, das von uns selbst abgespalten ist, obwohl er in gewisser Hinsicht zu uns gehört, zumal dann, wenn wir unter ihm leiden.“ (Ebd.: 68-69) Die „Neue Phänomenologie“, auf die sich HASSE bezieht, betont besonders die Rolle des Leibes (JULMI & SCHERM 2012: 5). HASSE moniert, dass in der Humangeographie bisher das Konzept des Körpers vorherrschend ist. Der Körper ist ein Massepunkt mit einer bestimmten Ausdehnung, der sich verorten lässt. Die Lage von Körpern lässt sich in eine Karte eintragen. Dahingegen versteht er Leib als „Resonanzmedium“ (ebd.: 2223). Der Leib ermöglicht über die Sinneserfahrung das „atmosphärische Erleben“ als ein „situativ spürendes Mitsein“ (ebd.). HASSE spricht bewusst nicht von einer Wahrnehmung der einzelnen Sinnesorgane, weil für ihn der Mensch nicht lediglich ein Körper ist, der mit verschiedenen Sensoren ausgestattet ist. Stattdessen „bildet [sich] im leiblichen Erleben eine Ganzheit, die weniger mit Augen gesehen oder mit dem Ohr gehört, als durch ein Spüren von Eindrücken erschlossen wird [...]“ (ebd.: 212). Darin sieht HASSE den Grund, warum sich enge Räume auch vermittelt über den Leib verengt anfühlen und der Wechsel in große Räume zum tiefen Durchatmen animiert, weil man sich freier erlebt. Eine Grundkritik von HASSE ist, dass das übliche geographische Denken „kaum noch einen spürenden Kontakt zum lebensweltlich nachvollziehbaren Sein hat oder sucht“ (ebd.: 17). Stattdessen regt er an, dieser „lebensweltlichen Not“ zu begegnen, und das „Sprechen über Gefühle und Atmosphären“ zu fördern (ebd.: 212). Wir können die alltägliche Lebenswelt nicht nur als
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Bei WALDENFELS spielt er in „Topographie des Fremden“ eine nebensächliche Rolle. In späteren Werken nimmt WALDENFELS (2012: 68) den Begriff aber prominenter auf und hält beispielsweise in „Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden“ fest: „Leiblichkeit und Fremdheit sind auf das Engste miteinander verbunden“.
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vornehmliche Wirklichkeit verstehen, aus der heraus man typenhaft Wissen zur Lösung von Problemen generiert, sondern müssen die Lebenswelt ebenso als ein „eindrückliches Geschehen“ deuten, zu dem man affektiv und intuitiv unhinterfragt in Beziehung steht (ebd.: 13). Die „lebensweltliche und systemische Bestimmung atmosphärischer Milieus“ ist nicht zu unterschätzen (ebd.: 212). In der Vielfalt der Atmosphären gibt es auch solche, die mit SCHÜTZ als mittlere Transzendenz zu deuten sind. Dann zeigen sich in der affizierenden Situation, „Erlebniswirklichkeiten, die Menschen lebensweltlich‘ nur sehr bedingt planend und intentional in die eigene Hand nehmen können.“ (Ebd.: 11, eigene Hervor.) So wie der eigene Bewusstseinsstrom sich nicht mit dem des Gegenübers synchronisieren lässt, bleibt auch das leibliche Spüren der Umgebung von einer Offenheit geprägt. Die alltägliche Lebenswelt ermöglicht Sinnproduktion nicht nur durch Auslegung der Bewusstseinsakte, sondern auch durch das leibliche Spüren der Umwelt. „Insbesondere das nachhaltig Affizierende schafft und verschiebt Bedeutungen und damit Selbst- und Weltbilder.“ (Ebd.: 14) Der Leib ermöglicht ein Einfühlen in die Umgebung, was auch die Beziehung zum Raum verändert. Dieser Umstand ist vergleichbar mit der wandelnden Wir-Beziehung der Mensch nach SCHÜTZ, in der das Gegenüber von einem Zeitgenossen zum Mitmensch wird, nimmt man ihn durch die höhere Erlebnistiefe anders wahr. Das eigene Lebensumfeld zeigt sich durch leibliches Spüren dann nicht nur typenhaft wie in der Stadtplanung als „allgemeines Wohngebiet“, „Grünanlage“ oder „Verkehrsfläche“, sondern versehen mit einer Atmosphäre, die das eigene Weltbild mit prägt. Während SCHÜTZ vom Hineinleben in den Anderen spricht, betont HASSE (2015: 181) über die leibliche Kommunikation mit der Umgebung den „dialogischen Charakter“. Wie gezeigt wurde, reichen die Raumkonzepte von WARDENGA (2002) nicht, um den pathischen Charakter der Begegnung konkretisieren zu können, sondern es braucht die Erweiterung um den leiblichen Raum. Der Gewinn von HASSES Ansatz ist, dass sich mit dem Atmosphärenbegriff über die Begegnung selbst mehr sagen lässt. Man gesteht zwar zu, dass Atmosphären schwer zu fassen und nur in ihrer Ganzheit spürbar sind. Zugleich lässt sich das, was in der „situativen Synthese“ zur Erscheinung kommt, beschreiben: „die Dinge an ihren Orten, die Temperatur der Luft, das Wehen des Windes, das natürliche oder künstliche Licht, vor allem aber die Formen der Präsenz von Menschen“ (HASSE 2015: 202).
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Atmosphären wahrnehmen Zunächst greife ich die Grundidee der Responsivität von WALDENFELS auf. Mit ihr unterlässt man die Frage nach dem „was“ des Fremden oder dem „wie“ des sich Zeigens des Fremden, sondern fokussiert auf das Geben der eigenen Antwort auf Fremdes in der Begegnung und befragt diese. Das leibliche Gespür von Atmosphären als Schnittstellen im Raum interpretiere ich als eine Antwort auf etwas, dass sich an einem Ort entzieht. Zu erkunden ist damit nicht der Ort selbst, der immer auch entzogen bleibt, sondern das eigene Gespür. Für das Nachspüren muss man sich sensibilisieren. Das Gespür ist immer da, nur wird es häufig über Aneignung oder Ausgrenzung negiert. Eine Art der Aneignung ist, sich einem Ort allein kognitiv zu nähern und beispielsweise dessen Bedeutung für den Menschen als Zuschreibungsleistung zu verstehen. Das Gespür für einen Ort ernst zu nehmen heißt indes, auch davon auszugehen, dass es „kein Denken voraus [setzt] und nicht ins intelligible Denken münden [muss]“ (HASSE 2015: 49). Dass kann man sich besser vorstellen, wenn man davon ausgeht, dass es eine „leibliche Kommunikation“ als „antagonistische Einleibung in der Zuwendung eines Wahrnehmenden an einen Partner“ nicht nur mit Menschen sondern auch mit Gegenständen eines Ortes gibt (ebd.: 50). HASSE spricht davon, dass wir mit Räumen immer auch leiblich verstrickt sind (ebd.). So ermöglicht sich ein „dialogisches Erleben räumlicher Milieus“ (ebd.: 183). Das „Fühlen als affektives Betroffensein“ einer Atmosphäre, wie das leibliche Spüren bei HASSE verstanden wird, unterscheidet sich dabei von der eigenen „Stimmung“ (ebd.: 214-215). Beim leiblichen Spüren einer Atmosphäre als Zwischenbereich von mir und der Umgebung, zwischen Eigenem und Fremdem, wird dem Fremden eine größere Rolle zugebilligt. Mit TELLENBACH versteht HASSE Atmosphären auch als „eine unpersönliche Wirklichkeit“. Die Atmosphäre ist also eher noch von einem Entzug geprägt als die eigene Stimmung (ebd.). Die Stimmung zeichnet sich durch eine „Einheit von Ich- und Weltgefühl“ (ebd.) aus. Während Stimmungen Gefühle sind, die nicht auf die Umgebung gerichtet sein müssen, so wie die gelöste Stimmung eines Verliebten, ist das leibliche Spüren einer Atmosphäre immer gerichtet auf einen Gegenstand. Die Stimmung ist der „Boden“ eines Gefühls zudem ein leibliches Spüren situativ hinzukommen kann (ebd.). Gleichwohl lässt sich von der Gerichtetheit des leiblichen Spürens einer Atmosphäre nicht auf die Dinge selbst schließen. Es bleibt im Zwischen. Im leiblichen
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Spüren wird man angesprochen von etwas, dass sich sogleich wieder entzieht. Das leibliche Spüren einer Atmosphäre meint vielmehr, dass da „etwas um uns herum“ ist (ebd.). Da man erst durch den Leib von der Umgebung etwas „am eigenen Leib“ spürt, im Unterschied davon „vom eigenen Leib“ etwas wahrzunehmen, ist der Leib das Resonanzmedium (ebd.: 205, eigene Hervor.). HASSE bietet mit „Synästhesie“ einen Begriff an, mit dem er das leibliche Spüren genauer fasst und dem er „eine besondere Rolle“ beimisst (ebd.: 20). Synästhesie meint eine ganzheitliche Wahrnehmung (ebd.: 49). Das leibliche Spüren synästhetisch zu verstehen verdeutlicht nochmal mehr, nicht von einzelnen Sinneseindrücke auszugehen, sondern von einem „übergreifenden Ganzen“ (ebd.: 57). Mit dem Beispiel der Stille macht HASSE deutlich, dass dieses eindrückliche Spüren nicht durch einzelne Sinne möglich ist. Obwohl man auch bei Synästhesie davon ausgehen kann, dass „das rechte Wort dafür notwendig fehlt“, wie HASSE unter Rückgriff auf LIPPS zu Bedenken gibt, bietet es sich an, mit Hilfskonstruktionen wie „so wie…“ oder „als ob…“ zu arbeiten (ebd.: 58). Das leibliche Spüren lässt sich außerdem durch „Bewegungssuggestionen“ genauer fassen (ebd.: 52). Bewegungssuggestionen sind eigentlich keine Bewegungen, sondern eher Hinweise auf Bewegungen. HASSE spricht auch von „Bewegungstendenzen“. Im leiblichen Spüren drückt sich beispielsweise dann die „Masseeigenschaft von Dunkelheit“ dadurch aus, dass man sich langsamer bewegt (ebd.). Es sei an dieser Stelle nochmal darauf hingewiesen, dass das räumliche Erleben im Sinne eines leiblichen Spürens immer an einzelne Situationen gebunden ist (ebd.: 50). Dieselbe schmale Gasse kann mal als beengend und mal als beschützend empfunden werden, der weite Raum mal ein Gefühl der Weite andererseits auch ein Gefühl des Verlorenseins eröffnen. Über den Resonanzkörper des eigenen Leibes kann man sich in einem Keller tatsächlich so fühlen, als würde man selbst erdrückt werden (ebd.: 67). Dass einem die Luft weg bleibt, ist mehr als nur ein Sprichwort. Im Schatten eines Gartens während der sommerlichen Wärme stellt sich das Gefühl des Wohligseins ein. Dahingegen kann die winterliche Kälte als schneidend gespürt werden (ebd.: 210). Nicht der Ort selbst bekommt dann eine Bedeutung, sondern die Gefühle, die er auslöst. Am Beispiel interviewter New Yorker „homeless people“
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zeigt HASSE, dass ihre Response auf dunkle Tunnel das „Gefühl des Behagtseins“ ist, weshalb diese Bereiche Orte des Schutzes für sie darstellen (ebd.: 52). Es wurde deutlich, dass ein Weg zum Austausch über Atmosphären im Ausdrücken der synästhetischen Eindrucksqualitäten liegt. Dem Gefühl einer Atmosphäre lassen sich „komplementäre symbolische Bedeutung“ zuordnen, die wiederum kommunizierbar sind (ebd.: 205). HASSE schlägt vor, dabei nicht nur die Sprache zu nutzen, sondern ebenso körperliche Ausdrucksweisen wie Mimik und Gestik, sowie durch die Erzeugung von künstlerischen Produkten wie Malerei oder Bildhauerei. Dazu ergänze ich Ausdrucksformen über Photographie und Theater. Der „metaphernhaften Rede“ gibt HASSE (wie auch WALDENFELS) klar den Vorrang vor dem Schwerpunkt auf den rein auf die Begrifflichkeit fokussierenden Ausdruck (ebd.). Es geht darum, dass schlagartige, pathische Getroffensein zum Ausdruck zu bringen. Atmosphären analysieren Zunächst ging es im vorherigen Kapitel darum, Ausdrucksmöglichkeiten für das leibliche Spüren von Atmosphären als Antwortverhalten zu verstehen und darzustellen. Atmosphären, die existieren, indem sie einen Ort situativ „umweben“ und „einhüllen“ (HASSE 2015: 204), entziehen sich zugleich. Mit dem leiblichen Spüren werden sie gefühlig wahrnehmbar. Ergänzend zum leiblichen Spüren eröffnet sich nach HASSE die Möglichkeit, Atmosphären über „segmentierte Eindrücke als Katalysatoren des Aufmerkens“ fassbarer zu machen (ebd.: 216). Er geht dabei nicht so weit, einzelne Facetten isoliert zum genaueren Fassen der Atmosphäre heranziehen zu wollen. HASSE spricht stattdessen von einer „in sich zusammenhängenden Eindrucksqualität, die aus der Ganzheit einer Atmosphäre hervortritt“ (ebd.). Die Synästhesie ergibt sich durch die „synästhetische Charaktere“ der Umgebung (ebd.: 210). Die helle oder dunkle bzw. warme oder kalte Farbe eines Steines ist der synästhetische Charakter, der eine Atmosphäre situativ übermittelt. „Erst der situative Rahmen disponiert ihn [den Stein, F.R.] für ein bestimmtes atmosphärisches Erleben, etwa dann, wenn er als Medium der Repräsentation einer Hausfassade ihr Gesicht gibt.“ (Ebd.: 62) Für das Beispiel der Stadt schlägt HASSE verschiedene „Eindrucksvermittler“ vor, die sich für die Untersuchung des synästhetischen Charakters anbieten, um das Erfassen einer Atmosphäre wahrscheinlicher zu machen
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(ebd.: 216). Im Folgenden werden einige dieser „Eindrucksvermittler“ vorgestellt: • Baukultur: Da sich in jedem Bauwerk ein bestimmter architektonischer
Stil ausdrückt, spiegelt sich in ihm die „Kultur als Stimmengabel des Gebauten“ wider (ebd.: 217). Jedes Bauwerk steht für einen bestimmten Zeitgeist. Der ästhetische Ausdruck prägt wesentlich die Atmosphäre mit. Während die Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist vor allem des kognitiven Verstehens bedarf, geht der synästhetische Charakter von der Symbolsprache der Bauwerke aus, die leiblich spürbar wird. • Gerüche: HASSE bezeichnet mit BÖHME Gerüche als das „Wesent-
lichste“ einer Stadt (ebd.). Geruchseindrücke sind besonders einprägsam und charakterisieren manche Orte unverwechselbar. Man nimmt sie „mit einem Schlage“ war (ebd.). Gerüche zeigen im besonderen Maße die affektive Wirkung von Räumen. Besucht man beispielsweise Orte der Kindheit erscheint die vergangene Zeit schon über die Gerüche der Orte wieder lebendig. • Licht und Schatten: Von Licht und Schatten geht eine solche affektive Wir-
kung aus, dass sie die Atmosphäre einer Stadt als eigene Wirklichkeit erscheinen lassen. Licht und Schatten bilden eine „visuelle Zudringlichkeit“, der man sich kaum entziehen kann (ebd.: 218). Wie in einer Kirche lässt sich durch die Gestaltung der Fenster die Wirkung des Lichts zur Inszenierung nutzen. Doch andererseits überkreuzen sich in der Stadt auch so viele Licht und Schattenelemente, dass gerade dieses Netz die pathische Anmutung aufspannt. Es geht dann nicht um die Identifizierung einzelner Lichtquellen, sondern um das sinnliche Wahrnehmen der Komposition. • Geräusche: Es kommt einem nicht als erstes in den Sinn, aber das leibliche
Spüren von Atmosphären hängt auch an der Empfindung von Geräuschen. HASSE nennt das Beispiel des leise schleichenden Passanten, der schnell ein „Gefühl der Furcht“ auslöst (ebd.). Auch jedes Material klingt anders und führt zu unterschiedlichen Resonanzen an einem Ort. Kirchturmglocken, piepende Schranken oder klingelnde Straßenbahnen bilden zusammen eine spezifische „Lautlichkeit“, die die Umgebung erfasst (ebd.). Um deutlich zu machen, wie sehr sich im Klang der Zeitgeist und das Gefühl
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einer Epoche widerspiegelt, sei daran erinnert, dass um die Wende zum 19. Jahrhundert zu jeder Stadt der Klang trabender Pferdehufe beim Ziehen von Kutschen gehörte. • Rhythmen der Bewegung: Eine Straßenbahn kann nicht nur klingeln, sie
bewegt sich auch auf eine andere Art und Weise als beispielsweise ein Auto. Der „Bewegungsfluss der Stadt“ (ebd.: 220) wird geprägt durch die sich bewegenden Dinge. Sie zusammen bilden eine Atmosphäre mit. Abrupte Bewegungsänderungen lassen einen erschrecken. Die sonntägliche Atmosphäre eines Parks wird mit erzeugt durch den Bewegungsrhythmus der Menschen. Lebendigkeit drückt sich „im performativen Fluss menschlichen Treibens“ aus (ebd.: 206). Dabei ist nicht nur das Drum-Herum in Bewegung, auch der leiblich Spürende selbst bewegt sich und kann damit Atmosphäre auf verschiedene Arten erfahren. Der Spaziergänger wird sie anders erfahren als der Autofahrer, denn die „Achtsamkeiten“ unterscheiden sich (ebd.: 221). • Blicke und An-Blicke: Die Partizipation am Erleben eines Ortes über die
Atmosphäre ermöglicht sich nur durch das unmittelbare Vor-Ort-sein. Das Erleben wird dadurch bestimmt, dass das eigene Blicken mehr ist als ein „visuelles Blicken“ (ebd.). Blick und An-Blick greifen ineinander und gehen ein „plurales sinnliches Spiel“ ein (ebd.). Auf ihre eigene Art blicken auch Häuser, Autos und Bäume einen an. HASSE spricht dabei mit JÄCKEL von einer „architektonischen Geste“ (ebd.). Ein Haus bewegt sich dabei nicht auf einen zu, aber dennoch gibt es eine Bewegungssuggestion. Während HASSE von einer bannenden Aufmerksamkeit spricht, kann man mit WALDENFELS von einem Anspruch anknüpfen, der von Dingen ausgeht. • Kleidung und Habitus der Menschen: HASSE deutet die Kleidung von
Menschen und die Art und Weise des Sich-gebens semiotisch. Kleidung steht als Zeichen für die Position des Menschen im sozialen Raum, sie drückt „atmosphärisch die Zugehörigkeit“ aus (ebd.: 222). Eine Baustelle „lebt“ auch durch die sich auf ihr bewegenden Arbeiter. Aber Kleidung geht nicht in ihrer Funktion der Identitätsbildung auf. Kleidung kann selbst auch eine Bewegungssituation haben. Sie spricht an und lässt aufmerken und den Träger möglicherweise auch rätselhaft erscheinen.
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Über den Rückgriff auf den Atmosphärenbegriff gelingt mit HASSE eine neue Auseinandersetzung mit geographischen Phänomenen. So kann die „gefühlsmäßige Komplexität“ der Urbanisierung ebenso in den Blick kommen, wie die „Eindrucksmacht“ von Landschaften (ebd.: 185). Aber auch konkrete Orte, wie Kirchen, Brachflächen oder Markthallen können in ihren vielfältigen affektiven Beziehungen besprechbar gemacht werden. Die Besonderheit des Städtischen ist die Vielfalt von Atmosphären, die nebeneinander existieren, oder ineinandergreifen ohne sich aufzulösen. Damit ist Stadt einerseits eine bestimmte Art des Gefühlsraums und dabei andererseits ein „gebrochenes Gebilde“ mit verschiedenen „Grenzverläufen“ (ebd.: 203). Denn HASSE hebt hervor, dass sich „die atmosphärische Präsenz“ nicht auf eine ganze Stadt bezieht, sondern auf dem „Niveau der Quartiere“ angesiedelt ist (ebd.: 205). Quartiere zeichnen sich durch eine bestimmte Baukultur aus, die eine physische Präsenz und Dichte erzeugt. Andererseits finden sich in Quartieren Lebensformen wieder, die in Austausch und Abgrenzung zueinander gehen und damit einen spezifischen sozialen Raum bilden (ebd.: 202). Die Rhythmen der Bewegung prägen gerade in der Stadt die „subjektive Erfahrung der Stadtwirklichkeit“ ganz wesentlich mit (BÖHME in HASSE 2015: 202). Nicht nur das Wissen über die Dispositionen des Quartiers, sondern auch die affektive Beziehung zum Ort macht die eigene Lebenswelt mit aus. Nach einer längeren Reise drückt sich nur beim Betreten der eigenen Wohnung ein bestimmtes leibliches Spüren aus. Diese pathische Erlebnisqualität, gibt HASSE zu bedenken, hat darüber hinaus auch die Umgebung des eigenen Wohnraums (ebd.: 203). In Bezug auf den Lebensweltbegriff ist es nicht nur relevant, dass es eine Vielzahl von Atmosphären gibt, sondern auch, inwiefern diese den „unbefragten Boden“ (SCHÜTZ 2003: 29) der Gegebenheiten, die man wie selbstverständlich wahrnimmt mit ausmacht. Die Atmosphäre einer Kirche mag anders sein als die eines Shopping-Centers, doch an beiden Orten stellt sich mit dem Eintauchen in die Atmosphäre sogleich eine Vertrautheit ein, die die eigene Kultur ausmacht. Das Sprechen über Atmosphäre fällt so schwer, weil sie das erste ist, was einem an einem Ort begegnet und sie sich gleichzeitig am ersten entzieht. Unzugänglichkeit der Lebenswelt Mit HASSE und SCHÜTZ verstehe ich Kultur als etwas schwer zu Beschreibendes. Weil man Teil einer Kultur ist, fällt es einem bei innerkulturellen
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Begegnungen selbst nicht auf, dass auch die eigene Kultur aus einer bestimmten Lebenswelt mit spezifischen Atmosphären besteht. Es ist aber wichtig zu betonen, dass die Kultur als Lebenswelt kein grenzenloses Gebilde ist. SCHÜTZ bietet eine recht pragmatische Erklärung dafür an, wie sich die Grenzen bemerkbar machen. Denn problematisch wird es für den Menschen in der natürlichen Einstellung, wenn neue Erfahrungen nicht in den bisherigen erfahrungsbasierten Wissensvorrat passen. SCHÜTZ spricht davon, dass dann „die Fraglosigkeit meiner Erfahrung ›explodiert‹“ (ebd.: 38). Für ihn stellt der Wissensvorrat aus Erfahrungen geronnene Problemlösemöglichkeiten zur Verfügung, um nach „pragmatischen Motiven“ in der Lebenswelt handeln zu können (ebd.: 42). Aus Gewohnheit werden Lösungen für Probleme aufgrund des angelegten Wissensvorrats generiert. Erst wenn die Lösung von Problemen scheitert, steht das Fraglose zur Disposition. Neuartige Erfahrungen lassen sich dann nicht in den eigenen Wissensvorrat integrieren und die Sinnbildung kommt ins Stocken. Bei der Generierung von Erfahrung in der alltäglichen Lebenswelt stößt man nach SCHÜTZ auf Grenzen des Lebens. Der Mensch ist abhängig von der Welt und nicht die Welt von ihm. Beispielsweise treffen wir beim In-Beziehung-treten auf andere Menschen, die bei aller Ähnlichkeit doch im Modus des Andersseins verhaftet bleiben (ebd.: 589). Auch die Gewohnheit im Alltag hat nicht durchgängig Bestand (ebd.: 590). Doch in der natürlichen Einstellung der Menschen wird versucht, diese bemerkbar werdenden Grenzen möglichst zu verschleiern. Daher unterscheidet SCHÜTZ die Grenzen nach ihrem Potential zum „Überschreiten“ (ebd.: 591). „Anzeichen und Merkzeichen“ dienen dazu die räumlichen und zeitlichen Schranken der Erfahrung zu überwinden (ebd.). Damit sind Potentiale gemeint, die Deutung und damit Sinnbildung ermöglichen, damit Erfahrungsgrenzen als überschreitbar erscheinen. Die Potentiale können Erinnerungen, erlebte unmittelbare Erfahrungen und Handlungen sein. Es ist schlicht pragmatisch zu versuchen, den Anderen weiterhin zu verstehen. Es geht darum, dass alltägliche Leben am Laufen zu halten, auch wenn in Krisenmomenten die Grenzen des Alltags erfahren werden. Die Grenzüberschreitung ist eine Bewusstseinsleistung, die an verschiedene Erfahrungen rückgebunden ist, denn Erfahrungen sind niemals geschlossen (ebd.: 592). SCHÜTZ unterscheidet drei verschiedene „Transzendenzen“, die kleine, die mittlere und die große (ebd.: 597). Sie zeigen jeweils unterschiedliche Möglichkeiten der Überschreitung an. Die kleinen Transzendenzen werden
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in der natürlichen Einstellung kaum wahrgenommen, denn sie sind in aller Regel gut zu bewältigen. Das Noch-Nicht-Erfahrene hat in irgendeiner Form Ähnlichkeiten mit bereits Erfahrenem, sei es, weil es sich um einen gleichen Typ oder einen gleichen Wirklichkeitsbereich handelt (ebd.: 599). „Die ,kleinen‘ Transzendenzen der Alltagswirklichkeit werden typisch als ein AußerReichweite-Sein von Erfahrungsgegenständen erlebt, die einmal in Reichweite gewesen sind.“ (Ebd.: 600)
Es ist ein Zustand, bei dem die „Reichweite“ des Erfahrungsgegenstands wieder in ein bekanntes Maß gerückt werden kann (ebd.: 602). Der vergessene Autoschlüssel ist nicht in der angezogenen Jackentasche. Doch es ist möglich, zurück in die Wohnung zu gehen, um ihn zu holen. Der Begriff der Reichweite ist wichtig für SCHÜTZ, denn damit wird verständlich, dass Erfahrung räumliche und zeitliche Schranken besitzt, auch wenn sie in der kleinen Transzendenz in der natürlichen Einstellung wie selbstverständlich überschritten werden (ebd.: 625-626). Die mittlere Transzendenz bezieht sich auf den Anderen. In der alltäglichen Einstellung wird der Andere in leiblicher Anwesenheit über die Deutung des Gesagten und Gezeigten unhinterfragt versucht zu verstehen, um kommunizieren zu können. Bei aller Gegenwärtigkeit ist die Erfahrung aber keine Erfahrung des Anderen selbst (ebd.: 597). In der unmittelbaren Begegnung bin ich mit dem anderen in gleicher Reichweite (ebd.: 603). Dennoch ist die Reichweite nicht identisch. Die Grenze der Erfahrung vom Anderen und von mir ist begrenzt. Diese Grenze kann nicht überschritten werden. Dennoch ist erkennbar, was an Vertrautem jenseits der Grenze liegt. Im umgekehrten Sinne ist die Begrenzung der Erfahrung natürlich auch gegeben. Auch der Andere kann mich nur begrenzt erfahren. Neben dem Versuch, den anderen zu verstehen, kann von mir auch gedeutet werden, wie der andere mich versteht (ebd.: 604). In der unmittelbaren Begegnung der Wir-Beziehung treffen zwei Körper aufeinander, die über die äußere Wahrnehmung versuchen auf das jeweilige „Innen“ zuzugreifen, von dem sie wissen, dass es mit da ist (ebd.: 604). Die große Transzendenz betrifft außergewöhnliche Erfahrungen, die einen im Moment des Auftretens überwältigen und die im Nachhinein nur mit Mühe in einen Sinnzusammenhang gerückt werden können (ebd.: 623). SCHÜTZ selbst gibt Beispiele, wie der erschütternde Traum oder das Gefühl
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der Überwältigung beim Betrachten einer Berglandschaft (ebd.: 598). Das Außergewöhnliche verschreckt und lockt zugleich (ebd.: 623). Die große Transzendenz geht mit Gefahr einher. Bewältigungsmöglichkeiten des Außergewöhnlichen sind die Unterdrückung, das temporäre Versuchen/ Ausleben und das sich Bewusst machen (ebd.). Für SCHÜTZ treffen diese Möglichkeiten auch auf Gesellschaften zu. So wird das Außergewöhnliche durch Religionen und Wissenschaft vergesellschaftet, auf Festen zeitlich begrenzt ermöglicht oder an bestimmte Orte wie der Psychiatrie ausgelagert (ebd.: 624). Folglich kann Kultur als Lebenswelt in der natürlichen Einstellung trotz des Erlebens ihrer Grenzen nicht als solche wahrgenommen werden, weil von uns versucht wird, die Erfahrung der Begrenzung zum Beispiel über Erinnerungen zu überschreiten. Etwas über die eigene Kultur sagen zu können, kann daher nur darüber gelingen, die natürliche Einstellung der alltäglichen Lebenswelt zu verlassen. Für SCHÜTZ vollzieht sich das vor allem in Krisenmomenten (ebd.: 629). Der Verarbeitungsmodus wechselt von der natürlichen Einstellung in die theoretische Einstellung, in der Abstand zum Alltag genommen wird und auf diese Weise Fragen über sich und die Welt gestellt werden, die sonst im Verborgenen bleiben (ebd.: 630). Alte Selbstverständlichkeiten und Gewissheit geraten ins Wanken. Das eigene Relevanzsystem verändert sich (ebd.: 631). Der Mensch kann sich nicht selbst verlassen, aber die Wirklichkeit, die ihn umgibt, zeigt sich auf eine andere Art und Weise. So kann der Alltag selbst zum Gegenstand des Denkens werden (ebd.: 632). Im Nachdenken von Krisenmomenten fällt der theoretischen Auseinandersetzung mit erlebten Transzendenzen eine wichtige Rolle zu. Nur ist der theoretische Abstand auch trügerisch. Zum einen besteht die Gefahr, durch Erlebnisse gewonnenes Wissen im Nachhinein theoretisch zu deuten und somit Grenzerfahrungen fassbar zu machen. Aber Transzendenzen lassen sich nicht „zähmen“ (ebd.: 590). Zum anderen greift mit dem Modus der Reflexion ein grundlegend anderer Zugriff auf das Selbst. In der natürlichen Einstellung sind die Bewusstseinsakte immer intentional auf Objekte gerichtet, was verhindert, dass die Akte als solche zugänglich sind. Den Akten kann man sich nur im Nachhinein annähern (ebd.: 90). Nur wenn man in Distanz zu den Bewusstseinsakten tritt, können diese reflektiert werden. Dies kann im eigentlich widersprüchlichen Prozess gelingen, dass man sich außerhalb des durch einen permanenten Bewusstseinsstrom durchzogenen eigenen Lebens stellt und sich von außen betrachtet (ebd.). Es zeigt sich an diesem Widerspruch, dass die Möglichkeit, den Sinn einer Erfahrung im
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Nachhinein zu erschließen, begrenzt ist. Der Bewusstseinsstrom kann nicht in quantifizierbare Stücke unterteilt werden. „Es sind vielmehr Einheiten der zeitlichen Artikulation, die in der räumlichen Ausdrucksweisen verhafteten, Sprache nur schwer beschreibbar sind.“ (Ebd.: 92) Hinzu kommt, dass eine Erfahrung niemals einzeln abgeschlossen ist. Die sich aus der Entwicklung des Bewusstseinsstroms herausgebildete Erfahrung verweist immer auf bereits gemachte Erfahrungen. Erfahrungen stehen in einem „Erfahrungszusammenhang“ (ebd.: 93). Die spezifisch-situative Erfahrung ist verbunden mit vergangenen Erfahrungen. „Meine Situation besteht aus der Geschichte meiner Erfahrungen.“ (Ebd.: 96) Selbst in der theoretischen Einstellung sind die Einsichten über die eigene Kultur begrenzt. Man kann versuchen, Aspekte zu identifizieren und herauszulösen, aber man kann sprichwörtlich nicht ‚aus der eigenen Haut‘. 3.2.2 Interkulturalität durch kulturelle Begegnungen Die Begrenztheit von Lebenswelten und damit auch von Kultur wurde bereits mit SCHÜTZ untersucht. Ich werde mit WALDENFELS darüber hinausgehen und mich auf seine Einsicht des Zerfalls der kosmischen Ordnung in eine Vielzahl von Ordnungen beziehen. Wenn damit „Welt“ nicht mehr als ein grenzenloses Gebilde zu denken ist, gibt WALDENFELS zu bedenken, so muss auch die Lebenswelt neu verstanden werden (WALDENFELS 1997: 54). Die Lebenswelt lässt sich damit deuten als eine „Lebenswelt im Plural“ (WALDENFELS 1997: 59f. [Hervor. i. O.]). Die Strukturen und Regelungen des Alltags vervielfältigen sich, weil es unterschiedliche Ordnungsformen gibt, die zeitlich und räumlich variieren. Zum Alltäglichen im Sinne eines Gewohnten und Ordentlichen gesellt sich das Außerordentliche, das auch mit der eigenen Lebenswelt korrespondiert (ebd.: 65). Die alltägliche Lebenswelt ist der Wirklichkeitsbereich, von dem ich im Folgenden ausgehen will, doch mit WALDENFELS in der Form, dass er kein „universales Fundament“ mehr bildet (ebd.: 62). Die Lebenswelt zerfällt in „Heimwelt“ und „Fremdwelt“ (ebd.). „Mit Husserl zu sprechen, aus der Lebenswelt als dem universalen Boden und Horizont unseres gemeinsamen Weltlebens wird eine Kernzone ausgesondert, eine Heimwelt, die sich vom Hintergrund einer Fremdwelt abhebt. Die Heimwelt zeichnet sich einmal aus durch Vertrautheit und Verlässlichkeit; sie bildet eine Sphäre, in der wir
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uns auskennen – und dies in dem doppelten Sinne des Kennens und Könnens. Die Vertrautheit wurzelt in einer affektiven Verankerung.“ (WALDENFELS 1985: 199-200)
Die Lebenswelt als eine Heim- und Fremdwelt zu denken, ermöglicht, die verunsichernde Begegnung besser zu verstehen. WALDENFELS differenziert im Ordnungsgefüge verschiedene „Fremdheitszonen“ und „Steigerungsformen“ von Fremdheit (WALDENFELS 1997: 33). Fremdheitszonen bilden sich, weil moderne begrenzte Ordnungen immer bestimmten Zugangsbedingungen unterliegen. Ordnungen erschließen, indem sie Bestimmtes verschließen. Die Erfahrung von Fremdheit als die „Zugänglichkeit des Unzugänglichen“ ergibt sich, indem sich Ordnungen selektiv vervielfältigten. Zugleich gibt es nach WALDENFELS verschiedene Fremdheiten innerhalb der Ordnung. Fremdheiten ergeben sich nicht nur, indem Bestimmtes Teil der Ordnung ist und anderes nicht, sondern auch indem Fremdheiten in ihrer Vielfalt als Teil von Ordnungen Steigerungen im Sinne einer Tiefendimension ausbilden (ebd.: 35). Mit WALDENFELS Steigerungsformen von Fremdheit kann ich zeigen, dass sich die Fremderfahrungen auch räumlich manifestieren. Die geringste Tiefendimension stellt die „alltägliche“ oder „normale“ Fremdheit dar. Sie betrifft Fremdheiten, die Teil der Ordnung sind. Für das Verständnis der alltäglichen Fremdheit bezieht sich WALDENFELS explizit auf SCHÜTZ und dessen Beispiele des Nachbarn, der Straßenpassantin oder des Postschalterbeamten (ebd.: 35). Wesentlich in dieser Fremdheit ist, dass das Gegenüber anonym bleibt, allein die Typenhaftigkeit, die Rolle, die er spielt, relevant ist. „Wir könnten sie notfalls selbst übernehmen.“ (Ebd.: 36) Es gibt zwar immer auch Unbekanntes. Aber dank verschiedener Orientierungssysteme, wie Landkarte, Kalender und verfügbare Wissensbestände ist „nichts völlig aus der Welt“ (ebd.). Die alltägliche Fremdheit wirft einen nicht aus der Bahn. Die höchste Tiefendimension stellt die radikale Fremdheit dar. An dieser Stelle bezieht sich WALDENFELS zwar nicht explizit auf SCHÜTZ, doch die Ähnlichkeit mit dem Gedanken SCHÜTZ der großen Transzendenz ist offenkundig. WALDENFELS definiert die radikale Fremdheit als diejenige Fremdheit, die außerhalb einer jeden Ordnung bleibt. Die radikale Fremdheit verunmöglicht nicht nur eine bestimmte Interpretation. Vielmehr stellt sie die „bloße Interpretationsmöglichkeit“ infrage (ebd.: 36). Es ist der „Überschuss“ bzw. das „Mehr“ zu jeder Ordnung, dass sich nicht in die Ordnung einverleiben lässt (ebd.: 37). Ähnlich wie SCHÜTZ, nennt WALDENFELS dafür
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Erfahrungen von „Grenzphänomenen wie Eros, Rausch, Schlaf oder Tod, die den Gang der Dinge, auch die Raum- und Zeitordnung durchbrechen“ (ebd.: 28). Besonders relevant für mein Anliegen ist der mittlere Steigerungsgrad im Sinne der strukturellen Fremdheit. Sie betrifft alles das, „was außerhalb einer bestimmten Ordnung anzutreffen ist“ (ebd.: 36). An dieser Stelle geht WALDENFELS über SCHÜTZ hinaus, indem nach seiner Auslegung durch die Vielfalt von Lebenswelten diese von struktureller Fremdheit begleitet sind. Die strukturelle Fremdheit meint bei WALDENFELS etwas Umfassenderes als bei SCHÜTZ. Während SCHÜTZ die mittlere Transzendenz an die begrenzte Erfahrung des Anderen bindet, da der Andere außerhalb des eignen Ichs ist, verändert sich für WALDENFELS mit der strukturellen Fremdheit die Konstitution der Lebenswelt. Etwas liegt auch außerhalb der Lebenswelt. Sie zerfällt in Heim- und Fremdwelt. Daher geht die strukturelle Fremdheit über Probleme in der Alltagsverständigung hinaus. Strukturelle Fremdheit ist zu verstehen als ein grundlegender Sinnentzug. Dies kann eine fremde Sprache oder ein fremdes Ritual ebenso einschließen, wie die „Rätselhaftigkeit des Lächelns“, die auf „Lebensabgründe“ verweist (ebd.). Strukturelle Fremdheit meint für Waldenfels, dass Fremdheit eine „dauerhafte Form“ annimmt (ebd.: 34). „Es gibt so viele Fremdheiten, wie es Ordnungen gibt, Ordnungen, die sich in den spezifischen Sonderwelten einer bestimmten Lebenswelt in verschiedenen historisch und geographisch variierenden Kulturwelten niederschlagen.“ (WALDENFELS 1995: 614 [Hervor. i. O.])
Eine Kulturwelt ist zu verstehen als eine „umfassende Lebensordnung“. Die Fremdheit greift hier „auf das Leben im Ganzen über“ (WALDENFELS 1997: 34). Sie integriert die horizontalen und vertikalen Ordnungen, die wiederum darunter liegende Zonen der Fremdheit bilden. Horizontale Ordnungen als „funktionale Ordnungen“, wie Berufswelten, oder das Rechts- bzw. Gesundheitswesen erzeugen bestimmte Wissensbestände, die die teilhabenden Akteure in Experten und Laien unterscheidet (ebd.: 34). Ein bestimmter neuer Beruf wie der eines Arztes ist einem nicht nur deswegen fremd, weil man eine notwendige Technik zur Ausübung nicht kann, sondern auch weil man die Regeln und Normen des Umgangs in der Zunft nicht kennt. Die Verfasst-
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heit von Institutionen wie der einer Klinik ermöglichen bestimmte Erfahrungen und verunmöglichen damit andere. Die hierarchischen Ordnungen sind zu verstehen im Sinne von „Standes- und Klassenunterschieden“, die die funktionalen Ordnungen durchziehen. Die Fremdheit der Standeszugehörigkeit des Anderen führt zur Differenzierung der Position in der Gesellschaft. Je mehr eine Gesellschaft funktionalisiert ist, desto mehr Unter- und Überordnungen gibt es. Waldenfels führt die funktionalen und horizontalen Ordnungen als Teilmengen in der „umfassenden Lebensordnungen“ einer Kultur zusammen (ebd.). Fremdheit ist dann mehr als die Fremdheit eines Expertentums oder die einer Standeszugehörigkeit. Sie greift dann „auf das Leben im ganzen über“ (ebd.). Für die Erfahrung, die man in der Begegnung macht, bedeutet die Existenz einer Fremdwelt ein Fremdwerden der Erfahrung, wie es im vorherigen Kapitel erläutert wurde. Die Begegnung mit den Dingen, Menschen und Orten oder mit Gerüchen, Sprachen, Zeichen usw. kann mit einem intensiven Staunen oder einem Erschrecken einhergehen. Da ich mit WALDENFELS die Kulturwelt als eine selektive Ordnung verstehe, wird nochmals deutlich, dass jede Kultur bestimmte Erfahrungen ermöglicht und andere verunmöglicht. In der Verbindung von Heimwelt und Fremdwelt eröffnet sich die Interkulturalität. In der kulturellen Begegnung kommt man in Kontakt mit einer fremden Lebenswelt, die einem verschlossen ist. Das macht den verunsichernden Charakter einer kulturellen Begegnung aus. Durch den grundlegenden Entzug, den die strukturelle Fremdwelt charakterisiert, lassen sich Erfahrungsgrenzen nicht mehr überschreiten. Weil die Kultur als Lebenswelt eine umfassende Lebensordnung betrifft und auf das Leben im Ganzen übergreift, verwundert es nicht mehr, dass in der kulturellen Begegnung aus der kulturellen Heimwelt hinaus, die Erfahrungen der Fremdwelt grundlegend erschüttern müssen. Hier zeigt sich meines Erachtens Interkulturalität über die kulturelle Begegnung, die ein solches Erfahrungspotential eröffnet, dass deutlich wird, warum das „Inter-“ der Interkulturalität im Sinne von „Zwischen“ mehr ist als eine Vorsilbe, die keiner weiteren Erläuterung bedarf. Ich folge WALDENFELS in seiner Beobachtung, dass Interkulturalität weder Multikulturalität im Sinne einer Vielfalt von Kulturen noch Transkulturalität im Sinne einer Überschreitung von Kulturen bedeutet (ebd.: 110). In der Begegnung kommt es zu einer Verschränkung von Eigenem und Fremdem. Wenn
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wir an Kulturen denken, dann ist Interkulturalität damit mehr als „die Zusammenfügung vorhandener Kulturen“ (ebd.: 67). Verschränkung bedeutet eine permanente Aushandlung zwischen den mehr oder weniger klar abgegrenzten Bereichen des Eigenen und Fremden. Sowohl auf intra- wie auch auf interkultureller Ebene ist das Leben immer ein Leben in einer Zwischenwelt. Kultur zu thematisieren, meint, „von anderem und von mehr [zu] sprechen“ (ebd.: 51). Von einer eigenen und einer fremden Kulturwelt im Sinne einer Heim- bzw. Fremdwelt auszugehen, heißt nicht, diese als rein eigene oder fremde Kultur zu verstehen. Die Vorstellung von einer reinen, eigenen Kultur ist als falsche Zentrierung zu entlarven. Wenn man sich auf Begegnungen einlässt, erteilt man sowohl nationalistischen als auch kosmopolitischen Ansätzen eine Absage. Beide Alternativen wollen auf jeweils ihre Weise das Fremde zum Verschwinden bringen, denn sowohl Ethnozentrismus als auch Logozentrismus stellen eine Form der Zentrierung dar (ebd.: 50). Interkulturalität als leibhafte kulturelle Begegnung zu verstehen bedeutet dahingegen, von einem Zwischenbereich auszugehen, der auch deswegen verunsichert, weil er sich gerade nicht fassen lässt. 3.2.3 Zusammenfassung von Konsequenzen für ein begegnungsorientiertes Konzept Die Idee, beim interkulturellen Lernen von der Begegnung auszugehen, die auch verunsichern kann, konnte weiter konkretisiert werden. In diesem Kapitel wurde herausgearbeitet, was sich mit Bezug auf WALDENFELS (vgl. Kapitel 3.1), SCHÜTZ und HASSE unter Kultur verstehen lässt. Ich stelle nun die Konsequenzen für ein Konzept des begegnungsorientierten interkulturellen Lernens für den Geographieunterricht dar. • Kultur kann mit SCHÜTZ als Lebenswelt, also als der vornehmliche Teil der
Wirklichkeit verstanden werden, in dem Menschen leiblich situiert ihre Erfahrungen sammeln und aus ihr heraus kategorisiertes Wissen akkumulieren. In der natürlichen Einstellung ist die eigene Kultur unhinterfragt mit da. Begegnungen finden nicht im luftleeren Raum statt. Sie sind eingebettet in die Lebenswelt. Es konnte deutlich gemacht werden, dass das interkulturelle Lernen nicht über die theoretische Einstellung eröffnet werden kann, weil
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darüber Erfahrungsvollzüge immer schon verloren gehen. Wenn nach Stereotypen oder Rassismen im Unterricht gefragt wird, wurde theoretisch sogleich das wieder aufgelöst, was es eigentlich erst zu erkunden gilt. Nur wenn man an der natürlichen Einstellung anknüpft, kann es gelingen, Verunsicherungen nicht im Vorhinein kognitiv einzufangen. Eine Möglichkeit, mit der natürlichen Einstellung zu arbeiten, ist, in Begegnung zu kommen. Nur in der Begegnung steht die Eindrucksvielfalt zur Verfügung, die Interkulturalität tatsächlich auch ausmacht. • Mit HASSE lässt sich Kultur als Lebenswelt zudem in der Begegnung als
ein atmosphärisches Getroffensein in einem leiblichen Raum verstehen, der einem vertraut ist. Da in der leiblichen Begegnung Kultur (atmosphärisch) immer nur an einem Hier und Jetzt erfahren werden kann, knüpfe ich an den Ortsbegriff an. Das Erfahren über den Leib ist nur leiblich situiert möglich. Mit HASSE kann Kultur im interkulturellen Lernen neu thematisiert werden. Kultur mag ein Orientierungssystem sein, das verschiedene Werte und Normen transportiert, an denen die Menschen ihr Verhalten ausrichten. Der erste Erfahrungsmoment zeichnet sie sich aber durch die spezifische Atmosphäre aus, die in einem Raum vorherrscht. Mit dem Bewusstwerden für das Erleben der Atmosphäre kann für das atmosphärische Spüren von Kultur im interkulturellen Lernen sensibilisiert werden. Dem Erleben von Kultur wird eine besondere Bedeutung beigemessen. • Mit der Trennung in Heim- und Fremdwelt nach WALDENFELS kann kon-
statiert werden, dass sich das verunsichernde Potential von Begegnung zwar in der natürlichen Einstellung innerhalb der eigenen Kulturwelt noch gut überschreiten lässt, doch diese Möglichkeit im Kontakt mit der Fremdwelt an strukturelle Grenzen stößt. Damit lässt sich das verunsichernde Potential einer Begegnung begründen, die zunächst in der Atmosphäre der Fremdwelt eindrücklich wird. Über das in diesem Sinne angestrebte Verständnis der kulturellen Begegnung lässt sich nochmals kritisch das Stufenmodelle des interkulturellen Lernens betrachten (vgl. SCHRÜFER 2009). Das Problem an dem Unterfangen, erst das Verstehen des Eigenen zu erlernen und dann das Verstehen des Fremden zu ermöglichen, ist, dass die Erkenntnis des Eigenen erst in der Differenz zum Fremden entsteht. Interkulturalität im Sinne einer kulturellen Begegnung ist
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nötig, um die eigene Kultur überhaupt besser verstehen zu können und auch Verunsicherungen innerhalb der eigenen Kultur zulassen zu können. Im Kapitel 3.3 werde ich verdeutlichen, wie das Einlassen auf kulturelle Begegnungen zur Reflexion nutzbar wird.
DIE KULTURELLE BEGEGNUNG REFLEKTIEREN Die kulturelle Begegnung kann verstanden werden als eine Annäherung von Eigenem und Fremdem, wodurch das Eigene deutlicher hervortritt. Als Konsequenz werden im Folgenden verschiedene Reflexionsmöglichkeiten vorgestellt, die es erlauben, über die kulturelle Begegnung die Lebenswelt der eigenen Kultur besser zu verstehen. Erfahrungsgrenzen, die als Transzendenzen versucht werden zu überschreiten, lassen sich bewusster erkennen. 3.3.1 Das Eigene im Spiegel des Fremden Die kulturelle Fremderfahrung zeigt sich darin, dass die Menschen oder Dinge einer Fremdwelt, die man in der Begegnung erfährt, einen verunsichernden Charakter haben. Die Verunsicherung rührt weniger von der Andersheit selbst her, die nicht fassbar bleibt, sondern aus der abgeleiteten Einsicht, dass die eigene, unhinterfragt angenommene kulturelle Heimwelt immer auch anders sein kann (WALDENFELS 1997: 43). Die kulturelle Fremderfahrung lässt mich die Selektivität und Exklusivität der eigenen Kultur spüren, indem ich etwas erfahre, das außerhalb der Heimwelt liegt. Mit WALDENFELS können wir die kulturelle Ordnung nicht nur als Diskurs im Sinne FOUCAULTS analysieren (ebd.: 33), indem jede kulturelle Ordnung etwas Sagbares und nicht Sagbares erzeugt, sondern über die Lebenswelt auch erfahrbar machen. In der Begegnung einer Fremdwelt liegt eine Fremderfahrung, die der Versprachlichung noch voraus ist. Von der fremden Kultur geht ein „Sog“ aus, den man zulassen oder dem man sich verschließen kann (ebd.: 122). Die Verschränkung selbst ist ein offener Bereich, in dem der Anspruch einer fremden Kultur deutlich wird, auf den Antworten zu finden sind. Indem die Heimwelt durch die kulturelle Fremderfahrung als eine mögliche Welt sichtbar wird, kann man sie überhaupt erst als solche besser wahrnehmen. Da die eigene und die fremde Kultur immer relational aufeinander
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bezogen sind, tritt die eigene Kultur erst durch „Kontrastierung“ von der Fremdkultur als Eigenes in Erscheinung (ebd.: 156). Die eigene und die fremde Kultur bildeten sich im Prozess einer ständigen Differenzierung voneinander heraus (ebd.: 75). Die Ausdifferenzierung der eigenen Kultur ist eine Reaktion auf den Anspruch des Fremden. In diesem Prozess hat das Fremde einen „heuristischen Vorsprung“ (ebd.: 145). „Ihre Eigenart verdankt eine Kultur der Antwort auf Fremdartiges, das der eigenen Tradition entstammen mag oder fremden Traditionen“ (ebd.: 84, eigene Hervor.). WALDENFELS will damit nochmals einem „Einheitswahn“ widersprechen, der verkennt, dass am Anfang die Differenz und nicht die Einheit steht (ebd.: 156). Nicht vom Reinen her, sondern vom Durchmischten ist der Anfang zu denken (ebd.: 157). Die Differenzierung verweist zudem auf die Möglichkeit der Kontingenz. Es könnte immer auch anders sein. Die kulturelle Fremderfahrung als ein pathisches Erlebnis zu begreifen, das Antworten provoziert, macht sensibel für Differenz und stößt Selbstreflexion an. Es lockert den Anspruch, das Fremde verstehen zu müssen. Wie WALDENFELS zeigt, liegt darin ohnehin ein grundlegendes Problem. Aufgrund der Entwicklung des Eigenen und Fremden durch Differenzierung ist ein Kulturvergleich erschwert, weil sich zum Beispiel Deutsche von Japanern und Japaner sich von Deutschen unterscheiden (ebd.: 22). Es ist nicht nur ein jeder Teil einer Kultur, darüber hinaus erlebt er diese auch in der Präferenz des Eigenen. Man ist Produkt einer spezifischen Kultur. Dem kann man sich nicht verwehren (ebd.: 113f.). Damit ist jeder Teil der Vergleichsrelation und somit in seinen Erkenntnismöglichkeiten eingeschränkt. Die Vergleichsrelation ist nicht beliebig umkehrbar. Bei der Diskussion um das Fremdverstehen macht WALDENFELS auf eine langwierige Debatte aufmerksam, die er durch diesen Kompromissverschlag begleitet. Auf der einen Seite stehen in diesem Streit „Kontextualisten“ bzw. „Kulturalisten“, die argumentieren, jeder Vergleich von Kulturen ist von vornherein beschränkt. Auf der anderen Seite reden „Universalisten“ einem stets möglichen Vergleich das Wort (ebd.: 111). WALDENFELS hinterfragt dabei generell die Möglichkeit des Vergleichs. Durch die Unumkehrbarkeit der Vergleichsrelation (s. o.) kann man einen Kulturvergleich nicht aus der Position eines neutralen Dritten denken, der wie ein Schiedsrichter zwischen verschiedenen Kulturen vermittelt. In der Tendenz schlägt sich WALDENFELS damit auf die Seite der Kulturalisten. Neben den begrenzten Vergleichsmög-
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lichkeiten markiert er allerdings noch ein weiteres, grundsätzlicheres Problem mit Blick auf das Ernstnehmen des Fremden. Sowohl beim Universalismus als auch beim Kulturalismus handelt es sich um Formen der Zentrierung und damit um eine Form der Aneignung des Fremden (ebd.: 50). Damit steigt die Gefahr, dass ein Vergleich zu einem „Gleichmachen“ wird (ebd.). Sowohl Universalisten als auch Kulturalisten berücksichtigen nicht die Unvergleichbarkeit, die mit der Fremderfahrung einhergeht. Ob das Fremde verschwindet in einem kosmischen Logos oder klar verortbar einem regionalen Logos zugeschrieben wird, beide Male bekommt das Fremde seinen festen Ort. Doch diese Zuschreibung lässt sich nur mit Gewalt erzeugen. Ein Kulturvergleich, der das Fremde als das noch nicht Erschlossene aufheben will, löst sich nicht aus dem Paradox der Selbstauflösung heraus (ebd.: 107). Die Selbstreflexion umfasst das Vermögen, durch Fremderfahrungen die Heimwelt besser beschreiben zu können und zwar immer vom Ort des Erlebens aus. Die Verunsicherung in der Begegnung kann als Startmoment genutzt werden, um darüber nachzudenken, wie die Heimwelt verfasst ist. Dabei kann mit SCHÜTZ zum einen in Sprache gebracht werden, über welchen kategorialen Wissensvorrat sich die Heimwelt konstituiert. Die Vertrautheit der Heimwelt basiert ja wesentlich darauf, dass über die Auslegung der Kategorien der fraglose Rahmen des Handelns gebildet werden kann. Im kulturellen Kontakt tritt die Auslegung der Kategorien als Auslegung zutage. Je stärker man sich auf die Verunsicherung in der Fremdwelt einlassen kann, desto stärker kann auch der eigene Wissensvorrat irritiert werden. Zum anderen kann mit HASSE auch dafür sensibilisiert werden, dass die Orte der Heimwelt eine besondere Atmosphäre besitzen. Mit HASSE kann der Charakter einer Fremdwelt noch einmal deutlicher werden, der sich atmosphärisch durch das leibliche Spüren von etwas Unbehaglichem, Beengendem oder Bedrohlichem ausdrückt – andererseits aber auch in einem beinahe wortwörtlichen Gefesseltwerden an die Umgebung, die fasziniert. Wenn man beispielsweise von einer Reise zurückkehrt in die kulturelle Heimwelt, wird die eigentlich gewohnte Atmosphäre besser wahrnehmbar. Durch die räumliche Distanz wird der Ort der Heimwelt anders erlebt. Mit dem Konzept lässt sich also im Sinne HASSES einerseits die „lebensweltliche Not genauen Sprechens über Gefühle und Atmosphären“ (HASSE 2015: 212) abmildern und dies andererseits mit dem Ziel der Annahme von Fremderfahrungen verbinden. Die
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Stärkung eines „pathischen Selbstbewusstseins“ (ebd.) kann auch in interkulturellen Settings helfen, das In-Begegnung-Kommen zu reflektieren und es damit auch immer wieder neu zu ermöglichen. 3.3.2 Das Eigene verwoben mit dem Fremden Durch die Sensibilisierung dafür, sich in der kulturellen Begegnung auf Verunsicherungen einzulassen, kann nicht nur die Lebenswelt als kulturelle Heimwelt besser in den Blick kommen, sondern ebenso die Verwobenheit von Heim- und Fremdwelt erkannt werden. Selbstreflexion heißt nicht ein Zurückkommen zu sich, denn Fremdes ist immer auch im Eigenen und das Eigene immer auch im Fremden. Mit WALDENFELS lässt sich das Fremde in der eigenen Kultur als „wilde Region“ verstehen, die über die eigene Kultur hinausreicht. Die Verbindung zur Fremdheit der eigenen Kultur entsteht über die Fremdheit der fremden Kultur. Die Fremdheit unserer selbst ist die „offene Flanke“ (WALDENFELS 1997: 82) bzw. der „blinde Fleck“ (ebd.: 143), von der die Verknüpfung ausgeht und verhindert, dass das Eigene als Eigenes festgefügt ist. Hier zeigt sich einmal mehr, dass das Fremde nicht als reine Negation zum Eigenen verstanden werden kann, denn sonst könnte es das Fremde im Eigenen nicht geben (ebd.: 75). Das Potential der WALDENFELSSCHEN Ideen liegt meines Erachtens gerade darin, von einer Verunsicherung durch Fremdes sprechen zu können und dies gleichzeitig nicht zu verabsolutieren, sondern von einer grundsätzlich anderen „neuzeitlichen Subjektrolle“ auszugehen, in der es „keine Welt [gibt], in der wir je völlig zu Hause sind, und es kein Subjekt [gibt], das je Herr im eigenen Hause wäre“ (ebd.: 11, eigene Hervor.). Der „Spalt der Fremdheit“ hinterlässt auch „im Innersten der eigenen Welt“ eine Wunde (ebd.: 42, eigene Hervor.). Heimat ist nicht mit dem Eigenen gleichzusetzen, sondern bleibt immer auch von Fremdheit durchzogen (ebd.). Die Fremdheit beginnt „bei mir selbst, das heißt auch im eigenen Hause und im eigenen Lande“ (ebd.: 32, eigene Hervor.). Mit der Ausrichtung auf die Antwort und die Präferenz des Eigenen wird die Verflechtung von Eigenem und Fremdem nicht aufgelöst. Es bleibt festzuhalten, dass man nach WALDENFELS das Fremde nicht denken kann, ohne das Eigene mit zu thematisieren. Eigenes und Fremdes sind miteinander „verwickelt“ (ebd.: 67). Es schließt sich damit aus, von einer „Reinheit“ des Eigenen auszugehen (ebd., eigene Hervor.). WALDENFELS stellt immer wieder fest: Die Fremdheit „beginnt im eigenen Haus als Fremdheit meiner
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Selbst oder als Fremdheit unserer selbst“ (ebd.: 27, 32, Hervor. i. O.). Auch das Selbst ist von einem Entzug begleitet. Der eigene Ort gehört einem nie ganz und gar. WALDENFELS führt als Beispiel die Dopplung von Sagen und Gesagtem an. „ICH ist ein anderer“ insofern, dass sich zwischen dem „Ich“ des Aussagens und dem „Ich“ des Ausgesagten ein Bruch öffnet, der auf eine Form von „intrasubjektiver Fremdheit“ verweist (ebd.: 27f.). Im Gegensatz dazu wird durch den gut gemeinten und etwas abschätzigen Rat, „Erst denken, dann reden“, auf eine Zentrierung des Ich angespielt, in dem meine (durchdachte) Aussage mit dem Ausgesagten zusammenfällt. Es braucht zwar jemanden, der denkt, doch das Denken selbst ist ein „blitzhaftes Ereignis“, das weder verfügbar ist noch herbeigeführt werden kann (WALDENFELS 1994: 217). Der „Spalt der Fremdheit“ durchzieht das Subjekt selbst (ebd.: 42). Es ist nach WALDENFELS nicht absehbar, dass sich diese Lücke je wieder schließt. Fremdheit lässt sich damit nicht zeitlich begrenzt denken. Sie bleibt Teil des Eigenen. Die Vorstellung einer „vollen Selbstgegenwart und Selbstverfügung“ ist eine Illusion (ebd.: 147). Schon der Beginn des eigenen Lebens entzieht sich der Erinnerung und zeigt sich höchstens hier und da im Nachhinein. Unsere eigene Geburt ist uns selbst fremd genauso wie unser Name, den wir nicht selbst wählten. In der Entwicklung des Kindes steht am Anfang nicht das Eigene, das sich ausdifferenziert, sondern das Kind übt sich in der handelnden Imitation des Gegenübers und in der Ausrichtung auf dessen Bedürfnisse, bevor es zur Abgrenzung und zum Aufbau einer eigenen Identität kommt. Eigenes und Fremdes greift auch hier von Anfang an ineinander (ebd.: 69). Das zeigt sich auch beim „Spiegelphänomen“, also jenem Moment, in dem man sich vor seinem Spiegelbild erschrickt. Es zeigt offenkundig die Grenzen der Selbstgegenwart. Im „Selbsterkennen“ liegt immer auch ein „Selbstverkennen“ (ebd.: 31). WALDENFELS spielt damit an auf das Unbewusste in der Psychoanalyse von FREUD (WALDENFELS 2010: 22), doch es geht ihm auch darum, die Fremdheit im Eigenen grundsätzlicher zu denken (WALDENFELS 1997: 147). Angesichts des radikal Fremden ist das Subjekt als ein dezentriertes Subjekt zu denken, dessen Autonomie „Risse bekommt“ (WALDENFELS 2007: 363). Das Fremdwerden der Erfahrung bezieht sich auch auf das Selbst. „Fremderfahrung besagt nicht, dass es etwas gibt, das unzugänglich ist, im Gegensatz zu anderem, das zugänglich ist, vielmehr legt HUSSERLS paradoxe Kennzeichnung die Annahme nahe, dass etwas da ist, indem es nicht da ist und sich uns entzieht. Warum
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sollte dies nicht auch für das eigene Ich gelten?“ (WALDENFELS 1997: 29, Hervor. i. O.)
Dabei geht das Fremdwerden mit erheblichen Effekten einher. „Das Fremdwerden steigert sich in seinem sprichwörtlichen Kampf gegen Windmühlenflügel bis zum Realitäts- und Persönlichkeitsverlust.“ (WALDENFELS 1997a: 74) Mit der Einsicht in die neuzeitliche Subjektrolle eröffnet sich die Möglichkeit, die Besonderung der Fremdheit des Anderen zu vermeiden (WALDENFELS 1997: 141). „Wir verstehen Fremdes nur in dem Maße, wie wir das Eigene nicht völlig verstehen.“ (Ebd.: 65, eigene Hervor.) 3.3.3 Die Verwobenheit von Eigenem und Fremdem in der Heimwelt Zur Erforschung der „wilden Region“ in der kulturellen Heimwelt schlägt WALDENFELS unter Verweis auf LÉVI-STRAUSS vor, auch die eigene Kultur mit der Brille eines Ethnologen zu betrachten (1997: 74). Er verweist auf den Ethnologen KOHL, der Fremdheit als ein „methodisches Prinzip“ versteht und damit die eigenen Werte, Gewohnheiten und Institutionen zur Disposition stellt und durch die Brille eines Außenstehenden betrachtet (ebd.: 101). WALDENFELS folgt der Rede von einem methodischen Prinzip mit Zweifel, denn er sieht in der Möglichkeit, dass etwas fremd wird, indem man es als fremd betrachtet, die Gefahr, das Fremde durch planmäßiges Vorgehen wieder einfangen zu wollen. Daher spreche ich davon, dass es für das Einlassen auf das Fremde im Eigenen die fremdkulturelle Begegnung braucht, um eine Sensibilisierung zu erreichen, die sich nicht methodisch herstellen lässt. WALDENFELS führt historische Beispiele an, um die „vielfältigen Osmosen“ zwischen der Fremdheit der fremden und Fremdheit der eigenen Kultur aufzuzeigen: So gehöre der Blues zur westlichen Geschichte wie die Schrecken der Sklaverei, und das Interesse für afrikanische Kunst im Westen verweise auch auf eine spezifische Verbindung im Fremdsein (ebd.: 70). Auch im „Kulturgemisch einer Großstadt“ zeige sich das Ineinandergreifen der Eigenheit- und Fremdheitsbereiche (ebd.: 92). Für WALDENFELS sind die vielfältigen Durchmischungen in der Interkulturalität in ihrer Intensität bis heute nicht genug erfasst. Zum Aufdecken der interkulturellen Vermischungen schlägt WALDENFELS vor, die Vielfältigkeit in der Verbindung von Eigenem und Fremdem aus historischer Perspektive zu betrachten (ebd.: 93).
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Ein weiterer Ansatz ist, dem Alltag der alltäglichen Lebenswelt, die in Heim- und Fremdwelt zerfällt, mehr Bedeutung einzuräumen. Im Alltag präsentiert sich die Lebenswelt nicht lediglich auf eine spezifische Art und Weise. WALDENFELS versteht unter dem Alltäglichen der Lebenswelt mehr als das „bloß Vage, Unberechenbare, Improvisatorische, Okkasionelle“ (ebd.: 56). Die Konstruktionen der Wissenschaften stehen für ihn nicht über dem Alltäglichen. Sie entspringen vielmehr einer bestimmten, zum „Ideal“ gesteigerten Methode (ebd.). Gerade die sogenannten objektiven Wissenschaften förderten mit ihrer „szientistischen Verabsolutierung“ eine Geringschätzung des Alltags (ebd.). Kontrastierend dazu führt WALDENFELS mit HUSSERL ein „spezifisches Eigenrecht alltäglicher Voraussicht und alltäglicher Vorhaben“ ein (ebd.). Damit kommt auch die „vorwissenschaftliche Erfahrung“ zu ihrem Recht, aus der sich gerade die Konstruktion bildet (ebd.: 57). Es wäre allerdings ein falsches Vorhaben, „wissenschaftliche Rationalität“ gegen „Alltagsrationalität“ auszuspielen (ebd.: 58). Die Befragung der Lebenswelt meint nicht eine „Rückkehr“ zu ihr (ebd.). Die Überschreitung meint, vorwissenschaftliche Erfahrung anzuerkennen und gleichzeitig über sich selbst hinauszuführen (ebd.: 59). Die Lebenswelt ist dabei immer zu betrachten als eine „konkrete“ Lebenswelt, in der Strukturen und Regelungen erkennbar werden (ebd.: 60). Die exotisierende Zuschreibung des Fremden könnte durchbrochen werden, indem im Alltag nach dem Unalltäglichen und Befremdlichen geforscht wird. Auch im Alltag gibt es das Erstaunen und das Erschrecken. Erst über die Wahrnehmung für Fremdheiten im Alltag kann man sich für fremde Fremdheiten öffnen. Andersherum: Je routinierter der Alltag erlebt wird, desto stärker wirkt das Fremde als Einbruch. Es geht also nicht nur um die Offenlegung von Alltagspraktiken, sondern auch um die Erforschung des „Unalltäglichen“ (ebd.: 55). Damit wird der Alltag gerade nicht gering geschätzt, sondern als Basis für die Wahrnehmung von Fremdheiten anerkannt. „Dieses Unalltägliche schwindet als Außerordentliches nur dann aus dem Alltag, wenn dessen Ordnungen sich verfestigen, sei es unter dem Druck szientistisch-technischer Formeln, bürokratischer Maßnahmen, ökonomischer Mechanismen, unter der Übermacht eigener Traditionen oder unter den Zwängen einer totalen oder universalen Vernunft, die alles Beiläufige ausmerzt oder abwertet. Die Pathologien des Alltagslebens, die mit institutionell verankerten Pathologien korrespondieren, haben hier ihren Platz.“ (Ebd.: 64-65, eigene Hervor.)
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Ohne den Einbruch des Unalltäglichen könnte nichts Neuartiges in einer kulturellen Ordnung auftauchen, denn das Neue kann nicht aus der Ordnung selbst heraus generiert werden. Hier braucht es eine „Überschreitung des Alltäglichen“ (ebd.: 65). Dabei ist das Augenmerk besonders auf Umbrüche und Veränderungen zu legen, in denen die Regelungsfähigkeit von Ordnungen an ihr Ende kommt. Mit WALDENFELS kann das Eigene als Fremdes betrachtet werden. Dann ist die „Lebenswelt das Außerordentliche, das sich im Ordentlichen zur Sprache bringt, weil es genau das ist, was die Sprache und das Leben in Gang hält“ (ebd.). Es ist auszugehen von einer Welt, die mehr Möglichkeiten bietet, als sich erschließen lässt. Und nur ein „schräger Blick“ oder eine „schräge Rede“, in der sich das Eigene verfremden und damit auch verunsichern lässt (ebd.), kann dafür sensibilisieren. 3.3.4 Zusammenfassung von Konsequenzen für ein begegnungsorientiertes Konzept Ich habe in Kapitel 3.2 das Verständnis von Kultur als eine unhinterfragte Lebenswelt dargelegt, die sich erst über die Begegnung als solche eröffnet. Für das interkulturelle Lernen im Geographieunterricht konnte ich herausarbeiten, dass man Eigenes und Fremdes nicht getrennt, sondern in einem Verhältnis zueinander, unterrichten sollte. In dem Kapitel 3.3 wurde dann herausgestellt, wie sich über die kulturelle Begegnung Möglichkeiten der Reflexion eröffnen. Für das Konzept des interkulturellen Lernens fasse ich dafür die wichtigsten Konsequenzen zusammen. • Die Heimwelt wird durch die Fremderfahrung in der Begegnung einer kul-
turellen Fremdwelt als eine mögliche Welt sichtbar. Interkulturelles Lernen kann über die kulturelle Begegnung angestoßen werden. Das Einlassen auf die verunsichernde Begegnung ermöglicht, die kulturelle Heimwelt mit neuen Augen zu sehen. Das Einlassen und Offenhalten für Verunsicherungen (vgl. Kapitel 3.1.4) wird ergänzt um die Ermöglichung methodisch aufgearbeiteter Reflexionsmomente. Denn je besser der Verunsicherung aus kultureller Befremdung Ausdruck verliehen werden kann, desto besser kann daraufhin das Eigene befragt werden. Es geht darum, die Verunsicherung zulassen und besser verstehen zu können. Methodisch lässt sich mein Konzept des interkulturellen Lernens durch HASSES Denken vor
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allem um zwei Punkte vertiefen. Zum einen geht es um die Förderung eines Sprechen-Könnens über Synästhesien, das konkret durch das Einüben metaphorischer Ausdrucksweisen umgesetzt werden kann, aber auch durch andere künstlerische Formen. Zum anderen bietet sich HASSES Ansatz an, um Fremd- und Heimwelten über den Fokus auf beispielsweise die Rhythmen der Bewegung oder der Baukultur besser beobachten zu können. Mit SCHÜTZ kann erkundet werden, über welchen kategorialen Wissensvorrat die Heimwelt in der natürlichen Einstellung erschlossen wird. • Es gibt keinen neutralen Kulturvergleich, weil die fremde Kultur, aus der
heraus man spricht, immer nur in Abgrenzung zur Heimwelt existiert. Kulturvergleiche, wie sie u. a. in der Geographiedidaktik vorhanden sind, lassen sich mit WALDENFELS kritisch betrachten. Auch der kategoriengeleitete Vergleich, wie im Konzept der Kulturerdteile, kann die Schüler nicht in die Position eines neutralen Beobachters bringen, denn ihre eigene Perspektive ist Teil der Vergleichsrelation. So sind beispielsweise die von NEWIG ausgewählten Kategorien nur aus der eigenen Perspektive heraus sinnvoll. Statt dem Wesen der anderen Kultur näher zu kommen, wird dadurch die eigene kategoriale Sichtweise auf das Fremde dargelegt. Dieser problematische Zugriff kann durch die kulturelle Begegnung verhindert werden, weil es nur so gelingt, eine höhere Erlebensintensität herzustellen und die Fremdwelt und damit immer auch im Spiegel die Heimwelt neu zu erfahren. Über die Arbeit mit den Erfahrungen aus Begegnungen kann zudem vermieden werden, das Fremde in universalistischen Ansätzen unter dem Stichwort „Leben in einer Welt“ aufzulösen. Interkulturelles Lernen geht an der erfahrbaren Lebenswirklichkeit vorbei, wenn der Unterricht Differenzerfahrungen bagatellisiert und in Universalien auflöst. • Über die kulturelle Begegnung lässt sich die Heimwelt als eine bestimme
Lebenswelt verstehen. Über den Modus der Fremderfahrung und über das Irritiertsein können Reflexionsmomente im interkulturellen Lernen eröffnet werden, die das Fremde nicht durch bestimmte Deutungen festschreiben, sondern das Eigene im Spiegel der Fremderfahrung in den Blick bekommen. Über den Spiegel des Fremden lässt sich im Geographieunterricht die eigene Lebenswelt der Schüler erkunden, die ihnen in der natürlichen Einstellung verschlossen ist. Es lassen sich aus der Reflexion Kategorien ableiten, um das Wissen über
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die eigene Lebenswelt zugänglich zu machen. Zudem kann für die Beschreibung und Wahrnehmung auch der eigenen Lebenswelt sensibilisiert werden. Schüler lernen, dass sie sich durch das Offenhalten in verunsichernden Begegnungen selbst kennenlernen können. • Die vorwissenschaftliche Alltagserfahrung ernst zu nehmen bedeutet, an
dem Staunen und Erschrecken im Unalltäglichen anzuschließen, ohne die Thematisierung alleine auf den Alltag zurück- oder in eine wissenschaftliche Abstrahierung hineinzuführen. Im interkulturellen Lernen wird die Auseinandersetzung mit Fremdheit auf das Fremdkulturelle reduziert. Die darin mitschwingende Verabsolutierung des Fremden kann aufgehoben werden, indem im Unterricht auch auf Fremdheiten im eigenen Alltag geachtet und diese zum Thema gemacht werden. Auch im Alltag gibt es verunsichernde Orte, wie zum Beispiel den Keller oder den Dachboden als Fundgrube. Die Blicke, mit denen alltägliche Wege abgeschritten werden, lassen sich irritieren. So kann erkundet werden, was im Alltag aus dem Blick gerät. Der eigene Wohnort bietet in der Regel viele Gegenden, denen bis dato keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Diese Erkundungsbewegungen können dann besonders fruchtbar im Unterricht gemacht werden, wenn die Reflexion kultureller Begegnungen zuvor stattfand, weil darüber eine Sensibilität geschult wurde, die in der Auseinandersetzung mit Alltäglichem vonnöten ist. Weil sich den Schülern der eigene Alltag so schnell verschließt, braucht es die Irritation einer Begegnung mit der Fremdwelt. Dadurch kann Heimat neu betrachtet werden. Denn auch in der Heimat gibt es das Fremde.
ÜBER KULTURELLE BEGEGNUNGEN IN BEGEGNUNG KOMMEN Bisher wurde dargestellt, warum durch die kulturelle Begegnung das Verhältnis von Eigenem und Fremdem neu befragt werden kann. Die Aneignung oder Auflösung des Fremden lässt sich vermeiden, indem die kulturelle Begegnung zur Selbstreflexion in Beziehung zum Fremden genutzt wird. In diesem Teilkapitel wird dargestellt, wie man sich den Antworten auf die Fremderfahrungen aus kulturellen Begegnungen nähern kann.
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3.4.1 Der Dialog als Alternative zum zentrierten Sprechen Mit WALDENFELS lässt sich betonen, dass es für die kulturelle Begegnung immer ein Gegenüber braucht, das beim Verunsichertwerden begleitet, aber auch bei der Formulierung von Antworten hilft. Konfrontiert mit der eigenen Ratlosigkeit zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Fremden durch das Ernstnehmen der Beunruhigung durch den Anspruch am Ende das Eigene mit zur Disposition steht. Da es offensichtlich um mehr geht, als die reine Erscheinungsweise des Fremden zu erfassen, haben wir es nach WALDENFELS mit einem Hyperphänomen zu tun. Wie bei jeder Erfahrung, so zeigt sich bei der Fremderfahrung umso mehr, dass sie sich nur bildet beim Durchschreiten einer Antwort auf den Anspruch (ebd.: 7). So weit nicht genug, denn für WALDENFELS geht ein adäquater Umgang mit den Fremderfahrungen noch darüber hinaus. Er zeigt sich nicht nur darin, die eigene Antwort auf Fremdes zu reflektieren, statt direkt danach zu fragen, was das Fremde sei. Es kommt hinzu, dass selbst die Antwort nicht einem selbst gehört, was eine Form der Zentrierung wäre, sondern sich nur im Zwischen des Dialogs bildet (ebd.: 53). Die Antwort will keine Wiedergabe sein. Sie ist nicht der Output, der dem Input des Anspruchs des Fremden gegenübersteht. Dieses kommunikationstechnisch verengte Verständnis lehnt WALDENFELS ab (1994: 193). Die Auseinandersetzung auf das Worauf des Antwortens lässt sich nicht als „Decodierung von Botschaften“ verstehen (ebd.), sondern als ein Unterfangen, das immer auch „Diskontinuität und Irreversibilität“ mit sich führt (ebd.: 188). Andernfalls mutiert das Sagen schnell in eine Form des Widersagens (ebd.). Wo eine Antwort ist, kann auch eine Frage auftauchen. Im Gegensatz zum Monolog haben wir es beim Dialog zu tun mit einer tatsächlichen Vielfalt des Logos (ebd.: 86). Im dialogischen Denken verbietet sich die eine Stimme, die für alles steht und spricht. Sonst hätten wir es mit einem „Totalitätsdenken“ zu tun (ebd.: 33). WALDENFELS denkt Ort im Dialog auf eine doppelte Weise. Der Ort des Sprechens ist relevant, denn er verweist auf einen bestimmten Logos, aus dem heraus der Sprecher spricht. Auch das Gegenüber hat einen Ort des Sprechens, der sich allerdings gleichsam entzieht. Der Andere spricht vom Nicht-Ort aus, was nicht mit Ortlosigkeit zu verwechseln ist. Mit dem Ende eines umfassenden Dialogs gilt, dass dieser in Ordnungen eingebettete Diskurse erzeugt. Wir haben es also nicht
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mit einem spezifischen Anspruch zu tun, der sich in dem Fremdanspruch zeigt. Denn Fremdheit und Ordnungen stehen ja in Verbindung zueinander. Mit WALDENFELS können wir sogar noch weitergehen und eine zweite Ebene herausarbeiten, um Begegnung zu fördern. Denn erinnern wir uns, dass WALDENFELS die Idee der Verflechtung stärken und jedes zentristische Denken, weder auf das Eigene noch auf das Fremde, vermeiden will. Das bedeutet für unseren Kontext, dass sich die Selbstoffenbarungen aus Fremderfahrungen aus Begegnungen erst im Austausch mit anderen besser verstehen lassen. Dafür ist es nötig, dass auch der Andere etwas von sich preisgibt, um so der unfassbaren Mittelposition zwischen ihnen näherzukommen, die eine Antwort ermöglicht. Einerseits braucht die Erfindung jemanden, der in der Reaktion auf den Anspruch etwas schafft, das sich nicht in einer „Hörigkeit“ begrenzt (ebd.: 84). Andererseits entzieht sich das Worauf der Antwort auch immer. In der Erfindung zeigt sich immer auch etwas, das nicht in der Hand des Antwortenden liegt. Hierin liegt ein „weiteres Paradox“, das sich im Denken von „challenge“ und „response“ eröffnet (ebd.). Der erfinderische Ausdruck kommt zu seiner Form, „indem wir geben, was wir nicht haben“ (ebd.: 142). In der Antwort geht der Mensch in gewisser Form über sich hinaus in einer „Selbststeigerung“ (ebd.). Im anderen Falle wäre das Worauf der Antwort nicht mehr als eine Reproduktion. Aus der erfinderischen Antwort schließlich erwächst eine neue Ordnung. Der Ursprung einer Ordnung kann nicht zur Ordnung selbst gehören, aus der sie hervorgeht (ebd.: 82). Zwischen Anspruch und der Selbststeigerung im Antwortgeben liegt der Bruch, der das Neue überhaupt erst möglich macht. Auch jeder hervorgebrachte und begrenzte Logos vom Ort des antwortenden Sprechers aus ist damit zu verstehen als ein „responsiver Logos“ (ebd.: 182). Er entstammt nicht einem erdachten Kalkül, sondern dem Worauf der Antwort. Der responsive Logos beginnt in dem Anspruch durch Anderes. Durch den Bruch zwischen Eigenem und Fremden, also dem offenen Bereich der Begegnung, können so die Verbindungen hergestellt werden, die Beziehungen ermöglichen. Die Begegnung kann als ein Zwischenbereich gedacht werden, in dem etwas Neues entsteht.
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3.4.2 Die Frage und die Antwort im Dialog Man kommt dem Worauf der Antwort auf den Anspruch des Fremden dann näher, wenn ihr eine „Epoché“, also eine Zurückhaltung, vorausgeht, die neue Denkweisen ermöglicht und in einer Reduktion mündet (ebd.: 195). Es geht darum, in der Antwort das Fremde gerade nicht aufzulösen. Das heißt, eine Antwort muss in gewisser Weise immer eine „verfremdende Wirkung“ haben, die die Sache selbst in anderem Licht erscheinen lässt (ebd.). Indem nicht das Fremde bestimmt, sondern sich auf das „Fremdwerden der Erfahrung und der Phänomene“ eingelassen wird, lässt sich die „responsive Epoché“ umsetzen. Dem „nomadisierenden Reden“ und den „geflügelte[n] Worten“ ist damit der Vorrang zu geben vor zurechtgeschliffenen Satzbausteinen, die ein Verstehen des Fremden suggerieren (ebd.: 196). Es braucht den „schrägen Blick“ bzw. die „schräge Rede“, in der die Verfremdung des Eigenen ermöglicht und die Aneignung des Fremden verhindert wird (ebd.: 65). Der Versuch des Zugangs zum Fremden ist immer durch eine gewisse Zurückhaltung zu bewerkstelligen, das Fremde „taucht also auf in einer Form von indirekter Erfassungs- und Redeweise“ (WALDENFELS 1997: 51). Das antwortende Sagen zeigt sich nur im Sagen selbst. Es verlangt eine Achtsamkeit, die „dem Schweigen verbunden bleibt“ (ebd.: 122). Die Antwort beginnt mit einem genauen Hinsehen und Hinhören. Die Vermeidung der Ausgrenzungs- und Aneignungsbestrebungen kann durch das Aushalten der Ferne des radikal Fremden gelingen. Schließlich wird Abwesenheit mit WALDENFELS gerade nicht als Mangel, sondern als Teil des Anspruchs des Fremden verstanden (ebd.: 179). Der Grundgedanke von WALDENFELS ist, dass diese Erfassungen durch „Ortsbeschreibungen“ in den Griff zu bekommen sind (ebd.: 11). Anstelle einer systematischen Beschreibung favorisiert er die Arbeit mit „Wegen, Grenzlinien, Verbindungen und Kreuzungsstellen“, die nicht einer Zentrierung verfällt (ebd.). Die Antwort ist nicht so leicht zu haben. Sie legt nicht fest, sondern umkreist die Sache. Mit Rationalität ist ein vernunftgeleitetes Handeln gemeint, das den Umgang mit dem „alltäglichen Fremden“, „historisch Zurückliegenden“ und „geographisch Fernliegenden“ immer wieder neu reflektiert. Dieses Unterfangen kann den Menschen am Ende ratlos zurücklassen. Doch es wäre dann die Frage, ob in dieser Ratlosigkeit nicht mehr Wahrheit liegt als in jeder scheinbar sachdienlichen Erklärung. WALDENFELS führt dazu aus:
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„Und wie kommt es, dass von dem schon allzu sprichwörtlichen Ereignis ‚Ausschwitz‘ alle Sinngebungsversuche abprallen? Nicht, als ob es da nichts zu verstehen, zu erklären und zu vergleichen wäre, es fragt sich nur, ob das Unheilsgeschehen in diesen Bewältigungsversuchen seine adäquate Antwort findet, ob es überhaupt eine adäquate Antwort gibt.“ (Ebd.: 52)
Der Ort der Frage ist der Anspruch, den WALDENFELS „Frageanspruch“ nennt (ebd.). Und auch wenn er von Responsivität spricht, so meint das nicht ein Primat der Antwort anstelle eines Primats der Frage. Der abzulehnende Gedanke der Zentrierung verweigert sich einer solchen Festlegung. Frage und Antwort stehen sich gleichwertig gegenüber. Ein Denken, das auf eine Frage mit weiteren Fragen antwortet, dreht sich im Kreis (ebd.: 187). Die Frage stößt eine Denkbewegung an. Sie ist die „Anregung“ (ebd.: 191), sich auf die Suche zu machen, ja auf die Suche machen zu müssen. Der Frageanspruch als „toter Punkt der Abwesenheit und Fremdheit in jeder Äußerung“ (ebd.: 193) verkörpert das irritierende Potential, das sich nicht auflösen lässt, aber dennoch Antworten provoziert. Nur in einem Dialog greifen Sagen und Gesagtes so ineinander, dass sich Zentrierungen auf doppelte Weise vermeiden lassen: Weder wird dem Gesagten alle Vernunft zugebilligt, was in einem Logozentrismus mündete, noch das Selbst im Sagen hochgehangen, was einem Egozentrismus gleichkäme (ebd.). 3.4.3 Zusammenfassung von Konsequenzen für ein begegnungsorientiertes Konzept Ziel des Kapitels 3.4 war es, zu erarbeiten, wie man mit den Antworten auf Fremderfahrungen aus Begegnungen umgehen kann. Dabei konnten verschiedene Aspekte herausgearbeitet werden, die sich für das Konzept des interkulturellen Lernens nutzbar machen lassen. • Das Hyperphänomen des Fremden kann über eine pädagogische Bezie-
hung besser thematisiert werden. Für das Einlassen auf die kulturelle Begegnung spielt die Lehrkraft als Begleitung eine wichtige Rolle. Gerade weil die Fremderfahrung so erschütternd sein kann, ist es kein Prozess, bei dem ein Schüler auf sich allein gestellt sein sollte. Gemeinsam kann es besser gelingen, sich auf das Einlassen einzulassen. Es ist eine den Schülern zugewandte Haltung gefragt, die nicht
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das Erfahrungsgefälle zwischen Lehrenden und Lernenden zu kaschieren versucht. • Die Antwort auf Fremdes bildet sich im Dialog. Sie gehört nicht einem
selbst. Die Lehrkraft ist darüber hinaus für die Reflexion von kulturellen Begegnungen von zentraler Bedeutung, da sie den Lernenden dabei hilft, einen Ausdruck im Sinne einer Antwort zu finden. Neben dem Einlassen auf Begegnungen liegt ein Potential dieses Konzepts des interkulturellen Lernens auch darin, sich über Begegnungen auszutauschen. Dadurch kann es gelingen, im gemeinsamen Gespräch neue Impulse aufzunehmen oder alternative Ausdrucksformen zu eruieren, auf die ein Lernender alleine nicht kommen kann. Sich über verunsichernde Begegnungen überhaupt ausdrücken zu wollen und zu können, ist bereits ein Wert an sich. • Im Dialog verbietet sich das Totalitätsdenken. Es wird mitbedacht, dass
jeder von seinem Ort aus spricht. Der Gewinn des Gespräches liegt darin, dass jeder seine Perspektive einbringt. Ein Gespräch heißt in diesem Sinne nicht, über den Anderen zu sprechen, sondern seine Gedanken zur Verfügung zu stellen. Daher ist auch von Ratschlägen Abstand zu nehmen, eher noch kann man von eigenen Erfahrungen berichten. Diese stärker selbstoffenbarende Haltung ist nicht nur für das Lehrer-Schüler-Verhältnis konstitutiv, sondern auch für die beidseitige kulturelle Begegnung, bei denen die Begegnenden jeweils von sich berichten. Durch die kulturelle Begegnung ist es möglich, die eigene kulturelle Heimwelt zu reflektieren. • In der Antwort geht der Mensch durch Selbststeigerung über sich hinaus.
Er gibt, was er nicht hat. Wenn in einem Gespräch in der Klasse die verschiedenen Perspektiven zusammenkommen, indem die Orte, von denen jeder spricht, geklärt werden, kann etwas Neues entstehen. Dann spinnt sich ein Netz, das in eine unerwartete Antwort münden kann. Selbstverständlich kann durch die Gesprächsführung das Neue nur wahrscheinlich gemacht, nicht aber zielgerichtet herbeigeredet werden.
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• Antworten, in denen etwas Neues entsteht, haben eine verfremdende Wir-
kung. Wir haben es fünftens mit dem Paradoxon zu tun, dass man im Gespräch zwischen Lehrer und Schüler auf etwas Neues kommt, indem man nicht auf etwas Neues abzielt. Mit WALDENFELS lässt sich dabei eine Gesprächsform ableiten, die gerade nicht aus einem Frage-Antwort-Spiel zwischen Lehrer und Schüler besteht. Im Gegenteil – wenn es um die „schräge Rede“ (vgl. Kapitel 3.4.2) geht, sind immer wieder neue Ideen in das Gespräch einzubringen, die es offenhalten. Ergänzend zu WALDENFELS möchte ich an dieser Stelle andeuten, dass auch alternative Ausdrucksformen zur Rede denkbar sind, um den „schrägen Blick“ zu fördern. Vermutlich ist es sogar so, dass man im Medium der Sprache am ehesten versucht ist, etwas zu systematisieren. Dies kann zum einen durch andere sprachliche Ausdrucksformen, wie Lyrik, zu umgehen versucht werden. Zum anderen sind auch nicht-sprachliche Darstellungen wie die des Zeichnens, Filmens, theatralisch-körperlichen Darstellens, Photographierens und Musizierens gefragt, um nach Antworten zu suchen oder seinen Antworten Ausdruck zu verleihen. • Die Zielperspektive des Gesprächs ist offenzuhalten.
Schließlich ist sechstens und letztens anzumerken, dass das Einlassen auf Fremdes nicht in eine richtige oder eine falsche Antwort münden kann. Sicherlich wäre das Ziel des Konzepts verfehlt, wenn das Wegsehen die meistgewählte Antwort der Schüler ist. Doch auch diese Antwort ist nicht zu verteufeln. Denn schließlich kann sich kein Mensch immer für jede verunsichernde Erfahrung aus Begegnungen offenhalten. Doch zwischen den Extremen gibt es einen unüberblickbaren Bereich an Antwortmöglichkeiten. Eine für didaktische Belange interessante Ableitung ist die Arbeit mit weiteren Fragen, die sich aus der Verunsicherung ergeben. Doch ist die Gefahr groß, dass mit Fragen an etwas dieses Etwas sogleich in Form gebracht werden soll. Daher ist nach WALDENFELS mit Bescheidenheit an die Zielperspektive eines Konzepts des interkulturellen Lernens durch die kulturelle Begegnung zu gehen. Sie kann zum Beispiel darin liegen, auch Ratlosigkeit anzuerkennen, wenn sie sich im Schüler-Lehrer-Gespräch zeigt.
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GRUNDPFEILER EINES BEGEGNUNGSORIENTIERTEN KONZEPTS DES INTERKULTURELLEN LERNENS Aus der theoretischen Darlegung von Interkulturalität konnten in den Kapiteln 3.1 bis 3.4 jeweils Konsequenzen für ein begegnungsorientiertes Konzept des interkulturellen Lernens abgeleitet werden. Es wurde die Bedeutung der verunsichernden Fremderfahrung herausgearbeitet. Das Fremde ist gleichzeitig nicht fassbar und sollte doch über das Erfahrung-machen zugelassen werden (vgl. Kapitel 3.1.4). Für das Konzept des interkulturellen Lernens ist an ein Verständnis von Kultur als eine Lebenswelt anzuknüpfen, die sich an Orten über Atmosphären eröffnet. In der Begegnung können die Fremdwelten dabei als struktureller Entzug verunsichern (vgl. Kapitel 3.2.3). Das Potential der Verunsicherung liegt nicht in der Erfassung des Fremden, sondern in der Reflexion der Heimwelt über die Begegnung (vgl. Kapitel 3.3.4). Der Dialog bietet sich schließlich als Gesprächsform an, um über ihn Reflexionen zu ermöglichen. (vgl. Kapitel 3.4.3). Die Konsequenzen werden nun in didaktische Prinzipien überführt, die den Umsetzungsrahmen genauer abstecken. Die didaktischen Prinzipien legen die Grundausrichtung des Ansatzes dar. Sie können als Bindeglied zwischen den theoretischen Überlegungen und der Anwendung über Medien, Methoden und Gesprächsimpulsen verstanden werden. Die Prinzipien sind so konkret gehalten, dass sie eine Orientierungsfunktion für die Umsetzung des begegnungsorientierten Ansatzes des interkulturellen Lernens bieten. Erfahrungsorientierung Erfahrungsorientierung unterstreicht, dass den Erfahrungen der Schüler eine besondere Rolle eingeräumt wird. Weil die verunsichernde Fremderfahrung die eigene Erfahrung fremd werden lässt, braucht es ein Unterrichtssetting, in dem die Schüler diesen Prozess zulassen können. Je mehr sich die Schüler auf die verunsichernde Erfahrung einlassen, desto mehr können sie über sich lernen. Indem an unterschiedlichen Situationen oder mit unterschiedlichen Medien Fremderfahrungen thematisiert werden, lässt sich die Einsicht fördern, dass Verunsicherungen nicht aufzulösen sind. Genauso wenig lassen sich Fremderfahrungen korrigieren. Lernen kann verstanden werden als Machen von Erfahrung. Lernen ist ein widerständiger Prozess, wenn er zu neuen Einsichten führen soll und nicht nur das Wiedergeben von etwas meint. Doch
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das Besondere an diesem erfahrungsorientierten Unterricht ist, dass sich das in ihm thematisierte Phänomen nicht in eine abschließende Sinnproduktion überführen lässt. Das Fremde bleibt immer entzogen. Begegnungsorientierung Die Begegnungsorientierung bezieht sich darauf, dass verunsichernde Erfahrungen in der Begegnung gemacht werden. Daher können verunsichernde Erfahrungen dann wahrscheinlicher werden, wenn die Schüler sich auf neue Begegnungen einlassen. Begegnungen an Orten, mit Menschen und Dingen können über eine Exkursion durch das leibliche Spüren unmittelbar erfahren, aber auch medial vermittelt thematisiert werden. Damit wird im Geographieunterricht die Begegnung selbst zum Unterrichtsthema und ist nicht nur Mittel zum Zweck. Begegnungsorientierung meint zunächst eine offene Form des Unterrichts, denn verunsichernde Erfahrungen lassen sich nicht kausallogisch durch Begegnungen erzeugen. Die Schüler lernen, sich über die Begegnung ansprechen zu lassen. Die Begegnungsorientierung bereichert den Unterricht neben der kategorialen Aneignung von Welt, wie sie meist üblich ist, um eine größere Erlebnistiefe. Die Fremderfahrungen können zwar nur selbst gemacht werden. Aber dennoch ist der Schüler dabei nicht alleine. Dieser Unterricht betont die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Interkulturelles Lernen vollzieht sich nicht selbstgesteuert, sondern beziehungsgesteuert. Lebensweltorientierung Das Ansetzen an der Lebenswelt der Schüler ist unter dem Namen „Schülerorientierung“ bekannt. Ich vermeide den Begriff, weil er eine Fokussierung auf die Schüler im Gegensatz zur „Lehrerzentrierung“ meint (BASTIAN 1992: 45). Ich nutze den Begriff der „Lebensweltorientierung“, durch den Kultur im Geographieunterricht als eine Lebenswelt4 verstanden wird, die den Schülern (und den Lehrern) selbst nur bedingt zugänglich ist. Lebensweltorientiertes interkulturelles Lernen will das alltägliche Leben in der eigenen Kultur erst durch die Untersuchung des aus Erfahrung gewonnenen Wissens, der
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Lebenswelt wird von geographiedidaktischen Autoren wie SCHMIDT-WULFFEN, VIELHABER & RHODE-JÜCHTERN jeweils unterschiedlich verstanden (vgl. WIESER
2008). Allerdings setzt sich keiner der Autoren atmosphärisch mit Lebens-
welten auseinander.
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eingegangenen Beziehungen und der miterlebten Atmosphäre aufdecken. Dafür wird durch Begegnungen mit Fremdwelten die eigene Lebenswelt als begrenzt und selektiv erfahren. Lebensweltorientierung meint, die Heimwelt über die Begegnung mit der Fremdwelt zu erkunden. Dieser Geographieunterricht setzt an konkreten Situationen an, die nicht nur kognitiv verarbeitet, sondern leiblich erfasst werden. Über die Begegnung lässt sich die Lebenswelt situativ an Orten spüren. Mit dem leiblichen Spüren kann der Mensch sich besser auf den ansprechenden Charakter des Fremden einlassen. Denn durch den lebensweltorientierten Ansatz sollen die Schüler lernen, die Heimwelt besser zu verstehen, aber auch neu zu erleben. Damit können sie sensibel werden für Fremdes im Eigenen wie das Unalltägliche im Alltag. Das Befremdliche einer Fremdwelt lässt sich leichter aushalten, wenn die Heimwelt nicht als das rein Eigene verstanden wird. Perspektivorientierung Die Perspektivorientierung erinnert an die Vielperspektivität (vgl. RHODEJÜCHTERN 1996). Doch ein perspektivorientierter Unterricht ist nicht wie im herkömmlichen Sinne darauf ausgerichtet, dass die Lernenden verschiedene Perspektiven auf eine Sache antizipieren können oder zum Perspektivwechsel befähigt werden5. Vielmehr meint dieses Prinzip, dass im Austausch über die kulturelle Begegnung die Perspektiven der einzelnen Schüler bedeutsam werden. Im perspektivorientierten Unterricht wird Interkulturalität verstanden als Zwischenbereich von verschiedenen Lebenswelten, der sich begegnungsorientiert über den Austausch der eigenen Erlebnisse eröffnet. Durch die Perspektivorientierung kann dieser Zwischenbereich offengehalten werden, indem jeder Schüler seine Antwort auf Fremderfahrungen durch Begegnungen kennenlernt und in ein Gespräch einbringt. So lernen die Schüler, den Zwischenbereich von Kultur immer wieder auszuloten. Im perspektivorientierten Unterricht ist das Zwischen von Kulturen als etwas Dynamisches zu verstehen. Die Schüler können sich eine offene Haltung aneignen, die den eigenen Standpunkt, die eigene Perspektive dennoch nicht negiert.
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Beliebt ist im Bereich des interkulturellen Lernens zum Beispiel, Schüler als Schauspieler zu verstehen und sie in Rollenspielen oder Talkshows in verschiedene Rollen wie die des Flüchtlings schlüpfen zu lassen (vgl. JAHN & WITT 1996, MEYER 2001).
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Reflexionsorientierung Ein Geographieunterricht, der Verunsicherung nicht auflösen will, muss neben dem Einlassen auf die Begegnung verstärkt die Reflexion nutzen. Schüler lernen im reflexionsorientierten interkulturellen Unterricht, sich mit den eigenen Antworten auf die Fremderfahrung in der Begegnung auseinanderzusetzen. Welche Ansprüche und Appelle werden an das eigene Tun gestellt? Was wird in meiner Heimwelt über die Begegnung infrage gestellt? Dabei muss Reflexion nicht ein Wechsel in die theoretische Einstellung bedeuten. Reflexionsorientierung wird hier so verstanden, dass den Schülern die Möglichkeit eingeräumt wird, den Antworten sprachlich oder künstlerisch Ausdruck zu verleihen. Dabei können neue Fragen danach entstehen, wie beispielsweise Alternativen des zukünftigen Zusammenlebens an einem Ort geplant bzw. organisiert werden können. Über die Reflexion kann die Verunsicherung nicht aufgehoben werden, aber in einer offenen Auseinandersetzung können immer wieder neue Antwortmöglichkeiten entdeckt werden, die Neues entstehen lassen. Reflexionsorientiertes interkulturelles Lernen will die Schüler nicht zu sich, sondern zu Neuem kommen lassen. Mit den vorgestellten didaktischen Prinzipien eines begegnungsorientierten interkulturellen Lernens im Geographieunterricht werde ich im Kapitel 4 anhand von Materialien, Methoden und Gesprächsimpulsen Vorschläge für Umsetzungsmöglichkeiten des Konzepts erarbeiten.
4. Umsetzungsmöglichkeiten eines begegnungsorientierten Konzepts des interkulturellen Lernens im Geographieunterricht
In diesem Kapitel konkretisiere ich das Konzept eines begegnungsorientierten Ansatzes des interkulturellen Lernens hinsichtlich seiner Umsetzungsmöglichkeiten. Während im Kapitel 3 der Ansatz und dessen Zielstellung theoretisch begründet wurden, stelle ich nun Materialien und Methoden vor, mit denen im Geographieunterricht eingeübt werden kann, sich auf verunsichernde kulturelle Begegnungen einzulassen und sie auf diesem Weg zu reflektieren. Die Grundpfeiler des Konzepts dienen dazu, eine begründete Auswahl der Materialien und Methoden vorzunehmen. Ich habe das Kapitel nach Begegnungsformen unterschieden. Zum einen stelle ich in Kapitel 4.1 Materialien für eine medial vermittelte Begegnung vor. Ich gehe davon aus, dass es möglich ist, medial vermittelt Einblicke in andere Lebenswelten zu erhalten und darüber die eigene Heimwelt zu reflektieren. Für die umfassende atmosphärische Auseinandersetzung allerdings braucht es die unmittelbare Begegnung. Das in 4.1 gewählte Material kann Eindrücke vermitteln, doch nur in der originalen Begegnung kann vollumfänglich gespürt werden. Die Unmittelbarkeit ergibt sich daraus, dass sich Kultur atmosphärisch nur durch das leibliche Vor-Ort-sein über die „Eindrucksvermittler“ (HASSE 2015: 216) und über das leibliche Spüren erleben lässt. Die mediale Vermittlung bleibt in ihren Sinnesbezügen dahingegen beschränkt. Daher stelle ich in Kapitel 4.2 verschiedene Methoden vor, um die Begegnung mir Orten und Menschen zu thematisieren.
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Ich bin mir bewusst, dass schon in der Auswahl der Materialien meine Perspektive als Lehrender deutlich wird. Ich habe Material ausgewählt, das mich selbst in der Auseinandersetzung verunsichert hat. Genau diese Subjektivität spielt eine große Rolle in dem Ansatz des interkulturellen Lernens. Die Vorstellung der Materialien und Methoden dient nicht dazu, einen abgeschlossenen Kanon an Aufgaben zu präsentieren. Vielmehr wird in der Darstellung und Aufbereitung deutlich, auf welche Art und Weise die Auswahl von jedem Lehrenden selbst vorgenommen werden kann.
DIE MEDIAL VERMITTELTE BEGEGNUNG Die Auswahl des Materials entspricht nicht dem üblichen Medienkanon des Geographieunterrichts. Es werden keine Modelle, erklärenden Abbildungen oder Darstellungen genutzt, die zur möglichst anschaulichen Informationsvermittlung dienen (RINSCHEDE 2007: 309f.). Migration nach Deutschland soll hier nicht sachanalytisch vermittelt werden. Für diesen Zugriff liegen bereits Unterrichtsmaterialien vor (BIRKENFELD 2012, CLAASSEN 2012, HINTERMANN & PICHLER 2003, LUY 2002, KÖPPEN 2002, RENZ 2007, RUPPERT 1994, SIEBERT 2001). Auch Unterrichtsreihen, die über das Leben von Migranten berichten, wurden bereits didaktisch aufgearbeitet (BRAMEIER 1997, MEYER 2002, SPÖRL 2001, UHLENWINKEL 2004a). Ebenso lasse ich Unterrichtsbeispiele außen vor, die im interkulturellen Lernen mit lebensweltlichen Bezügen arbeiten, aber dabei auf den räumlich-symbolischen Gehalt der Lebenswelt abzielen (MONTAG 2001). Mit dem vorgestellten Material soll stattdessen das Erleben der Lebenswelt über Begegnungen thematisiert werden. Ich habe dafür eine Materialauswahl aus Photographien, aus Zeichnungen, aus der Musik und aus der Literatur zusammengestellt. Jedem Material habe ich einen Ort oder mehrere Orte zugeordnet. Ich unterscheide zwischen ‚Ländlichen Orten‘, ‚Urbanen Orten‘, ‚Orten der Gastlichkeit‘, ‚Orten der Bewegung‘, ‚Orten der Liebe‘, ‚Orten der Gewalt‘, ‚Rückzugsorten‘, ‚Sehnsuchtsorten‘, ‚Religiösen Orten‘, ‚Lernorten‘, ‚Protestorten‘, ‚Freizeitorten‘, ‚Arbeitsorten‘ und ‚Touristischen Orten‘. Durch diese Kategorien können die Materialien quer zum Materialtyp miteinander verglichen werden. So kann ein Sehnsuchtsort über ein Foto, wie über einen Text Ausdruck finden. Für jedes Material wurden verschiedene Gesprächsimpulse entwickelt, mit denen die Lehrperson mit den
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Schülern in Begegnung kommen kann. Diese Impulse leiten sich aus der Untersuchung des Materials mit den erarbeiteten didaktischen Prinzipien ab (vgl. Kapitel 3.5). Dafür wurden die didaktischen Prinzipien in Fragen umgewandelt. Begegnungsorientierung • Wie können anhand des Materials Begegnungen mit Orten, Menschen und Dingen thematisiert werden? • Wie können Schüler und Lehrer über das Material zueinander in Beziehung kommen? Erfahrungsorientierung • Wie können die Schüler verunsichernde Erfahrung zulassen? • Wie können die Schüler über das Material von der verunsichernden Erfahrung zum Eigenen übergehen? Lebensweltorientierung • Wie können die Schüler über das Material Rückschlüsse auf das eigene alltägliche Leben ziehen? • Welche Atmosphäre zeigt sich durch das Material? Welche Atmosphäre im Spiegel mit dem Material existiert für die Schüler in der Heimwelt? • Welches kategoriale Wissen steht hinter den Auffälligkeiten durch das Material? • Was zeigt das Material Neues, das die Schüler noch nicht kennen? Was für Unalltägliches drückt sich aus? Perspektivorientierung • Wie können die Schüler durch das Material ihre eigene Perspektive einbringen? • Wie können die Schüler über das Material untereinander in Kontakt kommen? • Wie kann der Lehrer das Gespräch über das Material offenhalten? Reflexionsorientierung • Wie wird durch das Material die Heimwelt infrage gestellt? • Welche Ausdrucksweisen können die Schüler in der Auseinandersetzung mit dem Material finden?
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• Welche weiterführenden Fragen entwickeln die Schüler durch die Ausei-
nandersetzung mit dem Material? Das ausgewählte Material dient als Arbeitsgrundlage mithilfe dessen verunsichernde Erfahrungen zur Sprache kommen sollen, so dass die Schüler sich im Gespräch darüber auszutauschen können. Es ist nicht das vordergründige Ziel, mit dem Material nur im Unterrichtseinstieg auf Problem- und Fragestellungen über die geographische Sache zu stoßen (RINDSCHEDE 2007: 324). Die Sache, um die es hier geht, ist die verunsichernde Erfahrung aus Begegnungen, die sich über die Nutzung von Material besser ausdrücken lässt. Ich unterscheide das Material zwischen Begegnungen, die in der Photographie, in Zeichnungen, über Musik und in der Literatur thematisiert werden (Kapitel 4.1.1 bis Kapitel 4.1.4). Keines der Materialien wird nach formalen Analyseschritten durchschritten. Ich schließe mich BERTSCHEIT (2001) an, der (in der Kunstdidaktik) den Formalismus durch vorgegebene Untersuchungsraster kritisiert. Emotionale Aspekte dienen seiner Meinung nach oft höchstens als Rahmung für eine kognitive Auseinandersetzung mit Unterrichtsinhalten (ebd.: 9). Die fehlende Fassbarkeit der Fremderfahrung in Begegnungen macht es notwendig, auch in dieser Arbeit die Auswertung der Eindrücklichkeit der Materialien in den Fokus zu nehmen. 4.1.1 Begegnungen in Photographien Die folgende Bildauswahl stellt Begegnungen in der jeweiligen Lebenswelt der Protagonisten dar. Für eine ganzheitliche Betrachtung beziehe ich mich auf die Auseinandersetzung mit der Atmosphäre, die die Bilder transportieren. Die „Präsenz des Bildes“ (BOSCH 2017) macht dessen Magie aus. Nicht die Addition der Einzelelemente lässt ein Bild eindrücklich werden, sondern das Gesamtbild erzeugt eine „spezifische Wirkung“ (BOEHM 2006). Es geht darum, das Foto ganzheitlich durch die Schüler betrachten zu lassen und mit ihren Antworten zu arbeiten1. Ich lehne mich dafür an MIGGELBRINK & SCHLOTTMANN (2009) an und rücke die Frage in den Fokus, was das Bild bei
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Dagegen liegt von HEUZEROTH & PROBST (2012) eine sachorientierte Bildanalyse im interkulturellen Lernen vor, bei der es darum geht, aus einem Bild eine Frage abzuleiten.
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den Schülern auslöst. Von Interesse ist, was die Schüler in dem Bild sehen, wovon sie getroffen sind bzw. was sie anspricht. Die Gesprächsimpulse sollen den Schülern helfen, ihrer Perspektive Ausdruck zu verleihen. Photoband/-portraits I Von März bis Oktober 2014 zeigte das Deutsche Hygienemuseum in Dresden die Sonderausstellung „Das neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt“. Die Ausstellung bot Informationen und Anregungen zum Nachdenken über das Zusammenleben in Deutschland als Einwanderungsland an. Begleitend zur Ausstellung wurde das „Lesebuch. Das neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt“ (EZLI & STAUPE 2014) herausgegeben. Darin veröffentlichten Fotographen der Agentur „Ostkreuz“ ein Fotoessay. Im Folgenden zeige ich eine Auswahl. Urbane Orte Drei junge Mädchen stehen in einem Hauseingang. Während zwei Kinder direkt zum Betrachter schauen, ist das dritte Mädchen mit einer sorgenden Umarmung bereits auf dem Weg nach Innen. Im Hintergrund zeichnet sich der Hinterhof ab. Das Bild wurde auf der Höhe der Mädchen geschossen, so dass die beiden Flügel der Haustür massiv wirken. Gerade diese Perspektivverschiebung macht das Bild atmosphärisch interessant. Berücksichtigt man im Kontext der deutschen Migrationspolitik, dass während der Zeit der Anwerbung der ersten Gastarbeiter die jungen Migranten oft in heruntergekommenen Altbauwohnungen untergebracht wurden, bekommt durch dieses Foto das Aufwachen der Kinder in den Vierteln eine besondere Bedeutung.
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Abbildung 3: Photographie aus einem Photoessay zum Thema Migration und Vielfalt
Quelle: OSTKREUZ – AGENTUR FÜR PHOTOGRAPHIE 2014: o. S.
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wo das Foto gemacht wurde; • was ihnen auffällt; • ob sie sich dort wohlfühlen würden; • wie das Umfeld aussieht; • wie die Stimmung in dem Hausflur ist; • wie sie ihren eigenen Hauseingang erleben. Die Schüler könnten Fotos von ihrem eigenen Hauseingang machen und mit diesem Foto vergleichen. Freizeitorte Die Szene dieses Fotos kann auf einer Mannschaftsbank am Spielfeldrand aufgenommen worden sein. Das Foto lässt den Betrachter nicht entkommen. Er wird direkt fokussiert. Die Augen des Jungen liegen im Halbschatten, aber dennoch treffen sie einen. Es scheint kalt zu sein. Der Junge hat Handschuhe an. Der Strauch im Hintergrund ist kahl. Vielleicht liegt Schnee. Orangene Fußbälle werden im Winter genutzt, weil sie bei Schnee und Eis auf dem
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Spielfeld besser zu erkennen sind. Die rechte Hand des Jungen ist möglicherweise zur Faust gefallt. Die linke Hand ist offen, als ob er den Ball an sich drücken will. Rechts über dem Kopf ist in dicken Lettern „HEIM“ zu lesen. Das umgebende Material ist etwas in die Jahre gekommen. Rostspuren könnten am Fensterrahmen zu erkennen sein. Das Holz ist abgewetzt. Die Kabine schützt und bildet gleichzeitig eine Mikro-Atmosphäre. Auf dem Spielfeld sind die Körper in Bewegung. Auf der Mannschaftsbank warten sie in Ruhe und gleichzeitig in Lauerstellung. Die Kabine lässt die Mannschaftsmitglieder zusammenrücken. Dieser Junge sitzt alleine. Abbildung 4: Photographie aus einem Photoessay zum Thema Migration und Vielfalt
Quelle: OSTKREUZ – AGENTUR FÜR PHOTOGRAPHIE 2014: o. S.
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie es einem geht, wenn man betrachtet wird; • wie der Junge einen betrachtet; • was sie über den Jungen denken; • was ihnen zu dem Wort „HEIM“ einfällt;
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• • • • • •
wie die Stimmung auf einer Mannschaftsbank ist; was die eigene Mannschaftsbank ausmacht; wie es einem auf der eigenen Mannschaftsbank geht; wie es ist, auf ein neues Spielfeld zu gehen; was man auf einer Mannschaftsbank macht; wie man auf der Mannschaftsbank miteinander umgeht.
Freizeitorte „Freizeitorte“ sind Orte, an denen man sich trifft und gemeinsam Zeit verbringt2. Der Ausschnitt dieses Fotos ist so gewählt, dass die Bildbreite genau die Jugendgruppe einfängt. Die Umgebung erschließt sich durch die Bildhöhe. Der große Schornstein, das Backsteinhaus und der Wohncontainerkahn erinnern an ein Industriegebiet. Die zahlreichen Bäume lassen es verfallen wirken. Das Bild wird geteilt durch einen flussähnlichen Lauf, der in den Hintergrund zu den neugebauten Häusern führt. Es ist sommerlich. Die abgebildeten Personen sind beschäftigt miteinander. Nur die Person mit dem bläulichen T-Shirt hat den Fotographen entdeckt.
2
BLUM (2001: 18) stellt dazu einen Unterrichtsentwurf vor, bei dem die Schüler in einem Kulturzentrum als einen „Ort der Begegnung“ Interviews führen. Die Wirkung des Orts wird in diesem Ansatz allerdings nicht thematisiert.
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Abbildung 5: Photographie aus einem Photoessay zum Thema Migration und Vielfalt
Quelle: OSTKREUZ – AGENTUR FÜR PHOTOGRAPHIE 2014: o. S.
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • warum sich die Jugendlichen diesen Ort ausgewählt haben; • wo die Aufnahme gemacht wurde; • wie die Stimmung in der Gruppe ist; • wie die Gruppe zusammengekommen ist; • wie wichtig der Ort bei einem solchen Treffpunkt ist; • was die Atmosphäre an solch einem Ort ausmacht; • welche Rolle die Atmosphäre bei dem eigenen Treffpunkt spielt; • was alles bei einem solchen Treffpunkt vorhanden sein muss; • wie es den eigenen Treffpunkt verändert, wenn gute Freunde nicht dabei sind; • ob es genug Orte zum Treffen in ihrer Umgebung gibt.
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Sehnsuchtsorte Von unten nach oben photographiert, ist dieses Foto durch einen harten Schatten geteilt. Im Vordergrund sind die Umrisse eines Mannes zu erkennen, der seinen rechten Arm in die Höhe streckt und mit seinen Fingern auf etwas zeigt. Er wendet dem Betrachter die linke Schulter zu. Im Mittelgrund ist abgedunkelt ein Asphaltweg zu erkennen und nach den Umrissen von Pflanzen zeichnet sich ein Stacheldrahtzaun ab. Zwei Drittel des Bildes sind durch Himmel ausgefüllt. Am oberen linken Bildrand ist ein Flugzeug zu erkennen. Die Sonne steht tief und scheint fast direkt in die Linse des Fotographen. Nur der Zaun lenkt noch ein paar Strahlen ab. Das Flugzeug als Transportmittel steht für eine globalisierte Bewegungsfreiheit. Das Flugzeug zeigt die Nase in die Luft. Der Zaun dahingegen ist ein Hindernis. Der Stacheldraht macht deutlich: Hier geht es nicht weiter. Das Bild „lebt“ durch den Mann an diesem Ort. Er weckt eine diffuse Sehnsucht. Die tiefstehende Sonne gibt der Szene eine Schwere. Abbildung 6: Photographie aus einem Photoessay zum Thema Migration und Vielfalt
Quelle: OSTKREUZ – AGENTUR FÜR PHOTOGRAPHIE 2014: o. S.
Umsetzungsmöglichkeiten eines begegnungsorientierten Konzepts | 151
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • was das Foto bei ihnen auslöst; • warum es etwas bei ihnen auslöst; • wo der Mann steht; • worauf der Mann zeigt; • warum er auf etwas zeigt; • nach Grenzen in ihrem eigenen Umfeld; • wofür der Zaun und das Flugzeug stehen könnten; • welche Bedeutung Reisen für sie hat. Touristische Orte Zwei Frauen stehen vor einer fachwerkähnlichen Fassade in Straßburg. Möglicherweise photographieren sie gerade den Ort. Das Geländer im Vordergrund markiert einen Aussichtspunkt. Das Betrachten des Wahrzeichens an diesem Ort könnte eine Alltagsszene darstellen. Doch dieses Foto erzeugt meine Aufmerksamkeit. Die beiden Frauen, die auf die Fachwerkgebäude im Mittel- und Hintergrund schauen, sind auf verschiedene Arten verschleiert. Sie stehen mit dem Rücken zum Betrachter. Mein Blick springt zwischen den Frauen und der Fachwerkfassade hin und her. Fast so, als ob etwas ‚falsch‘ ist an dieser Bildkomposition.
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Abbildung 7: Photographie von zwei Frauen vor einem Wahrzeichen in Straßburg
Quelle: Eigene Aufnahme
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • ob bzw. in welchen Situationen bzw. wo sie Fotos von Wahrzeichen gemacht haben; • wodurch die Atmosphäre auf diesem Foto bestimmt ist; • ob ihnen die Frauen auffallen würden, wenn sie selbst ein Foto von dem Gebäude machen würden; • warum der Fotograph wohl dieses Foto geschossen hat. Religiöse Orte Auf den beiden Photographien sind Personen zu erkennen, die alle eine ähnliche Bewegung machen. Das linke Foto zeigt die Personen von hinten. Es hat eine große Tiefenwirkung. Das rechte Foto ist von einer erhöhten Position aus geschossen. Der Spiegel im Hintergrund lässt die Szene größer wirken. Das Bild ist deutlich heller. Die verschiedenen Farben der Matten und
Umsetzungsmöglichkeiten eines begegnungsorientierten Konzepts | 153
Tücher sind auffällig. Der Holzfußboden reflektiert viel Licht und erzeugt eine getragene, dynamische Atmosphäre. Die graue Deckenstruktur auf dem linken Bild schluckt dahingegen viel Licht. Der Raum scheint niedrige Decken zu haben. Die Personen sind eng aneinandergedrängt, sodass sie fast in einer Masse aufgehen. Abbildung 8: Photographie aus einem Photoessay zum Thema Migration und Vielfalt
Quelle: OSTKREUZ – AGENTUR FÜR PHOTOGRAPHIE 2014: o. S.
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Abbildung 9: Photographie aus einem Photoessay zum Thema Migration und Vielfalt
Quelle: OSTKREUZ – AGENTUR FÜR PHOTOGRAPHIE 2014: o. S.
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • an welchem der beiden Orte sie gerne wären und warum; • wie die beiden Orte auf sie wirken; • an welchen Orten sie sich wohl fühlen würden und warum; • wie es sich anfühlt, die abgebildeten Bewegungen zu machen; • ob die Personen für sich sind oder eine Gemeinschaft bilden; • wie das Gemeinschaftliche auf sie wirkt; • ob es eine Verbindung zwischen Sport und Religion gibt; • wie sie religiöse Orte bisher erlebt haben; • wo die Fotos gemacht worden sind. Fotoband/ -portraits II 2010 zeigte das jüdische Museum Berlin die Ausstellung „Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik“. Die Ausstellung wollte mit der Migration von russischen Juden nach Deutschland eine eher randseitig betrachtete Migrationsbewegung beleuchten. Im Essayband zur Ausstellung kommen nicht nur verschiedene Intellektuelle zu Wort, sondern es sind auch Fotoportraits abgedruckt (BELKIN & GROSS
Umsetzungsmöglichkeiten eines begegnungsorientierten Konzepts | 155
2009). Einige Portraits werden im Folgenden dargestellt. Jedes Portrait zeigt die ‚Arbeitsorte‘. Die Begegnung ist so lebensweltlich gerahmt. Arbeitsorte Die Inhaberin und der Inhaber sind auf dem Foto so portraitiert, als würden sie sich zwischen dem Regal und der Theke beinahe verstecken. Über ihnen leuchten die Halogenlampen. Die kalten Fliesen sind frisch geputzt. Sauber angeordnet stehen die Produkte im Regal. Die Portraitierten bilden eine Einheit mit ihrem Laden. Das Rot der Damenweste findet sich in der Theke wieder und die zitronengelbe Wandfarbe hat Ähnlichkeit mit dem Polo-Shirt des Mannes. Nicht ohne Stolz präsentieren sie ihren Arbeitsort in Deutschland. Abbildung 10: Photoportrait von „Mark Lifchits und Natalia Jarkovskaia – Besitzer des Supermarktes ,Marka‘. In Leningrad (heute Sankt Petersburg) geboren“ (Gemeinhardt 2009: 161)
Quelle: LOISER 2009: 161
Der Lehrer könnte den Schülern das Foto ohne zusätzliche Informationen zeigen und sie fragen, • ob sie in dem Supermarkt einkaufen gehen würden;
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• • • • • • • •
wie es ihnen in dem Supermarkt gehen würde; wie die Inhaberin und der Inhaber auf sie wirken bzw. was ihnen auffällt; wie Supermärkte aussehen, die sie besuchen; wie die Atmosphäre in dem Supermarkt ist; wonach es riecht in dem Supermarkt; wie sie einen Supermarkt aufbauen würden; ob der Supermarkt bei ihnen um die Ecke sein könnte; wie sie den Supermarkt erleben, wenn sie wissen, dass er von einem russischen Ehepaar geführt wird.
Arbeitsorte Eine Zahnarztpraxis ist durch die Patienten meist ängstlich besetzt. Dieser ganz in blau gehaltene Ort bringt auf dem Bild eine zusätzliche Kühle hervor. An der linken Wand hängt ein Gemälde. Der Mann wirkt kräftig. Seine Hände sind geschlossen. Er macht den Eindruck, dass er anpacken kann. Er hat auf dem Behandlungssitz Platz genommen. Die Hocker für den Zahnarzt und die Assistenz sind frei geblieben. Abbildung 11: Photoportrait von „Evgeniy Liebensohn – Zahnarzt. In Kiew (Ukraine) geboren“ (Gemeinhardt 2009: 162)
Quelle: LOISER 2009: 162
Umsetzungsmöglichkeiten eines begegnungsorientierten Konzepts | 157
Der Lehrer könnte den Schülern das Foto ohne zusätzliche Informationen zeigen und sie fragen, • ob sie sich an ihren letzten Zahnarztbesuch erinnern können; • wie sie sich in der Zahnarztpraxis gefühlt haben; • ob sie noch wissen, wie die Zahnarztpraxis aussah; • wie der Mann auf sie wirkt; • welche Rolle der Mann hat; • ob sie sich von ihm behandeln lassen würden; • ob sie das Bild anders sehen, wenn sie wissen, dass der Zahnarzt aus der Ukraine kommt. Arbeitsorte Der Keller ist ein besonderer Ort. Er wird gebraucht und doch soll er nicht im Blickfeld sein. Durch die Fliesen, die Lampen, die schwere Tür und die sichtbar verlaufenden Rohre entsteht eine ausladende Atmosphäre auf dem Foto. Der Raum ist auf seine Funktion begrenzt. Die Wandfarbe lässt ihn weniger steril wirken. Am linken Bildrand ist eine Vorrichtung für Zellstoffpapier angeschnitten zu erkennen. Im Vordergrund zeigt das Bild einen Stuhl neben einem kreisrunden Tisch mit einem weißen Teller.
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Abbildung 12: Photoportrait von einer Reinigungskraft mit russischem Akzent, die sich selbst nicht photographieren lassen wollte
Quelle: LOISER 2009: 164
Der Lehrer könnte den Schülern das Foto ohne zusätzliche Informationen zeigen und sie fragen, • was sie auf diesem Bild erkennen; • wo das Bild aufgenommen wurde; • wie sie sich an diesem Ort fühlen würden; • welche Funktion dieser Ort hat; • wer dort auf dem Stuhl sitzen könnte; • wie man den Menschen begegnet, die an diesem Ort arbeiten; • ob sie dort arbeiten würden; • unter welchen Umständen sie an diesem Ort arbeiten würden. Schulbuch Das Schulbuch hat weiterhin eine wichtige Funktion im Unterricht (HACKER 2004). Es spiegelt wider, was gesellschaftlich akzeptiert als ‚richtige‘ Vorstellung von der Welt vermittelt wird. Im Wesentlichen ist das Schulbuch dabei ein visuelles Medium, dass den Unterrichtsgegenstand fachlich korrekt
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und anschaulich darstellt und an der Lebenswelt der Lernenden anknüpft (FUCHS et al. 2014: 41). Darüber hinaus spricht jede Schulbuchdoppelseite die Schüler auf eine bestimmte Art und Weise an. Auf der hier dargestellten Schulbuchdoppelseite wird Deutschland als Einwanderungsland thematisiert. Neben Statistiken, einem Begleittext und einem Aufgabenblock zeigt die Doppelseite auch ein Foto. Urbane Orte Obwohl das Foto auf der linken Seite groß abgebildet ist, wird ihm im Schulbuch nicht explizit eine Aufgabe zuteil. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass auf dem Foto verschiedene Menschen in Begegnung kommen. Zwei Frauen sitzen mit ihren Kindern vor einem Imbiss, der Werbung für „Shawarma“ und „Falafel“ macht. Die rechte Bildhälfte ist von einem Mann eingenommen, der die Gruppe beobachtet. An den folgenden Häuserfassaden zeichnen sich Werbeschilder ab. Im Hintergrund scheinen viele Menschen auf dem Bürgersteig unterwegs zu sein. Im Mittelgrund hebt sich eine Frau mit einem Kind ab. Es ist eine geschäftige Atmosphäre, die durch die parkenden Autos auf der rechten Seite begrenzt wird. Abbildung 13: Auszug aus einem Schulbuch zum Thema „Zuwanderung – ethnische Gliederung“ (KREUS & VON DER RUHREN 2011: 62)
Quelle: KREUS & VON DER RUHREN 2011: 62-63
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Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie es ihnen bei der Betrachtung des Fotos geht; • ob sie auch gerne die Straße langgehen würden; • was ihnen auf dem Foto auffällt; • wo das Foto gemacht sein könnte; • wie die Straßen der eignen Innenstadt oder nächst größeren Stadt gestaltet sind; • was ihnen bekannt vorkommt; • wie die Atmosphäre an dem Ort ist; • woran sie die Atmosphäre festmachen. Internetquellen Durch das Internet eröffnet sich der Zugriff auf Millionen von Bildern, die zum Teil auch im Geographieunterricht genutzt werden können. Für einen begegnungsorientierten Ansatz sind vor allem die Bilder interessant, die verschiedene Formen der Begegnung von Menschen an Orten darstellen. Orte der Gewalt Das Foto zeigt den Übertritt von Migranten über den Grenzzaun von Melilla. Die Menschen überqueren die Grenze zwischen der spanischen Exklave in Nordafrika und Marokko. Der Zaun wurde gebaut, um zu unterbinden, dass Nicht-EU-Bürger ohne Genehmigung auf europäischen Boden kommen. Begegnung soll so gerade verhindert werden. Die Grenze hat einen symbolischen Charakter. Für manche steht sie für die „Festung Europa“ (PELZER 2011). Doch eine gesicherte Grenze ist mehr als ein Symbol. Sie wird auch erlebt durch die Menschen an diesem Ort.
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Abbildung 14: Grenzüberschreitung von Migranten an der Grenze von Melilla (Spanien) zu Marokko
Quelle: THE TELEGRAPH 2015: o. S.
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie der Zaun als Grenze auf sie wirkt; • welche Stimmung die Kameraaufnahme vermittelt; • wie die Bewegung der Menschen auf sie wirkt; • welche Assoziationen das Foto weckt; • ob sie einmal selbst über einen Zaun geklettert sind und wie sie sich dabei gefühlt haben; • wo es im Alltag Zäune und Absperrungen gibt, die sich unterschiedlich gut überwinden lassen. Arbeiten mit Photographien Der Einsatz eines bearbeiteten Fotos im Unterricht eröffnet die Chance, weitere Erfahrungen der Schüler zur Sprache zu bringen. Bei einem digitalen Foto lässt sich zudem leicht der gewählte Bildausschnitt verändern. Über diese Bearbeitung können die „Eindrucksvermittler“ der Atmosphäre noch besser bestimmt werden. Bildbereiche können durch die Schüler selbst abgedeckt und dann in Kleingruppen besprochen werden (SCHOPPE 2011: 56). Sogleich verändert sich durch den veränderten Bildausschnitt die transportierte Atmosphäre des Bildes. Es kann thematisiert werden, welche Wirkung
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die Veränderung eines Fotos hat: Wie unterscheidet sich über die Bildbearbeitung die Atmosphäre eines Ortes und welche weiteren Assoziationen für eine Reflexion der Heimwelt können darüber angestoßen werden? 4.1.2 Begegnungen in Zeichnungen Für die künstlerische Darstellung von (kulturellen) Begegnungen sind Kinderbücher sehr interessant, denn sie arbeiten oft mit Illustrationen. Die Illustration vermittelt einerseits eigenständig einen Eindruck des Geschehens, andererseits werden mit ihr auch Situationen aus dem Text bildlich dargestellt. Es gibt einen unmittelbaren Text-Bild-Bezug. In höheren Klassenstufen können diese Kinderbücher zum Beispiel dafür genutzt werden, um mit den Schülern zu untersuchen, wie über die Illustrationen Atmosphären an Orten erzeugt werden. Kirsten BOIE & Jan BIRCK – „Bestimmt wird alles gut“ In dem kleinen Buch „Bestimmt wird alles gut“, erzählen Kirsten BOIE & Jan BIRCK (2016) die „wahre Geschichte“ (Klappentext) von der Flucht der zehn Jahre alten „Rahaf“, ihrem Bruder „Hassan“ und ihren Eltern aus Homs nach Deutschland. Die ausgewählten Seiten zeigen die Geschichte ab dem Moment, ab dem die Familie in Deutschland angekommen ist. Orte der Gastlichkeit Flüchtlingsheime3 sind „Orte der Gastlichkeit“, die einerseits oft provisorisch und andererseits auf unbestimmte Dauer installiert sind. Auch durch den Versuch, die Unterkünfte wohnlich zu gestalten und ein Minimum an Privatsphäre zu ermöglichen, haben diese Orte eine besondere Atmosphäre.
3
MEYER (2001: 32f.) hat eine Unterrichtseinheit zu „Flüchtlingsheime[n] als Lebensraum“ entwickelt, in dem es allerdings nicht um den Ort geht, sondern um die Auseinandersetzung mit Geflohenen über den biographischen Ansatz.
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Abbildung 15: Die Abbildung zeigt, wie „Rahaf“ und „Hassan“ in der Flüchtlingsunterkunft in Deutschland angekommen sind
Quelle: BOIE & BIRCK 2016: 30-31
Abbildung 16: Die Abbildung zeigt, wie „Rahaf“ und „Hassan“ in der Flüchtlingsunterkunft in Deutschland angekommen sind
Quelle: BOIE & BIRCK 2016: 34-35
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie die Atmosphäre auf den Bildern ist und durch welche Zeichentechniken die Atmosphäre erzeugt wurde (insbesondere die Wahl der Farbe); • wie sie die Kinder auf den Bildern erleben; • wie sie die Stimmung im und um den Container erleben; • ob sie schon mal selbst mit ihrer Familie auf engem Raum gelebt haben (zum Beispiel im Urlaub); • ob sie wissen, wo es Flüchtlingsheime in ihrer Gegend gibt und wie sie diese Orte erleben; • ob und wie sie mit den Kindern in Kontakt kommen würden.
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Irena KOBOLD & Freya BLACKWOOD – „Zuhause kann überall sein“ Das von Irena KOBOLD verfasste und von Freya BLACKWOOD illustrierte Buch „Zuhause kann überall sein“ erzählt die Geschichte von einem Mädchen, das vor Krieg fliehend an einen neuen Ort kommt und dort versucht, neue Freunde zu finden. Ländliche Orte Die Häuser auf dem Bild vermitteln einen Eindruck des Zuhauses des Mädchens. Zusammen mit der kahlen freien Fläche und den Tieren stellt die Zeichnung einen offenen ländlichen Raum dar. Für das Kind ist es ein Ort der Bewegungsfreiheit. Es kann dort ungezwungen spielen. Abbildung 17: Die Abbildung zeigt den Anfang der Geschichte „Zuhause kann überall sein“
Quelle: KOBOLD & BLACKWOOD 2015: o. S.
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • welche Assoziationen sie zu diesem Bild haben; • wie sie das Mädchen erleben; • wie das Bild durch den gelblichen Grundton auf sie wirkt; • wie sie sich an den dem Ort fühlen würden.
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Orte der Bewegung Dieses Bild zeigt gerade im Vergleich mit der vorherigen Darstellung den Bruch mit der vertrauten Umgebung. Das Mädchen, zu erkennen auf der rechten Bildhälfte, steht steif mit ihrer Mutter in einem vollbesetzten Zug. Statt der Weite bestimmt die Enge des Verkehrsmittels das Geschehen. Auch die Farbwahl unterscheidet sich merklich. Im Hintergrund zeichnet sich die Silhouette einer Großstadt ab. Abbildung 18: Die Abbildungen zeigen eine Szene mit dem Mädchen „Wildfang“ und ihrer Mutter nach der Flucht
Quelle: KOBOLD & BLACKWood 2015: o. S.
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • ob sie es auch schon erlebt haben, dass einem Leute, Essen, Tiere, Pflanzen und sogar die Wetterlagen fremd vorkommen; • welche Atmosphäre auf dem Bild herrscht; • wie das Mädchen auf sie wirkt; • ob sie selbst schon in einem unbekannten Zug waren bzw. ob ihnen etwas in diesem Zug aufgefallen ist. Rückzugsorte Das junge Mädchen „Wildfang“ ist auf diesem Bild in ihrem neuen Zuhause dargestellt. Die Farben und Symbole erinnern an ihren Geburtsort. Wildfang ist in ihrem ‚Rückzugsort‘ auch ‚woanders‘. Sie erinnert sich sehnsüchtig an
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die Zeit, in der sie sich wie sie ‚selbst fühlen‘ konnte. Durch die Decke schafft sie sich einen vertrauten Ort in der neuen Umgebung. Abbildung 19: Die Abbildung zeigt das Mädchen „Wildfang“ in ihrem neuen Zuhause
Quelle: KOBOLD & BLACKWOOD 2015: o. S.
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie ihre Rückzugsorte aussehen; • welche Dinge sie an ihren Rückzugsorten haben; • ob sie andere Freunde mit an ihren Rückzugsort nehmen würden. 4.1.3 Begegnungen in Musik Religiöse Orte Die Atmosphäre von Orten ist auch durch Geräusche bestimmt. Besonders eindrücklich ist das an religiösen Orten, die durch bestimmte Klänge leben. Weil bestimmte religiöse Orte zur Heimwelt gehören, sind sie oft mit da, ohne dass sie bewusst wahrgenommen werden. Der Glockenschlag des Kirchturms zu bestimmten Uhrzeiten gehört zu diesen Umgebungsgeräuschen. Über ein YouTube-Video ist es möglich, aufgenommene Glockengeräusche im Unterricht abzuspielen und bewusst zu machen.
Umsetzungsmöglichkeiten eines begegnungsorientierten Konzepts | 167
Abbildung 20: Beispiel für die Videoaufnahme eines Glockenläutens
Quelle: BISTUM EICHSTÄTT 2009
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie sie die Klänge beschreiben würden; • welche Assoziationen sie zu den Klängen haben (Hochzeit, Sonntagmorgen, Weihnachten, Schulklingel); • wie sie sich mit den Klängen fühlen. An immer mehr Orten in Deutschland gehört neben der Kirche auch eine Moschee zum Stadtbild. Eine Moschee besteht aus Gebetsräumen und einem Minarett, das für die Gebetsrufe des Muezzins genutzt wird. Der Bau von Minaretten ist allerdings sehr umstritten. Über ein YouTube-Video ist es auch möglich, aufgenommene Muezzinrufe im Unterricht abzuspielen4.
4
Es liegt bereits ein Unterrichtsentwurf von NIJHAWAN (2001) vor, der auf die Befragung mit Gläubigen abzielt. Eine Aufgabe lautet: „Sammelt Argumente für und gegen den lautsprecherverstärkten Gebetsruf. Berücksichtigt dabei die Perspektive von gläubigen Menschen unterschiedlicher Religionen sowie die Gesetzeslage“ (ebd.: 16). Auch ALBERT et al. (1997: 36) schlägt den Besuch einer Moschee im Geographieunterricht vor, damit die „individuellen Erfahrungen der Schüler im Vordergrund“ stehen. Allerdings fehlen in dem Beitrag Aufgabenstellungen, die die Erfahrungen aufgreifen.
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Abbildung 21: Beispiel für die Videoaufnahme eines arabischen Gebetsrufs
Quelle: TARIKS YOU TUBE-KANAL 2009
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie sie die Rufe beschreiben würden; • welche Assoziationen sie mit (den) Rufen haben; • wie sie sich mit (den) Rufen fühlen. Schließlich ist es auch möglich, beide Klänge, den Glockenklang und den Muezzinruf, gleichzeitig abspielen zu lassen. Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie sie den Klang wahrnehmen; • was ihnen im Zusammenspiel auffällt; • welche Stimmung durch das gleichzeitige Abspielen entsteht. 4.1.4 Begegnungen in der Literatur Die Arbeit mit Literatur fristet in der Geographiedidaktik ein Nischendasein (JÄGERSKÜPPER 2003). Für meinen Ansatz kann Literatur besonders hilfreich
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sein, um das eigene alltägliche Leben über den Kontrast zu anderen Lebenswelten besser zu verstehen5. In der Literatur drückt sich die Perspektive anderer Menschen aus. Was verunsichert oder fasziniert sie in ihrem Leben6? Welche Rolle spielen die Orte, an denen sie sich täglich begegnen? Wie kommen sie mit den Orten und mit anderen Menschen in Beziehung? Wie erleben sie das Aufeinandertreffen? Im Kapitel 4.1.4 habe ich Jugendliteratur ausgewählt, in der entweder eine Migrantin aus ihrer Lebenswelt berichtet (Melda AKBAȘ: Mein Leben zwischen Mosche und Minirock) oder über das Zusammenleben aus der Perspektive der Romanfiguren erzählt wird (Brigitte BLOBEL: Zwischen Bagdad und nirgendwo; Brigitte BLOBEL: Der rechte Weg; Jana FREY: Ich, die Andere). Die Romane von BLOBEL bzw. FREY sind durch eine deutsche Perspektive verfasst. Die Autorinnen erzählen Geschichten so, wie sie sich kulturelles Zusammenleben unter Jugendlichen vorstellen. Dennoch können auch diese Texte gute Gesprächsanlässe bieten, um daran die Erfahrungen der Schüler in der Klasse zum Thema zu machen. Statt über Jugendliche zu reden, denen nachgesagt wird, sie würden zwischen den „Welten“ leben7, kann man so die konkreten Lebenswelten thematisieren. Das Kapitel 4.1.4 stellt auch Literatur vor, die sich ursprünglich an Erwachsene richtet. Diese Sammlung geht über Belletristik hinaus. Die ausgewählte Literatur eint, dass sie auf unterschiedliche Weise das kulturelle Zusammenleben thematisieren und Örtlichkeit jeweils eine wichtige Rolle spielt. Daher habe ich auch diese Texte nach verschiedenen Orten unterschieden. Sie eröffnen jeweils schon durch die Textsorte unterschiedliche Perspektiven. Die kleine Sammlung umfasst eine Originalquelle aus dem DDR-
5
Für SCHULTE (2010: 7) besteht das interkulturelle Lernen als „literarisches Lernen“ in „ganz besonderem Maße für ein empathisches und differenziertes In-Beziehung-treten mit fremden Sichtweisen“. Von MATZEIT & MENSCHING (1996) liegt ein Unterrichtsbeispiel vor, bei dem mit einem türkischen Text mit deutscher Übersetzung im offenen Geographieunterricht gearbeitet wird.
6
Wie die pathische Fremderfahrung nach WALDENFELS für eine Textanalyse zum Thema „Fremdheit“ genutzt werden kann, hat ausführlich SCHMITZ-EMANS (2007) dargelegt.
7
Für die Darstellung wird im Schulbuch häufig die Abbildung eines zwischen zwei Stühlen sitzenden Jungen gewählt. Ein Stuhl ist beispielsweise mit der deutschen Flagge und der zweite Stuhl mit der türkischen Flagge bemalt (vgl. DEGGERICH et al. 1995).
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Verwaltungsapparat, zwei Erfahrungsberichte aus Reisen durch Deutschland, eine Reiseerzählung und einen Essay. In den Texten wird Kultur über Erlebnisse, Erfahrungen und Schilderungen deutlich. Jugendliteratur Melda A KBAȘ – „So wie ich will. Mein Leben zwischen Moschee und Minirock“ Melda AKBAȘ wird im Klappentext als achtzehnjährige „Deutsch-Türkin“ vorgestellt, die „selbstbewusst“ und „persönlich“ über ihr Leben berichtet. Aus ihrem Buch wählte ich jeweils zwei Textstellen aus und ergänzte sie mit Erläuterungen für die Nutzung im Geographieunterricht. Rückzugsorte In Reaktion auf einen Streit mit ihrem Vater zieht sich die Protagonistin in ihr Zimmer zurück. Sie beschreibt, wie sie das Zimmer nach einem Umzug mit ihrem Bruder Tayfun teilt. Zudem stellt sie dar, wie sie ihren Bereich eingerichtet hat. Sie beschreibt ihr Zimmer als einen besonderen Ort. Der Text kann dazu dienen, dass die Schüler im Spiegel dieses Textes zum Sprechen über ihre eigenen Orte angehalten werden und darüber miteinander in Begegnung kommen. „Jedenfalls war es eine gute Entscheidung, vor Baba [arab. für Vater, F.R.] erst mal in mein Zimmer zu flüchten. Hier habe ich mir eine kleine Ecke geschaffen, in der ich mich von allem – und allen – abschirmen kann. Gäbe es diese Ecke nicht, ich würde manches Mal durchdrehen. Bei allem Familiensinn, den ich durchaus habe – braucht nicht jeder hin und wieder einen Ort, an dem er ganz allein sein kann? Meine Ecke ist wie eine Oase im alltäglichen Familiengewusel. Natürlich hätte ich am liebsten das ganze Zimmer für mich. Wenn es da nicht meinen Bruder Tayfun gäbe, dem steht nämlich die Hälfte davon zu. So haben es meine Eltern festgelegt, als wir hier einzogen. Damals war ich vier und konnte nichts dagegen einwenden. Zumal der Umzug ein echter Fortschritt für unsere Familie war. Vorher hatten wir in einer Zweizimmerwohnung gelebt, in der es neben Küche und Bad ein kleines Wohnzimmer gab und dann noch ein Zimmer, das nachts Schlafzimmer für uns alle war und tagsüber Tayfun und mir als Kinderzimmer diente. In der
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Wohnung hier haben unsere Eltern ihr eigenes Schlafzimmer. Ich weiß nicht, ob sie damals, beim Umzug, davon ausgingen, dass mein Bruder selbst mit dreiundzwanzig Jahren noch keine Anstalten machen würde, sich eine eigene Bude zu suchen. Ich finde ja, es wird höchste Zeit für ihn. Aber er findet anscheinend, es ist äußerst bequem so, im Hotel Mama. Warum wundert mich das nicht? Tayfun macht eine Ausbildung zum Kaufmann, rechnen kann er. Aber ich wollte von meiner Oase erzählen: Das Zimmer, das ich mir mit Tayfun teile, ist nicht besonders groß, eher sogar ziemlich klein. Man kann sagen, jeder Quadratzentimeter wird voll ausgenutzt, zwangsläufig. Zwei Bücherregale trennen Tayfuns Bereich von meinem. Gleich dahinter steht mein Bett. An der Wand gegenüber ist gerade noch Platz für einen schmalen Schreibtisch – darüber ein Bücherbord – und einen Kleiderschrank. Und jetzt kommt der Trick: Wenn ich die Schranktür öffne, ist es fast so, als würde ich eine Zimmertür schließen, dann bin ich ganz für mich. Sicher auch irgendwie eine Kopfgeschichte. Hauptsache, es funktioniert, sogar wenn Tayfun in seinem Teil des Zimmers hockt, nur einen Hauch entfernt. In der Ecke ist es ein bisschen eng, sitzen kann ich ganz bequem, aufstehen wird schwieriger. Deshalb habe ich alles, was ich hier brauche, in Griffnähe deponiert: einen kleinen Kuscheltierhund, ein Kissen, Stifte, mein Tagebuch. Ich schreibe nicht jedes Mal etwas hinein, wenn ich mich hierhin verdrücke. Nur wenn meine Gedanken einigermaßen klar sind. Manchmal hocke ich auch einfach nur da, hoffe wie jetzt nach dem Theater mit Baba, dass meine Wut verraucht, oder ich grüble über irgendwas nach. Oder ich heule. Aber das kommt nicht mehr so häufig vor. Man lernt ja dazu. Zum Beispiel, dass es hilft, sich für den Notfall ein paar kluge Sätze zurechtzulegen, die man sich dann immer wieder sagt, still im Kopf wiederholt, als würde man ein Gedicht auswendig lernen.“ (AKBAȘ 2010: 16-17, eigene Hervor.) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie sie sich das Zimmer der Protagonistin vorstellen. Der Lehrer lässt die Schüler eine Umrisskarte zeichnen. Er lässt in Gruppen die Schüler ihre Karten miteinander vergleichen; • ob sie einen Ort in ihrer Wohnung oder ihrem Viertel haben, an den sie sich zurückziehen;
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• • • •
wie wichtig es wäre, dass Sie alleine an diesem Ort sind; wie sie ihre Dinge an diesem Ort anordnen würden; wie sie sich durch den Rest der Wohnung bewegen; wie sie sich in den Zimmern ihrer Freunde fühlen bzw. was ihnen in diesen Zimmern aufgefallen ist. Der Lehrer kann erst mal die Freunde zusammensetzen lassen, damit sie sich darüber austauschen und sich einigen, was sie in der Gruppe darüber erzählen wollen.
Orte der Liebe Die Lebenswelt der Protagonistin besteht auch aus Orten, an denen sie mit bestimmten anderen Menschen in Begegnung kommt. Die Perspektive der Jugendlichen ist unter anderem geprägt durch bestimmte Umstände (Erklärungen abgeben über ihren Aufenthalt) und über bestimmte Bedürfnissen (Liebe, Sexualität). „Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Ich wusste nicht, wie man Händchen hält, erst recht nicht, wie man küsst. Wen hätte ich danach fragen sollen? Vor allem wusste ich nicht, ob ich überhaupt geküsst werden wollte und was ich täte, wenn er es versuchte. Dafür hätte ich einen klaren Gedanken fassen müssen, aber dazu war ich gar nicht in der Lage. Das Einzige, was mir die ganze Zeit durch den Kopf schwirrte: Hoffentlich gefalle ich ihm! Treffpunkt war eine Parkbank auf der Mittelinsel. Das ist eine ziemlich große Grünfläche, wie ein Park, inmitten des Kreisverkehrs am ErnstReuter-Platz in Charlottenburg. Auf den ersten Blick vielleicht nicht der romantischste Ort, weil man ständig von Autos umkreist wird. Doch von denen hört man kaum etwas, wenn man sich nah genug an die Brunnen setzt, in denen Wasser plätschert. Im Sommer kann es dort sogar richtig schön sein. Aber das war nicht der Grund, sich dort zu verabreden. Batu konnte erst abends um sechs kommen, und das war nicht unbedingt die Zeit, zu der ich unsere Wohnung ohne Erklärung noch hätte verlassen dürfen. Also hatte ich mich vorher mit zwei Mitschülerinnen getroffen, mit denen ich ein Referat ausarbeiten musste. Eine von ihnen wohnte ganz in der Nähe. Außerdem befindet sich das Schiller-Gymnasium, auf das ich damals ging, direkt dort. Was meinen kleinen Ausflug noch glaubwürdiger erscheinen ließ. Ich brauchte also nicht mal zu lügen, verschwieg nur ein bisschen was.
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Fast zwei Stunden saßen Batu und ich dort. Entspannt war ich keine Sekunde. Wir unterhielten uns, ich weiß nicht mehr worüber. Es war eher eine zähe Veranstaltung, das Gespräch stockte zwischendurch, oder ich empfand das nur so, weil ich furchtbar aufgeregt war und bei jeder Pause dachte, wir hätten uns nichts zu sagen.“ (AKBAȘ 2010: 72-73) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wo der Ernst-Reuter-Platz liegt. Er lässt den Platz mithilfe eines Stadtplans beschreiben; • wie der Ernst-Reuter-Platz aussieht. Er lässt die Schüler Bilder im Internet recherchieren; • ob sie verschiedene Orte haben, an denen sie sich mit unterschiedlichen Freunden treffen; • ob es Orte gibt, die ihnen etwas ganz Besonders bedeuten; • wie frei sie sich in ihrer Gegend bewegen dürfen bzw. inwiefern es Einschränkungen bzw. Grenzen gibt. Brigitte B LOBEL – „Zwischen Bagdad und nirgendwo“ Brigitte BLOBEL ist eine Jugendbuchautorin, die in dem Roman „Zwischen Bagdad und nirgendwo“ das Leben des vierzehnjährigen Flüchtlings „Said“ in Deutschland beschreibt. Die Erzählung wird gerahmt von einer Liebesgeschichte zwischen „Said“ und „Laura“. Zudem gerät „Said“ in Deutschland in „ganz neue Konflikte“ (Beschreibung aus dem Klappentext). Aus dem Roman habe ich vier Textstellen entnommen, die an jeweils unterschiedlichen Orten stattfinden. Religiöse Orte Said wird in dieser Textstelle in einen neuen Ort eingeführt. Auch wenn er beim Spielen in seinem Viertel eine Moschee bereits gesehen hat, gelangt Said nun in das Innere. Er ist fasziniert von seinen Entdeckungen. „[Said lebt noch in Bagdad und wohnt gerade bei seinem Großvater, mit dem er viel Zeit verbringt., F.R.] [...] Ein paar Tage darauf zeigt der Großvater Said das Haus, in dem er als junger Mann gelebt hat. Und die Koranschule, die er besuchte. Und dann führt er Said zum ersten Mal in eine Moschee. Eine sunnitische Moschee. Es ist ein wunderschönes Bauwerk
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mit einer blauen Kuppel und herrlichen Ornamenten in dem hohen Gewölbe. Der Großvater zeigt ihm die alten Schnitzereien in den Fensterbögen, die jahrhundertealten Zedernholztüren, die wie Kunstwerke sind, das Muster des steinernen Bodens, vier verschiedene Farben von Marmor. Von überall her klingt Said das ›La illaha il Allah‹ der Betenden entgegen und das ›Mohammed u rasull ullah‹. Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Prophet. Die Luft des Gebetsraums ist voller Weihrauch und die Masse der Betenden, das ewige lautlose Kommen und Gehen, ist so betäubend, dass Said während der langen Zeit, in der der Großvater mit geschlossenen Augen reglos dasitzt, zu träumen anfängt. Es sind Träume, die ihm Frieden und innere Ruhe geben. Als sein Großvater die Augen öffnet und zu ihm hinsieht, lächelt Said. Der Großvater legt ihm die Hand auf die Schulter, nickt ernst und sagt: ›Jetzt verstehst du.‹.“ (BLOBEL 2007: 56-57) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • ob es Orte gibt, durch die sie schon mal von einem anderen Menschen durchgeführt wurden; • wie wichtig die Beziehung zu den anderen Menschen ist, die einem einen neuen Ort vorstellen; • ob sie Orte kennen, bei denen sie Ruhe finden; • wie sie sich die Atmosphäre in der Moschee vorstellen. Der Lehrer könnte die Schüler bitten, drei Wörter dafür zu finden; • ob es Orte gibt, die sie gerne mal von innen kennenlernen wollen; • ob sie Orte kennen, bei denen Menschenmassen zusammenkommen und welche Wirkung die große Anzahl von Menschen auf sie hat; • ob sie selbst in Gebetsorten waren bzw. welche Atmosphäre dort herrschte bzw. wie sie die Orte beschreiben würden bzw. welche Bedeutungen die Orte für sie haben; • ob sie weitere Orte kennen, an denen mit Gesang und Gerüchen gearbeitet wird. Urbane Orte Der Leser erfährt in dieser Textstelle, wie Said das alltägliche Leben in Berlin wahrnimmt, was ihm auffällt und verunsichert.
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„[Said ist die Flucht aus Bagdad nach Deutschland gelungen. Er konnte bei entfernten Bekannten unterkommen., F.R.] Said liegt auf dem Bett und studiert den Stadtplan von Berlin. Er hat mit dem Filzstift rote Kreuze auf die Punkte gemalt, die wichtig sind. Die Straße, in der sie wohnen, und der Platz, an dem die Firma seines Onkels liegt. Onkel Bassam ist Geschäftsmann. Er handelt mit ungefähr allem, was arabisch oder asiatisch ist. Teppiche aus dem Iran, Schmuck aus Indien und Buddhafiguren aus Thailand. Nichts richtig Wertvolles, nichts Antikes, Fabrikware. Es ist ein Großhandel. Onkel Bassams Leute beliefern kleine Geschäfte in Kreuzberg und Berlin-Mitte, meist Geschäfte, die von Arabern geführt werden. Onkel Bassam hat Said schon zweimal in die Firma mitgenommen. Die Angestellten waren nett. Sie umarmten Said und fragten ihn, wie ihm Berlin gefiele. Jeder stellte ihm zuerst diese Frage. Said hat gelernt, dass man auf die Frage, wie einem Berlin gefällt, am besten sagt: ›Sehr gut! Ich finde Berlin sehr schön!‹ Auch wenn man die Stadt noch gar nicht kannte. Was ihm immer wieder auffällt und was er gar nicht begreifen kann: Wie sauber die Stadt ist. Die Bürgersteige ohne Müll und Abfall, die Busse und Bahnen wie frisch gewaschen, gepflegte Parks, elegante Geschäfte mit ganzen Fassaden aus spiegelndem Glas, und dass es keine zerbombten Häuser gibt, keine Märkte mit zerfetzten Ständen, keine ausgebrannten Autos am Straßenrand, dass alles so friedlich und geordnet ist, scheint ihm fast unwirklich. Und alles ist so unheimlich ruhig. In Bagdad drang aus jedem Laden, aus jeder Bude plärrende Musik. Überall liefen gleichzeitig die Fernseher und die Radios. Und die Menschen versuchten, mit schrillen Stimmen die Geräusche zu übertönen. Alles war dort immer laut und hitzig und erregt. Berlin kommt ihm vor wie eine Insel der Ruhe. Autos hupen nicht an der Ampel, die Fahrer brüllen sich nicht an und kämpfen nicht mit Fäusten um einen Parkplatz. [...] Doch auch manches andere ist anders. Die Frauen tragen ihre weinenden Babys nicht auf dem Arm, sondern schieben sie in kleinen Karren und Kinderwagen herum. Da liegen die Babys drin und nuckeln still an einer Trinkflasche. Das sieht komisch aus. Die deutschen Frauen tragen bunte, auffällige Kleider. Sie sitzen in den Straßencafés und halten ihre nackten Beine in die Sonne. Und er sieht viele fröhliche junge Leute, er sieht Pärchen, die eng umschlungen in der U-Bahn sitzen. Die sich auf den Mund küssen, wenn alle zuschauen können. Er aber schaut schnell weg.“ (BLOBEL 2007: 98-99)
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Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie sie ihre eigene Umgebung einem Ortsfremden beschreiben würden; • wann sie das letzte Mal in einer neuen Stadt waren und was ihnen dort aufgefallen ist; • ob sie schon mal in Berlin waren und was ihnen von Berlin in Erinnerung ist; • wie sie Pärchen in der Öffentlichkeit wahrnehmen bzw. wie sie sich in ihrer Gegenwart fühlen; • wo es ihnen in ihrer Umgebung besonders friedlich vorkommt und wo besonders viel los ist. Der Lehrer kann die Schüler dazu auch Karten erstellen und miteinander vergleichen lassen; • wie sicher sie sich im Verkehr fühlen bzw. wie sie sich vorwärtsbewegen bzw. wie sie Konflikte im Verkehr lösen; • ob ihnen schon mal Kinderwagen aufgefallen sind; • wonach sie aussuchen würden, in welchem Stadtteil sie gerne wohnen möchten. Lernort Die Schule ist ein Ort, an dem Jugendliche viel Zeit verbringen. Sie lernen dort und begegnen gleichzeitig vielen anderen Menschen. Said kommt neu in das soziale Gefüge einer Schulklasse und in einen Klassenraum, der auch auf eine bestimmte Art und Weise räumlich organisiert ist. „[Said wird gerade in eine neue Klasse eingeführt. Die Schülerin Lena hat er schon auf einem Gang des Schulgebäudes kennengelernt., F.R.] In der Klasse gibt es einen Ausländeranteil von dreißig Prozent. Das hat der Direktor bei der Einführung gesagt. Türken, Weißrussen, Schüler, die aus Serbien und Kroatien gekommen sind, und eine Portugiesin. Keiner von ihnen spricht auch nur ein Wort Arabisch. Geschweige denn, dass jemand arabische Schrift lesen könnte [...] Herr Bernheimer bittet Lena und Said, ihre Namen an die Tafel zu schreiben. Said benutzt die arabischen Zeichen, er beginnt rechts und schreibt nach links. Es sieht fast aus, als würde er malen. Lena findet das Schriftbild richtig schön. Ihrs kommt ihr dagegen ganz plump vor. In der Klasse wird gekichert. Der Lehrer runzelt die Stirn. ›Was gibt es zu lachen?‹, fragt er. Keiner antwortet.
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Bernheimer geht durch die Reihen und bleibt vor einem Schüler stehen, es ist einer von den dreien mit den schwarzen Baseballcapes. Er streift dem Jungen mit einer Handbewegung die Kappe vom Kopf, legt sie auf den Tisch. ›Dennis, keine Mützen hier drin, weißt du doch. Mädchen keine Kopftücher, Jungen keine Mützen. Das war die Abmachung. Steck das Ding weg.‹ Dennis, der sich mit ausgestreckten Beinen auf dem Stuhl lümmelt, schaut den Lehrer Kaugummi kauend an, die Arme über der Brust gekreuzt. Dann greift er wie in Zeitlupe nach dem Cape und schiebt es unter die Bank. Der Lehrer blickt sich um. Er deutet auf einen Jungen in der ersten Reihe. ›Noah, das gilt auch für dich. Mütze runter.‹ [...] Herr Bernheimer geht nun nach vorn, zu Said an die Tafel. Er legt eine Hand auf dessen Schulter, als er sich der Klasse wieder zuwendet. Mit dem Kinn deutet er auf Noah. ›Also, dann sag doch mal: Was ist dir eben aufgefallen, als unser neuer Klassenkamerad Said seinen Namen an die Tafel geschrieben hat?‹ Noah grinst. ›Sieht komisch aus, wie Kinderkrakel. Irgendwie behindert.‹ Er wirft einen triumphierenden Blick um sich. Dennis kichert. Said, der nichts versteht, harrt mit freundlichem Lächeln an der Tafel aus. Lena hat inzwischen einen heißen Kopf. Said tut ihr so leid. Die Typen amüsieren sich auf seine Kosten und er weiß es nicht. [...] Said steht immer noch an der Tafel. Er schaut überrascht und verständnislos auf die Szene. Er weiß nicht, was man jetzt von ihm erwartet. Er bleibt einfach stehen. [...] ›Was ist das Merkmal arabischer Schrift?‹, fragt der Lehrer. Dennis starrt ihn an. ›Fragen Sie mich das im Ernst?‹ Bernheimer nickt. ›Ja, ich frag es im Ernst. Du siehst es an der Tafel. Und dein Freund Noah fand es doch so komisch, was ist denn komisch? Wieso hast du gelacht?‹ ›Keine Ahnung‹, sagt Dennis. ›Setz dich anständig hin, wenn ich mit dir rede!‹, fordert Bernheimer. Dennis rappelt sich ein bisschen auf, macht den Rücken weniger krumm und zieht die Beine unter den Stuhl. ›Mann!‹, ruft jemand. ›Der Typ schreibt von rechts nach links! Ist doch logisch!‹ ›Gut, danke!‹ Bernheimer atmet tief aus und geht wieder nach vorn an die Tafel. Ein zweites Mal legt er Said die Hand auf die Schulter und verharrt einen Augenblick so neben ihm, blickt in die Reihen der Schüler. ›Said ist vor einer Woche aus Bagdad zu uns gekommen. Der Krieg im Irak ist ja offiziell schon lange vorbei, aber der Terror hält die Menschen dort immer
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noch fest im Griff. Täglich gibt es Bombenattentate, täglich fahren Killerkommandos durch die Stadt.‹ ›Ey, scharf‹ Ein Junge ganz vorn in der Fensterreihe, kurz geschorene schwarze Haare, springt hoch, tut so, als habe er eine Pumpgun in der Hand und macht ›Tuff-tuff- tuff-tuff-tuff‹. Der Lehrer wirbelt herum. Ein paar Schüler kichern. ›Was soll das, Ömer?‹, fragt er. Mit drei Schritten ist er bei dem Jungen, legt ihm seine Hand in den Nacken. ›Was soll dieser dämliche Kommentar?‹ Ömer sagt nichts. Er sitzt da mit krummem Rücken und schielt quer zu seinem Kumpel. Der blickt grinsend zur Tafel, wo Said immer noch steht und nicht weiß, wie er sich verhalten soll. ›Said hat Schweres durchgemacht‹, sagt Bernheimer, nachdem er wieder zurück zur Tafel gegangen ist. ›Ich hoffe, dass ihr so viel Disziplin und Vernunft aufbringt, euch eurem neuen Mitschüler gegenüber anständig zu benehmen...‹ Er macht eine Pause. ›Im Übrigen: Ich versuche seit vier Jahren, euch Englisch beizubringen. Das war die Theorie. Jetzt habt ihr eine gute Gelegenheit, euer Englisch ein bisschen in der Praxis auszuprobieren. Aber ich wette, Said spricht viel besser als ihr.‹ Er nickt Said zu. ›nochThank you, Said. Go to your seat, please.‹.“ (BLOBEL 2007: 126130) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie sie sich bei der Szene fühlen bzw. was ihnen beim Lesen aufgefallen ist; • wie sie die Protagonisten in der Szene erleben und mit wem sie sympathisieren; • ob sie Situationen kennen, wenn jemand neu in die Klasse kommt bzw. welche Position sie eingenommen haben bzw. wie es ihnen dabei ging. • wie sie den Lehrer erleben; • welche Atmosphäre bei der Szene in der Klasse herrscht bzw. wie sie die Atmosphäre beschreiben würden; • was die Atmosphäre in einem Klassenzimmer ausmacht bzw. wie sie die Atmosphäre in der eigenen Klasse erleben; • wo sie zuletzt unbekannte Schrift gelesen haben und wie die Schrift auf sie wirkte; • wie wichtig ihnen Kopfbedeckung ist bzw. wie unterschiedlich sie eine Mütze oder ein Kopftuch wahrnehmen;
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• wie sie sich an unterschiedlichen Positionen im Klassenzimmer fühlen
bzw. wie es ist, vorne oder hinten zu sitzen bzw. wie es ist, vor der Klasse zu stehen. Sehnsuchtsorte Zur Lebenswelt gehört auch, dass man nie ganz und gar in ihr verhaftet ist. Umso mehr, wenn man in eine Fremdwelt eintaucht, wie der Protagonist Said. „Sehnsuchtsorte“ sind für ihn in diesem Moment erinnerte Orte, die von wichtiger Bedeutung sind und die er über den Brief in der Beziehung mit seinem Großvater beschreibt. „[Eines Abends schreibt Said aus Deutschland einen Brief an seinen Großvater., F.R.] Lieber Großvater, im Namen Allahs, des barmherzigen Gottes. Sei gegrüßt von Said, dem Sohn deines Sohnes Mehmet. Ich danke Dir sehr herzlich für Deinen Brief. Es war so schön, von Deinem Dorf zu hören, aber es hat auch wehgetan, an euch alle zu denken. Und an das, was passiert ist. Weshalb ich hier sein muss, in Berlin. Möge Allah meine Mutter und meinen Vater im Paradies für das entschädigen, was sie ertragen mussten. Möge er ihnen das Paradies zeigen und sie dort leben lassen. Du möchtest wissen, wie es mir in der Fremde geht, hier in Deutschland, und ich sage Dir, es geht mir ganz gut. Soweit es gut gehen kann. Onkel Bassam möchte wie ein Vater für mich sorgen, das sagt er mir immer wieder, und seine Frau Sonja übt jeden Tag deutsche Wörter mit mir. Ich bemühe mich sehr, aber ich glaube, ich könnte bessere Fortschritte machen, wenn ich mich mehr konzentrieren würde, aber es sind so viele Bilder aus Bagdad in meinem Kopf, von den Eltern, von den Dingen, die geschehen sind. Und den Menschen, die früher um mich waren und die ich vermisse. Meinen Freund Achmed zum Beispiel, den Du kennenlernen konntest. Weißt Du eigentlich, dass wir von der Tamuz-Brücke in den Tigris gesprungen sind! Das sind zehn Meter! Ich denke oft an Achmed, und ich bete, dass ihm nichts zustößt. Vielleicht, wenn Du wieder einmal nach Bagdad reist... könntest Du nach ihm sehen und ihn von mir grüßen? Es würde mich sehr freuen, von ihm zu hören. Ich träume davon, Dich in den Ferien zu besuchen. Onkel Bassam sagt, dass es vielleicht möglich ist, wenn sich die Situation bis dahin gebessert hat. Hier bekommt man im Sommer sechs Wochen Ferien, viel
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weniger als bei uns, aber es ist auch nicht so heiß, nur so warm wie in Bagdad der Frühling. Ich kann Dir helfen bei den Ziegen, wenn Du so viel mit der Politik, wie Du schreibst, zu tun hast. Ich kann überhaupt im Haus helfen, und am Feiertag könnten wir in die Berge gehen wie damals, als ich Dein Gewehr in die Hand nehmen durfte. Ich weiß noch heute genau jeden Baum und jeden Stein auf unserem Weg. Manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, gehe ich in Gedanken von Deinem Haus die Straße hinab durch das Dorf, an dem Brunnen vorbei und an der Autowerkstatt und dann vorbei an dem Café, wo die Bergstraße nach Alfach beginnt, der nächsten Stadt. Diese schöne Straße mit den alten Steinmauern und den Höhlen in den Felswänden darüber, wo die Adler ihre Nester haben. Weißt Du noch, wie dieser Adler genau auf uns zugeflogen ist? Und ich mich vor Schreck auf den Boden geworfen habe? Ich dachte, eine Rakete würde uns treffen. Und wie Du mich ausgelacht hast. Ein Feigling bin ich nicht, Großvater, aber es fällt mir auch nicht leicht, dieses fremde Leben hier zu leben. [...] Ich vertraue Dir alles an, Großvater, was mich bewegt. Ich grüße Dich ehrfürchtig und hoffe, dass meine jugendlichen Sätze und meine einfachen Gedanken Dich nicht verärgern. Du bist so weise, wie ich einmal werden möchte. Schreibst Du mir bald? Dein Briefpapier hat nach Gewürzen gerochen, nach Zimt und Muskat. Ich habe Deinen Brief unter mein Kopfkissen gelegt. In tiefer Verehrung. Dein Enkelsohn Said.“ (BLOBEL 2007: 133-138, eigene Hervor.) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie die ehrfürchtige Beziehung von Said zu seinem Großvater auf sie wirkt; • ob man selbst Sehnsuchtsorte hat und was man damit verbindet; • ob man das Gefühl kennt, dass es einem in einem „Hier“ gut geht und man sich trotzdem nach einem „Dort“ sehnt; • ob sie auch Orte im Kopf haben, die sie in Gedanken abgehen können bzw. welche Vorstellungen sie von diesen Orten haben bzw. welche Gerüche und Geräusche es dort gibt; • mit wem sie ihre Sehnsuchtsorte teilen; • welche Aktivitäten man mit den Sehnsuchtsorten verbindet; • inwiefern Sehnsuchtsorte Heimat bedeuten.
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Brigitte B LOBEL – „Der rechte Weg“ Ich führe von der Jugendbuchautorin Brigitte BLOBEL eine Szene aus einem weiteren Buch an. In „Der rechte Weg“ rutscht die Schülerin „Linda“ Stück für Stück in die rechte Szene in ihrer Stadt ab. Wesentlich für diese Entwicklung ist „Hannes“, den sie in der Schule kennengelernt hat und mit dem sie durch die hier dargestellte Szene in eine immer engere Beziehung kommt. Protestorte In dieser Szene wird der Marktplatz „Neumarkt“ zum Teil einer Demonstrationsroute. Demonstrationen sind nicht nur ein in demokratischen Systemen zugelassener Ort der kollektiven Meinungsbekundung. Durch die Menschenansammlung entsteht auch eine bestimmte Atmosphäre. Das temporäre Zusammenkommen der Menschen führt Linda in eine besondere Situation. Der Neumarkt, dem sie möglicherweise ansonsten kaum Beachtung schenkt, wird jetzt als Schauplatz von ihr auf andere Weise erfahren. „Der Stephansbrunnen ist der Mittelpunkt des Neumarktes, eines eher hässlichen kleinen Platzes, auf dem mittwochs und samstags der Gemüsemarkt stattfindet. Lindas Mutter liebt den Markt, weil es dort neuerdings einen Stand mit italienischer Pasta gibt. Hausgemachte Linguine und Papardelle mit Ricotta und Spinat gefüllte Ravioli. [...] Als Linda den Neumarkt erreicht, ist der Brunnen schon umlagert. Die spärlichen Straßenlampen geben weniger Licht als die Fackeln der Herumstehenden und die Lichtkegel der Taschenlampen. Es ist eine merkwürdige Szene. Wie schemenhaft gehen Menschen hin und her, sie hört kein Lachen, keine Musik. Es sind fast alles unbekannte Gesichter. In Großwalde kennen sich praktisch alle vom Sehen. Das verwirrt sie einen Moment. Unsicher bleibt sie stehen. Doch plötzlich löst sich eine Figur aus der Menge und kommt mit verlegenem Lächeln auf sie zu. ›Linda! Das ist ja großartig! Du bist gekommen.‹ ›Waren doch verabredet.‹ ›Hätte ja auch sein können, du überlegst es dir noch mal.‹ Linda schaut ihn verblüfft an. ›Warum?‹ Hannes greift nach ihren Händen, die in dicken Fäustlingen stecken, Linda will nicht noch einmal frieren. Sie spürt die Wärme seiner Hände durch ihre Handschuhe hindurch. Er hat eine schwarze Wollmütze tief in die Stirn gezogen. ›Komm‹, sagt er herzlich. ›Ich stell dich den anderen
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vor. Es geht gleich los.‹ Er zieht sie mit sich und Linda folgt ihm widerstandslos. Anfangs ist sie etwas nervös. Aber dann entdeckt sie in der Gruppe drei oder vier andere Schüler ihrer Schule, und so legt sich die leichte Beklemmung schnell. Hannes stellt Linda den anderen vor. Einige reagieren mit leichtem Hochmut, wahrscheinlich, weil das cool wirkt, andere schauen sie neugierig und offen an. [...] Sie schiebt sich vorsichtig an einen Jungen heran, der eine Klasse über ihr ist. Er heißt Joachim und war ihr schon mal aufgefallen, als sie zusammen an einem Vorlesewettbewerb teilgenommen hatten. [...] Sie begrüßen sich freundlich. Linda deutet mit den Augen auf die Gruppe. ›Hast du eine Ahnung, wer die alle sind? Und woher die kommen?‹ Joachim schaut sie ruhig an. ›Du kennst sie nicht?‹ ›Nein.‹ ›Du kommst heute das erste Mal zu uns?‹, fragt er. Linda zuckt mit den Schultern. ›Ich komme nicht direkt zu euch, sondern wegen der Demo. Hannes hat mir davon erzählt.‹ [...] Joachim beobachtet sie. ›Es geht gleich los‹, sagt er, als sie sich ihm wieder zuwendet. ›Wir warten nur noch auf die Trommler.‹ ›Auf die Trommler?‹ ›Klar, wir wollen doch Stimmung haben.‹ Die Trommler sind wenig später da. Es sind fünf oder sechs. Enthusiastisch werden sie von den anderen begrüßt. Dann geben sich die Trommler ein Zeichen, einer schlägt einen Trommelwirbel und plötzlich setzen sie sich in Bewegung. Wie von selbst bildet sich eine Art Block. Sie gehen in Viererreihen, und Linda ist mit Hannes in der zweiten Reihe, gleich hinter den Trommlern. Zwei bedienen ihre Trommeln mit Schlägeln, die anderen beiden benutzen die Hände. Hinter ihr gehen drei weitere Reihen. Die Marschierer an den Außenseiten tragen die Fackeln, ihre Gesichter werden gespenstisch schön beleuchtet. Die Trommler haben einen Rhythmus, der ins Blut geht, nach dem man gut laufen kann. Ihr wird schnell warm, sie lächelt. Hannes beugt sich zu ihr. ›Gut, oder?‹ Linda nickt. ›Freut mich‹, sagt Hannes. Linda lächelt. [...] Als sie in die Kasernenstraße einbiegen, sieht Linda, wie viele Menschen sich schon hinter den Absperrungen drängeln. Nirgendwo ist Polizei zu sehen. Es herrscht eine angeregte Stimmung, die aber nichts Aggressives hat. So wie Linda, die sich einfach nur eine Abwechslung vom Alltag verspricht, geht es wohl vielen. Manche von ihnen tragen selbst gebastelte Transparente oder halten Schilder hoch. Wir fordern: Volksabstimmung gegen Ausländer- schwemme!, ist da zu lesen. Und: Das Boot
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ist voll! Fackelträger beleuchten die Szene. Linda entdeckt unter den Leuten eine Bekannte, die Besitzerin der Schlachterei Wolgast, wo sie oft einkaufen. [...] Die Trommler hören auf, als sie zu der großen Gruppe stoßen. [...] Die Leute stehen auf der Straße vor der Kaserne, auf den Bürgersteigen und auf der kleinen Rasenfläche auf der anderen Straßenseite, die jetzt nur eine Matschwiese ist. Linda achtet darauf, dass sie ihre Schuhe nicht ruiniert. Sie bleibt auf dem Asphalt. Neben ihr stehen zwei Männer mit roten Gesichtern, die immerzu Parolen brüllen, erst nach einer Weile versteht sie, was die rufen: ›Wir wollen keine Asylanten!‹ und ›Unsere Stadt muss sauber bleiben!‹ Einer der beiden Männer, das erkennt Linda erst jetzt, ist Herr Krämer, der Hausmeister ihrer Schule. Als Krämer Lindas Blick spürt und sich zu ihr umdreht, lächelt Linda unsicher, der Hausmeister aber nickt ihr eifrig zu und brüllt weiter: ›Wir wollen keine Asylanten!‹ [...] Trommelwirbel. Linda schaut sich nach ihren Trommlern um. Aber sie sind irgendwo in der Menge untergetaucht. ›Meine beiden älteren Töchter sind acht und neun Jahre alt‹, ruft eine Frau. ›Sie besuchen die Grundschule hier ganz in der Nähe. Werden diese Männer jetzt vor unseren Schulen stehen und Drogen verkaufen? Ich sage, hören Sie auf Ihre Bürger, Herr Wolff! Wir wollen Ihre Asylanten nicht!‹ Trommelwirbel, Johlen und Pfeifen. Als alle klatschen, klatscht Linda mit. Hannes ist plötzlich wieder neben ihr. Sein Mund wieder an ihrem Ohr, das eiskalt ist. ›Gute Stimmung, was?‹, meint er. Linda nickt. Er deutet auf Krämer. ›Hast du unseren Hausmeister schon gesehen?‹ ›Ja.‹ ›Da sind viele Leute gekommen‹, sagt Hannes mit leuchtendem Gesicht, ›von denen ich nicht gedacht hätte, dass die heute Abend hier sind. Das wird eine große Bewegung, die alle mitreißt! Dann bis gleich.‹.“ (BLOBEL 2014: 47-53) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie sie die Stimmung wahrgenommen haben, die zwischen den Menschen auf der Demonstration herrscht; • wie sich die Atmosphäre am Neumarkt im Unterschied zu einem Markttag verändert hat; • wie die Stimmung des Mitmachens und Mitgerissenwerdens entsteht; • wie sie die Teilnehmer der Demonstration wahrgenommen haben;
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• wie die Redner auf sie gewirkt haben; • ob sie die von Linda beschriebene Kälte der Finger und die Wärme der
Masse nachempfinden können bzw. welche Wirkung das auf sie hat; • wie die Trommeln und Fackeln auf sie wirken bzw. welche weiteren Ge-
genstände zu einer Demonstration gehören; • ob sie selbst an Demonstrationen teilgenommen haben und wie sie die De-
monstrationen erlebt haben bzw. wann sie an einer Demonstration teilnehmen würden. Jan FREY – „Ich, die Andere“ Die Kinder- und Jugendbuchautorin Jana FREY beschreibt in „Ich, die Andere“ das Leben von Kelebek. „Kelebek ist Deutsche. Und sie ist Türkin“ (Auszug aus dem Klappentext). Der Roman ist aus der Perspektive der jungen Frau geschrieben, die sich in „Janosch“ verliebt hat und sich durch die Kontrollen ihres Bruders „Sercan“ immer weiter in die Ecke gedrängt fühlt. Lernorte Kelebek befindet sich auf einer Schultoilette mit ihren Freundinnen. Sie funktionieren den Ort um, indem sie ihn als Versteck und Möglichkeit zum Rauchen nutzen. Es wirkt wie eine Alltagsszene. Eine besondere Situation entsteht dadurch, dass auch andere Mädchen auf die Toilette wollen, denen Kelebek und ihre Freundinnen aber den Zutritt verwehren. „Ich schrieb eine schlechte Mathearbeit, genau wie Ana und Freya. Nur Emma schrieb eine Eins, sie schrieb immer Einsen in Mathe. ›Der Wahnsinn liegt mir einfach, keine Ahnung warum,‹ sagte sie, als wir in der Pause auf der Mädchentoilette waren. Freya und Ana schminkten sich ihre Augen nach, während ich vor dem Spiegel mein neues rotes Kopftuch zurechtzupfte. Elena, die ebenfalls in unsere Klasse ging, zündete sich eine Zigarette an. ›Der erste Zug ist immer der beste‹, sagte sie und zog genüsslich. Diese Toilette im obersten Stock war unser Pausenversteck, wenn wir keine Lust hatten, in den Hof zu gehen. Hier herauf verirrte sich nur selten jemand. Aber an diesem Morgen kamen doch ein paar jüngere Mädchen aus der Achten. In ein Gespräch vertieft, schoben sie die quietschende Tür auf.
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›Besetzt!‹, riefen Elena und Freya ihnen ungehalten entgegen. Die drei Mädchen blieben im Türrahmen stehen. ›Habt ihr nicht gehört?‹, knurrte Elena, die Beine baumelnd auf dem Fensterbrett saß. ›Zieht Leine, aber dalli!‹ ›He, wir können hier doch alle...‹, sagte Ana, ganz wie sie es immer war: friedlich. ›Nein, ist schon okay‹, fiel ihr eines der Mädchen mit kalter Stimme ins Wort und verzog das Gesicht. ›Auf Türkentussis mit Kopftuch haben wir sowieso keinen Bock!‹ Und damit ließen sie die Tür laut zurück ins Schloss krachen. ›Bekloppte...‹, war alles, was Elena achselzuckend dazu sagte.“ (FREY 2010: 30-31) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie sie die verschiedenen Handgriffe (das Schminken oder das Zurechtmachen des Kopftuchs) wahrnehmen, mit denen die Mädchen ihr Äußeres herrichten; • wie Intimität auf einer Toilette entsteht bzw. warum die Toilette in der Schule mehr ist, als nur ein Sanitärbereich; • ob sie Situationen kennen, in denen die Nationalität benannt und abgewertet wird; • ob sie wissen, wie es sich anfühlt, wenn man auf ein Merkmal reduziert wird; • ob sie Situationen kennen, in denen sie anderen den Zugriff auf einen Ort verweigert haben oder in denen sie selbst ausgeschlossen wurden. Orte der Gewalt Zu Hause wohnt Kelebek unter anderem mit ihrem Bruder Sercan zusammen. Als Kelebek ihre Freundin Ana besuchen will, bietet ihr ihr Bruder seine Begleitung an. Als Kelebek ablehnt, wird Sercan wütend und hält ihr mit Medienberichten vor, wie gefährlich die Straßen für Frauen sein. „›Ich will nicht, dass du alleine unterwegs bist‹, sagt Sercan [der Bruder von Kelebek, F.R.] unzufrieden. ›Ich will nicht, dass du ohne Begleitung in der Stadt herumläufst.‹ ›Ich gehe nur zu Ana‹, sage ich ungeduldig und binde mir mein neues Kopftuch um. Tante Burcu hat es mir letzte Woche geschenkt, sie hat es auf einem türkischen Kulturfest gesehen und fand, es passt gut zu meinen Augen. ›Ich kann dich hinbringen‹, sagt Sercan und lächelt mir zu. ›Nein, ich möchte alleine gehen, es ist doch nicht weit‹,
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wehre ich ab. ›Außerdem ist es heller Tag. Was soll mir passieren? ‹ ›Verdammt, Kelebek, die ganze Stadt ist voller schräger Typen‹, sagt Sercan. Sercan ist viel unterwegs, er weiß viel, er will mich beschützen. Er sagt, die deutschen Städte sind voller Verbrecher, Vergewaltiger und Mörder. Manchmal zeigt er mir Zeitungsartikel oder Berichte aus dem Internet, die er extra ausdruckt. ›Siehst du?‹, braust er auf. ›Da, ein vergewaltigtes Mädchen! Da, eine Frau, erschossen, als sie aus der Disco kam...‹ Ich gehe trotzdem alleine. Unsere Eltern sind nicht zu Hause, um Sercan zuzustimmen und es noch schwieriger zu machen.“ (FREY 2010: 46-47) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wann sie das Gefühl haben, jemanden beschützen zu müssen und warum; • wie wichtig es ihnen ist, dass sie andere beschützen; • wie ‚sicher‘ sie ihre Gegend erleben; • ob sie sich über ihre Gegend in den Medien informieren; • ob sie zur Sicherheit bewusst Orte meiden oder aufsuchen; • ob sie für mehr Schutz ihre eigene Freiheit aufgeben würden; • wie sicher sie türkische Städte wahrnehmen; • ob die eigene Wohnung von einem Schutzort auch zu einem Gefängnis werden kann und warum. Sehnsuchtsorte Kelebek denkt gerne an die Türkei. Sie stellt sich verschiedene Erlebnisse an Sommertagen vor. Sie fühlt sich so wohl in Istanbul, dass sie ihrer Mutter die unbeantwortete Frage stellt, warum sie zurück nach Deutschland muss. „Sercan [der Bruder von Kelebek, F.R.] ist in Deutschland geboren. Genau wie unsere Eltern. Aber die Familie meiner Mutter stammt aus Sidanya am Marmarameer. Die Familie meines Vaters aus Izmir. Es war schön, an die Türkei zu denken. Wie bunte, glänzende Glasperlen zogen sich unsere Sommer dort durch meine Erinnerung. Ich kannte Istanbul und Izmir und Antalya und Ankara, die laute Hauptstadt der Türkei. Ich war in Pamukkale gewesen und liebte Sidanya, wo jetzt nur noch meine blinde Tante Ayse lebt, meine letzte Urgroßtante, die schon fast hundert Jahre alt ist.
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Wir fuhren jeden Sommer nach Istanbul. Ich erinnerte mich plötzlich an einen Tag am Strand. Ich war damals erst fünf oder sechs. Das Meer rauschte, und die Luft roch nach Sommer und Salz und Wasser und Sonnenschein und Fröhlichkeit. Wir machten ein großes Picknick, es gab Böreks und Köftes und eine große Karpuz, eine Wassermelone. Überall am Strand wuchsen riesige Pinienbäume. Unter ihnen pflegten wir sonntags zu picknicken. Einer meiner Onkel band für uns Kinder eine Schaukel in einen der Bäume. ›Willst du fliegen, kleiner Schmetterling?‹, fragte er lachend und hob mich als Erste auf die Schaukel. Mit meinem roten Kleid flog ich durch die weiche, warme, türkische Luft. ›Ich will immer, immer, immer hierbleiben!«, rief ich meiner Mutter zu, die unser Mittagessen auftischte. »Warum müssen wir überhaupt zurück nach Deutschland? Warum? Warum? Warum?‹ Meine Mutter und die Tanten lachten. Eine Antwort gaben sie mir nicht.“ (FREY 2010: 3233) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • ob sie öffentliche Orte kennen, an denen sie sich wohlfühlen bzw. wo sie sein können, wie sie sind; • ob sie sich Sehnsuchts- bzw. Wohlfühlorte vorstellen bzw. was sie an diesen Orten machen bzw. wie es an diesen Orten riecht bzw. wie dort das Licht ist bzw. welche Dinge es an diesen Orten gibt; • ob sie das Gefühl kennen, angekommen zu sein an einem Ort oder von einem Ort weg zu müssen. Weitere Literatur Bisher wurde Literatur vorgestellt, die entweder von einer Schülerin verfasst oder für Jugendliche geschrieben wurde. Auf diese Weise ist das Material auch an Erfahrungen junger Schüler anschlussfähig. Die Vielfalt der folgenden Textsorten kann in der höheren Klassenstufe genutzt werden, um durch das Material die Heimwelt zu reflektieren. Uta B ETH & Anja TUCKERMANN – „‚Heimat ist da, wo man verstanden wird.‘ Junge Vietnamesinnen in Deutschland“ In dem Buch „‚Heimat ist da, wo man verstanden wird.‘ Junge Vietnamesinnen in Deutschland“ (BETH & TUCKERMANN 2008) stellt das Berliner Archiv
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für Jugendkultur Zeugnisse aus den Deutsch-Vietnamesischen Beziehungen vor. Zu DDR-Zeiten wurden Vietnamesen als „Vertragsarbeiter“ angeworben. Die Verwaltung der Ankunft und Unterbringung der Menschen bezeugen verschiedene Akten aus dem Staatsapparat der DDR, die ich im Folgenden darstelle. Orte der Gastlichkeit Durch die Flucht vieler DDR-Bürger in die Bundesrepublik bis zum Mauerbau im August 1961 entstand eine hohe Nachfrage nach Arbeitern. Die Nachfrage sollte über gezielte Arbeitsmigration über Anwerbeabkommen mit unter anderem Kuba, Mosambik und Vietnam ausgeglichen werden. Die Menschen arbeiteten vor allem in textil- und metallverarbeitenden Fabriken. Die Unterbringung wurde über bewachte Wohnheime organisiert, die gezielt an peripheren Lagen erbaut wurden (BETH & TUCKERMANN 2008: 18). Die Arbeiter lebten die fünf bis sieben Jahren, die sie im Schnitt in der DDR verbrachten, möglichst abgeschirmt von der übrigen Bevölkerung. Die Quelle zeigt eine Akte aus dem DDR-Bestand, indem die Ausstattung der Wohnheime geregelt wurde.
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Abbildung 22: Auszug aus Verwaltungsunterlagen der DDR zur „Ausstattung von Gemeinschaftsunterkünften für ausländische Werktätige“
Quelle: BETH & TUCKERMANN 2008: 20-21
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • welchen Eindruck sie von den Akten haben bzw. wie die Akten auf sie wirken bzw. was ihnen beim Lesen aufgefallen ist; • wie sie sich die Räume vorstellen; • wie die Arbeiter in den Räumen lebten; • wie viel Gegenstände sie im eigenen Zimmer haben. Der Lehrer kann die Schüler eine Liste erstellen lassen.
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• wie wichtig es ist, dass sich Gäste wohlfühlen – zum Beispiel auch in ei-
nem Hotel; • welche Erwartung sie bei einem Schülerjob im Ausland an die Unterkunft haben (Wo sollte sie sein? Wie sollte sie ausgestattet sein?); • wo es in der DDR Wohnheime gab und die Schüler zu einer Internetrecherche motivieren; • welche Idee sie zu alternativen Formen der staatlich organisierten Unterbringung haben. Karen K RÜGER – „Eine Reise durch das islamische Deutschland“ Um sich auf die Suche nach der Vielfalt des „deutschen Islam[s]“ (Klappentext) zu begeben, reiste Karen KRÜGER (2016) durch „dieses unbekannte, das islamische Deutschland“ und begegnete dabei verschiedenen Menschen und Orten. Ich habe exemplarisch die Beschreibung eines ‚Orts der Gewalt‘ gewählt. Orte der Gewalt Karen KRÜGER beschreibt in diesem Text ein Viertel, in dem die rechtsextreme, terroristische Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) einen Anschlag verübt hat. „Rund um die Keupstraße in Köln-Mülheim soll es ein gutes Dutzend Hinterhofmoscheen geben. Ab den sechziger Jahren siedelten sich dort besonders viele Gastarbeiter an. Die Mieten in den heruntergekommenen Häusern waren günstig, und zur Arbeit gelangte man bequem zu Fuß: Die benachbarten Kabelwerke Felten & Guilleaume waren einer der Industriebetriebe, die türkische Arbeitskräfte nach Köln geholt hatten. Vor dem Café am Eingang der Straße stehen schon Tische auf dem Bürgersteig. Ältere türkische Männer trinken ihren Morgenkaffee, blinzeln in die Sonne, lesen türkische Zeitungen, plaudern. Die Keupstraße ist wie eine Straße in einer türkischen Kleinstadt. Sie scheint völlig losgelöst vom übrigen Köln zu existieren. Sie ist fest in türkischer Hand, die Kölner nennen sie deshalb liebevoll ›Klein-Istanbul‹. Nur noch zwei der hier ansässigen 118 Betriebe haben deutschstämmige Inhaber. Einer ist die Druckerei Schallenberg, der andere der Kfz-Zulassungsdienst von Wolfgang Cziborra. Herr Cziborra hat einmal gesagt, er habe keine Ahnung, woher
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sein Familienname stamme, seine Zuwanderungsgeschichte sei schon lange vergessen. Der Duft von frischgebackenem Brot weht aus dem Eingang einer türkischen Bäckerei, aus einem CD-Laden erklingt die Melodie einer ›Saz‹. Vor einem Geschäft für Hochzeitsaccessoires begutachten drei junge Frauen hingebungsvoll die Auswahl kleiner Präsente, die ein türkisches Brautpaar den Gästen traditionellerweise als Erinnerung überreicht: Winzige Figürchen aus Porzellan, kleine Beutel aus durchsichtigem Stoff mit Muscheln, Perlen und andere Kostbarkeiten. Die Keupstraße ist ein beliebtes Ziel für türkische Brautpaare. Sie finden dort alles, was eine gelungene türkische Hochzeitsfeier braucht. Auch den passenden Fotographen, einer hat gleich nebenan sein Atelier. Hochzeitsporträts erzählen viel darüber, welche eheliche Rollenverteilung ein Paar für gesellschaftlich angemessen hält. Immerhin sind die Fotos Inszenierungen, bestimmt für Eltern, Freunde und Verwandte – und für die Vitrine des eigenen Wohnzimmerschranks. Es ist das Schaufenster, durch das Gäste wie zufällig einen Einblick ins Private erhaschen sollen. In traditionellen türkischen Kreisen hat der Ehemann der Fels in der Brandung zu sein und ist der Verteidiger der Familienehre. Die Ehefrau hingegen ist zuständig für Liebe und das Stiften von familiärer Geborgenheit. Es ist wichtig, dass die Braut den Hafen der Ehe rein und unschuldig betritt. Nichts anderes erzählen die beiden weichgezeichneten Hochzeitsporträts im Schaufenster des Fotoateliers: Sie, gekleidet in einen weißen Traum aus Tüll und Spitze, schaut wie ein scheues Reh, das vor dem zarten Kuss, den ihr Bräutigam ihr gerade auf die nackte Schulter haucht, zu erschrecken scheint. Auf dem nächsten Foto steht er männlich aufrecht hinter ihr, eine Hand ruht auf ihrer Schulter und sie hat einen Gesichtsausdruck, als könne das bis an ihr Lebensende gern so weitergehen. [...] Im Friseursalon ›Kuaför Özcan‹ in der Keupstraße Nr.29 sitzt ein kleiner Junge auf dem Frisierstuhl und bekommt gerade von einem Mann, dessen Gesicht ich von Fotos aus der Zeitung kenne, einen neuen Haarschnitt verpasst. Der Mann ist Özcan Yildirim, vor dessen Schaufenster Uwe Böhnhardt am 9. Juni 2004 das Fahrrad abstellte, auf dem der NSU einen Sprengsatz gefüllt mit 5,5 Kilogramm Schwarzpulver und 700 Zimmermannsnägeln montiert hatte. Er explodierte um kurz vor 16 Uhr. Zu einer Stunde, in der viele Eltern ihre Kinder aus dem nahegelegenen Kin-
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dergarten abholen. Die Fensterscheiben des Haarstudios zerbarsten, Nägel schossen durch die Luft, sie trafen Özcan Yildirims Bruder Hasan überall. Er überlebte, weil er zufällig gerade in den hinteren Teil des Geschäfts gegangen war. Außer ihm wurden noch 22 weitere Menschen verletzt, vier davon schwer, nicht mitgerechnet die seelischen Traumata, die das Attentat und alles, was darauf folgte, bei den Menschen in der Straße auslösten.“ (KRÜGER 2016: 78-80, eigene Hervor.) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • ob sie beim Besuch eines neuen Viertels ähnliche Erfahrungen wie die Autorin gemacht haben bzw. wie sie sich dabei gefühlt haben; • ob sie ähnliche Erfahrungen in einem typisch „deutschen“ Viertel gemacht haben; • wie sie Hochzeitsbilder oder Pärchenfotos beschreiben würden, die sie kennen (Der Lehrer könnte auf einer Homepage eines Hochzeitsfotographen die Bilder beschreiben lassen. Was lässt sich bei den Bildern von „Deutschen“ über das Rollenverhältnis sagen?); • wie sie mit der Erzählung von Karen KRÜGER die Atmosphäre der Keupstraße beschreiben würden (Die Schüler könnten danach mit Google Streetview die Straße „abfahren“ und Bezug auf die Atmosphäre nehmen.); • mit welchen Kategorien die Autorin die Keupstraße beschrieben hat (Mit den gleichen Kategorien könnten die Schüler eine Straße aus ihrer Gegend beschreiben). Der Lehrer könnte den letzten Abschnitt „Im Frisörsalon...“ erst nach der Besprechung des ersten Textteils ausgeben und die Schüler fragen, ob sich mit den Informationen ihr Blick auf das Viertel verändert hat. Ergänzung: Eko Fresh – Halt die Fresse No. 157 Der Hip-Hop-Sänger „Eko Fresh“ ist bekannt dafür, dass er das Thema „Deutsch-Sein“ und „Türkisch-Sein“ immer wieder aufgreift. Das Musikvideo „Halt die Fresse No. 157“ drehte Eko Fresh in der Keupstraße in KölnMühlheim. Eko Fresh rappt frontal in die Kamera, während er sich, begleitet von zwei Männern, durch die Keupstraße bewegt. Durch das Zuschneiden
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des Fotoausschnitts wird deutlich, wie wichtig die Atmosphäre auf der Straße für das Musikvideo ist8. Abbildung 23: I. Ein Standbild aus dem Musikvideo
Quelle: AGGRO.TV 2011
Abbildung 24: II. Das Standbild ohne Eko Fresh und den begleitenden Männern im Vorder- und Mittelgrund
Quelle: AGGRO.TV 2011
8
Damit wird ein anderer Schwerpunkt gelegt, als in existierenden Unterrichtsgestaltungen zum Hip-Hop im Geographieunterricht (BOSMAN 2012). BOSMAN bezieht sich auf die „imaginären Geographien“ (ebd.: 33). Die Schüler sollen bei BOSMAN die imaginären Geographien über Songtexte erarbeiten.
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Abbildung 25: III. Das Standbild nur mit Eko Fresh und den begleitenden Männern
Quelle: AGGRO.TV 2011
Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie die Atmosphäre in der Straße ohne die abgebildeten Protagonisten ist bzw. was ihnen auffällt in der Straße; • was ihnen auffällt, wenn sie das Bild der Keupstraße mit der Beschreibung von Karen KRÜGER vergleichen; • ob sie selbst solche Straßen kennen bzw. wie sie sie erlebt haben; • wie Eko Fresh und die beiden Männer auf sie wirken; • welchen anderen Hintergrund sie passend finden für die Geste von Eko Fresh. Eva ROSSMANN & Susanne S CHOLL – „Flucht-Wege. Neue Texte über Fremdsein und Heimat“ Der von ROSSMANN & SCHOLL (2016) herausgegeben Band beschäftigt sich literarisch mit dem Thema Fremdsein. Er eröffnet damit einen anderen Blick auf Menschen, deren Heim- und Fremdwelt sich nachhaltig verschieben. Orte der Bewegung Fluchtarien (Julya Rabinowich) „Slowakei ist eine Glocke. Slowakei ist eine Glocke. Slowakei ist eine Glocke...
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Dunkelheit vor mir. Feuerschein hinter mir. Schweigen in mir und Stille rundum. Das eine Kind an einer Hand, das andere im Arm, der Bub geht vor, vorsichtig im Dunklen. Rucksack schneidet ein, ist schwer, die ganze Vergangenheit zusammengeschnurrt auf einen Rucksack, und die will man nicht loslassen, irgendwas muss man festhalten, sonst wird man zu leicht, und immer leichter, ausgedünnt von Geschichte, bis man halb durchsichtig ist und dann ganz weg. Der Rucksack ist wichtig, er verankert mich auf fremder Erde, die wir unter unseren Füßen weiterschieben, wir stoßen uns ab, wie Schlittschuhläufer stoßen wir uns ab, und gleiten, gleiten aus dem Bekannten ins Ungewisse, und es ist kalt, wie beim Schlittschuhlaufen, aber kein heißes Teeglas in unseren Fingern, die ich kaum noch spüre, weder meine noch die vom Kind. Ich atme sie an, ich stoße alle Hitze hervor, die mir noch gehört, ich will ein Drache werden, ich werde rasend vor Wut, weil meine Wärme so eine erbärmliche kleine Warme ist im großen Dunkel des Waldes, wütend wie ein Drache, aber nicht mal halb so warm, das Feuer ist hinter uns, kein Widerschein gegen den Nachthimmel. Ich schnappe nach der kalten Luft, stoße die kalte Luft hervor, und die Finger vor mir bleiben, wie sie sind. Viel später werden wir uns wieder erwärmen, wir drei, der altere Bub, die Tochter und ich. Und die kleinen Finger werden so bleiben, wie sie sind, ich werde meine eigenen kaum aus ihnen lösen können, nur mit Gewalt, und ich werde nicht weinen, weil ich ja noch zwei Kinder weiterbringen muss und keine Zeit ist für solche Kinkerlitzchen wie Stehenbleiben. Ich geh also und geh, und meine Augen werden Stein, ich kann die Lider nicht senken, ich kann den Blick nicht lösen von dem Ziel, und das Ziel heißt: vorwärts. Das Ziel heißt: nicht innehalten.“ (ROSSMANN & SCHOLL 2016: 39-40, eigene Hervor.) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie sie sich beim Lesen des Textes gefühlt haben; • welche Atmosphäre des Ortes der Text für sie vermittelt hat bzw. woran sie die Atmosphäre festmachen;
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• was sie in einen Rucksack packen würden und warum sie sich für diese
Dinge entschieden haben; • mithilfe welcher Dinge sie verankert auf der Welt sind. beginnen (Gerhard Ruiss) ohne bleiben kein sehnen ohne sehnen kein bleiben ohne tränen kein gehen ohne gehen keine tränen ohne trennen kein begegnen ohne begegnen sich nicht kennen ohne füreinander ein empfinden nicht aneinander denken ohne aneinander denken füreinander kein empfinden. (Rossmann & Scholl 2016: 75) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • was ihnen an dem Gedicht aufgefallen ist; • welche Rolle die Verben in dem Gedicht spielen; • welche Assoziationen sie zu dem Gedicht haben; • wie es ist, an einem Ort zu bleiben. Günter W ALLRAFF – „Aus der schönen neuen Welt“ In dem breit diskutierten Buch „Aus der schönen neuen Welt“ von dem „journalistischen Zorro“ (NZZ, Klappentext) Günter WALLRAFF beschreibt der Autor, wie er „undercover“ in verschiedenen Rollen gesellschaftliche Milieus oder Segmente der Arbeitswelt erlebt. In dem hier zitierten Textbeispiel erzählt WALLRAFF von einer Bootsfahrt, an der er, als „Schwarzer“ verkleidet (Haut bemalt, schwarze Perücke), teilnahm.
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Ländliche Orte Stadt und Land sind über funktionale Kategorien immer schwerer auseinanderzuhalten. Der Lebensstandard ist über die Stromversorgung, die Anbindung an das Straßennetz oder die Wasserversorgung dem Städtischen gleichgestellt. Doch lebensweltlich zeigen sich „ländliche Orte“ anders als die Stadt. Auch das macht die Begegnungssituation, die WALLRAFF hier herbeigeführt hat, so interessant. „Fürstlich sind die Gärten, an denen wir entlangfahren sollen. Der muskelbepackte Gondelkapitän empfängt uns in breitester sächsischer Mundart: ›Ich begrüße Sie ganz herzlich hier bei uns an Bord bei Ihrer Gondelfahrt. Wir umrunden den Hauptteil des Fürstenparks Wörlitz, und zwar den Schlossgarten.‹ Ich habe mich als Mitfahrer rechtzeitig eingefunden und als einer der ersten auf dem kleinen flachen Ruderkahn Platz genommen, der ringsum mit Bänken versehen ist. Ich sitze hinten, neben mir bleibt alles frei, obwohl es nach und nach eng wird auf dem Boot. Einer der Gäste, ein auf den ersten Blick nicht unsympathisch wirkender Zeitgenosse – Typ Gymnasiallehrer Physik und Mathematik –, schiebt sich vorsichtig auf der Längsbank zu mir hin, schaut mich an und gibt eine Bestellung auf: ›Ich hätt’ gern zwei Bier.‹ Als ich nicht reagiere, wiederholt er: ›Zwei Bier, bitte.‹ Wie ist er auf die Idee gekommen? Ich habe keine Kellnerkluft an, keine Bierflaschen in der Hand, keine Gläser, kein Geschirrtuch, ich stehe nicht einmal, sondern sitze hier wie er. ›Kein Service, nix Service?‹ Er lässt nicht locker. ›Nee, nee‹, antworte ich, ›nix Service‹ und habe erst einmal Ruhe. Dass ich ihm lächelnd Paroli geboten habe, macht mich in seinen Augen jedoch nicht sympathischer. Jedenfalls hält der schlanke, graue Herr Abstand, obwohl es auf dem Boot immer enger wird. Der Bootsführer fordert seine Gäste auf, doch bitte aufzurücken. Aber der Mann hält dagegen: ›Ob wir das wollen, das ist hier die Frage. Ich will mal hier genießen meine Bootsfahrt.‹ Doch der Kapitän der Barke lässt keine Ausrede gelten und wiederholt seine Aufforderung. So setzt sich der Vorsichtige schließlich neben mich - ›rutsch mal ein Stück hin‹ -, unter den mitleidigbelustigten Blicken der anderen Reisenden. Es muss wohl an meinem Aussehen liegen. Ich bin schwarz. Auf dem Kopf trage ich eine Perücke mit krausen schwarzen Haaren [...]. Ein Jahr
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lang reise ich immer wieder als ›Schwarzer‹ durch die deutschen Lande, in Ost und West.“ (WALLRAFF 2009: 9-10) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • ob sie schon im Fürstenpark waren (Der Lehrer könnte die Schüler Abbildungen von Ansichtskarten im Internet recherchieren lassen.); • wie sie sich eine Gondelfahrt vorstellen; • was für eine Stimmung auf so einem Boot ist; • wer auf so einem Boot typischerweise mitfährt; • wie man andere Menschen erlebt, wenn es eng ist; • ob sie Situationen kennen, in denen sie andere Menschen nicht näherkommen lassen wollten; • ob sie selbst erfahren haben, dass die eigene Anwesenheit an Orten auffällige Reaktionen bei anderen ausgelöst hat; • ob sie selbst erfahren haben, dass die Anwesenheit anderer Menschen an Orten bei ihnen selbst Reaktionen ausgelöst hat. Anis Mohamed Youssef FERCHICHI – „Auch wir sind Deutschland. Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht“ Anis Mohamed Youssef FERCHICHI alias „Bushido“ ist einer der erfolgreichsten deutschen Hip-Hop-Musiker und hat das Aufkommen des Genres des „Gangsta-Rap“ wesentlich mit geprägt. In seiner Biographie „Auch wir sind Deutschland“ schildert FERCHICHI Situationen aus seinem Leben. Orte der Gewalt Straßen und Spielplätze9 lassen sich stadtplanerisch mit bestimmten Intentionen entwerfen, doch wie sie von jungen Menschen gelebt werden, steht auf einem anderen Blatt. FERCHICHI erzählt in diesem Textabschnitt, wie ein Spielplatz zu einem „Ort der Gewalt“ werden kann und den Kindern eine feindliche Umgebung bietet.
9
SCHMID (2001: 30) hat einen Ansatz vorgelegt, indem über die Auseinandersetzung mit Biographien die Bedeutung von Sportplätzen für Migranten untersucht wird.
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„Als ich in der Grundschule war, versuchte unsere Lehrerin einmal, uns zu vermitteln, wie lang ein Kilometer ist. Damit wir uns das besser vorstellen konnten, erklärte sie uns, dass die Hobrechtstraße, die in BerlinNeukölln von der Sonnenallee bis zum Maybachufer führt, genau einen Kilometer lang ist. Damit konnten wir was anfangen. Die Hobrechtstraße kannte jeder und ich habe sogar dort gewohnt. Die Hobrechtstraße war meine Welt, in der ich mich bewegte, in der ich mich auskannte und in der ich meine Freunde hatte. Dort gab es alles und irgendwie ist diese Straße auch ein Sinnbild für mein ganzes Leben. Man kann mit ihr noch mehr erklären als nur, wie viel tausend Meter sind. [...] In der Hobrechtstraße haben wir zuerst in der Hausnummer 22 gewohnt, mehr zur Sonnenallee hin. Mein bester Freund Mehmet hat am Maybachufer gelebt, das am anderen Ende der Straße lag. Bei Mehmet zu Hause haben uns immer seine Brüder ›therapiert‹. Die waren älter als wir und wir sind denen mächtig auf die Nerven gegangen, weswegen sie uns immer verprügelt haben. Manchmal haben sie auch ohne Grund zugeschlagen. Einfach so. Wenn ich zu Mehmet gegangen bin, musste ich am Spielplatz in der Pflügerstraße vorbei, der ungefähr auf der Mitte des Weges lag. Dort gab es einen Jungen, der schon etwas älter war als wir und Tobias hieß. Tobias hatte einen Schäferhund und verbrachte seine Zeit damit, Böller in Hundekacke zu stecken und diese dann in die Luft zu sprengen. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass der nicht ganz normal oder zumindest auffällig war. Tobias war schon 15, hing aber trotzdem mit uns Zehnjährigen rum und hat uns auch immer geschlagen. Normalerweise hätte er dafür von Mehmets Brüdern auf die Fresse kriegen müssen, aber die älteren Ausländerjungs haben sich nicht an den rangetraut, weil er diesen Schäferhund dabeihatte. [...] Tobias hatte beim Fußball einen unheimlich harten Schuss drauf, und wenn wir auf dem Bolzplatz waren, hat er uns immer abgeschossen. ›Abschrummen‹ nannte man das. Auf dem Spielplatz in der Pflügerstraße habe ich auch einmal meinen Bruder verloren, als ich nicht richtig aufgepasst habe. Wenn meine Mutter arbeiten war, musste ich immer babysitten. Mama hat sauber gemacht in der Stadtbücherei Kreuzberg, und wenn sie weg war, habe ich bei meinem Bruder die Windeln gewechselt, ihm zu essen gegeben, mit ihm gespielt oder bin mit ihm raus. Auf jeden Fall war ich auf diesem Spielplatz, mein Bruder war etwa drei Jahre alt und ich habe ihn aus den Augen verloren. Der Kleine ist
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dann allein nach Hause gegangen und ich habe den Schock fürs Leben bekommen. Mein Bruder war weg. Wir haben ihn überall gesucht und irgendwann kam Mama und hatte ihn auf dem Arm. Da hat es Ärger gegeben, aber so richtig Ärger.“ (FERCHICHI 2013: 31-35) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • wie sie sich die „Hobrechtstraße“ vorstellen bzw. wie die Atmosphäre dort ist; • wie sie das Zusammenleben der Geschwister von Mehmet beschreiben würden; • welche Assoziationen sie mit dem Ort „Spielplatz“ haben bzw. wie sich die Kinder hier auf dem Spielplatz begegnen; • ob es auch für sie Orte gibt, die ihre „Welt“ sind und was das für sie bedeutet; • ob sie auf Geschwister aufpassen mussten und wie es ihnen dabei ging. Sehnsuchtsorte Familiäre Orte sind ambivalent. Sie können, wie von Jana FREY beschrieben, zu „Orten der Gewalt“ werden. Andererseits sind sie auch „Sehnsuchtsorte“ nach Nähe und Zusammenhalt. In familiären Orten wird alltäglich eine bestimmte Kultur gelebt, die vor allem durch das Kennenlernen anderer familiärer Strukturen sichtbar wird. Die familiären Erfahrungsorte sind (sichtbar und unsichtbar) begrenzt und ermöglichen bestimmte Erfahrungen. „In Deutschland haben diese familiären Werte, dieser familiäre Zusammenhalt, trotz der gegenteiligen Beteuerungen, einen schlechten Stellenwert. Befremdlich erscheint es den meisten Deutschen, wenn man öffentlich betont, dass einem die Familie am wichtigsten ist und dann erst die Arbeit, die Karriere, das Gemeinwesen, der Staat und die Gesellschaft kommen. Zwar wird in sämtlichen Sonntagsreden gerne betont, wie wichtig die Familie ist und wie wichtig Kinder für unser Land sind, aber im Grunde ihres Herzens ist den Deutschen dieses Denken suspekt. Mehr als zwei Kinder zu haben ist mutig, mehr als drei Kinder gelten als asozial, Familienleben ist unproduktiv, das passt nicht in die freie Marktwirtschaft, in der man möglichst flexibel zu sein hat, immer erreichbar, bei Tag und bei Nacht, am Wochenende, im Urlaub. Und wenn die Firma nach Stuttgart zieht, na dann zieht man halt mit. Familie? Eher hinderlich.
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In so einer Welt wirken arabische Großfamilien natürlich extrem verstörend, wenn nicht sogar gefährlich und das Wort ›Großfamilie‹ ist ja bereits negativ besetzt und wird mit organisierter Kriminalität, bandenmäßigem Sozialhilfebetrug und Überfremdung gleichgesetzt. Aber ist das so richtig? Fehlt den Deutschen da nicht irgendwas? Manchmal habe ich den Eindruck, die deutsche Ablehnung der fremdländischen Familientraditionen entsteht aus einer Art Neid und entspringt der Sehnsucht nach genau diesem Zusammenhalt. Klar sehe auch ich den Vorteil, dass jeder so individuell wie möglich sein kann, so flexibel, wie es nur eben geht, aber muss es nicht auch so etwas wie einen festen Halt im Leben eines Menschen geben? Man kann doch nicht von jedem verlangen, dass er für seine Arbeit immer und überall erreichbar ist, und so denke ich mir manchmal, den Deutschen fehlen zwei Sachen in ihrem Leben: die Familie und das Café. Das Café gilt als Ort des Müßiggangs und der Unproduktivität und es wird über die ausländischen Männer gelästert, die dort bei Tee, Wasserpfeife und Kartenspiel anscheinend ihre Tage vergeuden. In der deutschen Gesellschaft fehlen diese Orte der Geselligkeit, wo man sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit austauschen kann. Eine tägliche Begegnungsstätte, an der man über die Erziehung seiner Kinder reden kann, über Fußball, Politik oder über das, was man heute in der Zeitung gelesen hat.“ (FERCHICHI 2013: 78-79) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • an welchen Orten ihre Familie zusammen kommt bzw. wie sie das Zusammenkommen der Familie zum Beispiel bei Festen erleben; • was Familie für sie bedeutet; • wie sie die Familie von Freunden erleben; • ob sie auch in Cafés gehen; • was sie in Cafés machen; • wie Cafés sein müssen, damit sie sich dort wohlfühlen; • wie Orte sein müssen, damit sie verweilen und damit sie sich austauschen können; • ob sie Orte kennen, die nur für Männer oder nur für Frauen bestimmt sind.
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August Wilhelm GRUBE – „Geographische Charakterbilder“ Um die Vielfalt des menschlichen Lebens auf der Erde auch ohne moderne Medien in den Geographieunterricht zu bringen, wurden um die Wende zum 20. Jahrhundert Reiseberichte genutzt. Sie sollten „Geographische Charakterbilder“ von anderen Ländern vermitteln. Beispielhaft zitiere ich einen Reisebericht. Orte der Bewegung Dieser Reisebericht versucht nicht, „objektiv“ zu wirken. Das macht ihn interessant für einen Geographieunterricht, der an dem Erleben durch (kulturelle) Begegnungen ansetzt. Durch die Reisebewegung stößt der Verfasser in neue Lebenswelten, die sich ihm an bestimmten Orten zeigen. Der Reisende beschreibt, was ihm auffällt und was ihn irritiert. Die Beschreibung würde man heute als Klischee abtun und dennoch ist sie von auffälliger Aktualität. Gerade die Irritation hinsichtlich dieser Auffälligkeit kann im Geographieunterricht zur Sprache gebracht werden. „Wer vom Schiffe aus beim Aufgehen des Tagesgestirns Neapel plötzlich vor sich sieht, meint einen Blick in das Paradies zu tun. Dieser Himmel, diese Luft lassen den Gedanken entstehen, dass man eine göttliche Vision schaue. Weit, offen, unermesslich erhebt sich vor uns das große Amphitheater, das man Neapel nennt, beherrscht von fünf Kastellen, und rechts von uns aus ragt aus der beim Garten Eden gleichen Ebene der gewaltige Kegel des Vesuv, eine Rauchsäule aufstoßend. (S. 461-462) [...] Wagen wir uns nun hinein in den Strudel des neapolitanischen Volkslebens! Es wird dir gut sein, lieber Leser, die Nerven zu überstählen; denn gewaltig sind die Erschütterungen, die einem in dieser Stadt hochwogenden Lebens hervorstehen. Schon wenn zwei auf der Straße ein Gespräch führen, klingt dies wie ein wütender Streit, und die Hausierer, Marktleute und Scharlatane gestikulieren zu ihren schreienden Verhandlungen mit einer Lebendigkeit, die wir Nordländer nur am Jongleur im Zirkus zu sehen gewöhnt sind.“ (GRUBE 1891: 463) Als Gesprächsimpuls kann der Lehrer die Schüler fragen, • was ihnen beim Lesen des Textes aufgefallen ist; • ob sie die dargestellten Schilderungen selbst erlebt haben bzw. ob sie sich darin wiederfinden;
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• • • •
ob die 100 Jahre alte Beschreibung noch Aktualität besitzt; warum ein anderes Zusammenleben beim Reisen so auffällt; ob sie Lust hätten, nach dieser Schilderung nach Neapel zu fahren; wie sie Marktsituationen in ihrer eigenen Stadt erleben bzw. wie sie die Atmosphäre dort schildern würden.
4.1.5 Verschiedene Methoden zur Umsetzung der medial vermittelten Begegnung 1. Gesprächseröffnung Mithilfe bestimmter Gesprächseröffnungen kann es gelingen, die Erfahrungen der Schüler zur Sprache zu bringen. Das ist sehr anspruchsvoll, weil es ein vertrauensvolles Miteinander in der Klasse und zwischen den Schülern und der Lehrkraft dafür braucht. Diese Beziehung lässt sich nur begrenzt methodisch herstellen. Daher können an dieser Stelle nur Hinweise erarbeitet werden. • Perspektive des Lehrenden zulassen: Über (verunsichernde) Erfahrungen
zu sprechen, bedeutet immer auch, etwas über sich Preis zu geben. Der Lehrer kann den Impuls dafür anstoßen, indem er als erstes über sein eigenes Erleben einer Atmosphäre anhand beispielsweise eines Fotos spricht. • Verschriftlichung: Ehe das Gespräch im Plenum geführt wird, können
Schüler ihre Eindrücke zunächst schriftlich festhalten. So können sie freier notieren und sich dann überlegen, was sie im Plenum teilen wollen. • Vorgaben über Evaluationskreis (in Anlehnung an BÖHM 2009: 36): Wenn
es ungewohnt ist, über atmosphärisches Erleben zu sprechen, kann die Lehrperson über einen Evaluationskreis mehrere Adjektive anbieten und das Erleben über die Verteilung von drei Punkten pro Schüler so zur Darstellung bringen.
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Abbildung 26: Evaluationskreis zum Ausdrücken des atmosphärischen Erlebens
Quelle: Eigene Darstellung
• Kleingruppen: Wenn das Plenum noch keine vertrauensvolle Situation bie-
tet, können die Schüler in Kleingruppen aufgeteilt werden. Diese Arbeitsweise wiederum braucht das Vertrauen der Lehrperson in die Schüler, dass sich diese in den Gruppen auch auf das Material einlassen. Zudem entstehen so unterschiedliche Kleingruppendynamiken, die schwerer einzufangen sind. • „Zeichnen im Dialog“ (STEVENS 2002: 247): Angewandt auf den hiesigen
Kontext können Schüler in dieser Übung auf Fotos Vermittlungsanzeiger von Atmosphären markieren, ohne dass sie sich dabei verbal austauschen. Die Schüler stehen in kleinen Gruppen um ein Foto, zeichnen Auffälligkeiten hinein und reagieren durch die Markierungen aufeinander. 2. Gesprächsführung Die Gesprächsführung ist ein wesentlicher Teil des Konzepts, weil sich Interkulturalität nicht nur über die Begegnungen im Material ausdrückt, sondern auch durch das Sichtbarwerden der Perspektiven der Schüler im Austausch miteinander.
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• Wechselnde Gesprächspartner: Zu zweit sitzen die Schüler zusammen und
erzählen über die eigene Perspektive auf das Material der jeweils anderen Person. Nach einer bestimmten Zeit werden die Plätze gewechselt. Damit soll die Perspektivenvielfalt ausgedrückt werden und zum anderen soll auch erlernt werden, diese Vielfalt auszuhalten. 3. Transformation10 Um nicht in die Falle zu tappen, Verunsicherndes durch Fragen an die Sache aufzulösen, besteht eine Transformation darin, das Bewusstmachen von Erfahrung an weiteren Materialien einzuüben. • Selbst Material erstellen: In Antworten auf vorgestellte Fotos im Geogra-
phieunterricht können die Schüler eigene Fotos mitbringen, die kontrastierend die Facetten der Heimwelt zeigen.
DIE ORIGINALE BEGEGNUNG Über die medial vermittelte Begegnung kann die Sensibilisierung für verunsichernde Erfahrungen gefördert werden. Dennoch bietet sie keinen Ersatz für eine originale Begegnung. Wie in Kapitel 3.2 erarbeitet, eröffnet nur die leibliche Anwesenheit die Voraussetzung für eine Beziehungsform, die durch eine Unmittelbarkeit, eine hohe Erlebnisnähe und -tiefe und einem „Maximum an Symptomfülle“ (SCHÜTZ 2013) gekennzeichnet ist. Selbst durch die Variation von Medien stößt man an Grenzen. Es braucht eine Unterrichtsform, die den Schülern selbst Begegnungen ermöglicht. Eine Grundannahme dieser Arbeit ist, dass im Geographieunterricht dabei insbesondere thematisiert werden kann, wo Begegnungen stattfinden. Denn Erfahrungen durch Begegnungen werden immer innerhalb einer Lebenswelt gemacht, die sich in Heim- und Fremdwelt unterscheidet (vgl. Ka-
10 Ich spreche in Anlehnung an PESKOLLER (2005) von „Transformation“ statt „Transfer“, um deutlich zu machen, dass mit dem „Üben“ eine Umgestaltung und Weiterentwicklung des Verhältnisses von Eigenem und Fremdem einhergeht. Es ist von daher nicht einfach die Übertragung eines Ablaufs auf einen anderen Gegenstand.
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pitel 3.2.2). In dem Kapitel 4 wird daher von verschiedenen Orten ausgegangen, um das Verhältnis von Heim- und Fremdwelt zu betrachten. Im Kapitel 4.2.1 lässt sich die originale Begegnung im Jugendzimmer nutzen, um den Aspekt der Vertrautheit der Heim- und Fremdwelt im Kleinen zu erleben. Der Eindruck des Ortes lässt sich weiter untersuchen, indem, wie in Kapitel 4.2.2 erläutert, der Klassenraum auf verschiedene Weisen in Szene gesetzt und dabei immer wieder neu erfahren wird. Schließlich kann die Exkursion als eine spezifische Methode des Geographieunterrichts dafür gebraucht werden, andere Lebenswelten aufzusuchen und auf sich wirken zu lassen (Kapitel 4.2.3). 4.2.1 Die originale Begegnung im Jugendzimmer Das Jugendzimmer wurde bereits über die medial vermittelte Begegnung in der Literatur thematisiert. AKBAȘ erzählte von ihrem Zimmer als einen Rückzugsort (Kapitel 4.1.4). In Vorbereitung auf die originale Begegnung lässt sich zunächst der mediale Zugang variieren und auf die Photographie zurückgreifen. Viele Möbelhäuser stellen im Internet Fotos von Jugendzimmern mit Möbeln aus dem Sortiment vor. Diese Bilder können als Material genutzt werden. Als Gesprächsimpuls könnte der Lehrer die Schüler fragen, • ob sie sich in dem Zimmer wohlfühlen würden und wovon im Zimmer das
Gefühl des Sich-Wohlfühlens abhängt; • was ihnen gefällt und was ihnen nicht gefällt an dem Zimmer bzw. was sie
verändern würden (Farbe, Möbelaufstellung, Deko usw.); • welche Dinge auf dem Foto sie an ihr eigenes Zimmer erinnern.
In einem nächsten Schritt können die Schüler Fotos von ihrem eigenen Zimmer zum Beispiel mit dem Smartphone aufnehmen und im Unterricht in Partnerarbeit mit dem Werbebild des Möbelhauses oder untereinander vergleichen. Der Lehrer bringt ein Foto eines Jugendzimmers mit in die Klasse und macht es allen Schülern zugänglich. Als Gesprächsimpuls könnte der Lehrer die Schüler fragen,
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• wie sie im Vergleich die Atmosphäre ihres eigenen Zimmers beschreiben
würden; • was im Vergleich ihr Zimmer zu ihrem Zimmer werden lässt; • wo es Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede mit dem Werbefoto gibt und worin sie den Grund für die Ähnlichkeiten bzw. die Unterschiede sehen; • ob etwas besonders interessant oder irritierend ist im Vergleich. Schließlich besuchen sich die Schüler gegenseitig in ihren eigenen Zimmern. Zur Orientierung kann der Lehrer den Lehrenden verschiedene Fragen an die Hand geben. • Wie fühlst du dich in dem Zimmer? Wie geht es dir in dem Zimmer?11 • Wie fühlen sich die Oberflächen der Möbel und Gegenstände in dem Zimmer an? • Welche Gerüche kannst du wahrnehmen? • Welche Bereiche des Zimmers fallen dir besonders ins Auge? • Was erinnert dich an dein eigenes Zimmer? • Was ist besonders irritierend oder faszinierend für dich? • Wie nimmst du das Zimmer im Vergleich zur restlichen Wohnung wahr? Der Lehrer kann die Schüler eine Skizze anfertigen und die Beantwortung der Fragen in Stichpunkten vor Ort notieren lassen, sodass ein Protokoll entsteht. Zusätzlich zur Auswertung des Protokolls kann der Lehrer im Unterricht Fragen zur Reflexion anstoßen. • Erinnere dich daran, als du die Atmosphäre des Zimmers über das Foto beschrieben hast. Welchen Eindruck hast du, nachdem du das Zimmer besucht hast? • Wie hast du dir das Zimmer angeschaut? Wie hast du dich durch das Zimmer bewegt? • Wie wurde dir das Zimmer gezeigt? Über was haben deine Freundin bzw. dein Freund und du ausführlich gesprochen?
11 Begriffe, die die gefühligen Eindrücke eines Orts bezeichnen, können vorher über den „Evaluationskreis“ eingeführt werden (vgl. Kapitel 4.1.5).
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4.2.2 Die originale Begegnung im Klassenzimmer Bereits im Klassenzimmer kann erkundet werden, wie unterschiedlich sich ein Ort erfahren lässt. Bevor in der Exkursion neue Lebenswelten erkundet werden, können Übungen zum Einlassen auf Orte im Klassenzimmer durchgeführt werden. Das Klassenzimmer ist ein vertrauter Ort für die Schüler. Er gehört fest in ihre Lebenswelt, wird alltäglich genutzt und hat dabei verschiedene Funktionen. So ist das Klassenzimmer der Ort, an dem staatlich organisiert gelernt wird. In ihm kommen unterschiedliche Menschen in Begegnung. Viele ihrer Erfahrungen sammeln Schüler im Klassenzimmer. Im Klassenzimmer gibt es Regeln des Miteinanders, die mehr oder weniger klar ausgesprochen sind. Implizit wissen Schüler, wo sie sich hinsetzen müssen. Explizit können Verhaltensregeln, wie das Abnehmen der Kopfbedeckung, ausgesprochen werden. Für die Geographiedidaktik hat RHODEJÜCHTERN (2006: 30; 2015: 147) Methoden vorgeschlagen, um die Ordnung eines Orts durch Schüler aufdecken zu lassen. DENINGER (1999: 154) hat ein Projekt vorgestellt, dass sich explizit mit dem Klassenzimmer als „inszenierte Ordnung“ und „inszenierte Unordnung“ auseinandersetzt. Darüber hinaus aber hat der Klassenraum auch eine bestimmte Atmosphäre, die die Begegnungen mitbestimmt. In Anlehnung an RHODE-JÜCHTERN schlage ich Methoden vor, mit denen der Klassenraum so „verfremdet“ werden kann, dass dessen Erleben bewusst gemacht wird. In Anlehnung an die von HASSE angeführten „Eindrucksvermittler“ und an das leibliche Spüren, kann der Klassenraum hinsichtlich verschiedener Aspekte eindrücklich erfasst werden. Schule ist normalerweise geradezu darauf ausgelegt, Erfahrung von Fremdheit zu verhindern (WESTPHAL 2014: 134). Durch die „Verfremdung“ des Klassenraums können neue Erlebnisse möglich gemacht werden. Raumgestaltung verändern Zunächst lässt sich erkunden, wie sich in dem Klassenraum die Atmosphäre verändert, wenn man die Möbel neu anordnet. Im Klassenzimmer sind Stühle und Tische vergleichsweise einfach zu verschieben. • Der „Lehrertisch“ kann in die Mitte oder hinter die Sitzreihen der Schüler geschoben werden. • Die Tischanordnung lässt sich verändern. Die Tische können in „U-Form“ geschoben werden. Sie können so verändert werden, dass die Schüler pro Tisch mit dem Rücken zueinander sitzen.
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• Die Tische können an die Seite geschoben werden und nur die Stühle ge-
nutzt werden. Die Stühle können unter anderem: in einen Kreis gestellt werden; in mehrere Kreise gestellt werden; zufällig im Raum verteilt werden oder nur in die Ecken gestellt werden. • Die Schüler können sich auf die Stühle oder Tische stellen oder unter die Tische setzen. Der Lehrer kann die Schüler fragen, • wie sie sich an ihrem Platz fühlen; • wie der Raum von ihrem Platz aus auf sie wirkt; • wie sie die anderen Schüler erleben; • ob sie gerne an einem anderen Platz sitzen würden und warum; • welches ihre favorisierte Stuhl- und Tischaufstellung in dem Klassenraum ist und warum. Grenzen bilden Mithilfe der Tische und Stühle im Klassenraum lassen sich Barrieren bauen, die Grenzen bilden und den Raum unterteilen. Schon die Grenzen können unterschiedliche Formen haben. Wenn die Tische übereinandergestellt werden, kann man durch die Grenzen durchschauen. Legt man eine Tischplatte hochkant auf einen Tisch oder nutzt man einen Raumtrenner, so entsteht eine Sichtbeeinträchtigung. Die Schüler können sich beidseitig der Barriere verteilen. Der Lehrer kann die Schüler fragen, • wie sie sich fühlen, wenn durch die Grenze geschaut werden kann oder sie verschlossen ist; • wie der Raum jeweils auf sie wirkt; • wie sie die Grenze erleben. Mit der gezielten Verteilung der Schüler lässt sich die Raumwahrnehmung in der Begegnung erleben. So können sich die Schüler: auf beide Seiten der Grenze gleich verteilen, nach Geschlecht verteilen oder ungleich verteilen bis auf einer Seite nur eine Person steht. Der Lehrer kann die Schüler fragen, • wie der Raum jeweils auf sie wirkt; • wie sie ihre Mitschüler erleben; • wie sie die Grenze erleben.
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Lichtverhältnisse ändern • Die „visuelle Zudringlichkeit“ des Lichts bildet wesentlich die Atmosphäre mit (HASSE 2015). Im Klassenraum kann das Licht und die Vielfalt von Lichtquellen genutzt werden, um das eigene, veränderte, leibliche Spüren zu erkunden. • Das Klassenzimmer kann nur vom Tageslicht und dann unter Zuhilfenahme der elektronischen Lichtquellen erleuchtet werden. Der Lehrer kann die Schüler fragen, wie der Raum jeweils auf sie wirkt. • Das Klassenzimmer kann nur zu einer Hälfte des Raums beleuchtet werden. Im Wechsel von Licht und Schatten eröffnet sich eine Grenze. Die Schüler können die Seite wechseln. Der Lehrer kann die Schüler fragen, wie der Raum im hellen und im dunkleren Teil jeweils auf sie wirkt und auf welcher Seite sie sich wohler fühlen. • Mit Vorhängen oder Jalousien kann das Klassenzimmer abgedunkelt werden. Die Schüler können sich jeweils durch den Raum bewegen. Der Lehrer kann die Schüler fragen, welche Wirkung der Raum und die anderen Schüler auf sie haben. • Mit Lampen können einige Schüler angestrahlt werden. Sie erleben, im wahrsten Sinne des Wortes, im Rampenlicht zu stehen. Der Lehrer kann die Schüler fragen, wie der Raum dadurch auf sie wirkt bzw. wie sie sich selbst fühlen und wie sie die anderen Schüler erleben. • Der Klassenraum kann mit unterschiedlichen Lampenfarben erhellt werden. Der Lehrer kann die Schüler fragen, welche Wirkung der Raum dadurch auf sie hat und mit welcher Lichtfarbe sie sich im Raum am wohlsten oder unwohlsten fühlen. Die Ausleuchtung des Klassenraums mit unterschiedlichen Farben lässt sich mit einer Partnerübung verbinden. Mit dieser Übung soll das Gegenüber bewusster wahrgenommen werden, da die Erfahrung des anderen Körpers bzw. Leibes in der Alltagswelt meist unhinterfragt geschieht. Die Aufgabe heißt: „Setzen Sie sich einem Partner gegenüber und [...] betrachten Sie einige Minuten lang sein Gesicht.“ (STEVENS 2002: 34) Der Lehrer kann die Schüler fragen, • wie es ihnen während der Übung ging; • wie sie das Gegenüber je nach farblicher Raumausleuchtung erlebt haben; • ob und wie sie den Raum erlebt haben.
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Klassenraum wechseln Neben dem Klassenraum lassen sich auch andere Bereiche der Schule nutzen, um das leibliche Spüren von Atmosphären zu üben. • Der Klassenraum kann mit einem anderen Klassenraum verglichen werden. • Verschiedene Gänge und Aufgänge können miteinander verglichen werden. • Verschiedene Teile des Schulhofs können aufgesucht werden. Der Lehrer kann die Schüler jeweils fragen, • wie es ihnen an dem Ort geht; • wie sie ihre Mitschüler an dem Ort erleben; • was ihnen besonders auffällt an dem Ort; • welchen Ort sie besonders mögen bzw. nicht mögen und warum. Die verschiedenen Übungen sind ein erster Schritt, das Erleben des Orts und der anderen Menschen bei der originalen Begegnung bewusst über das Spüren zugänglich zu machen. Für die kulturelle Begegnung wird nun vorgestellt, wie über die Methode der Exkursion in einem nächsten Schritt der Ansatz auf andere Lebenswelten ausgeweitet werden kann. 4.2.3 Die originale Begegnung auf der Exkursion Das schulische Lernen lässt sich aus dem Klassenraum oder dem Schulgebäude hinaus verlagern. Dadurch können Schüler (verunsichernde) Erfahrungen aus kulturellen Begegnungen im Kontext eines Lehr-Lern-Settings selbst machen. Da ich Kultur als Lebenswelt verstehe, muss für eine kulturelle Begegnung die Exkursion in Fremdwelten führen12. Die Fremdwelt, die immer relational zur Heimwelt ist, unterscheidet sich je nach dem Ort der Schule, nach der Klassenzusammensetzung und nach den Schülern. Für Schüler einer Schule aus Zella-Mehlis im Thüringer Wald mag Berlin-Neukölln eine Fremdwelt sein. Andererseits können Schüler einer Schule aus Köln-Mühlheim im Odenthal bei Bergisch Gladbach neue (verunsichernde) Erfahrungen machen. Bei der Auswahl des Exkursionsziels sind Orte interessant, die
12 BARTELS (1996) schlägt vor, Exkursionen in türkisch-migrantisch geprägte Stadtviertel wie Berlin-Neukölln als „Reisen in die Türkei“ zu inszenieren. Damit fördert er allerdings eher die Exotisierung.
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die Schüler selber nennen, aber auch Orte, die medial vermittelt mit Kultur in Verbindung gebracht werden. Reportagen stellen immer wieder Stadtviertel vor. Deutschlandradio Kultur beispielsweise thematisiert den „Brennpunkt“ Duisburg-Marxloh (SARTORY 2016: o. S.). Das in dem Beitrag verwendete Foto (ebd.) kann für eine erste medial vermittelte Begegnung genutzt werden (vgl. Kapitel 4.1). Eine Exkursion ermöglicht, DuisburgMarxloh als leiblichen Raum zu erleben und sich leiblich-spürend am Ort mit ihm auseinanderzusetzen. Dieses Kapitel stellt für eine Exkursion im Kontext des begegnungsorientierten Ansatzes einige methodische Überlegungen vor. Dazu untersuche ich, welche bisherigen didaktischen Ideen für Exkursionen im Geographieunterricht erarbeitet wurden und stelle deren Relevanz für das dieses Konzept dar. Daraufhin gebe ich eine Übersicht über verschiedene Methoden, die das Einlassen auf einen Ort ermöglichen. Mithilfe der Methoden soll das eigene Erleben einen Ausdruck bekommen und darüber auch besprechbar werden. Schließlich stelle ich Reflexionsmöglichkeiten vor, die die Schülerantworten aus der originalen Begegnung aufgreifen. Weil es mir um die Bedeutung des Vor-Ort-Seins geht, untersuche ich zunächst bisherige Ansätze aus dieser Perspektive. Ich unterteile in Anlehnung an BÖING & SACHS (2007) zwischen klassischen und modernen Zugriffen. Klassische Ansätze haben ein raumzentriertes Exkursionsverständnis. Der „wahre“ Geograph ist in diesem Sinne ein Geograph im Feld, der über die „Primärerfahrungen“ (RINSCHEDE 2007: 235) erlebt, wie sich die Welt in der „Wirklichkeit“ zeigt. Der Lehrer führt die Lernenden durch die Landschaft und erläutert Formen und Prozesse, um auf diese Weise den „Blick“ der Schüler für die Welt zu schärfen. HENNIGES (2014) beschreibt beispielsweise, wie der Geograph PENCK um 1900 seinen Schülern gelehrt hat, den Raum „richtig“ zu lesen und dadurch physisch-geographische Prozesse besser nachvollziehen zu können. Das Objekt „Welt“ war von hoher Relevanz und wurde über Überblicksexkursionen oder Arbeitsexkursionen erschlossen. Moderne (konstruktivistische) Ansätze haben ein subjektzentriertes Exkursionsverständnis. Aus der Einsicht, dass der Mensch die Umgebung erst wahrnehmen muss, wird geschlossen, dass man auch durch Exkursionen der „Wirklichkeit“ nicht näherkommt. Strenggenommen lässt sich über die „Wirklichkeit“ nichts aussagen, sondern nur darüber, wie der Mensch diese
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konstruiert. „Entscheidend sind unsere Weltperspektiven, Wahrnehmungsmuster und Theorien, die wir bewusst und unbewusst mitbringen.“ (DAUM 1982: 72) Folglich verändern sich Arbeitsexkursionen dahingehend, dass nicht mehr untersucht wird, was die Welt ist, sondern wie andere Menschen die Welt wahrnehmen oder wie der symbolische Gehalt der Welt durch die Menschen interpretiert werden kann (OHL & NEEB 2012: 261). Die „originale Begegnung“ wird in modernen Ansätzen fraglich und als „einfache[s] Ansehen“ kritisiert (DICKEL & GLASZE 2009: 3). Damit verändern sich die Arbeitsmethoden hin zu Befragungen (THÜNE 2009), Zählungen oder der Spurensuche (KROß 1994, BUDKE & KANWISCHER 2007, BÖHM 2009). Der Schüler muss etwas Interessantes entdecken und soll daraus Fragen entwickeln13. In der geschlossenen Form wird schon vorher kategorial festgelegt, was entdeckt werden soll (vgl. WIENECKE 2009). Der begegnungsorientierte Ansatz hat ein objektiv-subjektivistisches Exkursionsverständnis. Die Welt ist ein Phänomen, das sich dem Menschen auf verschiedene Arten zeigt. Von dem Objekt Welt geht dabei etwas aus, das das Subjekt Mensch leiblich spürend erleben kann. Der Mensch kann versuchen, diesen Erfahrungen Ausdruck zu verleihen. Dementsprechend braucht es im Unterricht neue Methoden. Sie zielen darauf ab, sich auf einen Ort einzulassen und die Erlebnisse zu reflektieren. Dieser Prozess wird nicht losgelöst vom Objekt Welt gedacht. Auch beim Spurenleser soll der Schüler etwas über seine eigene Wahrnehmung lernen, aber da dieser Prozess selbstreferenziell gedacht wird, ist er vom Objekt losgelöst. Die Trennung von Subjekt und Objekt wird zum Beispiel bei BUDKE & KANWISCHER (2007: 17) deutlich: „Auf der Objektseite (Beobachtung 1. Ordnung) wird geklärt was die Spur an sich ist und worauf sie Bezug nimmt. Es wird der Frage nachgegangen: ‚Was ist das?‘. Auf der Subjektseite (Beobachtung 2. Ordnung) kann der Spurensucher selbst zum Thema gemacht werden. Er stellt sich die Frage: ‚Wer ist es, der eine Spur erkennt und interpretiert?‘“
13 Die offenere Form kombiniert aktives und passives Spurenlesen (DICKEL & SCHNEIDER 2013). Die Passivität drückt sich in einer „Bescheidenheit“ (ebd.: 61) aus, die aus der Einsicht resultiert, dass eine Spur nie in Gänze angeeignet werden kann. Gleichwohl hier das Ineinandergreifen von Aktivität und Passivität unbestimmt bleibt.
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Subjekt und Objekt können stattdessen verschränkt miteinander gedacht werden, wenn man fragt: Wem ist gerade was an genau diesem Ort ins Auge gefallen und wie bewegt es ihn? Mit WALDENFELS konnte ich zeigen, dass Reflexion durch Fremdes angestoßen wird und sie nie komplett auf sich zurückgeführt werden kann (vgl. Kapitel 3.3). Die teilnehmende Beobachtung (MAI 1991: 70) oder die Befragung von migrantischen Mitschülern (ADAMS & YILDIRIM 2001: 34-37, PICHLER 2010: 28, STRICKER 1998: 167) entfallen als passende Methoden für das interkulturelle Lernen. Die Gefahr ist offenkundig, dass die Schüler bei der Spurensuche nur etwas „wiederfinden“, was ihnen bereits im Unterricht vermittelt wurde (DICKEL & SCHARVOGEL 2013: 179)14. Indem davon Abstand genommen wird, lässt sich die Welt als das erleben, was sie auch ist, aber im alltäglichen Leben verdrängt und in der kulturellen Begegnung daher noch am deutlichsten wird: verunsichernd. Die (verunsichernde) Leiberfahrung ist bei einer Exkursion immer auch eine Ortserfahrung, schließlich ist die Begegnung des Hier und Jetzt leiblich vermittelt. Damit kann die DAUMSCHE Gleichung „A erkennt B als C durch die Brille von D“ (DAUM in OHL & NEEB 2012: 278) abgewandelt werden zu ‚A spürt leiblich B und reflektiert seine Antwort als C‘. Der begegnungsorientierte Ansatz betont damit die Relevanz der originalen Begegnung, ohne damit zu einer Objektivierung des Gegenstands „Welt“ zurückzufallen. Methodisch gibt es eine Nähe zu wahrnehmungsgeographischen Exkursionsansätzen wie der „Blinden Exkursion“
14 Ein kleiner Exkurs in die Ethnologie als die „Wissenschaft vom Fremden“ zeigt die Problematik des wiederfindenden Erkennens. Als eine Antwort auf das Problem, wie sich über Fremdes reden lässt, änderte sich die Disziplin von einer „imaginären Ethnologie“ im 19. Jh. hin zu einer empirisch ausgerichteten Wissenschaft, die im „wirklichen Kontakt“ vor Ort ein adäquates Bild der fremden Kulturen vermitteln wollte (DÄRMANN 2002: 19). Es etablierte sich die Methode der „teilnehmenden Beobachtung“ (ebd.: 18). Allerdings musste auch das so Erfasste in eine Repräsentationsform überführt werden, um es in der bildlichen oder sprachlichen Darstellung kommunizierbar zu machen. Und so taucht das Problem wieder auf, dass bei den Versuchen, das Fremde methodisch möglichst objektiv zu erfassen, „in den Aufzeichnungen nur deutlich wird, was man mit dem ‚europäischen Ohr‘ (wieder)hören konnte“ (ebd.: 20).
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(DITTMANN 2009, NICOLAIT 2007). Doch für das in der Begegnungsorientierung anvisierte liebliche Spüren sind Erlebensdimensionen nur ein Hilfsmittel, um sich dem Atmosphärischen eines Orts bewusster zu werden und dann in einem gleichgewichteten nächsten Schritt zu fragen, was die Begegnung mit einem macht und wie dadurch Verunsicherung an einem Ort sichtbar wird. Schließlich meint Interkulturalität, über diese verschiedenen Antworten ins Gespräch zu kommen. Basismethoden Die Methoden einer begegnungsorientierten Exkursion werden nun in Hinblick auf die beiden Aspekte ‚leibliches Spüren von Atmosphären ermöglichen‘ und ‚darüber in den Austausch kommen‘ erläutert. Ziel ist es, für das leibliche Spüren Ausdrucksformen zu finden, die die Momente möglichst unmittelbar erfassen und gleichzeitig auch kommunizierbar machen. Dafür stelle ich zunächst Basismethoden vor, die sich grundsätzlich zum „Festhalten“ der Synästhesien und der Eindrucksvermittler anbieten. Je nach Vermittler konkretisiere ich die möglichen Ausdrucksformen im nächsten Kapitel. Es versteht sich von selbst, dass es sich hierbei nicht um eine abschließende Darstellung handeln kann. Beispielsweise kommen verschiedene Verschriftlichungsformen für unterschiedliche Ausdrucksvermittler infrage. Verschriftlichung Verschriftlichungen sind ein klassisches Vorgehen. Immer schon haben Menschen versucht, auch situativ über Wörter etwas auszudrücken. Es braucht dafür nicht mehr als einen Stift und einen Block und einen geteilten sprachlichen Bezugsrahmen. Die Verschriftlichung kann sich auf verschiedene Weise vollziehen. Unmittelbar in einer Situation können Protokolle oder Assoziationsformen wie Wortlisten erstellt werden. Zur Reflexion dienen Berichte, die sich auch danach unterscheiden lassen, aus welcher Perspektive sie verfasst sind. Verschriftlichungen sind dadurch gute Kommunikationsanlässe. Jemand kann sie als Gesprächsimpuls nutzen, kann das Geschriebene selbst vorlesen oder es weiterreichen und andere lesen lassen. Ein unerwünschter Effekt ist aber in unserem Kontext, dass Verschriftlichungen normalisierend wirken. Zunächst muss man Wörter finden für die eigenen Erlebnisse und diese Wörter auch ausdrücken. Die Ausdrucksformen sind verschiedentlich limitiert zum Beispiel über Rechtschreibung und Grammatik.
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Zudem kann beim Schreiben immer mit überprüft werden, ob es auch „richtig“ ist, was man notiert. Andererseits kann auch mit Verschriftlichungen als Reflexionsmedium gearbeitet werden. Eine variierende Wiedergabe ist beispielsweise in der, methodisch an der Ethnologie angelehnten, Unterrichtsforschung bekannt: „Das Protokoll der Szene oder das Transkript des Interviews kann man beliebig oft und beliebig genau und langsam lesen. Man kann das verschriftlichte Geschehen gewissermaßen in Zeitlupe betrachten oder unter das Mikroskop legen. – Man erfährt schnell, welche ungeheure Befremdung von dem Transkript eines beliebigen Alltagsgespräches ausgeht.“ (BREIDENSTEIN 2010: 209)
Ein solches Vorgehen kann auch für die Auseinandersetzung mit den verschriftlichen Erfahrungen aus Begegnungen der Schüler im Unterricht genutzt werden. Die Schüler können ihre Verschriftlichungen selbst auf verschiedene Weisen lesen und lesen lassen. Audioaufnahme Audioaufnahmen sind mittlerweile mit jedem Smartphone möglich. Ggf. braucht es dafür lediglich ein zusätzliches Programm. Der Vorteil von Audioaufnahmen ist, dass Einfälle unmittelbar mit dem Aussprechen festgehalten werden. Beim Nachhören ist zudem die Stimme mit präsent und kann über die Stimmenlage und Stimmenart etwas von den Erlebnissen vermitteln. Andererseits können Passsagen auch schwer verständlich sein. Zudem zwingt das Nachhören eine gewisse Linearität auf. Von einer Verschriftlichung oder einer Photographie kann man schneller einen Gesamteindruck gewinnen. Photographie/Videographie So wie die Audioaufnahme, ist auch die Photographie heute mit jedem Smartphone möglich. Sie eröffnet die spezielle Perspektive des Schülers auf die Welt und hält diese augenblicklich fest. Über eine Photographie kann dieser Blick intersubjektiv geteilt werden. Die Betrachter gelangen zu einem visuellen Eindruck, der, ergänzt mit Erläuterungen des Schülers, etwas über seine Sicht vermittelt und gleichzeitig den Betrachtern die Möglichkeit bietet, eigene Auffälligkeiten und Assoziationen zu dieser Perspektive zu kommunizieren. Es können Photographien anderer Schüler hinzugenommen werden, als Antwort oder für einen Vergleich. Durch die Unmittelbarkeit der
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Darstellung eröffnet die Photographie andere Interpretationsmöglichkeiten. Während bei Berichten oder Audioaufnahmen etwas erzählt wird und sich Sinn dabei langsam entfaltet, stellt sich eine Photographie mit einem Schlag dar. Damit bietet sich die Photographie zur Kommunikation über Atmosphären zwar einerseits an. Andererseits kann es den betrachtenden Schülern auch erschweren, die Eindrücklichkeit des Bildes in Worte zu fassen. Verschiedene Bearbeitungstechniken können dabei helfen (vgl. Kapitel 4.1.5), aber auch die erweiterte Anwendung, wie die Entwicklung von Fotogeschichten. Eine Schwierigkeit für den photographierenden Schüler ist die Frage, ob das, was er mit der Photographie über die Atmosphäre zu abbilden beabsichtigt, ihm auch mit dem Foto gelingt. Was sicherlich für alle Basismethoden gilt, stimmt auch für die Photographie, es braucht eine gewisse Übung mit dem Werkzeug. Andererseits können auch nichtbeabsichtigte Eindrücke interessant sein. Zeichnung/Modellierung Zeichnungen sind erstellte Abbildungen auf einem Papier oder einer papierähnlichen Ebene, während Modelle eine plastische Form haben. Beide Basismethoden haben den Vorteil, dass sie über verschiedene Hilfsmittel wie Buntstifte, Ritzer, Knete, Pastellfarben, Pinsel, Bleistifte oder Füllfedern sehr vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten erlauben. Zudem binden sie die Aufmerksamkeit des zeichnenden Schülers an den Ort. Über die Zeichnung entsteht eine eigene Form der Begegnung und Sensibilität für Atmosphären im Wechselspiel zwischen Sehen/ Beobachten und Zeichnen. Nachteilig dürfte sich auswirken, dass die Vertrautheit mit der Methode eine wichtige Rolle spielt. Während Photographieren mit dem Smartphone wahrscheinlich ohnehin zur Alltagspraxis der meisten Schüler gehört, wird Zeichnen oft mit einem speziellen ‚Können‘ verbunden. Die Lehrperson ist darin gefordert, den Schülern den Anspruch auf Perfektion zu nehmen. Kartierung Kartierung als maßstabsgenaue symbolhafte Abbildung von Ausschnitten der Erdoberfläche ist weniger interessant für einen begegnungsorientierten Ansatz als die Nutzung von digitalen Karten über Geoinformationssysteme (GIS) und das Anfertigen kartenähnlicher Zeichnungen (Mapping). Digitale Karten mit GPS-Funktion ermöglichen über populäre GIS-Anwendungen wie GoogleMaps oder OpenStreetView den Schülern, ihre Audiodaten und
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Photographien über die Metadaten mit GPS-Koordinaten zu versehen. So kann die Atmosphäre an einem Ort über verschiedene Basismethoden ausgedrückt werden, die sich wiederum auf einer digitalen Karte zuordnen lassen. Diese Darstellungsform kann als Kommunikationsmedium dienen. Problematisch kann die technische Umsetzbarkeit sein. Der technische Aufwand sollte den Nutzen nicht übersteigen. Mappings hingegen leben von ihrer Einfachheit. Die Arbeit mit Mappings kommt ursprünglich aus der der Wahrnehmungsgeographie bzw. Perzeptionsforschung. Man interessiert sich dafür, welche Vorstellungen die Probanden von einem Ort haben und lässt sie diese darstellen. Im interkulturellen Lernen wird die Methode dafür genutzt, Schüler aus verschiedenen Kulturen ihre Heimatstadt zeichnen zu lassen (NÖTH 1996: 16-17). In unserem Kontext sind Mappings dafür relevant, die Schüler einen Ort mit typisch kartographischen Symbolen (Straßen etc.) darstellen zu lassen und die Karte mit Informationen über ihr leibliches Spüren zu ergänzen. Übungen Die Verunsicherung einer Fremdwelt lässt sich nicht genau bestimmen. Wohl aber kann über die Auseinandersetzung mit der Atmosphäre versucht werden, in einen Ausdruck zu bringen, was das leibliche Vor-Ort-sein mit einem macht. Dafür kann zum einen auf das leibliche Spüren (Synästhesie) geachtet werden. Zum anderen können Eindrucksvermittler bestimmt werden. Um zu zeigen, wie man sich der Untersuchung der Atmosphäre methodisch annähern kann, konkretisiere ich das Vorgehen. Synästhesien Der Ort ist die Schnittstelle, an dem der Mensch vermittelt über seinen Leib im Hier und Jetzt ist. Mit dem Leib als Resonanzmedium eröffnet sich dem Menschen eine ganzheitliche Wahrnehmung über ein eindrückliches Spüren. Unter Bezug auf die Basismethoden stelle ich konkrete Methoden vor, mit denen Synästhesien ausgedrückt werden können (vgl. Kapitel 3.2). Synästhesien über Wörterlisten ausdrücken (Verschriftlichung) Die Wortliste bietet sich an, die Synästhesien unmittelbar auszudrücken. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass man Wörter findet. Der Vorteil einer Wortliste besteht darin, dass die Wörter zueinander keine Beziehung haben müssen. Die Schüler notieren schlicht die Wörter, die ihnen in dem Moment
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einfallen. Eine Hilfestellung am Anfang ist, eine Tabelle mit Adjektiven vorzugeben, die Synästhesien ausdrücken. Die Auswahl der „passenden“ Adjektive erleichtert den Schülern möglicherweise den Ausdruck in dem Moment. Kombinieren lässt sich die Übung mit der Vertiefung „Sich zu Hause fühlen“ (Stevens 2002: 228). Indem man versucht, sich so ungezwungen wie möglich an einem Ort zu verhalten, können der anziehende und abstoßende Charakter bestimmter Plätze deutlich werden. Synästhesien über Metaphern ausdrücken (Verschriftlichung) HASSE schlägt vor, mit Hilfskonstruktionen wie „als ob...“ zu arbeiten (2015: 58). Die Schüler können Metaphern nutzen, um einen Ausdruck zu finden. Mit sprachlichen Bildern können sie Situationen besser fassen. ‚An diesem Ort fühle ich mich belebt wie nach meinem Lieblingssport‘, ist eine Möglichkeit. Wenn sie den Ort immer wieder durchqueren, können die Schüler mit dem „Ausmessen des Raums“ (STEVENS 2002: 227) verschiedene Positionen finden, an denen sie Metaphern bilden. Synästhesien über Musik ausdrücken (Audioaufnahme) Audiosignale können nicht nur aufgenommen werden, sondern lassen sich auch abspielen. Jeder Schüler kann sich eine bestimmte Anzahl von Klängen oder ganze Lieder auf das Smartphone oder den Mp3-Player spielen und sie dem Ort zuordnen. Die Synästhesie wird transformiert in einen klanglichen Ausdruck. Über diesen Ausdruck kann später wiederum gesprochen werden. Synästhesien seismographisch ausdrücken (Zeichnung/Modellierung) Eine leibliche Ausdrucksform sind verschiedene Bewegungsimpulse. HASSE führt zum Beispiel die Dunkelheit an, die die Bewegung langsamer/ bedächtiger werden lässt. Diese Impulse, aber auch andere leibliche Ausdrucksformen, können mit dem Seismographen an unterschiedlichen Orten festgehalten werden. Die Schüler visualisieren über den eingetragenen Punkt den wahrgenommen eigenen Impuls.
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Abbildung 27: Visualisierung von Bewegungsimpulsen
Quelle: Eigene Darstellung
Synästhesien über das Mapping ausdrücken (Kartierung) Eine weitere Form des leiblichen Spürens an einem Ort ist ein Gefühl von Enge oder Weite. Die Schüler können diesem Gespür einen Ausdruck verleihen, indem sie verschiedene Orte kartographisch festhalten und die Größe der abgebildeten Straßen, Häuser usw. danach wählen, ob sie selbst eher ein Gefühl der Enge oder Weite an diesen Stellen hatten. Eindrucksvermittler Mit HASSE kann man der Atmosphäre eines Ortes auch über „segmentierte Eindrücke als Katalysatoren des Aufmerkens“ näherkommen (vgl. Kapitel 3.2.1). Die Dinge an einem Ort haben einen synästhetischen Charakter. Zur besseren Unterscheidung hat HASSE (2015) verschiedene Kategorien differenziert. Auf einige von ihnen werde ich im Folgenden eingehen und mithilfe der Basismethoden Umsetzungen ableiten. Eindrucksvermittler über das Ertasten der Baukultur untersuchen (Zeichnung) Beim Bau ist man auf Materialien angewiesen, die wiederum verschiedene Oberflächen haben. Einen Ort über das Ertasten zu erleben, wurde schon in verschiedenen pädagogischen Settings aufgegriffen (vgl. LEITZGEN & RIENERMANN 2017: 16-17). In unserem Kontext ist immer danach zu fragen,
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wie die Oberflächenstruktur als synästhetischer Charakter die Atmosphäre mit prägt. Eindrucksvermittler über Tast-Reliefs untersuchen (Zeichnung/Modellierung) SMITH schlägt vor, ein Relief herzustellen, indem man Knete auf die Oberfläche drückt und die Form dadurch spiegelbildlich abbildet (2008: 87). Die Schüler könnten verschiedene dieser Reliefs an einem Ort erzeugen, diese dann erfühlen und überlegen, wie sie den Eindruck des Ortes auf sie mit beeinflussten. Eindrucksvermittler über die Erstellung eines Tast-GIS mit Photographien untersuchen (Kartierung) Eine weitere Möglichkeit in Anlehnung an SMITH ist, „Tasttafeln“ zu erstellen (2008: 86). Dafür werden verschiedene Materialien gesammelt, auf eine Oberfläche geklebt und abwechselnd ertastet. Weil Materialien von Gebäuden und Gegenständen in der Regel fixiert sind, können detaillierte Photographien gemacht werden, die zumindest eine Vorstellung des Gespürs vermitteln. Bindet man die Fotos in eine digitale Karte ein, ist es möglich, dass Material genau einem Haus digital zuzuschreiben. Auch auf diese Art lässt sich der synästhetische Charakter von Oberflächen festhalten. Eindrucksvermittler über Photographien von bestimmten Objekten untersuchen (Photographie/Videographie) Ist Tür gleich Tür? Um die Vielfalt von Formen von Alltagsgegenständen und dessen Wirkung für Atmosphären zu untersuchen, können Schüler an einem Ort Fotoreihen von scheinbar gleichen Objekten herstellen (LEITZGEN & RIENERMANN 2017: 20-27). Eine andere Möglichkeit ist, dass Schüler Objekte aus unterschiedlichen Winkeln photographieren. Der Eindruck eines Ortes verändert sich dadurch, dass die Dinge von verschiedenen Standpunkten verschieden wirken und in den Blick kommen. So können die Schüler auch beschreiben, was die jeweilige Perspektive mit ihnen macht und wie sich ihr Eindruck des Ortes verändert. Schließlich können Schüler auch das festhalten, was ihnen besonders auffällt bzw. sie besonders irritiert. Auch hier lassen sich die Perspektive und die Distanz der Aufnahme variieren. Verändert sich die Auffälligkeit, wenn
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die Schüler eine Detailaufnahme machen? Wie ist es, die Auffälligkeit im weiten Panorama festzuhalten? Mit der Untersuchung der verschiedentlichen Perspektiven kann dem Eindruck entgegengewirkt werden, es sei ein ganz bestimmter Aspekt, der befremdet. Eindrucksvermittler über Hörprotokolle untersuchen (Verschriftlichung) Für das Hören kann die Übung „Die Umgebung belauschen“ genutzt werden (STEVENS 2002: 23). Der Arbeitsauftrag lautet: „Nehmen Sie richtig Kontakt mit Ihrer Umgebung auf und lassen Sie jedes Ding von sich und seiner Beziehung zu Ihnen reden.“ (Ebd.) Mit dieser Übung wird den Dingen nicht nur ein synästhetischer, sondern sogar ein appellativer Charakter zugebilligt. Mit einem Protokoll kann der Gegenstand und die Wirkung des Gegenstands auf die Schüler festgehalten werden. Der Ansatz von STEVENS ist damit gerade im begegnungsorientierten Kontext gewinnbringend. Eindrucksvermittler über die Aufnahme von Klängen und dem Belauschen der Umgebung untersuchen (Audioaufnahme) Geräusche lassen sich über die Aufnahmefunktion des Smartphones festhalten. Wenn die Schüler an einem Ort die Geräusche von verschiedenen Positionen aus aufnehmen, können sie den Ort über Geräusche portraitieren. Zusätzlich können sie auf der Audiospur festhalten, welchen Eindruck die Geräusche auf sie machen. Ein Platz lässt sich von verschiedenen Schülergruppen musikalisch portraitieren und in der Auswertung können Gemeinsamkeiten und Unterschiede besprochen werden. Eindrucksvermittler über Photographien von Orten mit auffälligen Geräuschen untersuchen (Photographie) Schüler können Orte protokollieren, an denen ihnen Geräusche besonders aufgefallen sind. LEITZGEN & RIENERMANN schlagen vor, die Geräuschquellen fotographisch festzuhalten (2017: 14-15). Die Gefahr dabei ist das Zerlegen der Eindrucksvermittler in ihre Einzelteile. Denn die Atmosphäre eines Orts ist mehr als die Summe von Vermittlern. Dennoch kann die Übung hilfreich sein, um für das genaue Hinhören an einem Ort zu sensibilisieren.
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Eindrucksvermittler über das Finden von Metaphern zu Gerüchen untersuchen (Verschriftlichung) Wer einmal versucht hat, einen Geruch mit mehreren Wörtern zu beschreiben, merkt wie schwer dieses Unterfangen ist. Auch an dieser Stelle kann den Schülern die Arbeit mit Metaphern helfen. Wichtig dabei ist, verschiedene Metaphern zu kombinieren. Denn ein neuer, faszinierender Geruch kann nie über etwas schon Gerochenes ausgedrückt werden. Ansonsten wäre es nicht mehr neu. Die Schüler können über die Frage: „Wie noch...?“ angehalten werden, weitere Vergleiche zu finden. Eindrucksvermittler über das Erstellen von Wortlisten zu Gerüchen untersuchen (Verschriftlichung) Die Schüler erstellen an verschiedenen Stellen eines Ortes Wortlisten, über die sie den Geruch beschreiben. Sie können in der Gruppe die Wörter besprechen und diejenigen unterstreichen, die sie für besonders wichtig halten. Oder sie diskutieren untereinander gegenteilige Wörter. Eindrucksvermittler über Photographien von Licht und Schatten untersuchen (Photographie/Videographie) Die Wirkung des Lichts und des Schattens kann fotographisch festgehalten werden. Schon die Aussprüche, wie „im Schatten von jemanden stehen“ oder „im Rampenlicht stehen“ unterstreicht hier metaphorisch die affektiv betreffende Wirkung der Lichtverhältnisse. Häuserkanten werfen einen anderen Schatten als sich bewegende Blätter an Baumkronen. Die Schüler können die Vielfältigkeit von Licht und Schatten an einem Ort festhalten. Durch einen ‚gelenkten Blick‘ nur auf eine Seite des Ortes kann er so durchschritten werden, dass auf Licht und Schatten nur auf jeweils einer Seite geachtet wird. Mithilfe der Bildnachbearbeitung können Schüler mit der Verstärkung oder Abschwächung von Licht bei Fotoaufnahmen ‚experimentieren‘, um jeweils die Eindrücklichkeit zu erkunden. Eindrucksvermittler über farbige Darstellungen von Licht und Schatten untersuchen (Zeichnung/Modellierung) Eine weitere Transformationsmöglichkeit ist die „Übersetzung“ des Lichts und des Schattens in eine Farbe. Die Schüler können einen Ort von verschiedenen Stellen begehen oder unterschiedliche Orte aufsuchen und jeweils aus einer Auswahl von Farben eine passende wählen, die den Eindruck des Ortes
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für sie wiedergibt. Über die Farbauswahl kann zum Beispiel Wärme oder Kälte ausgedrückt werden. Auch mit der Intensität der Farbe können die Schüler arbeiten. Später können sie über ihre ausgewählte Farbe sprechen oder andere Schüler interpretieren lassen. Eindrucksvermittler über die Zeichnung von Licht und Schatten untersuchen (Zeichnung/Modellierung) Schraffierungen lassen sich in ihrer Intensivität variieren, sodass sie den Schülern dazu dienen können, Licht und Schatten festzuhalten. In einer Zeichnung lässt sich dieser Effekt auch noch überzeichnen. Indem die Schüler versuchen, die Zeichenstärke selbst auszudrücken, beobachten sie Licht und Schatten nochmal auf eine andere Art und Weise als bei der Photographie. Eindrucksvermittler über Bewegungsprotokolle zu Rhythmen der Bewegung untersuchen (Verschriftlichung) Ein weiterer wichtiger Eindrucksvermittler einer Atmosphäre sind die Rhythmen der Bewegungen. Bewegen sich viele oder wenige Menschen an einem Ort und wie bewegen sie sich? Welche Wirkungen haben die Rhythmen? In einem Bewegungsprotokoll können die Schüler im zeitlichen Verlauf Bewegungen der Menschen und Dinge festhalten, zusammen mit dem Eindruck, den die Bewegungen bei ihnen selbst auslösen15. Eindrucksvermittler über Audioaufnahmen zu Rhythmen der Bewegung untersuchen Die Wirkung eines Ortes können die Schüler auch erfassen, indem sie den eigenen Rhythmus der Bewegung verändern. Wie wirkt der Ort, wenn man schlendert, schnell läuft oder rennt? Welche Veränderungen ergeben sich beim Fahren auf dem Fahrrad oder der Umfahrung mit öffentlichen Verkehrsmitteln? Die Eindrücke können jeweils unmittelbar mit dem Audiogerät festgehalten werden.
15 Es gibt auch in der Ethnographie Forschungsansätze, die im Sinne von „living fieldwork“ das leibliche Erleben bei der Arbeit im Forschungsfeld methodisch berücksichtigen (KUBES 2014).
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Eindrucksvermittler über Videos zu Rhythmen der Bewegung untersuchen Halten Schüler Bewegungen an einem Ort für besonders eindrücklich, lassen sich diese auch mit der Videofunktion des Smartphones oder mit einem Videoaufnahmegerät festhalten. Um den Eindruck der Bewegung besser erfassen zu können, sind auch hier verschiedene Variationsmöglichkeiten denkbar. Eine Bewegung können die Schüler von verschiedenen Positionen aus aufnehmen. Von einem Ort aus können mit zeitlich versetzen Aufnahmen verschiedene Rhythmen erfasst werden. Eindrucksvermittler über Zeichnungen zu Blicken und An-Blicken untersuchen (Zeichnung/Modellierung) Schließlich kann beim Vor-Ort-Sein auch der Bewegungssuggestion vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt werden. Der Ort geht in einen Dialog mit einem insofern, dass es den Anschein hat, Dinge kommen stärker auf einen zu oder entfernen sich. Die Blicke und An-Blicke können durch die Schüler auch zeichnerisch festgehalten werden. Der Ort kann über die Variation der perspektivischen Darstellung so festgehalten werden, dass anblickende Dinge stärker in die Perspektive kommen. Eindrucksvermittler über Mappings mit Pfeilen zu Blicken und AnBlicken untersuchen (Kartierung) Ein Ort kann kartographisch wiedergegeben werden. Dann ergänzen die Schüler Pfeile in ihrem Mapping. Sie unterscheiden jeweils danach, wie ihre dialogische Beziehung ist: kommt etwas an dem Ort eher auf sie zu oder entfernt es sich und wie stark ist dieser Eindruck. Über dicke und dünne Pfeile lässt sich die dialogische Beziehung in das Mapping einzeichnen. Auswertungen des leiblichen Spürens Ziel eines begegnungsorientierten Ansatzes ist es, verunsichernde Erfahrungen durch kulturelle Begegnungen an Orten zu spüren und zuzulassen. Bisher wurden dafür methodische Überlegungen vorgestellt, wie das leibliche Spüren von Atmosphären untersucht werden kann. Denn in einer Fremdwelt sind es die Atmosphären, die in der Begegnung mit als erstes spürbar werden. Das Zulassen von Verunsicherung bedeutet, entsprechende Erfahrungen zu thematisieren, ohne sie weg reden zu wollen. Fremderfahrungen lassen sich
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nicht auflösen (vgl. Kapitel 3.1). Die Auseinandersetzung mit verunsichernden Erfahrungen ist gebunden an den Exkursionsaufbau. Ich unterscheide in Anlehnung an KLEBERS (2000: 9) Differenzierung von offenem Unterricht drei Arten, wie die Erkundung einer Fremdwelt inszeniert werden kann. a) Geschlossen: Die Schüler führen die Erkundung auf einer vom Lehrer vorgegebenen Route oder an einem vorgegebenen Ort durch und der Lehrer gibt den Schülern zudem aus dem Methodenpool bestimmte Methoden vor. b) Halb-offen: b.1) Die Schüler führen die Erkundung auf einer vom Lehrer vorgegebenen Route oder an einem vorgegebenen Ort durch und suchen sich nach Interesse eigene Methoden aus dem Methodenpool aus. b.2) Die Schüler starten frei (in einem vorher begrenzten Gebiet) ihre Erkundungen und der Lehrer gibt den Schülern aus dem Methodenpool bestimmte Methoden vor. c) Offen: Die Schüler starten frei (in einem vorher begrenzten Gebiet) ihre Erkundungen und suchen sich dazu selbstständige eine oder mehrere passende Methode(n) aus. Die Wahl des Exkursionsaufbaus hängt von der jeweiligen Schülerschaft, aber auch von der Selbsteinschätzung des Lehrers ab. Der offene Exkursionsaufbau verlangt in der Reflexion von den Schülern, dass sie ihre Perspektive zu den Erfahrungen der Mitschüler mit einbringen und sie diese zudem mit den eigenen Erlebnissen verbinden können. Der halb-offene und schließlich der geschlossene Exkursionsaufbau schafft immer kongruentere Erfahrungsräume, die Anknüpfungspunkte im Dialog vermutlich leichter ermöglichen. Während sich zudem in den letztgenannten Exkursionsaufbauten durch Variationsmöglichkeiten Gesprächseröffnungen gut vorstrukturieren lassen, sind vom Lehrer beim offenen Exkursionsaufbau freiere Redeimpulse nötig. In jedem Fall muss er auch in der Lage sein, Redepausen auszuhalten.
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Auswertung des geschlossenen Exkursionsaufbaus (a) Je nach Klassengröße und nach Stimmung in der Klasse können zunächst Gruppen gebildet werden, so dass Schüler die sich vertraut sind, zusammensitzen. Innerhalb der Gruppen stellen sich die Schüler die Ergebnisse ihrer methodischen Arbeit vor. Der Lehrer kann als Impulse mit in die Gruppe geben, • dass sich die Schüler erzählen, wie es ihnen mit der Methode ging; • dass sich die Schüler gegenseitig ihre Ergebnisse der Methoden vorstellen; • dass sie über die Methode erzählen, wie sie den Ort erlebt haben. Die Gruppen kommen wieder im Plenum zusammen und mit den gleichen Impulsen können im Klassenverband die Erlebnisse besprochen werden. Dabei kann es helfen, Erlebnisse szenisch nachzuspielen. In dem Bereich der Beratung gibt es Übungen, die daran ansetzen, eigenes Verhalten bewusster werden zu lassen, indem es überbetont wird (KLEIN 2007: 125-126). Während das Ziel der „Verhaltensverschreibung“ ist, „unliebsame Verhaltensweisen loszuwerden“ (ebd.: 126), wird es im Kontext des begegnungsorientierten Ansatzes für die Sensibilisierung des Spürens eingesetzt. Beispielsweise kann ein Schüler nachspielen, wie es war, ‚Weite‘ an einem Ort zu spüren und dabei die Arme von sich strecken. Die anderen Schüler lassen sich einbeziehen, indem sie beurteilen, wann sie die Darstellung für authentisch und wann als „übertrieben“ erleben. Sie selbst können dabei mit verunsichert werden. Auswertung des halb-offenen Exkursionsaufbaus (b) Auch im halb-offenen Exkursionsaufbau (b) können für die Auswertung Gruppen gebildet werden. Allerdings kommen die Schüler mit der gleichen oder ähnlichen Methode zusammen (b.1). In einem zweiten Gesprächszyklus können die Gruppen so zusammengesetzt werden, dass sich möglichst Schüler mit verschiedenen Methoden (b.2) zusammensetzen. Der Lehrer kann neben den bereits im geschlossenen Exkursionsaufbau (a) angeführten Impulsen zusätzlich mit in die Gruppe geben, dass sich die Schüler darüber austauschen, warum sie die Methode (b.2) gewählt haben. Auch hier kann ein Austausch am Schluss im Plenum geführt werden.
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Auswertung des offenen Exkursionsaufbaus (c) Im offenen Exkursionsaufbau (c) stellen sich die Schüler selbstständig die gewählten Orte und Methoden vor und erzählen sich, was sie speziell an den gewählten Orten interessiert hat und warum sie die gewählte Methode nutzten. Die Auswertung lässt sich festhalten, indem die Schüler zu den Erfahrungen mit der Methode an einem Ort einen Bericht verfassen. Die Auseinandersetzung mit der Fremdwelt kann in weiteren Exkursionsetappen vertieft werden, indem ein geschlossener Exkursionsaufbau halboffen oder offen durchgeführt wird oder in der Auswertung alternative Orte und Methoden angesprochen wurden, die besucht werden können. Reflexionen der Heimwelt Auf der Exkursion kann sich Interkulturalität auf drei Ebenen vollziehen. Zunächst begegnen die Schüler dem Atmosphärischen einer Fremdwelt. Sodann stellen sich die Schüler ihre Erlebnisse vor und lernen voneinander ihre Perspektiven kennen. Dabei entstehen drei Zwischenbereiche. Es gibt zum einen einen offenen Bereich zwischen den Schülern und dem Ort in der Fremdwelt und zum anderen einen Bereich zwischen den Schülern untereinander. In der Reflexion eröffnet sich drittens Interkulturalität zwischen Heim- und Fremdwelt. Mit der Erfahrung der Fremdwelt kann die Heimwelt neu erlebt werden (vgl. Kapitel 3.3). Exkursion in die Heimwelt In der Geographiedidaktik ist „Heimat“ ein verbreiteter und auch schwieriger Begriff (FRANK 1999: 67-68). Heimat beschreibt eine „besonders enge emotionale Beziehung“ zu einem „Nahraum“ (ebd.: 67). Lehrpläne, die nach dem Prinzip „vom Nahen zum Fernen“ aufgebaut sind, thematisieren die „Heimat“ in unteren Klassenstufen. Das Ansetzen an der „Heimat“ hat allerlei Kritik erfahren. Das Sprechen von „Heimat“ harmonisiert und grenzt Fremdes aus. Zudem kann „Heimat“ leicht politisch instrumentalisiert werden und lässt sich auf keine abgeschlossene Raumeinheit mehr beziehen (ebd.: 67-68). Die besondere Konstellation der „Heimat“ ist, dass sie zum einen in der natürlichen Einstellung als unmittelbar gegeben erscheint und zum anderen zusätzlich durch eine besondere emotionale Beziehung gekennzeichnet ist. Allerdings ist das Verhältnis von Eigenem und Fremdem weder fix noch absolut. Das Problem des Sprechens von „Heimat“ ist nicht nur, dass das Globale aus dem Blick gerät
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(HAUBRICH 1988). Vielmehr suggeriert der Begriff „Heimat“, es würde einen Ort des absolut Eigenen geben. Die Heimat bildet dann den Kern, um den sich in konzentrischen Kreisen Deutschland, Europa und die Welt legen (KROß 1992: 60). Doch das Fremde lässt sich nicht zum Verschwinden bringen. Gerade im Heimeligen steckt auch das Unheimliche. Anknüpfend an den Gedanken, dass die verunsichernde Erfahrung einer Fremdwelt auch damit begründet ist, dass die Heimwelt als eine von vielen möglichen Lebenswelten erkennbar wird, lässt sich im Sinne eines begegnungsorientierten Ansatzes auch das gewohnte Umfeld neu erkunden (KROß 1994, FRANK 1996). Die Exkursion in der Fremdwelt sensibilisiert für das Anders-sein-können, für das Unalltägliche16 und für die Begrenztheit der Heimwelt. Der Lehrer sammelt zunächst Äußerungen der Schüler, die die Heimwelt in einem anderen Licht erscheinen lassen. Der Lehrer kann als Impuls beispielsweise die folgenden Fragen formulieren. • Gibt es in deiner Gegend nach deinen bisherigen Erlebnissen auf der Exkursion ähnliche Atmosphären? • Gibt es Orte, an denen du dich ähnlich wohl oder unwohl fühlst, wie auf der Exkursion? • Gibt es Orte, die dich in deinem Umfeld jetzt besonders interessieren, die dir früher vielleicht nicht aufgefallen sind? Schließlich können diese Orte mit den vorgestellten Übungen (4.2.3.3) atmosphärisch bewusster erlebt werden, um so das Fremde im Eigenen zu spüren und sich dem Thema „Heimat“ gerade nicht durch ein „Analyseinstrumentarium“ (UHLENWINKEL 2004: 8) argumentativ zu nähern. Utopien entwickeln Mit den Erfahrungen einer Fremdwelt und der Reflexion in Bezug auf die Heimwelt, konnte die Verschränkung erlebt werden, ohne die Pole jeweils aufzulösen. Über das Erleben hinaus lässt sich nach Neuem fragen und Utopien lassen sich entwickeln (zur Methode der Utopiewerkstatt: TRUMANN
16 Hierzu gibt es bereits einen Ansatz von ISENBERG (1991), der allerdings nicht vom leiblichen Spüren, sondern von der Wahrnehmung ausgeht.
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2016). Was kann aus Fremdwelten integriert werden, um bestimmte Atmosphären wahrscheinlich zu machen? Wie lassen sich Orte in der Heimwelt verändern und umgestalten? Schüler können ihre Gestaltungsideen in einem Essay festhalten. Zudem können sie über einfache stadtplanerische Programme oder Collagen selbst Entwürfe anfertigen. Heimat wird so zu einer Welt, die durch die Schüler weiterentwickelt wird.
5. Begegnungsorientiertes interkulturelles Lernen lernen und lehren
In diesem Kapitel führe ich die theoretische Herleitung des begegnungsorientierten Ansatzes zur Begründung der didaktischen Frage nach dem „Wozu?“ und einige Angebote zur Umsetzung als Antwort auf die didaktische Frage nach dem „Wie?“ zusammen und werde darstellen, was durch ein begegnungsorientiertes interkulturelles Lernen gelernt werden kann und wie sich dieser Ansatz vermitteln lässt.
INTERKULTURELLES LERNEN LERNEN Bereits in den jeweiligen Konsequenzen für ein begegnungsorientiertes Konzept des interkulturellen Lernens wurden verschiedene Lernziele anvisiert (vgl. Kapitel 3). Es folgt eine Konkretisierung und Strukturierung, um die Zugänglichkeit des Ansatzes zu verbessern. Dafür differenziere ich das Lernen in vier Schritte. Erstens: Die Lernenden können sich begleitet einlassen auf die kulturelle Begegnung an Orten in Fremdwelten über das leibliche Spüren von Atmosphären, so dass sie die Sensibilität erlangen, sich berühren zu lassen. Zweitens: Die Lernenden können einen Ausdruck für die Berührung durch Atmosphären finden und damit die Fähigkeit erlangen, die verunsichernde Erfahrung auszuhalten.
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Drittens: Die Lernenden entwickeln in der (kognitiven) Auswertung und Reflexion in Bezug auf die Heimwelt die Fähigkeit, neue Antworten zu finden auf Verunsicherungen/ Begeisterung und damit den eigenen Gestaltungsspielraum zu erweitern. Viertens: Die Lernenden können sich selbstständig auf die kulturelle Begegnung einlassen, sich dabei selbst besser kennenlernen und aus der eigenen Perspektive heraus eine (kulturelle) Offenheit entwickeln. Der begegnungsorientierte Ansatz hat nichts Belehrendes. Interkulturelles Lernen bedeutet hier weder, dass Schüler lernen sollen, etwas nicht mehr zu tun, etwa wenn es darum geht, Stereotype zu vermeiden. Noch will dieser Ansatz bewirken, dass Schüler etwas besonders effektiv tun sollen, beispielsweise zielorientiert in einen interkulturellen Dialog treten zu müssen. Der begegnungsorientierte Ansatz vermittelt, dass jeder einzelne Schüler auf seine Art davon bereichert werden kann, sich auf (verunsichernde) Erfahrungen einzulassen. Der Imperativ lautet damit nicht mehr: ‚Sei nett und schließe das Fremde nicht aus!‘. Hier schwingt implizit das Ziel mit, interkulturelles Lernen müsse eine altruistische Haltung vermitteln. Der Imperativ eines begegnungsorientierten Ansatzes lautet: ‚Sperre dich selbst nicht ein!‘. Die kulturelle Offenheit ist mehr als eine leere Forderung (KOKEMOHR 1994: 361). Die Möglichkeit ihrer Realisierung zeigt sich durch die hier entwickelten Lernziele. Die Lernziele sind dabei gleichgewichtet. Das Ansetzen an der verunsichernden Erfahrung ist nicht als ein motivationaler Unterrichtseinstieg zu verstehen, um dann auf das ‚eigentlich Fachliche‘ zu stoßen. In der Auswertung und der Reflexion können zwar Fragen entstehen, die im Unterricht aufgegriffen werden. Aber schon das Einlassen auf und das Ausdrücken von verunsichernden Erfahrungen an Orten ist jeweils ein Lernziel für sich. Die Differenzierung der Lernziele dient dazu, schemenhaft einen komplexen Prozess zu beschreiben. Sie lässt sich nicht als einseitige Entwicklungsstufung verstehen. Die Lernziele greifen ineinander. Man lernt beispielsweise nicht erst, sich für leibliches Spüren zu sensibilisieren und dann einen Ausdruck zu finden. Vielmehr ist es so, dass es neu gefundene Ausdrucksformen auch wahrscheinlicher machen, dass in einer nächsten Begegnung sich die Sensibilität für das leibliche Spüren intensiviert.
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Außerdem zeigt sich in den vier Zielen, dass ein begegnungsorientierter Ansatz keinen Endpunkt hat. Verunsichernde Erfahrungen aus kulturellen Begegnungen lassen sich nicht ‚besiegen‘. Man kann sich vielmehr selbst immer wieder neu in der Begegnung kennenlernen. Darum ist es wichtig, den begegnungsorientierten Ansatz so zu verstehen, dass er an verschiedenen Stellen im Geographieunterricht eine Rolle spielt. Bekommt interkulturelles Lernen eine Sonderrolle an einem Projekttag oder in der letzten Stunde vor den Ferien, ist sein Ziel letztlich schon verfehlt. Die Marginalisierung des Themas ‚Fremdheit‘ ist der effektivste Beitrag zu dessen Auflösung. Am Beispiel des Thüringer Lehrplans kann man eine ganze Reihe von inhaltlichen Anknüpfungspunkten finden, die sich auch mit dem begegnungsorientierten Ansatz aufgreifen lassen. Dazu zählen beispielweise: „Leben in klimatisch unterschiedlich geprägten Räumen“ (TMBWK 2012: 13), „das Leben der Menschen in Städten und ländlichen Regionen“ (ebd.: 14), „Ideen für die Gestaltung lebenswerter Räume in seinem Umfeld“ (ebd.), „Wandel im Freizeit- und Reiseverhalten“ (ebd.: 16), „räumliche Bevölkerungsbewegung“ (ebd.: 17), „soziokulturelle Vielfalt“ (ebd.: 19) und „urbane Lebensstile“ (ebd.: 26). Mit WALDENFELS wurde an ein Verständnis von Mensch-sein angeknüpft, dass von pathischen Fremderfahrungen ausgeht und mit HASSE wurde dieses Verständnis über das leibliche Spüren an Orten konkretisiert. Die daraus abgeleiteten Ziele eines begegnungsorientierten Konzepts des interkulturellen Lernens lassen sich nur schwer über die, in den Bildungsstandards des Fachs Geographie aufgeführten, Kompetenzbereiche fassen. Schon das Verständnis einer Kompetenz nach WEINERT, als „[...] die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (WEINERT in DGFG 2012: 8), macht ein Problem deutlich. Mit dem Einlassen auf verunsichernde Erfahrungen aus Begegnungen, der Reflexion und der Förderung von Offenheit werden keine Probleme gelöst. Wenn das ‚Problem‘ dadurch bestimmt würde, Fremdheit auflösen und abwehren zu wollen und man eine ‚Lösung‘ in der Einlassung und Reflexion sieht, müsste es einen Punkt geben, an dem das Problem überwunden ist. Das Ergebnis müsste sich messen lassen. Doch wie auch die Lernziele deutlich machen, ist man verunsichernden Erfahrungen immer wieder
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ausgesetzt und auch ein Umgang muss immer neu gefunden werden. Offenheit ist keine binäre Kategorie. Niemand ist nur offen oder nur geschlossen. Zudem umfasst Offenheit einen Entwicklungsprozess. Dieser Weg ist auch mühsam. Es gibt aber Indikatoren, über die sich deuten lässt, dass ein begegnungsorientierter Ansatz eine Lernentwicklung anstößt. Die Fähigkeit der Schüler entwickelt sich, leibliches Spüren über verschiedene Methoden vielfältig ausdrücken zu können, immer wieder neue Orte entdecken zu wollen, seine Erlebnisse in längeren Gesprächen intensiver teilen und Reflexionen immer stärker spezifizieren zu können. Nur dieses Lernen als Prozess lässt sich nicht in Kompetenzen oder in ein Kompetenzmodell überführen und damit verallgemeinern. Weder gibt es einen angestrebten Zielpunkt des Lernens noch eine Möglichkeit, den Lernerfolg über eine Schrittfolge zu quantifizieren. Kulturelle Offenheit lässt sich nicht abstufen in ein ‚bisschen offen‘, ‚mittel offen‘ und ‚sehr offen‘. Schon das Wort „Kompetenzmodell“ suggeriert, man könnte der Fremderfahrung durch eine Schrittfolge lernend beikommen. Mit WALDENFELS sei daran erinnert, dass das Erlernen eine der effektivsten Formen ist, das Fremde anzueignen (WALDENFELS 1997: 49). Mit Blick auf die Differenzierung der Kompetenzbereiche in den Bildungsstandards ergibt sich ein weiteres Problem. Das Spüren von Orten, das Finden von Ausdrücken, der Austausch und die Reflexion lassen sich aufgrund der theoretischen Bezüge in dieser Arbeit nicht den Kompetenzbereichen zuordnen. Mit Blick auf den Kompetenzbereich Handlung muss konstatiert werden, dass der begegnungsorientierte Ansatz durch die ermöglichte Reflexion der Heimwelt „Handlungswissen“ (DGFG 2012: 26) vermittelt und auch das Interesse zum Gestalten eigener Lebensbereiche fördert. Doch das Einlassen auf Orte über das leibliche Spüren lässt sich nicht als Handlung verstehen. Genauso wenig kann das Gespräch über verunsichernde Erfahrungen an Orten so gedeutet werden, dass man im „sachgerechten austauschen“ (ebd.: 9) die Kommunikationskompetenz fördert. Wenn Schüler zudem mit Methoden ihr leibliches Spüren ausdrücken, kann wohl nicht darüber gesprochen werden, dass „relevante Informationen im Realraum“ (ebd.) gewonnen werden. Relevanz ist beim leiblichen Spüren keine Kategorie. Man spürt, was man spürt.
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Interkulturelles Lernen meint damit eine erfahrungsbezogene Entwicklung der Schüler, die dynamisch, offen und nicht abgeschlossen ist. Im Vordergrund steht die Entwicklung von sozialen, auf das Selbst bezogenen Fähigkeiten. Die Besonderheit des interkulturellen Lernens besteht in dem hohen Grad der Verunsicherung, der die Schüler ausgesetzt sind, wenn sie selbst erleben und sich methodisch ausprobieren in einer Fremdwelt. Gerade Geographieunterricht war bisher davon gekennzeichnet, Kultur durch Makrokonzepte wie den Kulturerdeilen fassbar zu machen. Differenzierungen wie die „Geographie der Unterscheidung“ (RHODE-JÜCHTERN 2004) eröffnen ein problemorientiertes Herangehen. Der begegnungsorientierte Ansatz lässt das Erleben zu, dass das Fremdkulturelle überhaupt nur bedingt fassbar ist und wendet es zu einem Entwicklungspotential für die Schüler.
INTERKULTURELLES LERNEN LEHREN Interkulturelles Lernen kann nicht nur aus sich heraus stattfinden. Lernen ist kein rein „selbstgesteuerter Prozess“ (KONRAD 2008: 15ff.). Gerade bei dem begegnungsorientierten Ansatz, der die Erfahrung aus dem leiblichen Spüren ernst nimmt, tritt das Paradox der Selbstbildung hervor (WIMMER 2006). Die verunsichernde Erfahrung können Schüler nur selbst machen, gleichzeitig sollen sie in der Schule dabei von einem Lehrer angeleitet werden. Für die Lehrperson eröffnet sich zudem das Problem der Planung der Unterrichtseinheit. Wie soll etwas zum Thema gemacht werden, das sich zum einen gar nicht so genau bestimmten lässt und zum anderen nicht in das RichtigFalsch-Raster eingefügt werden kann? Denn damit entfällt für den Lehrer die Rolle des Korrektivs. Andererseits genügt es auch nicht, die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler von Seiten des Lehrers so zu verstehen, dass er als ein Lernbegleiter im Sinne eines „Coachs“ auftritt. Hierbei wird die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler darauf reduziert, dass der Schüler selbstständig lernt und der Lehrer als Motivator, Seelsorger und Moderator von Schülergesprächen auftritt (DICKEL & REINHARDT 2013: 10-11). Sowohl das Verständnis des Lehrers als Korrektiv als auch als Coach führen zu einer Beziehungslosigkeit zwischen Schüler und Lehrer. Das Miteinander wird er-
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schwert, weil einmal die Distanz überbetont (Lehrer als Korrektiv für Schüler) und das andere Mal die Distanz zum Verschwinden gebracht wird (Lehrer mit Schüler in einem Boot). Stattdessen ist das interkulturelle Lernen abhängig von einem tatsächlichen „Beziehungsgeschehen“ (ebd.: 12) sowohl zwischen den Schülern, als auch zwischen Lehrperson und Schülern. Nicht nur die Schüler sammeln Erfahrungen im begegnungsorientierten Ansatz, sondern auch die Lehrperson. Der Lehrer muss ein „pädagogisches Gefühl“ (ebd.: 13) entwickeln. Er ist im begegnungsorientierten Ansatz herausgefordert durch die Anforderung, das Beziehungsgeschehen zu gestalten. Das heißt, ein Gefühl „für den Mitmenschen, für die Eigenart und das Eigenrecht des anderen Menschen“ (ZIRFAS 2012 in ebd.) zu entwickeln. Die Gestaltungsmöglichkeiten gehen aber noch darüber hinaus. Für eine differenzierte Darstellung nutzte ich die Grundpfeiler des begegnungsorientierten Ansatzes und komplementiere sie mit verschiedenen Vorschlägen. Der Lehrer ist darin gefragt, Begegnungsorientierung • als Vorbild selbst Offenheit auszustrahlen; • den Schülern Begegnungsangebote zu machen; • Begegnungsangebote für die Schüler mit Orten zu strukturieren; • ein Gefühl zu entwickeln, wann man präsent sein muss und wann man sich zurücknehmen muss; • dass eigene Lehrer-sein und den Erfahrungsvorsprung in der Begegnung zwischen Lehrer und Schüler zu leben; Erfahrungsorientierung • Vertrauen aufzubauen, indem er die Erfahrung der Schüler als wertvoll erachtet; • die Schüler zu ermutigen, sich auf Verunsicherungen einzulassen; • Möglichkeiten zu eröffnen, damit die Schüler einen Ausdruck für ihre Erfahrungen finden; • mit Fragen oder Hinweisen zu provozieren, zu irritieren und zu verunsichern, wenn vermeintliche Klarheiten hergestellt werden in der Schülergruppe;
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• einen begrenzten Rahmen zu schaffen für die Schüler, in denen Sie selbst
Erfahrungen machen können; • Grenzen zu setzen, wenn es zum Beispiel darum geht, Orte, an denen sich die Schüler selbstständig bewegen können und die Zeit zur Auswertung festzulegen; Lebensweltorientierung • etwas aus seiner eigenen Lebenswelt preiszugeben; • selbst den Mut zu haben, sich in fremde Lebenswelten zu begeben; • die Lebenswelt der Schüler auch als etwas Fremdes für sich zu betrachten; Perspektivorientierung • Vertrauen aufzubauen, sodass die Schüler ihre Perspektive einbringen und nicht nur über Andere sprechen; • die Schüler zu ermutigen ihr leibliches Spüren auszudrücken; • Regeln für das Miteinander aufzustellen und auch durchzusetzen; • als Gesprächspartner wenn nötig den ersten Schritt zu machen und über sein leibliches Spüren im Plenum zu berichten und damit seine Perspektive einzubringen; Reflexionsorientierung • Schülerfragen an die Heimwelt und Gestaltungsideen als Antworten zu fördern. Das Beziehungsgeschehen strukturiert sich darüber, dass Lehrer und Schüler in einen Dialog miteinander treten. Der Dialog eröffnet sich zum einen, wenn der Lehrer mit den Schülern Begegnungssituationen über Medien thematisiert. Zum anderen kommt der Dialog auch zum Tragen, wenn der Lehrer die Schüler an Orte begleitet, die gemachten Erfahrungen mit ihnen gemeinsam auswertet oder die Bezüge zur Heimwelt erarbeitet. Dabei ist eine wichtige Funktion des pädagogischen Dialogs, darüber „zu reflektieren, wie Schüler sich im Verstehen einer Sache selbst verstehen“ (ebd.: 12). Es geht um ein Verstehen, dass über das Verhältnis von Eigenem und Fremdem von der Lehrperson immer wieder neu angestoßen wird. In diesem Sinne sollen auch die Gesprächsimpulse im Umsetzungsbereich dieser Arbeit (vgl. Kapitel 4) dabei helfen, die Schüler zu weiterführenden Fragen und Antworten zu ani-
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mieren. Die Betonung des Situativen und Örtlichen der Fremdwelt unterstreicht zudem, dass verunsichernde Erfahrungen immer wieder neu und anders auftreten. Darüber hinaus bedeutet Dialog im begegnungsorientierten interkulturellen Lernen, dass auch der Lehrer sein eigenes temporäres Verstehen anbietet. Der Lehrer verschwindet nicht im Dialog, sondern wird darin mit sichtbar.
6. Zusammenfassung und Fazit
Ziel dieser Arbeit war es, der Frage nachzugehen, wie sich ausgehend von der (verunsichernden) Begegnung interkulturelles Lernen für den Geographieunterricht konzeptualisieren lässt. Ein Fallbeispiel aus der Unterrichtspraxis hat dabei den Impuls gegeben, den Fokus auf den Ort der Begegnung zu legen. Denn Orte werden immer auch mit erlebt. Im Forschungsstand konnte deutlich gemacht werden, dass es bisher an konsequent begegnungsorientierten Ansätzen im interkulturellen Lernen der Geographiedidaktik gefehlt hat. Ich bin von der Beobachtung ausgegangen, dass kulturelle Fremdheit zwar schon lange ein Thema für die Geographie und den Geographieunterricht ist, doch immer in ein typisierendes Sprechen über das Fremde mündet. Man handelt sich von Anfang das Problem ein, dass Geographen so tun, als könnten sie ‚objektiv‘ das Fremde darstellen, ohne die eigene Perspektive dabei zu berücksichtigen. Von Autoren, die dieses Problem erkannten, wurde der Vorschlag laut, eine universelle Perspektive im Sinne eines „Weltbewusstseins“ (GRUBE 1891: III) zu fördern. Doch durch das Auflösen der Beziehung in etwas Universelles wird letztlich auch Beziehungslosigkeit deutlich. Die Debatte um die Thematisierung von Eigenem und Fremdem in der Geographiedidaktik wird bis heute geführt. Eine einschneidende Veränderung war in den 1980er Jahren die Etablierung des Konzepts der „Kulturerdteile“ (NEWIG et al. 1983). Das Problem der Bewertung des kulturell Fremden sollte über den Bezug auf Kategorien der „Allgemeinen Geographie“ umgangen werden. Doch auch dieser Versuch scheiterte. Die umfangreiche Kritik (HAUBRICH 1983, DÜRR 1987, SCHRAND 1996, EHLERS 1996, STÖBER 1996, SCHRAMKE 1999, RHODE-JÜCHTERN 2004 u. a.) setzt daran an, dass es der Darstellung des Fremden über die Kulturerdteile an Differenzierungen fehlt. Aber selbst bei den Kritikern bleibt das Problem der Rede über das
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Fremde (egal wie differenziert sie auch sein mag) unhinterfragt. Dennoch konnten Aspekte der Debatte, wie das „Alltagsleben“ der Schüler (STÖBER 1996), der Bezug auf die „Lebenswelt“ (DÜRR 1987) und die Wichtigkeit eines dynamisch, lebendigen Kulturverständnisses (SCHRAMKE 1999) in dieser Arbeit für die Konzeptionalisierung nutzbar gemacht werden. Interkulturelles Lernen stieß einen Perspektivwechsel in der Geographiedidaktik an. Es geht nicht mehr um das kulturell Fremde in der „Ferne“, sondern um das Zusammenleben in Deutschland. Geographie ist ein Schulfach, das das friedliche kulturelle Miteinander in der Einwanderungsgesellschaft Deutschlands fördern will. Ich konnte zeigen, dass die beiden bisherigen Ansätze von SCHRÜFER und BUDKE Begegnungsmomente zwar aufnehmen, aber nicht weiterführen. So fördert SCHRÜFER (2009) über ein Lernstufenmodell die interkulturelle Kompetenz von Schülern, schätzt die Rolle der Begegnung aber als zwiespältig ein. Denn in dem Stufenmodell müssten Schüler idealtypisch erst zum Perspektivwechsel befähigt werden. Doch in einer Gesellschaft, die längst multikulturell ist, ist ein solches Idealmodell problematisch. Unsicherheit aus Begegnungen kann mit keinem Konzept „weggelernt“ werden. BUDKE (2004) schlägt vor, Stereotype über eine Metaebene zu reflektieren. Die Veränderung der Beobachtungsperspektive ist ein Ansatz, dessen theoretische Bezüge über LUHMANN fachgeographisch in der sogenannten „Neuen Kulturgeographie“ populär geworden sind. Während es aber fachlich durchaus zielführend sein kann, sich als Wissenschaftler auf den „Operationsbereich zweiter Ordnung“ zurückzuziehen, sind Schüler in ihrem Leben damit konfrontiert, unmittelbar kulturelle Diversität zu leben. Die Relevanz der Begegnung für ein Konzept des interkulturellen Lernens kann schwerlich ignoriert werden. In der interkulturellen Pädagogik gibt es dafür auch ein Bewusstsein. So hält AUERNHEIMER (2005: 106) fest: „Auch und gerade eine von naivem Realismus freie Pädagogik muss also das Phänomen der Fremdheit in menschlichen Beziehungen anerkennen [...].“ Den in der interkulturellen Pädagogik verbreitete Bezug, begegnungsorientierte Ansätze mit philosophischen Grundierungen voranzutreiben, konnte ich für die Geographiedidaktik nutzbar machen. Mit dem Phänomenologen Bernhard WALDENFELS untersuchte ich das Verhältnis von Eigenem und Fremdem, um damit die Begegnung selbst, aber auch die kulturelle Begegnung und schließlich die kulturelle Begegnung an
Zusammenfassung und Fazit | 241
Orten besser zu verstehen. Leitend bei WALDENFELS ist der Gedanke des pathischen Anspruchs durch Fremdes. In einer Begegnung kommt Eigenes und Fremdes zusammen, ohne dass sich das Fremde so recht fassen lässt. Durch Begegnungen macht man auch Erfahrungen, die sich nicht in eine Sinnbildung überführen lassen. Das zeichnet das Verunsichernde dieser Fremderfahrung in der Begegnung aus. Das Eigene ist konfrontiert mit einem Anspruch des Fremden, dem es nie gerecht werden kann. Damit kann im interkulturellen Lernen zum einen die Fremderfahrung als etwas verstanden werden, das nicht ausgetrieben werden muss. Die Fremderfahrung ist kein Makel, sondern sie gehört zum Leben. Es muss also im interkulturellen Lernen vielmehr um das Einlassen auf diese Fremderfahrungen durch Begegnungen gehen und um die Auseinandersetzung mit den Antworten der Schüler. Mit SCHÜTZ & LUCKMANN ließ sich konkretisieren, dass sich die Begegnung in der alltäglichen Lebenswelt abspielt. Ich verstehe Kultur zum einen als diese alltägliche Lebenswelt, die es ermöglicht, dass Menschen in der natürlichen Einstellung unhinterfragt über Begegnungen Erfahrungen sammeln und damit ihren Wissensschatz aufbauen. Zum anderen habe ich die Kultur als Lebenswelt mit dem Begriff der „Atmosphäre“ von HASSE verbunden. Damit wird deutlich, dass sich das Vertraute einer Kultur auch in einem leiblichen Spüren bekannter Atmosphären widerspiegelt. Mit der Trennung der Lebenswelt in Heim- und Fremdwelt nach WALDENFELS habe ich schließlich die kulturelle Begegnung als ein atmosphärisches Erleben einer Fremdwelt verstanden, dass ein erhebliches verunsicherndes Potential in sich trägt. Interkulturelles Lernen im Geographieunterricht spielt darauf ab, das kulturelle Erleben an Orten über Atmosphären bewusst zu machen und zu reflektieren. Im begegnungsorientierten interkulturellen Lernen geht es zudem nicht mehr um das mögliche Erkennen des Fremden, sondern um die Reflexion der Heimwelt im Spiegel des Anspruchs des Fremden. Erst in der kulturellen Begegnung wird die eigene Lebenswelt als eine von vielen möglichen Formen einer Lebenswelt erkennbar und vor allem atmosphärisch auch leiblich spürbar. Damit kann auch die Möglichkeit durch interkulturelles Lernen eröffnet werden, für das Fremde im Eigenen zu sensibilisieren und somit die strikte Trennung des ‚Dort‘ des Fremden und des ‚Hier‘ des Eigenen zu hinterfragen. Mit WALDENFELS wird auch deutlich, dass es für die Auseinandersetzung mit verunsichernden Begegnungen ein Gegenüber braucht, mit dem im Dia-
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log Antworten gesucht werden können. Das legt den Fokus auf die Wichtigkeit von Schüler-Schüler-Gesprächen, aber auch auf Schüler-Lehrer-Gespräche. Der Dialog ist im interkulturellen Lernen nicht als Frage-Antwort-Spiel misszuverstehen, sondern meint das Zulassen einer „schrägen Rede“, durch die neue Reflexionen der Heimwelt möglich werden. Auch theatrale, fotographische oder musikalische Ausdrucksformen werden damit im interkulturellen Lernen wichtig. Ich habe in der Arbeit mithilfe der Theoriebildung und den ersten Ableitungen für das interkulturelle Lernen Grundpfeiler des begegnungsorientierten Konzepts gebildet, die es als ein erfahrungsorientierten, begegnungsorientierten, lebensweltorientierten, perspektivorientierten und reflexionsorientierten Ansatz fassen. Damit wurde eine Reihe von Neuausrichtungen markiert. Erfahrungsorientierung meint hier nicht, die Erfahrung von Schülern verändern zu wollen, sondern durch die Konzeption anzuerkennen, dass Fremderfahrungen uneinholbar bleiben. Mit der Begegnungsorientierung wird deutlich, dass die originale Begegnung für den Erfahrungsprozess unabdingbar ist. Fremderfahrungen müssen im interkulturellen Lernen nicht nur beredet werden. Es geht vor allem darum, dass Schüler sie selbst machen. Das heißt einerseits, mit der Lebensweltorientierung anzuerkennen, dass an der Lebenswelt der Schüler angeknüpft werden muss. Doch anders als bisher in der Geographiedidaktik üblich, muss dieses Anknüpfen dabei im interkulturellen Lernen auch als erschwert gedacht werden und zwar für die Schüler selbst, aber vor allem auch für die Lehrer. Begegnungsorientiertes interkulturelles Lernen erkennt die generationsbezogene Fremdheit zwischen Lehrer und Schüler an. Den Schülern bietet der begegnungsorientierte Ansatz die Möglichkeit, die eigene Lebenswelt überhaupt erst als solche zu erkennen. Somit geht das interkulturelle Lernen hier wesentlich mit einer Selbstoffenbarung einher, die durch die Perspektivorientierung gefasst wird. Es geht nicht um einen Perspektivwechsel, sondern um die Fähigkeit der Schüler, die eigene Perspektive im Unterricht auch einbringen zu können, was zunächst eine Bewusstwerdung dieser voraussetzt. Damit wird über die Reflexionsorientierung letztlich aber auch deutlich, dass die Stärkung der eigenen Perspektive sich nie ohne Fremderfahrungen vollziehen kann. Es geht nicht um eine Selbstreflexion, sondern um Auseinandersetzungen mit dem leiblichen Spüren von Atmosphären in der Fremdwelt, um die Verunsicherungen, die es auch in der Heimwelt gibt, besser wahrnehmen und ausdrücken zu können.
Zusammenfassung und Fazit | 243
Mit den Grundpfeilern eines begegnungsorientierten Ansatzes des interkulturellen Lernens lässt sich begründen, warum ich die Umsetzungsmöglichkeiten in die medial vermittelte Begegnung und die originale Begegnung unterteilt habe. Die Umsetzung des begegnungsorientierten Ansatzes muss konsequenterweise an der Begegnung selbst ansetzen. Ich habe deutlich gemacht, dass die mediale Vermittlung auf unterschiedliche Arten gelingen kann. Mit beispielhaften Fotostrecken aus Fotoessays zum Thema Migration, Texten aus ausgesuchter Jugend- und Erwachsenenliteratur, verschiedenen künstlerischen und klanglichen Darstellungen der Lebenswelt habe ich nach Orten differenziert dargestellt, wie an der Begegnung auch medial vermittelt angesetzt werden kann. Mit Gesprächsimpulsen konnte ich eine Hilfe zur Einbindung des Materials in das Klassengespräch anbieten. In der originalen Begegnung ging es einen Schritt weiter, um den Schülern das leibliche Spüren von Atmosphären in der Fremd- und Heimwelt zu ermöglichen. Mit kleinen Übungen im Klassenraum habe ich dargestellt, wie zunächst für das leibliche Spüren an Orten sensibilisiert werden kann. Mit der geographischen Methode der Exkursion habe ich schließlich eine Umsetzung gewählt, die es erlaubt, außerhalb des Schulkontextes Begegnungen und somit die Möglichkeit für Verunsicherungen zu eröffnen. Dabei verdeutlichen die verschiedenen Übungen, wie sich das didaktische Setting in die schulische Außenwelt verlagern lässt. Durch die Unterscheidung in eine offene, halboffene und geschlossene Exkursionsstruktur habe ich verschiedene Angebote gemacht, um methodisch unterfüttert leibliches Spüren von Atmosphären in Fremdwelten möglich zu machen und schließlich auch zu reflektieren. Das begegnungsorientierte interkulturelle Lernen hat zum Ziel, Schüler zu befähigen, sich durch ihre kulturelle Offenheit selbst besser kennenzulernen. Dabei wird Offenheit nicht als ein Imperativ verstanden. Die Offenheit folgt vielmehr aus der Einsicht, dass es schlicht die kulturelle Begegnung und auch das Einlassen auf Fremderfahrungen braucht, um Gestaltungsmöglichkeiten für das eigene Leben zu erkennen. Für ein besseres Verständnis des Lernprozesses habe ich dabei vier Stufen unterschieden, die jeweils ineinander verzahnt sind. Sie markieren den Weg des Vor-und-Zurücks des interkulturellen Lernens. Denn das Offenhalten in der kulturellen Begegnung ist eine Lebensaufgabe.
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Mit dieser Arbeit wurde theoretisch fundiert dargestellt, warum es einen begegnungsorientierten Ansatz des interkulturellen Lernens braucht und wie er umgesetzt werden kann. Damit konnte die Palette von konzeptionellen Umsetzungsmöglichkeiten des interkulturellen Lernens in der Geographiedidaktik erweitert werden. Ein wesentliches Ziel dieser Arbeit war es, den begegnungsorientierten Ansatz als sinnvolle Ergänzung zu präsentieren, die gleichzeitig anderen Ansätzen nicht ihre Relevanz abspricht. SUNDERMEIER (1996: 70) ist Recht zu geben, wenn er betont: „im Alltagsleben und in der Alltagserfahrung, im Zusammenleben mit Fremden muss man beides im Auge behalten, das Verstehen und die Differenz, die Distanz und das Zusammenleben, Divergenz und Konvivenz“. Für die Geographiedidaktik folgt daraus, dass nur durch eine Vielfalt von Konzepten die verschiedenen Facetten des interkulturellen Lernens in der Geographiedidaktik gefördert werden können. Indem die kulturelle Begegnung auf das leibliche Spüren von Orten gelenkt wurde, habe ich einen geographiedidaktischen Beitrag zum fachübergreifenden Prinzip des interkulturellen Lernens explizit herausgestellt. Das Zusammenleben heißt nicht nur ein Miteinander verschiedener Menschen, sondern auch das leibliche Spüren verschiedener Orte, die jeweils ihre eigenen Atmosphären habe. Das Sensibel-werden und Offenhalten für das leibliche Spüren der Orte ist damit ein neues Ziel des interkulturellen Lernens, dass durch den Geographieunterricht gestärkt wird. Andererseits bieten sich dadurch auch Anknüpfungsmöglichkeiten an fachexterne Debatten an, wie sie in der Pädagogik zum Beispiel stattfinden. Hier wird vermehrt nach der Bedeutung des Erlebens von Raum für Bildungsprozesse gefragt (BRINKMANN & WESTPHAL 2015). Dieser Ansatz verlangt von den Lehrkräften einiges ab. Sie müssen nicht nur selbst mit Offenheit Fremdwelten begegnen können, sondern zusätzlich auch Schülern Hilfestellungen eröffnen für ihre Begegnungsschritte. Mithilfe der Grundprinzipien habe ich die Anforderungen an die Lehrkraft in dieser Arbeit weiter ausdifferenziert. Die Herausforderung des begegnungsorientierten Ansatzes ist, dass die Fremderfahrung durch Begegnungen nicht in kognitive Strukturen übersetzt wird. Meines Erachtens ist der begegnungsorientierte Ansatz von einer Ehrlichkeit getragen. Er überspielt Verunsicherung nicht durch wissenschaftliche Modelle. Andererseits steckt darin gerade in Zeiten der Standardisierung eine große Herausforderung. Denn dieser Ansatz macht deutlich, dass sich eine ganze Reihe von relevanten Zielen des
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interkulturellen Lernens nicht durch ein Kompetenzmodell einfangen lassen. So macht auch TRÖGER darauf aufmerksam, dass Werte schwer „vermittelt“ werden können, um sie abzufragen (2002: 37). Vielmehr müssen Erfahrungen „am eigenen Leib“ gemacht werden (ebd., eigene Hervor.). Als Forschungsdesiderat kann die empirische Untersuchung eines begegnungsorientierten Ansatzes des interkulturellen Lernens gelten. Ein solches Anliegen lässt sich nicht über den Versuch der Messung der Lernziele realisieren. In den Fokus zu nehme ist dagegen der Prozess des Lernens, der sich beispielsweise über ethnographische Feldforschung bei einer Exkursion beobachten und beschreiben lässt, wie es SEGBERS & KANWISCHER (2016) für eine abenteuerpädagogisch ausgerichtete Geographiedidaktik aufgezeigt haben. Eine Alternative wäre, bei den Lehrkräften anzusetzen und die Umsetzung eines begegnungsorientierten Ansatzes wissenschaftlich zu begleiten. So kann zum Beispiel das Material zur Umsetzung so weiterentwickelt werden, dass sie auch den Lehrpersonen Sicherheit darin geben, begegnungsorientierte Unterrichtssettings offen, aber strukturiert zu gestalten.
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Pädagogik Anselm Böhmer
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